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German Pages [370] Year 2016
Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte
Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke Reihe B: Darstellungen Band 65
Vandenhoeck & Ruprecht
Claudia Lepp / Harry Oelke / Detlef Pollack (Hg.)
Religion und Lebensführung im Umbruch der langen 1960er Jahre
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 3 Grafiken und 13 Tabellen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0174 ISBN 978-3-647-55779-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt
Inhalt
Detlef Pollack Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1: Religiöser und gesellschaftlicher Wandel Detlef Pollack Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren . . . . .
31
Pascal Eitler Lebensführung, Menschenführung und die Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands um 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
Kapitel 2: Arbeit, Freizeit und Konsum Norbert Friedrich Einführung: Arbeit, Freizeit und Konsum
. . . . . . . . . . . . . . . . 101
Traugott Jähnichen Leben und Arbeiten unter den Bedingungen industrieller Massenproduktion in den 1960er Jahren. Theologisch-sozialethische Interpretationen und Reformperspektiven
107
Harry Oelke Grenzenlos konsumieren? Christliche Einstellungsdispositionen zum gesellschaftlichen Konsumverhalten im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Kapitel 3: Jugend Siegfried Hermle Einführung: Jugend und Jugendkultur
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
6
Inhalt
Thomas Großbölting Das „katholische Mädchen vom Lande“ als Avantgarde? Ein Deutungsangebot zum Wandel von religiöser Lebensführung in den 1960er und 70er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Ulrich Schwab Evangelische Jugendarbeit im Wandel – die 1960er Jahre . . . . . . . . 185
Kapitel 4: Ehe und Familie Christiane Kuller Einführung: Krisendebatten um Ehe und Familie in den 1960er Jahren
205
Christopher Neumaier Der Niedergang der christlichen Familien? Das Wechselspiel zwischen zeitgenössischen Wahrnehmungen und Praktiken der Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Dimitrij Owetschkin Religiöse Sozialisation in bikonfessionellen Kontexten. Zur Stellung konfessionsverschiedener Ehen und Familien im religiösen Wandel der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Eberhard Hauschildt Kirchliche Familienberatung in den 1960er Jahren. Der Wandel im Selbstverständnis: von der paternalen Fürsorge in Abwehr der Modernisierung zur fachlichen sozialen Arbeit im therapeutischen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Kapitel 5: Sexualität und Fortpflanzung Reiner Anselm Einführung: Sexualität und Fortpflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Claudia Lepp Die Kirchen als sexualmoralische Anstalt? Fremdwahrnehmung und Selbstverständnis zwischen Verbotsethik und Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
Inhalt
7
Katharina Ebner Religiöse Argumente in rechtspolitischen Debatten des Deutschen Bundestags an den Beispielen Schwangerschaftsabbruch und Homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Klaus Fitschen Homosexualität und evangelische Kirche in den 1960er Jahren
. . . . 335
Fazit Traugott Jähnichen Religion und private Lebensführung. Resümee über die konfessionellen Transformationsprozesse der „langen“ 1960er Jahre in theologischer Perspektive . . . . . . . . . 349 Frank Bösch Der Wandel der Kirchen, Religion und Lebensführung. Anmerkungen aus der Perspektive der Zeitgeschichtsforschung
. . . . 357
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Detlef Pollack
Einleitung
1. Lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass es sich bei den 1960er Jahren um einen tiefgehenden Einschnitt in der Religions- und Kirchengeschichte Westdeutschlands handelt. In seiner „Geschichte des Christentums in Deutschland“ identifiziert der evangelische Kirchenhistoriker Kurt Nowak den „Beginn der 1960er Jahre“ als „die wichtigste Zäsur für die Kirchen im 20. Jahrhundert“1. Und der katholische Theologe und Soziologe Karl Gabriel2 spricht in seiner Darstellung der 1960er Jahre vom „Aufbruch und Absturz in die Moderne“, um die Wandlungsdynamik der katholischen Kirche in dieser Zeit zu erfassen. „Gewissermaßen ,über Nacht‘“ setzte, so Gabriel3, in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts ein „tiefgreifender Formenwandel der Religion“ ein. Andere teilen die Auffassung von Nowak und Gabriel und stellen ebenfalls den scharfen Bruch heraus, den die 1960er Jahre in der Geschichte von Religion und Kirche in Deutschland bedeuten. Den rapiden religiösen Wandel der 1960er Jahre bezeichnen sie als „Abschied vom Milieu“4, als Ende des „Zweiten Konfessionellen Zeitalters“5 sowie als „rasante Veränderung der religiösen und kirchlichen Rahmenbedingungen“6. Damit tragen die Interpreten der religiösen Veränderungen in den 1960er Jahren nicht etwa eine inkongruente Fremdperspektive an ihren Gegenstand heran, denn bereits die Akteure von damals nahmen diese Veränderungen als epochale Wende, als gefährliche Bedrohung und Herausforderung wahr. Als 1968 evangelische und katholische Theologen die Emnid-Umfrage „Was glauben die Deutschen?“, die im Jahr zuvor im Spiegel veröffentlicht worden war, kommentierten, charakterisierten sie die gegenwärtige religiös-kirchliche Situation durchweg als Krise, als, „Glaubenskrise“, als „krisenhafte Umbruchssituation“, als eine Zeit wachsender Schwierigkeiten7. Dabei waren sie durchaus davon überzeugt, die Krise meistern zu können. Eine charakteris1 2 3 4 5 6 7
Nowak, Geschichte, 10. Gabriel, Aufbruch, 529. Ders., Christentum, 46. Damberg, Abschied? Blaschke, Vorwort, 9. Greschat, Protestantismus, 546. Harenberg, Was?
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Detlef Pollack
tische Mischung von Zuversicht und Verunsicherung, von Aufbruchsstimmung und Skepsis durchzog die kirchlichen und theologischen Stellungnahmen. Diese Mischung kennzeichnete auch noch solch düstere Stimmungsbilder wie das des liberal gesonnenen Jesuitenpaters Jakob David, der in einem Beitrag für die Münsteraner Bistumszeitschrift 1969 schrieb, „Unruhe und Umbruch“ hätten Kirche und Glauben erfasst. Gleichzeitig vertrat Jakob David jedoch den Standpunkt, dass Unruhe auch heilsam sein könne8. Wenn unzeitgemäße religiöse Praktiken und Glaubensvorstellungen wegfielen, könne die Gemeinschaft der Glaubenden „zum wahren Kern des Glaubens“ geführt werden. Ob die ablaufenden religiös-kirchlichen Veränderungen mehr als Bedrohung oder mehr als Chance, mehr als Abbruch oder Aufbruch wahrgenommen wurden, beide Wahrnehmungen stimmten in dem Gefühl überein, dass man sich in einer umfassenden Krise befinde. Inzwischen weicht die Deutung der 1960er Jahre als einer Phase der epochalen Wende jedoch zunehmend ihrer Interpretation als einer weichen Zäsur. Mehr und mehr Zeithistoriker und Sozialwissenschaftler erkennen Zeichen einer Abschwächung der religiös-kirchlichen Bindungen bereits in den 1950er Jahren. So bestreitet Mark Ruff9 die Bewertung der 1950er Jahre als einer Periode öder Konformität und entdeckt in den ’50ern bereits Vorboten jenes Protests, der im darauffolgenden Jahrzehnt offen hervortrat. Auch Thomas Großbölting sieht den dramatischen Traditionsabbruch der 1960er Jahre bereits in den ’50er Jahren angelegt. „Nicht erst in den Sechzigern, sondern schon seit Mitte der fünfziger Jahre“ hätten sich die Zahlen, mit denen religiöse Praxis, Kirchenmitgliedschaft und kirchliche Verbundenheit gemessen wurden, verschlechtert10. In den Augen Benjamin Ziemanns11 seien die Anfänge „einer substanziellen Entkirchlichung“ sogar bereits vor 1945 zu suchen. Sie setze „nicht erst in der Zeit nach 1945 oder gar erst unter dem Einfluss der massenkulturellen Modernisierung und Pluralisierung der 1960er Jahre ein“. Insbesondere der Zweite Weltkrieg habe die bereits Mitte der 1930er Jahre erkennbare Fragmentierung der religiösen Praxis dramatisch beschleunigt12. Die in den Jahren nach 1945 beobachtbare religiöse Belebung bezeichnet er als „kurzlebige religiöse Scheinblüte“13. Der langfristige und kaum unterbrochene Abwärtstrend setze sich bis in die 1950er Jahre fort, in denen „das ganze Ausmaß der inneren Fragmentierung“ schließlich deutlich hervortrete14. Andere wiederum sehen bis weit in die 1970er Jahre hinein überwiegend
8 9 10 11 12 13 14
David, Erschütterung. In: Kirche und Leben, zit. nach Grossbçlting, Himmel, 148 f. Ruff, Flock, 195 f. Grossbçlting, Himmel, 99. Ziemann, Entwicklung, 118. Ebd., 113. Ebd., 116. Ebd., 113.
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Kontinuitäten und verorten den entscheidenden Wandel erst in den Jahren danach15. Die in manchen neueren historischen und soziologischen Diagnosen unverkennbare Tendenz, die 1960er Jahre als scharfen Schnitt zu relativieren und nach gleitenden Übergängen, Vorwegnahmen, vorauslaufenden Ausgangspunkten und unscharfen Grenzen zu suchen, entspricht der poststrukturalistischen Tendenz zur Aufweichung klarer Kategorien, Unterscheidungen und Zäsuren. Auch wenn man einige dieser Relativierungstendenzen vielleicht modischen Konjunkturen zurechnen kann, sind die durch sie aufgeworfenen Fragen nach dem Tiefgang des religiösen Wandels und seiner Datierung mit einer solchen Zuschreibung jedoch nicht erledigt. Vielmehr muss die Frage, wie radikal der religiöse Wandel der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, und die damit eng zusammenhängende Frage, wann er einsetzte und wie er zeitlich begrenzt war, nachhaltig interessieren. In der Regel hält die Forschung den religiösen Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für fundamental. Man spricht von einem „massivem Bruch“16, einem „tiefgreifenden“ Wandel17, von einer „Wasserscheide“18. Manch einer beurteilt die religiösen Veränderungen der 1960er Jahre gar als ebenso tiefgreifend wie die, die durch die Reformation hervorgebracht worden seien19. Nur wenige schreiben ihnen eine geringere Bedeutung zu20. Die Herausgeber dieses Bandes sehen im religiösen Wandel der 1960er Jahre ebenfalls einen tiefen Einschnitt und bezeichnen ihn daher als „Umbruch“. Bewusst haben sie sich gegen den Krisenbegriff entschieden, da dieser zu stark die Perspektive der Betroffenen einnimmt und unspezifisch bleibt. „Krise“, könnte man formulieren, ist immer, denn wenn mit Krise eine Entscheidungssituation und ein möglicher Wendepunkt bezeichnet werden soll, dann lässt sich keine Situation von dieser Kennzeichnung ausschließen. Vermieden haben die Herausgeber aber auch den Begriff der „Transformation“, der häufig zur Charakterisierung der religiösen Veränderungen der Sechziger herangezogen wird21. Dieser Begriff tendiert zur Verharmlosung der in den 1960er Jahren ablaufenden Veränderungen und unterstellt zudem einen benennbaren End- und Zielpunkt des bezeichneten Wandels. Charakteristisch 15 16 17 18 19 20
Hauschild, Kirche, 52, 58 f. Grossbçlting, Himmel, 177. Ziemann, Entwicklung, 119. Damberg / Pasture, Restoration, 74. McLeod, Religious Crisis, 1. Hauschild, Kirche, 52 beobachtet in den 1960er und 70er Jahren in den evangelischen Kirchen „fundamentale Kontinuitäten in Strukturen und Mentalitäten“ sowie nur „marginale und partielle Veränderungen“. Die Jahre zwischen 1961 und 1979 bezeichnet er als „Übergangsphase“, in der „bei allem Wandel in etlichen Bereichen […] die Kontinuität zur Zeit vor 1961 überwog“ (ebd.), als „Inkubationszeit einer langfristigen Transformation“ (ebd., 59). 21 Damberg, Einleitung; Kenis / Billiet / Pasture, Transformation; Ruff, Integrating Religion.
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für die in dieser Zeit sich vollziehenden Veränderungen sind hingegen ihr profunder Charakter und die Offenheit ihres Ausgangs. Was die Datierung des Umbruchs und die damit eng zusammenhängende Frage nach seiner evolutionären oder revolutionären Kennzeichnung angeht, so lassen sich in der Forschung drei unterschiedliche Positionen ausmachen. Die evolutionäre Sicht interpretiert die 1960er Jahre als Kulminationspunkt einer lang zurückreichenden Bedeutungsabschwächung des Religiösen, stellt die gleitenden Übergänge heraus und bezweifelt, dass es sich bei ihnen um einen revolutionären Bruch gehandelt hat. Wichtige Vertreter dieser Perspektive sind Säkularisierungstheoretiker wie Steve Bruce22, Alan Gilbert23, Benjamin Ziemann24 oder Karel Dobbelaere25. Für Steve Bruce26 z. B. beginnt der Prozess der Erosion des Übernatürlichen bereits mit der Reformation. Die 1960er Jahre sind eine Illustration und ein Höhepunkt dieses Prozesses, aber kein Wendepunkt. Die Gegenposition wird von Kulturhistorikern und Sozialwissenschaftlern wie Callum Brown27, Peter van Rooden28, Olaf Blaschke29 oder Karl Gabriel30 gehalten. Callum Brown geht davon aus, dass von 1800 bis 1960 ein religiöser Diskurs dominierte, der die Frauen als Verkörperung idealer Religiosität und Moralität behandelte, die Männer hingegen als religiös defizitär und der mit dieser Verknüpfung von Frömmigkeit und Weiblichkeit die Lebensführung und Weltdeutung der Individuen in hohem Maße prägte. Mit dem Einbruch der Konsumkultur und der sexuellen Revolution in den 1960er Jahren und den damit verbundenen Veränderungen der Frauenrolle kollabierte der religiöse Diskurs, der 150 Jahre das Selbst- und Weltverständnis bestimmt hatte, und es kam zur simultanen Entpietisierung der Weiblichkeit und Entfeminisierung der Frömmigkeit31. Ebenso nimmt auch Olaf Blaschke an, dass Konfession über 150 Jahre, von 1820 bis in die 1960er Jahre hinein, eine entscheidende Triebkraft auf den Feldern von Politik und Ideologie, Mentalität und Alltag, Presse-, Kommunikations- und Bildungswesen sowie in sozioökonomischen Friktionen war, seitdem ihre Geschichtsmächtigkeit jedoch weitgehend eingebüßt hat32. Zwischen diesen beiden Positionen gibt es schließlich auch noch eine Mittelposition, die etwa von Hugh McLeod33, Leo Laeyendecker34 und Thomas 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Bruce, Religion; Ders., God. Gilbert, Post-Christian Britain. Ziemann, Säkularisierung; Ders., Entwicklung. Dobbelaere, Secularization. Bruce, God. Brown, Death. Rooden, Oral History. Blaschke, 19. Jahrhundert. Gabriel, Christentum; Ders., Aufbruch. Brown, Death, 9, 195. Blaschke, Dämon, 66. McLeod, Religious Crisis.
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Großbölting35 vertreten wird. So spricht sich etwa McLeod36 dafür aus, das aufregend Neue der 1960er Jahre als das Produkt von Akteuren zu sehen, die ihre formativen Erfahrungen in früheren Dekaden gemacht haben. Während die 1950er in manchen Hinsichten die 1960er vorbereiteten, waren letztere in anderer Weise auch ein Weg, den Fünfzigern zu entkommen. Und auch Großbölting37 verklammert die Aspekte von Kontinuität und Diskontinuität miteinander : Auf der einen Seite beschleunigte sich in den 1960er Jahren ein Trend zur Enttraditionalisierung und Transformation des Religiösen, der sich vorher bereits abgezeichnet hatte, auf der anderen stellten die Sechziger einen „kurzfristigen und massiven Bruch“ dar. Um die Beurteilung von Tiefgang, Dramatik und zeitlicher Reichweite der religiösen Wandlungsprozesse in den 1960er Jahren geht, wie wir sehen, der Streit in der historischen und soziologischen Forschung. Um die Fronten etwas aufzuweichen, schlagen die Herausgeber in Aufnahme eines inzwischen gebräuchlichen Terminus vor, von den „langen 60er Jahren“ zu sprechen. Damit soll einerseits die lange Zeit vorherrschende Fokussierung auf das Jahr 1968 aufgebrochen werden, andererseits sollen damit aber auch die über das Dezennium hinausreichenden Übergangsphasen in den Blick kommen. Gewöhnlich wird mit diesem Begriff der Zeitraum von 1958 bis 1973 bezeichnet. Hinter der Diskussion um Tiefgang, Dramatik und Reichweite des religiösen Wandels in den Sechzigern wird darüber hinaus auch noch eine andere Debatte sichtbar : die kämpferisch geführte Auseinandersetzung um Sinn, Gültigkeit und Bewertung der Säkularisierungstheorie. Die zunehmende Kritik an der Validität der Säkularisierungstheorie spielt in die Debatte über den Stellenwert der 1960er Jahre in der Religionsgeschichte Deutschland und Westeuropas unmittelbar hinein. Wer den religiös-kirchlichen Bruch der 1960er Jahre dramatisiert, übt in der Regel auch scharfe Kritik an der Säkularisierungstheorie38. Diese unterstelle einen kontinuierlichen Abwärtstrend in der religiösen Entwicklung, neige zu deterministischen und teleologischen Aussagen und sei daher nicht in der Lage, spezifische Phasen des religiösen Wandels zu identifizieren sowie gegenläufige Trends und Diskontinuitäten zu berücksichtigen. Das historische und sozialwissenschaftliche Interesse an der Kritik der Säkularisierungstheorie kann sich inzwischen aber auch darin ausdrücken, historische Zäsuren überhaupt in Frage zu stellen39. Auch diese postmoderne Perspektive übt Kritik an der Gerichtetheit historischer Abläufe. In ihrem Affekt gegen das evolutionäre Denken, gegen Fortschrittsmythen und Modernisierungserzählungen treffen sich der postmoderne Ansatz und die Diskontinuitätshypothese. 34 35 36 37 38 39
Laeyendecker, Case. Grossbçlting, Himmel. McLeod, Religious Crisis, 10. Grossbçlting, Himmel, 176 f. Gabriel, Christentum; Rooden, Oral History ; Brown, Death. Schmidtmann, Studierende.
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2. Eine weitere in der Forschung geführte Debatte betrifft die Frage nach den sozialen Trägern des religiös-kirchlichen Wandels. Callum Brown40 sieht vor allem die Frauen als Träger dieses Wandels an. Sie hätten in den 1960er Jahren millionenfach die ihnen zugedachte Rolle als Vermittlerinnen von religiösen Vorstellungen und Praktiken an die nachfolgende Generation abgestreift und neue auf erweiterten Konsum- und Karrieremöglichkeiten beruhende Individualitäts- und Rollenmuster übernommen. Arthur Marwick41 stellt in seiner Studie über den Umbruch der 1960er Jahre in Italien, Frankreich, Großbritannien und den USA vor allem auf das Aufkommen einer rebellischen Jugendkultur ab. Für die kulturelle Revolution der Sechziger mit ihren neuen Unterhaltungs- und Musikformen, ihrem neuen Lebens- und Kleidungsstil und ihrem Aufbrechen sexueller Restriktionen macht er zwar eine Reihe von Einflussfaktoren ausfindig. Entscheidend aber sei die Erhöhung des Einkommensniveaus der Jugendlichen und dabei insbesondere der Arbeiterjugend gewesen, die früher als ihre Altersgenossen in der Mittelklasse über höhere Einnahmen verfügen konnten. Robert Wuthnow42 hingegen rekurriert für die Erklärung des Umbruchs der 1960er Jahre genau auf diese jungen Erwachsenen der Mittelklasse, auf Höhergebildete, Studenten und junge Professionals, und entdeckt in ihnen die wichtigsten Akteure des religiösen Wandels. Unter ihnen war der Rückgang der Beteiligung am kirchlichen Leben am höchsten. Die Frage nach den Trägern des religiös-kirchlichen Wandels führt direkt zu der allgemeineren Frage nach den sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Bedingungen dieses Wandels. In einer Reihe von Länderstudien43 wird eine Vielzahl von Ursachen für den religiösen Umbruch in den langen 1960er Jahren herausgestellt: die Erhöhung des Wohlstandsniveaus, die damit zusammenhängende Verbreiterung des Freizeit-, Konsum- und Unterhaltungsangebots und die darauf ebenfalls zurückzuführende Verfügung über höhere Einkommen, die wachsende Mobilität, der Anstieg des Bildungsniveaus, der Wertewandel von Fleiß- und Akzeptanz- hin zu Selbstentfaltungs- und Partizipationswerten, die Veränderung der Frauenrolle in Familie und Beruf sowie des Verhältnisses der Geschlechter zueinander, Pluralisierung, De-Institutionalisierung, Individualisierung usw. Dabei ist die Bemerkung von Hugh McLeod44 schwer von der Hand zu weisen, dass für die revolutionären Veränderungen der 1960er wohl kaum ein „master factor“ 40 41 42 43
Brown, Death, 176 ff. Marwick, Sixties. Wuthnow, Wandel. Ellwood, Awakening; Gauvreau, Origin; Hilliard, Crisis; Rooden, Oral History ; Grossbçlting, Himmel. 44 McLeod, Religious Crisis, 15.
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verantwortlich gemacht werden kann, sondern sich der explosive und radikale Charakter dieser Veränderungen gerade aus dem Zusammenwirken vieler, ursprünglich getrennter Faktoren erklärt. Er selbst weist dabei auf die Interaktion zwischen Wohlstandsanstieg, Milieuabschmelzung, theologischer Radikalisierung, durch den Vietnamkrieg stimulierter politischer Radikalisierung, sexueller Revolution und dem Streben der Frauen nach einem höheren Maß an Freiheit, Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit hin. Andere Historiker und Soziologen wie Wilhelm Damberg und Patrick Pasture45, Thomas Großbölting46 oder Karl Gabriel47 nehmen gleichfalls eine mehrdimensionale Ursachenzuschreibung vor. So beschreibt Gabriel in seiner Maßstab setzenden Arbeit „Christentum zwischen Tradition und Postmoderne“ auf breiter empirischer Datenbasis die sich seit den 1960er Jahren vollziehenden religiösen Veränderungen in Deutschland als einen Umbruch vom kirchlich verfassten Christentum zu einer durch Individualisierung, DeInstitutionalisierung und Pluralisierung gekennzeichneten religiösen Landschaft48 und ordnet diesen Umbruch sowohl in die Auflösung der traditionalen Seiten der Industriegesellschaft, die Abschmelzung der konfessionellen Milieus als auch in die Entstandardisierung der traditionellen Familien-, Arbeits- und Lebenslaufmuster ein49. Besondere Aufmerksamkeit erfahren in den letzten Jahren Arbeiten über die Repräsentation von Religion und Kirche in den Massenmedien50. So beschreibt etwa Nicolai Hannig51 den Beitrag der Massenmedien zur Entdogmatisierung des Glaubens und zur semantischen Auflösung des Zusammenhanges von Religion und Kirche. Indem die Massenmedien verstärkt seit den 1960er Jahren die Ergebnisse großer repräsentativer Meinungsumfragen popularisierten, stellten sie den Glauben als einen Gegenstand individueller Entscheidung dar, der sich von den kirchlichen Normen weit entfernt habe. Das Individualisierungsnarrativ, demzufolge ein synkretistisches, privatisiertes Religionsarrangement zunehmend an die Stelle der christlichen Glaubenswahrheit trete, sei von ihnen etabliert worden. Auf der einen Seite habe die Medialisierung religionsbezogener Meinungsumfragen so als Wegbereiter einer Demokratisierung des Glaubens fungiert, auf der anderen Seite – gerade durch die Etablierung eines uniformen Narratives – aber auch zur Kanonisierung individueller Religionsdeutungen beigetragen. Ebenso besonders einflussreich sind im deutschen Kontext die Arbeiten von Axel Schildt52 sowie die von Schildt, Siegfried und Lammers und von 45 46 47 48 49 50 51 52
Damberg / Pasture, Restoration, 63 f. Grossbçlting, Himmel, 177 f. Gabriel, Christentum. Ebd., 43–68. Ebd., 121–141. Bçsch / Hçlscher, Kirchen; Hannig, Öffentlichkeit. Hannig / Stdter, Krise. Hannig, Öffentlichkeit; Ders., Religion?. Schildt, Moderne Zeiten.
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Schildt und Sywottek53 herausgegebenen Sammelbände, die einem modernisierungstheoretischen Paradigma folgen. In ihrem Gefolge behandeln viele Analysen die Erosion der konfessionellen Milieus sowie die Lockerung der religiös-kirchlichen Bindungen als eine Konsequenz von Modernisierung, also als einen Effekt von ökonomischer Prosperität, Massenkonsum, Mobilität und umfassender Medialisierung. Das sind die zentralen Stichworte einer Vielzahl von Studien. Seit dem Erstarken kulturgeschichtlicher und poststrukturalistischer Ansätze wird an der modernisierungstheoretischen Ausrichtung historischer und sozialwissenschaftlicher Analysen jedoch zunehmend Kritik geübt. Dabei gehen manche Kritiker an den kausalwissenschaftlichen und evolutionstheoretischen Annahmen der Säkularisierungs- und Modernisierungstheorie so weit, auf Erklärungen des sozialen Wandels prinzipiell zu verzichten. Aus Gründen der Vermeidung jedes Determinismus lassen sie Fragen nach Ursachen und Wirkungen bewusst offen54, ja, um lineare Repräsentationen, Essentialisierungen und Einheitskonstruktionen zu umgehen, scheuen sie sogar Kategorisierungen und Verallgemeinerungen und begnügen sich stattdessen mit dichten Beschreibungen55. Ungeachtet solcher Bedenken unternimmt ein neuerer Ansatz den Versuch, die unterschiedlichen Faktoren, die den Wandel der religiösen Landschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflussen, in einem einheitlichen Erklärungsmodell zusammenzufassen. Es handelt sich um das Konkurrenzmodell von Jörg Stolz56. Während in der industriellen Gesellschaft Religion als etwas Öffentliches angesehen wurde und sich die Gesellschaft selbstverständlich als christlich verstand, so Stolz57, kommt es aufgrund des Wirtschaftswachstums im Umbruch zur Ich-Gesellschaft der 1960er Jahre zu einer Erweiterung der individuellen Wahlmöglichkeiten. Nicht nur die Zahl der Freizeitoptionen steigt, sondern es wachsen auch die individuellen Einkommen, die es dem Einzelnen erlauben, die neuen Freizeitangebote in Anspruch zu nehmen. Außerdem schwächt sich aufgrund eines mit dem ökonomischen Aufschwung verbundenen Wertewandels die Verbindlichkeit traditionaler Verhaltensnormen ab. Da innerhalb des neuen Konkurrenzregimes die Individuen „vergleichsweise viele Ressourcen besitzen“ und die normative Kraft der religiösen Traditionen nachlässt, erhöhen sich das Gewicht und die Verfügbarkeit der säkularen Angebote gegenüber den religiösen und nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass sich der Einzelne für erstere und gegen letztere entscheidet58. Es sei das durch Modernisierung freigesetzte Spiel zwischen 53 Schildt / Siegfried / Lammers, Dynamische Zeiten; Schildt / Sywotteck, Modernisierung. 54 Ruff, Integrating Religion, 312. 55 Schmidtmann, Studierende, 100 f., 267. 56 Stolz, Ich-Gesellschaft. 57 Ebd., 46–60. 58 Ebd., 56.
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Angebot und Nachfrage, das zur Lockerung religiöser Bindungen und zur Schwächung religiöser Gemeinschaften beitrage. Dieses Modell integriert nicht nur eine Vielzahl von Faktoren, die den religiösen Wandel in den 1960er Jahren erklären können, und verbindet soziostrukturelle und kulturelle Aspekte, die den Wandel beeinflussen. Es zeichnet sich auch dadurch aus, dass es eine Antwort auf eine Frage gibt, die viele Studien nicht einmal aufwerfen: die Frage, über welche Mechanismen und Logiken sich gesellschaftliche Veränderungen in individuelle Verhaltensweisen und Überzeugungen umsetzen, wie die Individuen diese gesellschaftlichen Veränderungen interpretieren und zum Ausgangspunkt ihres Denkens und Handelns machen. Der oft analytisch ausgeblendete Link zwischen gesellschaftlicher und individueller, zwischen Makro- und Mikroebene wird hier modellhaft sichtbar gemacht. Ein weiteres, in der Forschung heiß diskutiertes Problem betrifft die Frage, ob alle Religionsformen von den sozialen, ökonomischen und politischen Umbauten der 1960er Jahre in gleicher Weise beeinflusst wurden oder ob einige Dimensionen des Religiösen ihnen stärker ausgesetzt waren als andere? Vertreter der sogenannten Individualisierungsthese bestreiten, dass es in den 1960er Jahren zu einem Rückgang an Religiosität gekommen sei. Rückläufig hätten sich lediglich die Bindungen an die Kirche, an das kirchliche Dogma und die kirchlichen Rituale entwickelt; die individuelle Religiosität habe zwar ihre Gestalt geändert, ihre Bedeutung aber nicht eingebüßt. Diese These – entworfen bereits in den 1960er Jahren59 – hat an Aktualität nicht eingebüßt. Hubert Knoblauch60, Grace Davie61 Karl Gabriel62, Dani¦le Hervieu-L¦ger63 vertreten sie bis heute. So geht Hubert Knoblauch davon aus, dass die institutionalisierte Religion seit den 1960er Jahren an Signifikanz verloren habe, an ihre Stelle Formen einer selbstgewählten hochindividuellen Religiosität und Spiritualität mit starken synkretistischen Anteilen getreten seien und die Bedeutung von nicht-kirchlich geprägten Religionsformen, von Spiritualität, Reinkarnationsglauben, Astrologie, Okkultismus, Mystik, Esoterik, Magie europaweit zugenommen habe. Die religiöse Kommunikation sei mehr und mehr aus dem kirchlich und traditional bestimmten religiösen Bereich ausgewandert und zunehmend in antiinstitutionellen, erfahrungsbasierten, antiintellektualistischen und ganzheitlichen Sinn- und Praxisformen anzutreffen, die teilweise auf den ersten Blick gar nicht als religiös zu erkennen sind64. Es ist offensichtlich, dass diese These auf dem Hintergrund der Säkularisierungstheorie entworfen ist und sich von dieser kritisch absetzt. Religion, so 59 Luckmann, Problem; Ders., Invisible Religion. 60 Knoblauch, Verflüchtigung, 7–41; Ders., Bewegungen; Ders., Transformation; Ders., Religion. 61 Davie, Europe. 62 Gabriel, Christentum; Ders., Jenseits. 63 Hervieu-L¦ger, Chain of Memory. 64 Knoblauch, Transformation, 5; Knoblauch, Bewegungen, 298, 303.
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lässt sie sich zusammenfassen, verliere nicht an Bedeutung, sondern verändere nur ihre dominante Form. Transformation ist daher das leitende Stichwort dieses Ansatzes.
3. Schließlich spielt in der historischen und soziologischen Forschung zum religiösen Umbruch der langen 1960er Jahre auch die Frage nach den Reaktionen von Theologie und Kirche auf diesen Umbruch, nach ihren Verarbeitungsund Deutungsformen und den von ihnen ausgehenden Impulsen ein wichtige Rolle. Wie reflektierten sich die politischen, kulturellen und religiösen Wandlungsprozesse in den theologischen Konzepten der Zeit und inwieweit waren diese wiederum in den Diskursen der Zeit präsent? Waren Religion, Theologie und Kirche selbst Faktoren des Wandels oder reagierten sie nur auf kontextuale Veränderungen, die von außen auf sie zukamen? Stellten sie eher Barrieren des Wandels dar, die den Wandel vielleicht sogar bewusst bekämpften, oder nahmen sie auch eine aktive und Modernisierung, Individualisierung und Politisierung möglicherweise sogar befördernde Rolle wahr? In den historischen und soziologischen Debatten sind vor allem die beiden zuletzt genannten Fragen von besonderer Bedeutung. Mehr und mehr legen Studien Wert darauf, religiöse Gemeinschaften und Organisationen nicht nur als reaktiv darzustellen, sondern auch als Agenten der Liberalisierung, der Gesellschaftsveränderung und Transformation. Schon in den 1980er und 90er Jahren erschienen Arbeiten, die dem Narrativ des kirchlichen Niedergangs nicht folgten, sondern die Geschichte einer erfolgreichen politischen Modernisierung erzählten, z. B. eine, die durch die Repräsentanten des politischen Katholizismus vorangetrieben wurde65. Die Transformation, die Kirchen, religiöse Gemeinschaften und Organisationen durchlaufen haben, stellen aber auch die Arbeiten von Andreas Henkelmann, Uwe Kaminsky und Katharina Kunter66, Petra von der Osten67, Wilhelm Damberg68, Christian Kuchler69 und Benjamin Ziemann70 in den Mittelpunkt. Andreas Henkelmann und Katarina Kunter arbeiten die Spannung zwischen der Professionalisierung der kirchlichen Mitarbeiter in Diakonie und Caritas und ihrer konfessionellen Bindung heraus, verdeutlichen das Ringen der beiden konfessionellen Verbände um Modernisierung und bestreiten die These eines grundsätzlichen Traditionsabbruchs in der kirchlichen Bindung der Mitarbeiter, die der Herausbildung neuer kirchlichen Orientierungen und Milieus 65 66 67 68 69 70
Schwarz, Adenauer-Ära; Morsey, Bundesrepublik. Henkelmann / Kunter, Diakonie; Kaminsky / Henkelmann, Beratungsarbeit. Osten, Gefährdetenfürsorge. Damberg, Milieu. Kuchler, Kirche und Kino. Ziemann, Kirche.
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nicht gerecht werde. Petra von der Osten zeichnet in ihrer Studie den Weg des Sozialdienstes Katholischer Frauen von einem auf Ehrenamt und religiösem Engagement beruhenden Fürsorgeverein zu einer professionellen Dienstleistungsorganisation nach, die in ihren Aktivitäten nicht mehr wie früher vor allem die Frage von Schuld und Heil im Auge hat, sondern die weltlichen, menschlichen und auch leiblichen Bedürfnisse ihrer Kunden und Klienten. Ebenso stellt auch Christian Kuchler71 den Katholizismus nicht als Bollwerk des Konservatismus dar, sondern als eine Größe, die sich im Laufe der 1950er und 60er Jahre zunehmend auf die sich verändernde bundesdeutsche Gesellschaft einlässt. Mehr und mehr gab die katholische Filmarbeit, die den Gegenstand von Kuchlers Studie bildet, das Ziel auf, durch Filme zur Rechristianisierung der Gesellschaft beizutragen, und trieb stattdessen die Idee voran, Kino als ein intellektuell anspruchsvolles Unternehmen zu betreiben, das künstlerisch auf der Höhe der Zeit steht. Noch einen Schritt weiter geht Benjamin Ziemann72. In seiner Habilitationsschrift betont er, dass der Umbruch der 1960er Jahre nicht angemessen erfasst sei, wenn er nur als Erosion konfessioneller Milieus beschrieben werde. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und den darauffolgenden Synoden habe sich der Katholizismus in Deutschland selbst transformiert. Die Aufnahme sozialwissenschaftlicher Analysen zur Erfassung von gesellschaftlichen Veränderungen und Prozessen kirchlicher Distanzierung verfolgte das Ziel, die pfarramtliche Tätigkeit zu effektivieren. Durch die Bezugnahme auf Psychotherapie und Psychologie habe sich die Seelsorge verwissenschaftlicht. Beichte wurde in den 1960er Jahren vielfach dem Modell psychotherapeutischer Sitzungen nachgebildet und Sündenvergebung als Heilung von Krankheit interpretiert. Im Hinblick auf den Protestantismus wurde den Veränderungen in Theologie und Kirche unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er Jahre vor allem in zwei Tagungsbänden nachgegangen, die sich mit der öffentlichen Präsenz protestantischen Christentums beschäftigen. In einem ersten Band wird das Verhältnis des Protestantismus und der neuen sozialen Bewegungen während der 1960er und 70er Jahre ausgeleuchtet und auf vielfältige Transferprozesse, aber auch auf Abgrenzungstendenzen verwiesen73. Der neuen Politisierung des Protestantismus im selben Zeitraum widmet sich ein zweiter Band74. Hier wird das veränderte politische Engagement und der damit verbundene Wandel im Selbstverständnis sowie in den Glaubens- und Ausdrucksformen des Protestantismus analysiert, für den zeitgenössisch der Begriff „Linksprotestantismus“ steht. Dabei wurden, wie der Band herausarbeitet, das zunehmende Engagement von Basisgruppen und ihren theologischen Leitfiguren auf verschiedenen Politikfeldern sowie die damit verbun71 72 73 74
Kuchler, Kirche und Kino. Ziemann, Kirche. Hermle / Lepp / Oelke, Umbrüche. Fitschen, Politisierung.
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denen Forderungen nach einer Politisierung von Religion und einer Moralisierung der Politik von einem innerkonfessionellen Polarisierungsprozess begleitet. Auch wenn die kirchlichen Modernisierungs- und Reformpotentiale in vielen Veröffentlichungen betont werden, erhalten sie nicht in allen einen positiven Wertakzent. Manche werfen die Frage auf, inwieweit die Kirche gerade durch ihre Reformen selbst zu ihrem Niedergang beigetragen habe. Vor allem am Zweiten Vatikanum macht sich diese Diskussion fest. Stellt das große reformerische Kirchenkonzil eine notwendige und heilsame Reaktion auf beobachtbare Abbruchtendenzen in der kirchlichen Bindung, in der Bereitschaft zur Übernahme des Priesterdienstes und zum klösterlichen Gelübde dar oder hat das Konzil diese Abbruchtendenzen eher befördert und vielleicht sogar erst hervorgebracht? Ähnliche Fragen lassen sich auch an die Adresse der evangelischen Kirche richten: Hat die Bereitschaft zum Dialog mit der Welt, zur Ökumene, zu umfassenden Kirchenreformen, zur Rationalisierung, Professionalisierung und Funktionalisierung des kirchlichen Handelns, zur Anthropologisierung der christlichen Botschaft die Kirche gestärkt oder geschwächt? Auf der einen Seite stehen diejenigen, die in den kirchlichen Reformen den Ausgangspunkt des Rückgangs der Gottesdienstbesucher- und der Priesterzahlen sehen75. Auf der anderen befinden sich jene, die diesen Zusammenhang bestreiten und darauf hinweisen, dass die Distanzierung von der katholischen Kirche begonnen habe, bevor das Konzil seine Wirkungen entfalten konnte76. Schon am Anfang und in der ersten Hälfte der 1960er Jahre habe der Rückgang des Kirchgangs eingesetzt. Er sei außerdem in den einzelnen Ländern nicht parallel verlaufen. Institutionelle Faktoren wie das Zweite Vatikanische Konzil oder die Enzyklika Humanae vitae könnten daher nicht ausschlaggebend gewesen sein. Kontextuelle Faktoren der Industrialisierung und Modernisierung besäßen ein höheres Erklärungspotenzial. Aus nachholenden Prozessen der Modernisierung erklärten sich auch die Länderdifferenzen. Wieder andere führen die Rückgänge auf die schädlichen Übertreibungen kirchlicher Reformideen zurück, auf ihren utopischen Gehalt, auf die Verachtung von Institutionen und Strukturen, das Flirten mit marxistischen Ideen und die Idealisierung der Dritten Welt77. Und wieder andere argumentieren, dass sowohl die Reformer der Kirche als auch die Traditionalisten und auch der Konflikt zwischen beiden zur Krise der christlichen Kirchen beigetragen hätten78. Ob die Ursachen der religiösen Krise in den langen 1960er Jahren nun mehr innerhalb der Kirche oder mehr
75 Sengers, „Dutch“; Isacker, Ontwijding. 76 Greeley, American Catholics, 55 ff. Greeley / McCready / McCourt, Catholic Schools, 116 ff. Dobbelaere / Billiet, 20th-Century Trends, 136 f. 77 Cholvy / Hilaire, Histoire religieuse, 287 ff. 78 McLeod, Religious Crisis, 13.
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außerhalb von ihr gesehen werden, in jedem Fall müssen sowohl externe als auch interne Faktoren ins Auge gefasst werden.
4. Das Wechselverhältnis von Religion und Gesellschaft steht nicht zufällig denn auch in diesem Band, der auf einer gemeinsamen Tagung der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte und dem Centrum für Religion und Moderne an der Universität Münster basiert,79 im Zentrum der Aufmerksamkeit. Er nimmt die hier angerissenen Fragen nach Tiefgang, Dramatik und zeitlicher Reichweite des religiösen Umbruchs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, beschäftigt sich mit der Frage nach den sozialen Trägern und den sozialen Ursachen dieses Umbruchs, erörtert, ob und inwieweit alle Formen des Religiösen von diesem Wandel in gleicher Weise betroffen waren, untersucht das Wechselspiel von Kirche und Gesellschaft und legt dabei ein besonderes Gewicht auf die Analyse des kirchlichen Handelns und theologische Stellungnahmen, auf die von Kirche und Theologie gewählten Formen der Verarbeitung und Deutung des Umbruchs sowie die von ihnen ausgehenden Handlungsimpulse. Wie die neuere Forschung insgesamt geht auch dieser Band davon aus, dass Kirche und religiöse Gemeinschaften und Organisationen nicht nur Betroffene des Wandels waren, sondern diesen selbst gestalteten und deuteten und mit ihren Deutungen beeinflussten. Er setzt allerdings insofern einen neuen Akzent, als er das Verhältnis von Religion und Gesellschaft nicht allgemein und auch nicht in allen seinen Facetten umreißen will, sondern sich vornimmt, es anhand der Lebensführung der Individuen zu analysieren. Lebensführung ist ein Konzept, das von Max Weber in die Soziologie eingeführt wurde und seitdem in den Sozial- und Geschichtswissenschaften vielfach Anwendung gefunden hat. Max Weber versteht unter Lebensführung „eine Systematisierung des praktischen Handelns in Gestalt seiner Orientierung an einheitlichen Werten“80. In dieser Definition sind zwei zentrale Begriffe miteinander verbunden, die in anderen Ansätzen getrennt behandelt werden: Handeln und Wertorientierung. Im Konzept der Lebensführung wird Handeln also als durch Werthaltungen, durch sittliche Überzeugungen geprägt angesehen. Damit ist diese Art des Handelns vom zweckrationalen Handeln aus bloßem Nutzenkalkül unterschieden. Hinzu kommt als drittes Merkmal, dass diesem an Werten orientierten Handeln eine gewisse Kohärenz
79 Religion und Lebensführung im Umbruch der langen sechziger Jahre. Interdisziplinäre Tagung am 1. und 2. Oktober 2013 in Münster. 80 Weber, Wirtschaft, 320 f.
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zu eigen ist. Diese erlaubt es, unterschiedliche Typen des wertrationalen Handelns voneinander zu unterscheiden. In neuerer Zeit wurde dieses Konzept unter anderem von Stefan Hradil, Günter Voß, Gunnar Otte sowie Jörg Rössel81 aufgegriffen und weiterentwickelt. Zuweilen wird das Konzept der Lebensführung abgegrenzt vom Begriff des Lebensstils. Indem der Lebensstil, so Elisabeth Gräb-Schmidt82 in Anlehnung an Georg Simmel, zur Typisierung von Personen und zur Demonstration der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe diene, sei er nicht nur eine typische Art der Lebensgestaltung, sondern auch und vielleicht sogar vor allem ein äußeres Mittel der Selbstdarstellung des Individuums. Demgegenüber werde mit dem Begriff der Lebensführung die Gestaltung des je eigenen Lebens auf dem Hintergrund religiöser, moralischer oder philosophischer Wertorientierungen herausgestellt. Eine solche Unterscheidung arbeitet mit der Differenz von manifest und latent bzw. explizit und implizit. Andere wie Gunnar Otte bemühen sich stärker um eine Integration der beiden Konzepte. Den Begriff der Lebensführung verwendet Otte als „Oberbegriff, der die Komponenten latenter Wertorientierungen und des manifesten, verhaltensbasierten Lebensstils umfasst“83. Auch hier wird die Unterscheidung zwischen latent und manifest getroffen, beides aber in einem Konzept verklammert. Der Lebensführungsbegriff beinhaltet handlungsleitende Wertorientierungen. Dabei stellen Werte nach einer Definition von Clyde Kluckhohn Vorstellungen des Wünschenswerten dar. Mit dem Begriff der Wertorientierungen ist also die motivationale Komponente des Konzepts bezeichnet. Mit dem Begriff des Lebensstils wird hingegen die expressive Komponente angesprochen. Im Lebensstil drücken sich, so Otte, mit Symbolgehalt versehene Handlungsmuster aus, die die Orientierung in sozialen Interaktionen ermöglichen84. Für die Verwendung des Lebensführungskonzepts in unserem Band ist die Unterscheidung zwischen Praxis und Wertorientierung wesentlich. Im Konzept der Lebensführung kommen latente mentale Orientierungsmuster ebenso in den Blick wie manifeste Verhaltensweisen und wird nach dem Verhältnis beider zueinander gefragt. Dabei interessiert im Rahmen unserer Thematik vor allem die Frage, welchen Einfluss religiöse Wertvorstellungen und kirchliches Handeln auf verschiedene Teilbereiche der Lebensführung in den langen 1960er Jahren ausübten, wie sich dieser Einfluss im Laufe der Zeit veränderte und in welchem Verhältnis er zu konkurrierenden säkularen Einflüssen steht. Die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlichen und religiösen Veränderungsprozessen wird auf diese Weise anhand der Veränderungen auf der Ebene der Lebensführung durchgespielt. 81 82 83 84
Hradil, „Lebensführung“; Voss, Eckpunkte; Otte, Entwicklung; Rçssel, Theorien. Grb-Schmidt, Lebensführung, 154. Otte, Entwicklung, 451. Ebd. 452.
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Der Band ist so aufgebaut, dass die Veränderungen im Verhältnis von Religion und Gesellschaft in den unterschiedlichen Teilbereichen der Lebensführung getrennt behandelt werden. Solche Lebensbereiche sind: Arbeit, Freizeit85 und Konsum (Kapitel 2), Ehe und Familie (Kapitel 4) sowie Sexualität und Fortpflanzung (Kapitel 5). Außerdem ist ein Kapitel der speziellen Lebensphase der Jugend gewidmet (Kapitel 3). Die Beiträge beziehen sich überwiegend auf den evangelischen Bereich, behandeln aber auch das Feld des Katholizismus und sind zumeist bikonfessionell angelegt. Am Anfang jedes Kapitels steht eine kurze Einführung in die Thematik. Darauf folgen selektive Tiefenbohrungen zu Aspekten des Themas, die den sich in den langen 60er Jahren vollziehenden religiösen Wandel beispielhaft veranschaulichen sollen. Dabei stehen im Hintergrund der einzelnen Beiträge die in der Einleitung angesprochenen Fragen, also – um es zu wiederholen – die Fragen danach, wie sich der Einfluss der Kirchen und religiöser Werte und Normen auf die individuelle Lebensführung im Laufe der langen 60er Jahre verändert hat, wie tiefgehend der Wandel war, wie er zeitlich einzuordnen ist, ob es sich bei ihm um eine weiche oder eine harte Zäsur handelte, welches seine sozialen Träger waren, durch welche sozialen, politischen, ökonomischen Faktoren er bedingt war, inwieweit die unterschiedlichen Dimensionen des Religiösen gleichermaßen von ihm betroffen waren und wie die Kirchen auf ihn reagiert haben, ja und schließlich inwieweit sie ihn selbst moderieren konnten. Dies sind die leitenden Fragen der nachfolgenden Texte, denen diese themen- und fachspezifisch in je unterschiedlicher Weise nachgehen.
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Kapitel 1: Religiçser und gesellschaftlicher Wandel
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Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren
In der Forschung besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die langen 1960er Jahre durch einen tiefgehenden sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Wandel gekennzeichnet waren. Uneinig ist sie sich jedoch darüber, wann die Phase des radikalen Wandels einsetzte, ob es sich bei ihm um eine evolutionäre Veränderung gehandelt hat oder um einen revolutionären Bruch. Mehr und mehr Forscher verlegen den Beginn des Wandels bereits in die 1950er Jahre und behandeln den Übergang von den 1950er zu den 60er Jahren daher als eine weiche Zäsur. Sie interpretieren die 1950er Jahre nicht, wie ein verbreitetes Urteil in der Forschung noch bis vor kurzem lautete, als bleierne, statische Zeit, sondern als Inkubationszeit des dynamischen Wandels, die – vor allem in ihrer zweiten Hälfte – Modernisierung und Liberalisierung bereits in Gang gesetzt habe1. Jugendlichen Protest, Aufruhr gegen die „autoritären Kontrollansprüche von Elternhaus, Schule, Behörden“, widerspenstige Unangepasstheit, ja, zersetzende Sinnlichkeit habe es bereits in den 1950er Jahren gegeben, nicht erst in den 1960ern2. Diese Sicht, wie sie sich in der Profangeschichte findet, gewinnt auch in der Kirchen- und Religionsgeschichte zunehmend Resonanz. Zwar gibt es auch noch jene Stimmen, die den Übergang von den 1950er zu den 60er Jahren als harte Zäsur begreifen. Callum Brown3 etwa sieht das gesamte 19. Jahrhundert bis zum Beginn der 1960er Jahre durch einen Frömmigkeit, Weiblichkeit und Häuslichkeit verknüpfenden Diskurs charakterisiert, der durch seine Dominanz über viele Generationen hinweg die Sozialisation der nachwachsenden Generationen in den Familien nachhaltig geprägt habe und erst Anfang der 1960er Jahre plötzlich zusammengebrochen sei. Brown4 vermag sogar das Jahr genau anzugeben, in dem der religiöse Diskurs kollabierte: 1963. Es mehren sich jedoch die Stimmen, die einen solchen harten Bruch bestreiten und die Anzeichen des religiösen Wandels bereits in den 1950er Jahren ausmachen. So entdeckt Thomas Großbölting5 die Ursachen für die abrupte Erosion in den langen 1960er Jahren bereits in der Zeit davor. „Unter der Oberfläche“ einer 1 Schçnhoven, Aufbruch, 127; Herbert, Wandlungsprozesse, 41; Bude, Altern, 55. 2 Schildt / Sywottek, Modernisierung, 38; Eisfeld, Als Teenager träumten, 10 f.; Herbert, Wandlungsprozesse, 46. 3 Brown, Death. 4 Ebd., 9, 195. 5 Grossbçlting, Himmel, 29 f., 176 f.
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vermeintlich gelungenen Rechristianisierung sei es bereits in den 1950er Jahren zu beachtlichen Auflösungserscheinungen, insbesondere in der kirchlichen Jugendarbeit, gekommen6. Auch Hugh McLeod7 meint, dass die 1950er Jahre als Vorbereitung der 1960er verstanden werden müssen. Gleichzeitig interpretiert er die 1960er aber auch als einen Weg, den 1950ern zu entkommen. Die erste sich aus den Diskussionen der Historiker ergebende Frage muss also lauten, wann der religiös-kirchliche Umbruch, dessen Radikalität nicht in Frage steht, einsetzte und ob sich der Wandel eher langsam oder abrupt vollzog. Eine zweite in der Forschung breit verhandelte Frage bezieht sich darauf, ob die einzelnen Bereiche des Religiösen vom religiös-kirchlichen Wandel in gleicher Weise betroffen waren oder ob es starke konfessionelle Unterschiede sowie Unterschiede zwischen einer mehr institutionell gebundenen und einer mehr individualistischen Religiosität gab. Vor allem die letzte Frage wurde breit diskutiert, wobei die wichtigsten Beiträge zu dieser Debatte bislang aus dem Raum der Religionssoziologie kamen. Religionssoziologen wie Thomas Luckmann8, Hubert Knoblauch9, Karl Gabriel10 und andere stellen heraus, dass die seit den 1960er Jahren beobachtbaren Abbrüche auf dem religiösen Feld lediglich die kirchlichen Bindungen betreffen. Religion insgesamt habe keinen Bedeutungsrückgang erfahren. Sie verwandle seit den sechziger Jahren lediglich ihre dominanten Formen und sei nun zunehmend auch außerhalb der Kirchen, ja außerhalb des Christentums anzutreffen. Diese neuen Formen des Religiösen zeichneten sich durch ein hohes Maß an Individualismus, AntiInstitutionalismus und Synkretismus aus. Statt von Säkularisierung sprechen sie daher von Transformation, um den religiösen Wandel, wie er sich seit den 60er Jahren vollzogen hat, zu erfassen. Darüber hinaus wird in der zeitgeschichtlichen und soziologischen Forschung die Frage nach den Trägern und den treibenden Ursachen des religiösen Wandels in den langen 1960er Jahren diskutiert. Als Akteure des Wandels werden die jungen Arbeiter11 ebenso ins Gespräch gebracht wie die Hochgebildeten und Studierenden12, die Frauen13 ebenso wie die männlichen gutverdienenden Städter14. Um die antreibenden Motoren des Wandels zu bestimmen, bedienen sich Historiker häufig modernisierungs- und säkularisierungstheoretischer Argumente. Dabei verweisen sie auf Faktoren wie den 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Ebd., 26 ff., 30, 41, 88 f. McLeod, Religious Crisis, 10. Luckmann, Religion. Knoblauch, Bewegungen; Ders., Religion; Ders., Populäre Religion. Gabriel, Christentum. Gilbert, Post-Christian Britain, 86 ff. Wuthnow, American Religion, 154 ff. Brown, Death, 176 ff. Kuphal, Abschied, 56 ff.
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wirtschaftlichen Aufschwung, den demografischen Wandel, Mobilität, Bildungsanstieg oder auch die Einführung der Anti-Baby-Pille15. Seit einiger Zeit wächst jedoch die Skepsis gegenüber modernisierungstheoretischen Ansätzen. Immer mehr Historiker und Sozialwissenschaftler halten die modernisierungs- und säkularisierungstheoretischen Annahmen zur Erklärung des religiösen Wandels der 1960er Jahre für unzureichend. McLeod16 erkennt die Säkularisierungstheorie zwar als Mittel zur summarischen Beschreibung religiöser Trends an, bestreitet ihr aber die erklärende Kraft. Thomas Großbölting17 hält sie für „widerlegt“. Auch Wilhelm Damberg verzichtet ausdrücklich auf den Begriff der Säkularisierung zur Kennzeichnung des religiösen Wandels in der Bundesrepublik und wählt stattdessen den Begriff der Transformation. Geradezu dogmatisch fallen die Urteile von Mark Edward Ruff18 aus, der die Güte historischer Analysen danach beurteilt, ob sie modernisierungstheoretische und säkularisierungstheoretische Argumente vermeiden, und ihre Benutzung als „Rückfall“ rügt. Eine dritte hier zu behandelnde Frage bezieht sich mithin auf die Bestimmung der Träger des religiösen Wandels in den 1960er Jahren sowie auf die Erfassung der ihn beeinflussenden ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Faktoren. Die folgenden Analysen sind so angelegt, dass zunächst eine Beschreibung des religiösen Wandels erfolgt (2). Dabei wird vor allem Wert gelegt auf eine genaue Erfassung der Zäsuren des Wandels. Deshalb sind in die Beschreibung sowohl die Jahre vor den 1960er Jahren einbezogen als auch die Jahre danach. Außerdem kommt es in diesem Teil darauf an, konfessionelle Unterschiede sowie Unterschiede in der Entwicklung unterschiedlicher religiöser Dimensionen, insbesondere zwischen mehr kirchengebundener und stärker individualisierter Religiosität zu berücksichtigen. An diesen Teil schließt sich die Diskussion möglicher Erklärungen für die beobachteten Veränderungen auf dem religiösen Feld an (3). Nicht auf alle denkbaren Ursachen kann eingegangen werden. Im Zentrum werden vielmehr die Veränderungen in den familiären Strukturen, in den dominanten Wertorientierungen sowie im ökonomischen Sektor stehen. Bevor die Ergebnisse der Analysen präsentiert werden können, sollen jedoch einige methodologische Überlegungen vorgeschaltet werden (1).
15 16 17 18
Marwick, The Sixties, 17 ff. McLeod, Secularisation, 1–12; Ders., Religious Crisis, 16. Grossbçlting, Himmel, 14. Ruff, Integrating Religion, 312, 329.
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1. Methodologische Vorüberlegungen In der kirchengeschichtlichen und der religionssoziologischen Forschung gehört es seit einiger Zeit zum guten Ton, sich abwertend über den Gebrauch standardisierter und statistischer Forschungsmethoden zu äußern. Sie gelten als oberflächlich, wenig aussagekräftig, unterkomplex und hermeneutisch insensitiv. „Das Zählen der Köpfe“, das Arbeiten „in Entweder-Oder-Kategorien“ verhindere eine adäquate Abbildung der religiösen Subjektivität, erklärt etwa Thomas Großbölting19. Die Surveyforschung sei nicht in der Lage, die symbolische Dimension von Religion angemessen zu erfassen, ergänzt Monika Wohlrab-Sahr20. Die quantitative Messung von Religiosität benutze einen reduktionistischen Religionsbegriff und folge der Gleichung „Religion = christliche Religion = Kirche“ – das ist die von vielen geteilte Meinung Hubert Knoblauchs21. Hinter der Kritik an der mit quantitativen Methoden arbeitenden Sozialwissenschaft steht der Anspruch der qualitativen Forschung, die tieferen, relevanteren, innovativeren Erkenntnisse zu liefern. In einem ergebnisoffenen Forschungsprozess erkunde sie, so wird behauptet, das religiöse Feld, ohne durch standardisierte Methoden bereits auf erwartbare Ergebnisse festgelegt zu sein. Durch hermeneutische Verfahren erschließe sie die subjektive Relevanz von Religion, die für die quantitative Religionsforschung unzugänglich bleibe. Richtig daran ist, dass sich die soziologische Analyse nach dem cultural turn nicht mehr mit bloßen Häufigkeitsauszählungen begnügen kann und auch der Aufweis statistischer Korrelationen nicht mehr hinreichend ist. Der sozialwissenschaftlichen Arbeit muss es zweifellos darauf ankommen, die hinter den Häufigkeitsverteilungen und statistisch nachweisbaren Zusammenhängen liegenden Sinnmuster, die Weltinterpretationen der Akteure und ihre Eigenperspektive zu erhellen. Unbemerkt von ihren Kritikern hat die quantitativ arbeitende Religionsforschung die mit dem cultural turn verbundene Schwerpunktverschiebung von sozialen Strukturen hin zu kulturellen Semantiken und Orientierungen jedoch längst vollzogen. Seit den 1990er Jahren versucht sie, den subjektiven Bedeutungszuschreibungen des Religiösen durch eine Vielzahl methodologischer Innovationen Rechnung zu tragen. In zunehmendem Maße bezieht sie die subjektiven Sinndimensionen des Religiösen ein, analysiert sie die individuelle Zentralität von Religiosität und Spiritualität im Verhältnis zu anderen Lebensorientierungen22, berücksichtigt sie nichtchristliche und außerkirchliche religiöse Vorstellungswel19 20 21 22
Grossbçlting, Himmel, 30. Wohlrab-Sahr, „Luckmann 1960“, 53. Knoblauch, Populäre Religion, 17. Huber, Zentralität.
Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren
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ten23, fragt sie Assoziationen ab, die der Einzelne mit Religion verbindet, auf den ersten Blick mit Religion aber nichts zu tun zu haben scheinen (KMU III24) usw. Die Kritik, die quantitative Religionsforschung begnüge sich mit dem Auszählen kirchlicher Mitgliedschaften, dem Erheben der Frequenz religiöser Rituale und lasse die inhaltlichen Gehalte sowie die subjektiven Sinnrelevanzen des Religiösen unberücksichtigt, trifft auf die von ihr ausgeübte Forschungspraxis immer weniger zu. Wägt man die Vorzüge und Nachteile des quantitativen und des qualitativen Zugangs zur sozialen Wirklichkeit der Religion gegeneinander ab, so treten die Nachteile der qualitativen Methoden deutlich hervor. Trotz eines beachtlichen Professionalisierungsschubs überzeugt der qualitative Forschungsansatz nur bedingt. Viele der auf Grundlage qualitativer Methoden gewonnenen Forschungsergebnisse lassen sich im Gegensatz zu den mit standardisierten Methoden arbeitenden Analysen intersubjektiv nicht überprüfen. Auf welche Weise sie erzielt wurden, auf welchen theoretischen Voraussetzungen sie fußen, wie die zentralen Interpretationskategorien definiert sind, welche methodologisch angeleiteten Schritte gegangen wurden, bleibt oft intransparent. Darüber hinaus erweisen sich viele qualitative Forschungsergebnisse als wenig verlässlich. Andere Forscher wären bei der Arbeit mit demselben Material vielfach zu ganz anderen Interpretationen gekommen. Die Auswertungen und Deutungen qualitativer Analysen besitzen eine weitaus höhere Anfälligkeit für subjektive Sichtweisen und Neigungen als die mit quantitativen Methoden durchgeführten Untersuchungen. Vor allem aber fehlt den qualitativ erzeugten Einsichten die Repräsentativität. Nach welchen Kriterien Interviewpassagen ausgewählt wurden, welchen Allgemeingültigkeitsanspruch sie erheben können, bleibt zumeist unklar. Was z. B. besagt es, wenn ein Historiker einen Zeitzeugen der religiösen Veränderungen, wie sie sich etwa in der Bundesrepublik der 1950er Jahre vollzogen haben, mit der zufällig ausgewählten Aussage zitiert, dass alles ,bröckelt und rieselt‘? Wofür steht diese Aussage, welchen Stellenwert hat sie? Das wird innerhalb des qualitativen Untersuchungsdesigns nicht deutlich und kann nicht bestimmt werden. Das wäre nur möglich, wenn von einem qualitativen auf ein quantitatives Design umgeschaltet würde. Auch qualitative Aussagen bedürfen, wenn ihre soziale Relevanz ermittelt werden soll, der Einordnung in einen nur quantitativ bestimmbaren Kontext. Gleichwohl werden in qualitativ angelegten Untersuchungen immer wieder Verallgemeinerungen von zufälligen und abseitigen Befunden vorgenommen. So wichtig die Erfassung der subjektiven Bedeutungsdimension des Religiösen ist, so verfehlt wäre es jedoch, die Rekonstruktion der Deutungsmuster der Akteure zum vorrangigen oder gar alleinigen Ziel der soziologischen 23 Allbus (2002, 2012). 24 Dritte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung; vgl. Engelhardt / Loewenich / Steinacker, Fremde Heimat.
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Detlef Pollack
Analyse zu machen. Die rekonstruierten Deutungsmuster können allenfalls ihr Ausgangspunkt sein. Sie müssen ins Verhältnis gesetzt werden zu den Praktiken der Akteure, die von ihren Weltbildern und Selbstzuschreibungen zwar beeinflusst werden, von diesen aber durchaus abweichen können und daher aus ihnen auch nicht einfach ableitbar sind. Außerdem müssen sie auf die sozialstrukturellen, politischen, ökonomischen und rechtlichen Kontextbedingungen bezogen werden, die das Handeln der Individuen gleichfalls prägen, auch wenn die Handelnden von ihnen zuweilen kein Bewusstsein haben. Um eine solche Relationierung von Sozialstruktur, religiöser Praxis und religiöser Vorstellungswelt bemühen sich die nachfolgenden empirischen Analysen. Sie vertrauen ausschließlich auf die Aussagekraft von Daten, die mit Hilfe quantitativer Methoden gewonnen wurden. Das erlaubt eine höhere Transparenz, Reliabilität und Repräsentativität der Forschungsergebnisse, als sie durch den Umgang mit qualitativen Forschungsmethoden erzielt werden können. An verlässliche empirische Daten lassen sich weitreichende Interpretationen anschließen, die man bei Daten, die auf fragiler Grundlage erzeugt wurden, besser vermeiden sollte. Die Benutzung ausschließlich quantitativer Daten für die Erforschung des religiösen Wandels in den 1960er Jahren ist allerdings auch mit einem gravierenden Nachteil verbunden. Er besteht darin, dass die Dimension der religiösen Vorstellungswelt im Untersuchungszeitraum nur begrenzt abgebildet werden kann, da die Datenbasis bezüglich dieser Religiositätsdimension in den Jahren vor 1990 eingeschränkt ist. Die religiösen Überzeugungen und Vorstellungen lassen sich zwar durch Variablen wie den Glauben an Gott oder die Haltung zur Kirche abbilden. An Fragen zu nichtchristlichen religiösen Überzeugungen fehlt es indes weithin. Der Verlässlichkeit der Datengrundlage wird hier gegenüber ihrer Breite allerdings der Vorzug gegeben.
2. Beschreibung des religiösen Wandels 2.1 Religiöse Zugehörigkeit Ein Blick auf die Veränderungen der religiösen Zugehörigkeit seit Gründung der Bundesrepublik offenbart eine weitgehende Stabilität der kirchlichen Mitgliedschaftsverhältnisse bis etwa 1965 (vgl. Tabelle 1). In den Jahren danach bleiben die Anteile der katholischen Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung bis 1989 ebenfalls weitgehend stabil. Anders sieht es in Bezug auf die evangelischen Kirchen aus. Deren Mitgliederanteil geht seit 1965 kontinuierlich zurück. Machte er zu Beginn der 1960er Jahre noch die Hälfte der westdeutschen Bevölkerung aus, so lag er zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung zehn Prozentpunkte niedriger.
37
Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren Tabelle 1: Konfessionszugehörigkeit in Westdeutschland 1950–199025
1950 1955 1960 1961 1965 1970 1975 1980 1985 1990
Bevölkerung, früheres Bundesgebiet
Ev. Kirchenmitglieder
In % der Bev.
Kath. Kirchenmitglieder
In % der Bev.
50.798 53.518 55.958 56.589 59.297 61.001 61.645 61.658 61.020 63.726
26.172
51,5
28,400 29.079 28.378 27.184 26.104 25.106 25.156
50,2 49,0 46,5 44,1 42,3 41,1 39,5
22.518 23.457 24.583 24.956 26.142 27.206 27.011 26.713 26.308 27.423
44,3 43,8 43,9 43,9 44,1 44,6 43,8 43,3 43,1 43,0
Bei einer Betrachtung der Kirchenaustrittsraten wird das gewonnene Bild weitgehend bestätigt. Von den 1950er Jahren bis Mitte der 1960er Jahre war das Niveau der Kirchenaustritte äußerst niedrig. Jährlich verließen damals nicht mehr als Zwanzig- bis Dreißigtausend die katholische und Dreißig- bis Vierzigtausend die evangelische Kirche (vgl. Tab. 3). Das entspricht einer jährlichen Kirchenaustrittsrate von 0,1 bis 0,2 % (vgl. Grafik 1). Die Zahl der Eintritte und Wiederaufnahmen belief sich bei den Katholiken auf 15.000 bis 20.000, bei den Evangelischen auf etwa 35.000 und lag damit kaum unter dem Niveau der Kirchenaustritte. Die Aufnahmen glichen in den Jahren zwischen 1950 und 1965 die Austritte also nahezu aus. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre schnellten die Kirchenaustrittszahlen jedoch quasi „über Nacht“ nach oben26. Der Anstieg setzte in den evangelischen Kirchen 1967/68 ein, in der katholischen Kirche ein Jahr später und erreichte bei den Evangelischen mit 216.000 Austritten im Jahr 1974 – dem Höhepunkt der Austrittswelle – mehr als das Fünffache und bei den Katholiken mit 83.000 im selben Jahr das Dreieinhalbfache des Niveaus von 1965 (vgl. Tab. 3). Bemerkenswert ist die Dynamik des Anstiegs. Innerhalb von drei Jahren verdreifachten sich die Austrittszahlen sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche (vgl. Tab. 3). So plötzlich die Austrittskurve 25 Von 1950 bis 1990 mit West-Berlin und Saarland; von 1995 bis 2010 ohne Berlin. In leeren Rubriken sind verlässliche Zahlenangaben nicht verfügbar. Quellen: Statistisches Bundesamt, Statis; für 1950: Ergebnisse der Volkszhlung, vgl. Kirchliches Jahrbuch 85 (1958), 430 f.; für kath. Kirchenmitglieder: Liedhegener, Macht, Tab. A 2.1; sowie Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Eckdaten. Zahlen für Westberlin geschätzt nach IKSE 1997. Schätzungen ebenso für 1995. Für ev. Kirchenmitglieder 1961: Kirchliches Jahrbuch 114 (1987), 417. Ansonsten: Evangelische Kirche in Deutschland 1997, 78; Dies. 2006, 6; Dies. 2011, 6. 26 Gabriel, Christentum, 46.
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angestiegen war, so plötzlich flachte sie sich ab Mitte der 1970er Jahre wieder ab (vgl. Grafik 1). Auch wenn sie das niedrige Niveau der 1950er Jahre nicht wieder erreichte, blieb sie für die nächsten zehn Jahre auf einem moderaten Level. Grafik 1: Kirchenaustritte in Westdeutschland 1945–1990 in % der Mitglieder
Interessanterweise verlief die Entwicklung der katholischen und der evangelischen Austrittsraten vollkommen parallel (vgl. Grafik 1). Das verweist darauf, dass die Kirchenaustritte primär von kirchenexternen Faktoren, weniger vom Handeln der Kirchen beeinflusst wurden. Außerdem fällt auf, dass die Kirchenaustrittsrate bei den Evangelischen stets über der der Katholiken lag. Die Beobachtung, dass es der katholischen Kirche besser als der evangelischen gelingt, ihren Mitgliederbstand zu bewahren, bestätigt sich hier noch einmal. Einen ähnlichen Verlauf wie die Austrittsraten nahm auch die Entwicklung der Taufquote (vgl. Tabelle 2). In den ersten 15 Jahren der Bundesrepublik war sie sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche in etwa stabil. Bei den Evangelischen bewegte sie sich um die Marke von 45 %, bei den Katholiken um die 50-Prozentmarke. Dann aber brach sie innerhalb von zehn Jahren – von 1965 bis 1975 – um mehr als 15 Prozentpunkte ein, wobei der Rückgang die evangelische Kirche stärker erfasste als die katholische (vgl. Tabelle 2). Die darauf folgende Periode war wiederum durch Tendenzen einer leichten Erholung gekennzeichnet.
Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren
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Tabelle 2: Lebendgeborene und Kindertaufen in Westdeutschland 1950–201027
1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010
Geburten
Ev. Taufen
in %
Kath. Taufen
in %
Insges.
in %
772.850 785.082 947.124 1.044.328 810.808 600.512 620.657 586.155 727.199 660.841 636.102 560.092 542.345
358.733 367.368 425.053 476.057 345.994 217.104 221.982 223.798 257.312 233.569 209.881 178.681 154.184
46,4 46,8 44,9 45,6 42,7 36,1 35,7 38,2 35,4 35,3 33,0 31,9 28,4
389.370 400.931 470.775 502.559 368.518 249.821 257.584 254.090 293.835 255.240 227.450 190.910 165.016
50,4 51,1 49,7 48,1 45,4 41,6 41,5 43,4 40,4 40,1 35,8 34,1 30,4
748.103 768.299 895.828 978.616 714.512 466.925 479.567 477.888 551.147 488.809 437.331 369.591 319.200
96,8 97,9 94,5 93,7 88,1 77,7 77,3 81,5 75,8 74,0 68,8 66,0 58,9
Bis 1968 verzeichneten beide Kirchen nominell noch Mitgliedergewinne, die allerdings in der katholischen Kirche höher ausfielen als in der evangelischen (vgl. Tabelle 3). Das hatte vor allem mit der trotz ihres geringeren Mitgliederbestandes höheren Zahl an Taufen bei den Katholiken zu tun. Die höhere Zahl katholischer Taufen erklärt sich nicht nur aus einer höheren Taufquote, sondern auch aus einer höheren Zahl geborener Kinder mit katholischen Eltern sowie aus der Tatsache, dass Kinder aus evangelisch/katholischen Mischehen über lange Zeit mehrheitlich katholisch getauft wurden28. Nach 1968 kehrte sich die Entwicklung jedoch um. Mit einer zeitlichen Versetzung von ein bis zwei Jahren verloren seitdem beide Kirchen mehr Mitglieder als sie gewannen.29 Der Rückgang setzte in der evangelischen Kirche etwas früher ein als in der katholischen Kirche und erfasste jene stärker als diese. In den 1970er und 1980er Jahren lagen die Nettoverluste bei den Evangelischen stets um mehr als das Doppelte über denen der Katholiken.
27 Geburten und Taufen bis 1956 ohne Saarland und Westberlin, von 1957 bis 1961 mit Saarland und ohne Westberlin, ab 1961 mit Saarland und Westberlin, ab 1995 wieder ohne Westberlin. Quellen: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland. Kirchliches Handbuch Bd. XXIV: 1952–1956, 352; Bd. XXV: 1957–1961, 548; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2013; Kirchliches Jahrbuch 81 (1954), 303; 84 (1957), 258; 119 (1992/93), 489; Evangelische Kirche in Deutschland 1997, 78; Dies. 2006, 8; Dies. 2011, 8. 28 Evangelische Kirche in Deutschland 1997, 7. 29 Anders Benjamin Ziemann (Ziemann, Ende, 93), der meint, der Saldo sei bereits seit 1952 negativ.
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Tabelle 3: Taufen, Übertritte, Wiedereintritte und Sterbefälle und Austritte in Westdeutschland 1950–1990 (in Tausend)30 Katholische Kirche
Evangelische Kirche
Kinder- Aufnah- Sterbe- Aus- Netto Kinder- Aufnahtaufen men fälle tritte taufen men 1950 1955
389 401
31 19
1960 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1975 1980 1985 1990
471 503 500 480 452 422 369 250 258 254 300
20 14 13 11 9 7 6 6 8 9 9
260 274 284 286 288 306 310 305 310 296 293 297
25 21 24 23 22 22 28 39 69 69 66 74 144
+140 +211 +210 +205 +181 +127 +80 -1 -123 -97 -104 -132
359 367 425 476 476 463 441 399 345 217 222 224 257
(34) (36) 35 34 31 29 23 21 18 30 38 42
Sterbe- Aus- Netto fälle tritte
310 332 350 356 355 381 385 379 381 359 350 348
53 39 35 40 40 44 61 112 203 169 120 140 144
+51 +97 +121 +114 +95 +28 -75 -215 -315 -227 -228 -192
2.2 Religiöse Praxis Eine Betrachtung der Befragungsergebnisse und der kirchlichen Statistiken macht deutlich, dass die Jahre zwischen 1950 und 1965 noch durch einen hohen Gottesdienstbesuch auf nahezu gleichbleibendem Niveau gekennzeichnet waren. Nach den Selbstaussagen der Befragten stieg der Anteil der regelmäßigen Gottesdienstbesucher sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche zwischen 1952 und 1963 sogar leicht an (vgl. Tabelle 4). Den statistischen Erhebungen zufolge, die allerdings nur für die katholische Kirche vorliegen, verringerte er sich von 1950 bis 1965 hingegen moderat (vgl. Tabelle 5). Für das Dezennium von 1965 bis 1975 aber müssen wir von einem Einbruch des Gottesdienstbesuchs sprechen. In den Jahren nach dem Umbruch der späten 1960er und der beginnenden 70er Jahre senkte sich die Gottesdienstbesucherrate zwar weiter ab, allerdings 30 Geburten und Taufen bis 1956 ohne Saarland und Westberlin, Geburten bis 1961 ohne Westberlin, Geburten ab 1961 mit Saarland und Westberlin; Aufnahmen einschließlich Übertritte, Wiederaufnahmen und Erwachsenentaufen. Quellen: Kuphal, Abschied, 37; Eicken / Schmitz-Veltin, Entwicklung, 589; Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland; Kirchliches Handbuch Bd. XXIV: 1952–56, 352, Bd. XXV: 1957–1961, 548; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2010: Eckdaten; Dass. 2013; Dass. 2014; Kirchliches Jahrbuch 80 (1954), 303; 84 (1957), 258; 119/120 (1992/93), 489; Evangelische Kirche in Deutschland 1997, 78; Dies. 2006, 6, 8, 12; Dies. 2011, 6, 8, 17.
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Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren
in einem geringeren Tempo. Insgesamt sind die Verluste allerdings auch nach 1975 beachtlich. Sie erfassen die katholische Kirche stärker als die evangelische und sind überproportional hoch in der jungen Generation. Lag der Gottesdienstbesuch der 16–29-Jährigen in der ersten Hälfte der 1960er Jahre sowohl in der evangelischen als auch in der katholischen Kirche noch fast im Durchschnitt, so machte er 1973 in beiden Kirchen weniger als die Hälfte des Anteils der Gottesdienstbesucher unter den über 60-Jährigen aus (vgl. Tabelle 4). Die Untersuchung des Kirchgangs in den Jahren zwischen 1950 und 1990 hat ergeben, dass die Perioden des rapiden und des langsamen Wandels denen in der Entwicklung der Zugehörigkeitsdimension völlig entsprachen. Nach einer Phase der relativen Stabilität folgte von 1965 bis 1975 die Periode des beschleunigten Niedergangs, die wiederum von einer langen Phase des moderaten Rückgangs mit retardierenden Momenten in den 1980er Jahren abgelöst wurde. Tabelle 4: Regelmäßiger Gottesdienstbesuch der Katholiken und Protestanten in Westdeutschland 1952–2012 (in %)31 Es besuchten regelmäßig den Gottesdienst
1952 1963 1967/ 1973 1982 1991 1999 2005 2012 69
Katholiken insgesamt Katholiken im Alter von: 16–29 30–44 45–59 60 Jahre und älter
51
55
48
35
32
33
26
23
23
52 44 50 63
52 51 56 64
40 42 53 62
24 28 46 57
19 26 29 54
17 21 34 54
10 15 24 50
6 12 18 41
4 14 17 41
Protestanten insgesamt Protestanten im Alter von: 16–29 30–44 45–59 60 Jahre und älter
13
15
10
7
6
8
7
8
8
12 7 13 23
11 10 16 24
6 6 11 22
3 3 7 12
4 4 6 12
4 4 7 17
4 3 6 15
3 8 5 13
1 6 6 15
31 Allensbacher Institut fìr Demoskopie, Markt- und Werbeträgeranalyse 1978 ff.; Kçcher, Religiös, 175.
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Detlef Pollack
Tabelle 5: Anteil derer, die wöchentlich die Kirche besuchen, unter den Katholiken bzw. Protestanten 1950–2010 in Westdeutschland (kirchliche Zählungen) (in %)32
1950 1955 1960 1963 1965 1970 1973 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010
Katholiken
Protestanten
52,4 50,6 48,6 46,0 44,9 37,3 33,7 32,6 29,1 25,8 21,9 18,6 16,5 14,3 12,6
– – – 7,0 – – 5,0 5,5 5,4 5,4 4,1 4,2 4,0 3,7 3,5
Mit dem Gottesdienstbesuch wird nur die öffentliche religiöse Praxis erfasst. Um Aussagen auch über die private religiöse Praxis machen zu können, wollen wir uns hier auf Veränderungen in der Tradition des Tischgebets beziehen. 1965 gaben noch 29 % der Westdeutschen an, dass in ihrer Familie vor oder nach den Mahlzeiten gebetet würde. Weitere 17 sagten, sie beteten zu Tisch zumindest manchmal. Mitte der 1960er Jahre wurde das Tischgebet also in fast der Hälfte aller Familien noch praktiziert. 17 Jahre später erklärten nur noch 11 %, sie würden zu den Mahlzeiten beten, und weitere 14 %, sie würden es zumindest manchmal tun. Der Anteil der Familien, in denen das Tischgebet verbreitet war, hatte sich von knapp der Hälfte auf ein Viertel reduziert. Weitere 17 Jahre später war die Verbreitung des Tischgebets in etwa gleich geblieben. Wieder erweisen sich die 1960er und 70er Jahre als eine Phase des beschleunigten religiösen Wandels. Leider liegen für die Zeit vor 1965 keine Vergleichszahlen vor. 2.3 Religiöse Vorstellungen und Überzeugungen Um die Dimension der religiösen Vorstellungen, Überzeugungen und Erfahrungen erfassen zu können, sei vor allem auf einen Indikator zurückgegriffen: 32 Liedhegener, Macht, Anhang A 2: Grunddaten zur Kirchenbindung unter Katholiken; Rohde, Kirchliche Statistik, 433; Evangelische Kirche in Deutschland 1990 ff.; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1990 ff.
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Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren
auf die Frage, inwieweit sich Menschen zum Glauben an Gott bekennen. In Abgrenzung zu Aussagen der religionssoziologischen Individualisierungsthese von Thomas Luckmann, Grace Davie oder Hubert Knoblauch ist zunächst festzuhalten, dass nicht nur die Kirchenbindung und die kirchliche Praxis in den 1960er Jahren rückläufig war, sondern auch der Glaube an Gott. Auch wenn sich der Rückgang nicht geradlinig vollzieht, ist der Trend insgesamt gesehen doch eindeutig. 1968 gaben noch knapp 80 % der westdeutschen Bevölkerung an, an Gott zu glauben (vgl. Tabelle 6). Innerhalb von nur sieben Jahren fiel ihr Anteil dann jedoch um etwa zehn Prozentpunkte. In den nächsten Jahrzehnten ging er nur noch leicht zurück und pendelte sich auf einen Wert knapp unter der Marke von 70 % ein. In den 20 Jahren vor 1968 lässt sich zwar auch ein Rückgang des Gottesglaubens beobachten. Er vollzog sich allerdings weitaus langsamer als in den Jahren zwischen 1968 und 1975. Damit bestätigt sich noch einmal die Ausnahmestellung der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Tabelle 6: Gottesglaube, 1968–1999 in Westdeutschland (in %)33 „Glauben Sie an Gott?“ Ja Nein Weiß nicht/keine Antwort
1968
1975
1981
1990
1999
81
72
72 16 12
63 18 19
70 21 9
Für die Annahme einer solchen Ausnahmestellung spricht auch die Entwicklung eines weiteren Indikators: des Glaubens an ein Leben nach dem Tod. Auf die Frage, ob man daran glaube, dass es in irgendeiner Form ein Leben nach dem Tod gibt, antworteten in den Jahren kurz vor und nach 1960 etwa 40 % mit Ja34. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre waren es etwa 35 %, in den 1980er Jahren hingegen wieder um die 40 %. Die Durchsicht einschlägiger Kirchlichkeits- und Religiositäts-Variablen hat ergeben, dass in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ein teilweise dramatischer Rückgang der kirchlichen und religiösen Bindung einsetzte, der sich bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre erstreckte. Zwar ließen sich auch in der Zeit vor 1965 rückläufige Tendenzen beobachten. Sie vollzogen sich aber weniger rapide und waren nicht annähernd so tiefgreifend wie nach 1965. Von diesen Rückgängen waren die kirchlichen Bindungen – ausgedrückt in der Kirchenmitgliedschaft, der Kirchenaustrittsneigung sowie der kirchlichen Praxis – stärker betroffen als die individuelle Religiosität, hier abgebildet etwa durch den Glauben an Gott und den Glauben an ein Leben nach dem Tod. Es wäre aber falsch mit Grace Davie35 und anderen anzunehmen, dass beide 33 Gallup Opinion Index; EVS. 34 Pollack / Rosta, Religion, 138. 35 Davie, Europe, 8.
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Dimensionen unabhängig voneinander wären. Ihre These vom „believing without belonging“ lässt sich durch die hier präsentierten Daten nicht bestätigen. Die Frage, die im explanatorischen Teil zu behandeln ist, lautet also, warum der dramatische Rückgang in der kirchlichen Bindung und der individuellen Religiosität – erkennbar an anschwellenden Kirchenaustrittszahlen, einbrechenden Gottesdienstbesucherzahlen, zurückgehendem Gottesglauben – in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre einsetzte und warum die religiös-kirchliche Bindung zuvor relativ stabil war?
3. Erklärung des religiösen Wandels Einen ersten Hinweis auf die Ursachen des historisch einzigartigen religiöskirchlichen Umbruchs der 1960er Jahre erhalten wir, wenn wir uns die sozialen Trägergruppen des Wandels ansehen. Wie Armin Kuphal36 herausgearbeitet hat, waren es vor allem Höhergebildete, Männer, Städter und sozial Bessergestellte, die in den 1960er Jahren den Kirchenaustritt vollzogen. Wir vermuten daher einen engen Zusammenhang der religiös-kirchlichen Abbruchstendenzen mit den sich in dieser Zeit vollziehenden Prozessen der Bildungsexpansion und des Wertewandels, der Urbanisierung und des Umbaus der Landwirtschaft sowie des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Wohlstandsanhebung. Die in den 1960er Jahren ablaufenden Veränderungen betrafen alle gesellschaftlichen Bereiche, die Ökonomie wie die Politik, die massenmediale Öffentlichkeit wie die Literatur und Kunst, ebenso aber auch den ganzen Bereich der Alltagskultur und der Formen des familiären Zusammenlebens, den Lebensstil, das Konsumverhalten, die Geschlechterverhältnisse und die Sexualität. Zur Erklärung des religiösen Wandels wollen wir uns hier auf drei Bereiche konzentrieren, die mit Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Sphären wahrscheinlich stark korrelieren: mit den Veränderungen in den Familienstrukturen (3.1), in den Werthaltungen (3.2) sowie im Wirtschaftssektor (3.3). 3.1 Wandel der Familienstrukturen Ein Blick auf die Veränderung der Familienstrukturen offenbart starke Parallelen zur religiös-kirchlichen Entwicklung. Wie der religiös-kirchliche Bereich zeichneten sich auch die familiären Strukturen in den Jahren von 1950 bis 1965 durch eine überraschende Stabilität aus. Die Erstverheiratungsrate war hoch, die Scheidungsziffer gering, die Geburtenrate hoch, die Rate der nicht ehelichen Kinder gering. Das kleinbürgerliche Familienmuster mit 36 Kuphal, Abschied, 56–107.
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verheirateten Ehepartnern und Kindern erfreute sich einer hohen Wertschätzung. Es galt nicht nur einer überwältigenden Mehrheit als selbstverständliche Norm, sondern hatte sich auch auf der Verhaltensebene fast universell durchgesetzt37. Bis Anfang der 1960er Jahre lag die Erstheiratsziffer auf einem äußerst hohen Niveau, bei etwa 110 % (vgl. Tab. 7). Ab 1968 aber begann sie zu sinken, bis sie sich Ende der 1970er Jahre auf einem Level knapp über 60 % einpegelte, auf dem sie bis 2000 bleiben sollte. Ebenso war die Ehescheidungsrate in den 1950er und 1960er Jahren bemerkenswert gering. Nach dem kriegsbedingten Hoch ging sie unmittelbar nach 1950 auf das niedrigste Niveau der Nachkriegszeit zurück und stieg erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wieder an (vgl. Tab. 7). Auch die Geburtenrate war in den 1950er und 1960er Jahren ungewöhnlich hoch. Trotz Einführung der Pille 1961 wuchs sie bis 1965 sogar noch an und fiel erst danach stark ab; in den Jahrzehnten nach 1975 blieb sie hingegen relativ konstant (vgl. Tab. 7). Und auch für die Rate der nicht ehelichen Kinder bildete die zweite Hälfte der 1960er Jahre den Umkehrpunkt. Der Anteil der unehelich geborenen Kinder sank bis 1966 und erhöhte sich in den Folgejahren beträchtlich (vgl. Tab. 7). Stets fiel der Einschnitt für den Umbruch in der Entwicklung der Ehe- und Familienstrukturen in die zweite Hälfte der 1960er Jahre, in der auch der Umbruch in der religiös-kirchlichen Entwicklung lag. In den ersten 15 Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik gab das Ideal der bürgerlichen Normalfamilie das Leitbild der ehelichen und familiären Praxis ab, auch wenn die verhaltenspraktischen Abweichungen von diesem Ideal mit der dazugehörigen Doppelmoral in dieser Zeit vielleicht weit verbreitet waren38. Wahrscheinlich steht hinter der Korrespondenz zwischen familienstruktureller und kirchlicher Entwicklung die allgemeine Orientierung an einem kleinbürgerlichen Ordnungsmodell, wie sie für weite Teile der Bevölkerung in der jungen Bundesrepublik typisch war. Nach den Zerstörungen des Krieges und den Erfahrungen von wirtschaftlicher Not, Knappheit, Korruption und Chaos in der Nachkriegszeit sehnte man sich nach Wiederherstellung von „Normalität“, nach existentieller Sicherheit, nach geordneten politischen und sozialen Verhältnissen sowie nach familiärem Rückhalt und moralischem Anstand39. Die Herstellung familiärer Normalverhältnisse passte ebenso in dieses Ordnungsstreben wie die Beachtung kirchlicher Verhaltenserwartungen und Normen. So wie viele eine christlich legitimierte Staatsordnung befürworteten, so bejahten viele auch ein christliches Familienideal.40 Die Basierung des staatlichen Handelns auf christliche Grundsätze ebenso wie die 37 38 39 40
Peuckert, Familienformen, 17. Friedeburg, Umfrage, 48 f. Herzog, Seeking Normality ; Schildt / Siegfried, Kulturgeschichte, 95 ff. Großbölting (Grossbçlting, Himmel, 39) macht hingegen geltend, dass die Ehe und das Zusammenleben von Mann und Frau bereits in den 1950er Jahren „von der kirchlichen Begleitung und Ausdeutung herausgelöst“ waren.
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Verknüpfung von christlichem Glauben und familiärer Ordnung versprach Sicherheit in einer durch die Angst vor einem neuen Weltkrieg, vor Preissteigerungen und ökonomischen Krisen bestimmten Welt41. Tabelle 7: Veränderungen der familiären Strukturen in Westdeutschland 1950–199542 Erstheiratsziffer Erstheiratsziffer Ehescheidungen Zusammenge- Uneheliche Kinbei Frauen bei Männern auf 100 Ehefasste Geder auf 1000 je 100 Ledige je 100 Ledige schließungen* burtenziffer** Geburten** 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995
112
135
106 110 97 75 66 60 64 60
106 91 90 73 64 58 60
16 10 9 12 17 28 27 35 29 38
2,10 2,11 2,37 2,51 2,02 1,45 1,44 1,28 1,45 1,34
97 79 63 47 55 61 76 94 105 129
Wenn es darum geht, auf der Individualebene genau nachzuzeichnen, wie die Religiosität einer Person mit ihrer familiären Situation zusammenhängt, so müssen wir zunächst darauf hinweisen, dass uns für die Analyse dieses Zusammenhangs nur neuere Daten zur Verfügung stehen. Sofern wir diese als Annäherung an die Verhältnisse in den 1960er Jahren akzeptieren, können wir jedoch einen klaren positiven Zusammenhang zwischen der Religiosität bzw. Kirchlichkeit einer Person und der Anzahl der Kinder, die sie hat, feststellen. Je höher die Kinderzahl, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie konfessionell gebunden ist, zum Gottesdienst geht, dem Glauben an Gott eine hohe Priorität einräumt und sich als religiös versteht43. Doch korreliert die religiös-kirchliche Bindung einer Person nicht nur mit der Zahl ihrer Kinder, sondern auch mit der Tatsache, ob sie ihre Kinder allein oder gemeinsam mit einem Partner erzieht44. Alleinerziehende Mütter neigen stärker als Personen, die ihre Kinder 41 Noelle / Neumann, Jahrbuch 1947–1955, 117; Noelle / Neumann, Jahrbuch 1958–1964, 193. 42 * seit 1990: ohne Berlin-West; ** seit 2001 ohne Berlin-West; Die zusammengefasste Geburtenziffer gibt an, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommen würde, wenn ihr Geburtenverhalten so wäre wie das aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren im jeweils betrachteten Jahr. Quellen: Engstler / Menning, Familie, 65; Peuckert, Familienformen, 32; Council of Europe, developments; Grìnheid / Mammey, Bericht 1997, 386; Rytlewski / Opp de Hipt, Bundesrepublik, 46; www.destatis.de; http://www.bmfsfj.de/doku/Publikatio nen/genderreport/4-Familien-und-lebensformen-von-frauen-und-maennern/4-1-Einleitung/ 4-1-2-zur-veraenderung-der-geburtenziffern-in-deutschland.html. http://www.bpb.de/nach schlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61550/geburten; Destatis 2012: 24. Eigene Berechnungen. 43 Pollack / Rosta, Religion in der Moderne, 162. 44 Und darüber hinaus von der konfessionellen Homogenität der Ehe. Vgl. dazu Owetschkin in
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mit einem Partner erziehen, dazu, sich von Konfessionsgemeinschaften fernzuhalten, nie zum Gottesdienst zu gehen, sich als nicht spirituell zu definieren, den Gottesglauben als unwichtig einzuschätzen und auch der religiösen Erziehung der eigenen Kinder eine geringe Bedeutung zuzuweisen. Ob dabei die Kinderzahl und das Eingehen einer Partnerschaft die religiöskirchliche Bindung beeinflussen oder ob die Einflussrichtung umgekehrt verläuft oder ob beide Variablen von einem dritten Faktor, z. B. bestimmten wertkonservativen Einstellungen, beeinflusst werden, kann anhand der Korrelationen allein nicht entschieden werden. Wahrscheinlich tendieren religiöskirchlich eingestellte Mütter und Väter zur Orientierung an einem christlichen Familienbild, so wie Paare mit Kindern christliche Vorstellungen und Ritualpraktiken in der Erziehung ihrer Kinder möglicherweise als hilfreich erleben. Außerdem gibt eine hohe Kinderzahl immer wieder Anlass, Feste des Übergangs, seien es Taufe, Konfirmation, Firmung oder Trauung, in der Kirche zu feiern; es ist anzunehmen, dass durch solche rites des passage die kirchliche Verbundenheit gestärkt wird. 3.2 Wertewandel Dass die Korrespondenz von familienstrukturellen und religiös-kirchlichen Entwicklungen in hohem Maße durch die Orientierung an einem kleinbürgerlichen Ordnungsmodell bedingt war, wird durch die Veränderungen in den Wertorientierungen bestätigt. Bis Mitte der 1960er Jahre dominierten Werte wie Leistung, Gehorsam, Ordnung oder Disziplin über den Wert Selbständigkeit (vgl. Grafik 2). Obwohl die Akzeptanz der Ordnungswerte bereits vor 1965 rückläufig war, kam es erst zwischen 1965 und 1972 zu einer Umkehrung der Wertehierarchie. Erst ab dieser Zeit dominierten individualistische Werte wie Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung gegenüber kollektivistischen Gehorsams- und Akzeptanzwerten.
diesem Band. Im Gegensatz zu den von ihm zitierten Befunden stellen neuere Untersuchungen nicht eine Intensivierung des Glaubens und der religiösen Praxis in konfessionsverschiedenen Ehen fest; bei konfessionell heterogenen Ehen liegt nach Ahrens / Wegner, Zukunft, 114 beispielsweise die Taufquote um 20 % niedriger als bei konfessionell homogenen Ehen.
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Grafik 2: Wertewandel in Westdeutschland 1957–1996 (in %)45
Die Charakterisierung dieser Jahre als eine Phase des mentalen Umbruchs wird auch dadurch nahegelegt, dass in dieser Zeit die Aussage „Wir leben heute alles in allem in einer glücklichen Zeit“ gegenüber der Aussage „Wir machen ziemlich schwierige Zeiten durch“ an Zustimmung gewann und diese ab 1970 übertraf (vgl. Tabelle 8 und 9). Sie wird aber auch dadurch erhärtet, dass die Auffassung, in einer glücklichen Zeit zu leben, in der ersten Hälfte der 1970er Jahre bereits wieder zurückging und im Übergang zu den 1980er Jahren zusammenbrach (vgl. Tabelle 9). Die späten 1960er Jahre zeichneten sich durch einen rapiden Wertwandlungsschub aus, in dessen Folge individualistische und postmaterialistische Werte an die Stelle von materialistischen und kollektivistischen Werten traten und ein weltgestalterischer Optimismus um sich griff. Schon kurze Zeit später nach dem Ölpreisschock von 1973 sowie dem öffentlich breit diskutierten Bericht des Club of Rome von 1972 über die Grenzen des Wachstums ging der Fortschrittsoptimismus jedoch deutlich wieder zurück. Tabelle 8: In welcher Zeit leben wir? (Westdeutschland)46
Glückliche Zeit Ziemlich schwierig Unentschieden
1963
1966
1970
31 45 24
40 42 18
44 37 19
45 Frage: „Auf welche Eigenschaften sollte die Erziehung der Kinder vor allem hinzielen: Gehorsam und Unterordnung, Ordnungsliebe und Fleiß oder Selbständigkeit und freien Willen“. Quellen: Emnid-Informationen; Meulemann, Werte, 76; Gensicke, Wandel, 10; Allbus 1996. 46 Frage: „Würden Sie sagen, wir leben heute alles in allem in einer glücklichen Zeit, oder haben Sie
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Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren Tabelle 9: Leben in glücklicher Zeit (Westdeutschland)47
In glücklicher Zeit Würde ich nicht sagen Unentschieden
1969
1972
1978
1982
58 30 12
54 31 15
44 39 17
32 54 14
Wie Analysen zum Zusammenhang zwischen Wertewandel und religiöskirchlicher Bindung immer wieder gezeigt haben48, trägt der Vormarsch individualistischer Einstellungen zur Schwächung konventioneller Religiosität bei. Auch eigene Untersuchungen mit den Daten des Allbus49 weisen diesen Zusammenhang aus. Konventionell-materialistische Werthaltungen haben einen positiven Effekt auf Konfessionszugehörigkeit, Kirchgang, Religiosität und Gottesglauben, postmaterialistische hingegen einen negativen. Die Kirchen im Deutschland der 1960er Jahre nahmen die durch den Wertwandlungsschub gegebenen Herausforderungen durchaus offensiv auf. Sie öffneten sich für die Welt, für sozialwissenschaftliche Methoden der Wirklichkeitserkenntnis, für die Ansprüche des Individuums auf Selbstbestimmung und fanden sich bereit, die säkulare Welt und ihre Probleme ernst zu nehmen. Nicht mehr monologische Verkündigung von oben herab sollte das Handeln der Kirche bestimmen, sondern dialogisches Sich-Einlassen auf die Nöte der Welt, auf Ungerechtigkeit, Armut und Gewalt, auf die Bedürfnisse des Einzelnen und dabei nicht nur auf seine spirituellen Ansprüche, sondern auch auf seine soziale Lage50. Die 1960er Jahre waren nicht nur für Politik und Gesellschaft, sondern auch für die Kirchen eine Zeit der Reformen, des Gestaltungsoptimismus, des Aufbruchs und des Wandels. Hierarchien und Autoritäten sollten abgebaut, Mauern der Abschottung durchbrochen, Nähe zu den Menschen hergestellt und funktionale Bezüge zu gesellschaftlichen Interessen geknüpft werden. Die Kirchenvertreter hatten die Hoffnung, mit der Welt Schritt halten zu können. Das Zweite Vatikanische Konzil der katholischen Kirche und der Ökumenismus der evangelischen Kirchen standen für diese Hoffnung.
47 48 49
50
das Gefühl, dass wir ziemlich schwierige Zeiten durchmachen?“ (Quelle: Noelle / Neumann, Jahrbuch 1968–1973, 125). Frage: „Finden Sie, dass wir alles in allem in einer glücklichen Zeit leben, oder würden Sie das nicht sagen?“ Quelle: Noelle-Neumann / Piel, Allensbacher Jahrbuch, 25. Meulemann, Wertewandel, 409; Pollack / Pickel, Individualisierung, 635 f. Pollack / Rosta, Religion, 162; vgl. bes. die Korrelationen zum Inglehart-Index. Zweifellos stehen Prozesse der Individualisierung mit Privatisierungstendenzen im Zusammenhang. Die Tendenzen zur Differenzierung von Öffentlichem und Privatem, zum Rückzug der Religion aus der Öffentlichkeit und zur Verhäuslichung stellt McLeod (McLeod, Religious Crisis, 67 ff.) heraus. Vgl. Richter, Protestantismus.
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Spätestens Ende der 1960er Jahre aber wurde die Instabilität der kirchlichen Lage offenbar. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche in Deutschland gaben Analysen zur sozialwissenschaftlichen Erfassung der kirchlichen Gegenwartssituation in Auftrag. Gerhard Schmidtchen51 kam in seinen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass kirchlich gefördertes Wertesystem und individuell vertretene Wertpräferenzen auseinanderbrechen. Die Kirche trete ein für Sitte und Ordnung, für Altruismus und Gemeinschaft, für Beständigkeit und ewiges Heil, der Einzelne aber interessiere sich für ein freies und unabhängiges Leben und den Abbau unnötiger Autoritäten, für Vorwärtskommen und Genuss, für soziale Gerechtigkeit und den wissenschaftlichen Fortschritt. Die Abwendung von den Kirchen erkläre sich, so Schmidtchen, aus dieser Wertediskrepanz. Die Untersuchungen der evangelischen Kirche nahmen die Frage nach der Krise der kirchlichen Integrationsfähigkeit auf, diagnostizierten aber relative kirchliche Stabilität52. Die Kritik an der Kirche sei weit verbreitet, aber auch die Erwartungen an sie seien hoch. Trotz mancher Vorbehalte, vor allem unter den jungen Hochgebildeten, fühle sich die Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder mit ihrer Kirche relativ verbunden und frage die kirchlichen Amtshandlungen an den Lebenswenden nach53. Tatsächlich sollte man die Spannungen zwischen dem Wertesystem der Kirche und den Wertpräferenzen ihrer Mitglieder nicht überdramatisieren. Zwar traten Ende der 1960er Jahre nicht wenige im Protest gegen die gesellschaftliche Privilegierung der Kirchen, gegen ihren hierarchischen Führungsstil und ihre dogmatische Verengung aus der Kirche aus. Aber es gab auch so etwas wie eine Grundakzeptanz der Kirchen und zwar sowohl bei den Katholiken als auch bei den Protestanten. Immerhin etwa die Hälfte der Katholiken und mehr als ein Drittel der Evangelischen stimmten in einer Befragung von 1971/7254, also auf dem Höhepunkt der kirchenkritischen Stimmung, der Aussage zu: „Ich bin ein gläubiges Mitglied meiner Kirche und stehe zu ihrer Lehre“, die Protestanten allerdings mit der Einschränkung, dass die Kirche sich ändern müsse (vgl. Tabelle 10). Außerdem war der aus der Spannung zwischen unterschiedlichen Wertesystemen resultierende Konflikt nicht das einzige Movens für die Abwendung von der Kirche. Viele standen der Kirche auch einfach gleichgültig gegenüber. Ein Viertel der Katholiken und ein Drittel der Protestanten erklärten in derselben Befragung: „Ich fühle mich als Christ, aber die Kirche bedeutet mir nicht viel.“ Neben Diskrepanzen in den Wertesystemen trug auch die emotionale Indifferenz gegenüber der Kirche zur Distanzierung von den Kirchen bei. Verbundenheit mit der Kirche, Wertekonflikt und Gleichgültigkeit werden sich auch nicht immer reinlich trennen 51 52 53 54
Schmidtchen, Kirche und Gesellschaft, 80 ff. Vgl. Hild, Kirche? Ebd. 59 f. Noelle / Neumann, Jahrbuch 1968–1973, 100.
51
Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren Tabelle 10: Haltung zur Kirche
Sommer Winter 1972 1970/71 Protestanten Katholiken % % Ich bin gläubiges Mitglied meiner Kirche und stehe zu ihrer Lehre. Ich stehe zur Kirche, aber sie muss sich ändern. Ich fühle mich als Christ, aber die Kirche bedeutet mir nicht viel. Ich habe meine eigenen Glaubensansichten, meine eigene Weltanschauung, ganz unabhängig von der (bei Protestanten: christlichen) Kirche. Ich lebe und arbeite, das übrige ergibt sich von selbst, dazu brauche ich keinen Glauben. Der Glaube sagt mir gar nichts. Stattdessen setze ich mich für die Aufgaben in unserer Welt und für die Probleme meiner Mitmenschen ein. Ich weiß nicht so recht, woran ich eigentlich glauben soll. Deshalb lasse ich solche Fragen offen. Ich möchte gern glauben, aber ich fühle mich unsicher. Andere und keine Antwort.
24
49
14 31
– 24
16
9
7
3
5
2
8
4
– 4
7 5
lassen. Gerade bei den Katholiken dürfte das Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche vielfach mit starken Vorbehalten gegenüber den von ihr vertretenen moralischen und theologischen Lehren einhergegangen sein. Insbesondere mit den Aussagen der Kirche zur Empfängnisverhütung, zur Sexualität und zur Autorität des Papstes hatten viele Katholiken und dabei insbesondere jüngere Katholiken nach eigenen Angaben ihre Schwierigkeiten55. Bei den unter 30-Jährigen waren es jeweils mehr als die Hälfte, die angaben, mit den Lehren der Kirche in diesen Hinsichten Schwierigkeiten zu haben. Seit den 1960er Jahren, wobei hier vor allem die Enzyklika „Humanae vitae“ zur Geburtenregelung und Empfängnisverhütung eine zentrale Rolle spielte, standen viele Katholiken zu ihrer Kirche in einem gespannten und ambivalenten Verhältnis. Die überwiegende Mehrheit allerdings entschloss sich damals trotz ihrer kirchenkritischen Haltung nicht zum Austritt. Vielmehr wurde seit den 1960er Jahren gerade die mit Abwehr und Kritik durchsetzte Bindung an die Kirche typisch für das Verhältnis vieler Katholiken zu ihrer Kirche. Der Konflikt zwischen dem kirchlichen Wertesystem und den Wertpräferenzen
55 Ebd.
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der Gläubigen war ein wichtiger Faktor, der zu ihrer zunehmenden Distanzierung von der Kirche beigetragen hat, gewiss aber nicht der einzige. 3.3 Ökonomische Veränderungen Bedingt waren die Prozesse der Entkirchlichung sowie des damit verbundenen Wertewandels wohl vor allem durch eine in der Geschichte der Menschheit einzigartige Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungskraft, wie sie sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den westeuropäischen Staaten vollzog, auch in der von den Zerstörungen des Krieges stark gezeichneten Bundesrepublik. Dieser wirtschaftliche Aufschwung veränderte die menschlichen Lebensverhältnisse in allen sozialen Bereichen einschneidend, nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in Politik und Öffentlichkeit, in der Alltagswelt, im Bereich der individuellen Musik- und Freizeitpräferenzen, des Konsumverhaltens wie auch in der Form des Zusammenlebens der Geschlechter. Während das Leben der Menschen seit Jahrhunderten, ja, seit Jahrtausenden mehrheitlich durch Armut, Knappheit, anstrengende körperliche Arbeit, ein geringes Maß an Freizeit, Rechtsunsicherheit, Bildungsmangel, Unfreiheit, medizinische Unterversorgung, Epidemien, Krankheit, körperliche Schmerzen und Krieg gekennzeichnet war, erlebten die westeuropäischen Staaten nach 1950 eine nie dagewesene Phase des anhaltenden Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität. Vom Jahr 1000 bis 1800 hatte sich nach den Berechnungen der Wirtschaftshistoriker das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Europa nur langsam erhöht56. Nach 1800 stieg es bereits deutlich schneller an, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts freilich lediglich um ein Drittel, zwischen 1950 und 1989 aber 13 Mal mehr als in den 50 Jahren zuvor und um ein Mehrfaches stärker als in den vorangegangenen anderthalb Jahrhunderten57. In absoluten Zahlen war allein der Anstieg in den 1950er Jahren doppelt so hoch wie zwischen 1800 und 195058. Der wirtschaftliche Aufschwung setzte also deutlich früher ein als die Veränderungen auf dem religiösen Feld, bereits in den 1950er Jahren. Er muss daher als der Motor der politischen, der medialen, der kulturellen, der alltagsweltlichen, der familialen sowie der religiösen Wandlungsprozesse angesprochen werden, die ihren Startpunkt teilweise deutlich später hatten.
56 Maddison, Contours, 382. 57 Vgl. Grafik 3; Geissler, Sozialstruktur, 69. 58 Miegel, Revolution, 176 ff.
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Grafik 3: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, Deutschland 1850–2010 (in 1990 Int. GK$)59
Aufgrund der gewachsenen Wirtschaftskraft konnte das Bildungswesen ausgebaut werden, wodurch sich nicht nur das Bildungsniveau breiter Bevölkerungsschichten, sondern auch die Bereitschaft zur politischen Partizipation erhöhte. Auch das Gesundheitswesen und das soziale Sicherungssystem konnten aufgrund der gestiegenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verbessert werden. Mit dem wirtschaftlichen Wachstum erhöhte sich das Volumen an verfügbarer Freizeit und verringerte sich der Anteil harter körperlicher Arbeit. Wie seit Ronald Ingleharts60 bahnbrechenden Arbeiten immer wieder nachgewiesen wurde, kam es mit der Erhöhung des Lebensstandards auch zu dem bereits beschriebenen Wertewandel von materiellen zu postmaterialistischen Orientierungen, der seinerseits Auswirkungen auf das Konsumverhalten, auf Freizeitaktivitäten, den Lebensstil, die Geschlechterordnung usw. hatte. Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren durch ein Niveau an materiellem Wohlstand und existentieller Sicherheit charakterisiert, welches die Ausrichtung auf die Befriedigung elementarer ökonomischer Grundbedürfnisse zurücktreten ließ und stattdessen ein wachsendes Bedürfnis nach individueller Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, politischer Mitbestimmung und sozialer Einflussnahme weckte. Ebenso hatte der wirtschaftliche Aufschwung aber auch Auswirkungen auf die Intensität der religiös-kirchlichen Bindung. Zum einen ging, so die Annahme von Norris und Inglehart61, mit der Gewährleistung existentieller Si59 Maddison Historical GDP Data, http://www.worldeconomics.com/Data/MadisonHi storicalGDP/Madison%20Historical%20GDP%20Data.efp (letzter Abruf 28. 02. 2014). 60 Inglehart, Silent Revolution; Inglehart, Culture Shift. 61 Norris / Inglehart, Sacred and Secular, 19.
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cherheit das Bedürfnis nach religiöser Vergewisserung und Stabilisierung zurück. In diesem Falle träten also funktionale Äquivalente wie materielle, rechtliche oder auch wohlfahrtsstaatliche Sicherungen an die Stelle religiöser Ermutigung, Tröstung und Bestätigung. Es ist aber auch ein anderer kausaler Mechanismus denkbar, mit dessen Hilfe sich der Zusammenhang zwischen ökonomischem Wachstum und religiösem Bedeutungsrückgang erklären ließe, denn mit der Wirtschaftskraft steigt auch die Vielfalt des Angebots an Freizeitaktivitäten, Konsummöglichkeiten, Unterhaltungsoptionen, Berufschancen sowie die persönliche Verfügung über jene materiellen Ressourcen, die erforderlich sind, um diese sich neu auftuenden Angebote individuell wahrzunehmen62. Neben die religiösen Praktiken und Gemeinschaftsformen träten mithin neue säkulare Alternativen, die in der Lage sind, das individuelle Interesse von religiösen und kirchlichen Praktiken abzuziehen und in eine nicht-religiöse Richtung zu lenken (pull-Effekt). Ohne dass eine Unzufriedenheit mit religiös-kirchlichen Angeboten oder ein Glaubensverlust vorliegen müsste, könnten sich mit der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten dann umso leichter konkurrierende Interessen über religiöse Aktivitäten schieben und diese verdrängen. Aufgrund der Vervielfältigung des kulturellen, sozialen, politischen Lebens erhöhten sich so gewissermaßen die Opportunitätskosten63, also die Kosten, die eintreten, wenn man anstatt die gewachsenen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten des modernen Lebens wahrzunehmen, an kirchlichen Veranstaltungen teilnimmt. Diesem Reaktionsmuster entspricht es, wenn viele auf die Frage, warum sie nicht zum Gottesdienst gehen, antworten, sie hätten in dieser Zeit anderes zu tun64. Schließlich wäre aber auch ein substantieller Konflikt zwischen religiös-kirchlichen Werten und modernen Werten denkbar, der zur Abschwächung der Glaubensintensität und des kirchlichen Engagements beitragen könnte, so wie wir das im vorigen Abschnitt angedeutet hatten. Arbeitet der erste Erklärungsansatz mit dem Modell der funktionalen Äquivalenz, so der zweite mit dem Konzept der Opportunitätskosten, während sich der dritte eines Konfliktschemas bedient. Die Gründe für die vergleichsweise intensive religiös-kirchliche Bindung der westdeutschen Bevölkerung in der Nachkriegsperiode65 hängen mit den Ursachen der seit etwa Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Abbruchstendenzen eng zusammen. In den 1950er Jahren gab es in der Bundesrepublik so 62 Stolz, Battle; Hirschle, Routine Activities? 63 Opportunitätskosten sind Kosten, die durch den entgangenen Nutzen von nicht gewählten Alternativen entstehen. 64 Huber / Friedrich / Steinacker, Kirche, 455. 65 Benjamin Ziemann (Ziemann, Codierung, 384) interpretiert viele der nach 1945 auflebenden Frömmigkeitsformen als „nichts weiter“ denn als „ein Potemkin’sches Dorf, dessen Fassaden die Illusion einer erfolgreich mobilisierten Religiosität der ,Vielen‘ aufrechterhalten sollten“. Dem Schema Oberfläche – Wesen, Fassade – Kern folgt in weiten Teilen auch die Deutung der religiös-kirchlichen Situation der 1950er Jahre durch Großbölting (Grossbçlting, Himmel). Zur Diskussion vgl. auch Große Kracht (Grosse Kracht, Stunde, 427 ff.).
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etwas wie einen antitotalitären Grundkonsens, der – stark beeinflusst von der Angst vor einem dritten Weltkrieg, vor Inflation und neuer wirtschaftlicher Not – auf wirtschaftlichen Wiederaufbau, auf West-Integration, politische Stabilität und soziale Ordnung setzte und sich durch eine Hochschätzung konservativer Werte wie Fleiß, Disziplin und Autorität, aber auch durch eine Ausrichtung auf Leitbilder wie Gemeinschaft und Gemeinsinn sowie Ehe und Familie auszeichnete. In diesen konservativen Wertekonsens waren auch Kirche und Religion eingebunden. Aufgewertet durch die Alliierten, die die Kirchen als Ansprechpartner im Nachkriegsdeutschland anerkannten und zur Reorganisation des sozialen Lebens einsetzten, gestützt auf eine breite öffentliche Wertschätzung und begünstigt durch kirchenfreundliche rechtliche Regelungen konnten die Kirchen über politische Stellungnahmen und Denkschriften, schulischen Religionsunterricht und theologische Fakultäten, Diakonie und Caritas, Rundfunkräte und Militärseelsorge, kirchliche Vereine und Lobbygruppen, Akademien und Kirchentage in viele Bereiche der Gesellschaft unmittelbar hineinwirken: in die politischen Debatten, in die Gestaltung des Erziehungswesens, in die wohlfahrtsstaatliche Absicherung, in die Formulierung ethischer Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft, in die Politik der Wiedervereinigung und der Aussöhnung mit den Völkern in Ost- und Westeuropa. Gesamtgesellschaftlich akzeptierte Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung und Nation, von Erziehung und Moral, von Familie, Sexualität sowie von der Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau waren damals von kirchlichen Positionen stark beeinflusst. Hatte sich die Kirche im Dritten Reich, wie sie es selbst formulierte, vom Volk trennen lassen66, so kam es ihr nach dem Zweiten Weltkrieg darauf an, Einfluss auf die öffentliche Diskussion zu nehmen und zu den Lebensfragen des Volkes Stellung zu beziehen. Mit ihrer „Hinwendung zur Politik“ (Greschat) wollte sie dem Vorwurf entgehen, „wieder geschwiegen zu haben“. Sie entwickelte eigene Vorstellungen zur Wirtschaftspolitik, zur Friedensthematik, zur Bildungspolitik und anderen Lebensbereichen. 1964 löste der evangelische Pädagoge Georg Picht mit seinem Begriff der „Bildungskatastrophe“, mit dem er die Situation des Bildungswesens in der Bundesrepublik charakterisierte, eine breite öffentliche Diskussion aus. Die sogenannte Ostdenkschrift der EKD von 1965, mit der die Kirche für die Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas eintrat, zählt zu den wichtigsten Initiativen, welche die Jahre später einsetzende neue Ostpolitik der Bundesregierung vorbereiteten. Auch in den aufgewühlten Debatten um die Wiederbewaffnung und die Atombewaffnung besaßen die Kirchen eine gewichtige öffentliche Stimme. Vor allem aus dieser engen Verschmelzung mit allen Bereichen der Gesellschaft erklärt sich die relativ hohe Bindungsfähigkeit der Kirchen in der Bundesrepublik der 1950er Jahre. 66 Wort der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland, 87 f.
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4. Fazit Wie wir gesehen haben, setzte der rapide religiöse Wandel nicht schon in den 1950er Jahren ein, sondern erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Es mag erste leichte Rückgänge in der kirchlichen Jugendarbeit bereits in den 1950er Jahren gegeben haben67; ziehen wir die hier verwendeten Indikatoren – Kirchenmitgliedschaft, Kirchenaustritte, Taufen, Gottesdienstbesuch, Gottesglaube, Glaube an ein Leben nach dem Tod – heran, ist es jedoch naheliegender, davon auszugehen, dass die religiös-kirchliche Bindung in den 1950er Jahren erstaunlich stabil war. Trotz geringfügiger Einbußen, etwa bei den Taufziffern, lässt sich ein Traditionsabbruch in dieser Zeit nicht nachweisen. Das wurde erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre anders, in der sich fast zeitgleich mehrere Kirchlichkeitsindikatoren deutlich abschwächten. Insgesamt war die katholische Kirche von diesen Abbrüchen weniger stark betroffen als die evangelische. So blieb vor allem aufgrund hoher Geburtenund Taufziffern der Anteil der katholischen Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung selbst in den dynamischen späten 1960er Jahren in etwa konstant. In anderer Hinsicht fielen die Einbrüche in der katholischen Kirche gleichwohl dramatisch aus. Der Gottesdienstbesuch ging von 1963 bis 1973 um etwa ein Drittel zurück, bei den jüngeren Jahrgängen sogar um etwa die Hälfte. Die Kirchenaustritte stiegen von 1965 bis 1970 auf mehr als das Dreifache. Neben den Abbrüchen in der kirchlichen Bindung vollzogen sich in diesen Jahren deutliche Rückgänge auch im Glauben an Gott. Dessen Akzeptanz schwächte sich von 1968 bis 1975 um etwa 10 Prozentpunkte ab. Wahrscheinlich muss man die Abbrüche in der kirchlichen Bindung als gravierender einschätzen als die Rückgänge in der individuellen Religiosität. Die Dimension der individuellen Religiosität blieb von den rückläufigen Tendenzen allerdings nicht verschont, wie Individualisierungstheoretiker gern vermuten. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass in diese Tendenzen alle Dimensionen des Religiösen, die religiöse Zugehörigkeit ebenso wie die kirchliche Ritualpraxis oder der weite Bereich der Glaubensvorstellungen und -überzeugungen einbezogen waren, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Was die Ursachen des in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre einsetzenden rapiden religiösen Wandels angeht, so weisen die Trägergruppen der Kirchenaustrittsbewegung auf den Einfluss von Modernisierungsprozessen hin. Die unter den Austretenden besonders stark vertretenen Höhergebildeten, Besserverdienenden, Städter und Männer sind zugleich die Akteure der gesellschaftlichen Modernisierung. Ebenso können die Veränderungen in den familialen Strukturen, im Heiratsverhalten und Reproduktionsverhalten, in der Anzahl der Scheidungen sowie im Anteil der außerehelich geborenen 67 Schmidtmann, Studierende.
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Kinder und die Veränderungen in den Wertorientierungen von Gehorsams- zu Selbstbestimmungswerten als ein Ausdruck von Modernisierung verstanden werden. Die Tatsache, dass sich die familialen Veränderungen sowie der Wertewandel zeitgleich mit den kirchlich-religiösen Veränderungen vollzogen, spricht für einen engen Zusammenhang zwischen den religiösen Umbrüchen und den Prozessen des Wandels in Familie und Wertorientierung. Wahrscheinlich spielte für die religiösen Umbrüche nicht nur der direkte Konflikt zwischen Religion und anderen Lebensbereichen eine Rolle. Vielmehr könnte der Bedeutungsrückgang religiös-kirchlicher Bindungen auch auf einen weniger konfliktiven Umorientierungsprozess zurückzuführen sein. Es ist plausibel anzunehmen, dass die mit dem wirtschaftlichen Aufschwung sich erweiternden Gelegenheitsstrukturen die Aufmerksamkeit des Individuums von kirchlichen Handlungskontexten abzogen und auf säkulare Handlungsoptionen verlagerten. Infolge des Ausbaus der Konsum- und Unterhaltungsindustrie, gewachsener Einkommen und zunehmender Freizeitressourcen würden, so ließe sich vorstellen, bei Beibehaltung kirchlichen Praktiken die Opportunitätskosten steigen, so dass sich die Wahrscheinlichkeit der Zuwendung zu säkularen Alternativen erhöhte. Wenn an diesen Vermutungen etwas Wahres wäre, dann würde das bedeuten, dass Prozesse der Modernisierung auf dem Umweg über die Attraktivitätssteigerung nichtreligiöser Alternativen einen beträchtlichen Einfluss auf den religiös-kirchlichen Traditionsabbruch ausgeübt haben. Möglicherweise bahnte sich der Traditionsabbruch bereits in den 1950er Jahren an, auch wenn die hier herangezogenen Indikatoren dies kaum bestätigen. Im Anschluss an Herbert68 ließe sich die These vertreten, dass die Adenauer-Ära durch eine Kluft zwischen einer „außerordentlich dynamischen Industriegesellschaft und der damit immer weniger zu vereinbarenden traditionellen Normierung der Lebensweisen“ gekennzeichnet war und diese Kluft erst im Laufe der 1960er Jahre abgebaut wurde, mit dem Effekt, dass auch erst in dieser Zeit die kirchlichen Mitgliedschafts- und Beteiligungszahlen einbrachen69. Obwohl die Muster des rapiden religiösen Wandels sowie die Zusammenhänge mit dem familialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wandel für die Anwendbarkeit der Modernisierungs- und Säkularisierungstheorie sprechen, bestehen in der Forschung zur kirchlichen Zeitgeschichte erhebliche Vorbehalte gegenüber diesem Ansatz. Auffällig ist allerdings, dass trotz dieser 68 Herbert, Wandlungsprozesse, 41. 69 Aufgrund der Modernisierung der Gesellschaft geriet die soziale Praxis möglicherweise bereits in den 1950er Jahren in den Widerspruch zwischen sich erweiternden Opportunitätsstrukturen und tradierten Werten und Normen (vgl. auch Neumaier in diesem Band). Es mag sein, dass dieser Widerspruch bereits in den 1950er Jahren stark empfunden wurde, zu einer statistisch wahrnehmbaren Veränderung der sozialen Praxis, ablesbar etwa an den Kirchenaustrittszahlen, den Beteiligungszahlen im kirchlichen Leben oder auch im Reproduktions- und Heiratsverhalten, kam es offenbar aber erst in den 1960er Jahren.
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Vorbehalte die Kirchen- und Religionshistoriker, wenn es um die Erklärung des rapiden religiösen Wandels in den langen 1960er Jahren geht, von der abgelehnten Theorie ausgiebig Gebrauch machen. So kommt das Bochumer Projekt zur Analyse des religiösen Wandels in der Bundesrepublik Deutschland, das den Säkularisierungsbegriff zur Kennzeichnung dieses Wandels ausdrücklich vermeidet und statt dessen den Begriff der Transformation wählt, zu dem Schluss, dass die Religionsgeschichte der Bundesrepublik „reichlich Illustrationsmaterial für eine Fortschreibung der Erzählung vom Niedergang der Christenheit und insbesondere der Kirchen in Europa und in Deutschland“ biete, und deutet die beobachteten Verläufe als „Niedergangsszenario“70. Auch Hugh McLeod71, der die von der Säkularisierungstheorie aufgestellten Globalthesen über den Zusammenhang von Industrialisierung, Urbanisierung und Wohlstandsanhebung auf der einen und Entkirchlichung auf der anderen Seite zurückweist und der Säkularisierungstheorie die explanatorische Kraft abspricht72, macht dann doch „the impact of affluence“ als den „most important“ Faktor der religiösen Krise der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts73 aus. Thomas Großbölting, der die Säkularisierungsthese als „widerlegt“ behandelt74, greift zur Erklärung des Wandels der 1960er Jahre ebenfalls auf säkularisierungs- und modernisierungstheoretische Argumente zurück75. Und dem Interpreten des religiösen Wandels in den Niederlanden Peter van Rooden, der sich wie kaum ein anderer polemisch von der Säkularisierungstheorie distanziert, fällt zur Erklärung der plötzlich einsetzenden Dechristianisierung in seinem Heimatland auch nichts anderes ein, als auf „the sudden growth in wealth and the emergence of a mass consumer society“ zu verweisen76. Trotz rhetorischer Abgrenzung bleibt die neuere Zeitgeschichtsschreibung den Argumentationsmustern der Säkularisierungstheorie auf merkwürdige Art verhaftet. Offenbar fehlt es weithin an überzeugenden Alternativen.
70 71 72 73 74 75 76
Damberg, Einleitung, 30 f. McLeod, Religion. McLeod, Religious Crisis, 16. Ebd., 15. Grossbçlting, Himmel, 14. Ebd., 33. Rooden, Oral History, 21.
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Lebensführung, Menschenführung und die Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands um 1968 Die „langen“ 1960er Jahre haben innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht nur quantitativ sehr viel Aufmerksamkeit gewonnen, die historische Forschung hat in diesem Zusammenhang auch perspektivisch einen nicht minder bemerkenswerten Wandel erfahren – nicht zuletzt im Fall der Religionsgeschichtsschreibung1. Die Religionsgeschichtsschreibung zu den 1960er und 1970er Jahren stellt sich inzwischen immer öfter und sehr gewinnbringend den aktuellen Fragestellungen und kontroversen Auseinandersetzungen innerhalb der Geschichtswissenschaft und der benachbarten Sozialwissenschaften und versteht Religionsgeschichte in diesem Sinne immer stärker auch als Gesellschaftsgeschichte2. In diesem Rahmen geraten zum einen die beiden großen Kirchen in ein neues Licht, so z. B. als Akteure, als Motoren gar der – sich auch in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er und dann vor allem in den 1970er Jahren immer breiter durchsetzenden – sogenannten Wissensgesellschaft3. Zum anderen werden religiöse Semantiken und Diskurse in zunehmendem Maße auch fernab der beiden großen Kirchen bzw. in ihrem Zusammenwirken mit anderen, zumeist politischen Semantiken und Diskursen rekonstruiert und analysiert4. In beiden Fällen leistet die Religionsgeschichtsschreibung inzwischen einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis des gesellschaftlichen Wandels in der Bundesrepublik Deutschland, im Kontext einer scheinbar allumfassenden Westbindung und des Kalten Krieges ebenso wie im Rahmen eines vielfach konstatierten Wertewandels oder der Außerparlamentarischen Opposition5. Sehr viel weniger Aufmerksamkeit erfahren im Vergleich hierzu bislang religiöse Praktiken und Traditionen und das sogenannte Alltagsleben gläubiger wie nicht-gläubiger Menschen. Auf diesem Gebiet tun sich teilweise noch immer empfindliche Forschungslücken auf, nicht zuletzt in Hinsicht auf die nach wie vor kontrovers diskutierte Säkularisierungsthese, der zufolge die 1 Vgl. insbesondere Hermle / Lepp / Oelke, Umbrüche; Hey / Wittmìtz, 1968; Fitschen u. a., Politisierung; Bçsch / Hçlscher, Jenseits der Kirche. 2 Siehe beispielsweise auch Damberg, Abschied?; Schmidtmann, Studierende; McLeod, Religious Crisis; Damberg, Strukturen. 3 Vgl. insbesondere Ziemann, Kirche; Hannig, Religion. 4 Siehe unter anderem Eitler, „Gott“; Lepp, Konfrontation; Fitschen u. a., Politisierung. 5 Vgl. ebenfalls Gerster, Friedensdialoge; Widmann, Wandel?
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beiden großen Kirchen und die Religion an sich in den 1960er und 70er Jahren ihren ehedem beträchtlichen Einfluss auf den Lebensstil oder, besser noch, die Lebensführung zahlreicher Menschen weitgehend eingebüßt hätten6. Sehr viel stärker als der Begriff des Lebensstils7 lenkt der Begriff der Lebensführung diesbezüglich – im Anschluss an Max Weber und Pierre Bourdieu8 – den Blick darauf, dass sich im Alltagsleben nicht nur sehr unterschiedliche, für eine Bevölkerungsgruppe bzw. ein bestimmtes Milieu jeweils typische, stark routinierte Verhaltensweisen identifizieren lassen. Er betont vielmehr, dass diesen Verhaltensweisen – dem Lebensstil im engeren Sinne – ebenso spezifische, medial vermittelte und miteinander konkurrierende Orientierungsmuster „zugrunde liegen“9. Der Begriff der Lebensführung im weiteren Sinne erlaubt und erfordert es daher, sowohl Praktiken und Traditionen als auch Semantiken und Diskurse umfassend zu erschließen und aufeinander zu beziehen10. Weitaus stärker als der Begriff des Lebensstils zielt der Begriff der Lebensführung in diesem Sinne nicht allein auf Verhaltensweisen, sondern auch auf umfassendere Verhaltensmöglichkeiten – innerhalb eines bestimmten Milieus wie auch vor allem innerhalb einer Gesellschaft insgesamt. Er ermöglicht es diesbezüglich nicht zuletzt, die Gesellschaft als Voraussetzung und nicht etwa – wie häufig noch immer üblich – als Gegensatz zum Individuum oder, besser noch, zum Subjekt zu begreifen bzw. zu beobachten11. Zwar ist es für die Geschichtswissenschaft teilweise schwieriger als für andere Sozialwissenschaften, rückblickend einen bestimmten Lebensstil ausfindig zu machen und dergestalt herzuleiten, die Untersuchung der Lebensführung aber verspricht einen vielseitigen Einblick in die Gesellschaftsgeschichte im weiteren wie auch in die Religionsgeschichte im engeren Sinne12. Innerhalb der historischen Forschung verweist der Begriff der Lebensführung bislang jedoch häufig auf zwei durchaus unterschiedliche Aspekte bzw. Ebenen des Alltagslebens – auf vergleichsweise ähnlich strukturierte, geradezu regelhafte, wie auch auf sehr heterogene, mitunter regelwidrige Verhaltensweisen und Orientierungsmuster, sowohl im Bereich der Religion oder der Politik, der Kunst oder der Wirtschaft, als auch im Zwischenreich 6 Die Säkularisierungsthese wird innerhalb der Geschichtswissenschaft nach wie vor kontrovers diskutiert; eher selten wird sie dabei so differenziert hergeleitet und engagiert verteidigt wie in Pollack, Analyse; siehe auch den Beitrag von Detlef Pollack in diesem Band. 7 Vgl. beispielsweise Lìdtke, Ungleichheit; Mìller, Sozialstruktur; Rçssel / Otte, Lebensstilforschung. 8 Vgl. lediglich Weber, Gesammelte Aufsätze; Bourdieu, Unterschiede. 9 Zu dieser Unterscheidung von Lebensstil und Lebensführung: Rçssel, Theorien, 38. Vgl. beispielsweise auch Wirth, Lebensführung. Zur Entstehungsgeschichte dieses Forschungsfeldes: Voss, Lebensführung. 10 Die Unterscheidung zwischen Praktiken und Diskursen wird im Folgenden aus heuristischen Gründen beibehalten. 11 Vgl. beispielsweise Wirth, Lebensführung. 12 Eine solche stärkere Berücksichtigung des Alltagslebens fordert beispielsweise auch Bçsch, Das Nahe.
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dieser Gesellschaftsbereiche, so z. B. in Beziehung zur Familie oder in der Ausübung eines Hobbys. Oftmals rückt er dabei – innerhalb einer zeitgenössisch wie gegenwärtig viel genutzten Unterscheidung – neben den öffentlich, sozusagen offiziell vermittelten Semantiken und Diskursen auch eher privat, gewissermaßen inoffiziell verbreitete Praktiken und Traditionen in den Fokus des Interesses und betont in diesem Sinne den sogenannten „EigenSinn“ der jeweiligen Akteure13. So wichtig es auch ist, die Vielfalt und Polyvalenz von Verhaltensweisen zu betonen und diese nicht einfach geradlinig auf einzelne Orientierungsmuster zurückzuführen, so wenig hilfreich wäre es, die Relevanz und Bedeutung von Semantiken und Diskursen oder auch Institutionen und Organisationen voreilig zu unterschätzen – unter Berufung etwa auf jenen vermeintlichen „Eigen-Sinn“ von zweifelsohne sehr unterschiedlichen Akteuren. Der Begriff der Lebensführung zielt an dieser Stelle nicht zuletzt auf den größeren Kontext der fraglichen Akteure. Bislang gerät dabei vor allem die Sphäre der Sexualität in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, meist in Verbindung mit in den 1960er und vor allem auch 1970er Jahren kontrovers debattierten Geschlechterverhältnissen und teilweise neuartigen Partnerschaftsvorstellungen. Mehr als jede andere wurde und wird die Sphäre der Sexualität dabei zumeist – nicht allein aufseiten der beiden großen Kirchen, sondern ebenfalls aufseiten der historischen Forschung – als Bedrohungsszenario beschrieben, als Krisengebiet innerhalb der Religionsgeschichte der 1960er und 70er Jahre14. Geradezu reflexartig wird der Wandel in diesem Bereich als Beleg für jenen weitgehend eingebüßten Einfluss der beiden großen Kirchen auf die Lebensführung herangezogen, mal eher nüchtern, mal eher besorgt. Innerhalb der historischen Forschung zur Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands spielen die beiden großen Kirchen und die Religion an sich daher zumeist lediglich noch eine reaktive und oftmals sogar reaktionäre Rolle – im Angesicht von Individualisierungs- und Liberalisierungsprozessen, denen in Hinsicht auf die sich in den „langen“ 1960er Jahren teilweise stark wandelnde Lebensführung zahlreicher Menschen zumeist eine wegweisende Bedeutung zugeschrieben wird15. Innerhalb dieses gegenwärtig vorherrschenden Interpretationsangebots können die beiden großen Kirchen eigentlich nur noch den Charakter der Ewiggestrigen annehmen: anti-individuell, anti-liberal. Problematisch erscheint mir nicht nur eine derartig einseitige Rollenzuschreibung, in Bezug auf die gerade in den 1960er und 70er Jahren allerorten hervortretenden Debatten innerhalb der beiden großen Kirchen und deren durchaus bemer13 Vgl. insbesondere Lìdtke, Eigen-Sinn; Lindenberger, Eigen-Sinn. 14 Vgl. beispielsweise McLeod, Religious Crisis; Grossbçlting, Sexualmoral; Herzog, „Sexy Sixties“?; Silies, Liebe. 15 Vgl. lediglich Gçrtemaker, Bundesrepublik; Wolfrum, Demokratie; Wehler, Gesellschaftsgeschichte; Schildt / Siegfried, Kulturgeschichte.
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kenswertes Repertoire an sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen und Orientierungsmustern16. Problematisch erscheint mir vielmehr dieses Interpretationsangebot selbst, da es eine konsequente Historisierung und eine kritische Reflexion wichtiger Transformationsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland, wie sich noch genauer zeigen wird, eher erschwert als befördert17. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich vor diesem Hintergrund damit, wie sich die Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands auch anders perspektivieren lässt – nicht um die Rolle der beiden großen Kirchen zu beschönigen oder zu überschätzen, sondern um wichtige Transformationsprozesse in Hinsicht auf das Alltagsleben und die Lebensführung zahlreicher Menschen, gläubiger wie nicht-gläubiger, facettenreicher untersuchen und vorbehaltloser befragen zu können, auch fernab von sogenannten Individualisierungs- und Liberalisierungsprozessen. Es geht mir vor allem darum, wie sich Veränderungen in der Lebensführung innerhalb wie auch außerhalb des Bereichs der Religion anders befragen und umfassender verorten lassen. Aufgrund des teilweise noch immer sehr lückenhaften Forschungsstandes kann der vorliegende Beitrag in diesem Rahmen lediglich einen groben Überblick geben und mögliche Forschungsaufgaben benennen – im Hinblick auf bereits teilweise nachgewiesene Verhaltensweisen, vor allem aber im Hinblick auf bislang eher unberücksichtigt gebliebene Orientierungsmuster18. Zu diesem Zweck werde ich in einem ersten Schritt in aller Kürze das gegenwärtig wichtigste Interpretationsangebot zu bereits eingehender untersuchten Transformationsprozessen in den „langen“ 1960er Jahren diskutieren (1.). Anschließend widme ich mich in aller Kürze am Beispiel von bislang deutlich seltener erkundeten Transformationsprozessen einem alternativen Interpretationsangebot zur Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands und der Frage, wie sich die 1960er und 1970er Jahre im Hinblick auf die Lebensführung auch anders periodisieren lassen (2.). In diesem Zusammenhang werde ich den Begriff der Lebensführung mit dem Begriff der Menschenführung konfrontieren und kombinieren19.
16 Vgl. lediglich Schmidtmann, Studierende; Ziemann, Kirche; Eiter, „Gott“. 17 Vgl. ausführlicher Eitler, Privatisierung; Ders. / Elberfeld, Gesellschaftsgeschichte. 18 Neuartige Forschungsfelder eröffnen diesbezüglich unter anderem: Siegfried, Time; Reichardt / Siegried, Milieu; Maasen u. a., Selbst; Mçhring, Essen; Kury, Mensch; Reichardt, Authentizität. 19 Zum Begriff der Menschenführung siehe noch immer Foucault, Überwachen; Ders., Gouvernementalität.
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1. Die „langen“ 1960er Jahre – Interpretationsangebote und Periodisierungsansätze Wenige Jahrzehnte in der deutschen Geschichte haben innerhalb der historischen Forschung in letzter Zeit so vielseitige Beachtung gefunden und so fruchtbare Auseinandersetzungen befördert wie die 1960er und 70er Jahre. Inzwischen werden die 1960er Jahre dabei zumeist innerhalb eines Periodisierungsansatzes verortet, der den Zeitraum zwischen Ende der 1950er und Anfang der 1970er Jahre umfasst – in diesem Sinne ist in der Regel von den „langen“ 1960er Jahren die Rede20. Dieser Periodisierungsansatz wendet sich unter anderem gegen einen politikgeschichtlichen Tunnelblick auf die Studentenbewegung um 1968. Er betont demgegenüber die sehr vielfältigen „Umbrüche“ und „Aufbrüche“ in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen, nicht nur auf dem Gebiet der Politikgeschichte, sondern vor allem auch auf dem Feld der Wirtschaftsund Konsumgeschichte, teilweise auch im Zusammenhang der Medien- und Technikgeschichte, der Rechts- oder Wissenschaftsgeschichte21. Diese „Umbrüche“ und „Aufbrüche“ jedoch, darauf kommt es hier an, ließen sich teilweise bereits bis Ende der 1950er Jahre zurückverfolgen22. Die „langen“ 1960er Jahre finden ihren Platz in diesem Sinne innerhalb der sogenannten trente glorieuses, einer Phase des ökonomischen „Booms“ in der Nachkriegszeit zwischen Ende der 1940er und Anfang der 70er Jahre – nicht nur in Westdeutschland, sondern nahezu in ganz Westeuropa23. Dementsprechend hervorgehoben werden innerhalb dieses Periodisierungsansatzes nicht allein Eckdaten aus dem politischen, sondern insbesondere aus dem ökonomischen Bereich. Im Fall der Bundesrepublik Deutschland hätten die „langen“ 1960er Jahre so betrachtet bereits gegen Ende der 1950er Jahre begonnen, mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Rentenreform von 1957. Anfang der 1960er Jahre schließlich erfuhr dieser ökonomische „Boom“ seinen Durchbruch: mit dem viel gerühmten Erreichen der „Vollbeschäftigung“ um 1960 und dem damit verknüpften Wohlstandswachstum breiter Bevölkerungsgruppen, mit dem in den „langen“ 1960er Jahren kontinuierlichen Zugewinn an Freizeit und dem Siegeszug des „Massenkonsums“ innerhalb einer sich etablierenden Dienstleistungsgesellschaft, mit dem Auseinanderbrechen der ehedem dominierenden Sozialmilieus und der Ausdifferenzierung einer immer einflussreicheren „Jugendkultur“, mit der 20 Siehe vor allem Schildt u. a. (Hg.), Dynamische Zeiten; vgl. ebenfalls Ders., Entwicklungsphasen, 21–36; Doering-Manteuffel, Kultur. 21 Siehe beispielsweise auch Metzler, Konzeptionen; Hodenberg, Konsens; Requate, Kampf. 22 Siehe bereits frühzeitig Schwarz, Ära; vgl. ebenfalls Schildt / Sywottek, Modernisierung. 23 Vgl. lediglich Kaelble, Boom; Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte.
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bald flächendeckenden Verbreitung des Fernsehens oder einem scheinbar grenzenlos wachsenden Autoverkehr24. Verfügten Anfang der 1960er Jahre rund vier Millionen Haushalte über einen Fernseher, so waren es Anfang der 1970er Jahre fast fünfzehn Millionen, über Dreiviertel aller Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland25. Besaßen 1960 rund 8 % der Bevölkerung ein eigenes Auto, so taten dies 1970 bereits rund 23 %, wiederum über Dreiviertel aller Haushalte26. An Dynamik und Brisanz gewonnen hätten diese wegweisenden Veränderungen im ökonomischen Bereich sehr oft in Kombination oder in Konfrontation mit Veränderungen im politischen Bereich: nach dem Höhepunkt des „Kalten Krieges“ zu Beginn der 1960er mit dem Aufscheinen eines „Kurzen Friedens“ zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 70er Jahre, mit der „Spiegel-Affäre“ von 1961 oder dem „Auschwitz-Prozess“ von 1963, mit dem Regierungsabtritt Konrad Adenauers und dem Regierungsantritt Willy Brandts, mit dem Siegeszug der Unabhängigkeitsbewegung in der „Dritten Welt“ und dem Erstarken der Friedensbewegung in der „Ersten Welt“.27 Insbesondere in ihrem Zusammenwirken hätten diese weitreichenden Veränderungen im ökonomischen und politischen Bereich in den „langen“ 1960er Jahren einen überaus tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel herbeigeführt – vor allem in Form eines weitreichenden Individualisierungs- und Liberalisierungsprozesses. Erst gegen Mitte der 1970er Jahre sei dieser ökonomische „Boom“ in Westdeutschland wie auch in anderen Teilen Westeuropas an sein Ende oder in eine „Krise“ geraten: mit der „Ölkrise“ und der Neuordnung des internationalen Währungssystems, dem Einbruch des Wirtschaftswachstums und dem Ende der „Vollbeschäftigung“ nach 1973, dem Nachwirken des ersten Berichts des Club of Rome und einem erneuten, sich wieder verschärfenden „Kalten Krieg“ zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 80er Jahre. Vor diesem Hintergrund ist von den 1970er oder auch 80er Jahren inzwischen sehr häufig als einer Zeit „nach dem Boom“ die Rede28. In Abgrenzung von den „Umbrüchen“ und „Aufbrüchen“ in den 1960er Jahren wird dabei auch von einem „Strukturbruch“ oder dem „Ende der Zuversicht“ gesprochen29.
24 Einen breiten Überblick bieten ebenfalls Schildt u. a., Dynamische Zeiten; Ders., Sozialgeschichte; Ders. / Siegfried, Kulturgeschichte; Faulstich, Kultur der sechziger Jahre; Ders., Kultur der siebziger Jahre. 25 Schildt, Sozialgeschichte, 47. 26 Ebd., 44. 27 Einen breiten Überblick vermitteln diesbezüglich Schildt, Entwicklungsphasen; DoeringManteuffel, Kultur; Gçrtemaker, Bundesrepublik; Schildt / Siegfried, Kulturgeschichte; vgl. ebenfalls Stçver, Krieg; Conze, Suche; Frese u. a., Demokratisierung. 28 Siehe vor allem Doering-Manteuffel / Raphael, Boom; siehe daran anschließend Andresen / Bitzegeio / Mittag, Strukturbruch; Reitmayer / Schlemmer, Anfänge. 29 Siehe vor allem Jarausch, Ende?
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Zu einem Leitbegriff der historischen Forschung zu den „langen“ 1960er Jahren hat sich dabei sehr häufig der Begriff des Wertewandels entwickelt30. Dieser – im Fall der Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands zumeist auf soziologische Untersuchungen von Ronald Inglehardt und Helmut Klages rekurrierende31 – Begriff wird innerhalb der Geschichtswissenschaft zwar teilweise leicht unterschiedlich verwendet, bündelt aber im Wesentlichen zwei scheinbar eng miteinander verzahnte Transformationsprozesse: Einerseits steht er für einen Prozess, der zumeist als Individualisierung, zuweilen aber auch als Privatisierung bezeichnet wird, nicht selten ohne diesbezüglich die Differenz zwischen eher mikro- und eher makroanalytischen Zugängen ausreichend zu berücksichtigen32. Der Begriff der Individualisierung zielt dabei in eher alltagsgeschichtlicher Hinsicht auf die seit Anfang der 1960er Jahre in Westdeutschland, aber auch in anderen Teilen Westeuropas und Nordamerikas wachsende Relevanz persönlicher Präferenzen innerhalb der Lebensführung. In immer mehr Gesellschaftsbereichen und immer breiteren Bevölkerungsgruppen trafen in diesem Sinne kontinuierlich gesteigerte Authentizitätsansprüche auf vielfach stark zurückgewiesene Autoritätsverhältnisse und eröffneten dabei teilweise neuartige Verhaltensmöglichkeiten, immer stärker auch unabhängig von klassischen Schichtzugehörigkeiten, so nicht zuletzt im Bereich der Sexualität und der Geschlechterverhältnisse. Dieser Transformationsprozess habe seinen Ausdruck und Niederschlag ganz unmittelbar in der Lebensführung zahlreicher Menschen gefunden, z. B. im Fall sich wandelnder Partnerschaftsvorstellungen. Hervorgehoben wird dementsprechend häufig beispielsweise die zwischen 1960 und 1970 allmählich sinkende Anzahl von Eheschließungen und die gleichzeitig steigende Anzahl von Scheidungen. Gab es 1960 in der Bundesrepublik Deutschland noch rund 520.000 Eheschließungen, denen fast 49.000 Scheidungen gegenüberstanden, so kamen 1970 auf 445.000 Eheschließungen fast 77.000 Scheidungen – und beide Entwicklungen nahmen in den 1970er und 80er Jahren weiter zu33. In diesem Zusammenhang ist auch von einer „Entstandardisierung von Lebensläufen“ die Rede34. Der Wertewandel habe so gesehen eine starke Vervielfältigung von Verhaltensweisen befördert. Nur unter den Bedingungen des „Booms“, so heißt es, sei dieser gesellschaftliche Wandel in den „langen“ 1960er Jahren möglich geworden. Im Rahmen eines anhaltenden Wirtschaftswachstums und massiv ausgeweiteter Konsummöglichkeiten habe er nicht zuletzt die zunehmende Freizeit und 30 Siehe nicht allein Rçdder / Elz, Werte; Dietz / Neumaier / Rçdder, Wertewandel?; Gçrtemaker, Bundesrepublik, 475–479 u. 621–624; Wolfrum, Demokratie, 254 f.; Schçnhoven, Aufbruch, 138–141; Metzler, Straßen, 257 ff.; vgl. lediglich Siegfried, Time, 21 f. u. 51–59. 31 Siehe vor allem Inglehart, Revolution; Klages / Kmieciak, Wertwandel; Klages, Wertorientierungen. 32 Zum Privatisierungsprozess siehe vor allem Frei / Sìss, Privatisierung. 33 Vgl. lediglich Wirsching, Erwerbsbiographien, 87 f. 34 Ebd.
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dessen unterschiedliche Gestaltung immer mehr ins Zentrum des Interesses gerückt – Ende der 1960er Jahre verfügten breite Bevölkerungsgruppen in Westdeutschland erstmals über mehr Freizeit als Arbeitszeit. Dieser Transformationsprozess wird häufig als Amerikanisierung oder auch als Westernisierung der Lebensführung begriffen und nicht selten als Kommerzialisierung oder Kommodifizierung beschrieben bzw. verurteilt35. Andererseits und in direktem Zusammenhang mit der zunehmenden Ablehnung überlieferter Autoritätsverhältnisse zielt der Begriff des Wertewandels in eher politikgeschichtlicher Perspektive auf einen Prozess, der in der Regel als Liberalisierung, zuweilen aber auch als Demokratisierung bezeichnet wird36. Am öffentlich sichtbarsten wiederum ließe sich dieser Liberalisierungsprozess im Bereich der Sexualität und der Geschlechterverhältnisse beobachten, so unter Bezug auf das „Gleichberechtigungsgesetz“ von 1958 oder mit Blick auf die Abschaffung des „Kuppeleiparagraphen“ von 1973, nicht zuletzt auch in Auseinandersetzung mit der sich in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre neu konstituierenden Frauenbewegung, nachdrücklich aber etwa auch im Fall der betrieblichen Mitbestimmung oder der universitären Selbstverwaltung37. Der Begriff der Liberalisierung bedient sich dabei einer Gegenüberstellung von vermeintlich schwindenden „Zwängen“ und scheinbar wachsenden „Freiheiten“ vor allem seit Ende der 1960er Jahre, im Fall des Eheverständnisses und der Kindererziehung ebenso wie im Bereich der Kleidungswahl oder der Haarlänge, vom massiv beworbenen Anspruch auf Bildung bis hin zur tendenziell abgeschafften Sanktionierung von Pornografie, mit vielfältigen Konsequenzen bis in die Rechtsprechung hinein, unter anderem auch in Bezug auf die sogenannte große Strafrechtsreform zwischen Anfang und Mitte der 1970er Jahre38. Auch dieser gesellschaftliche Wandel, so heißt es, sei in seiner Breite nur unter den Bedingungen des „Booms“ möglich gewesen, im Zusammenhang eines stabilen ökonomischen Wachstums und relativer politischer Sicherheit, besonders zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 70er Jahre39. Individualisierungs- und Liberalisierungsprozesse stützen sich in dieser Sichtweise wechselseitig, lassen sich mitunter kaum unterscheiden und avancieren erst auf diese Weise zum Ausdruck jenes scheinbar allumfassenden Wertewandels. Dieses Interpretationsangebot kreist um die Figur oder, besser
35 Zum Begriff der Amerikanisierung bzw. Westernisierung siehe vor allem Schildt, Ankunft; Doering-Manteuffel, Wie westlich?; vgl. ebenfalls Linke / Tanner, Attraktion. 36 Vgl. insbesondere Herbert, Wandlungsprozesse; siehe aber auch Frese u. a., Demokratisierung; Hodenberg, Konsens; Metzler, Konzeptionen. 37 Zur Geschichte der Sexualität und der Geschlechterverhältnisse siehe unter anderem Herzog, Politisierung; Steinbacher, Sex; Heineman, Porn; Wolff / Silies / Paulus, Zeitgeschichte. 38 Vgl. beispielsweise Requate, Kampf. 39 Vgl. lediglich Conze, Suche.
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noch, das Phantasma40 eines sich sukzessive entfaltenden Individuums innerhalb einer zunehmend liberaleren Gesellschaft. Obgleich viele der mit dem Individualisierung- oder Liberalisierungsbegriff verknüpften, vielschichtigen Transformationsprozesse bislang noch kaum breiter untersucht wurden, prägt dieses Interpretationsangebot gegenwärtig wie selbstverständlich die historische Forschung zu den „langen“ 1960er Jahren. Im Folgenden möchte ich dieses Interpretationsangebot in seinem Erkenntniswert kritisch diskutieren und ihm schließlich ein alternatives Interpretationsangebot gegenüberstellen, das den gesellschaftlichen Wandel in den 1960er und 70er Jahren insgesamt anders zu fassen ermöglicht und dabei auch einen etwas anderen Periodisierungsansatz verfolgt. Denn selbst falls man an den Begriffen der Individualisierung und Liberalisierung festhalten möchte, könnte von einem vermeintlich massenhaft vorherrschenden Individualisierungsprozess frühestens seit etwa 1963 oder 1965 gesprochen werden, nicht aber bereits für 1957 oder 195941. Auch von einem entsprechend öffentlich beobachtbaren Liberalisierungsprozess könnte gegebenenfalls erst seit Mitte oder sogar Ende der 1960er, nicht aber bereits gegen Ende der 1950er Jahre die Rede sein, so etwa im Kontext der großen Strafrechtsreform oder in Reaktion auf die Studentenbewegung, die Frauenbewegung, die Kinderladenbewegung, die Schwulenbewegung oder schließlich die Umweltbewegung42. Ein tiefgreifender, umfassender, folgenreicher Wertewandel lässt sich daher allenfalls seit Mitte der 1960er Jahre verzeichnen – zumindest im Fall der Bundesrepublik Deutschland43. Den Erkenntniswert des Periodisierungsansatzes der „langen“ 1960er Jahre gilt es daher von Fragestellung zu Fragestellung genau zu bestimmen. Er scheint mir im Hinblick auf die Rolle der späten 1950er und frühen 60er Jahre häufig zu stark auf erste Anfänge und frühe Vorläufer von Transformationsprozessen gerichtet zu sein, die das Alltagsleben und die Lebensführung breiter Bevölkerungsgruppen aber erst merklich später verändert haben und die sich in ihrer Durchsetzungskraft und Vielschichtigkeit auch nicht – ob intendiert oder unintendiert – auf wenige Intellektuelle oder spezielle Gesetze zurückführen lassen44. Vor diesem Hintergrund spreche ich im Folgenden von einer Zeit um 1968. Das Jahr 1968 dient mir dabei im Anschluss an Eric Hobsbawm nicht als ein
40 Zum Begriff des Phantasmas als einer notwendig uneinholbaren Norm siehe unter anderem Butler, Unbehagen. 41 In diesem Sinne spricht Detlef Siegfried von der späten 1950er und frühen 1960er Jahren als einer „Inkubationsphase“. Vgl. lediglich Siegfried, Time, 30. 42 Vgl. beispielsweise Schulz, Atem; Baader, „Seid realistisch“; Schregel, Atomkrieg; Beljan, Rosa Zeiten?; siehe anschließend auch Mende, „Nicht rechts“. 43 Dies betonen selbst Ronald Inglehardt und Helmut Klages. Vgl. lediglich Siegfried, Time, 51–59. 44 Voreilig urteilen diesbezüglich etwa Hodenberg, Konsens; Payk, Geist.
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„Anfang“ oder ein „Ende“, sondern lediglich als ein „Signal“45 für teilweise sehr unterschiedliche Transformationsprozesse, die sich im Fall der Bundesrepublik Deutschland weder auf den „Boom“ noch auf dessen vermeintlich alles verändernde „Krise“ zurückführen lassen, deren Aufstieg sich erst gegen Mitte der 1960er Jahre massenhaft beobachten lässt – nach dem Ende der Nachkriegszeit – und die größtenteils erst gegen Ende der 1980er Jahre – bereits vor Beginn der Wiedervereinigung – allmählich einen Abschluss gefunden haben. Dieser Periodisierungsansatz rückt mithin weniger die „langen“ 1960er Jahre zwischen 1957 und 1973 in das Zentrum des Interesses. Er greift eher den Periodisierungsansatz der „langen“ 1970er Jahre zwischen 1967 und 1983 auf46. Ich weite diesen aber nach vorne und hinten zeitlich aus, insofern ich nicht auf eine Politikgeschichte zwischen „neuer Linken“ und „geistiger Wende“, sondern auf eine Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands ziele47. Meine Kritik am Begriff des Wertewandels und den mit ihm verbundenen Begriffen der Individualisierung und Liberalisierung fällt allerdings grundsätzlicher aus: So erweist sich der Begriff des Wertewandels nicht zuletzt gerade in religionsgeschichtlicher Perspektive als diskussionsbedürftig, nicht da er überhaupt, sondern da er von vornherein mit der Säkularisierungsthese verschränkt wird: Wachsende Authentizitätsansprüche und schwindende Autoritätsverhältnisse werden dementsprechend mit dem vielfach behaupteten Niedergang der beiden großen Kirchen oft wie selbstverständlich in Eins gesetzt. Der Wertewandel in den 1960er und 70er Jahren wird in diesem Sinne als „eine Art zweite Säkularisierung“ bezeichnet48. Besonders häufig gerät hierbei wiederum die Sphäre der Sexualität in den Fokus: „Der Kirchenbesuch“, so heißt es an dieser Stelle, „nahm ab. Jahrhundertelang bestehende Tabus wurden mit der ,sexuellen Revolution‘ abgebaut“49. Hervorgehoben wird dementsprechend, „wie eng Auseinandersetzungen über Sexualmoral mit religiösen Säkularisierungsprozessen zusammenhängen“ würden50. Meine Kritik zielt an dieser Stelle nicht so sehr auf die Frage, ob diese Behauptung empirisch zutreffend ist, da die historische Forschung in diesem Punkt in sehr unterschiedliche Richtungen weist. Ich stelle im Folgenden vielmehr darauf ab, dass sich diese Behauptung bislang als heuristisch wenig fruchtbar erwiesen hat: Denn die Geschichtswissenschaft hat sich mit Blick auf den Begriff des Wertewandels bisher nahezu ausschließlich Transforma45 Vgl. lediglich Hobsbawm, Zeitalter, 361; siehe mit Blick auf 1968 als „Chiffre“ etwa Kraushaar, 1968. 46 Vgl. insbesondere Maier, Crisis?, 49–62; Jarausch, Krise? 47 Zu eng gefasst dementsprechend etwa Schçnhoven, Aufbruch; Koenen, Jahrzehnt; Wirsching, Abschied. 48 Meulemann, Wertwandel, 403. 49 Thrnhardt, Bundesrepublik, 174. 50 Herzog, „Sexy Sixties“?, 80 f.
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tionsprozessen außerhalb und nicht auch innerhalb der beiden großen Kirchen gewidmet. Sie hat den Bereich der Religion zu selten als Teil der Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands inkludiert und vor allem die beiden großen Kirchen zu häufig als Gegner bzw. Opfer von angeblich vorherrschenden Individualisierungs- und Liberalisierungsprozessen exkludiert51. Es fällt darüber hinaus schwer, den innerhalb dieses Interpretationsangebots beschriebenen, angeblich auf einen Rückgang von alten „Zwängen“ und einen Zugewinn an neuen „Freiheiten“ hinauslaufenden, gesellschaftlichen Wandel nicht als eine Art von Erfolgsgeschichte zu begreifen52. Diese Art von Erfolgsgeschichte ist nicht allein deswegen diskussionsbedürftig, weil sie die beiden großen Kirchen allenfalls noch als Kontrast oder in Reaktion auf derartige Individualisierungs- und Liberalisierungsprozesse zu berücksichtigen vermag. Sie antizipiert dabei auch permanent eine nicht weniger diskussionsbedürftige Verfallsgeschichte in der Form von sogenannten Übertreibungen und mutmaßlich stets drohenden Ausschweifungen. In diesem Sinne hätten „Wert- und Moralvorstellungen [in den 1960er und 70er Jahren] mit der sich lockernden Bindung an die Kirchen an Verbindlichkeit verloren“53. Sich teilweise stark wandelnde Verhaltensweisen und Orientierungsmuster werden dabei nicht selten weniger in ihren konkreten Bedingungen und vielfältigen Effekten rekonstruiert als in ihrem jeweiligen Abstand zu jenem vermeintlichen Erfolg oder einem beklagten Verfall evaluiert. Der Begriff des Wertewandels geht in diesem Sinne häufig mit der Feststellung und mitunter auch der Befürchtung eines Werteverlustes einher54. Im Rahmen dieses Interpretationsangebots gelingt es daher meinem Eindruck nach nicht hinreichend, die Lebensführung so unbefangen wie möglich zu befragen und gesellschaftlich zu verorten. Ein alternatives Interpretationsangebot, das den gesellschaftlichen Wandel um 1968 nicht mittels der Begriffe der Individualisierung und Liberalisierung zu fassen versucht und die Lebensführung dabei gezielt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, verbindet sich demgegenüber mit dem Begriff der Menschenführung.
51 Siehe unter anderem Gçrtemaker, Bundesrepublik; Wolfrum, Demokratie; Wehler, Gesellschaftsgeschichte; Conze, Suche. 52 Siehe hierzu bereits Schildt, Möglichkeiten. 53 Metzler, Einführung, 147 f. Eckart Conze spricht an dieser Stelle voreilig von einer vermeintlichen „Entnormativierung“ der Lebensführung in den 1960er und 70er Jahren; vgl. diesbezüglich Conze, Suche, 561. 54 Siehe hierzu auch Wirsching, Erwerbsbiographien, 87.
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2. Menschenführung – Subjektivierungsweisen und Körpertechniken um 1968 Es erscheint mir daher heuristisch fruchtbar, den Begriff der Lebensführung mit dem – von Michel Foucault geprägten55 – Begriff der Menschenführung zu konfrontieren bzw. zu kombinieren. Die Unterscheidung von Individualisierungs- und Privatisierungsprozessen auf der einen und Liberalisierungs- oder Demokratisierungsprozessen auf der anderen Seite beruht auf einer gerade um 1968 unsicher gewordenen Gegenüberstellung von „Persönlichem“ und „Politischem“.56 Der Begriff der Menschenführung bedient sich meinem Eindruck nach einer sehr viel weniger voraussetzungsvollen, geschmeidigeren Unterscheidung von Praktiken bzw. Techniken der Fremdführung und der Selbstführung. Hervorgehoben wird diesbezüglich von Anfang an, dass Selbstführung und Fremdführung untrennbar miteinander verflochten sind, insofern das Selbst nicht als anthropologisches Apriori, sondern als sozialer Effekt betrachtet wird57. Der Begriff der Menschenführung lenkt den Blick dementsprechend auf die jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Anforderungen an ein Selbst, das sich stets um sich selbst dreht und das von anderen als ein solches Selbst auch erkannt und anerkannt wird. In diesem Sinne geht es im Folgenden gerade nicht um die vermeintlich zunehmenden „Freiheiten“ des Selbst gegenüber bestimmten „Zwängen“ der Gesellschaft. Die historische Forschung bedient sich in diesem Zusammenhang zumeist einer inzwischen immer weniger überzeugenden Gegenüberstellung von Gesellschaftsverhältnissen auf der einen und – wenn man so will – Selbstverhältnissen auf der anderen Seite. Sie begreift die Lebensführung dabei lediglich als Indikator eines gesellschaftlichen Wandels, der mit Blick auf jenen „Boom“ vor allem von entsprechenden Veränderungen im ökonomischen und politischen Bereich getragen und gesteuert werde. In diesem Rahmen und unter Bezug auf vermeintlich allgegenwärtige Individualisierungs- und Liberalisierungsprozesse kann sie die Lebensführung und damit eng verknüpfte, sich ebenfalls wandelnde Selbstverhältnisse jedoch nicht konsequent historisieren. Indem sie angeblich unzeitgemäße „Zwänge“ und mühsam errungene „Freiheiten“ pausenlos einander gegenüberstellt, setzt sie das Selbst bzw. den Subjektstatus von Akteuren vielmehr immer schon voraus. Der vorliegende Beitrag problematisiert das Selbst und dessen „Erkenntnis“ oder „Verwirklichung“ stattdessen als eine – ebenso anspruchsvolle wie nie-
55 Siehe unter anderem Foucault, Überwachen; Ders., Gouvernementalität. 56 Vgl. lediglich Klimke / Scharloth, 1968; Davis u. a., Changing. 57 Siehe unter anderem Rose, Inventing; Reckwitz, Subjekt; Alkemeyer / Budde / Freist, Selbst-Bildungen.
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mals zu vollendende – gesellschaftliche Aufgabe. In diesem Sinne spreche ich im Folgenden von Subjektivierungsweisen oder Selbsttechniken58. Der Versuch, Selbsttechniken und sich wandelnde Selbstverhältnisse konsequent zu historisieren, lenkt die Aufmerksamkeit auf andere, erst sehr lückenhaft erforschte Transformationsprozesse und erlaubt es meinem Eindruck nach, die sich in den 1960er und 70er Jahren teilweise stark wandelnde Lebensführung zahlreicher Menschen vielfältiger zu erschließen, als dies unter Bezug auf den Individualisierungs- oder den Liberalisierungsbegriff möglich zu sein scheint. Ich widme mich daher im Folgenden der Lebensführung auch und vor allem im Hinblick auf damit einhergehende, sich ebenfalls verändernde Selbstverhältnisse59. Die historische Forschung vermag diese Selbstverhältnisse bzw. die Geschichte des Selbst bislang meist nur sehr oberflächlich zu erfassen und untersucht diese nur selten auch als Faktor, als Motor gar des gesellschaftlichen Wandels um 196860. Dieser gesellschaftliche Wandel jedoch setzte sich in der Form von mit der Lebensführung engmaschig verknüpften Selbstverhältnissen überhaupt erst nachhaltig durch61. Der vorliegende Beitrag widmet sich daher weniger der Lebensführung in Abhängigkeit von Veränderungen im ökonomischen oder politischen Bereich im oder nach dem „Boom“. Deren Einfluss soll zwar keineswegs abgestritten werden, ich halte es jedoch langfristig für wenig erkenntnisfördernd, den Bereich der Ökonomie oder der Politik oder irgendeinen anderen Gesellschaftsbereich dergestalt ins Zentrum des Interesses zu rücken. Ich widme mich daher im Folgenden eher einer Gemengelage von Verhaltensweisen und Orientierungsmustern im Zwischenreich solcher – funktional differenzierter – Gesellschaftsbereiche. Der Begriff der Menschenführung zielt darauf, dass Menschen in ihrer Lebensführung nicht nur – z. B. im Rahmen derartiger Veränderungen im ökonomischen oder politischen Bereich – geführt werden, sondern sich auch immer stärker selbst führen und dabei, darauf kommt es hier an, durchaus ganz unterschiedlichen – konkurrierenden oder konvergierenden – gesellschaftlichen Anforderungen an die eigene „Identität“ und vor allem „Authentizität“ folgen62. Statt von einer Standardisierung von Lebensläufen vor Anfang der 1970er Jahre und einer Entstandardisierung von Lebensläufen seit Anfang der 1970er Jahre zu sprechen, fragt der vorliegende Beitrag daher nach durchaus unterschiedlichen und mitunter neuartigen Formen oder Ebenen der Standardisierung von Lebensläufen und innerhalb der Lebensführung um 1968. Es geht mir in diesem Sinne nicht darum, Selbstverhältnisse statt Gesellschaftsverhältnisse in das Zentrum des Interesses zu rücken. Der vorliegende 58 59 60 61 62
Vgl. grundlegend Foucault, Technologien. Vgl. ebenfalls Eitler / Elberfeld, Gesellschaftsgeschichte. Vgl. allerdings Maasen, Selbst; Tndler / Jensen, Anpassung. Dies betonten teilweise bereits Max Weber und Georg Simmel. Vgl. ebenfalls Elberfeld / Otto, Einleitung.
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Beitrag versucht vielmehr, Selbstverhältnisse als Gesellschaftsverhältnisse zu betrachten und die Bedeutung dieser Selbstverhältnisse für die Untersuchung der Lebensführung zu verdeutlichen. Erst wenn sich die historische Forschung auch der Geschichte des Selbst gezielt zuwendet, lassen sich die vielfach behaupteten Auswirkungen des „Booms“ und seiner „Krise“ nicht allein theoretisch ableiten, sondern auch empirisch untersuchen63. Nähert man sich der Lebensführung auf diese Weise vom Begriff der Menschenführung her, dann wird deutlich, dass die Begriffe der Individualisierung und Liberalisierung sehr leicht zu empirischen Kurzschlüssen verleiten, und dann erscheinen sie als stark moralisch konnotiert. Zum einen kann ich nicht erkennen, warum man die sich um 1968 teilweise stark wandelnde Lebensführung zahlreicher Menschen angesichts des zunehmenden Massenkonsums und der massenmedialen Vermittlung von bestimmten Selbsttechniken als individuell und sogar als immer individueller ausflaggen sollte. Historisch nachweisen lässt sich für die 1960er und 70er Jahre nicht ein tendenzieller Zugewinn an Individualität, sondern ein öffentlich verhandeltes, zwar eindeutig rasch zunehmendes, deswegen aber nicht weniger phantasmatisches Verlangen nach Individualität. Wollte man den in diesem Zeitraum immer stärker ausgeweiteten Authentizitätsanspruch insbesondere als Individualisierungsauftrag begreifen, würde man ihn vielfach sogar gründlich missverstehen. Dieser Authentizitätsanspruch zielte vielmehr nicht selten auf das genaue Gegenteil, nicht auf ein als „unabhängig“ begriffenes Ich, sondern auf ein als „ganzheitlich“ beschriebenes Selbst64. In diesem Zusammenhang gilt es unter anderem auf den zwischen Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre immer größer werdenden Stellenwert der Gruppe und vor allem der Selbsthilfegruppe aufmerksam zu machen65. Bereits zu Beginn der 1970er Jahre waren in der Bundesrepublik Deutschland rund eine halbe Millionen Menschen in derartigen Selbsthilfegruppen organisiert und auf der Suche nach mehr „Selbsterkenntnis“ und „Selbstverwirklichung“ in „Gemeinschaft“ von „Gleichgesinnten“ – im Umgang mit Drogen oder einer Krankheit, in Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen oder auch Kindheitserinnerungen66. Zum anderen beruht der Begriff der Liberalisierung meinem Eindruck nach auf einer meist unter der Hand verhandelten Vorliebe für ganz bestimmte Selbstverhältnisse und damit sodann verknüpfte „Freiheiten“ gegenüber bestimmten Autoritätsverhältnissen – dies tritt vor allem im Hinblick auf die Sphäre der Sexualität sehr deutlich zutage. Wie selbstverständlich wird diesbezüglich innerhalb der historischen Forschung das angebliche Herrschafts63 Siehe unter anderem Eitler / Elberfeld, Zeitgeschichte. 64 Vgl. insbesondere Reichardt, Authentizität. 65 Vgl. beispielsweise Tndler, Vergemeinschaftung; siehe zeitgenössisch etwa Richter, Gruppe. 66 Vgl. insbesondere Reichardt, Authentizität, 784.
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gebaren allen voran der beiden großen Kirchen meist nicht wirklich nachgewiesen, sondern insbesondere verurteilt, ohne die entsprechenden Subjektivierungsweisen angesichts unterschiedlicher Sexualitätsmaßstäbe detailliert zu untersuchen und die Lebensführung im einen wie im anderen Fall, darauf kommt es hier an, möglichst vorbehaltlos zu befragen – als hätten sich die in der „sexuellen Revolution“ erstrittenen oder verbreiteten „Freiheiten“ nicht gleichzeitig als neuartige und eigentümliche „Zwänge“ erwiesen, nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer, als ein zur Verpflichtung werdender Wunsch nach einer „erfüllten“, „befriedigenden“ Sexualität67. Der Begriff der Liberalisierung ist in dieser Hinsicht fast immer stark moralisch konnotiert, und ich kann nicht sehen, wie er die Religionsgeschichte im engeren oder die Gesellschaftsgeschichte im weiteren Sinne noch länger voran bringen könnte. Mit Blick auf die öffentliche Debatte um die „Pillen-Enzyklika“ von 1968 ist z. B. ohne Unterlass von einem „freieren Sprechen“ oder einer „neuen Mündigkeit“ die Rede. Die historische Forschung benennt und verurteilt in diesem Sinne üblicherweise die „Verklemmtheit der Kirchen“ oder die „Sexualfeindlichkeit des Christentums“, reproduziert in diesem Kontext aber meinem Eindruck nach in erster Linie die Zuschreibungen von Zeitgenossen – Sexualität wird dabei nach wie vor als Garant für „Identität“ und vor allem „Authentizität“ inthronisiert, „Selbsterkenntnis“ und „Selbstverwirklichung“ werden auf diese Weise weiterhin als gesellschaftliches Zielmaß adressiert68. Den Individualisierungs- und den Liberalisierungsbegriff auf diese Weise und mit Blick auf deren gegenwärtig vorherrschende Verwendung innerhalb der Geschichtswissenschaft kritisch zu diskutieren, meint keineswegs zu bestreiten, dass die Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands zwischen Mitte der 1960er und Ende der 1980er Jahre von einschneidenden Transformationsprozessen geprägt wurde. Es geht mir vielmehr darum, dass sich der gesellschaftliche Wandel um 1968 mittels des Individualisierungs- oder Liberalisierungsbegriffs bislang nicht ausreichend historisieren und kritisch befragen lässt. Demgegenüber möchte ich im Folgenden in aller Kürze einige Transformationsprozesse in den Blick rücken, die bislang vergleichsweise selten untersucht wurden, die aber zweifelsohne das Alltagsleben und die Lebensführung breiter Bevölkerungsgruppen betroffen und zunehmend auch geprägt haben: (a) die Therapeutisierung, (b) die Somatisierung, (c) die Orientalisierung und (d) die Politisierung von Selbstverhältnissen um 1968. (a) Der Begriff der Therapeutisierung zielt auf die um 1968 ebenso schnell wie stark wachsende Bedeutung eines teilweise neuartigen psychologischen, vor allem sozialpsychologischen, aber auch kommunikationssoziologischen 67 Vgl. lediglich Eitler, „Revolution“; Bnziger u. a., Sexuelle Revolution? 68 Vgl. lediglich Silies, Lebensführung, 205 u. 223; Mantei, Protestantismus, 173; siehe etwa auch Herzog, „Sexy Sixties“?, 98.
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Wissens69 über „den“ Menschen und dessen „Gesundheit“ im engeren bzw. „Glück“ im weiteren Sinne. Dieses Wissen erklärte „Gesundheit“ und „Glück“ in erster Linie zu einem Problem von „Selbsterkenntnis“ und „Selbstverwirklichung“. Es rückte nicht gesellschaftliche Strukturen und widersprüchliche Interessen, sondern die eigene „Identität“ und vor allem „Authentizität“ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dieses Wissen zielte zunächst und insbesondere auf eine permanente Selbstbefragung und setzte dabei vor allem auf das Gespräch als Rückmeldungsinstanz und Erkenntnismethode. An die Stelle von stigmatisierten Krankheiten oder befürchteten Perversionen traten dementsprechend potentielle Missverständnisse und mangelnde Informationen70. Die Therapeutisierung von Selbstverhältnissen gewann ihre Gestalt und ihr Gewicht dabei innerhalb einer nochmals sehr viel umfassenderen „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ vor allem in den 1960er und 70er Jahren71. In Abgrenzung von einem individualpsychologischen, diente dieses sozialpsychologische oder kommunikationssoziologische Wissen weniger einer vergangenheitsorientierten Leidensanalyse als einer zukunftsorientierten Verhaltenstherapie. „Selbsterkenntnis“ und „Selbstverwirklichung“ wurden in diesem Sinne nicht nur zu einer letztlich unabschließbaren, sondern vor allem auch zu einer fortwährend verbesserungsfähigen „Arbeit am Selbst“. Alle Menschen bedurften so gesehen einer Therapie – einer dauerhaften Verhaltenstherapie zur langfristigen Selbstoptimierung72. Eine Therapeutisierung von Selbstverhältnissen lässt sich um 1968 in sehr verschiedenartigen Kontexten und zu ganz unterschiedlichen Aspekten der Lebensführung nachweisen: Die „eigene“ Sexualität wurde ebenso immer öfter und immer offener „ausdiskutiert“ wie die „eigene“ Aggressivität, Erziehungsfragen oder Familienkonflikte nicht weniger als Drogenerfahrungen oder Beziehungsprobleme. Selbstführung und Fremdführung gingen dabei Hand in Hand73. Der in diesem Rahmen beobachtbare Therapeutisierungsprozess begründete in den 1960er und 70er Jahren einen regelrechten „DialogImperativ“ innerhalb der Lebensführung – nicht nur in der Selbsthilfegruppe oder in der Wohngemeinschaft, sondern auch während der Resozialisation im Strafvollzug oder angesichts einer Supervision unter Kollegen74. Historisch rekonstruiert wurde dieser „Dialog-Imperativ“ bislang vor allem für den Bereich der Politik und die politische Kommunikation, am Beispiel von Parlamentsdebatten und Talkshows, Lehrplänen und Ge69 Zum Begriff des Wissens siehe noch immer Foucault, Archäologie. 70 Vgl. insbesondere Maasen, Selbst; Eitler / Elberfeld, Zeitgeschichte; siehe auch bereits Rose, Soul; Illouz, Errettung. 71 Vgl. dementsprechend Raphael, Verwissenschaftlichung. 72 Vgl. beispielsweise Elberfeld, Befreiung. 73 Siehe unter anderem Bnziger u. a., Dr. Sex; Bnziger, Sex; Wellmann, Beziehungssex; Elberfeld, „Patient Familie“; Schleking, Drogen. 74 Vgl. lediglich Reichardt, Authentizität, 439–447; Streng, Therapeutisierungsprozesse.
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sprächskreisen, häufig unter Verweis auf die alliierte Besatzungspolitik und entsprechende Umerziehungsstrategien75. Mit diesem „Dialog-Imperativ“ schritt in den 1960er und 70er Jahren ein stetig wachsender Bedarf an Beratung einher. Im Bereich der Politik folgte dieser Bedarf an Beratung jedoch nicht einer Therapeutisierung politischer Kommunikation, er zielte vielmehr auf eine Ökonomisierung politischer Kommunikation76. Auch im Bereich der Religion lässt sich ein solcher „Dialog-Imperativ“ nachweisen, anfangs insbesondere im Rahmen einer Politisierung religiöser Kommunikation seit Mitte der 1960er Jahre, seit Anfang der 1970er Jahre dann aber auch immer stärker im Zuge einer Therapeutisierung religiöser Kommunikation77. Der Bedarf an Beratung aufseiten der beiden großen Kirchen wuchs dabei sowohl innerhalb der Caritas als auch innerhalb der Diakonie78 – in der Eheberatung oder Sterbebegleitung, im Umgang mit Krankheiten oder Abtreibungen, innerhalb der Gemeindearbeit oder in bestimmten Gesprächsgruppen, wie auch noch stärker aufseiten der sogenannten „New-AgeBewegung“. Die Seelsorge gewann infolge dessen immer öfter den Charakter einer Selbstsorge79. Diese ehedem vielfach unbekannte und um 1968 eindeutig zunehmende Therapeutisierung von Selbstverhältnissen sollte noch vielfältiger untersucht und deren Bedeutung für die Lebensführung genauer erschlossen werden – auch aufseiten der Religionsgeschichtsschreibung. (b) So erkenntnisfördernd der Blick auf sich wandelnde Gesprächsweisen und Kommunikationsstrategien auch ist, so vielfältig die historische Forschung zur Therapeutisierung von Selbstverhältnissen auch unterschiedliche Formen der Selbst- und Fremdführung miteinander verknüpft und innerhalb der Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands verortet – die Geschichtswissenschaft hat sich in diesem Zusammenhang, bedient man sich einer zeitgenössischen und noch immer einflussreichen Unterscheidung, bislang zu einseitig allem voran der Psyche und zu selten auch der Physis gewidmet80. Wendet man sich gezielt der Lebensführung und dem Alltagsleben zu, wird indes schnell deutlich, wie häufig der Körper dabei in den Mittelpunkt teilweise neuartiger Selbstverhältnisse gerückt wurde, nicht erst, aber gerade um 196881. „Gesundheit“ bzw. „Glück“ mussten nicht nur besprochen, sondern auch getan werden und beruhten in diesem Sinne nicht allein auf einem bestimmten 75 76 77 78 79 80
Vgl. beispielsweise Kìster, Erlernen; Verheyen, Diskussionslust. Vgl. insbesondere Metzler, Konzeptionen, 154–207; siehe auch bereits Ruck, Sommer. Vgl. ausführlicher Eitler, „Gott“. Siehe vor allem Ziemann, Kirche; Ders., Gospel; vgl. ebenfalls Henkelmann u. a., Caritas. Siehe lediglich Eitler, Körper. Vgl. beispielsweise Illouz, Errettung; Verheyen, Diskussionslust; Bublitz, Beichtstuhl; Bnziger u. a., Dr. Sex; siehe teilweise auch Maasen u. a., Selbst. 81 Vgl. beispielsweise Herzog, Antifaschistische Körper ; Duttweiler, Glück; siehe hierzu auch Eitler, Körper.
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psychologischen, sondern auch auf einem bestimmten physiologischen Wissen. Selbsttechniken waren daher sehr häufig Körpertechniken82. Sexualität etwa wurde nicht nur „ausdiskutiert“, sondern vor allem auch „ausprobiert“, mittels sehr unterschiedlicher Techniken und in vielen Varianten, wie eine bald schon unüberschaubare Anzahl an Umfragedaten und Sexratgebern oder Pornofilmen seit Ende der 1960er und nochmals verschärft seit Beginn der 1970er Jahre vor Augen führt83. Neue Musikstile und Tänze machten den Körper ebenso zu einem zentralen Ort und privilegierten Mittel der „Selbsterkenntnis“ und „Selbstverwirklichung“ wie neue Kleidungsmoden oder Drogen – keineswegs ausschließlich, aber besonders offensichtlich unter Jugendlichen. Die Trimm-Dich-Bewegung innerhalb der sogenannten Mehrheitsgesellschaft zwischen Anfang der 1970er und Anfang der 1980er Jahre war diesbezüglich ebenso Ausdruck – Ergebnis und Ereignis – eines sich teilweise stark wandelnden „Körperbewußtseins“ wie das zeitgleich rasch wachsende Interesse für Yoga innerhalb des sogenannten Alternativmilieus84. Vor diesem Hintergrund gilt es um 1968 – mehr denn je85 – eine teilweise neuartige, überaus vielseitige Somatisierung von Selbstverhältnissen zu verzeichnen. Ein „gesunder“ Körper geriet dabei nicht länger zur Waffe eines „wehrhaften“ Staates, sondern zum Ausweis eines „glücklichen“ Selbst, in seiner affirmativen Bedeutung für und als permanente Herausforderung an die eigene „Identität“ und vor allem „Authentizität“. Fernab dieser Somatisierung von Selbstverhältnissen lassen sich weder die Frauenbewegung noch die Umweltbewegung angemessen begreifen86. Auch in diesem Fall griffen Selbst- und Fremdführung pausenlos ineinander. Obgleich sich dieser Somatisierungsprozess erst im Zusammenhang einer sich in den 1970er und 80er Jahren zunehmend durchsetzenden Dienstleistungsgesellschaft vollauf entfalten konnte, versteht man ihn falsch, wenn man ihn nicht vor dem Hintergrund einer Therapeutisierung von Selbstverhältnissen betrachtet, sondern als Kommerzialisierung der Lebensführung abtut. Bestimmte ehedem nicht selten unbekannte Selbsttechniken bzw. Körpertechniken erforderten in den 1960er und 70er Jahren schlichtweg neuartige Räume und entsprechende Mittel zur Einübung und Durchführung: von Turnschuhen bis zu Kassettenrekordern, von der Disco bis zur Sauna, von Räucherstäbchen bis zu Vibratoren, vom Fitnessstudio bis zum Theaterkurs87. Die in diesem Zeitraum und Zusammenhang deutlich zunehmende Somati82 Zum Begriff der Körpertechniken siehe noch immer Mauss, Techniken. 83 Siehe vor allem Bnziger u. a., Sexuelle Revolution? 84 Vgl. beispielsweise Siegfried, Time; Schleking, Drogen; siehe hierzu auch Eitler, „Selbstheilung“; Geisthçvel / Mrozek, Popgeschichte. 85 Verbindungslinien zur Lebensreformbewegung der 1920er und 30er Jahre sollten nicht über das größere Ausmaß und vor allem die größere Vielfalt dieses Transformationsprozesses seit den 1960er und 70er Jahren hinwegtäuschen. 86 Zur Geschichte der Frauenbewegung siehe dabei vor allem Bìhrmann, Geschlecht. 87 Siehe unter anderem Siegfried, Time; Schildt / Siegfried, Kulturgeschichte.
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sierung von Selbstverhältnissen sollte daher nicht vorschnell und einseitig auf eine angeblich allgegenwärtige Kommerzialisierung der Lebensführung oder Ökonomisierung von Selbstverhältnissen zurückgeführt werden, die gegenwärtig sehr häufig und meist recht schwammig mit dem Begriff des Neoliberalismus verknüpft wird88. Auch im Bereich der Religion geriet der Körper um 1968 immer stärker ins Zentrum des Interesses – nicht allein im Rahmen des lautstarken und langjährigen „Streits“ um die „Pille“ oder mit Blick auf das stark umkämpfte Recht auf Abtreibung und die angeblich unterdrückende „Sexualmoral“ der beiden großen Kirchen89. Auch und vor allem im Zusammenhang der Verbreitung bestimmter Körpertechniken bzw. Heilmethoden innerhalb der sogenannten „New-Age-Bewegung“ zwischen Anfang der 1970er und Ende der 80er Jahre muss von einer solchen Somatisierung von Selbstverhältnissen gesprochen werden. Yogafiguren und Meditationspraktiken, Fastenkuren und Massagetechniken lenkten den Blick in diesem Fall sehr gezielt auf den Körper und die „Mitte“ und „Ruhe“ des Selbst90. In seiner Bedeutung für und als Herausforderung an die eigene „Identität“ und vor allem „Authentizität“ war der Körper zwar durchaus umstritten und avancierte dementsprechend regelmäßig zu einem Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung. In diesem Sinne aber forderte die zunehmende Somatisierung von Selbstverhältnissen auch diejenigen heraus, die ihr weitgehend ablehnend gegenüber standen und deren scheinbar stark mangelhaftes „Körperbewußtsein“ nun dementsprechend beklagt wurde. Alles in allem gewann dieser Transformationsprozess in den 1970er oder auch 1980er Jahren nahezu ungebrochen immer weiter an Relevanz und Brisanz. Bislang gerät auch in diesem Rahmen vor allem die Sphäre der Sexualität in den Fokus, in Zukunft sollten jedoch auch andere Bereiche der Lebensführung wie die Ernährung und die Bekleidung, der Umgang mit Drogen oder der Wandel der Arbeit genauer rekonstruiert und analysiert werden – auch aufseiten der Religionsgeschichtsschreibung91. (c) Während die Auseinandersetzung mit der Therapeutisierung von Selbstverhältnissen innerhalb der Geschichtswissenschaft und der benachbarten Sozialwissenschaften sehr häufig auf transatlantische Austauschbeziehungen zielt und auch in diesem Zusammenhang auf eine vielfältige Amerikanisierung bzw. Westernisierung92 der Lebensführung verweist, rückt die Beschäftigung mit diesem Somatisierungsprozess sehr viel stärker auch eine ebenso vielfältige Exotisierung bzw. Orientalisierung der Lebensführung 88 Vgl. jedoch die wichtigen Arbeiten von Brçckling / Krasmann / Lemke, Gouvernementalität; Brçckling, Selbst. 89 Vgl. beispielsweise Silies, Liebe; Herzog, Politisierung. 90 Vgl. lediglich Eitler, Körper 91 Zur Geschichte der Arbeit siehe etwa Andresen u. a., Strukturbruch; Bnziger, Fordistische Körper, 11–40. 92 Siehe vor allem Schildt, Ankunft; Doering-Manteuffel, Wie westlich?
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ins Zentrum des Interesses93. Der gezielte Blick auf den Körper verweist die historische Forschung im Fall der 1960er und 70er Jahre – mehr denn je94 – nicht allein auf einen ausführlich diskutierten „langen Weg nach Westen“ (Heinrich-August Winkler)95. Er verweist ebenfalls auf einen noch kaum historisch erforschten Orientalisierungsprozess in der Bundesrepublik Deutschland um 1968, einen, wenn man so will, „kurzen Weg nach Osten“. Dieser Orientalisierungsprozess bediente sich unter Rückgriff auf bereits sehr viel ältere Unterscheidungen einer permanenten und phantasmatischen Gegenüberstellung von „Westen“ und „Osten“. Das „Morgenland“ wurde dabei aber ganz anders als noch in den 1950er Jahren nicht länger negativ mit der „Angst“ vor dem Kommunismus oder Maoismus96 verknüpft und auf die vermeintlich unmittelbar bevorstehende „Verteidigung des Abendlandes“ bezogen, sondern nunmehr sehr positiv mit dem Buddhismus und Hinduismus, dem Taoismus oder Sufismus verbunden. Der „Osten“ avancierte in diesem Zusammenhang zur strapazierfähigen Kontrastfolie für vermeintliche Fehlentwicklungen im „Westen“: An die Stelle der „Betriebsamkeit des Westens“ trat dementsprechend die „Weisheit des Ostens“; „Denken“ und „Fühlen“ sollten nicht länger getrennt, sondern endlich wieder miteinander verknüpft werden; das einseitig „Männliche“ sollte stark eingedämmt, das „Weibliche“ hingegen umfassend befördert werden; „den“ Menschen – seinen „Leib“ und „Geist“ – galt es „ganzheitlich“ nicht nur anders zu begreifen, sondern vor allem auch anders zu behandeln. In den Fokus des Interesses gerieten dementsprechend Subjektivierungsweisen und Körpertechniken aus dem „Osten“, vor allem aus „Asien“, die dem „Westen“ einen „tieferen“ Zugang zum „wahren“ Selbst eröffnen sollten. In diesem Sinne spricht der vorliegende Beitrag von einer Orientalisierung von Selbstverhältnissen um 196897. Auch wer diese Orientalisierung von Selbstverhältnissen nicht als offiziellen „Weg“, sondern eher als inoffiziellen „Pfad“ bezeichnen mag, sollte sie in ihrer Bedeutung für die Lebensführung zahlreicher Menschen nicht voreilig unterschätzen. Die um 1968 oftmals sehr lautstarke Orientalisierung der Sexualität – das Imaginieren und Propagieren einer ebenso ausgefeilten wie ungezügelten, als exotisch bzw. ekstatisch begriffenen „Liebeskunst“98 – zeugt von der Bedeutung dieses Transformationsprozesses ebenso wie die eher schleichende Orientalisierung der Ernährung; den Aufschwung „chinesischer“ Kampfkünste und die Aufführung „ägyptischer“ Bauchtänze gilt es in diesem Zusammenhang ebenso zu untersuchen wie die Verbreitung von „indischen“ Meditationspraktiken oder die Beschäftigung mit „japanischen“ 93 Vgl. lediglich Eitler, Körper; ders., „Selbstheilung“. 94 Die Anfänge dieses Orientalisierungsprozesses reichen teilweise bis in die Mitte des 19. oder bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. 95 Vgl. insbesondere Winkler, Weg. 96 Siehe vor allem Schildt, Abendland. 97 Vgl. ausführlicher Eitler, Körper; ders., „Selbstheilung“; siehe hierzu auch Streng, Kampf. 98 Vgl. lediglich Eitler, „Porno-Welle“.
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Managmentstrategien; Yogakurse und Zenseminare kündeten von diesem Orientalisierungsprozess in den 1960er und 70er Jahren ebenso wie die wachsende Popularität von Marihuana oder ein Trip nach Indien99. Reiste 1960 etwa ein Drittel der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland in den Urlaub, so tat dies 1970 bereits über die Hälfte – immer häufiger nicht nur nach Südeuropa, sondern auch nach Südasien oder Nordafrika100. Der Begriff der Orientalisierung erlaubt und erfordert es, diese affirmative Bezugnahme auf den „Osten“ nicht nur historisch zu erschließen, sondern auch kritisch zu befragen101. Diese grenzte den „Osten“ gerade insofern aus, als sie ihn großflächig zu vereinnahmen suchte. Der „Osten“ wurde in diesem Rahmen nicht richtig oder falsch dargestellt und sodann im „Westen“ gut oder schlecht angeeignet. Im Verlauf dieser Gegenüberstellung wurden vielmehr sowohl der „Osten“ als auch der „Westen“ als vermeintlich ganz anders überhaupt erst immer wieder hergestellt. Anstatt die Amerikanisierung oder Westernisierung mit der Exotisierung oder Orientalisierung der Lebensführung abstrakt zu kontrastieren und dadurch tendenziell zu reproduzieren, sollte deren jeweils unterschiedliche Aufnahme und Vermittlung im Alltagsleben daher im einen wie im andern Fall vielschichtiger untersucht werden, nicht nur, aber vor allem in Hinsicht auf konkurrierende oder konvergierende Subjektivierungsweisen und Körpertechniken – auch aufseiten der Religionsgeschichtsschreibung. (d) Es liegt nahe, die Therapeutisierung und Somatisierung oder Orientalisierung von Selbstverhältnissen als unpolitisch zu begreifen. Um 1968 jedoch entwickelte sich die Lebensführung immer stärker zum Objekt der Politik und zum Schauplatz einer meist öffentlichen Auseinandersetzung um deren gesellschaftliche Folgen. Der Begriff der Politik wurde dabei teilweise massiv ausgeweitet und betraf die Geschlechterverhältnisse bald ebenso wie das Familienleben, die Erziehungsmethoden und das Schulwesen, die Universitäten und die Theater, die Verlage und die Zeitungen, Kunst und Literatur, Kleidungsformen und Musikstile, die kontrovers diskutierte „sexuelle Revolution“ oder die erfolgreich erstrittene „betriebliche Mitbestimmung“.102 Dieser gegen Mitte der 1960er Jahre rasch ausgeweitete Politisierungsprozess – in diesem Fall zumeist ein herrschaftskritischer Gegenwartsbezug und ein damit permanent verknüpfter Handlungsauftrag – sollte nicht ausschließlich oder vorrangig auf die Studentenbewegung zurückgeführt werden, und er brach gegen Mitte der 1970er Jahre auch nicht einfach unvermittelt ab. Er erfuhr gegen Mitte der 1970er Jahre auch keine vorherrschend „resignati99 Vgl. ebenfalls Mçhring, Essen ; Schleking, Drogen. 100 Vgl. beispielsweise Schildt, Sozialgeschichte, 46. Bis in die 1980er Jahre hinein führten dabei jedoch weniger als 10 % aller Urlaubsreisen aus dem „Okzident“ in den „Orient“. Vgl. lediglich Bertsch, Alternative. 101 Zum Begriff der Orientalisierung siehe noch immer Said, Orientalismus. 102 Zum Begriff der Politik und zur Neukonzeption der Politikgeschichte siehe unter anderem Frevert / Haupt, Politikgeschichte; Steinmetz, „Politik“.
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ve“, „pessimistische“ Einfärbung. Von einem sich insgesamt bahnbrechenden „Ende der Zuversicht“ (Konrad Jarausch) kann in der Bundesrepublik Deutschland meinem Eindruck nach keine Rede sein103. Darauf machen nicht nur neue religiöse Bewegungen wie insbesondere die sogenannte „New-AgeBewegung“, sondern auch eine Vielzahl von anderen neuen sozialen Bewegungen aufmerksam104. Nicht nur unter Bezug auf die Frauenbewegung oder die Schwulenbewegung, auch mit Hinweis auf die Umweltbewegung oder die Friedensbewegung wäre es weitgehend verfehlt, von einer solchen Einfärbung zu sprechen und die interne Vielfalt und große Dynamik innerhalb dieser neuen sozialen Bewegungen letztlich zu unterschätzen105. Dieser Politisierungsprozess erfuhr gegen Mitte der 1970er Jahre weniger einen Abbruch als einen Richtungswechsel: Wurde das „Persönliche“ im Umkreis der Studentenbewegung als politisch definiert, so wurde das „Politische“ im Kontext des Alternativmilieus als persönlich redefiniert – oftmals sehr wohlwollend gegenüber der Studentenbewegung, doch mit teilweise schwerwiegenden Folgen für die Themenwahl und den Formwandel von Kritik und Protest. In beiden Fällen lässt sich eine tiefgreifende, vielfältige Politisierung von Selbstverhältnissen nachweisen, doch richteten sich die Kritik und der Protest zwischen Mitte der 1960er und Anfang der 70er Jahre eher auf größere Zusammenhänge und letztlich auf „die“ Gesellschaft106. Zwischen Anfang der 1970er und Ende der 80er Jahre hingegen richteten sich diese deutlich häufiger auf kleinere Zusammenhänge und unmittelbar auf „das“ Selbst107. In diesem Sinne spreche ich von einer teilweise neuartigen Politisierung von Selbstverhältnissen. Der Politisierungsbegriff unterläuft dabei die zahlreichen Fallstricke eines stark moralisch konnotierten Liberalisierungsbegriffs. Er lenkt den Blick nicht auf vermeintliche „Freiheiten“ im Gegensatz zu sogenannten „Zwängen“, sondern betont sowohl die Umstrittenheit als auch die Verbindlichkeit von Selbstverhältnissen als Gesellschaftsverhältnissen und die sich um 1968 zwar dementsprechend wandelnden, aber keineswegs weniger umfassenden gesellschaftlichen Anforderungen an ein „gesundes“ bzw. „glückliches“ Selbst und dessen Lebensführung. Kennzeichnend für diesen Richtungswechsel war nicht mehr so sehr der Kampf gegen Ausbeutung als viel eher das Recht auf Abtreibung; im Zentrum des Interesses stand nicht länger der Imperialismus in der „Dritten Welt“, sondern immer öfter das Biosortiment im „Eine-Welt-Laden“; an die Stelle der Auseinandersetzung mit dem „Historischem Materialismus“ trat die Anmel103 Vgl. lediglich Jarausch, Ende?; Doering-Manteuffel / Raphael, Boom. 104 Vgl. überblicksartig Roth / Rucht, Bewegungen. 105 Siehe hierzu auch Mende, „Nicht rechts“; Schregel, Atomkrieg; Beljan, Rosa Zeiten?; Engels, Naturpolitik; Eitler, „Alternative“. 106 Vgl. lediglich Klimke / Scharloth, 1968; Kraushaar, 1968; Gilcher-Holtey, 1968; Koenen, Jahrzehnt. 107 Siehe vor allem Bìhrmann, Geschlecht; Reichardt, Authentizität; vgl. ebenfalls Eitler, Perspektive; Schmincke, Befreiung.
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dung zu einem „Anti-Atomkraft-Seminar“; kurzfristige, großangelegte, nationale Demonstrationen wurden nicht einfach abgelöst, aber zunehmend ergänzt durch langfristige, kleinschrittige, lokale Projektinitiativen108. Auch der Bereich der Religion hat einen solchen Richtungswechsel des Politisierungsprozesses erfahren – dies ist der Hintergrund, vor dem es nicht zuletzt den Bedeutungsgewinn der sogenannten „New-Age-Bewegung“ gegen Anfang der 1970er Jahre zu verorten gilt109. Während die Politisierung religiöser Kommunikation im Fall der „New-Age-Bewegung“ eher auf kleinere Zusammenhänge und „das“ Selbst zielte, hatte sich diese gegen Mitte der 1960er Jahre im Fall der beiden großen Kirchen und der „Politischen Theologie“ insbesondere auf größere Zusammenhänge und „die“ Gesellschaft gerichtet110. An dieser Stelle jedoch von einem eindeutigen, umfassenden „Strukturbruch“ zu sprechen, scheint mir die Diskontinuitäten zu über- und die Kontinuitäten zu unterschätzen, die grundlegenden Gemeinsamkeiten innerhalb dieses Richtungswechsels – den herrschaftskritischen Gegenwartsbezug und den damit permanent verknüpften Handlungsauftrag. Die Politisierung von Selbstverhältnissen deutet mithin auch in diesem Fall eher auf einen Transformationsprozess bereits gegen Mitte der 1960er als erst gegen Mitte der 1970er Jahre.
3. Fazit Der vorliegende Beitrag hat versucht, die sich in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er und 70er Jahren teilweise stark wandelnde Lebensführung breiter Bevölkerungsgruppen nicht allein oder vor allem auf entsprechend tiefgreifende Veränderungen im ökonomischen oder politischen Bereich zurückzuführen, da sich die Lebensführung auf diese Weise meinem Eindruck nach nicht angemessen historisieren und kritisch befragen lässt. Unter Rückgriff auf den Begriff der Menschenführung habe ich vielmehr zu zeigen versucht, dass Menschen im Zusammenhang ihrer Lebensführung nicht nur geführt werden, sondern sich auch immer mehr selbst führen und dabei durchaus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Anforderungen folgen. Indem der Begriff der Menschenführung das Selbst, dessen „Erkenntnis“ und „Verwirklichung“, nicht länger als ein vermeintliches Zielmaß adressiert, sondern als eine – überaus anspruchsvolle und niemals vollauf abschließbare – gesellschaftliche Aufgabe problematisiert, ermöglicht und erfordert er es, Selbstverhältnisse als Gesellschaftsverhältnisse zu begreifen und zu untersuchen. Der Begriff der Menschenführung rückt dabei 108 Vgl. insbesondere Reichardt / Siegfried, Milieu; Reichardt, Authentizität; Mende, „Nicht rechts“; siehe beispielsweise auch Ebeling, Straßenprotest?. 109 Vgl. lediglich Eitler, „Alternative“; ders., Perspektive. 110 Siehe unter anderem Eitler, „Gott“; Lepp, Konfrontation; Fitschen u. a., Politisierung.
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sehr verschiedenartige und um 1968 teilweise neuartige Subjektivierungsweisen und Körpertechniken in den Fokus, die sich dem innerhalb der historischen Forschung üblichen Verständnis von einem angeblich umfassenden Individualisierungs- oder Liberalisierungsprozess schlichtweg verschließen. Es ging mir an dieser Stelle allem voran darum, wie sich der gesellschaftliche Wandel im Zusammenhang der Lebensführung mit Blick auf Subjektivierungsweisen und Körpertechniken auch anders perspektivieren lässt. Der vorliegende Beitrag hat sich vor diesem Hintergrund in aller Kürze der Therapeutisierung, der Somatisierung, der Orientalisierung und der Politisierung von Selbstverhältnissen gewidmet und dementsprechend auch unterschiedliche Periodisierungsansätze zur Diskussion gestellt. Er hat in diesem Zusammenhang versucht, die Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands weder als Verfallsgeschichte noch als Erfolgsgeschichte zu schreiben und die Lebensführung fernab einer moralisch konnotierten Gegenüberstellung von alten „Zwängen“ und neuen „Freiheiten“ zu betrachten. Anstatt die Religionsgeschichte an dieser Stelle als einen verdächtigen Gegenspieler der Moderne zu exotisieren, ging es darum, sie als einen vielversprechenden Aspekt der Gesellschaftsgeschichte zu inkludieren – nicht nur im Fall des 19., sondern auch im Fall des 20. Jahrhunderts111. Die 1960er und 70er Jahre gilt es auch aus diesem Grund in Hinsicht auf eine immer größere „Öffnung religiöser Räume“ zu rekonstruieren und zu reflektieren112. Lediglich kurz anmerken möchte ich darüber hinaus, dass die historische Forschung noch gezielter neuartige Akteure bzw. Akteursgruppen in den Fokus rücken sollte, neben Jugendlichen oder Erwachsenen vor dem Rentenalter z. B. auch Menschen nach dem Renteneintritt und deren üblicherweise vernachlässigte Lebensführung – doch auch diese Menschen hatten Sexualität oder waren Konsumenten113. Vor allem aber werden Migrantinnen und Migranten in ihrer Lebensführung und deren Bedeutung zumeist noch immer stark vernachlässigt oder sogar als randständig veranschlagt, fälschlicherweise, wie neuere Studien inzwischen deutlich vor Augen führen114.
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Dies forderte unter anderem bereits Schieder, Sozialgeschichte. Vgl. lediglich Bçsch / Hçlscher (Hg.), Jenseits. Vgl. beispielsweise Wellmann, Silber-Sex. Siehe unter anderem Mçhring, Essen; Bojadzˇijev / Perinelli, Herausforderung.
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Kapitel 2: Arbeit, Freizeit und Konsum
Norbert Friedrich
Einführung: Arbeit, Freizeit und Konsum
Für das Thema „Lebensführung“ in seinen gesellschaftlichen und kirchlichen Dimensionen sind nicht zuletzt die Lebensbereiche konstitutiv, die man mit „Freizeit“ und „Konsum“ sowie „Arbeit“ umschreibt. Es ist daher plausibel, die Sektion mit den nur scheinbar gegensätzlichen Paaren von „Arbeit“ und „Freizeit“ an den Anfang zu stellen, denn für den Protestantismus hat die Beurteilung dieser individuellen Lebensbereiche zu kontroversen Betrachtungen und Bewertungen geführt. Zugleich sind sie zentrale Felder, auf denen sich der grundlegende Wandel der Gesellschaft während der 1960er Jahre vollzog. Die Frage des „Konsums“ kann dabei als Brücke zwischen der Sphäre der Arbeit sowie der Freizeit interpretiert werden, wobei – wie die Überlegungen von Harry Oelke zeigen – die Verbindungslinien zwischen einem verstärkten Konsum sowie einer sich entwickelnden Freizeitgesellschaft evident sind. Hans-Ulrich Wehler hat von einer „Konsumgesellschaft im Aufwind“1 gesprochen und dabei besonders auf die wachsenden finanziellen Spielräume der Bevölkerung verwiesen, die in der Phase des sogenannten Wirtschaftswunders entstanden. Dabei führte der steigende und sich pluralisierende Konsum zu einer sich polarisierenden Debatte über dessen Nutzen oder Schaden. Auch die Frage, ob die Konsumgesellschaft eher ein Zeichen für eine sich selbst nivellierende Mittelstandsgesellschaft (Helmut Schelsky) war oder aber sich die Gegensätze in der Gesellschaft nicht eher verstärkten, wurde nicht einheitlich beantwortet. Gleiches gilt für den Bereich der Freizeit, in dem es während der 1950er und 60er Jahre ebenfalls zu deutlichen Veränderungen kam. Eine Ursache hierfür war die Reduktion der Arbeitsdauer. Sie ging von bis zu 56 Stunden in der Woche vor 1955 auf eine für die meisten Arbeitnehmer geltende 5-Tage-Woche mit 40 Stunden (1973) zurück. Auch die Arbeit als solche veränderte sich. Infolge der Automatisierung und Technisierung stieg die Arbeitsproduktivität, indes mit ambivalent beurteilten Konsequenzen für den einzelnen Arbeiter oder Angestellten. Auswirkungen auf die Gestaltung der Freizeit hatte unter anderem die stark zunehmende individuelle Motorisierung der Bevöl1 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, 76. Vgl. als Überblick Haupt / Torp, Konsumgesellschaft. Äußerst anregend ist die Studie zur Jugendkultur von Detlef Siegfried, der sehr stark auf die Musik eingeht; Siegfried, Time.
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kerung2. Es entstand eine Freizeitindustrie, das Phänomen des Massentourismus konnte sich durchsetzen. Auch die Medien veränderten sich stark. Die Musikindustrie internationalisierte sich durch Einflüsse aus England und den USA. Das Fernsehen erlebte nach bescheidenen Anfängen eine schnelle Verbreitung und eroberte die Wohnzimmer der Republik. Die Themen ließen sich noch erweitern, die sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen waren vielfältig3. Beide Kirchen waren nicht allein Zuschauer im Veränderungsprozess, sondern auch Akteure4. Im Allgemeinen führte die Entwicklung nach 1945 aber zunächst dazu, dass sich die Bedeutung konfessioneller Konflikte und Unterschiede langsam abschliff und in der öffentlichen Debatte an Relevanz verlor, auch wenn charakteristische Unterschiede blieben5. Diese Differenzen gab es jedoch nicht allein zwischen den Konfessionen, sondern auch innerhalb derselben. Auch wenn der Protestantismus gerade in ethischen oder gesellschaftlichen Fragen in der öffentlichen Wahrnehmung vielleicht offener erschien, gab es dort maßgebliche Strömungen, die grundsätzlich mit den dynamischen gesellschaftlichen Veränderungen fremdelten6. Nicht allein die Debatten darum, wie sich der Protestantismus zur Politik stellen sollte, wie viel Politik auf die Kanzel und in die Kirche gehörte, bestimmten die Zeit und die Konflikte, auch die sehr konkreten Fragen über die Zukunft „vor Ort“ kamen hinzu. Im Blick auf das Thema „Arbeit, Freizeit und Konsum“ verbinden sich damit zahlreiche Fragen für zukünftige Forschung: Was machten Christen mit der der Arbeitswelt abgewonnenen freien Zeit? Hatte die Kirche die Räume (Gemeindehäuser), das Personal und die Angebote für die Menschen? Bot die freie Zeit die Möglichkeit eines Aufbruches zu neuer, anderer Religiosität und Kirchlichkeit? Waren Freizeitangebote eine Konkurrenz zum Sonntagsgottesdienst? Wie bekamen die Kirchen die Menschen zum Besuch der Gemeindeabende oder einer Akademieveranstaltung? Inwieweit waren Christen anfällig für die Massenkultur? Nutzten sie die freie Zeit, Bücher zu lesen? Und wenn ja, welche? Günther Grass und Erich Kästner? Oder doch lieber Manfred Hausmann oder andere christliche Schriftsteller? Oder gingen auch sie lieber in die Sonne oder ins Freibad? War Müßiggang in der Freizeit erstrebenswert oder aber als „verlorene“ Zeit zu werten? Wie stellten sich die Kirchen zu den
2 Vgl. dazu die Angaben bei Wehler, Gesellschaftsgeschichte, 80 f. 3 Vgl. dazu die Beiträge von Pascal Eitler und Detlef Pollack in diesem Band. 4 Darauf weist Thomas Großbölting in seiner Studie ausdrücklich hin, vgl. Grossbçlting, Himmel, 18 ff.; vgl. dazu auch die Hinweise bei Harry Oelke in diesem Band. 5 Die in Wehler, Gesellschaftsgeschichte, 207, geäußerte Beobachtung, dass die „mächtigen Modernisierungstrends“ dazu geführt hätten, dass sich die „konfessionelle Ungleichheit“ damit „so gut wie aufgelöst habe“ wird in ihrer Pauschalität sicher der Sachlage nicht gerecht. 6 Die Beispiele dafür finden sich zusammengefasst bei Greschat, Protestantismus, 80–133 (Kapitel „Ein Jahrzehnt der Umbrüche“).
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Sportvereinen, die mehr und mehr zur Konkurrenz für kirchliche Veranstaltungen wurden? Und wie beurteilten die Kirchen den neuen Massenkonsum? Lenkte er vom Weg des Glaubens ab? Gab es eine Verbindung von einer formulierten Konsumkritik zur ökologischen Bewegung, wie sie sich seit den 1970er Jahren auch in den Kirchen etablieren konnte7 ? Ein weiterer eigenständiger Bereich – der in einem späteren Kapitel ausführlich behandelt wird – ist die Sexualethik, einerseits die kirchlichen Reaktionen auf die sogenannten „Sexwellen“ der 1960er Jahre8, aber auch schon die Reaktionen auf frühere Filme, etwa den besonders in katholischen Kreisen heftig kritisierten Film „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef von 19519. Auch hier zeigt sich wiederum die enge Verzahnung der einzelnen Themenbereiche, denn gerade die Freizeit als „freie Zeit“ – auch zu einem Kinobesuch – stand immer wieder in Verdacht, dass dort „christlicher Tugendhaftigkeit“ zuwider gehandelt werde. Gerade das Potential „falscher“ Phantasie, welches die Freizeit in kirchlichen Kreisen zu entfalten vermochte, signalisiert, dass es in Kirche und Theologie wenig ethische Maßstäbe gab, um die Veränderungen in der Gesellschaft einzuordnen und kirchlich zu begleiten. Der Sozialethiker Helmut Thielicke mag mit seiner viel rezipierten Theologischen Ethik als Beispiel für die inneren Reserven gegenüber manchen Neuerungen dienen. Die Kirche solle danach gerade in der sich verändernden Welt – Thielicke nennt das Beispiel der Massenmedien, also den Freizeitbereich – nicht jeder Mode nacheifern („Darum sollte die Kirche nicht jedes Rezept verfolgen, das gewisse Psychoanalytiker oder Soziologen ihr empfehlen“10) sondern „auf ihre Stunde warten können“. Immer wieder kommt Thielicke dann in Randbemerkungen auf die Freizeit als freie Zeit zurück, in der Regel allerdings im Kontext der sich verändernden Arbeitswelt, die die Problematik einer im christlichen Sinne sinnvollen Freizeitgestaltung mit sich bringe11. Für den Bereich der Freizeit sollen zwei Beispiele die Diskussionslage illustrieren. Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg fragte die Schweizer Diakonisse Marta Muggli „Wie gestalten wir unsere Freizeit?“12 Es ist ein Aufsatz, der zwischen sehr praktischen Ratschlägen sowie grundsätzlichen Fragen wechselt. Dabei erscheint die Freizeit gerade für arbeitende Diakonissen eher als ein Luxusproblem, denn in der Regel hatten die Diakonissen nur wenig Zeit. Aus dieser Tatsache heraus kann man eventuell auch die grundsätzlichen Überlegungen verstehen: „Je weniger Freizeit, desto wichtiDazu sehr nützlich als Überblick Radkau, Ära. Eine Fundgrube hierzu ist Steinbacher, Sex. Dazu besonders ebd. Thielicke, Theologische Ethik, 222, dort auch das folgende Zitat. Zuvor hat Thielicke in seinen Überlegungen seine Vorbehalte gegenüber einem unreflektierten Massenkonsum sehr deutlich gemacht. 11 Ebd., 273 ff. 12 In: Schriftenreihe der Kranken- und Diakonissenanstalten Neumìnster.
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ger ihr sinnvoller Gebrauch! Je mehr Freizeit aber, desto größer unsere Verantwortung für unsern Dienst“13. Dieser Leitgedanke, dass Freizeit keine sinnlose oder beliebige Zeit ist, bestimmt dann auch die vielen praktischen Ratschläge, die gegeben werden. So kann das Handarbeiten sinnvoll sein, wenn es denn nach getaner Arbeit geschieht und auch nützlich ist. Auch beim Ausruhen darf man sich nicht hängen lassen – so wird ausdrücklich davor gewarnt, sein Zimmer nicht aufzuräumen oder sich mit Schuhen auf das Bett zu legen. Protestantische Disziplin ist also gefragt. Wie stark sich aber der Stellenwert der Freizeit auch im Bereich der Diakonissenhäuser verändert hat, zeigt dann eine zweiteilige Serie zum Thema „Freizeit und Erholung“ in der Zeitschrift „Der Weite Raum“ von 197614. Nun ist die Freizeit ein „Teil des Lebens“, der sich immer stärker zu einem eigenständigen, privaten Bereich entwickelt hat. Kirche soll und muss dies laut Hans Georg Pust ernst nehmen und sich darauf einstellen. Indem man sich nun noch stärker und planmäßig dem Bereich der Freizeit zuwendet, entdeckt die Kirche den „Freizeitbereich“ als eine missionarische und diakonische Aufgabe. Der erzieherische Anspruch des Protestantismus bleibt aber erhalten, Pust spricht ausdrücklich von einer „Erziehung zur Freizeit“. Er formuliert klar und ambitioniert: „Ziel einer Erziehung zur Freizeit wäre, beizutragen zu Lebenserfüllung, zum Glück, zur Selbstverwirklichung.“15 Die beiden Beiträge in dieser Sektion nehmen Erkundungen auf dem vielschichtigen Feld von Arbeit, Freizeit und Konsum vor. Traugott Jähnichen untersucht in zwei Richtungen: Einerseits skizziert er die Wandlungen des zunächst noch industriell geprägten Arbeitsbegriffs. Andererseits fokussiert er die Kirche, für die eine sozialethische Wahrnehmung und praktisch-theologische Durchdringung von „Arbeit“ in der Nachkriegsgesellschaft wesentlich war, da hier ein zentrales gesellschaftliches Reformprojekt neu entstand. Während Jähnichen sich an kirchlichen Stellungnahmen orientieren kann, ist der Bereich Konsum unter Berücksichtigung freizeitbezogener Entwicklungen durch Oelke verstärkt auf der Ebene kirchenpublizistischer Einlassungen erfasst und dargestellt. Der Kirchenhistoriker skizziert protestantische Positionen und Stellungnahmen zu einem individuellen und gesellschaftlichen Konsum und kann dabei den signifikanten Wechsel von einer zunächst unkritisch positiven Beurteilung des Konsums zu einer eher kritischen Haltung aufzeigen.
13 Ebd., 23. 14 Pust, Freizeit, 58 f. 82 f. 15 Ebd., 59.
Einführung: Arbeit, Freizeit und Konsum
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Leben und Arbeiten unter den Bedingungen industrieller Massenproduktion in den 1960er Jahren Theologisch-sozialethische Interpretationen und Reformperspektiven Einleitung Während der „langen 1960er Jahre“ bis zu den ersten Anzeichen einer Zeit „nach dem Boom“1 im Jahr 1973 erreichte die gesellschaftliche Bedeutung der industriellen Arbeit einen einzigartigen Höhepunkt. Es herrschte in den entwickelten Industrienationen praktisch Vollbeschäftigung, wobei die Nachfrage nach Arbeitskräften das Angebot eher überstieg, so dass ohne größere Probleme viele Menschen aus der Landwirtschaft oder auch aus dem Bergbau in der Industrie relativ gute Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten fanden. Darüber hinaus wurden in Deutschland wie auch in anderen nordeuropäischen Ländern seit dem Ende der 1950er Jahre in großer Zahl Arbeitskräfte aus Süd- und Südosteuropa sowie der Türkei und den nordafrikanischen Staaten angeworben, um auf den Arbeitskräftebedarf in der Zeit der industriellen Hochkonjunktur zu reagieren. Auf diese Weise ist in den 1960er Jahren kontinuierlich eine große Zahl neuer Beschäftigungsverhältnisse geschaffen worden, in der Regel zeitlich unbefristete, sozialversicherungspflichtige Vollzeit-Arbeitsstellen, zumeist von Männern und jüngeren Frauen vor der Familienphase besetzt. Erst mit der Ölkrise des Jahres 1973, der fast zeitgleichen Resonanz auf die ökologischen Folgekrisen der Industriegesellschaft im Kontext der Wachstumskritik des „Club of Rome“2 sowie auf Grund verschiedener ökonomischer Anzeichen eines krisenhaften, tiefgehenden Wirtschafts- und Strukturwandels kam die Hochphase der sogenannten fordistisch geprägten Industriegesellschaft zu einem Ende. Seit der Mitte der 1970er Jahre wurde erneut das Problem der Massenarbeitslosigkeit zur zentralen gesellschaftspolitischen Herausforderung und auf dem Weg hin zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft sind die Strukturen der Arbeitswelt seither tiefgreifend verändert worden. Die zuvor insbesondere von großen Industrieunternehmen geprägte Arbeitswelt ist stark diversifiziert worden, neben den traditionellen Stammbelegschaften industrieller Produktion, in Deutschland stark mittelständisch geprägt, sind einerseits entstandardisierte, auf einer hohen Qualifikation beruhende Arbeitsverhältnisse entstanden und 1 Vgl. Doering-Manteuffel, Boom. 2 Vgl. Meadows, Grenzen.
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andererseits ist im Bereich geringerer Qualifikation eine schrittweise Prekarisierung der Erwerbsarbeit festzustellen. Theologie und Kirche versuchten sich seit der Mitte der 1950er Jahre auf das Leitbild der Industriearbeitsgesellschaft einzustellen. Beginnend mit der EKD-Synode 1955 in Espelkamp zum Thema „Die Kirche und die Welt der industriellen Arbeit“3 wurde sowohl auf der Ebene theologischer Reflexion, wie auch im Blick auf die Neuschaffung kirchlicher Handlungsfelder die Industriegesellschaft als zentrale Herausforderung begriffen. Die Welt der Industriearbeit nahm die evangelische Kirche als eine „andere Welt“, als „fremdkörperhafte(r)n Teil und unentbehrliche(r)n Unterbau unserer eigenen Welt“4 wahr, die es zunächst sorgfältig zu verstehen galt, um angemessen darauf reagieren zu können. Die technisch bestimmten Abläufe, speziell die Fließbandproduktion sowie die wesentlich davon geprägte Mentalität, haben gemäß dieser Deutung zu einer problematischen „Trennung“5 zwischen der Arbeitswelt und der Welt der Kirche geführt, was bei Einzelnen durch die Verbindung der persönlich-familiären Welt zur Kirche kompensiert wurde, vielfach jedoch die Entfremdung von Kirche und Industriearbeiterschaft vertieft hat. Auch gesellschaftspolitisch wurde die „Industriearbeiterfrage“ als die zentrale „soziale Frage der Gegenwart“6 identifiziert. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass sich sowohl in der theologisch-sozialethischen Literatur dieser Zeit, die nicht zuletzt durch die Gründung sozialethischer Institute und Lehrstühle seit dem Ende der 1950er Jahre einen signifikanten Aufschwung erlebte, wie auch in den sozialpolitischen Stellungnahmen der evangelischen Kirche eine starke Konzentration auf die Situation der Industriearbeiter feststellen lässt. Dies gilt auch für die neu entwickelten Handlungsformen der kirchlichen Industrie- und Sozialarbeit, indem die seit Espelkamp 1955 vermehrt ausgebildeten Industriepfarrer und die evangelischen Arbeiter- bzw. Sozialsekretäre eine neuartige Präsenz der evangelischen Kirche in der industriellen Arbeitswelt entwickelt haben. Eine wichtige Aufgabe dieses neuen Handlungsfeldes war neben der Entwicklung sozialethischer Reformvorschläge die Deutung der Lebensbedingungen der Industriearbeiter, wobei vielfach auf das in den 1970er Jahren boomende Genre der Sozialreportagen aus der Arbeitswelt zurückgegriffen wurde7. Die Konzentration auf die Industriearbeit bedeutet somit eine für die Zeit typische Verengung des Blickfelds, da die Industriearbeit seinerzeit zwar die dominierende, jedoch nicht die einzige Form der Erwerbsarbeit – von anderen Formen der Arbeit ganz zu schweigen – gewesen ist. Indem in dem folgenden 3 4 5 6 7
Vgl. Bismarck, Kirche. Gollwitzer, Geleitwort, 5. Symanowski, Mensch, 53. Rich, Existenz, 29. Vgl. exemplarisch: Gremmels / Segbers, Ort.
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Beitrag die theologischen Deutungen und die sozialethischen Reformimpulse des Arbeitslebens vorrangig im Blick auf die Herausforderungen der Industriearbeit rekonstruiert werden, wird weitgehend der Zuspitzung der Diskussion in jener Zeit Rechnung getragen.
1. Theologische Deutungsversuche der Lebensführung im Horizont der Industriearbeit Ein Indiz für die hohe Bedeutung der industriellen Arbeit in den 1950er und 60er Jahren lässt sich nicht zuletzt auf der semantischen Ebene feststellen, indem ein Siegeszug des Begriffs „Arbeit“, der ältere Begriffe wie „Beruf“ oder „Tagewerk“ endgültig verdrängt hatte, zu konstatieren ist. „Arbeit“ wurde zu einem Schlüsselbegriff, sowohl in der Alltagssprache wie auch in den gesellschaftspolitischen und akademischen Diskursen. Anzeichen einer entsprechenden Neuorientierung lassen sich auch im Blick auf die evangelische Sozialethik finden, in der bei wichtigen Vertretern ebenfalls eine Abkehr von der traditionellen Berufsvorstellung zugunsten des Begriffs „Arbeit“ vollzogen worden ist8. Indem die Industriearbeiterschaft und ihr sozialer Status als zentrale gesellschaftspolitische Herausforderung wahrgenommen wurden, entdeckte man „die Arbeit“ als die zentrale Bezugsgröße der modernen Lebenswelt9. Während der traditionelle Berufsbegriff vorrangig auf die personhafte Identität und den sozialen Ort der Betreffenden bezogen war, so dass sich eine spezifische innere Berufshaltung und auch ein gewisser Berufsstolz ausbilden konnten, war unter den Bedingungen der Industriegesellschaft vorrangig „das nackte, gesellschaftlich-ökonomische Faktum der Arbeit, die sich in neuartigen, technisch rationalen Formen organisiert“10 hatte, als Realität anzuerkennen. Die Industriearbeit nahm man vorrangig als technisch geprägte, ökonomisch höchst effiziente Unterordnung der Arbeitenden unter den Prozess der Massenproduktion wahr. Diese Form der Arbeit auf der Grundlage einer strikten Trennung von individueller Lebens- und Arbeitswelt, sowohl zeitlich wie auch räumlich, wurde in sozialethischer Perspektive als Veräußerlichung der menschlichen Arbeit problematisiert, da die Lohnarbeiter „lediglich ihre Arbeitskraft wirtschaftlich verwerten“11 könnten und vor diesem Hintergrund 8 Vor den 1960er Jahren ist eine theologische Kritik des Berufsbegriffs nur vereinzelt zu finden, etwa in den – seinerzeit jedoch noch nicht publizierten – frühen Ethikvorlesungen Karl Barths aus der Zeit in Münster und Bonn. Vgl. Barth, Ethik I, 293–353. Es dominierte in den 1950er Jahren noch die klassische lutherische Berufsauffassung; vgl. Wingren, Lehre. 9 Vgl. Rich, Existenz, 79–83. 10 Wendland, Sozialethik, 110. 11 Ebd.
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die vorrangige Orientierung am Lohn sowie die Deutung der Arbeit als „bloße Erwerbschance“12 als plausible Anpassungsreaktionen der Beschäftigten interpretiert wurden. Dementsprechend sah man unter diesen Bedingungen „im Geldverdienen […] das reale Arbeitserlebnis des Arbeiters heute“13 realisiert, weshalb Versuche einer Rehabilitation des Berufsbegriffs sowie Formen romantisch-konservativer Sozialkritik angesichts der Arbeitswirklichkeit unter Bedingungen industrieller Massenproduktion als wirklichkeitsfremd angesehen wurden. Stattdessen galt es anzuerkennen, dass viele Arbeitnehmer auf Grund der materiellen Anreize und mit der Aussicht auf eine individuelle Besserstellung – insbesondere durch die Akkordarbeit oder durch individuelle Aufstiegschancen – bei der Entlohnung die Bedingungen der von konkreten Arbeitsinhalten weitgehend abgelösten Fließbandproduktion oder die neu eingeführten Messwarten- sowie frühe Formen von Bildschirmtätigkeiten akzeptierten. Diese Formen der Arbeit wurden einerseits gesellschaftlich immer stärker prägend und andererseits von den Arbeitnehmern in hohem Maße nachgefragt, obwohl oder auch weil sie „ihren Sinn auf Geldverdienst“14 reduzierten. Zwar nahmen die Betroffenen die Defizite und die möglichen Folgeprobleme ihrer Integration in diese Arbeitswelt durchaus wahr, aber sie sahen zumeist in der relativ hohen Entlohnung eine angemessene Kompensation15. Immerhin entwickelten sich seit den späten 1950er Jahren in Deutschland erste Formen eines Massenwohlstandes, sodass die Arbeitnehmer zunehmend an der allgemein guten Wirtschaftsentwicklung partizipieren konnten. Nichtsdestotrotz wurde etwa das Akkordsystem vielfach als problematisch angesehen, da es als besondere Form der Leistungsprämierung den Arbeitsdruck verschärfte, mit rigiden Kontrollmechanismen verbunden war und häufig die Beziehungen der Arbeitenden untereinander auf Grund wachsender Rivalitäten zu zerstören drohte16. Als weiterer gravierender Nachteil wurde allgemein die Dominanz der technischen Abläufe während des Produktionsprozesses genannt, denen gegenüber sich die Arbeitnehmer zumeist als passiv, ausgeliefert und hilflos erlebten. Sie mussten dem Takt und Rhythmus der Maschinen gehorchen bzw. sich anpassen, die mechanisierte Arbeit wurde als „monoton“ erlebt, die zugleich zur „körperlichen Ermüdung“17 führte. Die Arbeiter empfanden sich
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Rich, Existenz, 91. Ebd., 89. Schobel, Kommentar, 30. Vgl. die Berichte über die Fließbandarbeit, die Messwartentätigkeit oder die Fortbildungen in Abendschulen, in: Symanowski, Ort, 15 („Über unseren Köpfen rollen die Wagen unbarmherzig weiter“); 35 („Und du guckst und guckst und guckst“); 109 ff. („Mach deinen Techniker, dann bist du wer“); passim. 16 Vgl. die Diskussionen unter dem Stichwort „System des Mißtrauens“, in: Symanowski /Vilmar, Welt, 41 f. 17 Symanowski, Welt, 44.
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als „Sklaven der Maschine“18, der sie sich völlig unterzuordnen hatten. Gelang es nicht, dem Takt der Maschinen zu entsprechen, gab es häufig Konflikte mit Arbeitskollegen, die ihrerseits durch die Zeitverzögerungen mit ihren Verrichtungen in Bedrängnis gerieten, oder mit den Vorgesetzten, die über die Einhaltung der Taktzeiten wachten. Dabei wurde die seinerzeit in den Betrieben vorherrschende, strikt hierarchische Arbeitsordnung vielfach als willkürlich und demütigend erlebt, beispielsweise das hohe Maß an Kontrollen, die häufig rigide Festlegung von Taktzeiten19 durch die Betriebsleitungen oder auch die nicht immer nachvollziehbaren Entscheidungen bei Beförderungen. In den Berichten der Arbeitnehmer wird deutlich, wie gerade die einseitige technische Ausrichtung und die Dominanz hierarchischer Entscheidungsbefugnisse Ansätze von Solidarität erschwerten oder zum Teil auch nahezu unmöglich werden ließen20. Vor diesem Hintergrund ist das sozialethische Urteil nachvollziehbar, dass die mechanisierte Arbeit „eine ständige, tägliche Beleidigung von Menschen“21 darstelle, die theologisch als „organisierte Lieblosigkeit“22 zu bezeichnen sei. Als weiterer starker Belastungsfaktor kam die Angst vor physischen wie auch psychischen Krankheiten hinzu, die auf Grund der kontinuierlichen und einseitigen Inanspruchnahme durch die Fließbandarbeit drohten. Dabei stellte nach Aussagen der Betroffenen der Schichtrhythmus eine besondere Gefährdung dar, der sich nicht selten auch bei jüngeren Arbeitnehmern recht schnell gesundheitlich negativ bemerkbar machte, etwa im Blick auf Schlafstörungen oder durch das Auftreten von Magenproblemen wegen der unregelmäßigen Mahlzeiten bzw. wegen des Zeitdrucks während der Arbeitspausen. Vor allem aber wurde das Schichtsystem, das bei den sog. kontinuierlichen Schichtbetrieben auch das Wochenende und den Sonntag einbezog23, auf Grund der negativen familiären und sozialen Folgen als problematisch erlebt. Ein Ausruhen nach den Nachtschichten war angesichts der beengten Wohnverhältnisse oft kaum möglich, hinzu kam, dass die Arbeitnehmer häufig für längere Zeit ihre Kinder und, falls der Schichtrhythmus nicht passte, auch ihre Ehefrauen kaum sehen konnten. Diese Nachteile verschärften sich noch einmal unter den Bedingungen der sog. „Konti-Schichten“ bzw. der „gleitenden Arbeitswoche“. Unter solchen Umständen litt das Familienleben in hohem Maße; viele Arbeiter berichteten, dass „die Erziehung 18 Ebd. 19 Auseinandersetzungen um angemessene Taktzeiten gehörten seinerzeit neben der Entlohnung zu wichtigen Streikforderungen, so in den Schwerpunktstreiks der IGM in Nordwürttemberg/ Nordbaden im Jahr 1973. Vgl. Schobel, Kommentar, 24. 20 Vgl. Ebd., 16 f.; Belitz, Kommentar, 38 f.; Symanowski, Ort, 67 ff. („…die sich nicht wehren können“); 93 ff. („Du bist unser Vertrauensmann, unternimm etwas!“); passim. 21 Vilmar, Erwägungen, 57. 22 Ebd., 55. 23 Gegen die sog. „gleitende Arbeitswoche“ haben die Kirchen frühzeitig Kritik angemeldet, wenngleich zumeist ohne Erfolg. Vgl. Becker, Positionen, insbes. 26–28.
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der Kinder […] ihnen weitgehend aus der Hand genommen“24 sei. Die gemeinsame Zeit in den Familien reduzierte sich, wenn es denn diesen Freiraum gab, weitgehend auf das Wochenende, was auf Grund der hohen Erwartungen an dieses Zeitfenster oft ebenfalls zu Konflikten führte. Allgemein wurde häufig beklagt, dass gerade „bei Schichtarbeitern viele Ehen zerbrechen“25 würden, wobei neben den Arbeitsbedingungen sicherlich viele weitere Faktoren zur Erklärung des Anstiegs der Scheidungsraten herangezogen werden müssen. Generell klagten die meisten Industriearbeiter über die hohen Beanspruchungen durch die Arbeitswelt, weit mehr als die Hälfte der befragten Arbeiternehmer äußerten sich zu Beginn der 1960er Jahre als „bewußt (!) unzufrieden“26 mit ihrer Arbeit. Ein wesentlicher Aspekt dieser Kritik lag darin begründet, dass die Folgen der mechanisierten Industriearbeit es ihnen kaum ermöglichten, am Abend oder auch am Wochenende anstrengendere Aktivitäten – auch im Bereich der Kirchengemeinden – zu unternehmen, es sei denn die Suche nach Zerstreuung oder bloßer Erholung. Bei vielen war das „Gefühl […] einer totalen Anpassung [an] und Abstumpfung“27 durch die Industriearbeit prägend; die Lebensführung reduzierte sich „auf den Dreiklang Arbeiten – Essen – Schlafen.“28 Insgesamt dominierte bei der Mehrzahl der Befragten nach eigenen Auskünften ein eher passives Freizeitverhalten, das wesentlich auf die Regeneration für die Arbeitswelt ausgerichtet war. Die Freizeit empfanden viele als „nur ein Atemschöpfen …, um wieder für die nächste Schicht fähig zu sein.“29 Seit den 1960er Jahren entwickelten sich verschiedene Projekte, in denen Vikare und Pfarrer zeitweise in einem Betrieb arbeiteten, um die Lebensbedingungen der Arbeiter und damit eines großen Teils ihrer Gemeindeglieder besser verstehen zu lernen. Neben einigen Initiativen im Ruhrgebiet30 kommt diesbezüglich den von der Gossner-Mission unter Leitung von Horst Krockert und Horst Symanowski konzipierten Seminaren für den kirchlichen Dienst in der Industriegesellschaft wegweisende Bedeutung zu. In Halbjahreskursen wurden durch praktische Arbeit in verschiedenen Industriebetrieben, vorwiegend im Wechselschichtrhythmus, sowie durch Seminaranteile theoretische Grundkenntnisse und exemplarische Erfahrungen in der industriellen
24 Symanowski, Welt, 21. 25 Ebd., 52. Vgl. auch 51 f. und Symanowski, Ort, 14 („Über unseren Köpfen rollen die Wagen unbarmherzig weiter“); Gremmels, Kommentar, 117. 26 Symanowski, Welt, 36 („Allgemeine Erwägungen“). 27 Schobel, Kommentar, 21. 28 Symanowski, Welt, 23. 29 Ebd., 45. 30 Für den Bereich der Evangelischen Kirche von Westfalen finden sich mehrere Beispiele bei Schibilsky, Alltagswelt, 1983.
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Arbeitswelt vermittelt31. Die jungen Pfarrer reflektierten in Gruppen ihre unmittelbaren Arbeitserfahrungen und versuchten daraus Konsequenzen für ihre Gemeindearbeit wie auch für die kirchliche Haltung zu sozialethischen Fragen zu entwickeln. Während der Zeit ihrer Arbeit in der Industrie stellten sie für sich selbst fest, dass ihnen der „gewohnte Sonntagsgottesdienst […] fern“ rückte und sie sich im Gottesdienst vielfach „fremd“ fühlten „wie nie zuvor.“32 Horst Symanowski entwickelte aus diesen Erfahrungen weitreichende Kirchenreformkonzepte, die wesentlich darauf zielten, die Objektstellung der Arbeiter durch die Schaffung „nichthierarchischer Gemeindeformen“33 zu überwinden. Ausgehend von einer Abkehr von der traditionellen, autoritär geprägten Fixierung auf den Pfarrer konzipierte Symanowski neue Formen des „Dienstes der Christen gegenüber Menschen in der säkularen Welt“34, wobei er die Säkularität als legitime Konsequenz des Christentums interpretierte und die Christen zum Engagement in den Organisationen der säkularen Welt aufrief. Auch die hauptamtlichen Theologen sollten zumindest zeitweilig „an säkularen Entscheidungen in Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft“35 teilnehmen und durch eine neue Zuordnung von Gemeindepfarramt und übergemeindlichen Diensten erwartete er eine breitere Verankerung der Kirche im gesellschaftlichen Leben. Neben solchen Kirchenreformkonzepten entwickelten sowohl die Mitarbeiter der Gossner-Mission wie insbesondere die sich zunehmend spezialisierenden Sozialethiker innerhalb der akademischen Theologie weitreichend gesellschaftspolitische Reformkonzepte, die wesentlich auf eine Neuordnung der industriellen Arbeitswelt zielten. Arthur Rich, Heinz-Dietrich Wendland und Heinz Eduard Tödt als die exponiertesten evangelischen Sozialethiker der 1960er Jahre versuchten, vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen und Erfahrungen ein neues, den Anliegen der reformatorischen Theologie entsprechendes Arbeitsverständnis für die Welt der industriellen Arbeit zu gewinnen. Grundsätzlich grenzten sie sich sowohl gegenüber einem die Vergangenheit romantisierenden, vorindustriell geprägten Arbeitsverständnis wie auch gegenüber einer euphorischen Verklärung der modernen Arbeitswelt ab. Dabei kritisierten sie insbesondere die unter dem Einfluss marxistischen Denkens häufig vorgenommene Verherrlichung der „Arbeit“, die geradezu „zum höchsten Wert des Lebens, zur wertbildenden Macht schlechthin“36 verklärt wurde. Ein solches Verständnis sollte weder eine Arbeitsverherrlichung noch eine Entwertung der Arbeit beinhalten37, sondern 31 Vgl. Anhang 4: Seminar für kirchlichen Dienst in der Industriegesellschaft, in: Symanowski, Welt, 151–153. 32 Symanowski, Welt, 32 („Allgemeine Erwägungen“). 33 Metzger/Symanowski, Allgemeine Erwägungen, 71. 34 Vgl. den gleichnamigen Anhang 3, in: Symanowski, Welt, 139–150. 35 Ebd., 148. 36 So die kritische Diagnose von Wendland, Einführung, 111. 37 Vgl. Ebd., 112.
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eine Perspektive aufzeigen, welche die Industriearbeit sowohl im Blick auf die Ruhe als anthropologisches Grunddatum wie auch im Blick auf andere Tätigkeitsformen heilsam relativiert und auf diese Weise das Freisein des Menschen auch in und gegenüber der Arbeit zu thematisieren vermag. In diesem Sinn hat Tödt „Arbeit“ als die „tätige Bejahung des von Gott geschenkten menschlichen und kreatürlichen Daseins in der Welt“38 gedeutet, die ungeachtet der Sünde des Menschen, die den Fluch auf die Erde gebracht hat, unter dem Segen Gottes steht. Sie zielt wesentlich auf die Existenzsicherung des Menschen, ohne jedoch darin aufzugehen, da sie wesentlich zur sozialen Anerkennung wie auch zu einem positiven Selbstbild der Betroffenen beiträgt. Der „Arbeit“ kommt somit fundamentale Bedeutung für die Humanität und Mitmenschlichkeit des Menschen zu, ohne deren alleinige Quelle zu sein39. Insofern ist „Arbeit“ ein wesentlicher Teil der „ganzheitlichen Lebensbetätigung des Menschen […], begrenzt durch andere Tätigkeit bis hin zum Spiel und relativiert durch die Ruhe und das Feiern als Gegengewicht, das zum Lösen der Arbeitszwänge unentbehrlich ist.“40 Auch wenn die evangelischen Sozialethiker die Zwänge in der Arbeitswelt, zumal die Zwänge in der weitgehend mechanisierten Industriearbeit, betont und kritisch gegen eine Vorstellung von Arbeit als Form der „Selbstverwirklichung“41 ins Feld geführt haben, hat dies keinesfalls zu einer skeptischen oder gar resignativen Grundhaltung geführt. Vielmehr sind in Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Reformprojekten jener Zeit von der evangelischen Sozialethik – vielfach aufgenommen auch in kirchenoffiziellen Stellungnahmen – unterschiedliche Modelle einer gesellschaftlichen Aufwertung des Faktors „Arbeit“ entwickelt worden. Leitend war dabei die Perspektive, die „Berufung der Jünger Jesu zu Dienern der Nächstenliebe um[zu] setzen in die Arbeit an der Humanisierung der industriellen Welt.“42 Diese Perspektive der Humanisierung ist in zahlreichen Stellungnahmen der EKD sowie in sozialethischen Grundlagentexten ausgeführt worden, wobei in den 1960er Jahren insbesondere eine angemessene Beteiligung der Arbeiter an dem Ertrag der Arbeit, ein Ausbau der Mitbestimmungsrechte und arbeitsorganisatorische Maßnahmen zur Humanisierung der Arbeitswelt thematisiert worden sind.
38 Tçdt, Angebot, 124. Der hier zitierte Beitrag Tödts kann als exemplarische Zusammenfassung eines theologischen Arbeitsverständnisses der Zeit der 1960er und frühen 70er Jahre verstanden werden. 39 Vgl. Rich, Existenz, 173. 40 Tçdt, Angebot, 139. 41 Vgl. Ebd., 125. 42 Gollwitzer, Geleitwort, 7.
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2. Sozialethische Reformperspektiven zur Humanisierung der Welt der industriellen Arbeit In deutlicher Entsprechung zur wachsenden ökonomischen Relevanz des seinerzeit knappen Faktors „Arbeit“ kommt es in den 1960er Jahren zu politischen Auseinandersetzungen, die auf eine Aufwertung der gesellschaftlichen Stellung der Arbeiterschaft zielen. Diese Neuorientierung lässt sich insbesondere im Blick auf die Programmatik und Politik der Gewerkschaften zeigen. Nach dem Scheitern ihrer weitreichenden gesellschafts- und vor allem wirtschaftspolitischen Neuorientierungspläne in der Nachkriegszeit haben sie sich seit den frühen 1950er Jahren vorrangig auf die Lohn-, die Arbeitszeit- und die betriebliche Sozialpolitik konzentriert und hier eine Reihe von beachtlichen Erfolgen erzielt43. Seit den frühen 1960er Jahren sind demgegenüber von den Gewerkschaften erneut allgemeinpolitische Reformperspektiven in emanzipatorischer Absicht zugunsten der Arbeitnehmerschaft aufgegriffen worden mit den Zielen, einer über den Lohn hinausgehenden angemessenen Beteiligung der Arbeitnehmer an den Erträgen der Wirtschaftsleistung, sowie einer Demokratisierung der Arbeitswelt44. Die Durchsetzung der Industriearbeitsgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ist untrennbar mit dem Versprechen verknüpft gewesen, die Arbeiterschaft besser als zuvor in die Gesellschaft zu integrieren und ihr einen wachsenden Anteil an den Erträgen der ökonomischen Produktion zukommen zu lassen, wie es Ludwig Erhard mit der klassischen Formel „Wohlstand für alle“45 zum Ausdruck gebracht hat. Allerdings ist seit den späten 1950er Jahren mit der politischen und ökonomischen Konsolidierung der jungen Bundesrepublik die erneut in hohem Maße ungleiche Eigentumsverteilung nicht allein von den Gewerkschaften als zentrales gesellschaftspolitisches Problem empfunden worden. Auch die evangelische Kirche hat diese Problemstellung etwa im Rahmen vieler Akademieveranstaltungen aufgenommen. Mit der Herausgabe der ersten Denkschrift im Jahr 1962 zum Thema „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung“ hat der Rat der EKD schließlich Stellung zu dieser Frage bezogen und die nach dem Krieg erfolgte „einseitige Vermögensbildung“46 in der Bundesrepublik kritisch beurteilt. Diese Entwicklung sollte korrigiert werden, indem Arbeitnehmer „Haushalter über einen Anteil am Produktivvermögen des Volkes“47 werden, um so wirt43 Vgl. Limmer, Gewerkschaftsbewegung, 102–107. 44 Diese Forderungen sind sehr früh von Fritz Vilmar entwickelt worden, der nach seiner Zeit bei der Gossner-Mission auch die Politik der Gewerkschaften mit beeinflussen konnte. Vgl. Vilmar, Forderungen, 128–138. 45 Erhard, Wohlstand. 46 Eigentumsbildung, These 14. Zur Darstellung der historischen Entwicklung vgl. These 13a–c. 47 Ebd., These 26.
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schaftliche Mitverantwortung ausüben zu können. In diesem Sinn hat die Denkschrift die Schaffung eines Investivlohns gefordert und in den folgenden Jahren gemeinsam mit der katholischen Kirche und einzelnen Gewerkschaftsvertretern, wie Georg Leber, Initiativen entwickelt, um neue Wege der Vermögensbildung breiter Schichten der Gesellschaft aufzuzeigen48. Innerprotestantische Kritiker der Denkschrift haben demgegenüber darauf hingewiesen, dass die gesellschaftliche Integration der Arbeitnehmer und deren Mitverantwortung für die ökonomische Entwicklung nicht vorrangig über eine breitere Eigentumsstreuung zu erreichen ist, sondern dass der Faktor „Arbeit“ selbst stärker in die ökonomischen Entscheidungen einzubeziehen sei. In diesem Sinn sind aus der Arbeit der Gossner-Mission von Horst Symanowski und Fritz Vilmar im Jahr 1963 umfassende Vorschläge zur Demokratisierung der Wirtschaft und zur Verbesserung der Mitbestimmung im Arbeitsprozess vorgelegt worden49. Der Sozialethiker Günter Brakelmann hat diese Impulse aufgegriffen und verstärkt, indem er in grundsätzlicher Weise den Schritt von der Diskussion der Eigentumsentwicklung hin zur Ausweitung der Mitbestimmung gefordert hat. Ausgehend von einer Kritik an dem liberalen Eigentumsverständnis, das auch der EKD-Denkschrift zugrunde gelegen hat, bezeichnete er die Mitbestimmung als „die Grundforderung eines christlich-sozialen Gewissens“50, da dies dem christlichen Verständnis eines partnerschaftlichen und gleichwertigen Verhältnisses der Menschen untereinander entspreche. Diese sozialethischen Impulse gewinnen an Prägnanz und Konkretion vor dem Hintergrund der zeitgleichen Initiativen des DGB zur Ausweitung der Mitbestimmungsgesetzgebung. Nachdem 1962 vom DGB ein Gesetzesentwurf zur Ausweitung der Montan-Mitbestimmung auf alle Kapitalgesellschaften und Großkonzerne vorgelegt worden ist, hat das 1963 verabschiedete neue Grundsatzprogramm die Mitbestimmung zur gewerkschaftlichen Zentralforderung erklärt, was sich 1965 in einem neuen Aktionsprogramm niedergeschlagen hat, das die Forderung der Mitbestimmung auch in der gewerkschaftlichen Tagesarbeit verankert hat51. Als erster politischer Erfolg dieser Aktionen ist die Bildung einer unabhängigen Sachverständigenkommission im Jahr 1967 zu bewerten, mit der die große Koalition auf diese Forderungen reagiert hat und deren später unter dem Namen des Kommissionsvorsitzenden Biedenkopf veröffentlichter Bericht wesentliche Anstöße zur späteren gesetzlichen Neuordnung gegeben hat. Auch die EKD hat diese Diskussionen zum Anlass genommen, sich erneut mit einer Stellungnahme zu grundlegenden Fragen der Arbeitswelt zu äußern. 48 In einem gemeinsam mit der römisch-katholischen Kirche verfassten Memorandum „Empfehlungen zur Eigentumspolitik“ (1964) ist diese Perspektive konkretisiert worden und hat die Gesetzgebung zum zweiten Vermögensbildungsgesetz nachhaltig beeinflusst. 49 Vgl. Symanowski, Welt, 121–138. 50 Brakelmann, Anmerkungen, 160. 51 Vgl. Limmer, Gewerkschaftsbewegung, 118 f.
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Der in diesem Sinn 1968 veröffentlichten Studie zu sozialethischen Aspekten der Mitbestimmung ging es vorrangig darum, die scharfen gesellschaftlichen Konflikte um dieses Thema durch das Aufzeigen einer Kompromisslinie zu entschärfen52. Auf der Grundlage der Betonung der Würde des arbeitenden Menschen entspricht nach Auffassung der Studie ein „partnerschaftliches Verhältnis zwischen sozialen Gruppen“53 der Würde des Menschen am besten, als Gottes Mitarbeiter in Freiheit und Mitverantwortung die Welt zu gestalten. Mitbestimmung als konkrete Ausformung einer in Einzelfällen auch von Konflikten geprägten Partnerschaft leitet sich aus den ineinander gefügten Rechten von Kapital und Arbeit ab, die beide für Unternehmen konstitutiv sind. Eigentum und Arbeit sind in dieser Perspektive aufeinander angewiesen und „als gleichwertige Faktoren begriffen“.54 Die daraus resultierenden Mitbestimmungsrechte bedeuten daher „keine Minderung der den Kapitaleignern zustehenden Rechte.“55 Die in der Studie sozialethisch aufgezeigte Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit sollte allerdings nach Auffassung Günter Brakelmanns nur einen Zwischenschritt der sozialethischen Reflexion markieren, da er in theologischer Perspektive eine „unvergleichlich höhere anthropologische und soziale Bedeutung der Arbeit im Verhältnis zum Eigentum“56 gegeben sah. Dementsprechend entwickelte er die Perspektive einer Wirtschaftsordnung, „in der die Funktion des Kapitals dem menschlichen Produktivfaktor Arbeit untergeordnet“57 werden sollte. Neben den grundsätzlichen Überlegungen zur Gleichwertigkeit und Partnerschaft von Kapital und Arbeit hat die EKD-Studie in ihrem Mehrheitsvotum konkrete Vorschläge zur rechtlichen Ausgestaltung der Mitbestimmung vorgelegt, die weitgehend in der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 und im Mitbestimmungsgesetz von 1976 realisiert worden sind. Darüber hinaus sind weitere Maßnahmen zur Verankerung der Mitbestimmung im Sinn des Partnerschaftsgedankens entwickelt worden, wobei man in besonderer Weise auf Möglichkeiten der direkten Beteiligung der Arbeitnehmer im Rahmen des Arbeitsprozesses hingewiesen hat, um deren Möglichkeiten der Mitbestimmung an der Regelung der sie unmittelbar betreffenden Fragen zu stärken58. Diese Forderung gewinnt vor dem Hintergrund der Erfahrungsberichte aus der industriellen Arbeitswelt unmittelbar ihre 52 Dies gelang allerdings nur bedingt, da sich auch die Kammer nicht zu einer eindeutigen Option entschließen konnte und neben einem Mehrheitsvotum zwei abweichende Minderheitenvoten – jeweils stark von gewerkschaftlichen bzw. arbeitnehmernahen Positionen bestimmt – veröffentlicht worden sind. Daher ist diese Stellungnahme nicht als „Denkschrift“, sondern lediglich als „Studie“ publiziert worden. 53 Sozialethische Erwgungen, These 5. 54 Ebd., These 14. 55 Ebd. 56 Brakelmann, Priorität, 220. 57 Ebd. 58 Vgl. Sozialethische Erwgungen, These 25.
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Relevanz, da nur so die Objektstellung der Arbeiter unter die technischen und arbeitsorganisatorischen Abläufe gelockert oder im Idealfall aufgehoben werden könnte. Arthur Rich hat diesen Gedanken in seinen Arbeiten zur Mitbestimmungsthematik aufgenommen und die notwendige Ergänzung der „repräsentativ-kollektive(n) Mitbestimmung […] durch die individuelle Mitbestimmung am Arbeitsplatz“59 gefordert. Nur „so könnten die Mitbestimmungsrechte für den einzelnen Arbeitnehmer verwesentlicht und zu einer unmittelbaren, seine Person aufwertenden Erfahrung werden. Dabei liegt der Akzent nicht so sehr auf der Mitwirkung des einzelnen Individuums als auf derjenigen der personalen Gruppe.“60 Diese Vorschläge zielten auf eine Humanisierung der Arbeitsprozesse, wie es als Reformprogramm seit 1969 von den sozialliberalen Bundesregierungen aufgenommen und immerhin zum Teil umgesetzt worden ist. Den entsprechenden Vorschlägen liegt eine grundsätzliche Kritik der tayloristischen Arbeitsorganisation zugrunde, welche die Arbeitsleistung völlig den technisch dominierten Arbeitsabläufen untergeordnet und dabei alle sozialen, kommunikativen und dispositiven Elemente ausgeschieden hat61. Eine solche Form der Arbeit – allein auf das Motiv des Lohnanreizes und der Einpassung in vorgegebene Organisationsstrukturen ausgerichtet, sodass durch den technisch vorgegebenen Arbeitstakt die Arbeitenden rigide diszipliniert und zu bloßen Exekutoren maschineller Prozesse degradiert wurden – ist sozialethisch als „Verdinglichung“62 der Arbeitenden scharf kritisiert worden. Die damit bezeichnete Problematik, die selbstverständlich älter ist als das Programm der „Humanisierung der Arbeit“, ist sozialethisch bereits in den 1920er Jahren in den Diskussionen um die Rationalisierung der industriellen Arbeit geführt worden. In ähnlicher Weise hatte während des Essener Kirchentages von 1950 die Arbeitsgruppe „Arbeit und Wirtschaft“ die Zielsetzung einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen diskutiert und angesichts der Gefahren der Vermassung und Degradierung des Einzelnen im Betrieb zur „bloße(n) Nummer“63 forderte der Rat der EKD in einer Erklärung die Überwindung des „bloßen Lohnarbeitsverhältnisses“ und das Ernstnehmen der „Arbeiter als Mensch und Mitarbeiter.“64 Während von kirchlicher und theologischer Seite zumeist recht pauschal die Durchsetzung der technischen Arbeitsabläufe der mechanisierten Industriearbeit kritisiert worden ist, hat Heinz-Dietrich Wendland stärker die Ambivalenzen dieser Entwicklung herausgestellt. Nach seiner Auffassung 59 60 61 62
Rich, Mitbestimmung, 129. Ebd. Vgl. Kramer, Arbeit, 88 f. In der theologischen Sozialethik ist diese Formulierung vor allem von Rich, Existenz, 62 verwendet worden. Vielfach ist diesbezüglich – allerdings zumeist wenig präzisiert – der marxistische Begriff der „Entfremdung“ aufgegriffen worden, vgl. Kramer, Arbeit, 89, passim. 63 Entschliessung, 53. 64 „Frage“, 60.
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können „die rationalen Formen der modernen Gesellschaft“ nicht ohne weiteres „in Gemeinschaft“ oder andere personale Beziehungen wie die einer Arbeitsgruppe transformiert werden, nicht zuletzt weil in der sich durchsetzenden Rationalisierung der Arbeitsabläufe ein enormer Fortschritt der Produktivität angelegt war. Wendland betonte auch die Vorteile der Massenproduktion, neben der höheren Effizienz auch eine gewisse Entlastung von körperlich schwerer Arbeit. Allerdings galt es ebenso, die Rationalisierungsprozesse nach Möglichkeit menschengerechter zu gestalten: „Aber sie [die Rationalisierungsprozesse, T. J.] bleiben leer, wenn nicht Kräfte der Mitmenschlichkeit in sie einströmen, wenn nicht personale Verantwortung sie belebt und steuert und die kritische Frage nach der sozialen Gerechtigkeit sie kontrolliert.“65 Diese Sichtweise, nach der die rationalen Organisationen im Wirtschafts- und Berufsleben durch die Ermöglichung persönlicher Verantwortungsübernahme im Geist der Humanität geprägt und verändert werden müssen, hat in Verbindung mit sozialpsychologischen Einsichten wesentlich zu der Entwicklung neuer Formen der Arbeitsorganisation geführt. Als konkrete Konzepte einer solchen Humanisierung der Arbeit, welche die personalen und sozialen Bedürfnisse der Arbeitenden bei einer Reorganisation der Produktionsabläufe stärker zur Geltung bringen sollte, sind Aufgabenwechsel, -erweiterung und -bereicherung sowie das Modell der teilautonomen Arbeitsgruppe zu nennen66. Die Erprobung dieser Modelle insbesondere in den frühen 1970er Jahren ist jedoch spätestens seit 1975 durch die Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit überlagert worden, so dass viele dieser Reformversuche letztlich auf halbem Wege stecken geblieben sind.
3. Perspektiven einer grundsätzlichen Kritik der Durchdringung der Lebenswelt durch „Industriearbeit“ und „Massenkonsum“ Eine weitere Perspektive der Auseinandersetzung mit der modernen Industriegesellschaft hat Hannah Arendts berühmte Studie „Vita activa“67 eröffnet, die seit den späten 1960er Jahren zu einem wichtigen Impulsgeber gerade der evangelischen Sozialethik avancierte. In kritischer Abgrenzung zur modernen Industriearbeitsgesellschaft, die auf die Fetische der „Arbeit“ und des „Konsums“ fixiert ist, hat Arendt die Verschiebungen innerhalb der Sphäre der vita activa in der Neuzeit analysiert. Ausgehend von der an der antiken griechischen Philosophie orientierten Unterscheidung von „Handeln“, „Herstellen“ und „Arbeiten“ rekonstruierte sie die unterschiedliche Entwicklung dieser Grundtätigkeiten, wobei sie in der Moderne vor allem einen Niedergang der 65 Wendland, Einführung, 31 f. 66 Vgl. Brakelmann, Art. Arbeit. 67 Vgl. Arendt, Vita.
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Kultur politischer Öffentlichkeit, die sie mit dem Begriff des „Handelns“ umschreibt, diagnostizierte. Seit der Industrialisierung lässt sich nach Arendt eine immer weitergehende Reduktion der menschlichen Tätigkeitsformen hin zur Erwerbsarbeit im Sinne der in den Produktionsprozess integrierten Lohnarbeit feststellen: „Die Neuzeit hat im 17. Jahrhundert begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn dieses Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.“68 Die Industriegesellschaft zwingt nach Arendt, welche die bereits weiter fortgeschrittene Industriegesellschaft der USA in den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts vor Augen hatte, die Menschen zur Erwerbsarbeit, da der Lebensstil der modernen Welt durch die technischen und ökonomischen Bedingungen des Produktionsgeschehens weithin bestimmt wird. Deutlich wird dies insbesondere durch die Betrachtung der anderen Seite des Produktionsprozesses, durch die Analyse des Massenkonsums. Als Produkte der „Arbeit“ bezeichnete Arendt Konsumgüter, die „verbraucht“ werden, während Produkte des „Herstellens“ oder Werkens „gebraucht“ werden. Allerdings ist nach Arendt der Unterschied zwischen „Gebrauch“ und „Verbrauch“ im Zuge der Industrialisierung immer mehr vergleichgültigt worden, da die Haltbarkeit von Gütern – speziell unter den Bedingungen der Massenproduktion – letztlich unerwünscht und eher zur seltenen Ausnahme geworden ist. Alle Massenprodukte – selbst Häuser, wie es in den USA seinerzeit üblich war und z. T. noch ist – vor allem aber Mobiliar, die Haushaltsgeräte oder Autos, sollten so schnell wie möglich verzehrt bzw. verbraucht werden, ähnlich wie es im Stoffwechsel der Natur der Fall ist. Die industrielle Produktion zielt darauf, „schneller und intensiver die Dinge der Welt (zu) verzehren und damit die der Welt eigene Beständigkeit“69 zu zerstören. Daher stellt nach Arendt die „Arbeitsgesellschaft“ die eine und die „Konsumgesellschaft“ die andere Seite der modernen Gesellschaft dar, in der die Verbindung von Arbeit und Konsum faktisch als Glücksversprechen fungiert und die Lebensführung der Masse der Bevölkerung prägt. In letzter Konsequenz entwickelt sich nach Arendt auf diese Weise eine Gesellschaft von JobHoldern, die im Produktionsprozess im Prinzip wie Automaten funktionieren und die produzierten Güter möglichst schnell verbrauchen. Dies führt das neuzeitliche Ideal der Aktivierung des Menschen letztlich ad absurdum, so dass es denkbar ist, dass „die Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.“70 Das Ideal der Arbeits- und Konsumgesellschaft ist insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf immer weitere Lebensbereiche übertragen worden, sodass die 68 Ebd., 11. 69 Ebd., 119. 70 Ebd., 314 f.
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dominanten Kategorien der „Produktivität“ und des „Verbrauchs“ zunehmend in die Sektoren des Handwerks, der Landwirtschaft, aber auch der Wissenschaft eingedrungen sind. Die so entstehende Massengesellschaft tendiert zur Gleichförmigkeit und wirkt letztlich entpolitisierend, da für ein öffentliches „Handeln“ kaum mehr Raum bleibt. Stattdessen werden der Logik von „Arbeit“ und „Konsum“ alle Lebensbereiche, nicht zuletzt der Bereich der Kulturgüter, unterworfen, die nach Arendt ebenfalls mehr und mehr „konsumiert“ und letztlich „verzehrt“ werden. Diese Diagnose eines dominanten und prägenden Einflusses der Lebensführung durch die Industriearbeit und den Massenkonsum bedeutet, dass letztlich nur noch dieses Handlungsmuster gesellschaftlich legitimiert und von den Individuen als erstrebenswert bezeichnet wird. Industriearbeit ermöglicht den Konsum von Gütern, verleiht soziale Anerkennung und wird immer enger mit dem Lebenssinn verknüpft. Ein Leben ohne oder jenseits der Erwerbsarbeit und des Konsums wird dementsprechend von den meisten Menschen als verweigerte Teilhabe und Ausgrenzung erlebt. Die sich seit der Mitte der 1970er Jahre verstetigende Massenarbeitslosigkeit ist insofern als radikale Infragestellung einer „Arbeitsgesellschaft“, der nunmehr „die Arbeit aus(zu)gehen“71 drohte, verstanden worden. „Arbeit“ als die wesentliche Tätigkeitsform moderner Gesellschaften ist seither nicht mehr unhinterfragt der integrierende und stabilisierende Faktor der Gesellschaft wie in den „langen 1960er Jahren“, sondern wird tendenziell zu einem Exklusionsmechanismus. Vor diesem Hintergrund hat seit der Endphase der 1970er Jahre das Problem der Arbeitslosigkeit wesentlich die sozialethischen Stellungnahmen der EKD bestimmt und auch von theologisch-sozialethischer Seite ist diese Thematik im Horizont der Frage nach einem „Recht auf Arbeit“ intensiv diskutiert worden72. Einen anderen, in den Diagnosen von Hannah Arendt ebenfalls angelegten Kontrapunkt zum dominanten Trend der Herausbildung der Arbeitsund Konsumgesellschaft setzten seit dem Ende der 1960er Jahre die Diskussionen um die „Lebensqualität“, die insbesondere die Konsumorientierung moderner Industriegesellschaften problematisiert haben. Ausgangspunkt der Fragen nach einem neuen Konsumverständnis und -verhalten wurde seit dem Ende der 1960er Jahre die Erkenntnis, dass der wachsende Wohlstand in Industrienationen auf offenkundigen Ungerechtigkeiten der Weltwirtschaftsordnung73 und auf einer Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen beruht. In kritischer Abgrenzung gegenüber der auf dem quantitativen 71 Ebd., 32. 72 Den Auftakt markiert eine Erklärung der EKD-Synode von 1978 in Saarbrücken; grundlegend sodann die Studie der EKD „Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen“, Gütersloh 1982. Zur theologisch-sozialethischen Diskussion vgl. Moltmann, Recht; darin insbesondere die Thesenreihe von Günter Brakelmann, Recht auf Arbeit. 73 Diese Thematik hat bereits die vierte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1968 in Uppsala diskutiert. Vgl. Sektion VI, insbesondere 97 f.
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Wachstum basierenden Wirtschaftspolitik aller Industrienationen und einem entsprechend rein quantitativ orientierten Verständnis des Lebensstandards sind von sozialen Gruppen im Umfeld der entstehenden neuen sozialen Bewegungen und nicht zuletzt der Kirchen der Begriff der „Lebensqualität“74 und die Suche nach einem „neuen Lebensstil“75 propagiert worden. „Lebensqualität“ als neues gesellschaftspolitisches Leitbild versuchte eine veränderte Einstellung zu den natürlichen Lebensgrundlagen zu vermitteln, indem insbesondere die „Dominanz der Bewertung des Materiellen“76 in den gesellschaftlichen Wertvorstellungen kritisch hinterfragt worden ist. In diesem Sinn sollte der von Arendt kritisch beschriebene Kreislauf von „Arbeit“ und „Verbrauch“ durch die Infragestellung des Konsums unterbrochen werden. Die von diesen Gruppen angestrebten Formen einer Veränderung der Konsumgewohnheiten sind unterschiedlich und z. T. widersprüchlich. Während eine Festlegung von Konsumobergrenzen77 nur von einer Minderheit der Vertreter der Idee der „Lebensqualität“ gefordert wurde, hat sich seit den 1970er Jahren europaweit eine Vielzahl von sogenannten Lebensstil-Gruppen entwickelt, die sich persönlich zu einem einfacheren Lebensstil verpflichtet haben, um einerseits Entwicklungsprojekte zu unterstützen und andererseits die Umwelt zu schonen78. Die Grundhaltung der „Lebensstil-Gruppen“ ist in der Regel von einer prinzipiell konsumkritischen Haltung geprägt gewesen, die den steigenden Konsum insgesamt als gesellschaftliche Fehlentwicklung angeprangert hat. Demgegenüber haben andere Vertreter dieses Ansatzes einen eher partiellen Konsumverzicht als Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen verstanden. Diese Zwänge wären wesentlich durch die Werbung vermittelt, welche entsprechend eingeschränkt oder zumindest im Blick auf bestimmte Güter verboten werden sollte79. Wenngleich die Propagierung eines neuen Lebensstils in Verbindung mit einer konsumkritischen Haltung in den 1970er Jahren zunächst auf kleinere Gruppen in Kirche und Gesellschaft beschränkt geblieben ist, hat diese Bewegung dennoch dazu beigetragen, die paradigmatische Abkehr von einem rein quantitativ verstandenen Wirtschaftswachstum als Indikator des Lebensstandards in größeren Kreisen der Gesellschaft zu verankern. Darüber hinaus hat sich die konsumkritische Bewegung seither weiter entwickelt, indem nicht mehr vorrangig ein „Konsumverzicht“ oder eine starke Reduktion des Konsums gefordert werden, sondern Bewegungen des „fairen Handels“ bzw. eines umweltbewussten Konsums entwickelt worden sind. Vgl. Engelhardt u. a., Lebensqualität. Vgl. für den theologischen Kontext exemplarisch: Moltmann, Lebensstil. Engelhardt u. a., Lebensqualität, 65. Konsumobergrenzen wurden in Europa erstmals formuliert in einem entwicklungspolitischen Vorschlag aus Schweden: Wie viel genìgt? 78 Vgl. die Dokumentation der entsprechenden Gruppen und Selbstverpflichtungen in: Wenke / Zillessen, Lebensstil. 79 Vgl. exemplarisch Stìckelberger, Konsumverzicht.
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Ausblick Die Lebensführung eines großen Teils der Bevölkerung ist in den „langen“ 1960er Jahren wesentlich von der Industriearbeit geprägt, welche die Erwerbsarbeit, den darauf basierenden Konsum und vielfach auch die Freizeit dominiert hat. Die Unterordnung der Industriearbeiter unter die Logik des mechanisierten industriellen Produktionsprozesses hat neue Muster der Lebensführung hervorgebracht, wobei nicht zuletzt die kompensatorische Bedeutung der Freizeit theologisch bedeutsam ist, weil die Kirchen mit ihren Angeboten den Menschen in der Regel in deren Freizeit begegnet sind und die Beanspruchungen und Prägungen durch die Industriearbeit berücksichtigt werden mussten80. Gleichzeitig erfuhr Industriearbeit in jener Zeit in den Kirchen wie in der Gesellschaft insgesamt eine hohe Aufmerksamkeit und Wertschätzung, in sozialethischer Perspektive wurde sie als zentrales Vergesellschaftungsprinzip und zugleich als konkreter Ausdruck eines Grunddatums menschlicher Existenz positiv gewürdigt81. Aus dieser Würdigung folgerte man eine Vielzahl von gesellschaftlichen Reformprojekten, um die negativen Seiten der Industriearbeit schrittweise zu überwinden. Grundlegende gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen, wesentlich durch die Gewerkschaften initiiert, drehten sich um eine Aufwertung und Besserstellung des Faktors „Arbeit“, insbesondere die Debatten über die Mitbestimmung mit dem Ziel einer Demokratisierung der betrieblichen und unternehmerischen Entscheidungsstrukturen sowie die Konzepte und exemplarischen Modelle einer Humanisierung der Produktionsabläufe. Kirchliche Stellungnahmen und sozialethische Positionierungen haben diese Themen aufgenommen, intensiv bearbeitet und z. T. eigenständig weiter entwickelt. Demgegenüber sind die etwa von Hannah Arendt angeregten Debatten über eine Grundsatzkritik an der Industriearbeitsgesellschaft von der theologischen Sozialethik zunächst nur zögerlich aufgenommen worden und haben eher im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen und kirchlicher Initiativgruppen Aufmerksamkeit gefunden. Die zunehmende Resonanz dieser Fragestellung, wesentlich verschärft durch die Wahrnehmung der ökologischen Krisen der Industriegesellschaft, signalisiert seit der Mitte der 1970er und in den 1980er Jahren die krisenhaften Umbrüche und Wandlungen von der klassischen Industrie- zur wissensbasierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. In theologischer Perspektive ist die für die 1960er Jahre typische Engführung des Arbeitsverständnisses auf die industrielle Erwerbsarbeit
80 Vgl. hierzu die Bestandaufnahme in: Guntermann / Pust, Freizeit. 81 So mit unterschiedlichen Akzentsetzungen die hier vorrangig diskutierten Sozialethiker Rich, Wendland und Tödt.
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seither überwunden und andere Formen der Erwerbsarbeit sowie die Familienarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten sind deutlich aufgewertet worden82.
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Grenzenlos konsumieren? Christliche Einstellungsdispositionen zum gesellschaftlichen Konsumverhalten im Wandel „Wir kaufen nur das Nötigste“,
so erinnert sich der Ökonom Birger Priddat an seine Kindheit in den 1950er Jahren. „Ging irgendein Spielzeug kaputt, war es für meine Mutter klar, dass es unnötig gewesen war. Die Freude, die wir daran hatten, bis es schließlich kaputtging (und weil es kaputtging), zählte nicht. Wir hatten das Spielzeug bis zum bitteren Ende ,konsumiert‘. Meine pommersche Mutter hingegen hatte nicht gelernt zu konsumieren. Für sie war Konsum immer ein Gebrauch, der voraussetzte, dass der Gebrauchsgegenstand haltbar und nützlich war. […]. Wir wollten Spielzeuge, die bald kaputtgingen. Notfalls halfen wir mit dem Hammer nach. Unsere Art des Konsums war brutal, aber modern“1.
Die Kindheitserinnerung markiert den Übergang der vom Mangel bestimmten Nachkriegsgesellschaft in die Überflussgesellschaft der späten 1950er Jahre. Wurde übermäßiger Konsum bis dahin als Verschwendung begriffen, so erlaubte die prosperierende Wohlstandsgesellschaft nunmehr einen massenhaften Zugriff auf die Güter des Lebens und setzte aus ökonomischen Gründen – „brutal, aber modern“ – auf deren kurzfristigen Verbrauch. Die sich anschließenden langen 1960er Jahre markieren eine wichtige Phase der modernen Konsumgeschichte. Da die wirtschaftlichen Voraussetzungen nunmehr der Mehrzahl der Haushalte auf vergleichsweise hohem Niveau eine Teilhabe am Konsumleben ermöglichte, lässt sich für die 1960er Jahre von einer Zeit der „Massenkonsumgesellschaft“ sprechen2. Diese entstehende Massenkonsumgesellschaft und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Bedingungen, wie etwa sozial ausbalancierte finanzielle Zugangsmöglichkeiten zum Konsum, die zunehmende Freizeit und Individualisierung oder der steigende Ressourcenverbrauch, stellten die Kirchen vor die Notwendigkeit, sich dazu zu verhalten. Indem das neue gesteigerte Konsumverhalten Themen wie soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit, die Frage einer angemessenen christlichen Gestaltung von Sonn– und Feiertagen oder das Thema eines bibelgemäßen Umgangs mit der Schöpfung freisetzte, waren die Kirchen und damit auch die Theologie zu ethischen Reflexionen und Stellungnahmen herausgefordert. Unser Erkennt1 Priddat, Konsum, 11 f. 2 Zum Begriff und zur Semantik von „Masse“ im Wortfeld von „Konsum“ vgl. Kçnig, Geschichte, 33–107; und Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, 131–162.
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nisinteresse richtet sich nachfolgend daher auf die Beziehung der Kirche bzw. der kirchlichen Öffentlichkeit zur westdeutschen Konsumgesellschaft. Zunächst wird mittels wichtiger konsum– und auch sozialgeschichtlicher Grunddaten ein historischer Referenzrahmen für unsere Themenstellung skizziert. Davon ausgehend rücken jene Einstellungsmuster in den Blick, die die Haltung der Kirchen und ihrer Öffentlichkeit in Bezug zum rasant ansteigenden Konsumverhalten in der ökonomischen Wachstumsphase der langen 1960er Jahre kennzeichneten. Wir fragen: Gab es von Anfang an christlich motivierte Dispositionen, die sich durchhalten? Oder lässt sich ein Wandel in den kirchlichen Einstellungen zur Konsumgesellschaft im Untersuchungszeitraum ausmachen? Für die beginnenden 1970er Jahre werden wir drittens sehen, wie sich die Kirchen von den Werten der Konsumgesellschaft abwandten und nach außen hin eine pointierte Konsumkritik entwickelten. Wir loten aus, was im Einzelnen diese dezidierte Neuorientierung bedingte. Das zu dieser Zeit gestiegene konsumkritische Problembewusstsein auf kirchlicher Seite ist evident, aber wie steht es um die Haltwertzeit der gewonnen Einsichten? Handelte es sich um eine kurzlebige Krisenreaktion oder ging daraus ein längerfristiger Wandel hervor? In einem vierten Schritt wollen wir daher nach Wirkungen fragen, die sich aus der kirchlichen Konsumkritik seit Beginn der 1970er Jahre in Kirche und kirchlicher Öffentlichkeit abzeichneten. Wenn im Titel dieses Beitrags von „christlich“ geprägten Konsumdispositionen die Rede ist, dann ist darin vor allem der kirchliche Bereich eingeschlossen, aber die Perspektive richtet sich über die engen amtskirchlichen Verhältnisse hinaus. Der Untersuchungszeitraum markiert jene Epoche, in der sich der Protestantismus zur öffentlichen Diskurskultur Westdeutschlands öffnete und die zunehmende Politisierung sich auch im Zusammenhang mit neuen medialen Formen und Foren in der evangelischen Publizistik niederschlug3. Das bedeutet in methodischer Hinsicht, dass im Folgenden neben amtskirchlichen und kircheninstitutionellen Verlautbarungen besonders Texte von evangelischen Autoren aus dem Bereich der christlichen Publizistik herangezogen werden. Dabei erfolgt aus arbeitsökonomischen Gründen eine Konzentration auf den Bereich des Protestantismus. Am Ende wird der Bereich des Katholizismus zumindest mit einem kurzen vergleichenden Blick gestreift. Die Frage nach den kirchlichen Haltungen zum Konsum in der DDR wird im Rahmen dieses Beitrags und seines Themas redlicherweise nicht angemessen behandelt werden können.
3 Vgl. dazu Getty, Kirche; und Widmann, Wandel.
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1. Konsumgeschichtliche Grunddaten 1.1 Begriff und Geschichte Spätestens seit Thorstein Veblen mit seinem Werk „Theorie der feinen Leute“4 1899 der Konsumsoziologie ein frühes Fundament gab, wird interdisziplinär über eine tragfähige Konsum–Definition diskutiert. Für unsere Frage scheint es zweckmäßig, wenn man den Begriff des Konsums pragmatisch bezieht auf „Verbrauch und Nutzung von Gütern und Dienstleistungen vorwiegend durch Haushalte als Wirtschaftseinheiten“5. Wichtig: Es geht in diesem Zusammenhang nicht nur um die Bedürfnisbefriedigung eines Endverbrauchers, sondern der Konsum wird durch politische, gesellschaftliche und auch religiöse Faktoren gelenkt beziehungsweise eingeschränkt. Dabei sind einseitige Erklärungsmuster zu vermeiden: Der Bereich der Konsumtion ist von unterschiedlichen Faktoren mitbestimmt. Es hieße zu kurz zu greifen, in ursächlicher Hinsicht die Konsumtion allein auf den Faktor des Produktionssystems einer Gesellschaft zurückzuführen, d. h. den Produktionssektor als alleinige Voraussetzung der Konsumgesellschaft zu verstehen. Im Anschluss an Ergebnisse der jüngeren Konsumforschung, insbesondere von Wolfgang König, wird hier zwischen dem Bereich der Produktion und der Konsumgesellschaft ein komplexes Wechselverhältnis angenommen6. Die moderne Konsumgesellschaft entwickelt sich in den 1920er Jahren der Weimarer Republik, v. a. durch einen von der öffentlichen Hand besorgten Ausbau der Infrastruktur für die Haushaltsversorgung mit Gas, Wasser und Strom („Munizipialsozialismus“)7. Elektrische Geräte zogen in den Haushalt ein, harmlose Reklame verwandelte sich zwecks Durchsetzung eines merkantilen Konkurrenzprinzips in strategisch durchformte Werbung und der Film, die Musik und das Reisen wurden erstmals von breiten gesellschaftlichen Kreisen als Konsumfelder genutzt. Die NS–Zeit war durch eine politisch motivierte Konsumlenkung eher ein retadierendes Moment der modernen Konsumgeschichte. Zwar wurde auf einem hohen quantitativen Niveau konsumiert, doch bedingte die totalitäre 4 Vgl. Veblen, Theorie. 5 Klein, Konsum, 190. 6 Vgl. Kçnig, Geschichte, 15–32. Die Diskussion verlagerte sich ausgehend von den marxistischen Autoren des 19. Jahrhunderts, die die Produktion als denjenigen Faktor identifizierten, der beim Verbraucher neue Bedürfnisse evoziere (nach Marx schafft die Produktion das Bewusstsein), und Autoren, die eine Dominanz der Technikproduktion über die Technikkonsumtion feststellten, zu Vertretern der Manipulationsthese (Manipulation des Konsumenten in seiner Kaufentscheidung durch den Produzenten, u. a. Herbert Marcuse, Jürgen Habermas) bis hin zu Autoren, die zu differenzierten Theorien zum Verhältnis von Produktion und Konsumtion vorstoßen (u. a. Erich Fromm, David Riesman), ebd. 7 Vgl. dazu Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, 91–97.
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Herrschaftsform eine starke ideologieaffine Konsumlenkung entsprechend politischer Zielvorgaben („Pseudo–Massenkonsumgesellschaft“)8. Der Zweite Weltkrieg markierte die schärfste Zäsur der modernen deutschen Konsumgeschichte. Die aus den gravierenden Kriegsfolgen hervorgehende „Zusammenbruchgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) war durch eine akute Mangelsituation und Unterversorgung gekennzeichnet. Aus dieser bedrückenden Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelte sich zunächst ein „kleiner Wohlstand“ (Michael Wildt), daraus schließlich am Ende der 1950er Jahre die Konsum– und „Massenkonsumgesellschaft“9. Diese intensive Konsumkultur erstreckte sich auf unterschiedliche Konsumsegmente, die sich im Zuge der Konsumgeschichte im 20. Jahrhundert veränderten: 1. Ernährung („Von der Speise zum Fast food“), 2. Kleidung („Vom Bedecken der Blöße zur modischen Massenkonfektion“), 3. Haushalt und Wohnen („Von der Behausung zur ,Wohnmaschine‘“)10 sowie 4. Freizeit und Kultur (Von der Muße zur Muckibude). Diese Konsumsegmente geben zu erkennen, dass das Konsumverhalten sich in einem sozialen Raum vollzieht, in dem Bedürfnisse und Wünsche sowie suggestive oder praktische Kaufanreize sich gegenseitig bedingen. Konsumfördernde Instrumente, die von der Produktionsseite angeboten werden, sind vor allem die Mode, die Werbung, aber auch das Kreditwesen und Details wie Verpackungen und Gebrauchshilfen. Preiswerte Produktimitate oder Wegwerfprodukte zielen auf die Senkung der persönlichen Hemmschwelle beim Konsumenten und fördern den Konsum11. 1.2 Kirche als Rezipient und Regulativ der Konsumgesellschaft Das seit der Nachkriegszeit gesteigerte Konsumverhalten stand in einer unmittelbaren Beziehung zur zunehmenden Freizeit: Die Zunahme an disponiblen Zeitkontingenten und die Steigerung finanzieller Ressourcen bedingt die Zunahme an Freizeitmöglichkeiten. Da sich insbesondere das Wochenende als ausbaufähige Zeitressource jenseits des Arbeitsplatzes anbot, waren die Kirchen als traditionelle Verwalter der Sonntagszeit von der zunehmenden Freizeit bei einem synchron steigenden Konsumverhalten herausgefordert. Verbunden mit diesem Zeitfaktor waren es aber auch konkrete Formen und Weisen der Freizeitgestaltung (Musik, Tanz, Sport, Fernsehen etc.), die in Bezug auf die zeitliche und inhaltliche Lebensgestaltung die Kirche zu einer Auseinandersetzung mit ihnen zwingen konnten12. 8 9 10 11 12
Ebd., 110. Ebd., 131–162. Kçnig, Geschichte, zit. Kapitelüberschriften 136–182. Vgl. Kçnig, Geschichte, 387. Vgl. dazu Schildt, Sozialgeschichte, 41–47, bes. 43.
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Andersherum erweist sich die religiöse Einstellung von Verbrauchern für das Konsumverhalten als wichtig; sie kann Konsum fördern, aber vor allem auch einschränken. Religiöse Kleidungs– und Essensvorschriften (Fastentage) lenken das Konsumverhalten der Gläubigen. Besonders wirkungsvoll ist das christliche Feiertagsgebot. Die Sonntagsheiligung ist ein permanenter Faktor für eine Begrenzung des Konsumverhaltens, die christliche Feiertagskultur kann Konsum dosieren und steuern13. Auch das 7. Gebot „Du sollst nicht stehlen“ markiert unter ethischen Gesichtspunkten eine prägnante Konsumgrenze. Die kirchliche Haltung zum Konsum war im gesamten 20. Jahrhundert v. a. in Bezug auf das Feiertagsgebot sowie Freizeit, Film, Musik und Alkohol äußerst restriktiv14. Dieses einschränkende Vorgehen der Kirchen war immer wieder von ethisch–moralischen Gesichtspunkten geleitet. Das Konsumverhalten einer Gesellschaft macht vor den Kirchen nicht halt. Jede Veränderung des gesellschaftlichen Konsumverhaltens hat einen Einfluss auf die christliche Lebensführung und damit auf die Kirchen. Die Kirchen selbst haben innerhalb ihrer Gemeinde ihrerseits Möglichkeiten, den Konsum ihrer Gemeinde zu beeinflussen – solange sie diese erreichen. 1.3 Vom „Kleinen Wohlstand“ zur „Massenkonsumgesellschaft“ Der Weg aus der Mangelwirtschaft zum „Kleinen Wohlstand“ (Michael Wildt) der unmittelbaren Nachkriegszeit verdankte sich zu nicht geringen Teilen den wirtschaftspolitischen Weichenstellungen des Jahres 1948: dem Marshallplan, der Währungsreform und dem von beiden Kirchen geförderten, dabei wachsam beäugten und punktuell kritisch begleiteten Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Diese sollte sich gemäß evangelischer Vorstellungen auf einem wirtschaftlichen Handlungsfeld zwischen den Polen „personale Freiheit“ und „gesellschaftliche Gerechtigkeit“ entfalten15. Die katholische Seite sah das ähnlich, mahnte aber auch ihrerseits, zumindest in Teilen, eine soziale Disziplinierung der Marktwirtschaft an. Am Ende war das Modell in beiden 13 Überschreitungen des Gebots der Feiertagsheiligung, etwa im Zusammenhang von Kirmessen und Jahrmärkten, die als Konkurrenz zu religiösen Feiertagen betrachtet wurden und als jugendgefährdend und kriminalitätssteigernd eingestuft wurden, führten immer wieder zu kritischen Äußerungen und Stellungnahmen von Christen und Kirchen; vgl. Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, 88. 14 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewirkten kirchliche Initiativen, dass in manchen Gemeinden am Sonntag die Schaufensterauslagen der Geschäfte per Anordnung verhüllt werden mussten, vgl. Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, 103. Bis in die Sprachgebung hinein standen Kirchen und Konsum von Anfang an in einem Spannungsverhältnis: schon im Kaiserreich wurden in den Metropolen die neu entstehenden „Konsumtempel“ kirchlicherseits von Anfang an argwöhnisch betrachtet, zumal deren Äußeres nicht selten dem Erscheinungsbild von Kathedralen nachempfunden war. 15 Vgl. Jhnichen / Friedrich, Geschichte, 1035–1040, 1049–1063; und Brakelmann / Jhnichen, Wurzeln, 363–381.
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Kirchen konsensfähig, da es die Liberalisierung der Wirtschaft mit einer Wettbewerbsordnung und sozialpolitischen Maßnahmen verband. In den 1950er Jahren stellte sich in westdeutschen Haushalten eine gewisse „Konsumnormalität“ ein16. Zwischen 1950 und 1960 stiegen die Nettoeinkommen der Arbeiter um 70 %. „Wirtschaftswunder“ und „Konsumwellen“ erlaubten breiten gesellschaftlichen Kreisen die Erfahrung eines „Konsumglücks“. Die Konsummöglichkeiten blieben Einkommens– und Schichtenspezifisch differenziert, die Teilhabe an der Massenkonsumgesellschaft verlief zeitlich gestaffelt. Die Schwelle zur „Massenkonsumgesellschaft“ war mit dem Beginn der 1960er Jahre überschritten. Die Nettolöhne der Arbeiter verdoppelten sich in den zehn Jahren bis 1970, der bundesstatistisch ermittelte „Warenkorb“ für einen Vier–Personen–Arbeitnehmer–Haushalt machte um 1950 300 Waren aus, bis 1970 waren es bereits 700 Artikel. Die Konsum– und Modernisierungsdynamik entfaltete sich im Dreieck von „komfortabler Häuslichkeit, dem eigenen PKW und einer immer stärker von Massenmedien bestimmten Freizeit“, wie Axel Schildt das auf den Nenner bringt17. Die neue Qualität der Massenkonsumgesellschaft zeigte sich in besonderer Weise durch Verkaufsstätten vor Ort: Die Selbstbedienungsläden (SB–Läden) revolutionierten das Einkaufsgeschehen. Bargeldloser Zahlungsverkehr und Dispositionskredite ermöglichten auch Privathaushalten größere Investitionen. Komplexere Marktstrukturen machten neue Methoden der Werbung und des Marketing erforderlich. Diese aufsteigende materielle Entwicklung der Massenkonsumgesellschaft hat die soziale Differenzierung innerhalb der Gesellschaft der BRD nicht nivelliert. Ulrich Beck spricht vom Fahrstuhl–Effekt: Es ging für fast alle wirtschaftlich aufwärts, man fuhr ein Stockwerk höher, aber die Ungleichheitsrelationen zwischen den Schichten verschoben sich kaum18.
2. Protestantismus und Massenkonsumgesellschaft in den 1960ern Jahren 2.1 Kirchen und Wirtschaftsordnung Konzentrieren wir uns zunächst einen Moment auf die Beziehung der Kirchen zur Wirtschaftsordnung Westdeutschlands. Eine unverzichtbare Voraussetzung der Konsumgesellschaft ist das Recht auf Privateigentum. Es ermöglichte jedem Individuum die ökonomische Basis für seinen privaten Konsum. Der Eigentumsbegriff und diesbezügliche Verteilungsgerechtigkeit spielten in den 16 Vgl. dazu und zum Folgenden Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, 131–137. 17 Schildt, Sozialgeschichte, 42. 18 Beck, Risikogesellschaft, 121 f.
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sozialpolitischen Diskussionen des sozialen Protestantismus zu Beginn der 1960er Jahre eine prominente Rolle. Nicht von ungefähr war die erste Denkschrift der EKD 1962 exakt diesem Thema gewidmet: „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung“19. Sie stellten die Eigentumsrechte in der industriellen Gesellschaft in privater Hinsicht und im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang heraus. Mit einer gewissen Vermittlungsabsicht der Kirche zwischen den Sozialpartnern wurde eine gerechte Verteilung und verantwortliche Verwendung der Güter als eine ethisch lösbare Aufgabe eingestuft. Für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist die in der Denkschrift vorgenommene theologische und anthropologische Bestimmung des Eigentumsbegriffs. Alle Güter seien demnach „Gott zu eigen“ (I.3.), […] und bei „rechtem Gebrauch“ diene das Eigentum dem Menschen dazu, „Wirtschaft und Gesellschaft verantwortlich mitzubestimmen.“ Der Schlüsselsatz in diesem Zusammenhang lautet: „Der Mensch soll mein sagen können, um frei zu sein.“20 Das hier zugrundeliegende liberale Eigentumsverständnis zielte darauf ab, die Arbeitnehmer am Produktivvermögen des Volkes zu beteiligen. Von „Konsum“ ist in diesem Zusammenhang nicht explizit die Rede. Allerdings: Erst auf dem Ermöglichungsgrund des hier stark gemachten privaten Eigentums, zu dessen Aneignung jetzt im Rahmen einer breiteren Eigentumsstreuung verstärkt die Arbeitnehmerschaft befähigt werden sollte, konnte sich die Konsumgesellschaft in den folgenden Jahren entfalten. In diese Richtung zielte auch die in der Denkschrift angedachte Schaffung eines Investivlohns. Insofern war die EKD–Denkschrift neben anderen sozialpolitischen Absichten eine wichtige flankierende Maßnahme auf dem Weg zur Massenkonsumgesellschaft der 1960er Jahre. 2.2 Kirche in der Konsumgesellschaft Nehmen wir nun die Situation der Kirchen in der prosperierenden westdeutschen Gesellschaft der 1960er Jahre ins Blickfeld, um vor diesem Hintergrund deren Einstellung zur Konsumgesellschaft rekonstruieren zu können21. Als Folge des Wirtschaftswachstums stellten sich mit Beginn der 1960er Jahre explosionsartig gesteigerte Kirchensteuereinnahmen ein, die der evangelischen Kirche in ungewohntem Umfang finanzielle Mittel bereitstellte und neue Entfaltungs– und Gestaltungsmöglichkeiten bot. Die „dagobertinische 19 Rat der EKD, Eigentumsbildung. 20 Ebd., I.4. (Hervorh. H.O.). 21 Vgl. zur zeitlichen Gliederung, wie sie im Verlauf dieses Beitrags für den Protestantismus zu dessen Konsumgeschichte gewonnen wird, die kirchenhistorische Periodisierung bei Oelke, Kirchengeschichte. Die Einstellungen zum Konsum im evangelischen Bereich werden vorzugsweise im Kontext der Wirtschaftsethik verhandelt, vgl. beispielsweise Friedrich, Art. Wirtschaft; und Bedford–Strohm, Art Wirtschaftsethik; Pfleiderer, Art. Wirtschaft; und Meckenstock, Art. Wirtschaft.
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Phase“ (Wolf–Dieter Hauschild) der EKD nahm ihren Lauf. Nimmt man die Kirchensteuereinnahmen zum Maßstab, lässt sich das Jahr 1961 als Zäsur begreifen, denn binnen eines Jahres stiegen die Einnahmen von ca. 793 Millionen um 30 % auf ca. 1.028 DM Millionen, seitdem entwickelten sie sich weiter zunehmend22. Nicht nur die Mitglieder der Kirchen partizipierten an der Konsumgesellschaft der 1960er Jahre, sondern die Kirchen als Institutionen wurden selbst zu finanzstarken Akteuren, d. h. also auch zu Konsumenten, und damit zu funktionstüchtigen Mitgliedern der Konsumgesellschaft. Der Finanzüberschuss wurde in eine steil ansteigende Bautätigkeit (Kirchengebäude, Gemeindezentren, Verwaltungsgebäude und Gebäude für spezielle Dienste) investiert. Noch bedeutsamer war die signifikante Steigerung der kirchlichen Stellenzahl, darunter ein hoher Anteil gewöhnlicher Pfarrstellen, die jetzt zu niedrigeren Betreuungsrelationen in der Gemeindearbeit führten. Daneben wurde eine nicht geringe Zahl von neuen Sonderpfarrdiensten geschaffen, dazu kamen neue Stellen in der Diakonie und Verwaltung23. Der stetig wachsende Geldstrom und die damit verbundenen Investitionsmöglichkeiten absorbierten die kirchliche Aufmerksamkeit und Energien. Solange der wirtschaftliche Zugewinn in der Gesellschaft sozial breit gestreut war und scheinbar weiten Teilen der Gesellschaft eine Steigerung des materiellen Lebensstandards ermöglichte und solange die Kirche zudem selbst Profiteur der Wohlstandsentwicklung war, drängte sich eine kritische Haltung gegenüber der Konsumgesellschaft nicht auf. Dieser materielle Zugewinn ermöglichte der evangelischen Kirche die Partizipation an der gesellschaftlichen Modernisierung. Gleichzeitig stieg das kirchliche Interesse an der Mitgestaltung öffentlicher Strukturen. Der diskursive Austausch mit den gesellschaftlichen Kräften wurde gesucht und mittels neuer Medien umgesetzt. Bezeichnenderweise korrelierte der evangelische Reformaufbruch auf katholischer Seite mit dem von Johannes XXIII. im Zeichen des „aggiornamento“ 1962 eröffneten Zweiten Vatikanischen Konzils. Für die katholische Haltung zur Konsumgesellschaft kam dem Konzil eine große Bedeutung zu24. Der kirchliche Wunsch nach Reformen korrelierte mit der Politisierung der Gesellschaft, die nun auch auf die Kirchen zurückwirkte. Die Zielprojektionen der Theologie verlagerten sich dabei von der vertikalen Ausrichtung in die „Horizontale“. Nicht länger war eine dogmatische Orientierung leitend, sondern im Vordergrund der theologischen Diskurse stand eine verantwortungsvoll gestaltete christliche Lebensführung. Sozialethische Einstellungen wie Humanität und Solidarität gewannen nach 1965 auch im Protestantismus an Bedeutung. Mit diesem wachsenden ethischen „Bürgersinn mit Weltge-
22 Vgl. Hauschild, Kirche, 64 f. 23 Ebd. 24 Vgl. Rumbach–Thome, Konsumkritik, 92–101.
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fühl“25 reifte in den protestantischen Kirchen eine wesentliche Voraussetzung für eine kritische Einschätzung der Konsumgesellschaft heran. Die gegenläufige Bewegung zur zunehmenden kirchlichen Ethisierung ist die zeitgleiche Schwächung der institutionellen Bindungskraft der Kirchen. Die rasant steigende Zahl der Kirchenaustritte ist bekannt26. Setzen wir die wirtschaftlich wachsende Dynamik der Massenkonsumgesellschaft einmal in Beziehung zu diesem Mitgliederverlust der Kirchen, dann heißt das zugespitzt: das Bruttosozialprodukt in Westdeutschland stieg in etwa in dem Maße, wie synchron die Bindungskraft der Kirchen abnahm. 2.3 Konsum und Freizeit als kirchliche Herausforderung Die konsumtive Lebensform förderte eine Individualisierung und vergrößerte den Freizeitbereich. Entscheidend dafür waren gewerkschaftlich durchgesetzte Arbeitszeitverkürzungen und ein Trend zum „langen Wochenende“27. Im Zentrum der Veränderung stand der Sonntag, für dessen Gestaltung sich traditionell, wie wir sahen, die Kirchen verantwortlich wussten. Hier verloren die Kirchen nachhaltig an Einfluss. Der Rückgang der Gottesdienstbesucher in den 1960er Jahren war dramatisch, auf evangelischer Seite halbierte sich binnen zehn Jahre die Zahl der Gemeindemitglieder, die den Gottesdienst besuchten28. Eine zweite Entwicklung im Freizeitbereich verstärkte die zunehmende Kirchenferne der Menschen: Schon seit den 1950er war ein „Trend zu Privatheit, Familie und Häuslichkeit“ (Axel Schildt) in der sich herausbildenden Wohlstandsgesellschaft unübersehbar. Nach Jahren der kriegsbedingten Entbehrung zählte offenbar der Rückzug in die Familie und die Freizeitgestaltung im häuslichen Kontext zu den begehrten Gestaltungsformen der Zeitkontingente außerhalb des Arbeitsplatzes. Das evangelische Pfarrpersonal, insbesondere die älteren Jahrgänge (bis 1918), zeigte kein großes Problembewusstsein29. Der Zugewinn an Prosperität galt ihnen als suspekt, Freizeitvergnügungen wie Wirtshausbesuch, Tanz, Kino, Vereinsleben und der Fernseher wurden in den Kategorien des Kulturverfalls gedeutet. Eine gezielte Strategie, den neuen Herausforderungen zu 25 Knoch, Bürgersinn. 26 Seit 1968 nahmen die Kirchenaustritte rasant zu: 1960 verzeichnete die ev. Kirche 30.0000 Austritte, 1969 waren es fast 100.000 und 1974 waren es rund 216.000 Menschen, die die ev. Kirche verließen. 27 Vgl. dazu Schildt / Siegfried, Kulturgeschichte, 184–201. 28 In evangelischen Gemeinden besuchten 1963 ca. 15 % der Gemeindemitglieder den Gottesdienst, zehn Jahre später hatte sich die Zahl der Gottesdienstbesucher halbiert, auf katholischer Seite war die Tendenz entsprechend, wenngleich die Zahlen etwas verhaltener ausfielen: 1963: 41,5 % – 1973: 27,5 %, Schildt, Sozialgeschichte, 43. 29 Vgl. dazu und zum Folgenden Kienzle, Mentalitätsprägung, 207–335.
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begegnen, sucht man in den 1960er Jahren vergeblich, zumal bei den Älteren. Der wirtschaftliche Aufschwung einschließlich der steigenden Konsummöglichkeiten verstärkten einen Kohäsionsverlust des protestantischen Milieus, das sich zwischen den Polen sich verengender kirchentreuer Ingroups einerseits und der kirchenfernen Gemeindemehrheit andererseits ausdifferenzierte30. Die jüngeren Pfarrer der Jahrgänge seit 1945 zeigten sich im Umgang mit dieser Entwicklung etwas aufgeschlossener, auch die Wahrnehmung des sich veränderten pastoralen Rolleninventars wurde hier eher wahrgenommen als in der Generation der vormaligen Kirchenkämpfer der NS–Zeit. Der amtskirchliche Umgang der EKD spiegelt das latente kirchliche Unvermögen wieder, den Herausforderungen durch die zunehmende Freizeit diagnostisch oder konzeptionell adäquat zu begegnen. Die Freizeit wurde als Begleitumstand der Industriegesellschaft begriffen und in diesem Zusammenhang abgearbeitet. So konnte man dem Freizeitaspekt als Gegenpol zur industriellen Arbeitswelt zwar zumindest eine Berechtigung anerkennen, eine grundsätzliche neue Bewertung des Freizeitbereichs unter religionssoziologischen Bezügen oder im Zusammenhang mit der Konsumgesellschaft war indes nicht erkennbar31. 2.4 Protestantismus und Konsum Begeben wir uns auf die Suche nach protestantischen Einstellungsdispositionen zur Konsumgesellschaft. Dafür ziehen wir die evangelisch geprägte Publizistik der 1960er Jahre heran. Das Ergebnis ist einigermaßen überraschend: Selbst in diskursfreudigen Blättern wie den „Evangelischen Kommentaren“, der evangelischen Wochenzeitung „Deutsches allgemeines Sonntagsblatt“, dem einschlägigen theologischen Periodikum „Zeitschrift für evangelische Ethik“ oder auch in der „Jungen Kirche“ und dem evangelischen nachrichtendienstlich arbeitenden „Evangelischen Pressedienst“ sowie in den materialreichen Dokumenten der Kirchentagsveranstaltungen32 finden sich dazu nur dürftige Anhaltspunkte: das Themenfeld „Konsum“ und „Konsumgesellschaft“ kommt hier zumindest in expliziter Weise in den 1960er Jahren kaum vor. Allenfalls Randaspekte der Problemstellung werden berührt: Auf dem Dortmunder Kirchentag von 1963 tagt beispielsweise eine Arbeitsgruppe zum Thema „Schaffst Du was, dann bist du was“33. Hier werden von einem Unternehmer, einem Arzt und einer Frauenrechtlerin Probleme des mecha30 Ebd., 336–347. 31 So Kienzle, Claudius, Freizeit als Religion? Die protestantische Sicht auf Freizeit und Erholung. Unveröff. Vortragsmanuskript, komprimiert dargestellt im Tagungsbericht Nothdurft, Religion, 282 f. 32 Prsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags, Dokumente. 33 Dass., Dokumente 1963, 292–308.
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nisierten Produktionssektors und materielle Verteilungsgerechtigkeit problematisiert. Das Beispiel steht für viele andere Artikel dieser Art. Sozialethische Einlassungen seit den späten 1950er Jahren sind vornehmlich auf den Bereich der Industriearbeit fokussiert34. Die dort gültigen Bedingungen der Massenproduktion bestimmen die kirchenpublizistische und sozialethische Perspektive. Thematisiert wurden vornehmlich die finanziellen Zugewinnmöglichkeiten, die strenge Kontrollpraxis der Produktion sowie deren eintönige Arbeitsprozesse. Der Lebensstandard wurde dabei prioritär unter quantitativen Gesichtspunkten definiert. Daher lässt sich festhalten: Die Konsumgesellschaft und ihre Probleme haben in den 1960er Jahren die kirchlichen und theologischen Diskurse nicht erreicht, erst recht nicht sind sie in den Bereich der Lebensführung vorgedrungen. 2.5 Katalysatoren des Wertewandels Zwei Entwicklungen im Protestantismus der 1960er Jahre verdienen indes unsere besondere Aufmerksamkeit, da sie eine wichtige Voraussetzung für die offensive Konsumkritik der beginnenden 1970er Jahre sein werden. Die erste Entwicklung betrifft den Bedeutungsgewinn der Ökumene35. 1966 fand in Genf die „Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft“ statt. Eine ungewohnt hohe Zahl kirchlicher Repräsentanten aus der sogenannten Dritten Welt drängte angesichts der ungleichen Verteilung des Wohlstands zwischen den westlichen Industrieländern und den Ländern des Südens auf eine „christliche Antwort auf die technische und soziale Revolution in unserer Zeit“36. Hier stand vor der kirchlichen Weltöffentlichkeit in noch nicht dagewesener Deutlichkeit die Schattenseite der westlichen Konsumgesellschaften am Pranger. Der Fokus war in der deutschen kirchlichen Öffentlichkeit fortan stärker auf diesen Problembereich gerichtet. Im Zusammenhang mit dem in Genf vorgenommenen sozialethischen Perspektivwechsel zugunsten der sogenannten Dritten Welt rückte auch die Entwicklungshilfe für die Länder des Südens in das öffentliche Interesse. Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 1969 in Stuttgart wird die Entwicklungshilfeproblematik unter dem Motto „Gerechtigkeit in einer revolutionären Welt“ zu einem Schwerpunktthema der Großveranstaltung37. Auch die evangelische Publizistik gab dem Thema zum Ende der 1960er Jahre zunehmend mehr Raum. Der sachliche Zusammenhang der benachteiligten südlichen Länder zur Massenkonsumgesellschaft der Industriestaaten war 34 35 36 37
Vgl. dazu den Beitrag von Traugott Jähnichen in diesem Band. Erhellend dazu vgl. Frieling, Weg, 302–305, 321–324; Greschat, Protestantismus, 115–119. Zit. ebd., 116 (= KJ 1968, 327–344). Vgl. den entsprechenden Abschnitt in Prsidium des Deutschen evangelischen Kirchentags, Dokumente 1969, 492–500.
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evident. Gleichwohl erlaubte das vorherrschende Entwicklungshilfe–Konzept noch keine radikale Infragestellung der Konsumgesellschaften, sondern bemühte sich um ein einfaches „Nachholen“ der Entwicklungsländer. Fazit: Für einen Wandel der protestantischen Einstellung zur Konsumgesellschaft fällt der Ökumene und dem Engagement für die Entwicklungshilfe in den 1960er Jahren eine große Bedeutung zu. Die dort kultivierte globale Christentumsperspektive und die Frage nach einer weltumspannenden materiellen Chancen– und Verteilungsgerechtigkeit ist der Kern, aus dem im westdeutschen Protestantismus ein Problembewusstsein für die Konsumgesellschaft der westlichen Industrieländer entfaltet werden konnte. Zieht man zudem in Betracht, dass sich zeitgleich mit der zunehmenden ethischen Orientierung auch im Protestantismus ein sensitives Potential herausbildete, dann lässt sich darin für den Protestantismus am Ende der 1960er Jahre eine Konstellation erkennen, die im Hinblick auf eine Neubewertung der Konsumgesellschaft gute Voraussetzungen bot.
3. Wandel im Zeichen der „Krise“ Die Wohlstandssteigerung setzte sich in der beschriebenen Weise in den 1960er Jahren unaufhaltsam fort. Zu Beginn der 1970er Jahre erreichte das Konsumniveau nach Jahren des steten Wachstums ungeahnte Höhen. Waren zu Beginn der 1960er Jahre immerhin noch 58 % des Einkommens unmittelbar lebensnotwendig (Nahrung, Kleidung, Wohnung), so waren es 1973 nur noch 44 %, anders gewendet: 56 % des Einkommens standen dem Verbraucher zu Beginn der 1970er Jahre für konsumtive Investitionen zur Verfügung38. Mitten hinein in die imponierenden Wachstumszahlen der prosperierenden Wohlstandsgesellschaft mit ihrem Fortschrittsoptimismus39 ließen indes zeitdiagnostische Bestandsaufnahmen der Weltsituation die Alarmglocken schrillen40. Freilich: Die Umweltbelastungen durch das exorbitant gestiegene Konsumverhalten waren im Laufe der 1960er Jahre dramatisch angewachsen und waren schließlich nicht mehr zu übersehen. Umweltbezogene Institutionen in Deutschland, wie der Deutsche Naturschutzring, oder auf internationaler Ebene sensibilisierte Wissenschaftler, bald auch problembewusste Wissenschaftsverbünde gingen mit ersten aufrüttelnden ökologischen Ergebnissen 38 Vgl. Schildt, Sozialgeschichte, 59. 39 Vgl. ebd., 41–47; Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, 131–152. 40 Die systematische Auswertung des um 1970 aufkommenden ökologischen Krisenbewusstseins in Bezug auf protestantische Einstellungsmuster zum Konsumverhalten unter Berücksichtigung der diskursfreudigen protestantischen Publizistik jener Zeitspanne steht noch weitgehend aus. Wie ergiebig die Auswertung einschlägiger evangelischer Organe in dieser Hinsicht sein kann, zeigt ansatzweise Joas, Zeiten.
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an die Öffentlichkeit41. Sachkundige wie Max Nicholson, eine Leitfigur im britischen und internationalen Naturschutz, konstatierten bereits 1970, dass der Stolz, im Jahr zuvor den Mond erreicht zu haben, „zerronnen“ sei „gegenüber der demütigenden Einsicht“, es so weit gebracht zu haben, „unseren eigenen heimatlichen Planeten in einen Slum“ zu verwandeln. Alte Werte und Praktiken stünden weltweit unter Beschuss, was sich darin vollzöge, sei eine „Revolution“, eine „Umweltrevolution“42. Gleichwohl blieb die aufziehende ökologische Krise einstweilen in den westlichen Industriegesellschaften in der Breite schwer vermittelbar. Diese auf Konsum gestimmten Gesellschaften nahmen in weiten Teilen die frühen Warnungen zumindest subtil als Einschränkung ihres über den Konsum definierten Freiheitsverständnisses wahr. Zumal die grundsätzliche Einschätzung der Situation der Wissenschaftler noch moderat ausfallen konnte. Die 1972 in Stockholm tagende UN–Umweltkonferenz schätzte in der finalen Deklaration zur menschlichen Umwelt die Situation derart ein, dass „gleichzeitig mit dem sozialen Fortschritt und der Verbesserung von Produktion, Wissenschaft und Technik“ die Fähigkeit des Menschen zunehme, die „Umwelt zu verbessern“43. Die Notwendigkeit zum Kurswechsel war erkannt, die postulierten Konsequenzen fielen gemäßigt aus. Das änderte sich mit dem durchdringenden Appell, der 1972 mit der vom Club of Rome präsentierten Studie „Die Grenzen des Wachstums“ erfolgte, die Ölkrise des Jahres 1973 verschärfte das Krisenbewusstsein weiter. Der auf einer innovativen Computersimulation basierende Report über „Die Grenzen des Wachstums“ erschreckte eine breite Öffentlichkeit. Erstmals wurde auf wissenschaftlicher Grundlage die Wachstumsentwicklung auf der Erde in einem begrenzten zeitlichen Horizont signifikant beschrieben44. Das pointierte Ergebnis: Bei einer gleichbleibenden Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen auf der Erde wäre in einer Frist von 100 Jahren der „Zusammenbruch“ des Weltsystems erreicht und die Menschheit auf eine „kümmerliche Existenzform“ zurückgefallen45. Komponenten wie Rohstoffverbrauch, Umweltverschmutzung, Industrieproduktion, Geburten– und Sterberate sowie der medizinischen Versorgung trügen, so der Bericht, in ihrer gegenseitigen Beeinflussung zu einer dramatischen Beschleunigung der Fehlentwicklungen 41 Weinzierl / Deutscher Naturschutzring, Natur ; Borgstrom, Planet; White, Ursprünge; Lohmann, Zukunft; Der Spiegel, Umwelt; auch die Gründung von Greenpeace 1971 steht in diesem Zusammenhang. In Washington wurde 1970 als landesweite Massenveranstaltung der erste „Earth Day“ begangen. Vgl. dazu die Zusammenstellung von Daten zur „ökologischen Revolution“ um 1970 bei Radkau, Ära, 124–133. 42 Nicholson, Revolution, zit. bei Radkau, Ära, 134. Nicholsons Titel lautet „Environmental Revolution“, der Revolutionsbegriff wird im Sinne einer „ökologischen Revolution“ auch von anderen Autoren um 1970 aufgenommen; vgl. dazu Radkau, Ära, 134–137. 43 UN Umweltkonferenz Stockholm, 1972, Deklaration, 4. 44 Vgl. Meadows, Grenzen, zur Modellanordnung bes. 12–17. 45 Ebd., 110–115.
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bei („exponentieller Wachstum“). Die Katastrophe konnte nach Überzeugung der Autoren noch abgewendet werden, das stellte aber eine „gewaltige Aufgabe“ dar. Wollte man die bewältigen, würde das die „Erfindungsgabe, Anpassungsfähigkeit und Selbstdisziplin der Menschheit“ auf eine „harte Probe“ stellen46. Die Wissenschaftler resümierten, dass es dafür einer grundsätzlichen Änderung der Wert– und Zielvorstellungen auf der globalen Ebene bedürfe, d. h. erfordert sei „eine geistige Umwälzung kopernikanischen Ausmaßes für die Umsetzung unserer Vorstellungen in praktische Handlungen“47. Die geforderten Bemühungen und Anstrengungen in der Forschung und in der Praxis müssten sowohl die Welt, die verändert werden soll, als auch den Menschen selbst, seine Ziele und seine Wertvorstellungen einbeziehen48. Insofern war der Club-of-Rome-Bericht an einem umfassenden Neuansatz menschlichen Lebens auf der Erde orientiert. Der Bericht ist unter anderem wegen vermeintlicher malthusianischer und auch apokalyptischer Tendenzen nicht ohne Kritik geblieben49, er hat aber, zumal im Zusammenspiel mit weiteren prognostischen Publikationen jener Zeit50, im Hinblick auf den Zustand der Erde als akutes Warnsignal gewirkt. Dessen bedurfte es, um bei dem am Ende der 1960er Jahre in beschriebener Weise sensibilisierten Protestantismus ein grundsätzliches Umdenken in Bezug auf den Ressourcenverbrauch, Umweltbelastung und globale Gerechtigkeit in großem Stil auszulösen. Davon war ganz unmittelbar auch die Einstellungsdisposition zur Konsumgesellschaft berührt. Wenn man die evangelische Publizistik des Jahres 1972 und 1973 heranzieht, lässt sich ermessen, welchen dramatischen Schockzustand diese Zukunftsprognosen speziell im Protestantismus ausgelöst hatten. In der Wahrnehmung protestantisch geprägter Gesellschaftskreise und evangelischer Kirchenchristen befand man sich in einer akuten Krisenzeit, die einen existentiellen Wendepunkt markierte, für einige haftete der Krise etwas Letztgültiges an51. In kürzester Zeit kam es zu einer Neubewertung der Konsumgesellschaft. Das reflektiert sich in der evangelischen Publizistik jener Phase. Wir werfen nachfolgend einen Blick auf eine Auswahl von publizistischen Beiträgen der Jahre 1972/73. Nach der Veröffentlichung des Reports über „Die Grenzen des Wachstums“ wird eine öffentliche Reflexion über die Verursacher der Krise, damit auch über die Konsumgesellschaft erstmals publizistisch greifbar. Die berücksichtigten Artikel stehen jeweils exemplarisch für eine bestimmte inhaltliche Orientierung. Wir fassen die gesichteten Beiträge in 46 47 48 49
Ebd., 153. Ebd., 175. Ebd., 176. Vgl. dazu die Zusammenstellung von Reaktionen bei Oltmans, Grenzen; ferner auch Skrimshire, Ethics; Uekçtter, Untergang. 50 Die Prognosen von H. Kahn und A.J. Wiener gingen in die gleiche Richtung; vgl. Kahn / Wiener, Voraussagen. 51 Vgl. dazu grundlegend Koselleck, Krise, 619, 626.
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Themenfeldern zusammen und wollen jedes Themenfeld als einen bestimmten Typus der Krisenreaktion deuten. Die Beispieltexte entstammen mehrheitlich den „Evangelischen Kommentaren“, lassen sich mit ähnlichem Profil ganz genauso in den anderen oben genannten Organen der evangelischen Publizistik finden52. Eine Durchsicht der einschlägigen Artikel erlaubt es, insgesamt vier Typen der Krisenreaktion voneinander abzuheben: Krisenreaktionsmuster I: Pessimismus und Untergangsszenarien Sigurd Martin Daecke überschrieb sein zeitdiagnostisches Krisenszenario mit „Fortschritt rückwärts“. Es handelte sich um eine kulturpessimistische Abrechnung mit der zurückliegenden Fortschrittsgläubigkeit. Die Zukunft schien nicht nur Daecke, sondern auch anderen Verfassern „so dunkel wie lange nicht mehr“53. Rudolf Schaefer erkannte in der damaligen Weltlage einen „Fortschritt ins Verderben“54. Das Wirtschaftswunder der 1960er Jahre wurde von der Mehrheit der Autoren jetzt als Ursache einer einfältigen Fortschrittsgläubigkeit gebrandmarkt. Als Leidtragende der Konsumgesellschaft machte man in besonderer Weise die Umwelt aus, „das Schlaraffenland ist vergiftet, das goldene Zeitalter schwarz geworden im Smog der Abgase“55. Die Situation kann sogar noch düsterer gezeichnet werden, wenn apokalyptische Vorstellungen für die Gegenwartsdeutung bemüht werden. Das später populär gewordene Gedicht „Die letzten Tage der Schöpfung“ von Jörg Zink ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Das Schöpfungsgeschehen der sieben Tage wird hier in Umkehrung der biblischen Entwicklung dargestellt. Vom ersten Tag mit dem Entschluss des Menschen frei zu sein und seine Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, stirbt mit jedem neuen Tag ein Schöpfungselement mehr, erst die Fische, dann das Gras, dann die Menschen, am sechsten Tag geht das Licht aus und „Am siebenten Tag war Ruhe. Endlich“56. Der Krisenbefund wurde nicht von vielen Zeitdiagnostikern so zielstrebig in Richtung Untergang prolongiert, wie in dem zuletzt genannten Beispiel. Der evangelische Publizist Hans Norbert Janowski wies der Studie „Grenzen des 52 Die Hinwendung des Protestantismus zu den gesellschaftspolitischen und kulturellen Diskursen im Schnittfeld von Wissenschaft und laikaler sowie pastoraler Kirchlichkeit markieren die Evangelischen Kommentare, die für den Untersuchungszeitraum systematisch ausgewertet wurden: 1 (1968) – 8 (1975); fernerhin Prsidium des Deutschen evangelischen Kirchentags, Dokumente 1963, 1965, 1967, 1969, 1973; und die Zeitschrift fìr Evangelische Ethik 4 (1960) – 16 (1970), die allerdings zu unserer Themenstellung kaum Einschlägiges berücksichtigt. Punktuell ist zudem die Junge Kirche 21 (1960) – 33 (1972) ausgewertet worden. 53 Daecke, Fortschritt. 54 Schaefer, Fortschritt. 55 Daecke, Fortschritt. 56 Zink, Tage.
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Wachstums“ eine Wirkung wie die der Apokalypse zu, allerdings nach seiner Auffassung mit umgekehrten Vorzeichen: Zwar böte die Prognostik der Studie einen „Fahrplan zur Endzeit“, doch ungeachtet aller damit verbundenen „Fatalisierung des historischen Bewußtseins und der praktischen Vernunft“ will Janowski daraus einen Appell ableiten, moralische und politische Reserven für eine „zukunftsgestaltende Dynamik“ zu gewinnen57. Grover Foley, der barthianisch geprägte amerikanischer Theologe, beteiligte sich am deutschen Diskurs und diagnostizierte ein „verrückte[s] Zutreiben auf die Selbstvernichtung“. Er sah die Menschen der Industrienationen mit einer „promethischen und zugleich nihilistischen Selbstüberhebung“ auf einem dem Untergang geweihten Weg. Gleichwohl bleibe für die gedemütigten Christen das Vertrauen, denn der Christ hoffe, wo nichts zu hoffen ist (Bultmann)58. Insgesamt lässt sich resümieren, dass der Club-of-Rome-Bericht und das von ihm im Verbund mit anderen zeitdiagnostischen und prognostischen Publikationen auf den Protestantismus einen tiefen Eindruck gemacht hatte. Die daraus hervorgehende Reaktion manifestiert sich in einer pessimistischen Einschätzung der Gegenwart. Dabei können Untergangsszenarien eine Rolle spielen. Allerdings bestand mehrheitlich die Hoffnung, einen apokalyptischen Ausgang durch ein grundlegendes Umdenken noch verhindern zu können. Krisenreaktionsmuster II: Ethik als Aufgabe Insbesondere Teilnehmer der Debatte mit einem wissenschaftlichen Hintergrund verbanden den deprimierenden Krisenbefund mit einer fundamentalen Wissenschaftskritik und dem Appell für eine umfassende Neuorientierung. Der Heidelberger Religionsphilosoph Georg Picht machte im traditionellen Wissenschaftsbetrieb einen „Kreislauf der Verblendung aus“, die ökologische Krise reflektiere die „Physiognomie der analytischen Wissenschaft“, die zur Destruktion der Welt führe59. An anderer Stelle forderte derselbe Autor eine grundlegende Neuorientierung in der Wissenschaft: „neue Überzeugungen“ seien gefragt, die der „Wechselwirkung zwischen Wachstum und Werten Rechnung“ trügen60. Hans-Georg Gadamer attestierte den gesellschaftlichen Trägerschichten mit Blick auf die vorliegenden Ergebnisse des Club of Rome eine „emanzipatorische Utopie“, die im hypertrophen Wahn eines unbeschränkten Machenkönnens seinen Ausdruck fände61. Diese pointierte Wissenschaftskritik blieb nicht in jedem Fall beim Format einer diagnostischen Momentaufnahme, sondern konnte im Einzelfall weiter 57 58 59 60 61
Janowski, Ende. Foley, Kirche, 418. Picht, Demontage. Picht, Überzeugungen. Gadamer, Wissenschaft, 587.
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gehende Folgerungen ziehen. In diesen Fällen wurde angesichts der als bedrohlich wahrgenommen Krise und der belasteten Naturressourcen eine Selbstreflexion über eine verantwortbare christliche Lebensführung unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft eingefordert. Die Profilierung der evangelischen Ethik wird als die vorrangig gebotene Aufgabe der Zukunft erkannt. Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Janowski zu bewerten. Die industrielle Gesellschaft habe, so schrieb er, durch eine stetige Produktionssteigerung einen Konsumzwang freigesetzt und Raubbau an der Natur betrieben. Das führte zu einer „lebensgefährlichen Bedrohung der zukünftigen Entwicklung“. Gefordert wird vor diesem Hintergrund eine „Revolution des Denkens“62. Diese Revolution verstanden der Verfasser und andere Publizisten aus dem evangelischen Wissenschaftsmilieu als eine radikale ethische Neuorientierung. Man erkannte die Ethik in einer akuten „Verlegenheit“ und postulierte nachhaltig deren Überwindung63. Der diskursfreudige evangelische Systematiker und Sozialethiker Wolf–Dieter Marsch forderte eine „Ethik der Selbstbegrenzung“64. Den Kirchen wurde bei der „anstehenden ethischen Orientierungssuche“65 eine wichtige Aufgabe zugewiesen. Es steht außer Frage, dass die aus der Massenkonsumgesellschaft der 1960er Jahre abgeleiteten fatalen Konsequenzen für die Umwelt und für die Lebensqualität der Weltbevölkerung innerhalb der protestantischen Community eine ethische Neuorientierung erwirkt hatten. Vor dem Hintergrund der deutschen Philosophie– und Theologiegeschichte war das eine plausible Reaktion. Denn während die angelsächsische Welt in der Wissenschaftstradition eines Francis Bacon auf der Basis eines empirischen Rationalismus die aktuellen Begrenzungen des Weltsystems nicht nur empirisch erst darstellbar gemacht hatte, sondern auch deren Bewältigung vorrangig als naturwissenschaftlich–pragmatische Herausforderung begriff und anging, reagierte das deutsche Wissenschaftsmilieu äußerst pointiert auf dem ethischen Feld. Der hier zu erarbeitende neue metatheoretische Rahmen war als eine Ethik avisiert, von der sich pragmatische Gesellschaftssegmente wie Produktion, Lebensstil und Konsum zukünftig würden verantwortbar deduzieren lassen. In diesen Zusammenhang fügen sich Artikel, wie der von Günther Altner sinnfällig ein, der 1973 „Erwägungen zu einer christlichen Umweltethik“ anstellte66. Wie ernst man den ethischen Aufbruch zu Beginn der 1970er Jahre verstand, zeigte die nahezu synchron vorgenommene kircheninstitutionelle Verfestigung. So wurde beispielsweise 1973 der erste „Beauftragte für Umweltschutz“ bei der
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Janowski, Revolution. Bçhme, Verlegenheit, 392. Marsch, Ethik. Janowski, Revolution Altner, Erwägungen,
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EKD installiert, ein Schritt, der publizistisch als konsequente Umsetzung der neuen Werte gefeiert werden konnte67. Krisenreaktionsmuster III: Überwindung der Konsumgesellschaft Ein drittes erkennbares Reaktionsmuster stellen jene Beiträge dar, die weniger eine reflexive Modifikation christlichen Denkens anstrebten, sondern explizit die Überwindung der Konsumgesellschaft proklamierten und an deren Stelle eine konkrete Alternative präferierten. Die Alternativen können unterschiedlich ausfallen, sie haben indes ihren gemeinsamen Ansatzpunkt in dem Motto: Qualität statt Quantität. Beispielsweise wusste der Physiker Heinz Busch die Welt „Am Ende des industriellen Zeitalters“ und folgerte: „Der Massenkonsum wird dem Qualitätsbedürfnis weichen“68. Die quantitative Reduktion der Produktionsprozesse zugunsten einer qualitativen Verbesserung der Produkte, „Klasse statt Masse“, und entsprechend neu ausgerichtetes Konsumverhalten, das sich von der Qualität der Produkte leiten lässt, scheint in dieser Phase, so unser Befund, für viele evangelische Stimmen eine Zukunftsperspektive darzustellen. Dafür werden, wie wir noch sehen werden, im Einzelnen theologische, politische oder ethische Begründungen angeboten. Krisenreaktionsmuster IV: Ökumene Der publizistische Beitrag des Tübinger Theologen Jürgen Moltmann „Gemeinschaft in einer geteilten Welt“ fällt exemplarisch für den vierten Typus von evangelischen Antworten auf die wahrgenommene Krise aus. Programmatisch heißt es im Untertitel: „Ökumene als Antwort auf den Schock der Zukunft“69. Auch andere Autoren erkennen in der globalisierenden Ökumene–Perspektive die Hoffnung auf eine Problemlösung begründet. Die Krisenstimmung wurde hier genutzt, um die ökumenische Bewegung mit Nachdruck in den Kontext globaler Gerechtigkeit einzutragen. Hier setzten sich Entwicklungen der 1960er Jahre fort. In dieser prekären Situation wird der hohe Stellenwert deutlich, den die ökumenische Bewegung und die kirchlichen Entwicklungshilfediskussionen, gekoppelt mit der sich vor 1970 ausbildenden ethischen Handlungsorientierung, gewonnen hatten. Der ökumenische Gedanke wurde nunmehr zum Vehikel einer Abkehr von der Konsumgesellschaft und leitete deren Überwindung ein. Im Unterschied zu jenen Stimmen, die sich bemühten, die konsumorientierte Wohlstandsgesellschaft
67 Marsch, Ethik, 18. 68 Busch, Ende, 457. 69 Moltmann, Gemeinschaft.
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durch Anstrengungen im nationalen Kontext zu überwinden, setzt dieser Ansatz auf eine christliche weltumspannende Perspektive.
4. Verhaltenstransformationen in den 1970er Jahren Die Beobachtungen an ausgewählten Beispielen der evangelischen Publizistik geben im Zusammenhang mit der krisendiagnostischen Literatur 1972 und der sich anschließenden Erdölkrise von 1973 eine signifikante Abkehr von einer eher unbedarften Einstellung zum Massenkonsumverhalten der 1960er Jahre zu erkennen. Die vier Reaktionsmuster markieren jeweils eine spezifische Weise, auf die Krise zu reagieren. Es bleibt zu prüfen, welche Halbwertszeit diesen Reaktionsmustern zukam : Verflüchtigten sie sich mit der Gewöhnung an das proklamierte Bedrohungsszenario oder evozierten sie Transformationsprozesse, in deren Verlauf sich im Zuge der 1970er Jahre im Protestantismus neue Einstellungsdispositionen zum Konsum entwickelten. Eine grundlegende Beantwortung dieser Frage setzt eine differenzierte Untersuchung voraus, die zu unternehmen im Kontext der aufbrechenden kirchengeschichtlichen und sozialethischen Forschungen zu den 1970er Jahren ein lohnenswertes Unternehmen zu sein scheint. Im Zuge unserer Betrachtungen müssen wir uns einstweilen mit einigen wenigen Beobachtungen begnügen. Aus denen ergibt sich unzweifelhaft, dass die krisenbedingten Reaktionsmuster nach dem hypertrophen ,Konsumrausch‘ der 1960er Jahre zu Beginn des neuen Jahrzehnts einen Einstellungswandel herbeiführten, der weit über die Zäsur von 1972/ 73 hinaus Bedeutung behielt und den Protestantismus in seinen kirchlichen, kulturellen und wissenschaftsbezogenen Präsentationsformen nachhaltig veränderte. 4.1 Verblassende Bedrohungsszenarien Das gilt noch am wenigsten für das von uns ausgemachte Reaktionsmuster I. Bedrohungsszenarien mit Anleihen aus dem Bereich der Apokalyptik sind freilich im Protestantismus nicht genuin an das Jahr 1972 gebunden. Vielmehr handelt es sich dabei um ein traditionelles krisenaffines Deutungsmuster, das beispielsweise schon der reformatorischen Propaganda zur Diffamierung des Papsttums diente und seither mehr oder weniger regelmäßig in akuten Bedrohungssituationen des Protestantismus neu thematisiert wurde, wenngleich, wenn wir recht sehen, noch nie zuvor mit einer so dichten empirischen Indizienkette wie im Fall des Berichts vom Club of Rome. Indes: So wie bei anderen Beispielen aus der Vergangenheit wurden diese Untergangsszenarien mit Abnehmen der situativen Dramatik marginalisiert, bis sie von neuen
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tagespolitischen Themen überlagert und verdrängt wurden oder die aufkommende Reformdynamik sie schlicht absorbierte. 4.2 Ethische Neuorientierung Der im zweiten Reaktionsmuster ausgemachte laute Ruf nach einer ethischen Neuorientierung verhallte indes nicht. Die dramatischen Folgen, die in der Wahrnehmung der Zeitgenossen die konsumorientierte Wohlstandsgesellschaft hervorgerufen hatte, setzten ein hohes ethisches Reflexionsniveau frei. Es erwies sich nachdrücklich, dass die Sozialethik kein transhistorisches Ordnungsmodell kennt, auf keine sozialmetaphysischen Leitvorstellung verpflichtet ist, sondern vielmehr aufs Engste mit den historischen, insbesondere mit den sozialgeschichtlichen Kontexten verschränkt ist. Die Sozialethik erfuhr seit Mitte der 1970er Jahre in Folge der entwicklungspolitischen und ökologischen Impulse der 1960er Jahre und in produktiver Auseinandersetzung mit den sozialkulturellen Debatten über die Massenkonsumgesellschaft einen nachhaltigen Aufschwung an den theologischen Fakultäten und in den Kirchen. Die 1970er Jahre markieren einen wirkmächtigen Abschnitt in der Geschichte der ethischen Debatten in der BRD70. Den krisenbedingten Einstellungswandel zur Konsumgesellschaft kennzeichnete einerseits eine anthropologische Perspektive, indem angemessene Verhaltensmaßregeln für die Konsumgesellschaft im Kontext neuer theologischer Entwürfe reflektiert wurden. Hier rückten aus christlicher Perspektive Fragen nach einem angemessenen Lebensstil, dazu Arbeit und Freizeit, das Konsumverhalten und die politische Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen auf die Agenda. Eng damit verknüpft erwies sich seit den frühen 1970er Jahren, resultierend aus einer nunmehr präsenten ökologischen Sensibilität, ein neues Verständnis der Natur, das jetzt als „Mitgeschöpf“ wahrgenommen werden konnte71. Versäumnisse im Umgang mit der Natur wurden festgestellt, neue Verfahrensregeln schöpfungstheologisch reflektiert und ethisch formuliert. Der Mensch wurde in jüdisch–christlicher Tradition im Sinne des „Bebauen und Bewahren“ (Gen 2,15) als „Gärtner“ begriffen, der an Gottes Stelle die Natur haushalterisch bewirtschafte. Dabei rückten eine „partner70 Im Zusammenhang mit dem zuletzt stark gewordenen Forschungsinteresse an der jüngsten westdeutschen Ethikgeschichte (v. a. durch die Forschergruppe „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik 1945–1990, Göttingen und München) dürfte dieser hier behandelten Phase besondere Bedeutung zufallen. Beispielweise die Frage nach der Individualisierung der deutschen Gesellschaft sowie analytische Rückbezüge auf die bundesrepublikanische Gesellschaft anhand der ethischen Debatten könnten sich insbesondere in Bezug auf die 1970er Jahre als besonders ertragreich erweisen. Möglicherweise kann sich der Zeitraum als strukturgebende Transformationszeit zwischen der Nachkriegszeit und dem gegenwärtigen Design des Faches Ethik erweisen. 71 De Graaf, Imperativ.
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schaftliche Kooperation mit der Natur“ oder bald auch die „Bewahrung der Schöpfung“ als Zielvorstellung in den Vordergrund72. Diese naturbezogenen ethischen Vorstellungen standen in einem engen Zusammenhang mit einer sich rasant ausbreitenden Wirtschaftskritik und der Kritik an der Kernenergie. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass die sozialen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre, die sich gegen AKWs, Umweltverschmutzung und Wegwerfgesellschaft richteten, von hier aus inspiriert wurden. 4.3 Qualität statt Quantität Das im Zusammenhang mit der Krisendiagnostik zu Beginn der 1970er Jahre publizistisch in verschiedenen Diskussionszusammenhängen wörtlich oder sinngemäß vorgebrachte Motto „Qualität statt Quantität“ reagierte auf die ungebremste Massenproduktion von Konsumgütern, wie diese sich im Laufe der 1960er Jahre ausgebildet hatte. Das Motto bot den gemeinsamen Nenner in einem ganzen Spektrum von politischen Vorstellungen, theologischen Ansätzen und lebenspraktischen Entwürfen, die das hierin berührte Thema in den 1970er Jahren aufnahmen und jeweils spezifisch modellierten. Werfen wir zunächst einen Blick auf ein politisches Programm, von dessen Realisierung man sich mehr Lebensqualität erhoffte. Die 1960er Jahre führten in der westdeutschen Gesellschaft, wie wir feststellten, zu einer umfassenden Politisierung. Die krisendiagnostischen Analysen fokussierten zunehmend die sozialen und politischen Verhältnisse in den Industriestaaten. Unter dem Einfluss der Studentenbewegung wurde durch Anleihen bei der marxistischen Theorie die bürgerliche Gesellschaft als Klassengesellschaft gekennzeichnet, die durch vielzählige Besitz– und Machtprivilegien stigmatisiert schien. In Deutschland war es vor allem der Kreis, der sich um den Berliner Theologieprofessor Helmut Gollwitzer formierte, der aus christlicher Motivation kritische Analysen der kapitalistischen Gesellschaften anstellte. Gollwitzer sah den Weg des kapitalistischen Wirtschaftssystems im globalen Kontext als einen zerstörerischen Prozess, als ziellos vorwärtsrasende „Revolution der entfesselten Destruktivkräfte“73. Sie führte nach seiner Überzeugung zu gobalen Verelendungsprozessen, zu denen auch der Massenkonsum der Industriestaaten als Verursacher maßgeblich beitrug74. Die sozialistische Entscheidung sollte im Sinne einer gesteigerten Lebensqualität zu einer Kontrolle des kapitalistischen Systems und zu dessen Überwindung führen. In Abgrenzung vom sowjetischen Sozialismusmodell war Gollwitzers Ansatz un-
72 Vgl. dazu Anselm, Bewahrung. 73 Gollwitzer, Revolution, 125. 74 Gollwitzer, Christ.
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dogmatischer, der postulierten sozialistischen Entscheidung fiel lediglich eine orientierungsgebende Funktion zu. Häufig fehlte es diesen christlich motivierten kapitalismuskritischen Ansätzen an einer substantiellen ökonomischen Durchdringung. Gleichwohl: Vor allem im studentischen Kontext und in den Kreisen der Evangelischen Sudentengemeinden haben sie eine gewisse Wirkung erzielt75. In einer späteren Phase sind sie zu einem gewissen Teil von der damals reformfreudigen Sozialdemokratie absorbiert worden. Erhard Eppler (SPD), württembergischer Protestant und zwischen 1968 und 1974 Bonner Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, nahm den Impuls des Club of Rome entschieden auf. Er forderte in zahlreichen Publikationen eine „Denkrevolution“, von der Fixierung auf den Lebensstandard der Konsumgesellschaft hin zu mehr Lebensqualität in einer humanen Gesellschaft76. Eppler war bemüht, die Konturen dieses neuen Wertesystems für das tagespolitische Geschäft zu entwerfen. Dabei erwies er sich als Pragmatiker und analysierte das politische Handeln seiner Zeit unter der Prämisse der „Machbarkeit des Notwendigen“77. Eppler hat auf das kirchliche Denken in den 1970er Jahren einen starken Einfluss ausgeübt. Es gehört mit zu seinen Verdiensten, im evangelischen Umfeld ein Problembewusstsein für die globalen Zusammenhänge bei der massenhaften Produktion von Konsumartikeln zwischen den nördlichen Industrieländern mit den Entwicklungshilfeländern der südlichen Halbkugel geschaffen zu haben. Das 1974 erschienene und viel gelesene Buch des Religionsphilosophen Erich Fromm „Haben oder Sein“ markiert einen dritten einflussreichen Versuch, das ungezügelte Konsumstreben westlicher Gesellschaften durch Reduktion und eine veränderte Einstellung zu dem, was Menschen als ihr Eigentum erstreben, mehr Tiefe zu vermitteln. Das Buch zielte ab auf eine Überwindung der am Haben orientierten Konsumgesellschaft, indem es die „seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ entwarf78. Auf der Basis eines normativen Humanismus argumentierend, hielt Fromm die beiden im Menschen angelegten Möglichkeiten des Habens und des Seins für veränderbar. Die „Existenzweise des Habens“ sah er auf den Säulen Privateigentum, Profit und Macht stehend, der Eigentum werde zum identitätsstiftenden Merkmal, im Haben generiere der Mensch eine leblose Beziehung zu seinen Eigentumsobjekten79. Die „Existenzweise des Seins“ hingegen verzichte auf die trügerische Sicherheit des Eigentums und setze auf den produktiven Gebrauch der menschlichen Kräfte, die ganz im Hier und Jetzt entfaltet werden und dabei sich nicht auf Erreichtes fixieren, sondern für das Kommende völ75 76 77 78 79
Vgl. dazu Linck, Flugzeugentführung. Eppler, Maßstäbe. Eppler, Ende, dort Untertitel. Fromm, Haben. Vgl. dazu und zum Folgenden, Fromm, Haben, 73–126.
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lig offen bleiben. Hier setzten seine Forderungen zu einer Umorientierung zu einem gehaltvollen Leben an. Die von ihm entworfene „neue Gesellschaft“ solle einen „neuen Menschen“ hervorbringen, der die Haben–Mentalität überwindet und Lebenssinn aus sich selbst heraus generiert. Fromm, gebürtiger Jude, bezog sich dabei sowohl auf das Alte wie auf das Neue Testament als einen „Protest an einem am Haben orientierten Leben“80. In den 1970er Jahren hat Fromms Bestseller insbesondere auf ein humanistisch orientiertes Christentum starken Einfluss ausgeübt. Die Fehlleistungen der Konsumgesellschaft wurden seit Mitte der 1970er Jahre in Modellen alternativer Lebensgestaltung zu überwinden versucht. Weite Teile der deutschen Gesellschaft emanzipierten sich von überlieferten Lebensordnungen der Nachkriegsgesellschaft und drangen auf die Wahrnehmung von Lebenschancen im Zeichen einer kulturellen, politischen und ökonomischen Modernität. Im Rückgriff auf die Protestkultur der Studentenbewegung gewannen kollektive Sozialformen wie Bürgerinitiativen, Wohnkollektive und Produktions– und Handwerkergemeinschaften als Gegenmodelle zur Wachstumsideologie der Konsumgesellschaft eine große Bedeutung81. Die religiösen Alternativ–Bewegungen nahmen Impulse fernöstlicher Religionen auf, im Bereich der evangelischen Kirche erhielten sie eine dezidiert konsumkritische Note durch die Betonung einer transmateriellen Sinnhaftigkeit sowie durch ein globales Gerechtigkeitsdenken, wie es insbesondere von der ökumenischen Bewegung vertreten wurde82. In diesem Zusammenhang gewannen auch die Taiz¦–Bewegung mit ihrem radikalen Verzicht auf materielle Sicherungen und Bindungen in der Bruderschaft und die Ökumenische Initiative Eine Welt, die sich seit 1976 für eine geschwisterliche Weltgemeinschaft mit einer umweltverträglichen Lebensweise engagierte, an Bedeutung. Auch Evangelikale beider Konfessionen wie die „Offensive Junger Christen“ sahen hier eine Möglichkeit, ein fundamentalistisches Glaubensverständnis direkt in das wirkliche Leben umzusetzen. In der baptistischen Jugendarbeit rückte in den späten 1970er Jahren nach dem Motto „Der Tropfen auf den heißen Stein … kann der Anfang eines Regens sein“ der alternative Lebensstil ganz nach oben auf der Agenda favorisierter Themen und wurde in freizeitpädagogischen Unternehmungen erarbeitet und sogar eingeübt83. Die evangelikale Richtung im Protestantismus erhielt durch die Lebensstilorientierung eine ungewohnt politische Ausrichtung. Denn die biblisch fundierten Begründungen für einen kritischen Konsumverzicht berührten wirtschaftspolitische Fragen einer globalen Verteilungsgerechtigkeit und hatten darin durchgehend politische Implikationen84. 80 81 82 83 84
Ebd. 59, zum Ganzen 55–64. Vgl. dazu Hollstein, Gegengesellschaft; und auch Mìller, Sozialstruktur. Vgl. Mildenberger, Revolte. Weidner, Lebensstil, Zitat programmatisch auf der Titelseite. Beispielsweise veranstaltete das Gemeindejugendwerk Norddeutschland des Bundes Ev.–Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland im Sommer 1977 eine Sommerfreizeit für Jugendliche in
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4.4 Globales Gerechtigkeitsdenken Die Kritik an den westlichen Wachstums– und Konsumgesellschaften bestärkte schließlich auch die ökumenische Bewegung in den 1970er Jahren. Insbesondere die weltumspannende Perspektive des ÖRK wurde als Alternative zu jenem engen kirchlichen Milieu begriffen, in dem sich das kirchliche Leben in der Zeit bis zum Beginn der 1970er Jahre bewegt hatte und das man als einen Grund für jene Ignoranz ausgemacht hatte, mit der die Kirchen der westlichen Welt in die Krise geraten waren. Globales Gerechtigkeitsdenken, wie es sich in besonderer Weise im beharrlichen Wirken des ÖRK seit 1972 unter seinem Generalsekretär Philip Potter im Sinne der Antiapartheidpolitik manifestierte, fand den Weg in die Kirchen der Welt85. Auch in den deutschen protestantischen Kirchen wurde nunmehr die Ökumene, nicht immer konfliktfrei86, als ein Medium der politischen Veränderung entdeckt. Das Paradigma der „Entwicklung“ fand jetzt im Begriff der „Befreiung“ einen neuen programmatischen Ausdruck87. Vor allem die lateinamerikanische Befreiungstheologie gehört in diesen Zusammenhang. Im Bereich der EKD fanden befreiungstheologische Ansätze bei ökumenisch und sozialpolitisch engagierten Aktionsgruppen, oft zur sogenannten Dritten Welt, ein Echo88.
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Limmernäs/Schweden mit dem Thema „Neuer Lebensstil“. Die Zielprojektion der Tagung lautete aus Sicht des verantwortlichen Leiters: „Dabei geht es sowohl um Fragen wie Umweltprobleme, Ökologie (schönes Fremdwort!) und 3. Welt als auch um die Frage, was Jesus aus unserem Leben machen kann und wie er unser Leben gestalten will“, (Archiv Lehrstuhl Kirchengeschichte II, Kloke, Vorbereitungsschreiben, 19. 7. 1977). Der Gedanke einer weltumspannenden Christengemeinschaft zum Zwecke der Herausbildung gerechter politischer Strukturen aus der Perspektive der „Unterdrückten“ und „Unterprivilegierten“ hatte durch die Weltkirchenkonferenz des ÖRK in Uppsala 1968 mit ihren zugespitzten geschichtstheologischen Entwürfen (Antirassismusprogramm, gerechte Weltwirtschaft, kirchlicher Entwicklungsdienst) bereits einen nachhaltigen Impuls erhalten, vgl. Frieling, Weg, 182 f. Vgl. Widmann, Wandel. Ziel war die Überwindung der Abhängigkeitsverhältnisse der Länder des Südens von den Ökonomien der Industrieländer; vgl. dazu Gutierrez, Theologie, bes. 22–35. Entsprechende wirtschaftswissenschaftliche Modelle, insbesondere das der Dissoziation, verstärkten die theologischen und politischen Bemühungen; vgl. Senghaas, Weltwirtschaftsordnung; vgl. dazu insgesamt Strìmpfel, Hoffnung. Die sogenannten Dritte-Welt-Kreise um das Politische Nachtgebet mit Dorothee Sölle, der Kreis um Jürgen Moltmann und diverse Studienleiter evangelischer Akademien leisteten diesbezüglich eine gewisse Vermittlung; vgl. Frieling, Aufbrüche, 187.
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5. Seitenblick: Katholische Analogien Die Positionierung der katholischen Kirche in Deutschland gegenüber der Konsumgesellschaft hatte mit der katholischen Soziallehre und der Tradition der lehramtlichen Verlautbarungen eigene Voraussetzungen. Gleichwohl lassen sich ganz ähnliche Abläufe wie auf evangelischer Seite erkennen. Das Zweite Vatikanische Konzil 1962–1965 bot erstmals eine positive Würdigung des Wohlstands und des Fortschritts (Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, 1965). Im Gegensatz zu der von gesellschaftlichen Bezügen abstrahierenden Materialismuskritik bei Pius XII. zeigt der Konzilstext Ansätze einer historischen Betrachtungsweise und ist bestrebt, die Wirklichkeit der Welt in ihrer Eigenständigkeit anzuerkennen89. Das Konzil ging von einer positiven Würdigung von Fortschritt und Wohlstand aus, die verbesserten Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung wurden gewürdigt. Im Umgang mit dem Wohlstand war indes von „ersten Enttäuschungen“ die Rede. Gemeint waren selbstschädigende Wirkungen, die der Missbrauch des Wohlstands nach sich zieht. Zu Beginn der 1970er Jahre standen auch auf katholischer Seite die Zeichen auf einen Wandel. Wie auch auf evangelischer Seite rückt auch in der römischen Kirche der Gedanke globaler Gerechtigkeit in den Vordergrund. Die Weltbischofskonferenz in Rom leitete 1971 mit der Verlautbarung De iustitia in mundo einen Umschwung ein90 : zur Überwindung der ungerechten Verteilung des Reichtums in der Welt wurden politisches Engagement, Konsumverzicht der Reichen und sogar alternative Lebensformen angemahnt. Die 1970er Jahre brachten eine weitere Profilierung der Konsumkritik. In den Lehrtexten aus dem Pontifikat von Johannes Paul II. ab 1978 wurde die „Konsumgesellschaft“ (sic!) nicht mit dogmatischen, sondern historischen Gründen kritisiert und der Aspekt der Lebensqualität wurde – ganz analog zum Protestantismus – gegenüber materieller Quantität stark gemacht91. Der polnische Papst greift auf die von Fromm popularisierten Kategorien von Haben oder Sein zurück. Er beschreibt Fehlformen des Habens in den Überflussgesellschaften, und auch der Papst erkannte als Fehlentwicklung ein ausbeuterisches Verhältnis zur Natur, aber auch zu Personen und Dingen. Am Ende kritisiert der Papst den Konsumismus als Missbrauch der menschlichen Freiheit. Die Abwendung von der Wohlstandsgesellschaft ist hier deutlich herauszulesen. Dritte-Welt-Initiativen und sogar z. T. befreiungstheologische Ansätze haben in der Folgezeit daran anknüpfen können. In diesen beiden Bewegungen treffen sich evangelische und katholische Christen, denn beide kon89 Vgl. dazu Rumbach–Thome, Konsumkritik, 92–101. 90 Ebd., 111–114. 91 Ebd., 115–134.
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fessionellen Lager haben hierin eine gemeinsame Schnittfläche. Diese Gemeinsamkeit resultierte aus einem für beide Kirchen geltenden Wertewandel in Bezug auf die Konsumgesellschaft.
Fazit Während der 1960er Jahre sind im Bereich der evangelischen Kirche nur wenige Hinweise auf eine distanzierte Haltung zur komsumfixierten Wohlstandsgesellschaft zu erkennen. Die Aufmerksamkeit der Kirche galt in sozialethischer Perspektive dem Bereich der Produktion, umsichtig hatte man die Arbeitswelt im Blick, die konsumtive Seite stand noch nicht im Fokus des Interesses. Die institutionelle Kirche war wegen des zeitweise hohen Kirchensteueraufkommens in die Lage versetzt, selbst die Rolle eines Akteurs der Konsumgesellschaft wahrnehmen zu können. Die an Bedeutung gewinnenden Arbeitsfelder der Ökumene und der Entwicklungspolitik bereiteten im Zusammenspiel mit einer zeitgleichen ,Ethisierung‘ des Protestantismus im kirchlichen Kontext einen Wertewandel gegenüber dem gesellschaftlichen Konsumverhalten vor. Die zeitdiagnostischen Bestandsaufnahmen zu Beginn der 1970er Jahre markieren eine harte Zäsur für die christlich geprägten Einstellungsdispositionen zur Konsumgesellschaft. Die kirchlichen Diskurse spiegeln eine dezidierte Entschlossenheit wieder, angesichts der fatalen Folgen für die Erde den leitmotivisch gesetzten gesellschaftlichen Konsum zu überwinden. Der sich vollziehende Wertewandel ist vielgestaltig und Teil eines umfassenden Pluralisierungsprozesses im Protestantismus. Theologische Konzepte zur Ökumene und zur politischen Theologie der 1970er Jahre gewinnen ihre Dynamik aus den neu entstehenden kritischen Einstellungsdispositionen zur Konsumgesellschaft. In der im Kanon der theologischen Disziplinen seit Mitte der 1970er Jahre an Bedeutung gewinnenden evangelischen Sozialethik entfaltet der Wertewandel zum Konsum seine nachhaltigste Wirkung. Der beschriebene Wertewandel in den protestantischen Einstellungsmustern zum gesellschaftlichen Konsumverhalten bereitet sich im entstehenden Massenkonsum der 1960er Jahren vor, vollzieht sich dann in voller Konsequenz zu Beginn der 1970er Jahre als Reaktion auf die alarmierende Zeitdiagnostik und entfaltet längerfristige Wirkungen in den 1970er Jahren. Insofern kann dem protestantischen Diskurs über die Konsumgesellschaft und dem damit verbundenen Wertewandel für die kirchliche Zeitgeschichte eine Brückenfunktion zwischen der Nachkriegszeit und der Reformperiode der 1970er und 80er Jahre in der Bundesrepublik beigemessen werden.
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Quellen– und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen und Darstellungen Archiv Lehrstuhl Kirchengeschichte II (Oelke), Universität München Bestand „Limmernäs / Schweden 1977“ – Vorbereitungsschreiben für Jugendfreizeit (hektografiert), 19. 7. 1977, Pastor Karl Friedrich Kloke / Gemeindejugendwerk Norddeutschland des Bundes Ev.–Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland Bestand „Wissenschaftliche Hausarbeiten“ Joas, Esther : In Zeiten der Krise. Protestantische Reaktionen auf die Club-of-RomeStudie „Die Grenzen des Wachstums“ (1972). Wiss. Hausarbeit (unveröffentlicht). München 2014 (angefertigt im Rahmen des kirchengeschichtlichen Hauptseminars „Christliche Konsumkritik in der Neuzeit“, Prof. H. Oelke, Universität München, Ev.–Theologische Fakultät, Sommersemester 2013).
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Altner, Günther: Erwägungen zu einer christlichen Umweltethik. In: Evangelische Kommentare 6 (1973), 584. Anselm, Reiner : Bewahrung der Schöpfung. Genese, Gehalt und gegenwärtige Bedeutung einer Programmformel in der Perspektive ethischer Theologie. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik 74 (2014), 227–236. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. Bedford–Strohm: Heinrich, Art. Wirtschaftsethik. In: Taschenlexikon Religion und Theologie5 3 (2008), Sp. 1270–1271. Bçhme, Gernot: Die Verlegenheit der Ethik. Das Leiden wird zur zentralen Kategorie. In: Evangelische Kommentare 5 (1972), 392–395. Borgstrom, Georg: Der hungrige Planet. Welternährung von der Krise zur Katastrophe? München 1967. Brakelmann, Günter / Jhnichen, Traugott (Hg.): Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. Gütersloh 1994. Busch, Heinz: Am Ende des industriellen Zeitalters. Der Massenkonsum wird dem Qualitätsbedürfnis weichen. In: Evangelische Kommentare 5 (1972), 457–460. Daecke, Sigurd: Fortschritt rückwärts. In: Evangelische Kommentare 5 (1972), 3. De Graaf, Hannes: Der ökologische Imperativ. In: Junge Kirche 34 (1973), 267. Der Spiegel: Vergiftete Umwelt, 24 (1970), H. 41, [Titel]. Eppler, Erhard: Maßstäbe für eine humane Gesellschaft: Lebensstandard oder Lebensqualität. Stuttgart u. a. 1974. –, Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen. Stuttgart u. a. 1975.
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Kapitel 3: Jugend
Siegfried Hermle
Einführung: Jugend und Jugendkultur
Die von Martin Greschat als „Jahrzehnt der Umbrüche“ charakterisierten 1960er Jahre zeitigten nicht nur gravierende Folgen auf der institutionellen Ebene, sondern zogen auch Wandlungen bei den gesellschaftlichen Gruppen bis in die Familien hinein nach sich1. In der Sektion 3 sollen Veränderungen in den Blick genommen werden, die Auswirkungen auf die Jugend bzw. auf die Arbeit der Kirche mit den Jugendlichen hatten. Hingewiesen sei auf einige Faktoren, die die Situation in den 1950er und 60er Jahren kennzeichneten und den Wandel beförderten: Im familiären Umfeld war beispielsweise die steigende Erwerbsquote von Ehefrauen von 19 % im Jahre 1950 auf beinahe 50 % bis 1970 ein wesentlicher Baustein für die Veränderungen2. Damit erfuhr das christlich-bürgerliche Weltbild der Frau als „Hüterin des Hauses“ eine tiefgreifende Revision. Diese Entwicklung hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen, deren Stellung in der Familie sich nachhaltig umgestaltete. Weiter ist bemerkenswert, dass zahlreiche Jugendliche zu Beginn der 1950er Jahre ohne Vater aufwuchsen – in Bremen beispielsweise waren 1947 5067 Schüler Halbwaisen, bei 1067 war der Vater vermisst, bei 3099 noch in Kriegsgefangenschaft und bei 2310 aus anderen Gründen nicht anwesend – und als die Väter dann bis Mitte der 1950er Jahre aus der Gefangenschaft zurückkehrten und wieder „Entscheidungsgewalt über das Leben der Jugendlichen beanspruchten, waren diese nicht mehr bereit, sich zu fügen.“3 Konfrontationen zwischen Eltern und Jugendlichen wurden weiter dadurch befördert, dass die mit der Pubertät sich ergebenden Konflikte zunehmend früher einsetzten. Insbesondere eine verstärkte Außenorientierung der Jugendlichen, die die Ablösung von den Eltern nach sich zog, erbrachte einen sich verschärfenden Generationenkonflikt. Die Jugendlichen suchten sich zunehmend gezielt von ihren Eltern zu unterscheiden: Durch eine andere Kleidung – Twiggy propagierte den Minirock – , durch ein verändertes Äußeres – die Haare der Jungs wurden immer länger – und durch das Hören einer Musik, die in den Ohren der Eltern nahezu unerträglich war. Nach der Rock’n’Roll-Welle der 1950er Jahre folgten in den
1 Vgl. Greschat, Protestantismus, 80. 2 Vgl. Miquel, Kinder, 170 f. 3 Fahring, Jugendkulturen, 19.
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Siegfried Hermle
1960er Jahren zunächst die Beatles mit ihrem Yeah, Yeah, Yeah, und dann die deutlich härteren und unangepassteren Rolling Stones. Einen neuen, bei der Elterngeneration allenthalben Anstoß erregenden Lebensstil praktizierten ab etwa 1964 die Gammler. Freilich propagierten diese – laut dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ von 1966 – keinen Aufstand, vielmehr pflegten sie den Müßiggang4. Neben diesen Faktoren ist ein tiefer Einschnitt im Blick auf die Sexualmoral zu konstatieren, der sich als Folge der 1961 in Deutschland eingeführten „Pille“ ergab. Die Pille eröffnete den Weg zur sexuellen Selbstbestimmung der Frau, wurde nun doch erstmals Fortpflanzung von der körperlichen Lust entkoppelt5. Der damit einhergehende Wandel lässt sich am Beispiel der Jugendzeitschrift Bravo aufzeigen, die zunächst auf Berichterstattung über sexuelle Themen weitgehend verzichtet hatte6. Wenn diese aufgegriffen wurden, dann vertrat die Zeitschrift eine rigide konservative Sichtweise: Selbstbefriedigung sei Selbstbefleckung, Homosexualität abartig und Sexualität von Natur aus für die Fortpflanzung bestimmt. Diese Position jedoch wurde Ende der 1960er Jahre radikal revidiert: Ab 1969 markierte die Einrichtung der Kolumne „Sprechstunde bei Dr. Jochen Sommer“ die Neuorientierung. Recht offen wurden nun Fragen der Sexualität aufgegriffen und praktische Ratschläge für die oft wenig aufgeklärten Jugendlichen geboten. Eine beachtenswerte Umgestaltung ergab sich im Bereich Bildung: In den 1960er Jahren wurde die konfessionelle Aufspaltung des Schulwesens, wo sie – wie z. B. in Nordrhein-Westfalen – noch präsent war, zunehmend Thema öffentlicher Kontroversen. Zustimmung zu dieser Schulform war selbst in kirchlichen Kreisen relativ gering: lediglich 37 % dieses Personenkreises waren für die Konfessions-, 48 % jedoch für die Gemeinschaftsschule7. Überhaupt wurde der Reformbedarf im Schulbereich in diesem Jahrzehnt enorm: Georg Picht proklamierte 1964 in der Zeitschrift „Christ und Welt“ die „Deutsche Bildungskatastrophe“. Zum einen war zwischen 1961 und 1967 ein „Schülerberg“ zu bewältigen, zum anderen aber musste angesichts eines absehbaren Bedarfs der deutschen Wirtschaft an höher qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die gesamte Schulstruktur verändert werden – wobei weniger der Ausbau der Gymnasien strittig war, als die Gründung von Gesamtschulen. Eine erste Gesamtschule wurde 1967 im sauerländischen Kierspe eingerichtet, ab 1968 gab es dann auch solche Schulen neuen Typs in West-Berlin und seit den 1970er Jahren in den meisten anderen Bundesländern8.
4 5 6 7 8
Vgl. ebd., 37. Vgl. Mantei, Protestantismus, 163–175. Vgl. Krìger, Jugendzeitschrift, 363–374. Vgl. Rademacker, Schulbildung, 151. Ebd., 152 f.
Einführung: Jugend und Jugendkultur
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Wenn man auf die Wahlbeteiligung und die Parteienoptionen der Jungwähler blickt werden weitere Umbrüche greifbar : Bis 1969 nahmen die Jungwähler ihr Wahlrecht unterdurchschnittlich wahr, erst ab 1972 – „Willy wählen“ – machte die Wahlbeteiligung einen signifikanten Sprung. Ebenso ist ein Wechsel in der Präferenz der Jungwähler unübersehbar : Bis zur Bundestagswahl 1965 votierte die Mehrheit der Erstwähler für die CDU, ab 1969 jedoch für die SPD9. Auffallend ist zudem, dass einer 1968 erfolgten Umfrage zufolge 70 % der Jugendlichen die Ansicht vertraten, dass man „endlich aufhören [solle], danach zu fragen, ob jemand während des Dritten Reiches einen führenden Posten“ inne hatte; lediglich 29 % waren der Meinung, dies sei weiterhin geboten10. In der Gesamtbevölkerung ergaben sich ähnliche Werte – 74 % zu 22 % – während Studenten signifikant abweichende Positionen vertraten: hier meinten nur 32 % eine Nachfrage solle unterbleiben, während 63 % eine solche als weiterhin erforderlich erachteten. Unterstrichen wird die in dieser Umfrage zutage tretende Nachsicht, ja Naivität gegenüber der jüngsten deutschen Geschichte auch in einer anderen Erhebung: 43 % der Jugendlichen hielten den Nationalsozialismus für eine „im Grunde […] gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“; dem widersprachen 56 %. Wiederum ergab sich für die Gesamtbevölkerung eine vergleichbare Einstellung – 50 % zu 45 % – während Studierende massiv abweichend votierten: nur 9 % stimmten der Aussage zu, 91 % lehnten sie jedoch ab, darunter 68 % entschieden. Offensichtlich hatten die öffentlichkeitswirksamen Strafverfahren, denen sich zu Beginn der 1960er Jahre Akteure der NS-Verbrechen zu stellen hatten – 1961/2 Eichmann-Prozess in Jerusalem, 1963/4 Auschwitz-Prozess in Frankfurt – nur bedingt eine Auseinandersetzung mit dieser Zeit befördert. Zuletzt ist auf die Ausbildung einer eigenen politischen Jugendszene sowie von vielfältig differenzierten Jugendkulturen hinzuweisen. Resümierend hielt Franz-Werner Kersting im Blick auf einen ersten Emanzipationsschub der späteren RAF-Terroristin Margit Schiller für die 1950er und 60er Jahre fest: Diese Zeit sei gekennzeichnet durch einen „Ausbruch aus Elternhaus, bürgerlicher Wohnform, kirchlicher Bindung und Sexualmoral“11, parallel hierzu bildete sich eine „gesellschaftskritische Haltung“ aus, die freilich erst Anfang der 1970er Jahre in eine radikale Politisierung mündete. Die hier nur angedeuteten Veränderungen in den Einstellungen und Position der Jugendlichen in der Gesellschaft standen natürlich auch in Wechselwirkung zur religiösen Haltung und hatten unmittelbar Folgen für das Verhältnis der Jugendlichen zu den Kirchen und ihrem Angebot. Diesen wird nun in den Vorträgen von Thomas Großbölting, Westfälische-Wilhelms-
9 Vgl. Berger, Wahlverhalten, 485. 10 Hìbner-Funk, Identität, 500. 11 Kersting, Jugendkultur, 192.
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Universität Münster, und Ulrich Schwab, Ludwig-Maximilians-Universität München, nachgegangen.
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Das „katholische Mädchen vom Lande“ als Avantgarde? Ein Deutungsangebot zum Wandel von religiöser Lebensführung in den 1960er und 70er Jahren Spricht man mit Blick auf die 1960er und 70er Jahre von Avantgarde, dann tauchen vor dem geistigen Auge des Nachdenkenden sofort die Träger der Achtundsechziger-Bewegung auf. Ihnen wird zugeschrieben, aus einem linksliberalen Milieu heraus neue Umgangs- und Lebensformen geprägt und damit – so das gängige Bild – den Muff von tausend Jahren nicht nur an den Universitäten, sondern in der Gesellschaft insgesamt vertrieben zu haben. In der Tat hatte diese Gruppe zweifelsohne eine Vorbildfunktion, die weit in die Gesellschaft hineinreichte: Nicht ihre politischen Überzeugungen strahlten aus, wohl aber verschiedene Elemente des Lebensstils und der Lebensführung wurden durch die Achtundsechziger in Frage gestellt, diskutiert und intellektuell wie auch praktisch neu gefasst. Um es zugespitzt zu sagen: Wo die Revolutionäre Zelle Germanistik sich rasch wieder auflöste, da blieben die Wirkungen der mit 1968 verbundenen „Lebensstilrevolution“ (Christoph Kleßmann). In und nach 1968 bildete sich, so argumentiert Sven Reichardt, ein eng mit den vielfältigen Formen der Neuen Sozialen Bewegung verbundenes linksalternatives Milieu. Während dessen harter Kern zum Ende der 1970er Jahre auf lediglich 300.000 bis 600.000 Aktivisten beziffert wurde, strahlte ihre Lebensweise nach Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten auf einen Sympathisantenkreis von 5,6 Millionen – vor allem Jugendliche – aus1. Die Rollenbilder von Mann und Frau, das Zusammenleben der Geschlechter, der Umgang mit Autoritäten in Gesellschaft, Staat oder auch in pädagogischen Zusammenhängen, das Verhältnis von Form und Informalität – in vielfacher Hinsicht reichten die Ausläufer der Protestbewegung weit in die Gesellschaft hinein und veränderte diese nachhaltig. Betrachtet man die Veränderungen von individueller Lebensführung als eine starke Prägekraft auch für die kollektive politische Kultur, dann rückt aber ein anderer Prozess und dessen Trägergruppe viel stärker in den Blick. Für ihn steht nicht das Mitglied des „alternativen Milieus“2, sondern der Sozialtypus der jungen Menschen, die (noch) stark kirchlich geprägt waren. Religiös gebundene Jugendliche galten zeitgenössisch keinesfalls als Avantgarde – ganz im Gegenteil: Als Georg Picht und andere öffentliche Intellektuelle 1963 die „Bildungskatastrophe“ ausriefen, identifizierte man in der 1 Reichardt, Authentizität, 13 f. 2 Reichardt / Siegfried, Milieu.
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bundesrepublikanischen Gesellschaft verschiedene Segmente, die als bildungsfern und damit als benachteiligt galten. Neben „der Gruppe der Landkinder, der Arbeiterkinder und der Mädchen“ zählte zum Beispiel Ralf Dahrendorf „mit gewissen Einschränkungen“ als vierte Gruppe die der „katholischen Kinder“ dazu. Insbesondere das „katholische Arbeitermädchen vom Land“ avancierte in der pädagogischen wie auch in der bildungspolitischen Diskussion zu dem Prototypen der Bildungsverliererin, welchen es aus Sicht von Planern und Politikern als Bildungsreserve zu entdecken und zu fördern galt. Was man zeitgenössisch nicht bemerkte, war die rasante Entwicklung, die sich insbesondere in diesem religiös und damit meist kirchlich gebundenen Bevölkerungsteil abspielte. Gerade für den Sozialtypus des katholischen Arbeitermädchens von Lande – so lässt sich vielleicht zugespitzt formulieren – veränderte sich mit Blick auf die individuelle Lebensführung wie auch für seine Einbindung in die Gesellschaft viel dadurch, dass er sein Verhältnis zur Religion und vor allem zu den kirchlichen Vorgaben neu definierte. Damit bildete dieser Sozialtypus eine wichtige Trägergruppe des religiösen Wandels der 1960er Jahre, der zeitgenössisch vor allem als Krise wahrgenommen wurde. Wie der Einzelne „subjektiven Sinn“ für sich gewinnt, diesen in Handlungsmuster umsetzt und seine Lebensführung gestaltet, welche medialen und organisatorischen „Angebote“ ihm dafür zur Verfügung stehen und welche er davon nutzt, insbesondere aber wie er sich zu den Institutionen verhält, die Lebensführung organisieren und eine entsprechende Autorität verkörpern – dieses Verhältnis scheint sich im Übergang von den 1960er in die 1970er Jahre stark zu verändern. Im Kern dieses Wandels, so mein Ausgangspunkt, stand das religiöse Feld, das Produkt und Promotor dieser Entwicklung war. Zwei Argumente sprechen dafür : Allgemein gesprochen haben Gemeinschaften, die auf monotheistischen Überzeugungen beruhen, von jeher eine besondere biografische Durchformung des einzelnen Mitglieds für sich beansprucht. Besonders aber mit der „Innenwendung“ und Individualisierung der christlichen Religionen, wie sie speziell in der Nachkriegszeit zu beobachten sind, verstärkte sich dieser Zusammenhang zusätzlich. Bis zum Ende der 1950er Jahre setzten Theologie wie auch Seelsorge und Verkündigung stark auf eine exkludierende Praxis und Semantik. Wer dazu gehören wollte, hatte sich bestimmten Organisationsprinzipien und den damit verknüpften Glaubenssätzen zuzuordnen. Im Katholischen war die acies bene ordinate, die wohlgeordnete Schlachtreihe, ein beliebtes Bild pastoraler Selbstbeschreibung. Ein Jahrzehnt später hatte sich das Bild radikal gewandelt: Nicht mehr Geschlossenheit, sondern inkludierende Sprachmuster und Praxis prägten Verkündigung und Seelsorge in beiden Konfessionen. Der Suchende, der sich im Idealfall seine Orientierungsbewegungen von der Kirche begleiten ließ, war der neue Prototyp des Gläubigen3. 3 Vgl. Grossbçlting, Himmel, 148–175.
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Die damit einhergehenden Veränderungen bündeln sich wie in einem Brennglas in den „politics of lifestyle“, die Anthony Giddens und andere zu einem zentralen Moment des Umbruchs von der Moderne zur Nachmoderne erklären. Körperverständnis, Sexualität, Geschlechterrollen – diese und viele weitere Komponenten waren nicht nur, aber auch religiös konnotiert, nicht zuletzt durch die besondere Expertise, die Kirchenvertreter für sich auf diesem Feld reklamierten. Um diesem Wandel auf die Spur zu kommen, scheint mir ein Zugriff hilfreich, der sich um eine Erforschung religiöser Deutungskulturen im Zusammenspiel von Konstruktion „subjektiven Sinns“, institutioneller Entwicklung und pastoralen Kommunikationsprozessen bemüht4. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden in zwei Schritten entfaltet werden: Zunächst wird der Wandel von Grundkoordinaten wie auch der pastoralen Praxis gegenüber christlich gebundenen Jugendlichen skizziert. Die Veränderungen in der individuellen Aneignung sollen dann an einer Fallstudie zu katholischen Studierenden gezeigt werden.
1. Der Ruf nach der Jugend: Vom „Neuaufbruch“ zum „Abklatsch vergangener Zeiten“ Nirgendwo lassen sich Erfolg oder Misserfolg kirchlich-pastoraler Bemühungen besser nachvollziehen als in der Jugendseelsorge. An der Frage, ob die Tradierung gelingt, entscheidet sich die Zukunft religiöser Gemeinschaften. Je weniger selbstverständlich die nachwachsenden Generationen in den Glauben und die entsprechenden Milieustrukturen hineinwuchsen, desto stärker mussten sich die christlichen Konfessionskirchen um diesen Prozess bemühen. Spätestens seit der Weimarer Republik war die Jugendbildungsarbeit in beiden Konfessionen als wichtiger Faktor der eigenen Selbsterhaltung erkannt worden5. Sowohl in den protestantischen Landeskirchen als auch in den katholischen Bistümern wurden spezifische Formen und Organisationen der Jugendarbeit entwickelt, die sich mit alten Formen mischten und auf diese Weise dem Neuanfang nach 1945 eine klare Richtung vorgaben. Dass man sich nach Kriegsende nun besonders auf die junge Generation konzentrierte, lag allgemein im Trend. Der „Ruf an die Jugend“ war allgegenwärtig und erschallte aus den Behörden der Besatzungsmächte ebenso wie aus den wieder eröffneten Schulen, Universitäten und Fürsorgeeinrichtungen. Auf die Jüngeren setzte man, wenn vom Neuanfang die Rede war. Die Gesellschaft sollte „aus dem Geiste wacher Jugendlichkeit“ wiedergeboren werden, so ein idealistischer Appell des Pädagogen Karl Seidelmann6. Zugleich 4 Ebd., passim. 5 Vgl. Gçtz Olenhusen, Jugendreich, 159. 6 Zitiert nach ebd., 261; vgl. auch Allerbeck / Rosenmayr, Jugendsoziologie, 2.
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verbanden sich mit Formulierungen wie diesen auch massive Forderungen an die Jüngeren, formuliert von Erwachsenen, die in der Situation des Zusammenbruchs ihre Autorität lediglich aus der Tradition ableiten konnten. Ohne Zweifel diente das laute Rufen in Richtung Jugend auch dazu, Fragen nach der Verantwortung der Eltern- und Großelterngeneration zu übertönen oder doch wenigstens in den Hintergrund zu drängen7. Damals wie heute gilt, dass Debatten über die Jugend immer auch ein „Selbstgespräch der Gesellschaft über sich selbst“ sind, welches „in den Kategorien von ,Jugend‘ geführt [wird]“8. Die Diagnosen zur Lage der Jugend durch kirchliche Funktionäre und Seelsorger überschnitt sich in mehreren Punkten mit gesamtgesellschaftlichen Krisendiagnosen. Jugendpfleger und Sozialwissenschaftler zeichneten ein äußerst hoffnungsloses Bild, indem sie die Jugendgeneration als „bindungslose Jugend“ oder als „skeptische Generation“ charakterisierten. Solche Kennzeichnungen avancierten zu weit verbreiteten Generationsmarkern9. Die Kirchenvertreter argumentierten ähnlich: „Die Erlebnisse des jahrelangen Soldatenlebens; Individualismus, der vorläufig von der Gemeinschaftsarbeit auch im kirchlichen Bereich nichts sehen und hören will, nach dem erzwungenen langen Leben in der Masse; der Verlust kostbarer und wertvoller Jugendjahre für die persönliche und berufliche Ausbildung; die Hoffnungslosigkeit der dunklen Zukunft; die Zerstörung von Heimat und Elternhaus; das Schwinden des Vertrauens zu aller Autorität und Führung nach dem großen Betrug der Staatsführung; die Flucht in oberflächliche Vergnügungen.“10
In solch drastischen Worten schilderte Ende Oktober 1947 der Diözesanjugendseelsorger des Bistums Münster, Heinrich Roth, die Situation der Jugend. Die Intention dieses und vieler anderer Berichte war klar : Eindringlich beschwor man die Dringlichkeit der Jugendseelsorge. In beiden Großkonfessionen gab die Tradition die Richtung des Neuanfangs vor, ohne dass dadurch der Weg vollständig vorgezeichnet gewesen wäre. Ein wichtiger Unterschied in der kirchlichen Jugendarbeit zur Vorkriegszeit war, dass von Seiten der Kirchenleitung eine enge Anbindung an vorhandene Kirchenstrukturen gewünscht wurde. Deshalb wurden die während der NS-Zeit vollzogenen Weichenstellungen beibehalten: Einrichtungen wie der „Landesjugendpfarrer“ und die „Gemeindejugend“ waren in den protestantischen Landeskirchen nicht nur eine Interimslösung des Kirchenkampfes, welche das faktische Verbot der Jugendverbände 193611 nach sich gezogen 7 8 9 10 11
Vgl. den Forschungsüberblick von Friedhelm Boll, Jugend, 482–520. Hornstein, Nachwort, 561. Vgl. Schelsky, Generation; Bondy / Eyferth, Bindungslose Jugend. Damberg, Abschied, 316. Dem voraus gingen die Beschränkung der ev. Jugendarbeit auf rein seelsorgerliche Arbeit (Verbot von Fahrten, Lagern etc.) und die Eingliederung der 800.000 ev. Jugendlichen in die HJ gemäß der Vereinbarung des Reichsjugendführers Baldur von Schirach mit Reichsbischof Ludwig Müller vom Dezember 1933.
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hatte. In der Nachkriegszeit avancierten sie zu leitenden Modellen der Organisation. Mittels Jugendkammern oder Jugendkonferenzen wurden Gemeinde- und Verbandsjugend in die landeskirchlichen Strukturen eingebunden. Die nach 1945 neu gegründete „Evangelische Jugend Deutschlands“ definierte sich durch den Zusammenschluss der einzelnen Verbände als „freiwillige Gemeinschaft auf dem Boden der Gemeinde“12. Auch die katholischen Bischöfe verfolgten in ihrem Bereich den Kurs einer strikten Verkirchlichung. Das Ziel war es, die vormals selbständigen Jugendverbände stärker in die Hierarchie einzubinden. Das Eigenleben und die Eigeninteressen der traditionell mitgliederstarken Jugendvereinigungen erwiesen sich aber als so stark, dass diese Konzeption nicht ohne Kompromisse durchsetzbar war. Mit dem Bund der katholischen Jugend (BDKJ) wurde deshalb ein Dachverband geschaffen, in dem Gemeindejugend und Verbandsjugend nebeneinander organisiert waren. Die Masse der BDKJ-Mitglieder aber stellte die Katholische Junge Gemeinde dar, welche über den Ortsklerus in die kirchliche Hierarchie eingebunden war und auch einen Großteil der Leitungspositionen besetzte. Diese Zentralisierungspolitik setzte sich deutlich von den früheren Formen ab. Die Verbindung zur bündisch-konfessionellen Jugendbewegung der Weimarer Republik war aber nicht vollends gekappt: Maximen wie „Jugend erzieht sich selbst“ und „Jugend führt Jugend“ konservierten sich in der Praxis, in der Formensprache und in den Leitbildern der Jugendarbeit: „Heilige Begeisterung für das Reich Gottes“ und „ehrfürchtige Liebe zu den jungen Menschen“ sollten sich idealerweise im Jungführer und in der Jungführerin widerspiegeln, die den Jugendseelsorgern sowohl auf katholischer als auch auf evangelischer Seite als die entscheidenden Faktoren bei der Gewinnung nachwachsender Generationen galten. Theologisch-pastoral galten ähnliche Maximen wie in der allgemeinen Seelsorge. Hierzu zählten die „Sammlung unter dem Wort“ und die Zusammenkunft zur gemeinsamen Bibelarbeit nach einheitlichen Werk- und Leseplänen. Die praktische Arbeit orientierte sich an Formen und Gehalten, die ihren Ursprung in der Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts hatten und insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus populär geworden waren. Ein Bericht aus dem westfälischen Wehdem im Jahr 1947 gibt dabei einen typischen Einblick in die Praxis kirchlicher Jugendarbeit: „Ein Kreis von jungen Männern (durchschnittlich 12) sammelt sich an den Montag-Abenden. Sie dienen der Aussprache über mancherlei Frage des Glaubens, sind aber in der Hauptsache Sammlung ums Wort, das zum Gespräch führt.
12 Ordnung der Jugendkammer der EKD vom 15. Mai 1946, zitiert nach Mìller, Jugendarbeit, 257–309.
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[…] Am Dienstag sammelt sich der Jungmädchenkreis (durchschnittlich 25–30) zum Singen und zur Bibelarbeit.“13
Der „Rückzug auf ein religiöses Winkeldasein“ hielt sich auch dann noch, als der äußere Zwang durch die Repressionen der Diktatur nicht mehr gegeben war14. Die treibenden Akteure dieses Rückgriffs auf die vormals erfolgreiche Formensprache und pastorale Aufladung der Jugendarbeit waren Seelsorger und Verbandsautoritäten, die bereits vor dem Nationalsozialismus im Dienst gestanden hatten. Die „Männer der letzten Stunde“ vor dem Verbot der Organisationen 1933 waren nach dem Krieg auch die „Männer der ersten Stunde“15. Auf katholischer Seite stachen der 56-jährige bayerische Prälat Ludwig Wolker und der 67-jährige sauerländische Priester Hermann Klens sowie profilierte Jugendseelsorger aus den Diözesen hervor. Eine hohe personelle Kontinuität ist beispielsweise in der Jugendarbeit des Bistums Münster bis in die dritte Ebene der neu oder wieder erstandenen Verbände nachzuweisen16. Auf evangelischer Seite waren es Personen wie Manfred Müller, seit 1942 Vorsitzender der Jugendkammer der Bekennenden Kirche und nach dem Krieg Leiter der Jugendkammer der EKD, und Erich Stange, seit 1921 Reichswart des Jungmännerwerkes, die die Initiative übernahmen. Welchen Erfolg konnte diese Ausrichtung verbuchen? In ihren Märschen und Großkundgebungen zeigte sich die katholische Jugend als „wohlgeordnete Schlachtreihe“. Damit agierte sie ganz im Sinne der katholischen Aktion, an der sich zu dieser Zeit das seelsorgliche Konzept orientierte. Auf Seiten der protestantischen Kirche demonstrierten die Pfadfinder mit ähnlichen Ritualen Geschlossenheit. Die damit errichtete Fassade aber trog. Wie in anderen Bereichen auch folgte in der kirchlichen Jugendarbeit dem vermeintlichen „religiösen Frühling“ kein Sommer, sondern – um im Bild zu bleiben – zunächst eine deutliche Abkühlung, später dann ein Klimasturz: Viele Stimmen von der Gemeindeund Verbandsbasis beschrieben bereits in den 1950er Jahren „eine gewisse Müdigkeit“ in den Aktivitäten. „Der größte Teil unserer Jugend nimmt keinen Anteil am kirchlichen Leben“, so klagte 1957 das Presbyterium in IsenstedtFrotheim und stand damit stellvertretend für viele ähnlich klingende Beobachtungen17. Diese zeitgenössischen Eindrücke schlugen sich durchaus in den Mitgliederzahlen nieder. Während die evangelische Pfarrjugend auf eine formelle Aufnahme in ihre Organisation verzichtete, führten die katholische Kirche und ihre Bistümer einen Mitgliedernachweis: Die Statistiken zum 13 Bericht der Kg. Wehdem an Kreisjugendpfarrer Wellmer, Hüllhort, über die Jugendarbeit in der Gemeinde, Advent 1947, zitiert nach Beck, Protestanten, 367. 14 Beck, Protestanten, 368. 15 Ruff, flock, 187. 16 Vgl. Damberg, Abschied; Ruff, Elites. 17 Zitiert nach Beck, Protestanten, 367.
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„Organisationsgrad katholischer Jugendlicher im Bistum Münster“ zeigten, dass die Jugendorganisationen vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre hinein erodierten. Zweifellos blieb auch die NS-Zeit für die katholischen Jugendverbände nicht folgenlos: 1953 lag ihr Organisationsgrad mit 30 % bereits deutlich unter dem vergleichbaren Wert von 1932, der immerhin 38 % betragen hatte. Zwischen 1953 und 1963 aber beschleunigte sich die Entwicklung massiv. Der Organisationsgrad ging in dieser Zeitspanne um ein Drittel zurück. Dieser Trend verlangsamte sich erst gegen Ende der 1960er Jahre und kam in den 1970er Jahren auf niedrigem Niveau zum Stillstand18. Diese statistischen Beobachtungen decken sich mit der Selbstwahrnehmung und den Krisendiagnosen beider Konfessionen: In der Öffentlichkeit wurde Anfang der 1960er Jahre der Niedergang der Jugendarbeit zum öffentlichen Thema. In der Tageszeitung Die Welt beklagte Bernd Nellessen die wachsende Diskrepanz zwischen „Sein und Schein der deutschen Jugendverbände“. Ihre Träger, so kritisierte der Journalist, richteten sich mehr nach den Fördervorgaben als nach den Bedürfnissen ihrer Klientel. Bereits 1959 nahm ein internes Papier der Konferenz der schleswig-holsteinischen Landesjugendpastoren die publizistische Diskussion vorweg. „Es rieselt und bröckelt“, so hieß es dort. Die Seelsorger konstatierten resigniert, dass die „Jugend eben anders geworden sei“ und die Verbände mittlerweile neben den „Mädchen und Jungen“ stünden. In gewohnter Rhetorik forderte man „feste Burgen“, die aus der Jugendseelsorge unter jungen Christen erwachsen müssten. In der katholischen Kirche verdichtete sich dieser Krisendiskurs mit zwei bis drei Jahren Verzögerung: Das 1965 in Dortmund veranstaltete Bundesjugendfest der Katholischen Jugend mit einer im Verhältnis zu früheren Treffen enttäuschenden Beteiligung konnten selbst kirchennahe Beobachter nicht mehr als die „eindrucksvolle Willenskundgebung katholischer Jugend“ werten, sondern allenfalls als „Abklatsch vergangener Zeiten“, so beispielsweise die Zeitschrift Kontraste19. Die Erosion der Verbände und der gemeindlichen Jugendarbeit hatte aber laut Statistik bereits deutlich früher eingesetzt, nämlich Mitte bis Ende der 1950er Jahre. Sie wurde begleitet von starken Veränderungen innerhalb der Jugendseelsorge und den Jugendorganisationen, die als Begleitumstände, als Reaktion und auch als Ursache dieses Wandels gesehen werden können: Auch wenn die kirchenoffiziellen Vorgaben und Leitbilder unverändert geblieben waren, hatte in der Praxis der bündischen Gruppen, der Verbände und der Gemeindejugend ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Schrittweise wurden die Strategien aufgegeben, die auf klare Abgrenzungen gegen die säkulare Welt zielten. Kirchliche Jugendarbeit und bündische Gruppen verstanden sich zunehmend weniger exklusiv, sondern wollten der allgemeinen Erziehung und 18 Zahlen nach Damberg, Abschied, 307–416. 19 Zitiert nach Schwab, Bund, 27.
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Bildung einen zusätzlichen konfessionellen Akzent geben. Auf diese Weise, so lautete das eigene Selbstverständnis, wollte man sich bemühen, die Lebensund Erfahrungsräume der Jugendlichen in die Religionsgemeinschaft zu integrieren. Nicht die Schaffung einer konfessionellen Sonderwelt, sondern die Etablierung als „dritte Erziehungsagentur“ schwebte den Verantwortlichen als Ziel vor Augen20. Innerhalb der kirchlichen Jugendzusammenschlüsse war diese Ausrichtung nicht unumstritten, im Gegenteil: Die neue Ausrichtung war ein ständiger Streitpunkt, insbesondere zwischen den Generationen. Immer stärker zeigte sich ein Gefälle zwischen dem Selbstverständnis der älteren Mitglieder der Jugendverbände als Elite oder Gegenbewegung zur Welt und der Mentalität der nachwachsenden Generationen. Der Jesuitenorden hatte 1921 den Bund Neudeutschland als eine Jugendorganisation zur Seelsorge unter Gymnasiasten gegründet. In diesem durchaus exklusiven Zusammenschluss diskutierte man noch 1958 über das „Rausschmeißen“, um auf diese Weise am Anspruch der Elitenbildung festzuhalten. Die Ein- und Ausschlusskriterien waren bis zu diesem Zeitpunkt klar definiert. Bereits 1961 und dann verstärkt im Kontext des II. Vatikanums schien eine solche Diskussion völlig abwegig, habe man nun doch auf eine „Öffnung zur Welt“ gesetzt. Außerdem wollte man die Arbeit in den Schulen intensivieren und diskutierte zudem offen, ob und wie man sich den politischen Vorstellungen von Sozialdemokraten und später auch der Außerparlamentarischen Opposition annähern könnte. In ähnlicher Weise entwickelte sich die Jugendarbeit auf der protestantischen Seite, wenn etwa ein niedersächsischer Leiter der Christlichen Pfadfinderschaft 1963 resümierte, dass der Verband sein „Elite-Bewußtsein“ werde aufgeben müssen. „Wir sind nicht besser als andere Jugendverbände. Die Christlichen [sic!] Pfadfinderschaft entwickelt sich allmählich zu einem Jugendverband wie jeder andere.“21 Diese Entwicklung war nicht ausschließlich das Resultat einer bewussten Anpassung an die veränderten jugendlichen Lebenswelten und Einstellungen. Stattdessen liefen dabei institutionelle, konzeptionelle und personelle Umbrüche zusammen: Personell bewegte man sich von den Ursprüngen in der bündischen Jugendbewegung oder von dem biographischen Hintergrund des Kirchenkampfes weg: Nicht nur die Spitzen des Jungmännerwerkes und des auf Mädchenarbeit spezialisierten Burckhardthauses traten ab, sondern auch die bejahrten Jugendseelsorger aus der zweiten Reihe. Zwischen 1953 und 1958 gaben beispielsweise in Schleswig-Holstein 14 von 22 Landesjugendpfarrern ihr Amt auf22. In der katholischen Kirche verband sich ein ähnlich rasanter Generationswechsel in den Leitungsgremien symbolträchtig mit der Wahl Johan20 Vgl. Schwab, Jugend, 76. 21 Buschmann, Pfad, 3. 22 Vgl. Haasler, Jugendarbeit, 157.
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nes’ XXIII. zum Papst, der damit Nachfolger des konservativen Pius XII. wurde. Dieser Wechsel wurde von vielen Mitarbeitern in der Jugendpastoral euphorisch begrüßt. „Wir waren die 58er, nicht die 68er“, so deutete ein katholischer Jugendseelsorger, Jahrgang 1936, die Bedeutung dieses Wechsels für seine Generation23. Hinzu trat eine institutionelle und organisatorische Neuausrichtung: Kirchliche Jugendarbeit hatte sich zunächst in Konkurrenz zu ähnlichen Initiativen des Staates oder der Parteien gesehen. Nach anfänglicher Skepsis gegenüber Institutionen wie den Jugendringen nutzten aber insbesondere die kirchlichen Jugendverbände diese Vertretungsinstitutionen. Entgegen seiner ursprünglichen Zielsetzung entwickelte sich der seit 1950 existierende Bundesjugendplan zu einem Förderinstrument für die vielfältigen Vorhaben der Jugendhilfe, die den kirchlichen Initiativen enorme Möglichkeiten eröffneten. Dem Leitbild „Kampf und Kontemplation“, welches nach 1945 einen Teil der kirchlichen Jugendarbeit bestimmt hatte, mussten in Folge dieser Entwicklung seit Mitte der 1950er Jahre Stichworte wie Hierarchie, Geschäftsordnung, Konzepte und Zuständigkeiten hinzugefügt werden. Nicht mehr der charismatische Jungführer, sondern allein der erwachsene, neben- oder hauptamtliche Geschäftsführer konnte den bürokratischen Aufwand der Mittelanwerbung und der Mittelverwaltung bewältigen. Die im Rahmen dieser Professionalisierung engagierten Pädagogen und Laientheologen, so zeigt ein Blick auf die Stellenpläne deutscher Bistümer und Landeskirchen, entwickelten sich zu einer neuen, immer größer werdenden Status- und Interessengruppe, die in der Folgezeit auch den Pfarrern Konkurrenz machten. Ende der 1960er Jahre führte oftmals gerade diese Gruppe der kirchlichen Mitarbeiter den Protest gegen die Kirchenhierarchie an. Diese organisatorische Einbindung zog auch eine inhaltliche Neuausrichtung nach sich, bzw. bereitete diese vor: Hatte der Verband zuvor als „Heimat“ für Gleichgesinnte mit religiöser Ausrichtung gegolten, avancierte er seit Ende der 1950er Jahre zu einer Institution der allgemeinen Jugendsozialarbeit. Vormals kirchliche oder kirchennahe Bekenntnisgemeinschaften von Jugendlichen wurden auf diese Weise zunehmend organisatorisch zentralisiert, rechtlichen Regelungen unterworfen und von ihren Zielsetzungen her „vergesellschaftet“. Sollten die Jugendlichen in der unmittelbaren Nachkriegszeit mittels ihres Verbandes in das missionarische Apostolat der Kirchen integriert werden, so zielten die Jugendverbände auch ihrem eigenen Selbstverständnis nach nun darauf ab, jungen Menschen einen pädagogischen Entwicklungsraum bereitzustellen. Die Frage, ob und inwieweit diese Ausrichtung noch mit einem kirchlichen Verkündigungsauftrag in Einklang zu bringen war, entwickelte sich seit Mitte der 1960er Jahre zu einer Dauerreflexion über das Wesen und den Sinn kirchlicher Jugendarbeit und das Selbstverständnis der konfessionell bündischen Gruppierungen. Ein gemeinsames Verständnis davon, 23 Grossbçlting, Christsein, 262.
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was das eigentliche Proprium christlicher oder gar konfessioneller Sozialisation sein sollte, konnte aber selbst unter den Akteuren im engeren Sinn nicht mehr hergestellt werden. Sollte kirchliche Jugendarbeit darin bestehen, dass sie Gemeinschaft stiftete? Oder gehörte doch ein kirchlicher, religiöser oder biblischer Bezug dazu? So lauteten die Grundfragen der seit 1969 in der evangelischen Kirche geführten „Polarisierungsdebatte“. Im praktischen Gruppenleben vor Ort führte das dazu, dass Exerzitien und religiöse Unterweisung zu Gunsten eines demokratisch-politischen Engagements in Schule und Gesellschaft wegfielen. Traditionelle und neue Orientierungen standen sich personifiziert durch Kirchenleitung und die hauptamtlichen Jugendfunktionäre aus den Verbänden gegenüber. Die zum Teil erbitterten Auseinandersetzungen führten dabei weder zu neuen und konsensfähigen Grundlagen, noch stoppten sie die Abwanderung der Mitglieder im Sinne der Verbandsleitungen. Die hier skizzierten Entwicklungen im Bereich der Jugendorganisationen und der Jugendseelsorge nahmen ihren Anfang deutlich vor dem II. Vatikanum und vor dem Schwellenjahr „1968“. Damit setzten wichtige Entwicklungen weit eher ein als sie in vielen kirchennahen Kreisen bislang verortet wurden. Nicht das II. Vatikanum und nicht der vermeintlich kulturrevolutionäre Charakter von „1968“ erklären den rapiden Rückgang von Kirchenbindung unter Jugendlichen. Sowohl gesamtgesellschaftlich als auch im Bereich der religiösen Jugendarbeit hatten diese beiden Ereignisse nur deshalb eine so starke Wirkung, weil zahlreiche Konventionen und scheinbar kollektiv geteilte Werte längst erodiert waren. In den „langen 1950er Jahren“ veränderten sich die Modalitäten religiöser Sozialisation in beiden christlichen Großkonfessionen markant. Was für die kirchennahen und in den christlichen Organisationen erfassten Jugendlichen gezeigt werden konnte, gilt mit Blick auf die Religiosität in Deutschland insgesamt in noch größerem Maße. In diesem Sinne waren die skizzierten Entwicklungen in der Jugendarbeit durchaus Avantgardephänomene, die die Trends für das religiöse Feld insgesamt vorzeichneten.
2. Katholische Studierende und die individuelle Aneignung von Religion – eine Fallstudie Religion, so wurde einleitend argumentiert, ist eine wichtige Ressource dafür, dass Menschen ihre Identität formulieren und dieser Ausdruck verleihen. Was geschah dann mit denjenigen, die ursprünglich stark kirchlich gebunden waren und sich später aber, wie der sozialhistorische Blick gezeigt hat, immer stärker distanzierten? Bastel-, Patchwork-, Bricolage-Religiosität usw. – Religionssoziologie und die Pastoraltheologie haben eine ganze Reihe von Be-
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griffen geprägt, um die Individualisierungen von Glaubensleben und Glaubenspraxis zu benennen. Aufgabe der Geschichtsforschung wird es sein, die zum Teil hoch abstrakten Beschreibungen der Gesellschaftswissenschaften empirisch „herunterzubrechen“ und auf diese Weise gegebenenfalls zu modifizieren. Umfassend analysiert erscheinen diese Veränderungen bislang noch nicht. In den wenigen Studien dazu stehen vor allem die Randbereiche religiösen Lebens im Blickfeld. Hochspannend erscheint es mir hingegen zu untersuchen, wie sich diese Veränderungen gerade in den Kernbereichen der traditionellen Konfessionsgemeinschaften durchgesetzt haben. Wie gestalteten Christen in dieser neuen Unübersichtlichkeit ihre persönliche religiöse Sinnsuche? Welche neuen religiösen Sprach- und Ausdrucksformen entwickelte man, um Glauben in individuelle Alltagsrealität zu übertragen? Und welche Überschneidungen, aber auch Abgrenzungen gab und gibt es zu Formen anderer und insbesondere neureligiöser Traditionen und Anbieter? Nur wenige Studien geben für Deutschland Auskunft über die individuelle Aneignung religiöser Transzendenzvorstellungen und den Wandel bei der Konstruktion subjektiven Sinns24. Zwar sind bereits zahlreiche oral-historyProjekte betrieben worden, in denen die Weitergabe erinnerter Geschichte auf generationelle Muster und Prägungen untersucht wurde. Dabei wurden aber kirchliche oder religiöse Erfahrungen und Orientierungsmuster meist ausgeblendet. Die Ergebnisse solcher Studien liefern wichtige Ergänzungen und Korrektive zu den großflächigen, aber wenig erklärungskräftigen Prozessbegriffen wie „Säkularisierung“, „Individualisierung“ oder „Privatisierung“. In diesem Sinne und in vorbildlicher Weise hat beispielsweise Christian Schmidtmann katholische Studentinnen und Studenten der 1950er und 1960er Jahre befragt25. Diese Studien rekonstruieren nicht Geschichte, sondern legen in den untersuchten Gruppen die Erfahrungen frei, die sich in verschiedenen Lebensabschnitten aufgeschichtet haben. Damit bilden sie sozialgeschichtlich-quantitativ keinen repräsentativen Querschnitt ab. Dennoch verdeutlichen sie qualitativ die lebensweltlichen Mechanismen und die Logik, nach der sich Einzelne zu kirchlichen Vorgaben und ihrer eigenen Religiosität verhalten26. Auf der Ebene der Erinnerungen sind klare Schnitte oder Brüche kaum nachzuweisen. Statt konsistenter Zielpunkte überwiegen in der individuellen Aneignung Ambivalenzen, Inkonsistenzen und Unklarheiten27. Im Grundtenor werden die 1960er Jahre von den befragten katholischen Christen als eine „seltsame Zeit“ erinnert, in der nach neuen Orientierungen gesucht wurde. Die Hintergrundfolie dafür bietet ein relativ geschlossenes Milieu, in dem der 24 Als Ausnahme siehe Heller / Weber / Wiebel-Fanderl, Religion. 25 Siehe hierzu und zu den folgenden Ausführungen die exzellente Studie von Schmidtmann, Studierende. 26 Vgl. Heller, Sozialgeschichte, 297. 27 Vgl. Schmidtmann, Studierende, 479.
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Alltag durch die kirchlich-religiöse Taktung der Zeit geprägt war. Auch wenn sich während der ersten Jahrhunderthälfte im individuellen Verhalten viele Themen der Kirchendistanzierung abzeichnen, werden sie erst in der zweiten Jahrhunderthälfte ausgelebt28. Besonders deutlich treten Erosions- und Transformationsprozesse in den Erinnerungen katholischer Studierender in den 1950er und 60er Jahren hervor: Vor allem die Jüngeren unter ihnen, die ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre an die Universitäten kamen, entwickelten ein ausgeprägtes Generationenbewusstsein. Weniger als die älteren Kommilitonen waren sie von Nationalsozialismus und Krieg geprägt. Das „gut katholische“ Elternhaus und der Zusammenhang des Heimatdorfes waren in dieser Gruppe ein wichtiger Topos der generationellen Selbstverortung29. Das katholische Milieu wird dabei durchaus in seinen Ambivalenzen erinnert: Die Enge der konfessionellen Welt wird mit positiven Erlebnissen in der katholischen Jugendkultur kontrastiert. Insbesondere Fahrten und Lager tauchen in den Erinnerungen immer wieder als Sonderbereiche eines unabhängigen, selbstbestimmten und dynamischen Lebens auf. Alles in allem dominiert die Erfahrung einer geschlossenen und in sich stimmigen Welt. In diesem Sinne berichtet beispielsweise der Journalist Herbert Riehl-Heyse von seiner Jugend in einem bayerischen Wallfahrtsort: „In Altötting haben wir bei der Lichterprozession ,Maria zu lieben‘ gesungen; und dann haben wir im Cafe R. bis spät in die Nacht hinein den Musikautomaten mit dem Wunsch nach dem immer selben Song gefüttert, damit Mr. Frank Sinatra der Kellnerin Rosi klarmachte, daß die Lady ein Tramp sei. Wenn uns endlich der amtierende Liebhaber der Kellnerin Rosi gewaltsam hinausgeworfen hat, nannten wir ihn eine blöde Sau und gingen vielleicht dafür zum Beichten. Es hat alles prima zusammengepaßt“30.
In diesem geschlossenen und intakten Milieu entwickelten viele der männlichen Angehörigen dieser Studentenjahrgänge ein relativ starkes Interesse an politischen Fragen. Im Vergleich zu früheren Alterskohorten waren sie von einer „engen Verquickung von ethischer Norm, politischem Imperativ und konkreter Aktivität“31 geprägt. In ihren Erinnerungen artikulieren sie diese Haltung deutlich. „Ganz einfach, die Hinwendung zur Gesellschaft liegt sozusagen in der Verantwortung des Christen“, so erinnert sich beispielsweise der Laientheologe und Kirchenmitarbeiter Hans Kath32. Politisches Engagement sei dabei auf einem Weltbild gegründet gewesen, welches auf klaren Positionierungen und Abgrenzungen basierte. Motive wie die „Adoration“ Konrad Adenauers, eine kämpferische Ablehnung der SPD und „Russen28 29 30 31 32
Vgl. Heller, Sozialgeschichte, 298. Vgl. Schmidtmann, Studierende, 423. Riehl-Heyse, Vaterland, 156. Schmidtmann, Studierende, 458. Ebd., 457.
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furcht“, die sich aus den Erzählungen der Eltern über Kriegs- und Gefangenschaftserlebnisse ebenso speisten wie aus dem Antikommunismus des Kalten Krieges, werden wiederholt als prägende Sozialisationselemente und Fixpunkte der eigenen Sozialisation genannt. Die Mitarbeit im Jugendverband war ein ebenso verbreitetes Handlungsmuster wie die Arbeit in der CDU. Ganz im Sinne der engen Verquickung von Kirche und Gesellschaft griff der Glaube in die Welt hinein. „Der Einfluß eines wiedererstarkten und restrukturierten katholischen Einflußbereichs“ prägte den „Wertehimmel der Aufwachsenden“33. Zugleich wirkten diese Überzeugungen weit in den Alltag hinein. Viele Entscheidungen und Handlungen waren auf diese Weise hochgradig mit Bedeutung aufgeladen: Nicht nur mit der Wahl einer politischen Partei, sondern auch mit einem bestimmten Kleidungsstil oder Musikgeschmack positionierte man sich in der Selbstwahrnehmung wie auch gegenüber den Mitmenschen für oder gegen die hoch präsenten Milieustandards. Die Milieuverhaftung dieser Generation reichte vielfach nicht „von der Wiege bis zur Bahre“, sondern endete mit der Immatrikulation34. Mit dem Beginn des Studiums löste sich aus Sicht der Interviewpartner die geschlossene und zumeist als stimmig empfundene Lebenswelt der Kindheit und frühen Jugend auf, weitete sich doch der räumliche wie auch weltanschauliche Horizont enorm. „,Veränderung‘ ist ein wesentliches Lebensthema praktisch aller seit der zweiten Hälfte der 30er Jahren [sic!] Geborenen.“35 Als einschneidende Erfahrung werden dabei von vielen der Weggang aus der religiös geprägten Lebenswelt und die Konfrontation mit anderen Anschauungen und Denksystemen genannt. So markiert die 1929 geborene Historikerin und Lehrerin Johanna Ehler eine deutliche Grenze zwischen der Lebenswelt ihrer Kindheit und Schulzeit einerseits und der Universität andererseits. Besonders kontrastiert sie den schulischen Deutschunterricht an einem von Nonnen geleiteten Gymnasium von ihrem Studium der Germanistik: Da „hatten wir immer fleißig Rilke, Wichert, Gertrud von Le Fort und Langgässer gelesen; sie waren alle nahe bei Gott und jetzt (lacht) wurden die […] kamen überhaupt nicht vor, die Klassik kam wohl vor, Klassik, Realismus alles mögliche, aber schon bei den Interpretationen war deren Beziehung zu Gott einfach kein Ansatzpunkt mehr“36.
Ähnliche Erfahrungen formuliert sie als Eindrücke aus ihrem Geschichtsstudium und resümiert ihre Erfahrungen: „Die Dinge, die ich eigentlich für zentral gehalten hab, die waren plötzlich irgendwie verschwunden. […] Das war eigentlich für mich überraschend, weil ich gedacht hatte, ja ohne das je zu reflektieren, daß alle Leute irgendwie ähnlich wie 33 34 35 36
Ebd., 433 f. Vgl. Ebd., 417. Ebd., 467. Dieses Zitat und das folgende Ebd., 443.
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dieses doch religiös durchsättigte Milieu von der Schwesternschule, also daß sich das fortsetzen würde. Ich war echt überrascht und es hat ne Weile gedauert, bis ich mir klar machte, daß da ganz andere Sterne vorne hingen.“
In ähnlicher Weise berichtet der 1961 diplomierte Astrophysiker Klaus Breinfeld von der tiefgreifenden Erfahrung, wie das Fachstudium auch eine neue Denkhaltung beförderte: den Anspruch nämlich, sich der jeweiligen Rationalität von Aussagen durch ein individuelles Verfahren zu vergewissern37. Auf diese Weise avancierte das eigene Gewissen zu einer wichtigen Reflexionsinstanz. Kirchliche Vorgaben und Milieustandards waren damit nicht obsolet, mussten sich aber tendenziell in Konfrontation mit einem neuen Denkstil und vor dem eigenen Gewissen bewähren. Insbesondere Theologiestudenten berichteten von eindrücklichen Lernerfahrungen während ihres Studiums, die beachtliche Auswirkungen auf ihre persönliche Aneignung von Religion, Katholizismus und Kirche gehabt hätten. Prinzipiell wurden die normativen Vorgaben und der Modus ihrer Ableitung aus Tradition und Schrift als hinterfragbar und diskutierbar erkannt. Eine besondere Rolle spielten dabei die Neuaufbrüche in der Exegese des Neuen Testaments. Mit der historisch-kritischen Methode wurden verschiedene vormals als wahr angesehene Gegebenheiten fraglich. So berichtete die Laientheologin Katharina Strate von der Erschütterung, die sie als Laientheologin empfand, als die Existenz der Heiligen Drei Könige oder die Jungfrauengeburt als historische Tatsachen in Frage gestellt wurden. „Als ich das zum ersten Mal hörte, was ja heute so gängige Meinung ist, aber da erinner ich mich noch, wie mich das doch sehr bewegt hat, diese historisch-kritische Methode.“ Im Gegensatz zu den älteren Studierenden, die sich als Menschen mit „großer Souveränität und Sicherheit in ihrer religiösen Orientierung und Praxis“ inszenierten, berichteten die Befragten der jüngeren Generation von starken Rückwirkungen der theologischen Neuerungen auf die individuelle religiöse Praxis. In ihren Beschreibungen erklären die Interviewpartner die Veränderungen in Religiosität und Lebensstil weniger mit spektakulären Erlebnissen, sondern vor allem als eine „langsame Umorientierung“38. Eine zentrale Rolle spielen dabei nicht nur Beobachtungen von einer „Doppelmoral“ Einzelner, die die katholische Sinnwelt in Frage stellen. Auch Änderungen im katholischen Kosmos selbst wurden zum Anlass einer Neuorientierung. So erinnert der Journalist Riehl-Heyse, der sich zuvor als eifriger Störer von Wahlkampfveranstaltungen der Opposition beschrieben hatte, den bleibenden Eindruck, den die Einladung des SPD-Politikers Herbert Wehner an die katholische Akademie in München auf ihn machte.
37 Ebd. 38 Ebd., 467.
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„[M]an kann sich kaum noch vorstellen, wie beleidigt die gutkatholischen Kreise gewesen sind über einen solchen Verrat. Und wie groß meine Genugtuung darüber war, als ich der Mutter von dem unerhörten Vorgang berichten konnte, auch davon, daß der SPD-Politiker Georg Leber angeblich richtig katholisch war.“39
In ähnlicher Weise wirkten die Ereignisse auf dem Katholikentag in Essen 1968 nach, die er als besonderes Zeichen für die „neue Zeit“ erinnert. „Wieviel sich zu ändern beginnt im Vaterland, lernte ich zuerst ausgerechnet bei einem Katholikentag, wo es aber auch besonders auffällt, mir ganz besonders: Weiß ich denn nicht von zu Hause, wie staatstragend, lammfromm und langweilig Katholiken sind? […] Und jetzt hat also der Papst Paul seine berühmte Enzyklika gegen die empfängnisverhütende Pille verfaßt – und ausgerechnet von den deutschen Katholiken bekommt er dafür am meisten Ärger […]. Brandreden gegen Papst und Bischöfe werden gehalten, offene Aufrufe gibt es zum Ungehorsam. […] Dürfen die jungen Menschen, die nun dauernd den Ton angeben, das alles überhaupt? Sie tun es jedenfalls, und kein Blitz schlägt ins Gebälk der Grugahalle“40.
Als die Verschiebungen im katholischen Bereich sichtbar und beobachtbar wurden, begann für viele der Befragten eine Phase, in der die eingeübten Dichotomien hinterfragt wurden. Insbesondere kam dabei die traditionelle Bindung von Katholischer Kirche und CDU auf den Prüfstand. „Wir hatten ja nichts gegen die CDU. […] Sondern gegen diese Verquickung von Katholizismus und Adenauerstaat. Das war etwas, was wir nicht wollten“, so der im Ruhrgebiet aufgewachsene, spätere Journalist und Kritiker des konservativen Opus Dei, Peter Hertel41. Aber auch bei der Mehrheit, die der CDU verbunden blieb, änderte sich die Begründung in der Selbstdarstellung. Das Kreuz auf dem Stimmzettel für die CDU oder die CSU wurde nun mit genuin politischweltlichen Gründen erklärt. „Die konfessionelle Identität allein begründete keine spezifische politische Entscheidung mehr.“42 In vielen weiteren Punkten erzählten die Studierenden der 1960er Jahre von ihrem Christentum und ihrer Christlichkeit als einer von der Kirche unabhängigen Größe. Selbst in dieser stark kirchlich gebundenen Gruppe wurde der Einzelne oder die Einzelne immer stärker Gestalter des eigenen Glaubens. Diese Entwicklung bedeutete nicht, dass die Bindungen an die religiöse Gemeinschaft plötzlich abgebrochen wären. Aber die Art und Weise, wie die bisherigen Traditionen nun erklärt und vor dem eigenen Gewissen plausibel gemacht wurden, änderte sich grundlegend. Das tägliche Tischgebet, der sonntägliche Kirchgang, die Teilnahme an der Fronleichnamsprozession oder ähnliche Aktivitäten wurden nicht mehr als gegeben hingenommen, sondern 39 40 41 42
Riehl-Heyse, Vaterland, 75 f. Ebd. Schmidtmann, Studierende, 475. Ebd., 477.
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in Frage gestellt und diskutiert. Damit konnte man sie prinzipiell auch ablehnen. Eine zweite sehr grundlegende Entwicklung deutet sich in den Interviews an: Die Rituale und Formen der Frömmigkeit verloren an Bedeutung für das christliche Selbstverständnis, während dem praktisch karitativen oder politischen Wirken des Einzelnen hingegen religiöse Dignität zugesprochen wurde. Glauben sollte in der Praxis wirksam werden und gesellschaftlich Relevanz zeigen, dann galt er den befragten Vertretern dieser Generation als richtig. Für ihr eigenes Verhalten hatte das große Konsequenzen. Statt Frömmigkeit im Stil ihrer Elterngeneration weiterzuleben, änderten viele auch der stark gläubigen Studenten ihre eigene durchaus als religiös empfundene Praxis. „Statt zur Messe zu gehen, schrieb man kritische Artikel, statt zu beichten, las man Hans Küng, statt Priester zu werden, wurde man Funktionär in einer Gewerkschaft.“43 Diese Verhaltensänderung lässt sich nicht als Säkularisierung in dem Sinne deuten, dass sich der oder die Einzelne oder die Gruppe von ihrer Religiosität distanziert hätten. Stattdessen blieb ein christlicher Bezugsrahmen, in dem sich aber die Gewichte deutlich verschoben. Im Vordergrund stand nun die innerweltliche soziale Dimension der Religion, während sich die religiöskultische Praxis auflöste. Der an einer kleinen Gruppe beschriebene Wandel war kein Prozess außerhalb der Kirche, sondern fand in ihrem Kern statt: Die katholischen Studierenden waren eine Gruppe, die die katholische Seelsorge vielfältig anzusprechen und zu integrieren versuchte. Die Pastoral galt dem katholischen Akademiker als wichtige Stütze der eigenen Glaubensgemeinschaft. Gerade in dieser Gruppe aber entwickelten sich viele Ansätze zur Neuinterpretation der früheren religiösen Überzeugungen. Insbesondere der Ausgang aus den engeren Milieustrukturen setzte diesen Prozess in Gang. Natürlich war die am Beispiel der katholischen Studierenden zu beobachtende Individualisierung und Pluralisierung mit vielfältigen weiteren Entwicklungen verbunden. Nicht nur im kirchlichen Bereich, sondern weit darüber hinaus änderten sich die individuellen Wertmuster. Selbstverwirklichung und Lebensqualität waren nach der Bildungsexpansion neue Referenzpunkte der Gesellschaft. Der Wunsch nach individueller Entfaltung verlieh der individuellen Freizeit eine größere Bedeutung, zumal sich durch den Rückgang der Arbeitszeit das Fenster für die freie Zeitgestaltung deutlich vergrößert hatte. Profiteure waren insbesondere die Massenmedien. Innerhalb von 20 Jahren steigerte sich seit 1970 der durchschnittliche Medienkonsum von etwa vier auf fünf Stunden täglich und stieg damit um 25 %. Die Konkurrenz zur klassisch-religiösen Sozialisation wuchs damit in ganz unterschiedlichen Bereichen rasant an. Wichtig ist aber zu sehen, dass diese Subjektivitätswelle in der bundesrepublikanischen Gesellschaft auffallend und nachhaltig mit der Entwicklung im religiösen Feld korrelierte. Über das 43 Ebd.
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„alternative Milieu“ und seine Medien breitete sich nun beispielsweise in der Gesellschaft eine Art Projektrhetorik und -praxis aus. Insbesondere der Jugendgeneration ging es in Freizeit und Beruf immer wieder darum, „Projekte zu realisieren“, sei es das kollektive Wohnen, sei es das Anstoßen künstlerischer, politischer, handwerklicher, publizistischer und nicht zuletzt akademischer Initiativen44. Auch die Religion wurde in ähnlicher Weise insbesondere unter formal besser gebildeten jungen Leuten unabhängig von den Kirchen als persönliches und damit aus einer traditionellen Perspektive als ein synkretistisches Projekt entworfen.
3. Resümee Mit Begriffen wie Nachmoderne, Postmoderne oder reflexive Moderne haben vor allem Gesellschaftswissenschaftler der verschiedensten gegenwartsnah orientierten Disziplinen diesen Wandel zu fassen versucht. Die generelle Richtung der Entwicklung, die damit beschrieben werden soll, ist klar : In der Zeit der 1960er und 70er Jahre lösten sich traditionale Strukturen auf. An die Stelle von Bindungen und Zwang traten individuelles Auswahlverhalten und eigene Entscheidungen. Das (nach)moderne Individuum muss seine Identität bewusst und reflexiv schaffen. Das Individuum wurde so, um es in den Worten Robert N. Bellahs zu sagen, zunehmend „verantwortlich für die Rollen, die es spielt, und die Verpflichtungen, die es eingeht, und zwar nicht durch die Autorität höherer Wahrheiten, sondern aufgrund der Lebenserfahrung, wie sie vom einzelnen Individuum beurteilt wird.“45 Diese Veränderungen bündeln sich wie in einem Brennglas in den Tradierungskrisen des Christentums. Der schrittweisen und der meist still vollzogenen Emanzipation des „Mädchens vom Lande“ von den kirchlichen Vorgaben zur Lebensführung in den 1950er und 60er Jahren entsprach die Selbstsäkularisierung religiös hoch bewusster Jugendlicher. Diese stellten, so ist am Beispiel von Oral History-Studien mit Studierenden aus den 1960er Jahren gezeigt worden, die transzendente Ausrichtung ihres Tuns zu Gunsten einer innerweltlichen Orientierung hinten an. Verallgemeinernd lässt sich auf der Grundlage dieser Beobachtung die Entwicklung folgendermaßen zusammenfassen: Im Übergang der Generationen haben sich Alltagsgestaltung und Lebensführung, Identitätsvergewisserung und Ausbildung von Werthaltungen insbesondere in ihrer Zuordnung zum religiösen Feld nachhaltig verändert. Zugleich zeigt sich, dass die Kirchen mit Blick auf die zunehmende Entkirchlichung nicht vorrangig Leidtragende allgemeiner Prozesse waren, im 44 Reichardt / Siegfried, Milieu, 17 und passim. 45 Bellah, Habits, 47.
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Gegenteil: Viel früher als andere Organisationen wie die Parteien, die Gewerkschaften oder der kollektive Sport bröckelten ihre Formen der Tradierung46. Vielleicht kann mit diesem Zusammenhang der Religionsgeschichte eine wichtige Schrittmacherfunktion für die Zeitgeschichte „nach dem Boom“ insgesamt zukommen47. Zur Pluralisierung der Lebensstile, zur Aufweichung starrer soziokultureller Milieus, zum Wandel von Lebens- und Privatheitsformen, zu den Veränderungen in den Mustern primärer Vergemeinschaftung in Familie, Freundeskreis und Gesinnungsgruppen wie auch zur Erosion und Veränderung vormals akzeptierter Leitwerte der Moderne und Hochmoderne – zu all diesen und weiteren Prozessen, die die jeweils zeitgenössische Soziologie allenfalls formelhaft erfasst hat, kann die Religionsgeschichte der letzten dreißig bis vierzig Jahre Beiträge liefern, die auch das allgemeine Bild des gesellschaftlichen Wandels mit komplettieren.
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46 Vgl. Grossbçlting, Religion, 395 f. 47 Doering-Manteuffel, Boom.
Das „katholische Mädchen vom Lande“ als Avantgarde?
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Ulrich Schwab
Evangelische Jugendarbeit im Wandel – die 1960er Jahre
Evangelische Jugendarbeit im Jahre 1960 ist mit den Inhalten und Strukturen der Evangelischen Jugendarbeit 1970 in vielem noch nicht vergleichbar. Die Forderungen vieler Jugendlicher nach mehr Partizipation und Demokratie in Kirche und Gesellschaft, nach neuen Formen der Verkündigung, nach einem neuen Umgang mit Sexualität, nach Frieden in Vietnam, nach Freiheit für die tschechische Reformpolitik, sowie nach einem neuen Verhältnis zwischen den armen und reichen Ländern in dieser Welt lassen die Evangelische Jugendarbeit insgesamt nicht unberührt. Freilich sind die Reaktionen, die darauf folgen, sehr unterschiedlich. Sie führen innerhalb der Evangelischen Jugendarbeit einerseits zur Thematisierung neuer Inhalte und der Forderung nach Strukturreformen, andererseits aber auch zu heftigem Widerstand gegen diese Entwicklungen. Am Anfang dieser Entwicklung steht die Jugendarbeit der frühen Nachkriegszeit in den 1950er Jahren mit ihrem Versuch der Wiederbelebung der Verbandsjugendarbeit. Am Ende dieses Jahrzehnts steht die sog. Polarisierungsdebatte und mit ihr die konzeptionelle Aufteilung der Jugendarbeit in eine emanzipatorische und eine missionarische Grundform. In der Praxis führt dies in den nachfolgenden Jahren allerdings zu vielen Zwischenformen. Wir werden im Folgenden diese Entwicklung nachzuzeichnen versuchen und dazu 1. einen Überblick zum Wiederaufbau der Evangelischen Jugendarbeit ab 1945 bis in die 1950er Jahre hinein geben, 2. die Zuspitzung einer konzeptionellen Problematik der Jugendarbeit Ende der 1950er Jahre und die sich daraus ergebenden Theorie-Versuche der 1960er Jahre beschreiben, 3. die veränderte Praxis im Lauf der 1960er Jahre untersuchen und 4. abschließend die 1960er Jahre für die Weiterentwicklung der Evangelischen Jugendarbeit insgesamt würdigen.
1. Der Wiederaufbau nach 1945 Wie fast überall, wo von einer vermeintlichen Stunde Null die Rede ist, gilt auch für die Jugendarbeit, dass nach dem verlorenen Weltkrieg in Deutschland keine Rede von einem völligen Neuanfang sein kann. Vielmehr waren die
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Kirchenleitungen bemüht, die neuen Formen einer Gemeindejugendarbeit, wie sie in Auseinandersetzung mit der Hitlerjugend entstanden waren, beizubehalten. Schon am 7. Juni 1945 hieß es in einem Schreiben des bayerischen Landeskirchenrates an alle Dekanate: „Bis zum Eintreffen unserer Weisungen wird die Jugendarbeit im bisherigen Rahmen weitergeführt. Verordnungen und Neuordnungen jeglicher organisatorischer Art haben vorerst zu unterbleiben. Selbstverständlich kann dort, wo jegliche Jugendarbeit verboten war, mit der Sammlung von Gemeindejugendkreisen wieder begonnen werden. Auch Freizeiten können schon wieder geplant und durchgeführt werden.“1
Noch deutlicher wurde der damalige bayerische Landesjugendpfarrer HansMartin Helbich in einem Schreiben an die Mitglieder der beiden Landesarbeitskreise des kirchlichen Jugendwerkes, die im Sinne einer Landesjugendkammer seit 1934 dem Landesjugendpfarrer beigeordnet waren: „Wir lehnen aber alle Versuche entschieden ab, die darauf hinauslaufen, den ,alten Zustand‘ wieder herzustellen. (…) Wer nun wieder anfängt, die Jugend zu ,geselligem Leben auf christlicher Grundlage‘ einzuladen, hat nicht erfasst, was inzwischen in unserer Arbeit geschehen ist. Wir rufen unsere Jugend nicht zum Fußballspielen und geselligem Wandern, sondern unter das Wort Gottes.“2
Der ,alte Zustand‘ bezeichnete dabei nicht die Jugendarbeit der Jahre 1933–1945, sondern zielte auf die Arbeit der Jugendverbände, wie sie sich insbesondere in den 1920er Jahren herausgebildet hatten. Dies ließ sich jedoch nach 1933 nicht fortführen. Praktisch alle Jugendverbände wurden von den Nationalsozialisten verboten und in die Hitlerjugend überführt. In diesen Auseinandersetzungen war die bibelorientierte Gemeindejugend die einzige Form, in der Evangelische Jugendarbeit zwischen 1934 und 1945 tätig werden konnte. Und genau so sollte Evangelische Jugendarbeit nach Landesjugendpfarrer Helbich nun auch nach dem Ende des Dritten Reiches gestaltet werden: eine Jugendarbeit, die auf das biblische Zeugnis und auf das Bekenntnis der Gemeinde hin orientiert ist. Damit waren zwei Wegmarken gesetzt, wie Jugendarbeit sich weiter entwickeln sollte: Evangelische Jugendarbeit sollte bibel- und bekenntnisbezogen bleiben. Doch es zeigte sich bald, dass dieser doppelte Wunsch nicht so leicht realisierbar war. Zum einen gelang es einer Reihe von Jugendverbänden nach 1945 rasch, sich wieder neu zu konstituieren. Hierzu zählten neben dem Verband christlicher Pfadfinder (VCP) vor allem der Christliche Verein junger Menschen (CVJM) und der Jugendbund für entschiedenes Christentum (EC). Auch die Schülerarbeit (AES) konnte wieder aufgebaut werden. Andere Verbände wie der 1 LKA Nìrnberg (Dek. Augsburg, 382). 2 Brief des Landesjugendpfarrers an die Mitarbeiter der Landesarbeitskreise des kirchlichen Jugendwerkes i. B. vom 11. Juni 1945 (LKA Nìrnberg, Dek. Augsburg 383).
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Bund deutscher Jugend (BDJ) kamen nach 1945 über erste Anfänge nicht wieder hinaus. Es zeigte sich, dass – mit Ausnahme der AES – vor allem diejenigen Jugendverbände eine Chance zum Wiederbeginn hatten, die auf internationale Strukturen zurückgreifen konnten. Bezeichnend für die strukturelle Weiterentwicklung der Evangelischen Jugendarbeit war es somit, dass sie von nun an zweigleisig organisiert war: einmal in Form der Gemeindejugend und einmal in Form einer speziellen Verbandsjugend. Mit der 1949 eingerichteten Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschlands (AGEJD) wurde ein Dachverband geschaffen, in dem die landeskirchlich organisierte Gemeindejugend und die einzelnen Jugendverbände sowie die Jugendarbeit der Freikirchen gemeinsam vertreten waren. Trotzdem war das Verhältnis von Gemeindejugend und Jugendverbänden auf Dauer immer wieder von Spannungen gekennzeichnet, die teilweise bis in die Gegenwart hinein anhalten. Grund dafür war einerseits eine unterschiedliche Auffassung über Ziele und Arbeitsweisen der Evangelischen Jugendarbeit, dann aber auch ein unterschiedlich strukturiertes und letztlich konkurrierendes Zugehörigkeitsgefühl. Der zweifache Wunsch, den Helbich 1945 geäußert hatte, war eine Bibelund Bekenntniszentrierung der Jugendarbeit. Hier bestand unter den Funktionären der evangelischen Jugendverbände zunächst ein gewisses Einverständnis. Manfred Müller, württembergischer Landesjugendpfarrer und 1946–1961 Vorsitzender der Jugendkammer der EKD bzw. der AGEJD, arbeitete in einem Vortrag 1951 die Notwendigkeit einer „tragenden Mitte“ der Jugendverbandsarbeit heraus3. Mit diesem Begriff sollte gegenüber der neu eingerichteten behördlichen Jugendpflege die Besonderheit einer verbandlichen Jugendarbeit herausgestellt werden, die eben in einer Bindung der Jugendlichen an diese „geistige Mitte“ gesehen wurde. Neben der äußeren Teilhabe am Programm einer Jugendorganisation wurde damit auch die innere Teilhabe im Sinne einer Akzeptanz der im Jugendverband geltenden Werte von den Jugendlichen verlangt: „Die Stoßrichtung ging dabei gegen alles, was unter den Fittichen des § 4 des Jugendwohlfahrtsgesetzes von den Landesjugendbehörden und den Jugendämtern an Jugendpflegemaßnahmen in die Wege geleitet worden war, vor allem gegen die Arbeit in den Jugendhäusern.“4
Was als geistige Mitte der Evangelischen Jugendarbeit angesehen werden sollte, war klar : die Bibel- und Bekenntniszentrierung. Allerdings gab es hierzu von Anfang an auch kritische Stimmen unter den Funktionären der Evangelischen Jugendarbeit. Hans-Otto Wölber, Landesjugendpfarrer in Hamburg, sah zwar die Notwendigkeit, dass ein einzelner Jugendlicher einer solchen Mitte bedarf, nicht jedoch jeder Jugendverband. Eine solche Ideolo-
3 Mìller, Freiheit, 205–208. Vgl. dazu Faltermaier, Nachdenken, 58–61. 4 Faltermaier, Nachdenken, 61.
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gisierung der Jugendarbeit berge doch auch – wie die Erfahrung der vergangenen Jahre gezeigt habe – große Gefahren in sich5.
2. Die Suche nach einem neuen Konzept für die „skeptische Generation“ Die Idee von der geistigen Mitte eines Jugendverbands und der damit einhergehenden persönlichen Bindung entsprach nicht mehr den Vorstellungen vieler Jugendlicher6. Im Bericht zum 1. Bezirksjugendkonvent in Kempten 1954 ist dazu in Bezug auf die männliche Gemeindejugend Folgendes zu lesen: „Sie stehe augenblicklich in einem Tal ihrer Tätigkeit. Jungschar- und Gemeindejugendarbeit seien plötzlich ins Stocken geraten. Als Gründe dafür führte der Vertreter an, unsere Jugend sei mit Jugendbewegungen – als solche betrachte er auch die Gemeindejugend – überfüttert worden. Er halte offene Diskussionsabende mit einem zeitnahen Thema für die gegebene Form, also ohne feste Bindung.“7
Nach den Jahren der gesetzlich verordneten Staatsjugend im Dritten Reich galt vielen Jugendlichen alles, was nach ideologischer Bindung aussah, als obsolet. Jugendliche wollten offensichtlich Programme nutzen, sich dabei aber nicht wieder einer ideologischen Bindung verschreiben. Von ganz analogen Einstellungen berichtete Helmut Schelsky. In seiner Soziologie der deutschen Jugend führte er den Begriff der „skeptischen Generation“ ein8. Durch die Erfahrung der nationalsozialistisch aufgeladenen Kriegspropaganda und ihre desaströsen Folgen kam es bei der jungen Generation zu einer weit verbreiteten Ablehnung politischer Glaubensbereitschaft und dazugehörender ideologischen Aktivität. Dies zeigte sich deutlich in ihrem Umgang mit Jugendverbänden: „Zugehörigkeit und Teilnahme an den Veranstaltungen einer Jugendvereinigung oder -gruppe sind für sie nur eine sinn- und zweckvolle Ergänzung ihres privaten Lebensraumes, dagegen keineswegs eine ,soziale Heimat‘, ein totaler Lebensbereich echter Jugendlichkeit; sie wollen nicht in einer Gemeinschaft ,aufgehen‘, sondern ,Anschluss finden‘, der bei aller geselligen Verbindung die Grenzen ihres persönlichen Lebens respektiert.“9
5 Wçlber, Mittelpunkttheorie, 122 f. 6 Vgl. zum Folgenden Schwab, Politische Bildung, 72–82. 7 1. Bezirksjugendkonvent Kempten, Bericht und Protokoll vom 6. 12. 1954, 3 (Im Besitz des Autors). 8 Schelsky, Generation. 9 Ebd., 469.
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Jugendliche, so Schelsky, sind zwar „organisationsbereit“, dabei aber zugleich „gemeinschaftsscheu“10. Mit den traditionellen Bildungskonzepten der Jugendverbände schien dies nicht kompatibel zu sein. Hans-Otto Wölber hatte 1959 diese distanzierte Einstellung der Jugendlichen gegenüber institutionellen Bindungsanforderungen für den Bereich der Evangelischen Jugend als „Religion ohne Entscheidung“11 profiliert. Der Jugend sei der religiöse Gemeinschaftsgedanke abhanden gekommen. Kirchliche Bindungen gäbe es nur noch peripher : „Von solchen Einstellungen her muss man zweifellos die evangelischen Jugendkreise als ganze als einen Brückenkopf der Kirche im Freizeitraum der Jugend bezeichnen. Man kann aber nicht sagen, es ginge bei solchen Gruppen um einen besonderen kirchlichen Überzeugungskern.“12
Peter Krusche, damals Landesjugendpfarrer in Bayern, hat 1959 diese Kritik an den bindungsscheuen Jugendlichen in einem viel beachteten Aufsatz unter dem Titel „Warten auf Bewegung“ konstruktiv aufgenommen. Das Unbehagen in und an den Jugendverbänden resultiert für Krusche aus gesellschaftlichen Strukturverschiebungen, die zu einer neuen Manipulierung der Freiheit der Jugend führen könnten: „Viele junge Menschen haben den Eindruck, dass an den Bemühungen um sie und ihre Probleme dies nicht in Ordnung ist, dass ihre eigene Freiheit und ihre eigene Zukunft auf eine raffinierte Weise von den Erwachsenen und ihren Organisationen (uns eingeschlossen!) ,manipuliert‘ werden (Schelsky).“13
Krusche forderte stattdessen, die Jugendarbeit als ein „Einübungsfeld für eine fruchtbare Begegnung der Generationen“14 zu verstehen, indem echte Verantwortung und sachlich fundierte Autorität vorzuleben sind, was auch eine von persönlicher Beteiligung geprägte Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, der Massenvernichtung der europäischen Juden und anderer verfolgten Gruppierungen mit einschloss. Er sah es als wichtigste Aufgabe für die politische Bildung der Jugend auch in der Jugendarbeit an, gegen die „Verstockung gegenüber der Geschichte“15, die sich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft insgesamt breit machte, vorzugehen: „Es gibt so etwas wie eine Verstockung gegenüber der Geschichte. Wer wollte sich darüber wundern, dass sie sich bei Jugendlichen ebenso zu äußern beginnt, wie bei einem großen Teil der Erwachsenen. Wenn unter politischer Bildung bloße Aufklärung und geduldige Unterrichtung verstanden wird, muss man um ihre 10 11 12 13 14 15
Ebd. Wçlber, Religion. Ebd., 200. Krusche, Bewegung, 89. Ebd., 91. Ebd.
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Wirkung besorgt sein. Was not tut, ist persönliche Stellungnahme und klare Beurteilung des vergangenen und des gegenwärtig aktuellen politischen Geschehens durch eine möglichst breite Schicht der Erwachsenen und besonders durch diejenigen, die verantwortlich an der Erziehung der Jugend beteiligt sind. Es genügt nicht, nur von Fehlentscheidungen zu sprechen. Echte Stellungnahme schließt, besonders im Verhältnis der Generationen, das Eingeständnis von Schuld oder zumindest doch Beschämung ein.“16
Peter Krusche hatte damit ansatzweise für den Bereich der Jugendarbeit formuliert, was Jahre später Alexander und Margarete Mitscherlich mit ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“17 wegweisend zur Frage nach dem deutschen Umgang mit dem Holocaust formulierten. Zugleich öffnete er den Weg für ein neues Selbstverständnis verbandlicher Jugendarbeit, indem nicht mehr die Verbände selbst, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit den entscheidenden Kontext darstellen sollten. An dieser Stelle wurde er durch einen Vortrag unterstützt, den Trutz Rendtorff über das Thema „Verbindlichkeit in der Jugendarbeit als theologisches Problem“ 1961 gehalten hatte18. Demnach konnte das Ziel der Jugendarbeit nicht in der Verbindlichkeit mit einem Verband bestehen, sondern vielmehr in einer neuen Verbindlichkeit mit der Welt, die es im Ausgang von Inhalten des christlichen Glaubens neu zu gestalten gilt. Im Rahmen eines Grundsatzgesprächs des Bundesjugendrings 1962 in St. Martin zu „Selbstverständnis und Wirklichkeit der heutigen Jugendverbandsarbeit“ wurde dieser Gedanke weiter ausgeführt19. Es wurde Abschied genommen von der Vorstellung, die Jugendarbeit eröffne ein autonomes Jugendreich ohne Bezug zu der sie umgebenden Gesellschaft, aber mit der Erwartung einer weitestgehenden Bindungsbereitschaft. Die Jugendverbände begriffen sich nun selbst als Teil der demokratischen Gesellschaft. Ihre Aufgabe sahen sie darin, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Sozialisation der Jugendlichen zu leisten. Die Jugendverbände wollten an der Gestaltung der Lebensverhältnisse der jungen Generation mitwirken. Heinz-Georg Binder, 1962 Referent für die politische Bildungsarbeit in der AEJ und zugleich Vorsitzender des Bundesjugendrings, hat diesen neuen Ansatz maßgeblich mit geprägt. Jugendarbeit wird zur außerschulischen Pädagogik und damit neben Familie und Schule zum dritten Erziehungsfeld in der Gesellschaft: „Hauptthese bleibt: Unsere Jugendverbandsarbeit ist vergesellschaftete Jugendarbeit. Sie vollzieht sich weithin im Auftrag und im Interesse der großen Verbände und Institutionen unserer Gesellschaft. Darin liegt ihre Chance, dass der junge Mensch auch in der Jugendarbeit den Strukturen unserer modernen Verbands16 17 18 19
Ebd., 91 f. Mitscherlich, Unfähigkeit. Rendtorff, Verbindlichkeit, 74–86. Abgedruckt in Faltermaier, Nachdenken, 119–122.
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gesellschaft begegnet und er gerade in dieser für ihn so schwierigen Situation pädagogisch begleitet wird.“20
Diese Verknüpfung zwischen Jugendarbeit und gesellschaftlicher Praxis bestimmte Anfang der 1960er Jahre federführend auch die Entwicklung theoretischer Konzepte für die Jugendarbeit. In dem 1964 herausgegebenen Band „Was ist Jugendarbeit?“ wurde von den vier jungen Erziehungswissenschaftlern C. Wolfgang Müller, Helmut Kentler, Klaus Mollenhauer und Hermann Giesecke eine bei den Jugendlichen selbst ansetzende und auf Mündigkeit zielende Theorie der Jugendarbeit formuliert21. Helmut Kentler, pädagogischer Referent im Studienzentrum für Evangelische Jugendarbeit in Josefstal und Hermann Giesecke, Erziehungswissenschaftler in Göttingen, reflektierten in ihren Beiträgen besonders intensiv den politischen Bildungsauftrag von Jugendarbeit. Jugendarbeit hatte hier den Auftrag, Jugendliche in der Industriewelt so zu begleiten, dass sie lernen, ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Da Mündigkeit durch Bildung so lange nicht zu erreichen sei, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse dem im Wege stehen arbeitet die Jugendarbeit selbst an der kritischen Vermittlung von Utopie und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Damit Bildung zur Freiheit Realität werden kann, muss das Team in der Jugendarbeit selber exemplarisch in freiheitlicher Weise miteinander umgehen und so Lernprozesse anregen. Konflikte in der Gruppe spielen hier eine besondere Bedeutung. Sie werden zum vorzüglichen Lernort einer Bildung in Freiheit. Giesecke sah in den Organisationen der Jugendarbeit einen Schonraum für Jugendliche, in dem sie Mündigkeit durch Experimentieren erlernen könnten. Dabei sei darauf zu achten, dass neben den intimen Sozialformen der Gruppe auch solche distanzierteren Sozialbeziehungen eingeübt werden, wie sie in gesellschaftlichen Institutionen üblich sind. Alle vier Ansätze in diesem Buch betonten die Ausrichtung auf die Jugendlichen selbst, die kritische Bezugnahme auf den gesellschaftlichen Kontext, das Prinzip der Freiwilligkeit, welches das Lernfeld der Jugendarbeit von anderen Lernfeldern in der Gesellschaft grundlegend unterscheidet und Mündigkeit als zu erwerbendes Bildungsziel. Christof Bäumler, Leiter des Studienzentrums für Evangelische Jugendarbeit in Josefstal, versuchte in einem 1965 herausgegebenen Band „Treffpunkt Gemeinde“ die pädagogische Verantwortung der Gemeinde im Kontext einer solchen emanzipatorischen Theorie der Jugendarbeit zu konkretisieren. Dazu verknüpfte er theologisch den eschatologischen Ansatz Jürgen Moltmanns von der Exodusgemeinde als der auf Zukunft hin ausgerichteten Wirklichkeit des wandernden Gottesvolkes mit der Nachfolge-Konzeption Dietrich Bonhoeffers. Eine Gemeinde, die in der Nachfolge Jesu Christi steht und die demzufolge den Menschen menschlich begegnet, hat die Fragen der Menschen 20 Binder, Strukturwandel, 106. 21 Mìller u. a., Versuche.
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in der modernen Industriegesellschaft ernst zu nehmen und rechnet mit ihrer eigenen Veränderung: „Erwartet die Christenheit in der Zukunft noch etwas von ihrem Herrn oder hält sie sich selbst für das Ende der Wege Gottes, für eine Schutz- und Trutzburg inmitten einer ihrem Verfall preisgegebenen Massengesellschaft?“22
Im Sinne einer kritischen Vermittlung von Utopie und Wirklichkeit kritisierte Bäumler an der Praxis des Umgangs der Kirchengemeinden mit den Jugendlichen den einlinigen Verkehr von den Erwachsenen zu den Jugendlichen, ein beziehungsloses Nebeneinander verschiedener pädagogischer Arbeitsfelder und eine fehlende Verknüpfung der Verbindung mit dem Alltag in der Verkündigung. Alles Aspekte, die einen partnerschaftlichen Umgang mit Jugendlichen nicht möglich werden lassen. Für unerlässlich erklärt er in Aufnahme des Ansatzes von Peter Krusche das Gespräch zwischen den Generationen, weil eine nur mit sich selbst beschäftigte Gemeinde für Jugendliche uninteressant bleiben müsse: „Es stellt sich also die Frage: Wie begegnen sich die Generationen im ,Treffpunkt Gemeinde‘ um miteinander danach zu fragen, wie Nachfolge Jesu Christi in der modernen Gesellschaft aussieht und wie helfen sie sich gegenseitig, die gefundenen Antworten in ihrem Leben zu erproben?“23 So geschieht Erbauung der Gemeinde als „Gemeinde für andere“: die Gemeinde Gottes ist nicht für sich selbst, sondern zur Ehre Gottes für die Menschen da, die ihrer bedürfen. Daraus ergibt sich für das Gespräch der Generationen in der Gemeinde eine Art Begleitungsstruktur. Die erwachsenen Gemeindeglieder sollen die heranwachsenden so in Freiheit begleiten, dass diese den sachgemäßen Gottesdienst im Alltag einüben und ihren Glauben in ihrer alltäglichen Wirklichkeit als mündige Christen leben können. Erwachsene sind in diesem Dialogprozess nicht allwissende, fehlerfreie Führer, sondern selbst experimentierende, um Aufrichtigkeit bemühte Berater in einem Bildungsprozess, der auf Mündigkeit zielt.
3. Neue Theorie und alte Praxis? Damit war die Theorie-Diskussion in der Jugendarbeit soweit fortgeschrieben worden, dass den veränderten gesellschaftlichen Strukturen und den damit zusammenhängenden veränderten Bedürfnissen der Jugendlichen erstmals Rechnung getragen werden konnte. Keineswegs war aber damit die Praxis der Jugendarbeit bereits grundlegend verändert. In einer 1965 durchgeführten qualitativen Pilotstudie zur Jugendarbeit konnten Klaus Mollenhauer und seine Mitarbeiterinnen und Mitar22 Bumler, Treffpunkt, 8. 23 Ebd., 15.
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beiter zeigen, dass die Realität der Evangelischen Jugendarbeit in Deutschland von solchen Bedingungen geprägt war, die Partizipation und Mündigkeit eher erschwerten als beförderten24. So konnten sie in der Jugendarbeit durchgängig ein Interesse an der Aufrechterhaltung bestehender Rollenzuordnungen feststellen, so dass es nicht gelang, den theologischen Anspruch auf generationsübergreifendes Lernen pädagogisch einzulösen: „dass eine kritisch gemeinte Theologie eine unkritische Praxis im Umgang mit jungen Menschen nicht zu ändern vermag. Die Evangelische Jugendarbeit lässt sich also in ihren vorherrschenden Tendenzen als ein pädagogisches RepetitionsPhänomen beschreiben, in dem wiederholt und verstärkt wird, was in den etablierten Ordnungen schon immer geschieht.“25
Es war den Autoren nicht ersichtlich, wie unter solchen Bedingungen Evangelische Jugendarbeit zur Erprobung neuer Rollendefinitionen und zu einer Ich-Stärkung der Heranwachsenden beitragen konnte. Anders als gedacht käme den Jugendlichen in den kirchlichen Gremien eine taktische statt einer strategischen Beteiligung zu. Dies führte dazu, dass Jugendliche an den Überlegungen zur Zielbestimmung von Evangelischer Jugendarbeit nicht beteiligt waren. Die Präsentation der Ergebnisse dieser Pilotstudie löste heftige Diskussionen unter den Funktionären der Evangelischen Jugendarbeit aus. Das Ergebnis war, dass nach langer Diskussion die anvisierte große Studie zur evangelischen Jugendarbeit nicht in Auftrag gegeben wurde. Zudem wurde die Pilotstudie erst vier Jahre nach ihrer Durchführung publiziert. Hatte die Studie also 1965 eine Realität beschrieben, die niemand so recht wahrhaben wollte, so mehrten sich auch ohne Publikation der Ergebnisse dieser Studie die Zeichen dafür, dass Jugendliche mit den herkömmlichen Strukturen kirchlicher Jugendarbeit nicht mehr einverstanden waren. Jugendliche brachten in die Evangelische Jugendarbeit nicht nur neue Themen ein, sondern änderten auch ihren Aktionsmodus. Im Weihnachtsgottesdienst 1967 der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin entrollten acht Jugendliche ein Transparent mit Friedenslosungen für Vietnam. Von Seiten der Kirchenleitungen wurde diesbezüglich vor allem die Störung des Gottesdienstes moniert und deshalb die Polizei gerufen. Es kam zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf der anwesende Rudi Dutschke von einem Gottesdienstbesucher mit einem Krückstock verletzt wurde26. Mit dem Thema Vietnam war aber natürlich auch der Impuls für eine Kritik an der imperialistischen Kriegspolitik der USA in Südostasien verbunden. So betrachteten es die Landesjugendpfarrer im März 1968 als notwendig, die kirchenleitenden Organe und die gesamte kirchliche Öffentlichkeit zu ermahnen, sich mit der 24 Mollenhauer u. a., Jugendarbeit. 25 Ebd., 230. 26 Foitzik, Jugendarbeit, 96.
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Kritik der Jugendlichen an der Weltpolitik inhaltlich zu beschäftigen. In einer Erklärung zur Unruhe der jungen Generation hieß es, die Kirche kann „zur Entschärfung der Radikalisierungstendenzen beitragen, wenn sie auf die sachlichen anstehenden Fragen hört.“27 Dass es in der Jugendarbeit sowohl auf Seiten der Hauptberuflichen als auch auf Seiten der Jugendlichen eine ganze Reihe von neuen Fragen gab, spiegeln die damaligen Jahrgänge der Zeitschrift „das baugerüst“ wieder. Bis heute ist „das baugerüst“ die maßgebliche Zeitschrift für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Evangelischen Jugendarbeit und bietet ihren Leserinnen und Lesern praxisbezogene Beiträge an. Im Folgenden ein Überblick über die Themen der Jahrgänge 1956–1958 und der Jahrgänge 1966–1968: das baugerüst Zeitschrift für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der evangelischen Jugendarbeit und außerschulischen Bildung Jahrgang 1956 1/56 Weltmission 2/56 Jazz 3/56 Jugend und Gottesdienst 4/56 Zweisam ist der Mensch 5/56 Vom rechten Hören 6/56 Der Christ im Staat 7–8/56 Götzen, Zauberei und Weltanschauung 9/56 Kirche und Welt 10/56 Bekenntnis 11/56 Zeitgemäß leben 12/56 Die Menschwerdung Gottes
Jahrgang 1966 1/66 Party 66 2/66 Leben im Farbdruck 3/66 Hoffnung 4/66 Technik 5/66 Sport 6–7/66 Freizeiten 66 – Mut zur Versöhnung 8–9/66 Informationen über die CSSR 10/66 Beruf 11/66 Heldenehrung 12/66 Entäußerung – Ausländische Arbeitskräfte
Jahrgang 1957 1/57 Gott und die Götter (1. Gebot) 2/57 Gott und die Bilder (1. Gebot) 3/57 Der Name Gottes (2. Gebot) 4/57 Du sollst feiern (3. Gebot) 5/57 Vater und Mutter ehren (4. Gebot) 6/7–57 Zweisam ist der Mensch (6. Gebot) 8–9/57 Der Dialektische und Historische Materialismus 10/57 Ehre und Wahrhaftigkeit (8. Gebot) 11/57 Das neue Gebot der Liebe 12/57 Der Friede Gottes
Jahrgang 1967 1/67 Afrika 2/67 Autorität 3/67 Frieden 4/67 Protest 5–6/67 Werkheft für Freizeiten 7/67 Sexualpädagogik und Sexualethik 8–9/67 Reformation – Revolution 10/67 Berufe in der Kirche – Dienst am Menschen 11/67 Verkehr 12/67 Vom Versagen
27 Ebd., 97.
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(Fortsetzung) das baugerüst Zeitschrift für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der evangelischen Jugendarbeit und außerschulischen Bildung Jahrgang 1958 1/58 Evangelische Tradition 2/58 Zucht im Alltag 3/58 Die zaghafte und aggressive Freiheit 4/58 Der unbezahlbare Mensch 5/58 Himmlische und höllische Zerrbilder 6/58 Der Mensch in der Zelle 7–8/58 Große Freiheit 1958 – Pressefreiheit 9/58 Welt ohne Väter 10–11/58 Der Dialektische und Historische Materialismus 12/58 Der Mensch unterwegs
Jahrgang 1968 1–2/68 Die Entwicklungsapokalypse 3/68 Was wird aus dem Menschen 4–5/68 Israel 6/68 Gespräche auf Freizeiten 7/68 Jugendhilfe 8/68 Vom Umgang mit Mitarbeiterzeitschriften 9/68 Provokation und Mitverantwortung 10/68 Jugendarbeit mit berufstätigen Jugendlichen 11–12/68 Nord-Süd: Phantasie für Unbekannt
Die hier vorgestellten Jahrgänge aus den 1950er Jahren zeigen deutlich, dass „das baugerüst“ in dieser Zeit kirchliche und biblische Themen im Zuge einer starken Bekenntnisorientierung in den Vordergrund stellte. Der Jahrgang 1956 bot etwa klassische Themen wie Jugend und Gottesdienst, Vom rechten Hören und Bekenntnis. Der Jahrgang 1957 war fast ausschließlich den Zehn Geboten gewidmet. Im Jahre 1958 finden sich Themen wie Evangelische Tradition, Himmlische und höllische Zerrbilder, und Der Mensch unterwegs. Es waren weit überwiegend kirchliche Themen, die hier in den einzelnen Heften der Zeitschrift behandelt wurden. Selbst da, wo dann doch auch allgemeine Themen zur Sprache kamen, wurden diese ebenfalls in theologischer Sicht präsentiert. Aus religionspädagogischer Sicht ist dies für diese Jahre absolut nichts Ungewöhnliches. Gegen Ende der 1920er und dann in den 1930er Jahren hatte sich in Bezug auf die Barthsche Offenbarungstheologie ein neues religionspädagogisches Konzept herausgebildet, das nach 1945 unter dem Titel „Evangelische Unterweisung“28 geradezu eine Monopolstellung in Schule und Gemeinde erlangen konnte. Das Konzept war radikal geschieden von älteren liberalen Bemühungen um eine Verknüpfung von Religion und Kultur. Stattdessen ging es darum, das Kind im Ausgang von der Offenbarung im rechten Gebrauch des Evangeliums zu unterweisen. Der Ort einer solchen Unterweisung war die Kirche – und zwar auch dann, wenn es um schulischen
28 Vgl. Kittel, Erzieher.
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Unterricht ging. Hatte dieses Konzept als „Kirche in der Schule“29 in den 1930er Jahren seine Berechtigung in der Unterstützung der Abwehr einer totalen religiös verbrämten Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus in der Schule, so zeigte sich Ende der 1950er Jahre doch auch die Sperrigkeit eines solchen Modells für den Fortbestand des Religionsunterrichts in der demokratischen Gesellschaft. Gesucht wurde deshalb ein neuer Ansatz, der die enge kirchliche Perspektive weiten konnte im Sinne einer Erziehung zum „Christsein in der Gesellschaft“30. Diese zu Recht als Wende bezeichnete neue Ausrichtung der Religionspädagogik auch auf gesellschaftliche Themen zeigte sich auch in den Beiträgen des „baugerüsts“. Waren in den 1950er Jahren die Themen weit überwiegend auf Verkündigungsfragen bezogen, so ergibt sich für die Jahrgänge 1966–68 doch ein deutlich anderes Bild. 1966 fanden sich Themen wie Party 66, Informationen über die CSSR und Entäußerung – ausländische Arbeitskräfte. In 1967 folgen Themen wie Autorität, Frieden, Sexualpädagogik und Sexualethik und Reformation – Revolution. 1968 sind es dann u. a. die Themen Entwicklungsapokalypse, Provokation und Mitverantwortung, Nord-Süd: Phantasie für Unbekannt. Hier dominierte also ein neuer gesellschaftspolitischer Ansatz, der sich den Problemen der Welt aus christlicher Perspektive stellen wollte. Die Zeitschrift war in diesen Jahren deutlich mehr um Aktualität bemüht. Auch hier lohnt sich ein Vergleich zu den religionspädagogischen Konzeptionen: Mitte der 1960er Jahre ist die Evangelische Unterweisung verabschiedet gewesen und „das baugerüst“ war im Bereich des Problemorientierten Religionsunterrichts angekommen. Biblisch-theologische Inhalte waren damit keineswegs verschwunden. Sie sollten nun aber so aufbereitet werden, dass sie auf die Fragen nach dem aktuellen Christ- und Menschsein in der Gesellschaft bezogen waren. Das kam auch dem Stellenwert der Bibel zugute, konnte sie doch an vielen Problemstellungen ihre zeitlose Aktualität unter Beweis stellen. Themen wie der Umgang mit ausländischen Arbeitskräften, der Suche nach sexualethischen Grundsätzen sowie einer gerechten Teilhabe aller Menschen am Reichtum dieser Welt ließen sich alle auch mit Hilfe biblischer Texte bearbeiten. Ganz im Sinne dieser Themen, die hier in der Zeitschrift „das baugerüst“ sichtbar wurden, hatte der Jugendpolitische Ausschuss der AGEJD 1967 zusammen mit dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und der sozialistischen Jugendorganisation „Die Falken“ gemeinsam eine Erklärung herausgegeben, in der die weltweite Friedensarbeit zu einem neuen Schwerpunkt der Verbandsjugendarbeit erklärt wurde. Früher als in anderen Kontexten entstanden daraus erste globale Perspektiven einer neuen, sich ökumenisch im Sinne von weltweit verstehender Jugendarbeit. Innerhalb der kirchlichen Hierarchie waren es allerdings nur wenige 29 Rang, Handbuch. 30 Nipkow, Schule.
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Theologen, die mit diesen neuen Themen in der kirchlichen Öffentlichkeit konstruktiv umgehen konnten. Die heftig geforderte Partizipation der Jugendlichen in kirchlichen Gremien wurde nur teilweise bzw. kaum gewährt. So lud die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Uppsala 1968 zwar erstmals eine Jugendvertretung ein, freilich jedoch ohne irgendwelche Delegiertenrechte, was zur Folge hatte, dass sie sich in den Plenarsitzungen nicht einmal zu Wort melden durften, von einer möglichen Beteiligung an den Abstimmungen ganz abgesehen. Desgleichen die EKD-Synode 1968: Auch hier wurden Jugendvertreter ohne die Rechte offizieller Delegierter eingeladen. Dies führte dazu, dass die Jugendlichen mit Protest von weiteren Einladungen Abstand nahmen. Die Rolle eines partizipatorischen Feigenblattes wollten sie nicht spielen. Bis heute haben übrigens die Jugenddelegierten bei den Landessynoden und in der EKD-Synode kein Stimmrecht. Leider war es in der AGEJD selbst nicht viel anders. Es bestand die Hoffnung, dass durch die Anfang 1969 neu formulierte Satzung nun auch vermehrt Ehrenamtliche und Jugendliche in führende Positionen gewählt werden. Das Ergebnis war eine einzige Enttäuschung: Alle führenden Positionen wurden wieder durch Pfarrer besetzt. Und wieder hatte sich gezeigt, dass Mollenhauers Analyse, wonach in der Kirche zwar liberal geredet aber noch lange nicht dementsprechend gehandelt wird, zutreffend war. Am 31. Januar 1969 trat der Rat der EKD mit einer Presseerklärung an die Öffentlichkeit und nahm damit Stellung zur „Unruhe in der jungen Generation“: „Die von einigen Gruppen vertretene und zum Teil mit großem publizistischem Aufwand betriebene sozialrevolutionäre Umdeutung der christlichen Botschaft kann nach Auffassung des Rates nicht länger unwidersprochen hingenommen werden. Der Rat verkennt nicht, dass es sowohl in Kirche und Theologie wie in Staat und Gesellschaft berechtigte Fragen der jüngeren Generation für eine Angleichung an die Erfordernisse der Zukunft gibt. Der Rat appelliert daher an die besonnenen Kräfte auf allen Seiten, für eine konstruktive Begegnung zwischen kritischen Gruppen einerseits und den Verantwortlichen in Kirche, Staat und Gesellschaft andererseits einzutreten.“31
In vielen Stellungnahmen brachten sowohl Jugendliche als auch Hauptberufliche in der Evangelischen Jugendarbeit zum Ausdruck, dass aus dieser Erklärung nur wenig Verständnis für das gesellschaftspolitische Engagement eines Großteils der Jugendlichen und jungen Erwachsenen herauszuhören war. Eine Chance zur Öffnung der Kirche für die Belange der Jugendlichen war damit vertan. Wesentlich hilfreicher war dagegen die Entstehung einer neuen Art von gesellschaftskritischer Gemeindeliteratur für die Hand von Jugendlichen. So 31 Der Wortlaut der Erklärung ist abgedruckt in: Widmann, Wandel, 286 f.
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erschien 1969 in evangelisch-katholischer Kooperation eine Reihe mit dem Titel: Bibel provokativ. Die Autoren nahmen kein Blatt vor den Mund: „[…] die Christen haben sich daran gewöhnt, mit der Bibel zu leben. Zu einer Provokation gehört der Verstoß gegen ,Ruhe und Ordnung‘, die Kritik an der geheiligten Konvention. Die Bibel ist provokativ, weil sie den Kirchenschlaf stört und allem selbstgenügsamen Heilsbesitz den Kampf ansagt […] Das Reich Gottes ist nicht ein Verein seliger Individuen, sondern die Vollendung der Menschheit als Gottes Volk.“32
Im dritten Band der Reihe: „achtung mitmensch. Wohlstandsgesellschaft herausgefordert.“ werden aktuelle soziale Themen behandelt und in Bezug gesetzt zu einer gesellschaftspolitisch argumentierenden Theologie. Zu den Themen gehören u. a.: Behinderte, Minderjährige, Gammler und Revolutionäre, das ,schwächere Geschlecht‘, Straffällige und Gescheiterte, Ausländer und Minderheiten, Gefährdete Umwelt – manipulierter Mensch. Die Texte in diesem Buch konnten keine abschließenden Antworten auf die großen Fragen geben, denen sie sich zuwendeten. Der Erfolg lag eher darin, dass man den Texten abspüren konnte, wie ernst und interessiert sie die damit verbundenen Fragen aufnahmen. So heißt es im Vorspann zu einem der oben genannten Kapitel: „Es gibt so eine Art Faschismus der kleinen Leute, die meinen, dass jeder, der Unruhe macht, über die Mauer abgeschoben werden soll oder aufgehängt werden soll, was derlei fürchterliche Sprüche mehr sind. Waldemar Besson.“33
Hier war eine Reihe entstanden, die den Bezug zur Welt theologisch und kritisch beleuchten konnte und die zugleich signalisierte, dass die Fragen der Jugendlichen von fundamentaler Bedeutung waren. Es gelang der Reihe das Signal zu setzen, dass Jugendliche in dieser Reihe ernst genommen wurden. Das war wesentlich bedeutsamer als alle vorschnellen Lösungsangebote. Neben der Auseinandersetzung um gesellschaftskritische Probleme, die weitgehend intellektuell geführt wurde, gehörte zum Profil der evangelischen Jugendarbeit in den 1960er Jahren auch die Entstehung eines neuen geistlichen Liedgutes. Nach dem phänomenalen Erfolg des sich am deutschen Schlager orientierenden Liedes „Danke“34 folgten bald nicht nur einzelne Lieder, sondern ganze Liedersammlungen, die in unterschiedlicher Weise ihr Publikum suchten. Schon 1953 erschien im Auftrag des CVJM-Köln die Mundorgel, die in den 1960er Jahren fester Bestandteil der gesamten CVJMArbeit wurde35. War die Mundorgel in der Auswahl ihrer Lieder noch stark „bündisch“ geprägt, so kamen nun vermehrt Impulse aus der amerikanischen 32 33 34 35
Haug / Rump, Bibel, 5. Vgl. auch Baumann / Haug, thema. Braden / Nagel, achtung, 51. Bubmann, Musik, 133 ff. Corbach / Iseke / Wieners, Mundorgel.
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Gospel-Musik nach Deutschland. Hierzu gehört das kleine Bändchen „Look away“ aus dem Jahre 1960, in dem 56 leicht zu singende Gospels von Walter F. Anderson zusammengestellt waren36. In ähnlicher Weise waren die 1969 erschienenen „Songs junger Christen“ für die Jugendarbeit gedacht, die mit leichten Arrangements eine Sammlung ins Deutsche übersetzter amerikanischer Gospel-Musik anbot37. Die weitere Entwicklung führte dann dazu, dass Gemeinden und Dekanatsjugendstellen zunehmend ihre eigenen Liederbücher zusammenstellten. Die neuen Texte und neuen Lieder drängten fast automatisch zu neuen Gottesdienst-Formaten auch in der Jugendarbeit. Nicht nur die AG „Werk und Feier“ der AGEJD entwickelte Gottesdienste in neuer Gestalt. Wegweisend für die Jugendarbeit war auch das von Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky 1968 in Köln entwickelte „Politische Nachtgebet“, in dem ganz bewusst strittige ˇ SSR – Santo Dogesellschaftspolitische Themen aufgegriffen wurden, wie C mingo – Vietnam, Diskriminierungen, Wir – schuldige Christen – Buße 1968, Strafvollzug – human? Teufelskreis Entwicklungshilfe, Glaube und Politik38. Vor allem die Evangelischen Studentengemeinden (ESG) fanden hier ein weit gespanntes Themenfeld.
4. Das Erbe der 1960er Jahre Die Entwicklung in der Evangelischen Jugendarbeit der 1960er Jahre verlief sehr unterschiedlich. Da waren die Auseinandersetzungen in den Verbänden, in der AGEJD und in der Kirche, in denen es vor allem um die Partizipation der Jugendlichen ging. Da waren aber auch gesellschaftspolitische Themen, die mit Macht in die Jugendarbeit hineindrangen. Hierzu gehörten Fragen eines sozialen inneren Friedens, entwicklungspolitische Gerechtigkeit, der Krieg in Vietnam, ein befreiter Umgang mit Sexualität und manches mehr. Aber dieser Themenkatalog allein macht das Profil der Evangelischen Jugendarbeit in diesem Jahrzehnt nicht aus. Wie auch sonst in der bundesrepublikanischen Gesellschaft in dieser Zeit vermischten sich extrem progressive mit extrem autoritären Strukturen. Die Studie von Klaus Mollenhauer konnte dies für die Jugendverbände belegen. Die undemokratischen Erfahrungen vieler Jugendlicher in der Auseinandersetzung um mehr innerkirchliche Partizipation waren dann gleichsam der dazu gehörige „Materialband“. Offensichtlich war auch in vielen kirchlichen Institutionen der Anspruch Willy Brandts, „mehr Demokratie zu wagen“ in seinen Konsequenzen noch gar nicht bedacht. Während die einen für die Beendigung des Vietnam-Kriegs auf die Straße 36 Anderson, Look away. 37 Schlottoff, Songs. 38 Sçlle / Steffensky, Nachtgebet.
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gingen, versteckten die anderen ihre Vergangenheit im Dritten Reich oder – noch gravierender – sahen darin keinen Anlass für eine persönliche Auseinandersetzung mit den Stationen ihrer eigenen Biographie. In der Evangelischen Jugendarbeit wurde diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Kontext der sogenannten Polarisierungsdebatte thematisiert: hier wurde seit 1970 darüber gestritten, ob Evangelische Jugendarbeit eher missionarisch oder eher emanzipatorisch ausgerichtet sein sollte39. Jugendliche waren an diesen Auseinandersetzungen zunächst gar nicht beteiligt, sondern erhielten je nach Jugendverband diverse Vorgaben, wie Jugendarbeit auszusehen habe. Letztlich waren es jedoch die Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen zusammen, die diese Debatte durch eine konstruktive Praxis in den folgenden Jahren ad absurdum führten. Sie weigerten sich zu Recht, die Freiheit des Evangeliums gegen die Freiheit für diese Welt auszuspielen. Aber die Polarisierungsdebatte hatte ja vielleicht noch einen ganz anderen Hintergrund. In der Verstrickung von Ideen einer gesellschaftlichen Befreiung mit weithin für selbstverständlich angesehenen autoritären Praxisformen zeichneten sich nicht nur notwendige Kontroversen, sondern zugleich der Abschied von klaren Leitbildern des gesellschaftlichen Zusammenlebens ab. In sich schlüssige und für alle verbindliche Ideale einer neuen Gemeinschaftlichkeit griffen offensichtlich zu kurz, wenn es darum ging, Vorstellungen für zukünftiges Zusammenleben zu entwickeln. Die 1960er Jahre waren vielleicht Höhepunkt, letztlich aber vor allem Abschluss einer solchen gesellschaftlichen Utopie des sozialen Friedens für alle, auf Dauer, in gleicher Weise. In den vielfältigen kleinen und großen Aufbrüchen und Verwerfungen dieser Jahre wurde etwas Entscheidendes deutlich. Es sind nicht die großen, umfassenden Lösungsangebote, die uns gemeinsam Orientierung geben, sondern es sind die Visionen auf begrenztem Raum, die untereinander Toleranz brauchen und selbst anbieten, und auf diese Art und Weise Humanität möglich machen. Plurale Kontexte lassen sich zudem nicht so leicht hierarchisch dirigieren. Partizipation führt nicht per se zur Gesellschaft der Gleichen, wohl aber zu einer Gesellschaft der Gleichberechtigten. Das wäre dann allerdings doch ein großes Thema in der Evangelischen Jugendarbeit der 1960er Jahre gewesen.
39 Affolderbach, Grundsatztexte, 121 ff.
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Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Landeskirchliches Archiv, Nürnberg Bestand Dekanat Augsburg Nr. 382, 383.
Privatbesitz Ulrich Schwab 1. Bezirksjugendkonvent Kempten, Bericht und Protokoll vom 6. 12. 1954.
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Affolderbach, Martin (Hg.): Grundsatztexte zur evangelischen Jugendarbeit. Materialien zur Diskussion in Praxis, Lehre und Forschung. Stuttgart 21982. Anderson, Walter F.: Look away. 56 Negro Folk Songs. Delaware/OH 1960. Baumann, Rolf / Haug, Helmut: thema Gott. Fragen von gestern und morgen (Bibel provokativ 2). Stuttgart 1970. Bumler, Christof (Hg.): Treffpunkt Gemeinde. Jugend im Gemeindeaufbau (Studien zur praktischen Theologie 2). München 1965. Binder, Heinz-Georg: Der Strukturwandel in der Jugendarbeit (1962). Abgedruckt in: Faltermaier, Nachdenken, 101–106. Braden, Klaus / Nagel, Hans (Hg.): achtung mitmensch. Wohlstandsgesellschaft herausgefordert (Bibel provokativ 3). Stuttgart 1970. Bubmann, Peter : Musik-Religion-Kirche. Studien zur Musik aus theologischer Perspektive (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 21). Leipzig 2009. Corbach, Dieter / Iseke, Ulrich / Wieners, Peter : Die Mundorgel. Köln 1953. Das Baugerìst. Zeitschrift für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der evangelischen Jugendarbeit und außerschulischen Bildung. Nürnberg 1955–1970. Faltermaier, Martin (Hg.): Nachdenken über Jugendarbeit. Zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren. Studienausgabe. München 1983. Foitzik, Karl: Evangelische Jugendarbeit in den 60er Jahren – Zwischen Bibel und Gesellschaft. In: Schwab, Geschichte, 65–113. Haug, Helmut / Rump, Jürgen: Bibel provokativ. Gerechtigkeit für die Dritte Welt (Bibel provokativ 1). Stuttgart 1969. Kittel, Helmuth: Der Erzieher als Christ. Göttingen 31961. Krusche, Peter, Warten auf Bewegung (1959). Abgedruckt in: Faltermaier, Nachdenken, 87–93.
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Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967. Mollenhauer, Klaus u. a.: Evangelische Jugendarbeit in Deutschland. Materialien und Analysen (Deutsches Jugendinstitut 1). München 1969. Mìller, C. Wolfgang u. a.: Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie. München 1964. Mìller, Manfred: Freiheit und Bindung in der Jugendgemeinschaft. In: Lebendige Erziehung 2 (1950/51), 205–208. Nipkow, Karl Ernst: Schule und Religionsunterricht im Wandel. Ausgewählte Studien zur Pädagogik und Religionspädagogik. Heidelberg / Düsseldorf 1971. Rang, Martin: Handbuch für den biblischen Unterricht. Theoretische Grundlegung und praktische Handreichung für die christliche Unterweisung der evangelischen Jugend. Erster Halbband. Berlin 1939. Rendtorff, Trutz: Verbindlichkeit in der Jugendarbeit als theologisches Problem. In: Weisser, Elisabeth (Hg.): Freiheit und Bindung. Beiträge zu Situation der evangelischen Jugendarbeit in Deutschland. München 1963, 74–86. Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf / Köln 1957. Schlottoff, Bernd: Songs junger Christen. Neuhausen / Fildern 1969. Schwab, Ulrich (Hg.): Geschichte der evangelischen Jugendarbeit. Teil 2: Vom Wiederaufbau zur Wiedervereinigung. Evangelische Jugend in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1995. Hannover 2003. –, „erfinderisch und waghalsig sein“. Politische Bildung im Kontext Evangelischer Jugendarbeit nach 1945. Eine Anknüpfung an Christof Bäumler (1927–1996). In: Pastoraltheologie 97 (2008), 72–82. Sçlle, Dorothee / Steffensky, Fulbert: Politisches Nachtgebet in Köln. Stuttgart / Berlin 1969. Widmann, Alexander Christian: Wandel mit Gewalt? Der deutsche Protestantismus und die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte B 56). Göttingen 2013. Wçlber, Hans-Otto: Wider die Mittelpunktstheorie. In: deutsche Jugend 2 (1954), H. 3, 122–124. –, Religion ohne Entscheidung. Volkskirche am Beispiel der jungen Generation. Göttingen 1959.
Kapitel 4: Ehe und Familie
Christiane Kuller
Einführung: Krisendebatten um Ehe und Familie in den 1960er Jahren
Blickt man in die Statistiken, dann schien die Welt der Familien in der Bundesrepublik Anfang der 1960er Jahre noch in Ordnung. Die Zahl der Eheschließungen war hoch, die der Scheidungen niedrig, und die Frauen brachten so viele Kinder zur Welt, wie seit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs nicht mehr1. Im „Golden Age of Marriage“2 befand sich die Kernfamilie als empirisches Gesellschaftsphänomen auf ihrem Höhepunkt. Es stand zu diesem Zeitpunkt zu erwarten, dass 96 % der damals 18-jährigen Männer und 95 % der damals 16-jährigen Frauen im Laufe ihres Lebens heiraten würden. Männer und Frauen heirateten jung, meist im Alter von Anfang bis Mitte 20, und 90 % dieser Männer und Frauen sollten nach den demografischen Hochrechnungen der Zeit auch Kinder bekommen3. Diese heile Welt geriet in der ersten Hälfte der 1960er Jahre in Wanken4. Der Wandel wird üblicherweise mit den Schlagworten Heiratsmüdigkeit, Scheidungsboom und Geburteneinbruch verbunden. Hatte sich seit Anfang der 1950er Jahre die Zahl der Eheschließungen in der Bundesrepublik auf dem hohen Wert von etwa 9 Hochzeiten auf 1.000 Einwohner pro Jahr stabilisiert, so nahm sie ab 1963 stark ab und sank bis Mitte der 1970er Jahre um rund ein Drittel auf 6,1. Der Trend erhielt ein besonderes Gewicht angesichts des rasanten Anstiegs der Scheidungszahlen, der ebenfalls 1963 einsetzte. Bis Mitte der 1970er Jahre hat sich die Scheidungsquote in der Bundesrepublik nahezu verdoppelt, 1972 wurden in der Bundesrepublik erstmals mehr Ehen getrennt als neu geschlossen5. Obwohl seit der ersten Hälfte der 1960er Jahre immer weniger Ehen geschlossen und immer mehr geschieden wurden, blieb die Geburtenquote bis zur Mitte des Jahrzehnts noch auf hohem Niveau. Sie lag 1965 bei durchschnittlich 2,51 Kindern pro Frau. Seit Mitte der 1960er Jahre registrierten die Statistiker aber auch in diesem Bereich einen starken Rückgang. Die durchschnittliche Kinderzahl sank bis Mitte der 1970er Jahre auf 1,45 Kinder. 1 2 3 4 5
Dies bezieht sich auf die durchschnittliche Geburtenrate pro Frau. van de Kaa, Demographic Transition, 11. Vgl. exemplarisch für diese vielfach referierten Zahlen Peukert, Familienformen, 28. Vgl. zum Folgenden mit weiteren Literaturverweisen Kuller, Familienpolitik, 46–60. In diese Rechnung, die zeitgenössisch gerne zitiert wurde, sind auch die Trennungen durch Tod eines Partners einbezogen. Es spiegelt sich daher auch der wachsende Teil der Alten in der Bevölkerung darin.
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Diese Entwicklung, die europaweit zu beobachten war und als „zweiter demografischer Übergang“ bezeichnet wird, war nicht zuletzt deshalb alarmierend, weil der Wert rechnerisch nicht mehr für eine „natürliche“ Reproduktion der Gesellschaft ausreichte, die nach dem zeitgenössischen demografischen Modell die naturgegebene Grenze des Geburtenrückgangs hätte bilden sollen. Damit die nachwachsende Generation genauso groß ist wie die Elterngeneration, gehen Demografen davon aus, dass jede Frau durchschnittlich 2,1 Kinder zur Welt bringen muss6. Geburtenzahlen in dieser Höhe hat die Bundesrepublik seither nie wieder erreicht. Erklärungsbedarf rief der Wandel zudem hervor, weil er – anders als vorangehende Veränderungen – nicht durch wirtschaftliche Not oder Kriegs- und Krisensituationen zu rechtfertigen war. Vielmehr fiel er in die Zeit des „Wirtschaftswunders“, in der es weitaus größeren Teilen der Bevölkerung als jemals zuvor wirtschaftlich möglich gewesen wäre, das bürgerliche Familienideal zu realisieren. Heiratsrückgang, Scheidungsanstieg und Geburteneinbruch zeichnen ein Bild der Erosion von Familienstrukturen, und Studien zum Wandel der Familien in der Bundesrepublik setzten üblicherweise damit ein. Allerdings wird die Zäsur der 1960er Jahre bei näherer Betrachtung unscharf. So eröffnen die genannten Zahlen nur einen oberflächlichen Blick auf die Situation. Es wäre zu kurz gegriffen, daraus unmittelbar auf verändertes Verhalten zu schließen. Dagegen spricht beispielsweise schon die Tatsache, dass sich im selben Zeitraum der Anteil der verheirateten Frauen erhöht hat. Der Rückgang der Eheschließungsquote in den 1960er Jahren war vor allem darauf zurückzuführen, dass jetzt die geburtenschwächeren Jahrgänge aus den letzten Kriegsjahren und den ersten Nachkriegsjahren ins Heiratsalter kamen. Zugleich stieg das durchschnittliche Heiratsalter, Eheschließungen wurden „aufgeschoben“. Berücksichtigt man diese Aspekte, dann zeigt sich erst ab Anfang der 1970er Jahre ein Rückgang der individuellen „Heiratsfreudigkeit“. Ähnlich ist auch ein verändertes Geburtenverhalten nach demografischer Bereinigung der Zahlen erst am Ende der 1960er Jahre zu datieren. Fragt man danach, wann der zweite demografische Übergang als Problem in das Bewusstsein der Zeitgenossen vordrang, dann wandert die Zäsur noch weiter nach hinten. Die Statistiker taten sich zunächst schwer, die neuen Entwicklungen als langfristigen Trend in ihre Berechnungen zu integrieren7. Als erste demografische Vorausberechnung, die eine gewisse Übereinstimmung mit der tatsächlichen Entwicklung hatte und nicht schon kurz nach ihrem Erscheinen von der Realität überholt war, gilt die fünfte bundesdeutsche Bevölkerungsvorausschätzung aus dem Jahr 1976. Gesellschaftlich und
6 Dieses Modell, das in der zeitgenössischen Debatte eine wichtige Rolle spielte, berücksichtigt nicht Zu- und Abwanderung, die in dieser Zeit in sehr großem Maße stattfand (insb. Arbeitsmigration). 7 Vgl. Kuller, Demographen.
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politisch wurde der Geburtenrückgang daher erst seit den 1970er Jahren ein einflussreiches Thema. Eine längerfristige Perspektive verändert zudem die Frage nach „Normalität“ und „Abweichung“. Ordnet man den „Pillenknick“ in die statische Geburtenentwicklung seit der Jahrhundertwende ein, dann erscheinen die hohen Geburtenzahlen während des „Babybooms“ der 1950er und frühen 1960er Jahre nicht als eine „Normalisierung“, sondern vielmehr als eine generationen- und zeitspezifische Sondersituation, die das Ergebnis einer Reihe von kurzfristigen historischen Faktoren war. Rückblickend ist daher die „Babyboom“-Phase mindestens ebenso erklärungsbedürftig, wie das „Wiedereinschwenken“ auf den langfristigen Jahrhunderttrend des Geburtenrückgangs ab Ende der 1960er Jahre. Blickt man auf die zeitgenössische Debatte, so fällt ins Auge, dass in der Bundesrepublik schon lange vor den 1960er Jahren von der „Krise der Familie“ bzw. von deren Niedergang die Rede war. Bereits Mitte der 1950er Jahre beklagte der frisch ins Amt berufene erste Familienminister, Franz-Josef Wuermeling, in einer Denkschrift einen massiven „Geburtenschwund“, der in seinen Augen gemeinsam mit dem Rückgang der Sterblichkeit zu einem „Verfall des Volkskörpers“ durch Überalterung führen musste8. Schon lange vor dem sogenannten „Pillenknick“ war Wuermeling also über die demografische Entwicklung in der Bundesrepublik beunruhigt. Worauf sich der Familienminister bezog, war der so genannte „erste demografische Übergang“, der Rückgang der Geburten seit dem 19. Jahrhundert als Reaktion auf die gesunkene Säuglings- und Kindersterblichkeit. Wuermelings Aussage stand damit in einer jahrzehntelangen Tradition bevölkerungspolitischer Krisenszenarien, die sich am Ziel von Wachstum oder doch zumindest Stabilität der nationalen Bevölkerungsentwicklung orientierten und in grellen organischen Metaphern Schreckensbilder einer überalterten Zukunftsgesellschaft zeichneten9. Auch die Studien von Familienforschern waren schon in den 1950er Jahren überwiegend von einem Niedergangsnarrativ geprägt10. Die statistischen Erfolgsmeldungen konnten unter Soziologen kaum Optimismus wecken. Die Stabilisierung von Eheschließungs- und Geburtenzahlen auf hohem Niveau in den 1950er Jahren galt als wenig spektakulär, als eine erwartbare „Normalisierung“ der Familienbeziehungen nach den Kriegsjahren, die keiner umfangreichen wissenschaftlichen und öffentlichen Reflexion bedurfte11. Im Zentrum der zeitgenössischen Krisenszenarien der Familiensoziologen stand in den 1950er Jahren vielmehr ein anderer Punkt: Die Desintegration in einer 8 Der Familienlastenausgleich – Erwägungen zur gesetzgeberischen Verwirklichung (BArch Koblenz, Denkschrift, 3–4). 9 Vgl. dazu Etzemìller, Untergang. 10 Paulus, Familienrollen, 108 f. Vgl. dazu auch Nave-Herz, These. 11 Strohmeier / Schultz, Familienforschung, 22.
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modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die die Familie scheinbar ihrer Aufgaben beraubte und sie damit auf eine bloße emotionale Beziehungsstruktur reduzierte. Durch die zunehmende Auslagerung von Funktionen wie Ausbildung der Kinder und wirtschaftlicher Sicherung der Familienangehörigen schien die Familie in ihrer gesellschaftlichen Funktion grundsätzlich in Frage gestellt und drohte als „isolierte Kernfamilie“ in Bedeutungslosigkeit zu versinken. An die Stelle der Familie rückten staatliche Institutionen, die diese Aufgaben jedoch in den Augen vieler Zeitgenossen nicht erfüllen konnten und sollten. Die Kritik an der staatlichen Intervention in familiäre Aufgabenbereiche wurde in der Nachkriegszeit nicht zuletzt mit Blick auf die historische Erfahrung der totalitären NS-Diktatur und in Abgrenzung gegen zeitgenössische sozialistische Regime, insbesondere in der DDR, formuliert. Eine solche Krisenperspektive auf die Desintegration ist nicht unwidersprochen geblieben12. Familiensoziologen haben den Wandel vielmehr durchaus auch als Qualitätsgewinn für Ehe und Familie gedeutet. Wenn die Ehe immer weniger „zwingende Notwendigkeit zur Erfüllung bestimmter elementarer Bedürfnisse (z. B. Legitimation einer sexuellen Beziehung)“ und „materielle Versorgungsinstitution (vor allem für Frauen)“ war13, dann musste das nicht unbedingt für eine Aushöhlung der Ehe sprechen. Man kann auch vermuten, dass sich die Ansprüche an eine emotionale Erfüllung erhöht haben, denn sie sind zum dominanten Inhalt der Ehe geworden. Die späten 1960er Jahre können so gesehen als eine Umbruchphase gedeutet werden, in der aus den neuen Qualitätsansprüchen an Ehe und Familie zunehmend praktische Konsequenzen gezogen wurden. In den 1950er Jahren stand vor allem ein vermeintliches Krisenphänomen im Fokus: die zunehmende Berufstätigkeit von Ehefrauen und Müttern14. Vorangetrieben unter anderem durch den Wirtschaftsboom und den damit verbundenen Arbeitskräftemangel sowie durch Konsumbedürfnisse, die ein zweites Einkommen in den Familien nötig bzw. hocherwünscht machten, stieg die Erwerbsquote verheirateter Frauen und Mütter in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren. Berufstätigkeit wurde zunehmend zu einer weiblichen Lebensform, und das nicht nur für alleinstehende, kinderlose Frauen, sondern auch für Ehefrauen und Mütter. Kritiker befürchteten, dass die „Doppelaufgabe“ dem weiblichen Geschlechtscharakter widerspreche, was zu einer „Entinnerlichung“ der Familien führe und vor allem die Kinder schädige15. Insbesondere christliche Familienverbände und Kirchen sowie das kirchennahe, CDU-geführte Bundesfamilienministerium forcierten daher in den 1950er Jahren Maßnahmen unter dem Primat der Wesensverschiedenheit der 12 13 14 15
Vgl. Nave-Herz, Veränderungen. Zitate: Nave-Herz u. a., Scheidungsursachen, 41. Vgl. dazu Paulus, Familienrollen; Frevert, Umbruch?. Paulus, Familienrollen, 110, mit Verweis auf Schelsky, Wandlungen; Bowlby, Maternal Care.
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Geschlechter, die „der Familie die Mutter zurückgeben“ sollten16. Diese Tendenzen richteten sich gegen eine vermeintliche selbstbezogene „Individualisierung“ der Ehefrauen und Mütter – ein Vorwurf, der Frauen nicht nur im Hinblick auf die Berufstätigkeit, sondern nach der Einführung der hormonellen Verhütung 1961 auch im Bereich der Sexualität gemacht wurde. Auch wenn die Debatte um die „Krise der Familie“ kein Produkt der 1960er Jahre war, sondern vielfach an einen schon viel älteren Modernediskurs anschloss, dessen Argumentationen auch in den 1960er Jahren weiter anklingen, gab es auf normativer Ebene eine Reihe von Veränderungen, die diese Phase als besondere Zeit des Wandels hervorheben. Denn in den 1960er Jahren hat sich die leitende Perspektive der Zeitgenossen auf Ehe und Familie ganz maßgeblich gewandelt. Gemeinsam war den Krisenszenarien der frühen Nachkriegszeit nämlich noch der Bezug auf ein statisches Familienmodell und scheinbar unveränderliche, „natürliche“ Funktionen der Familie gewesen. Den Referenzpunkt der Argumentation hatte das Leitbild der bürgerlichen Kernfamilie gebildet, in der zwei verheiratete Ehepartner mit ihren Kindern zusammenlebten, die als „Hausfrauenehe“ mit einer klaren geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung organisiert war, und deren wichtigste Aufgabe die Kindererziehung bildete. Dieses Familienleitbild trug im Kern religiös begründete Züge und es waren ganz wesentlich Vertreter christlicher Kirchen und Verbände, die sich dafür engagierten. In den 1960er Jahren wandelte sich das normative Leitbild der Debatte: Geschlechterordnungen, Reproduktionskulturen und Leitbilder für soziale Beziehungen zwischen Familienmitgliedern wurden neu ausgehandelt. Die traditionelle Kernfamilie verlor in den 1960er Jahren also nicht nur als empirisches Gesellschaftsphänomen, sondern auch als bestimmendes normatives Leitbild zunehmend an Bedeutung. Das gab der Debatte über Ehe und Familie in den 1960er Jahren eine neue Qualität. Der Übergang vollzog sich dabei in Stufen. Mitte der 1960er Jahre kann man eine Ausweitung des familienpolitischen Instrumentariums beobachten, die auf ein neues „funktionalistisches“ Leitbild schließen lässt. Meinte Helmut Schelsky in den 1950er Jahren in den Familien noch einen „Stabilitätsrest“ zu erkennen, der den Trend zur Desintegration zu stoppen schien17, so identifizierten Soziologen und Politiker in den 1960er Jahren in den Familien selbst erhebliche Problemfelder, die der Intervention bedurften. Zwar war dieser Wandel noch nicht unbedingt mit inhaltlichen Veränderungen verbunden – vielmehr ging es zunächst noch darum, patriarchale Struktur, geschlechts16 So der Abgeordnete Winkelheide vor dem Deutschen Bundestag am 28. 4. 1951, zitiert nach Moeller, Mütter, 182. 17 Schelsky, Wandlungen, 356. Schelsky leugnete nicht, dass die Familie als Institution weiterhin Gefahren der Entwurzelung, Entinstitutionalisierung und Stabilitätsschwächung ausgesetzt sei. Nach seiner Ansicht hatte die Familie nach 1945 aber durchaus wieder gesellschaftliche Aufgaben übernommen und befand sich daher am „Schnittpunkt gegenläufiger Entwicklungsrichtungen“.
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spezifische Rollenverteilung und lebenslange Ehe durch staatliche Maßnahmen zu (re)stabilsieren18. Bereits der Wechsel von der „nicht-InterventionsPolitik“ zum „funktionalistischen“ Leitbild bildete jedoch insbesondere für Vertreter christlicher Ordnungsvorstellungen eine neue Herausforderung. Diese hatten im Zuge der gesellschaftlichen Rechristianisierungsvorhaben nach 1945 beispielsweise das autonome elterliche Erziehungsrecht besonders hervorgehoben, in den 1960er Jahren wurden hingegen Defizite der familiären Sozialisation zu einem Zentralthema in Gesellschaft und Politik. In einem zweiten Schritt änderte sich ab Ende der 1960er Jahre auch der Inhalt des Familienleitbildes in der Bundesrepublik: Die Rollenverteilung sollte nun zwischen den Ehepartnern ausgehandelt werden, die „elterliche Gewalt“ wurde durch die „elterliche Sorge“ abgelöst, und die auf Lebenszeit geschlossene Ehe verlor an Verbindlichkeit. Diese Veränderungen betrafen dabei nicht nur die innerfamiliären Beziehungen. Das traditionelle Familienmodell war an zahlreichen Punkten in gesellschaftlichen Institutionen und staatlichen Regelungen verankert. Die Debatte über Ehe und Familie war daher in der Bundesrepublik nie nur eine Privatangelegenheit. Sie stellte vielmehr eine gesellschaftliche Kerninstitution in Frage, deren Wandel gesellschaftsweite tektonische Nachbeben zur Folge hatte.
Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Bundesarchiv (BArch) Koblenz Bestand B 136, 6134 Denkschrift des Bundesministers für Familienfragen, Bonn November 1955.
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Bowlby, John: Maternal Care and Mental Health. A report prepared on behalf of the World Health Organization as a contribution to the United Nations programme for the welfare of homeless children (World Health Organization. Monograph Series 2). Stuttgart 1952. Etzemìller, Thomas: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2007. Frevert, Ute: Umbruch der Geschlechterverhältnisse? Die 60er Jahre als geschlechterpolitischer Experimentierraum. In: Schildt, Axel / Siegfried, Detlef / 18 Ein Beispiel hierfür ist die Verschärfung des Scheidungsrechts 1961.
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Christopher Neumaier
Der Niedergang der christlichen Familien? Das Wechselspiel zwischen zeitgenössischen Wahrnehmungen und Praktiken der Lebensführung
1. Einleitung „Gegenwartssituation und Zukunftschancen der Familie werden heute vielfach in sehr düsteren Farben gezeichnet. Man spricht von der ,Familie in der Krise‘, man stellt Auflösungserscheinungen fest, man prophezeit den Verfall dieser Sozialform“1, fasste der österreichische Wirtschafts- und Sozialhistoriker Michael Mitterauer 1977 die zeitgenössischen Krisendiagnosen der Familie zusammen. Freilich distanzierte sich Mitterauer von dieser kulturpessimistisch angehauchten Lesart. Gleichwohl konstatierte er, dass sich die Familie im Laufe der späten 1960er und 70er Jahre grundlegend verändert habe. Demnach verbreiteten sich in den 1960er Jahren zwei Lesarten zur Entwicklung der Familien und des Familienlebens, die auf weitreichende Veränderungen verweisen und bis heute immer wieder bedient werden. Mittlerweile hat die Familiensoziologie den Umbruchscharakter der 1960er und 70er Jahre etwas relativiert2, gleichwohl hatten die Zeitgenossen die Wandlungsprozesse als umfassend empfunden. Deswegen greift mein Beitrag die Krisendiagnose im Titel auf und möchte sie differenzieren, indem die zeitgenössischen Leiterzählungen vom „Niedergang“ oder der „Krise“ der Familie hinterfragt und die wahrgenommenen Veränderungen mit den sozialen Praktiken korreliert werden. Zu fragen ist daher : Wann nahmen Akteure wie Politiker und Kirchenvertreter die Veränderungen der familialen Lebensführung als weitreichend wahr? Handelte es sich hier um eine harte oder weiche Zäsur? Wie veränderten sich die sozialen Praktiken? Warum stuften viele Zeitgenossen diese Veränderungen als einen Niedergang ein? Inwiefern war die Lebensführung in den Familien zwischen den späten 1950er und frühen 80er Jahren noch religiös determiniert? Um die soziale Praxis mit den gesellschaftlich verhandelten Idealen korrelieren zu können, bietet sich der Begriff der Lebensführung an, da er beides methodisch verknüpft. Lebensführung wird in Anlehnung an Max Weber definiert als die „Systematisierung des praktischen Handelns in Gestalt seiner
1 Mitterauer, Funktionsverlust, 92. Die Arbeit Vom Patriarchat zur Partnerschaft war erstmals 1977 erschienen. Hier wird aus der 2., neubearbeiteten Auflage von 1980 zitiert. 2 Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 1; Burkart, Familiensoziologie, 9 f., 13–32.
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Orientierung an einheitlichen Werten“3. Wird von der religiösen Lebensführung gesprochen, dann erfasst der Analysebegriff die individuellen religiösen Werthaltungen, die von der Religion geprägte soziale Praxis einer Gruppe von Akteuren und das Verhältnis von Werthaltung und Praxis. Im Folgenden wird zunächst auf das christlich-bürgerliche Familienideal und Frauenleitbild eingegangen, das die bundesrepublikanische Gesellschaft der 1950er und frühen 1960er Jahre prägte4. Jedoch zeigten sich bereits zu dieser Zeit unter dem vermeintlich einheitlichen „Wertehimmel“5 Wandlungsprozesse, und der „Fixstern“6 des christlichen Familienideals begann allmählich langsam zu verblassen. Während diese Veränderungen primär in den Familien abliefen, wurden sie schließlich gegen Mitte der 1960er Jahre auch öffentlich sichtbar, als die Scheidungszahlen rapide anstiegen und parallel die Geburtenziffer und die Heiratsquote binnen weniger Jahre erheblich absackten7. Eben diesen Wandel der äußeren Familienstruktur nahmen viele Zeitgenossen als einen dramatischen Niedergang der einst intakten christlichen Kernfamilie wahr. Zunächst werden die Gründe für die Dramatisierung der Veränderungsprozesse beleuchtet, ehe abschließend exemplarisch an der Haltung zu Ehe und Ehescheidung aufgezeigt wird, wann und in welchen Bereichen sich die christlichen Familienideale auf dem Rückzug befanden. Dabei lässt sich feststellen, dass Religiosität für das Familienleben und Eheverständnis bereits in den 1950er Jahren allmählich an Bedeutung verloren hatte, der Bruch jedoch erst in den 1960er und 70er Jahren erfolgte.
2. Die unbemerkte Entfernung vom christlich-bürgerlichen Familienideal in den 1950er Jahren Das Familienleitbild der 1950er Jahre basierte auf einer Kombination des christlichen Familienverständnisses und des bürgerlichen Familienbegriffs. Im katholischen Familienleitbild waren Ehe und Familie von Gott gestiftet und unveränderlich, d. h., die Familie als Konstante korrelierte nicht mit spezifischen historischen Konstellationen. Ehe und Familie galten ferner als vorstaatliche Institutionen, als die „Grundform menschlichen Zusammenle3 4 5 6 7
Weber, Wirtschaft, 412. Vgl. Buske, Mutter, 17. Hettling / Hoffmann, Wertehimmel, 333. Vgl. ebd., 359. Hier wird in Anlehnung an die Familiensoziologie differenziert zwischen der Morphologie der Familie, d. h. ihrer äußeren Zusammensetzung, und ihrer Binnenstruktur. Vgl. Schneider, Grundlagen, 13 f. Gleichwohl liegt im hier vorliegenden Beitrag der Schwerpunkt auf der äußeren Familienstruktur. Insofern werden die Analysekategorien „Race, Class, Gender“ lediglich am Rande thematisiert, obschon – für Deutschland – insbesondere Klasse und Geschlecht für die Familie von zentraler Bedeutung sind. Vgl. hierzu Paulus / Silies / Wolff, Bundesrepublik.
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bens“, als „Keimzelle von Staat, Gesellschaft und Kirche“8. Die Funktion der Ehe – verstanden als auf Lebenszeit geschlossene Verbindung zweier Erwachsener unterschiedlichen Geschlechts – lag in der Erzeugung von Kindern, die dann in dieser Familie von den Eltern erzogen werden sollten. Darüber hinaus handelte es sich bei der Ehe um ein Sakrament, wodurch die Möglichkeit einer Ehescheidung ausgeschlossen war. Protestanten lehnten die Ehescheidung demgegenüber nicht kategorisch ab, gestatteten sie hingegen sogar unter bestimmten Voraussetzungen. Generell legte die evangelische Kirche ihre Ansichten zu den Familienidealen nicht formal fest, wodurch sie bereits in der Zwischenkriegszeit offener für gesellschaftliche Veränderungen gewesen war. Gleichwohl galten auch Protestanten Ehe und Familie als zentrale gesellschaftliche Institutionen des Zusammenlebens. An diesen christlichen Familienidealen orientierte sich auch das bürgerliche Familienleitbild. Auch hier war die Ehe als lebenslange Verbindung zwischen Mann und Frau konzipiert, und das Ehepaar sollte in einer Haushaltsgemeinschaft mit den gemeinsamen Kindern leben. Darüber hinaus besaß jedes Familienmitglied klar zugewiesene Geschlechterrollen: Nach innen agierte der Mann als Oberhaupt und Autorität der Familie, nach außen als Ernährer; die Frau hatte zwei typische Aufgabenbereiche, die sie auf den Binnenraum der Familie verwiesen: Kindererziehung und Haushaltsführung9. In den 1950er Jahren verknüpften die Zeitgenossen diese Wesensmerkmale von Ehe und Familie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu einem Familienideal, das auf fünf Charakteristika basierte: Ehe, zwei Geschlechter, Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft, Elternschaft und Verwandtschaft10. Erst wenn all diese Merkmale erfüllt waren, dann sprachen sie von „Familie.“ Insofern besaß der Familienbegriff der 1950er Jahre enge Grenzen und exkludierte Alleinerziehende genauso wie nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern. Bis in die frühen 1960er Jahre kam dem aus christlichen Glaubensgrundsätzen abgeleiteten bürgerlichen Leitbild der Kernfamilie eine gesellschaftsprägende Kraft zu. Auch die Politik orientierte sich sehr stark daran11. Das lässt sich exemplarisch am Familienverständnis des ersten Bundesfamilienministers und überzeugten Katholiken Franz-Josef Wuermeling aufzeigen. Bereits seine Wortwahl deckt sich mit den offiziellen Verlautbarungen der katholischen Kirche12. So erklärte Wuermeling, die Familie sei die „Urzelle der
8 Schneider, Familie, 14 f. 9 Vgl. ebd., 14 f.; Grossbçlting, Himmel, 36; Rçlli-Alkemper, Familie, 50 f. Zur „Polarisierung der ,Geschlechtscharaktere‘“ vgl. Hausen, Polarisierung; Opitz, Um-Ordnungen, 171–176. 10 Vgl. Schneider, Grundlagen, 12. 1994 sprach Schneider noch von vier Merkmalen: Ehe, Haushalt, Elternschaft, Verwandtschaft. Vgl. Schneider, Familie, 15. 11 Kuller, Familienpolitik, 16 f. 12 Die katholische und evangelische Kirche agierten als „Bewahrer der Traditionsfamilie“. Grossbçlting, Himmel, 36.
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Gemeinschaft“13 und „,natürlichen‘ Ursprungs“. Auch besitze sie „vorstaatlichen Charakter“14. Die Frau bezeichnete er als „segenspendendes Herz der Familie“15. Ihre Rolle war somit auf den Binnenraum der Familie beschränkt, wohingegen der berufstätige Mann die Rolle des Familienhauptes und Ernährers übernahm16. Ebenso klar definiert waren die Funktionen der Familie17: Sie wirke als „Träger und Übermittler unserer Kultur“18, als „[u]nentbehrlicher Ordnungsfaktor“19, so Wuermeling, stabilisierend auf die Gesellschaft ein. Insofern erfüllte die Familie eine zentrale Ordnungsfunktion, der gerade in der Nachkriegszeit und den 1950er Jahren eine entscheidende Bedeutung zugeschrieben wurde. Den wissenschaftlichen Beleg für diese These lieferte in den 1950er Jahren der Soziologe Helmut Schelsky. Er attestierte der Institution Familie, dass sie ein „Stabilitätsrest in unserer Gesellschaftskrise“20 sei. Die Familie fungierte demnach als wichtiger Kristallisationspunkt des Wiederaufbaus und die von Unionspolitikern und Sozialdemokraten vertretene Politik der „Refamilialisierung“21 sollte die bundesrepublikanische Gesellschaft der 1950er Jahre nach den Kriegswirren stabilisieren22. Während Politiker und katholische Sozialwissenschaftler Schelskys Befunde vielfach rezipierten, fanden konträre Forschungspositionen zeitgenössischer Soziologen hingegen kaum Beachtung23. Insbesondere Gerhart Baumerts Studie Deutsche Familien nach dem Kriege muss hier erwähnt werden. Sie untersucht die Situation der Familien in der Stadt Darmstadt und der angrenzenden Region, die aber charakteristisch für die Situation im westlichen Nachkriegsdeutschland war24. Entscheidend ist nun eine Aussage Baumerts, die explizit auf die eklatante Diskrepanz zwischen Familienidealen und der sozialen Praxis vor dem Krieg hinweist. Baumert urteilte deswegen bereits 1954, dass sich „manche der heute erhobenen Forderungen nach Wiederherstellung ,gesunder‘ Familienverhältnisse […] auf Vorstellungen 13 14 15 16 17
18 19 20 21 22 23 24
Franz-Josef Wuermeling zit. n. Joosten, Frau, 38. Ebd., 38. Franz-Josef Wuermeling zit. n. ebd., 41. Vgl. Joosten, Frau, 41; Buske, Mutter, 218; Moeller, Mütter, 226; Ders., Unbenannt, 321; Lewis, Decline. Michael Mitterauer identifizierte sieben historisch gewachsene Funktionen der Familie, die in unterschiedlich starkem Umfang an Institutionen abgegeben wurden: Kultfunktion, Gerichtsfunktion, Schutzfunktion, wirtschaftliche Funktionen, Sozialisationsfunktionen, Fortpflanzungsfunktionen und Kulturfunktion. Vgl. Mitterauer, Funktionsverlust, 95–109. Franz-Josef Wuermeling zit. n. Joosten, Frau, 39. Franz-Josef Wuermeling zit. n. ebd., 40. Siehe auch, Wuermeling, Franz-Josef: Was bedeutet uns die Familie? [in: Kolpingsblatt, Januar 1963], 3 (ACDP 01–221–017). Schelsky, Wandlungen, 13. [Hervorhebung im Original; C.N.] Moeller, Unbenannt, 322; Ders., Mütter. Zur Rezeption dieser These der Stabilisierung der Institution „Familie“ in der frühen BRD vgl. Niehuss, Kontinuität, 322, 334. Vgl. Moeller, Mütter, 434; Rçlli-Alkemper, Familie, 86. Vgl. Baumert, Familien, 2. Für eine Zusammenfassung vgl. Ders., Methoden.
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beziehen, die selbst der gesellschaftlichen und ökonomischen Realität der Vorkriegsjahre längst schon nicht mehr angemessen waren.“25 Die Rückbesinnung auf die Kernfamilie wertete Baumert demnach zwar durchaus als eine Rückkehr zu alten Familienwerten, die es aber in der sozialen Praxis vorher auf die Breite der Gesellschaft gesehen nicht gegeben hatte. Auf diese typische Diskrepanz zwischen Ideal und Praxis hat jüngst Thomas Großbölting hingewiesen und die „,Rechristianisierung‘ [der 1950er Jahre] als Ideal und Chimäre“26 bezeichnet. In dieser vermeintlichen „Phase der ,Restauration‘“27 gab es also auch gegenläufige Tendenzen, die allerdings verborgen bleiben, wenn vorrangig der öffentliche Diskurs über Familienideale untersucht wird. Denn diskursiv priesen Politiker und Kirchenvertreter stets die „Wiederherstellung der ,Normalfamilie‘“28, d. h. der christlich-bürgerlichen Kernfamilie, als „Rückkehr zur Normalität nach dem Trauma und den Verwüstungen des Krieges“29. Alle anderen Formen des Zusammenlebens wie die damals typischen Onkelehen oder alleinstehende Mütter wurden nicht berücksichtigt. Lediglich vereinzelt vertraten Zeitgenossen wie Baumert ein weitergefasstes Familienverständnis. In seiner Studie definierte er Familie als „Angehörige von Familien, die sich aus zumindest einem Ehepaar oder einem Elternteil und einem Kind zusammensetzten.“30 Baumerts Familiendefinition umfasste demnach neben der Kernfamilie auch Alleinerziehende mit Kindern. Diese Sicht auf die Familie blieb jedoch die Ausnahme. Da historische Studien zur Familie der 1950er Jahre lange Zeit solche Außenseiterpositionen lediglich am Rande thematisierten und primär den dominanten Themen des öffentlichen Diskurses folgten, etwa der Interpretation Schelskys, erscheinen die 1950er Jahre schon fast zwangsläufig als Zeitalter der „Restauration der traditionellen Kernfamilie“31 und die folgenden zwei Jahrzehnte als Zeitabschnitt des radikalen Wandels32. Diese Interpretation muss relativiert werden. Denn während die Zeitgenossen die Verbreitung der Kernfamilie im „Golden Age of Marriage“33 der 1950er und frühen 1960er Jahre als Normalfall wahrnahmen, stellte sie tatsächlich – wenn die Heiratsquoten sowohl der 1920er als auch der 1970er Jahre als Referenzpunkt her-
25 Baumert, Familien, 189. 26 Grossbçlting, Himmel, 93. 27 Ebd., 93. Großbölting verweist hier auf die Kernthese des Sammelbandes Schildt / Sywottek (Hg.), Modernisierung. 28 Moeller, Unbenannt, 323. Siehe auch Ders., Mütter. Eckart Conze spricht von einer „Restabilisierung“ der Familie in den 1950er Jahren. Vgl. Conze, Suche, 187. 29 Moeller, Unbenannt, 323. Siehe auch Ders., Mütter. 30 Baumert, Familien, XII. Siehe auch Ders., Methoden, 15. 31 Niehuss, Kontinuität, 334. 32 Für eine kritische Betrachtung dieser Interpretation Vgl. Rçlli-Alkemper, Familie, 22; Kuller, Familienpolitik, 78; Frevert, Umbruch, 643; Steinbacher, Sex, 86 f.; Grossbçlting, Himmel, 30, 93. 33 Vgl. Peuckert, Familienformen (2012), 37.
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angezogen werden – „eine historische Ausnahmesituation“34 dar. Insofern kann nicht von einer „Restauration“ gesprochen werden, wenngleich die Kernfamilie traditioneller Ausprägung in den 1950er Jahren die dominante Form des Zusammenlebens war35. Denn erstmalig verringerte sich im Laufe der 1950er Jahre die Kluft zwischen Ideal und sozialer Praxis: eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern heiratete und gebar im Anschluss Kinder, die im Schoß der Familie erzogen wurden36. Baumerts Befund über die eklatante Diskrepanz zwischen Ideal und Praxis beschrieb zwar zum Erhebungszeitpunkt in den Jahren 1949 bis 1951 die soziale Realität adäquat, doch spätestens ab Mitte der 1950er Jahre traf sein Befund nur noch eingeschränkt zu37. Soziale Gründe mögen für die Hinwendung zum Ideal der Kernfamilie im deutschen Fall eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, denn schließlich bündelte es die „Wünsche nach Wärme, Selbstverständlichkeit und Hilfe, nach Einfachheit, Fairness und Schutz“, die man im Nachkriegsdeutschland hatte38. Diese mit „Familie“ assoziierten Wunschvorstellungen rangierten übrigens bei den Heiratsmotiven weit vor Religiosität39. Dass eine Ehe allerdings überhaupt als wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Familie gesehen wurde, basierte durchaus auf der christlichen Tradition. Familie war demnach nie nur eine Sozialformation, sondern vor allem auch ein hochgradig ideelles Produkt, ja ein „Phantasieprodukt“40, eine „konkrete Utopie“41, die eine Linderung der in den frühen 1950er Jahren noch andauernden Notlage der Nachkriegszeit versprach. Gleichwohl muss angemerkt werden, dass es neben der traditionellen Kernfamilie stets auch andere Formen des Zusammenlebens wie die Onkelehen gegeben hat. Im zeitgenössischen Diskurs jedoch tauchten diese vom christlichen Leitbild divergierenden Lebensformen nicht oder lediglich am Rande auf42. Auch die Abweichungen von christlichen Glaubensgrundsätzen innerhalb der Familie wurden ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nicht öffentlich diskutiert, aber durchaus praktiziert. Lukas Rölli-Alkempers Urteil hierzu fällt eindeutig aus: „Ohne die kirchlichen Normen offen zu kritisieren, richtete sich ein Großteil selbst der kirchentreuen Katholiken in ihrem konkreten Ehe- und Familienleben nicht mehr nach ihnen, sondern nach allgemeinen gesellschaftlichen Leitbildern.“43 Diese Befunde legen nahe, dass im Familienleben bereits ein Erosionsprozess eingesetzt hatte, jedoch nach außen 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Ebd. Vgl. Buske, Mutter, 17. Vgl. ebd. Vgl. Baumert, Familien, XI, 189. Niethammer, Privat-Wirtschaft, 48. Vgl. Rçlli-Alkemper, Familie, 235. Niethammer, Privat-Wirtschaft, 48. Ebd., 54. Vgl. Grossbçlting, Himmel, 34–39. Rçlli-Alkemper, Familie, 236.
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die Struktur der Kernfamilie weiterhin intakt erschien und die soziale Praxis weiter Gesellschaftsteile prägte.
3. Beschleunigung und Differenzierung der Veränderungsprozesse in den 1960er und 70er Jahren Die äußere Struktur der Familie brach erst gegen Mitte der 1960er Jahre auf, als sich drei zentrale Indikatoren für die Stabilität der Familienstruktur innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums erheblich veränderten: die Heiratsquote ging zwischen 1963 und 1978 deutlich zurück, die Geburtenziffer brach zwischen 1965 und 1975 ein und die Ehescheidungszahlen nahmen von 1969 bis 1984 rapide zu44. Vertreter des christlichen Familienideals empfanden diese Entwicklungen als Schock und dramatisierten die Veränderungen. 1986 erinnerte sich Joseph Kardinal Höffner in seinem Hirtenbrief an diesen „verhängnisvollen Traditionsbruch Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre“45, der aus seiner Perspektive zu einem Niedergang der Familie geführt habe. Diese Wahrnehmung hat sicherlich auch noch weitere gesamtgesellschaftliche Veränderungen verstärkt wie etwa die Protestbewegungen der „1968er“, der Regierungswechsel 1969 sowie die damit einhergehenden Reformpläne, die einsetzende Kirchenaustrittswelle und der Einbruch bei der Zahl der regelmäßigen Kirchgänger46. Diese Kombination aus unterschiedlichen, beinahe zeitgleich ablaufenden Entwicklungen trug maßgeblich dazu bei, dass viele Zeitgenossen um das Jahr 1970 den Topos vom Niedergang der christlichen Familie thematisierten. So griffen ihn 1974 die Referenten auf dem vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) veranstalteten Kongress über aktuelle Fragen der Familie und Familienpolitik auf. In der Eröffnungsrede malte der Vorsitzende des ZdK, Bernhard Vogel, ein düsteres Bild von der Zukunft der Familie. „Werte und Aufgaben der Familie“ würden, so Vogel, „wie selten zuvor bestritten und 44 Für die statistisch gemessenen Veränderungen, nicht aber die Interpretation als „Krise“ vgl. Schneider, Grundlagen, 15. Ein solcher Krisendiskurs über den desaströsen Zustand der Familie findet sich nicht erst seit den 1960er Jahren in der Literatur wieder. Bereits in den 1920er und den 1950er Jahren, also eben jener Zeit, die als vermeintliche Hochphase der bürgerlichen Kernfamilie gilt, wurde immer wieder von einer „Krise der Familie“ gesprochen. Vgl. exemplarisch Kçnig, Soziologie, 1, 82 f.; Frevert, Frauen-Geschichte, 181; Usborne, Frauenkörper, 111; Bessel, Germany, 231; Heinemann, Familie, 152 f.; Moeller, Mütter, 14; Paulus, Familienrollen, 107. Hinsichtlich der „Krise der Familie“ verweisen Soziologen immer wieder auf den Umstand, dass es sich um eine „behauptete Krise der modernen Kleinfamilie“ gehandelt habe. Peuckert, Familienformen (2008), 167. Siehe auch Schneider, Familie, 191. 45 Hçffner, Tod, 4. 46 Vgl. Grossbçlting, Himmel, 97 f., 137; Gabriel, Aufbruch, 537; Greschat, Protestantismus, 546 f.
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angegriffen werden.“47 Seine Ausführungen wurden noch deutlicher : „Ehe und Familie stehen im Kreuzfeuer der Kritik, die in ihrer radikalsten Form die Zerschlagung der als bürgerliche Kleinfamilie abgewerteten Institution fordert und unter den Schlagworten der Mündigkeit und der Emanzipation von allen gesellschaftlichen Zwängen den Aufstand gegen die Familie probt.“48 Auch der Münsteraner Bischof Heinrich Tenhumberg betonte im anschließenden Grußwort die akute Bedrohung für die Zukunft der Familie49. Neben Kirchenvertretern sprachen auch Wissenschaftler in unterschiedlichen Abstufungen vom Niedergang oder einer weitreichenden Veränderung der Familie, zumal die drei statistisch gemessenen Indikatoren nahezu parallel in anderen westlichen Industrienationen wie Großbritannien oder den USA ebenfalls auf eine rasant verlaufende Veränderung hinwiesen50. Exemplarisch können hier insbesondere drei einflussreiche Studien angeführt werden: Edward Shorters Die Geburt der modernen Familie, David Coopers Tod der Familie und Brigitte und Peter L. Bergers In Verteidigung der bürgerlichen Familie. Edward Shorters 1975 veröffentlichte Arbeit Die Geburt der modernen Familie untersucht, wie im 18. Jahrhundert die moderne Familie entstanden war51. Das Schlusskapitel mit seinem Gegenwartsbezug auf die Veränderungen der 1970er Jahre spricht von einer Ablösung der „modernen“ durch die „postmoderne Familie“52. Deutlicher wird die Prognose Shorters übrigens im englischen Original. Dort lautet die Kapitelüberschrift „Towards the Postmodern Family (or, Setting the Course for the Heart of the Sun)“53. Mit dieser Überschrift spielte er auf einen Songtitel der Band Pink Floyd von 1968 an. Die Metapher verwies auf den offenen Ausgang der in den 1970er Jahren ablaufenden Veränderung: „Sie führt entweder ins Zentrum der Sehnsüchte
Vogel, Eröffnung, 10. Ebd. Vgl. Tenhumberg, Grußwort, 15. Vgl. Strohmeier, Familie, 246–248; Huinink / Konietzka, Familiensoziologie, 75–87. Vgl. Shorter, Geburt. Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. Ehe der Zukunft; Kaplow, Rezension. Für eine Kritik der Thesen Shorters vgl. Gestrich, Geschichte, 72 f., 80 f.; Burkart, Familiensoziologie, 303. Drei zentrale Merkmale der „postmodernen Familie“ sind: 1) „definitive Trennung der Verbindungslinien, die von der jüngeren Generation zur älteren führen – eine Gleichgültigkeit der Jugendlichen gegenüber der Identität und Bedeutung der Familie, die sich in der Diskontinuität der Werte zwischen Eltern und Kindern zeigt“; 2) „die neue Unbeständigkeit im Leben des Paares, die sich in den raketengleich ansteigenden Scheidungsziffern spiegelt.“ (Shorter spricht sich aber gegen eine Dramatisierung der Scheidungszahlen aus, da oft erneut geheiratet werde); 3) „der systematische Abbau des ,Nestbegriffs‘ des Kernfamilienlebens, den die neue Befreiung der Frauen bedeutet“. Vgl. Shorter, Geburt, 304, 313. Für eine Zusammenfassung der Veränderungen vgl. ebenfalls Tyrell, Familie, 59–67. 52 Vgl. Shorter, Geburt, 304. 53 Edward Shorter zit. n. Burkart, Familiensoziologie, 303. Auch deutsche Soziologen sprachen in den 1980er Jahren von der „postmodernen Familie“. Vgl. Lìscher / Schultheis / Wehrspaun (Hg.), Familie.
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(Selbstverwirklichung, Glück) oder aber in den Untergang.“54 Shorter interpretierte die 1970er Jahre als eine Übergangsphase, die noch alle Entwicklungsmöglichkeiten offenließ. Ungewissheit über die Zukunft der Familie war demnach für Shorter ein Charakteristikum der 1970er Jahre. Die beiden anderen Studien argumentieren ebenfalls, dass sich die Familie grundlegend verändert habe, wenngleich sie die Wandlungsprozesse kulturpessimistisch interpretieren und hier aus der Ungewissheit über die Zukunft der Familie die Gewissheit ihres Niedergangs wird. Der Psychiater David Cooper sprach 1971 vom Tod der Familie55 – ein Titel, „bei dem Prognose und politisches Postulat in eins zusammenfließen“56, so das Urteil Mitterauers. Die Soziologin Brigitte Berger veröffentlichte 1983 mit ihrem Ehemann Peter die Arbeit In Verteidigung der bürgerlichen Familie57. Die bürgerliche Familie habe demnach erheblich an Bedeutung verloren und eben diese müsse wiederhergestellt werden. Auf dieses Anliegen des Ehepaars Berger wies der Umschlagstext der deutschen Ausgabe explizit hin: „Die Familie ist die grundlegende Institution der Gesellschaft. Für sie gibt es keine Alternative und keinen Ersatz. Ihr Ansehen muß wiederhergestellt werden.“58 Noch deutlicher bringt der US-amerikanische Originaltitel ihr Sendungsbewusstsein zum Ausdruck: The War over the Family. Capturing the Middle Ground59. Damit reiht sich ihre Arbeit in die Culture Wars der USA der 1970er und 1980er Jahre60 ein. Dass Cooper und das Ehepaar Berger die Entwicklung als „krisenhaft“ interpretieren, ist ihrem Bezugspunkt – dem Leitbild der bürgerlichen Kernfamilie – geschuldet61. Familienformen jenseits dieses Ideals galten für sie als defizitär. Shorter zog zwar ebenfalls die bürgerliche Kernfamilie als Referenzwert heran, aber blieb in seiner Bewertung ergebnisoffener und sah die Veränderungen nicht als Ausdruck einer Krise der Familie. Zahlreiche zeitgenössische Wissenschaftler, Kirchenvertreter und Politiker interessierten sich für die Familie und bewerteten ihre Veränderungen. Bereits hier zeigt sich, wie stark das Thema Familie in den 1960er und 1970er Jahren eine Vielzahl von Akteuren emotional berührte. Insbesondere drei Gründe lassen sich für diese Emotionalisierung benennen: Erstens führte die einseitige Fokussierung auf die Kernfamilie als der einzigen gesellschaftlich ak54 Burkart, Familiensoziologie, 303. 1989 verwies er dann auf die Bedeutung des Wertewandels. Vgl. Shorter, Auswirkungen. Zur Rezeption vgl. Burkart, Familiensoziologie, 303; Ders., Zukunft, 260. 55 Vgl. Cooper, Tod. 56 Mitterauer, Funktionsverlust, 92. 57 Vgl. Berger / Berger, Verteidigung. Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. Fris¦, Maria: All des Unfugs überdrüssig. Brigitte und Peter L. Berger in: „In Verteidigung der bürgerlichen Familie“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 17. April 1984 (ACDP 0/060/8); Currie, Rezension; McDaniel, Rezension; Meyer / Schulze, Rezension. 58 Berger / Berger, Verteidigung, Umschlag. 59 Zur Rezeption in Deutschland vgl. exemplarisch Beck-Gernsheim, Familie, 9. 60 Vgl. exemplarisch Rodgers, Age, 12, 145 f., 170–181. 61 Vgl. Schneider, Familie, 22.
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zeptierten Familienform zu einer Überbewertung der in den 1960er Jahren einsetzenden Veränderungen. Denn je stärker die Ausrichtung an dem Ideal der „christlich-bürgerlichen Kernfamilie“ erfolgte, desto gravierender und einschneidender mussten jedwede Veränderungen wahrgenommen werden62. Dies mündete dann vielfach in der bereits von Mitterauer konstatierten Krisendiagnose. Zweitens war und ist Familie ein emotional aufgeladener Untersuchungsgegenstand. Sie ist mehr als eine gesellschaftliche „Basisinstitution“63, sie ist ein entscheidender Faktor für die Biographie und ein zentraler Ort der Sozialisation fast jedes Menschen. Damit berührt sie fast alle Menschen, ist sie doch ein Teil des eigenen Lebens64. Deswegen fließen in die wissenschaftliche Analyse auch stets die eigenen „weltanschaulichen und politischen Positionen“65 mit ein. Wie sehr Familie ein emotional aufgeladener Untersuchungsgegenstand ist, zeigt sich zum Beispiel schon sprachlich in den Titeln der Arbeiten Coopers und des Ehepaars Berger. Es findet sich aber noch eine Vielzahl weiterer Belege. Ein Beispiel sind die Funktionen der Familie. Seit dem 19. Jahrhundert hatte die Institution Familie zahlreiche Funktionen an die Gesellschaft und gesellschaftliche Einrichtungen wie die Schule abgegeben. War dies nun ein „Funktionsverlust“ oder eine „Funktionsentlastung“66 bzw. eine „Verlagerung von Funktionsteilen“67 ? Erstere Position kann klar den Vertretern des Krisendiskurses zugeordnet werden. Anders hingegen argumentierten der Historiker Mitterauer und der Soziologe Friedhelm Neidhardt. Beide sprachen sich in den 1970er Jahre vehement dagegen aus, die Veränderungen als einen „Verlust“ zu deklarieren, da hier nicht differenziert werde zwischen politischem Familienverständnis und wissenschaftlicher Analyse. Sie plädierten daher dafür, die Begriffe „Funktionsentlastung“68 bzw. „Verlagerung von Funktionsteilen“69 zu verwenden70. Die Zeitgenossen empfanden die Veränderungen drittens deswegen als so dramatisch, weil die traditionelle Kernfamilie in den 1950er Jahren – relativ gemessen – ihre größte Verbreitung gefunden hatte71. Um das Jahr 1910/11 hatten ca. 77 % der 30-jährigen Männer und 88 % der 30-jährigen Frauen einmal in ihrem Leben geheiratet. Die Heiratsquote dieser Altersgruppe stieg 62 63 64 65 66 67 68 69 70
Vgl. Burkart, Familiensoziologie, 24–27. Vgl. Rosa, Beschleunigung, 179. Vgl. Mitterauer / Sieder, Einführung, 9. Ebd. Mitterauer, Funktionsverlust, 93. Neidhardt, Familie, 57. Mitterauer, Funktionsverlust, 93. Neidhardt, Familie, 57. Vgl. Mitterauer, Funktionsverlust, 93; Neidhardt, Familie, 57. Die Soziologin Rosemarie Nave-Herz favorisierte den Begriff „Bedeutungswandel“ gegenüber dem negativ konnotierten Ausdruck „Bedeutungsverlust“. Vgl. Nave-Herz, Bedeutungswandel, 220. 71 Vgl. Schneider, Familie, 21; Buske, Mutter, 17.
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bis ins Jahr 1960/62 auf ungefähr 85 % bzw. 94 % an72. Ab dem Jahr 1963 drehte sich dieser Trend um, und die Heiratsquote brach rapide ein73. In etwa zeitgleich veränderte sich die Zusammensetzung der Familien, die den Zeitgenossen ebenfalls einen Bedeutungsverlust der traditionellen Kernfamilie suggerierte. Gleichwohl ist hier eine Differenzierung notwendig, obwohl die Statistiken auf den ersten Blick einen eindeutigen Befund liefern: Der Anteil der Ehepaare mit Kindern fiel von 45,8 % im Jahr 1957 auf 41,8 % 1978, während parallel die Anteile der Ehepaare ohne Kinder von 23,3 % auf 25,7 % und der Alleinstehenden ohne Kinder von 20 % auf 25,7 % zunahmen74. Tab. 1: Familienzusammensetzung in %, 1957–1978; Quelle: Cramer, Lage, 79. Familien nach Zusammensetzung in %
Ehepaare mit Kindern Ehepaare ohne Kinder Alleinstehende mit Kindern Alleinstehende ohne Kinder
1957
1970
1978
45,8 23,3 10,9 20,0
43,8 24,6 7,0 24,6
41,8 25,7 6,7 25,7
Die statistischen Erhebungen zeigen durchweg einen Bruch bei der Familienstruktur auf, wenngleich die Reichweite des Wandels, abhängig von den jeweils gewählten Parametern, unterschiedlich stark ins Gewicht fällt. Während die von zeitgenössischen Beobachtern primär herangezogenen Heirats-, Geburten- und Scheidungsziffern auf einen umfassenden Bruch verweisen, relativieren die Statistiken zur Familienzusammensetzung diesen Befund. Sicherlich belegen auch sie einen Wandel, jedoch fällt dieser weitaus weniger dramatisch aus. Insofern ist die einseitige Interpretation der Veränderung als „Krise der Familie“ durchaus problematisch, wie neuere soziologische Studien gezeigt haben. Schließlich lebten trotz der statistisch gemessenen Verschiebung zwischen 1970 und 1978 immerhin noch 43,8 bis 41,8 % der erwachsenen Bevölkerung in einer Familie traditioneller Ausprägung (Ehepaar mit Kindern). In der Statistik werden unter der Rubrik „Ehepaare ohne Kinder“ zudem alle Ehepaare ohne Kinder mitgezählt, bei denen zum Erhebungszeitpunkt keine (minderjährigen) Kinder im Haushalt lebten. Steigt nun die durchschnittliche Lebenserwartung in der Bevölkerung an, dann nimmt auch der Anteil der älteren Ehepaare ohne Kinder zu, weil deren Kinder zum Zeitpunkt der Umfrageerhebung bereits den gemeinsamen Haushalt verlassen haben. Die statistisch gemessene Veränderung ist somit lediglich eine „Mo72 Bericht der Bundesregierung ìber die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft, 2. 73 Vgl. Schneider, Grundlagen, 15; Huinink / Konietzka, Familiensoziologie, 78; Burkart, Familiensoziologie, 186 f.; Peuckert, Familienformen (2012), 31 f. 74 Vgl. Cramer, Lage, 79.
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mentaufnahme“75, die den Lebenszyklus einer Familie nicht berücksichtigt. Wird hingegen dieser Verlauf miteinbezogen, dann lebten 2005 noch 53 % der Bundesbürger in einer „Normalfamilie“ mit Kindern, so der Familiensoziologe Günter Burkart76. Sein Kollege Stefan Hradil teilt diese Ansicht. Nach seinen Berechnungen lag 2001 der Anteil der Zwei-Eltern-Familie mit Kindern bei 47 %77. Die Zunahme der Alleinstehenden ohne Kinder – der Singles – resultierte zum großen Teil aus der allgemein gestiegenen Lebenserwartung. Denn Singles sind primär verwitwete ältere Frauen78. Auch die Entwicklung der Zahl der Alleinstehenden mit Kindern und der nichtehelichen Lebensgemeinschaften lässt das zeitgenössische Krisenszenario aus der Retrospektive wenig plausibel erscheinen. So ging der Anteil der Alleinstehenden mit Kindern zwischen 1957 und 1978 von 10,9 % auf 6,7 % zurück. Die Anteile der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern und ohne Kinder waren im Jahr 1972 mit lediglich 0,1 % bzw. 0,5 % verschwindend gering79. Insofern kann konstatiert werden, dass es bei der Zusammensetzung der Familienstruktur in den 1970er Jahren zwar zu einem Wandel kam, die bürgerliche Kernfamilie jedoch weiterhin die dominante Familienform blieb, obschon die öffentlichen Debatten zur Familie das Gegenteil behaupteten. Zu klären ist nun, wie es zu dieser Diskrepanz zwischen diskursiv artikulierten Umbrüchen und der sozialen Praxis kam. Die Vertreter des traditionellen Familienverständnisses, insbesondere Unionspolitiker, Vertreter der katholischen Amtskirche und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, konstruierten ein Bedrohungsszenario. Die wachsende Zahl unverheiratet zusammenlebender Paare wie auch der Ehescheidungen und der Geburtenrückgang versinnbildlichten aus ihrer Perspektive den Niedergang des christlichen Familienideals, den es aufzuhalten galt. Dies sollte mittels dramatisierender Beschreibungen erreicht werden, da so die Anhänger der traditionellen Familienwerte mobilisiert würden80. Die Akteure versuchten 75 Burkart, Familiensoziologie, 29. 76 Vgl. ebd., 29. 77 Hradil, Sozialstruktur, 97. Hradils Zahlenmaterial im Detail: 47 % der Deutschen lebten 2001 in einer Zwei-Eltern-Familie (mit Kindern); die große Mehrheit war verheiratet; nichteheliche Lebensgemeinschaften stellten demgegenüber eine klare Minderheit dar ; „[j]ede vierzehnte Person (7 %) in Deutschland war 2001 alleinerziehend oder ein Kind im Haushalt einer/eines Alleinerziehenden“; 27 % (ca. 14) als Paar ohne Kinder – verheiratet und nicht-verheiratet; 17 % (=ca. 1/6) lebten allein. Vgl. ebd., 97. 78 Vgl. Burkart, Familiensoziologie, 30. 79 Vgl. Peuckert, Familienformen (2008), 25; Cramer, Lage, 79. 80 Vgl. exemplarisch Kardinal alarmierte Katholiken. „Wachsender Einfluß von Marxisten und Atheisten in der Öffentlichkeit“. Sollen Ehe und Familie ausgehöhlt werden? Widerstand gegen die Ideologen. In: Bonner Rundschau. 23. Januar 1974 (AdsD ZASSIII 12-Familie); Höffner kritisiert Eherechtsreform. Kölns Kardinal sieht die menschliche Gesellschaft bedroht. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung. 23. Januar 1974, (ACDP 0/002-I); Die Kirche und die zersetzenden Tendenzen. Zentralkomitee der Deutschen Katholiken gibt politische Erklärung
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demnach, wie Thomas Großbölting gezeigt hat, mit ihren angestoßenen Diskussionen zu intervenieren, um die von ihnen kritisierte Veränderung abzuwenden81. Dieses Stilmittels waren sich übrigens auch Zeitgenossen bewusst. Der Moraltheologe Franz Böckle sprach das in seinem Beitrag auf der ZdK-Tagung 1974 an: Das Reden über die Krise der Familie reiche zurück bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und zu Wilhelm Heinrich Riehl. Es habe zum Ziel gehabt, die bürgerliche Familie zu stabilisieren und zu erhalten82. Aufgrund dieser Überbetonung des Wandels kam Böckle übrigens auch zu dem Schluss, dass sich die Familie als widerstandsfähig erwiesen habe und von Auflösungserscheinung keine Rede sein könne83.
4. Christliche Familienideale auf dem Rückzug: Einstellungen zu Ehe und Ehescheidung Diese Ausführungen sprechen sich zwar gegen die Interpretation eines Niedergangs des christlichen Familienideals aus, verweisen aber dennoch auf Veränderungsprozesse mit erheblicher Reichweite: den Rückzug der christlichen Familienideale, der in den 1950er Jahren langsam einsetzte, sich im folgenden Jahrzehnt beschleunigte und im Bruch mit dem traditionellen Familienverständnis in weiten Gesellschaftsteilen zu Beginn der 1980er Jahre mündete. Dieses Verlaufsmuster findet sich insbesondere bei den zeitgenössisch verhandelten Vorstellungen von Ehe und Ehescheidung, die sich sukzessive vom christlichen Familienideal entfernten. Das Allensbacher Institut für Demoskopie untersuchte in den Jahren 1973 und 1976 den Stellenwert der Ehe für die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger. Die Umfrage ergab 1973, dass 28 % der Eheleute unter dreißig Jahren und 43 % der Ledigen das unverheiratete Zusammenleben befürworteten84. „Ist damit nicht die Ehe in Gefahr?“, fragten die Verfasser der Studie. Obwohl ein definitives Urteil aus diesen Zahlen nicht abgeleitet werden konnte, vermuteten sie, dass „nicht die Ehe grundsätzlich für überholt“85 eingestuft werde, sondern vielmehr das unverheiratete Zusammenleben als Vorstufe, als eine „Ehe auf Probe“ verstanden und auch akzeptiert werde. Wie sehr das
81 82 83 84 85
zur Bundestagswahl ab. Stellungnahme zur Familien-Gesetzgebung. In: Frankfurter Rundschau. 11. August 1976 (ACDP 0/060/8); Larmann, Wolfgang: „Familie und Ehe sollen heute lächerlich gemacht werden“. Herbe Gesellschaftskritik vom Familienbund der Katholiken. In: Bonner Rundschau. 17. April 1978 (ACDP 0/060/8). Vgl. Grossbçlting, Himmel, 35. Vgl. Bçckle, Das Unwandelbare. Zu Riehl vgl. Riehl, Familie. Vgl. Bçckle, Das Unwandelbare. Vgl. Zur Ehe und Familie in Deutschland. Eine Umfrage für den Stern, Allensbach am Bodensee, 14. Mai 1973, 16 (BARCH Koblenz ZSg. 132/1928). Ebd.
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christliche Familienverständnis – vor allem das katholische – zu diesem Zeitpunkt infrage gestellt wurde, ergibt sich allerdings schon schlicht aus dem Umstand, dass diese Form des Zusammenlebens nach katholischen Grundsätzen eigentlich abzulehnen war. Drei Jahre später fragte das Allensbacher Institut erneut nach dem Stellenwert der Ehe. 72 % der Männer und 73 % der Frauen stuften diese als „notwendig“ ein. Noch in den 1960er Jahren sei hingegen von 92 % bzw. 95 % der Befragten die Ehe als „eine notwendige Einrichtung“86 bezeichnet worden. Darüber hinaus seien lediglich 5 % der Männer und 4 % der Frauen in dieser Frage unentschlossen gewesen, 1976 hingegen bereits jeweils 19 %. Das verweise, so das Urteil der Allensbacher Studie, auf einen erheblichen Bedeutungsverlust der Ehe87. 1949 1963 1976 Verheiratete Männer Notwendig Überlebt Unentschieden
90 3 7
92 3 5
72 9 19
92 3 5
95 1 4
73 8 19
Verheiratete Frauen Notwendig Überlebt Unentschieden
Quelle: Institut fìr Demoskopie Allensbach: Männer über Ehe, Sexualität, die Frau als Partnerin. Repräsentativumfrage für den Stern, Allensbach, 15. Dezember 1976, Tab. 1 (BARCH Koblenz ZSg. 132/2254).
Zwischen den frühen 1960er und 70er Jahren kam es also zu zwei grundlegenden Veränderungen. Religiöse Lebensführung entwickelte sich infolgedessen in der Alltagspraxis zu einer Kategorie von nachgeordneter Bedeutung. Erstens war Ehe für gut ein Viertel der Befragten nicht mehr zwangläufig das Lebensziel. Zweitens – und das war eng mit der ersten Veränderung verknüpft – akzeptierte eine wachsende Zahl von Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern unterschiedliche Formen des Zusammenlebens. Das zeigte sich erneut in den frühen 1980er Jahren, als Soziologen die Verbreitung der sogenannten nichtehelichen Lebensgemeinschaft diskutierten. 1983 urteilten 86 Institut fìr Demoskopie Allensbach: Männer über Ehe, Sexualität, die Frau als Partnerin. Repräsentativumfrage für den Stern, Allensbach, 15. Dezember 1976, 2 (BARCH Koblenz ZSg. 132/2254). 87 Ebd., Tab. 1.
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die Soziologinnen Sibylle Meyer und Eva Schulze diesbezüglich, dass laut einer EMNID-Umfrage die Religionszugehörigkeit keinen Aufschluss darüber gebe, ob man eine nichteheliche Lebensgemeinschaft positiv oder negativ bewerte. Vielmehr bestimmten die Kategorien Bildung und Geschlecht die individuelle Position zu dieser Frage88. Insbesondere ein Teil der Frauen mit höherer Bildung stuften damals die Lebensgemeinschaften als attraktiv ein. Sie hofften, dass in diesen wenig institutionalisierten Formen des Zusammenlebens die Chancen für eine Verhandlung über die Rollenverteilung größer sein würden als in der traditionellen Kernfamilie. Es ging ihnen dabei primär um eine gerechte Verteilung der Hausarbeit89. Eine wachsende Zahl von vor allem berufstätigen Frauen mit höherer Schulbildung stellten demnach um 1980 die Ehe infrage, da die dort typische hierarchische Rollenverteilung ihnen kaum Möglichkeiten bot, ihr persönliches Glück – jenseits von Mutterschaft und Hausarbeit – zu suchen. Dieser Bruch hatte sich bereits in einer Allensbacher-Umfrage von 1976 angedeutet. Damals hatten bereits 57 % der Frauen gegenüber 45 % der Männer die Bedeutung der Ehe „für das persönliche Glück“90 infrage gestellt. Diese Umfrageergebnisse verweisen auf einen Bedeutungswandel der Ehe, der in zwei Phasen ablief. Demnach verlor in der ersten Hälfte der 1970er Jahre die Ehe als Institution allmählich an Bedeutung, gleichzeitig blieb sie jedoch für die jeweilige individuelle Paarbeziehung von Relevanz. Während Soziologen wie Ernest Burgess schon 1945 vom Übergang vom institutionellen zum partnerschaftlichen Eheverständnis gesprochen hatten91, legen diese Befunde nahe, den gesamtgesellschaftlichen Wandel in Deutschland auf die Zeit zwischen Mitte der 1960er und Anfang der 70er Jahre zu datieren. Den zweiten Umbruch beschrieb der Soziologe Andrew J. Cherlin als einen Trend zur individualisierten Ehe bzw. Partnerschaft und datierte ihn für die USA auf die 1960er und 70er Jahre.92 Die Umfrageergebnisse für Deutschland lassen vermuten, dass sich dieser Bruch gegen Ende der 1970er Jahre vollzog, als die Institution der Ehe hinterfragt wurde. Vor allem berufstätige Frauen mit höherer Bildung empfanden die dort typische Rollenverteilung als unzeitgemäß und wünschten sich individualisierte Rollenmuster. Insofern erscheint der Zeitraum zwischen den späten 1960er und frühen 1980er Jahren als Phase eines verdichteten Wandels. Erste Anzeichen dieser Veränderung reichen jedoch durchaus zurück bis in die 1950er Jahre. Eine Umfrage des EMNID-Instituts von 1954 betonte, dass die Ehe keine Institution mit „objektiver, überpersönlicher Gültigkeit“ sei, sondern ihre Bedeutung von 88 Vgl. Meyer / Schulze, Lebensgemeinschaften, 745, 747. 89 Vgl. ebd., 749, 751. 90 Institut fìr Demoskopie Allensbach: Männer über Ehe, Sexualität, die Frau als Partnerin. Repräsentativumfrage für den Stern, Allensbach, 15. Dezember 1976, 3 (BARCH Koblenz ZSg. 132/2254). 91 Vgl. Burgess / Locke, Family. 92 Vgl. Cherlin, Deinstitutionalization, 852.
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der subjektiven Sinnzuschreibung der Ehepartner ableite. Dieser Einstellungswandel führe zu einer Zunahme der Ehescheidungen. Diese Prognose war der Erkenntnis geschuldet, dass die Liebesehe bereits die Möglichkeit des Scheiterns implizierte, da Liebe vergänglich sein kann93. Der Anstieg der Scheidungszahlen seit den 1960er Jahren deutet gemäß dieser Interpretation lediglich darauf hin, dass die eigene Ehe in Frage gestellt wird, nicht aber die Ehe als Institution. Familiensoziologen belegen dies durch die Tatsache, dass zwar ein Drittel aller Ehen geschieden werden, aber immerhin die restlichen zwei Drittel weiterhin intakt sind, und dass Geschiedene eine hohe Neigung aufweisen, erneut eine Ehe einzugehen94. Diese Differenzierung zwischen der eigenen Ehe und der Ehe allgemein ist insofern bedeutsam, als eine vehemente Ablehnung der Ehescheidung durch die Befragten nicht hieß, dass sie diese rigorose Position auch im Hinblick auf die eigene Ehe vertraten. Sie konnten also für sich selbst durchaus den Ausnahmefall reklamieren. In ihrer besonderen Situation sei dann die Ehescheidung durchaus zulässig, erklärten die Verfasser der EMNID-Studie. Deswegen sei es auch mit Vorsicht zu genießen, dass sich 63 % für eine Erschwerung der Ehescheidung ausgesprochen hatten95. Unstrittig hingegen war die geringe Bedeutung religiöser Glaubensgrundsätze für die individuelle Lebensführung in der Frage der Ehescheidung. Lediglich 8 % der Befragten führten dies als Grund für eine Erschwerung an. 32 % hingegen nannten „moralische und sachliche Zweckmäßigkeiten“ als Gründe96. Damit deckt sich das Ergebnis der EMNID-Umfrage mit Baumerts Befund, der ebenfalls die untergeordnete Bedeutung der Konfessionszugehörigkeit bei der Frage der Ehescheidung betont hatte97. Die Ausdifferenzierung nach Glaubensrichtung untermauert dieses Urteil. Selbst wenn 68 % der Katholiken und 61 % der Protestanten für eine Erschwerung eintraten, gaben immerhin 29 % der Protestanten und 21 % der Katholiken an, dass sie eine Erleichterung der Scheidung wünschten. Insbesondere die letztere Gruppe der Katholiken falle stark ins Gewicht, so der Tenor der EMNID-Studie, da für sie die Ehescheidung eigentlich kategorisch ausgeschlossen war. Für Vertreter des evangelischen Glaubens war sie in bestimmten Fällen hingegen durchaus gestattet98. 93 Vgl. Frçhner / Stackelberg / Eser, Familie, 13, 41; Peuckert, Familienformen (2008), 177; Sieder, Sozialgeschichte, 261; Peuckert, Familienformen (2012), 320 f. Siehe auch Burkart, Lebensphasen. 94 Nave-Herz, Familie heute, 24, 118 f., 122 f. Siehe auch Huinink / Konietzka, Familiensoziologie, 80; Peuckert, Familienformen (2012), 321; Nave-Herz u. a. (Hg.), Scheidungsursachen. 95 Vgl. Frçhner / Stackelberg / Eser, Familie, 42. 63 % der Befragten waren für eine Erschwerung und 26 % für eine Erleichterung der Ehescheidung. Vgl. ebd., 42. 96 Vgl. ebd., Tab. 105. 97 Baumert, Familien, 173. 98 Vgl. Frçhner / Stackelberg / Eser, Familie, 48 f. Rölli-Alkemper urteilt etwas anders: Selbst wenn der Glaube bei der Frage der Ehescheidung in den 1950er Jahren noch eine größere Rolle
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In den 1950er Jahren deutete sich also ein Wandel an, der eigentliche Bruch erfolgte aber erst in den 1960er Jahren. 1967 wünschten sich in einer EMNIDUmfrage 55 % der überzeugten Katholiken, Ehescheidung prinzipiell zu ermöglichen99. Zu diesem Zeitpunkt setzten sich selbst einflussreiche Theologen und Kirchenvertreter für ein liberaleres Ehescheidungsrecht ein100. Auch ein auf den ersten Blick widersprüchlicher Befund einer EMNID-Studie zu „Religion und Familie“ von 1977 widerlegt den Trend nicht. Hier sprachen sich 1977 zwar 59 % der Katholiken für die Unauflöslichkeit der Ehe aus101. Lukas Rölli-Alkemper erklärt diese Diskrepanz zwischen Ideal und Praxis damit, „daß die Unauflöslichkeit der Ehe zwar als Ideal nach wie vor akzeptiert wurde, die Durchsetzung jedoch nicht mehr in jedem Fall als erstrebenswert erschien.“102 Hier zeigt sich erneut die Diskrepanz zwischen dem diskursiv verhandelten Ideal und der eigenen Praxis.
5. Zusammenfassung Obwohl bereits in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre der Familienalltag immer weniger von einer christlichen Lebensführung geprägt war, kam es erst im Laufe der 1960er Jahre zu einem verdichteten Wandel, der sich im folgenden Jahrzehnt noch einmal beschleunigte und in der ersten Hälfte der 1980er Jahre schließlich verlangsamte. Da sich dieser Veränderungsprozess über einen Zeitraum von ca. 15 bis 20 Jahre erstreckte, handelte es sich beim Wandel der Familienideale und der Familienstruktur um eine Zäsur, die weitaus weniger „hart“ ins Gewicht fiel als zeitgenössische Beobachter glaubten. Die langen 1960er Jahre nehmen in diesem Prozess eine Schlüsselrolle ein. In diesem Zeitabschnitt wandelte sich zunächst die Alltagspraxis der Familien, die auf ein Zurückdrängen der christlichen Lebensführung hinweist. Dies zeigte sich zum Beispiel in der Frage der Ehescheidung. Gläubige Katholiken gaben in Befragungen zwar an, gegen eine Erleichterung der Ehescheidung zu sein. Jedoch waren sie durchaus bereit, sich selbst – als individuellen Ausnahmefall – scheiden zu lassen. Auch nahm der prozentuale Anteil der Gläubigen, die sich offen gegen den Grundsatz der Unlösbarkeit der Ehe aussprachen und für eine Liberalisierung des Ehescheidungsrechts einsetz-
99 100 101 102
spielte als bei der Geburtenregelung oder Kindererziehung, zeigte sich auch hier bereits in Ansätzen die schwindende Bedeutung von Religiosität für die Alltagspraxis. Vgl. RçlliAlkemper, Familie, 235 f. Vgl. ebd., 189. Rölli-Alkemper bezieht sich auf Harenberg, die Deutschen, 24. Vgl. Grossbçlting, Himmel, 115. Die Reformkonzepte der Amtskirchen finden sich u. a. in folgenden Papieren: Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Reform; Kommissariat der deutschen Bischçfe in Bonn, Erwägungen. Vgl. Harenberg, die Deutschen, 189 f. Rölli-Alkemper bezieht sich auf Martin, Familie, 73 ff. Rçlli-Alkemper, Familie, 190.
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ten, im Laufe der Jahre zu. Parallel brach überdies die traditionelle Familienstruktur auf. Die statistisch gemessenen Veränderungen bei der Heiratsneigung, den Geburtenzahlen und der Ehescheidung führten dies den Zeitgenossen eindrücklich vor Augen. Eine weitreichende Veränderung betraf ebenfalls den Einstellungswandel zur Ehe, der sich in den langen 1960er Jahren vollzog. Es kam zunächst zum Übergang vom institutionellen zum partnerschaftlichen Eheverständnis, bevor gegen Ende der 1970er Jahre schließlich ein Teil der berufstätigen Frauen mit höherer Schulbildung die Ehe an sich infrage stellte und stattdessen alternative Lebensformen wie nichteheliche Lebensgemeinschaften favorisierte. Diese Verschiebungen vollzogen sich allmählich und erfassten nicht alle Gesellschaftsteile im selben Umfang. Dennoch sprachen viele zeitgenössische Beobachter von einer „Krise der Familie“ oder dem „Niedergang“ des christlichen Familienideals. Diese Dramatisierung ist primär auf drei Gründe zurückzuführen. Erstens kam es zu einer Überbewertung der Wandlungsprozesse, da bis in die 1960er Jahre die aus christlichen Glaubensgrundsätzen abgeleitete bürgerliche Kernfamilie die einzige gesellschaftlich akzeptierte Familienform gewesen war. Davon abweichende Formen wurden öffentlich kaum diskutiert. Zweitens handelte es sich bei der Familie um einen emotional aufgeladenen Untersuchungsgegenstand, bei dem stets weltanschauliche und wissenschaftliche Positionen ineinanderflossen. Drittens hatte die bürgerliche Kernfamilie in den 1950er Jahren ihre größte Verbreitung gefunden und war somit zur sozialen Realität fast aller Gesellschaftsteile geworden. Dieser Trend kehrte sich schließlich im Laufe der 1960er Jahre um. Sicherlich hatten die Veränderungen weitreichende Folgen für die Alltagspraxis in den Familien, die sich immer weniger an den Grundsätzen religiöser Lebensführung orientierten. Dramatisiert – wie im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs – werden sollten sie hingegen nicht, da die Kernfamilie bis in die 1980er Jahre hinein die am weitesten verbreitete familiale Lebensform blieb.
Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Bestand Pressearchiv Nr. ZASSIII 12-Familie
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Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) Bestand 01–221: Nachlass Franz-Josef Wuermeling Nr. 017 Bestand Pressedokumentation Nr. 0/002-I: Eherecht Nr. 0/060/8: Familienpolitik
Bundesarchiv Koblenz (BARCH Koblenz) Bestand ZSg 132: Institut für Demoskopie Allensbach Nr. 1928 Nr. 2254
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Baumert, Gerhard: Deutsche Familien nach dem Kriege. Unter Mitwirkung von Edith Hünniger (Gemeindestudie des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung 5). Darmstadt 1954. –, Methoden und Resultate einer Untersuchung deutscher Nachkriegsfamilien. In: Anderson, Nels (Hg.): Recherches sur la famille. Bd. 1. Tübingen 1956, 13–28. Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. 2., durchgesehene Aufl. München 2000. Berger, Brigitte / Berger, Peter L.: In Verteidigung der bürgerlichen Familie. Aus dem Amerikanischen von Bernadette Eckert. Frankfurt a. M. 1984. Bericht der Bundesregierung ìber die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft (Drucksache Deutscher Bundestag V/909). Bonn 1966. Bessel, Richard: Germany after the First World War. Oxford 1995. Bçckle, Franz: Das Unwandelbare im Wandel – theologisch-sozialethische Thesen zu Ehe und Familie in unserer Gesellschaft (Kongress über aktuelle Fragen der Familie und Familienpolitik, 1.–2. Februar 1974 in Bonn-Bad Godesberg). In: Berichte und Dokumente 22 (1974), 64–76. Burgess, Ernest W. / Locke, Harvey J.: The Family. From Institution to Companionship. New York u. a. 1945. Burkart, Günter : Lebensphasen – Liebesphasen. Vom Paar zur Ehe, zum Single und zurück. Opladen 1997. –, Familiensoziologie. Konstanz 2008. –, Zukunft der Familie oder : Szenarien zukünftiger Lebens- und Familienverhältnisse. In: Schneider, Norbert F. (Hg.): Lehrbuch Moderne Familiensoziologie.
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Religiöse Sozialisation in bikonfessionellen Kontexten Zur Stellung konfessionsverschiedener Ehen und Familien im religiösen Wandel der 1960er Jahre1 Der Faktor „Konfession“ nahm in den 1960er Jahren sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung des Religiösen und den soziologischen bzw. theologischen Diskussionen als auch in den religiösen Lebenswelten einen herausragenden Platz ein. Neben konfessionellen Auseinandersetzungen und Konflikten, aber auch Tendenzen zur Annäherung der beiden großen Kirchen bekam seine Rolle im Wandel der Religiositätsmuster und des religiösen Verhaltens eine hohe Relevanz. Damit verbunden war auch die Frage der Weitergabe von Religiosität und Kirchlichkeit, hing von ihr doch das institutionelle Fortbestehen einer – konfessionell bestimmten – religiösen Gemeinschaft ab. In einem solchen Kontext gewannen konfessionsverschiedene Ehen und Familien eine besondere Bedeutung, da die Tradierung des Religiösen und die kirchliche Reproduktion aufgrund der divergierenden Ausrichtungen und Verhaltensnormierungen von Sozialisationsmilieus problematisiert wurden. Am deutlichsten schlug sich diese Problematisierung in der kirchlichen Haltung zur konfessionellen Heterogamie nieder. Evangelisch-katholische Eheschließungen wurden von den beiden Kirchen bis in die 1960er Jahre hinein größtenteils abgelehnt, wenngleich in den jeweiligen Positionen Differenzierungen und Abstufungen bestanden2. In der katholischen Kirche, deren kanonisches Recht die Konfessionsverschiedenheit als Ehehindernis betrachtete, wurden bikonfessionelle Heiraten und Familiengründungen nur unter der Bedingung einer katholischen Trauung und Kindererziehung geduldet. Bei der Nichteinhaltung dieser Bedingung drohte die Exkommunikation und die Ehen wurden nicht als gültig anerkannt. Die kirchliche Ablehnungs- und Verhinderungspolitik, die erst um die Wende zu den 1970er Jahren in eine Phase der zwischenkirchlichen Zusammenarbeit überging, sowie ihr Einfluss auf die Lebenssituation konfessionsverschiedener Ehepaare prägten im vorausgehenden Jahrzehnt noch vielfach die Wahrnehmung des konfessionellen Heterogamieproblems in der Öffentlichkeit. Die Bedeutung der familialen Bikonfessionalität für die Lebensführung beschränkte sich nicht auf die Versuche der kirchlichen Einflussnahme auf das 1 Der Beitrag stützt sich auf die Ergebnisse eines Forschungsprojekts im Rahmen der DFGForschergruppe 621 „Transformation der Religion in der Moderne“. 2 Vgl. ausführlich Owetschkin, Weg.
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Heiratsverhalten und die Kindererziehung. Die Auswirkungen der Konfessionsverschiedenheit gingen darüber hinaus, sie waren vielschichtig und schlossen sowohl die unmittelbare religiös-kirchliche Praxis als auch die Reflexionsebene von Konfession, Religion und Sozialisation ein. Wie zu zeigen sein wird, war diese Praxis mit ihren Bezügen zur Tradierung des Religiösen und Konfessionellen genauso wie ihre Wahrnehmung aus der Eigen- und Fremdperspektive konfessionsverschiedener Ehen und Familien durch sozialstrukturelle und soziokulturelle Entwicklungen bedingt und in den Konnex innerkirchlicher Wandlungsprozesse und soziologisch-theologischer Diskurse eingebunden. Erst auf dem Hintergrund dieser Bedingtheit und Eingebundenheit kann die Stellung der familialen Bikonfessionalität im religiösen und gesellschaftlichen Wandel der 1960er Jahre erfasst werden. Bevor versucht wird, die Entwicklungsprozesse im Bereich der konfessionellen Heterogamie mit ihren religiös-sozialisatorischen Implikationen in historische Kontexte und zeitgenössische Reflexionszusammenhänge einzuordnen, seien kurz, ausgehend von statistischen Daten, empirischen Studien und Befragungsergebnissen, einige quantitative und einstellungsbezogene Aspekte der Konfessionsverschiedenheit in Ehe und Familie sowie der Rolle von Konfession in der Kindererziehung beleuchtet. Auch wenn diese Daten und Ergebnisse nur partiell Repräsentativität besitzen und lediglich Teilaspekte der Situation von evangelisch-katholischen Ehepaaren widerspiegeln sowie mit zeitgenössischen Intentionen und Interessenlagen verbunden sind, lassen sie – auf einer übergreifenden Ebene – doch Grundtendenzen der Entwicklung erkennen und ermöglichen eine sozialgeschichtlich gestützte Analyse.
1. Religiosität, Konfessionsverschiedenheit und Erziehung im familialen Umfeld Im Hinblick auf die Verbreitung evangelisch-katholischer Eheschließungen stellten die 1960er Jahre eine Periode dar, in der ihr Anteil, im Unterschied zum vorangegangenen und folgenden Jahrzehnt, kontinuierlich zunahm. Der Anstieg war allerdings vergleichsweise gering: von 21,5 % (1960) auf etwa ein Viertel (1970)3. Seitdem blieb dieser Anteil – bei gleichzeitiger rapider Zunahme von Eheschließungen mit und zwischen „Sonstigen“, d. h. vorwiegend Konfessionslosen – annähernd konstant und zeigte ab den 1990er Jahren eine sinkende Tendenz4. Der Anstieg der Zahl von konfessionsverschiedenen Ehen und Familien wurde bereits zeitgenössisch mit Migration, zunehmender Mobilität und der Erweiterung der Kontaktflächen und -bereiche der Kon3 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung, 106. 4 Logemann, Familien, 29.
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fessionen in Zusammenhang gebracht5. In dieser Hinsicht war es bezeichnend, dass evangelisch-katholische Ehen besonders in urbanen, industrialisierten Gebieten mit gemischter konfessioneller Struktur verbreitet waren6. Die Auflösung traditioneller dörflicher Lebenswelten im Zuge der Schrumpfung des primären Sektors, die Erosion konfessioneller, namentlich des katholischen Milieus, die Verstädterung nicht nur der Siedlungsstruktur, sondern auch der Lebensweisen und -gewohnheiten und die damit einhergehende Abnahme der sozialen Kontrolle hatten tief greifende Folgen für den Stellenwert der Religiosität und Konfessionalität im alltäglichen Verhalten. Durch die Vervielfältigung der Lebensbezüge, Wohlstandssteigerung und massenmedial vermittelte Horizonterweiterung vergrößerten sich die Handlungsoptionen der Individuen. Diese Prozesse wurden von einem Rückgang der Plausibilität und Verbindlichkeit von kirchlichen Normen, Regelungen und Deutungen begleitet, während die mediale Präsenz des Religiösen und die öffentlichen Auseinandersetzungen um religiöse und kirchliche Fragen eine verstärkte Intensität erreichten7. Die Teilnahme an kirchlichen Gemeindeveranstaltungen und die rituelle Praxis gingen ebenfalls zurück, wobei der Kontakt zur Kirche nicht nur und nicht primär quantitativ abnahm, sondern sich auch qualitativ, in Richtung eines neuen Modus der Kirchenbindung, änderte. Zwar setzten diese Entwicklungen bereits in den 1950er Jahren ein, aber erst in der darauffolgenden Dekade bekamen sie eine charakteristische Dynamik und wurden immer intensiver als krisenhaft und umwälzend wahrgenommen8. Welche Rolle spielten unter diesen Bedingungen – die einen maßgeblichen Rahmen wie auch einen Indikator für den Wandel der Lebensführung bildeten – konfessionsverschiedene Ehen und Familien als Instanzen der religiösen Sozialisation? Versteht man Lebensführung als eine Form des Zusammenhangs zwischen Wert- und Glaubenshaltungen und Alltagsgestaltung9, dann ist offensichtlich, dass Verschiebungen des Stellenwerts von Konfession bzw. Religion im individuellen Werte- und Normensystem mit entsprechenden Änderungen der Verhaltensmuster einhergehen müssen. Kirchlicherseits wurde denn auch davon ausgegangen, dass evangelisch-katholische Eheschließungen zu einer religiösen Indifferenz und zur Entfremdung von der jeweiligen Kirche beitrugen, da eine einheitliche oder gemeinsame religiöskirchliche Praxis aufgrund der innerfamilialen konfessionellen Differenzen
5 Vgl. als Beispiele Sucker / Lell / Nitzschke, Mischehe, 114; Zur Mischehenstatistik, 23; Harenberg, Mischehe, 13. 6 Bereitschaft, 358 f.; Struktur, 563 ff. 7 Vgl. Hannig, Religion. 8 Vgl. als Überblick Grossbçlting, Himmel, 95–179; zeitgenössisch als Beispiel Arnold u. a., Handbuch, 188–233. 9 Vgl. die neueren Diskussionen in der Lebensstilforschung: Rçssel / Otte, Lebensstilforschung, bes. 14 f., 37 f.
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und Konfliktvermeidungsstrategien unmöglich erschien10. Darauf stützten sich auch die Warnungen vor der konfessionellen Heterogamie und die kirchliche Verhinderungspolitik11. Zugleich blieb die Zahl der Konversionen aufgrund der Eheschließung – als scheinbare „Lösung“ des Problems – relativ gering und wies eine sinkende Tendenz auf. So entfielen in den 1950er Jahren auf 100 evangelisch-katholische Eheschließungen noch ca. 28 Übertritte (die bei weitem nicht alle anlässlich der Heirat erfolgten). Im Jahre 1967 waren es lediglich 18, von denen sechs auf die Übertritte zum Katholizismus kamen12. Die doppelte Häufigkeit der Konversionen zur evangelischen Kirche im Vergleich zur katholischen wurde auch zeitgenössisch auf die restriktive Politik der Letzteren in Fragen der konfessionellen Heterogamie zurückgeführt13. Im Gegensatz zu kirchlichen Annahmen ging aus empirischen Untersuchungen im Bereich der Familienreligiosität aus den 1950er, 1960er und frühen 1970er Jahren hervor, dass die Strukturen der Kirchlichkeit in evangelisch-katholischen Ehen und Familien wesentlich differenzierter waren und sich nicht auf eine verminderte Häufigkeit des Kirchgangs und der Kontakte zur Kirche reduzieren ließen. Auch unter gemischtkonfessionell Verheirateten befand sich ein bestimmter Anteil von „Kirchentreuen“, und der Gottesdienstbesuch oder die Beziehungen zur Kirchengemeinde variierten bei solchen Ehepaaren je nach der Traukonfession und dem sozialstrukturell bedingten Lebensumfeld. Dabei näherte sich ihre Kirchlichkeit mitunter dem Muster anderer Gruppen in der Gemeinde, wie etwa demjenigen der Ledigen und jungen Erwachsenen oder der Geschiedenen14. Es waren vor allem katholische Männer, deren religiös-kirchliches Verhalten einen deutlichen Rückgang erfuhr, während der Einfluss der Bikonfessionalität auf das religiös-kirchliche Verhalten des evangelischen Teils eher gering war. Jedoch umfasste auch ein solcher Intensitätsrückgang, wie einige Studien zeigten, in erster Linie öffentliche, sichtbare Formen der Religiosität. Deren andere Formen bzw. religiöse Praktiken, die vorwiegend einen privaten Charakter hatten, wurden von der Konfessionsverschiedenheit weniger tangiert15. Zugleich führte die Konfessionsverschiedenheit bei einem Teil evan10 Vgl. exemplarisch Gemeinsames Hirtenwort, 316 f.; Sucker / Lell / Nitzschke, Mischehe, 325 ff. 11 Vgl. überblicksartig Lengsfeld, Praxis, 25–38. 12 Raben, Statistik, 36. Der Anteil der Konversionen aus Anlass der Eheschließung betrug 1956 je nach der Landeskirche zwischen 2 und 23 % aller Übertritte (Aufnahmen) zur evangelischen Kirche. Vgl. Sucker / Lell / Nitzschke, Mischehe, 71; für die 1960er Jahre Kirchliches Jahrbuch 1966, 456. 13 Greinacher, Entwicklung, 444. 14 Vgl. Institut fìr kirchliche Sozialforschung, Kirchenbesucherzählung, 44 f.; Sozialer Wandel, Teil 2, 40 f.; Lohse, Kirche, 158 f.; Schmidtchen, Kirche, 155; für die 1950er Jahre Weyand, Formen, 102–107, 164–168, 185 ff.; Schreuder, Kirche, 410–442; Menges, Kirche, 127–140. 15 Boos-Nìnning / Golomb, Verhalten, 108 f.
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gelisch-katholischer Ehepaare – wie auch innerhalb der Kirchen selbst zugestanden wurde – zu einer Belebung des Glaubens und zur Intensivierung der Beschäftigung mit religiösen und konfessionellen Fragen16. Aus dieser Intensivierung, die mit einer Vergegenwärtigung der eigenen konfessionellen Zugehörigkeit und Identität einherging, musste sich allerdings nicht unbedingt eine Steigerung der religiös-kirchlichen Praxis im traditionellen Sinne ergeben. Vor dem Hintergrund der bestehenden kirchlichen Restriktionen, aber auch der ökumenischen Bestrebungen zumal im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils17 konnte die religiös-kirchliche Aktivität im Kontext der familialen Bikonfessionalität eine spezifische, interkonfessionell orientierte Gestalt annehmen. Insgesamt tendierte die Kirchlichkeit bei konfessionsverschiedenen Ehepartnern zu einer inneren Angleichung und einer Annäherung an protestantische Muster. Damit unterschied sie sich zwar – im Durchschnitt – von der Kirchlichkeit gleichkonfessioneller, vor allem katholischer Ehepaare. Solche Unterschiede bewegten sich allerdings durchaus im Rahmen der Variationen, die etwa durch konfessionelle Besonderheiten, geschlechtsspezifische, sozial- und gelegenheitsstrukturelle Faktoren bedingt waren, und wurden durch diese vielfach überlagert18. Dementsprechend gestalteten sich auch die Auswirkungen der konfessionellen Heterogamie auf die religiös-kirchliche Erziehung und Sozialisation der Kinder je nach dem lebensweltlichen Zusammenhang unterschiedlich. Nimmt man die Taufe als formales Kriterium, wurden die meisten Kinder aus konfessionsverschiedenen Familien in ein religiös-kirchliches Sozialisationsumfeld einbezogen19. Die Taufkonfession entsprach in zwei Dritteln der Fälle der Konfession der Mutter20, die Verteilung der Konfessionszugehörigkeit der Kinder gestaltete sich jedoch nicht gleichmäßig. In Gebieten mit einer überwiegend evangelischen resp. katholischen Bevölkerung machte sich eine stärkere Anpassung der Konfession der Kinder – auch bei einer anderskonfessionellen Zugehörigkeit der Mutter – an die Mehrheitskonfession bemerkbar21. Die Wahl der Tauf- und Traukonfession stellte demnach weniger einen Indikator der konfessionellen oder Kirchenverbundenheit dar, sondern erfolgte oft nach pragmatischen, nicht direkt religions- oder kirchenbezogenen Gesichtspunkten. Die Konfession erschien als soziales Merkmal, die Weitergabe der Konfessionszugehörigkeit bildete einen Teil der Reproduktion von sozialen Strukturen.
16 Vgl. beispielsweise Sucker / Lell / Nitzschke, Mischehe, 335; Zur Mischehenstatistik, 23; Frieling, „Mischehe“, 8; aus der Perspektive der Ehepaare Will / Will, Mischehe, passim. 17 Vgl. exemplarisch an einem regionalen Beispiel Link, Konzil. 18 Vgl. dazu ausführlicher Owetschkin, Ehen. 19 Logemann, Familien, 42 ff. 20 Kinderzahlen, 686. 21 Vgl. Raben, Statistik, 44; Weyand, Formen, 64 f.
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Die formale Zuweisung des Kindes zu einer konfessionsbestimmten kirchlichen Gemeinschaft zog auch nicht zwangsläufig eine zielgerichtete religiös-kirchliche Erziehung nach sich. Die Wirkungen der religiösen Sozialisation in konfessionsverschiedenen Familien wurden erst durch die inhaltliche Füllung dieser Erziehung bestimmt. Bildete die unterstellte Heterogenität der religiösen Einstellungen, Normhaltungen und Verhaltensorientierungen aus kirchlicher Sicht ein Hindernis für eine erfolgreiche Sozialisation und einen Grund für die zunehmende religiöse Indifferenz, waren die Ausprägungen dieser Heterogenität nicht allein durch die Tatsache der Konfessionsverschiedenheit bestimmt. Die Entwicklung der religiösen Sozialisation in evangelisch-katholischen Familien brachte vielmehr eine Ungleichmäßigkeit und Vielfalt der Religiositätsmuster zum Ausdruck. Unter diesen Bedingungen stellte nicht bloß und nicht so sehr die Konfessionszugehörigkeit der Eltern als solche, sondern der Grad von deren Religiosität und Kirchlichkeit einen entscheidenden Faktor für die religiöse Sozialisation der Kinder dar22. Waren die Eltern, unabhängig von ihrer Konfession, religiös-kirchlich gebunden, aktiv oder interessiert, verfolgten sie das Ziel einer bewussten religiösen Erziehung. Welche Rolle dabei die Konfession – jenseits der pragmatischen und mit der Stellung in der Sozialstruktur verbundenen Faktoren – spielte, hing von den konkreten Einstellungen und Konstellationen im familialen Umfeld ab. Dementsprechend war bei der religiösen Kindererziehung sowohl eine konfessionelle als auch eine konfessionsübergreifende Orientierung möglich, bei der das Gemeinsame, „Christliche“ und die Option einer späteren Entscheidung zwischen den Konfessionen im Vordergrund standen. Das Problem einer konfessionellen versus „konfessionslosen“ Erziehung in evangelisch-katholischen Familien wurde in den 1960er Jahren vor dem Hintergrund von dessen innerkirchlicher wie öffentlicher Resonanz breit diskutiert und unterschiedlich bewertet. Die Bedeutung der Konfession als Aspekt der religiösen Sozialisation wurde dabei auch unterschiedlich bestimmt und akzentuiert. In den zum Teil zwiespältigen Bezugssystemen, Orientierungszusammenhängen und Interessenkonfigurationen, die dadurch deutlich wurden, manifestierten sich nicht nur die differenten Dimensionen und Wirkungen des Wandlungsprozesses im Bereich der religiös-kirchlichen bzw. -konfessionellen Sozialisation, sondern auch Veränderungen im Stellenwert und in den Relationen von Konfession, Kirche und Identität. Den Hintergrund der kirchlichen Positionen bildete eine dichotomische, abgrenzungsbezogene Sicht auf religiös-konfessionelle Lebenswelten. Daraus resultierten eine Inkompatibilität der katholischen und der evangelischen Erziehung und die „Nöte“ konfessionsverschiedener Ehen und Familien, die letzten Endes zur religiösen Indifferenz und Entkirchlichung führen sollten. Im Kontext der ökumenischen Annäherung in den 1960er Jahren wurden 22 Boos-Nìnning / Golomb, Verhalten, 88 f.; Schreuder, Kirche, 321–355.
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allerdings auch in der innerkirchlichen Diskussion zunehmend Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen hervorgehoben. Die dichotomische Perspektive wirkte jedoch teilweise weiter nach. Zwar wurde im Umfeld der ökumenisch ausgerichteten Religionspädagogik und praktischen Theologie, etwa auf katholischer Seite, nach dem Konzil die Vermittlung von religiöser Erfahrung und nicht primär von Glaubenssätzen als Ziel der religiösen Erziehung herausgestellt23. Die Betonung des Gemeinsamen ging aber nur bedingt über die Grenzen des Konfessionellen hinaus, eine überkonfessionelle Erziehung wurde abgelehnt und die Tendenz zur Herausbildung einer „dritten Konfession“ kritisiert. Die „Beheimatung“ in einer Konfession stellte sich als eine notwendige Ausrichtung und Bedingung der religiösen Sozialisation dar24. Demgegenüber kam bei dem religiös-kirchlich interessierten und engagierten Teil der evangelisch-katholischen Ehepaare, der allerdings eine Minderheit bildete, dem konfessionsübergreifenden eine größere Bedeutung zu. Diese Paare, die sich als Reaktion auf die Verweigerungs- und Verhinderungspolitik der Kirchen in „Mischehenkreisen“ und ökumenischen Gruppen organisierten, besaßen einen höheren Bildungsgrad, stammten nicht selten selbst aus konfessionsverschiedenen Verhältnissen und tendierten stärker zu einer Vererbung der familialen Bikonfessionalität. Sie traten häufiger für eine ökumenische, „konfessionslose“ Kindererziehung ein und wurden in ihrer überkonfessionellen Orientierung von kritischen Priester- und Laiengruppen innerhalb des Katholizismus unterstützt25. Aus ihrer Perspektive stellten konfessionelle Unterschiede grundsätzlich keine Glaubensunterschiede dar ; sie betrafen hauptsächlich nur den Bereich des Brauchtums, der Tradition oder der Denkgewohnheiten und hatten keine andere Qualität als etwa der Unterschied zwischen Bayern und Preußen26. Diese Sicht fand ihre Entsprechung auch in den Einstellungen zur Konfessionsverschiedenheit bei evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern, die mit dem Problem bikonfessioneller Eheschließungen konfrontiert waren. Die Differenzen und die Trennung zwischen den Konfessionen wurden dabei, wie es ein niederländischer Pfarrer im Dienst der rheinischen Landeskirche Anfang der 1960er Jahre beschrieb, eher als „ein Hobby der gern streitenden Theologen“ empfunden27. Sie wurden von der dogmatischen Ebene auf die Ebene des Brauchtums verlagert und dadurch neutralisiert, was in den Kirchen als zu Entfremdung oder „skeptischem Nihilismus“ führende Verwischung und „Verleugnung“ kritisiert wurde28. Gleichwohl blieben auch bei einer Neutralisierung der Differenzen kon23 24 25 26 27 28
Vgl. Molinski, Kindererziehung, 7. Vgl. exemplarisch Gerhartz, Situation, 52 f. Vgl. z. B. Arbeitskreis Mischehe, Thesen, 84; Resolution zur „Mischehe“. Vgl. Politisches Nachtgebet, 12; Arbeitskreis Mischehe, Thesen, 83 f. Langevoort, Tagebuch, 37. Vgl. exemplarisch Zur Mischehenstatistik, 23, 32; sowie Lengsfeld, Praxis, 27.
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fessionelle Bezugspunkte der religiösen Erziehung erhalten. Da die Erfahrung der Gemeinschaft vielfach als ein konstitutiver Faktor einer religiösen Sozialisation im familialen wie familienübergreifenden Umfeld empfunden wurde, erschien auch in einem solchen Fall eine konfessionelle Einbindung der Kinder oft als kaum entbehrlich29. Die Wahl einer konkreten Konfession spielte hier eine untergeordnete Rolle und richtete sich eher nach gelegenheitsstrukturellen Mustern. Wurde in konfessionsverschiedenen Ehen eine Entscheidung zugunsten der religiösen Kindererziehung getroffen oder ergab sich diese Erziehung aus den Zusammenhängen des Sozialisationsmilieus, blieb die Spannung zwischen konfessioneller Zuordnung und konfessionsübergreifender Orientierung bestehen. Die Vermittlung des Überkonfessionellen erfolgte gleichsam in konfessionellen Formen. Insgesamt erwies sich die Wirkung der konfessionellen Faktoren im Umfeld der Familiensozialisation als vielfach vermittelt. Sie waren mit anderen Faktoren verschränkt und konnten von ihnen tangiert, modifiziert oder überlagert werden. Solche Prozesse deuteten auf eine weitgehende Diversifizierung der religiösen Sozialisation in bikonfessionellen Kontexten und auf ein tendenzielles Auseinandertreten von Religion und Konfession bzw. eine Umdefinition der Konfession als Sozialisations- und Identitätsmoment, das individuell bestimmt und auf unterschiedliche Weise mit anderen Momenten verbunden werden konnte, hin30. Diese Entwicklungen wurden in ihren Konsequenzen und gesamtgesellschaftlichen Verflechtungen allerdings zu einem großen Teil erst in den nachfolgenden Jahrzehnten bemerkbar.
2. Tendenzen der Fremd- und Selbstwahrnehmung von Religiosität und Konfession in evangelisch-katholischen Ehen und Familien Die Relevanz der religiös-konfessionellen Faktoren im Zusammenhang der Lebensführung erstreckte sich unter den Bedingungen der familialen Bikonfessionalität nicht nur auf die Entscheidung über die Trau- und Taufkonfession oder die Formen und Inhalte einer religiösen Erziehung. Sie war auch mit Vorstellungen und Erwartungen verbunden, die, auf das Verhältnis zwischen den Konfessionen oder die Entwicklung konfessionsspezifischer Religiosität bezogen, zu einem bedeutenden Referenzpunkt für konkrete Handlungsdispositionen werden konnten. Die Wahrnehmung dieses Verhältnisses und dieser Entwicklung aus der Eigen- und Fremdperspektive war spannungsreich und spiegelte Prozesse sowohl innerhalb der Kirchen als auch im Hinblick auf deren Situation in der Gesellschaft in den „dynamischen“ 1960er Jahren wider. Für die Stellung der Religiosität und deren Tradierung in der Fremd- und 29 Vgl. etwa Will / Will, Mischehe, 267 f. 30 Zur Identitätsentwicklung vgl. Owetschkin, Identität.
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Selbstwahrnehmung evangelisch-katholischer Ehen und Familien waren zwei Faktoren von besonderer Bedeutung. Zum einen bildeten die kirchlichen Warnungen vor der konfessionellen Heterogamie, die zwischenkirchlichen Konflikte und die ökumenischen Bestrebungen einen maßgeblichen Hintergrund für den Umgang mit der Konfessionsverschiedenheit in der Ehe. Zum anderen intensivierten sich innerhalb wie außerhalb der Kirchen Diskussionen um die Beziehungen zwischen Religion und Gesellschaft, die Säkularisierung und die Entkirchlichung. In diesem Zusammenhang rückte das Verhältnis von Glauben, Religiosität und Kirchlichkeit stärker in den Vordergrund. In einem solchen Rahmen wurden auch konfessionsverschiedene Ehen wahrgenommen und gedeutet. Bei der Fremdwahrnehmung evangelisch-katholischer Ehen und Familien kam neben der unmittelbaren Perspektive der Kirchen und den Debatten um das Problem der Bikonfessionalität in der Öffentlichkeit soziologischen oder soziologisch orientierten theologischen Analysen des Problems eine gewichtige Rolle zu. Den Ausgangspunkt dieser Analysen bildete das Aufkommen neuer Muster der Religiosität, die im Zusammenhang mit deren Entkoppelung von der Kirchlichkeit und mit der Abwendung vom Institutionellen gesehen wurden. Die „neue Sozialform“ der Religion, die dabei diskutiert wurde, zeichnete sich durch eine nur selektive, individuelle Akzeptanz kirchlicher Grundsätze und Positionen, eine subjektivierte, emotionale Beziehung zum Glauben, informelle Glaubensformen und -praktiken sowie eine reduzierte, punktuelle Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen aus31. Da sich die subjektiv wahrgenommene Religiosität dadurch von der Kirchen- und Gemeindebindung löste, bekam sie individualisierte und privatisierte Züge. Zugleich wurde sie auch durch kirchlich definierte Glaubensformen beeinflusst und zu einem großen Teil in der kirchlichen Sprache formuliert, während die kirchlichen Handlungserwartungen nur teilweise umgesetzt oder nicht berücksichtigt wurden. Die Normen und Erwartungen der Kirche wurden nicht unmittelbar zurückgewiesen, sondern anders bewertet und gewichtet; ihre Selbstverständlichkeit nahm ab32. Eine solche Interpretation ermöglichte es, Verschiebungen im Modus der Kirchenbindung und deren Verhältnis zur abnehmenden kirchlichen Praxis zu erfassen und in den Kontext der Entwicklung der Religion in der Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne einzubeziehen. Sie selbst stellte jedoch gleichzeitig, worauf noch zurückzukommen sein wird, eine Äußerung der allgemeinen Tendenzen in den sozialwissenschaftlichen Beobachtungen und Beschreibungen der Gesellschaft der 1960er und frühen 1970er Jahre dar und bewegte sich somit im Rahmen der dominierenden zeitgenössischen Deutungs- und Erklärungsansätze mit ihren historisch bedingten Akzentsetzungen. 31 Vgl. vor allem Boos-Nìnning, Dimensionen, 150–157. 32 Ebd., 151–155.
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Vor dem Hintergrund jener Verschiebungen wurden auch Konfession und Konfessionsverschiedenheit zunehmend als Manifestationen der pluralistischen Religions- und Religiositätskontexte betrachtet. Die Verbreitung und die Sozialisationswirkungen bikonfessioneller Ehen erschienen als ein Phänomen, das in einer besonders ausgeprägten Gestalt die allgemeinen Trends in der Entwicklung von Gesellschaft und Religion und deren wechselseitigem Verhältnis zum Ausdruck brachte. Die zwar reduzierte, aber trotz Konfessionsverschiedenheit und kirchlicher Ablehnung im Wesentlichen beibehaltene Kirchenbindung in evangelisch-katholischen Familien, die sich etwa in der Inanspruchnahme von Amtshandlungen äußerte, stellte in einer solchen Perspektive ein deutliches Zeichen für den Widerspruch zwischen den strukturellen und mentalen Veränderungen in der Gesellschaft und der auf Bestandserhaltung und Sicherung des institutionellen Einflusses gerichteten Politik der Kirchen dar33. Der Zusammenhang zwischen der Konfessionsverschiedenheit in Ehe und Familie und dem gesellschaftlichen und religiösen Wandel trat dabei auch an Bevölkerungsgruppen hervor, denen eine höhere Mobilität und Bildung, Aufstiegsorientierung, größere Unabhängigkeit von sozialer Kontrolle und als Folge eine besondere Affinität zur konfessionellen Heterogamie zugeschrieben wurden34. Bezeichnenderweise korrespondierten sie mit denjenigen Gruppen, die, wie etwa Großstädter und jüngere Gebildete, in den späten 1960er und 70er Jahren angesichts des „Abschieds von der Kirche“ als besonders anfällig für kirchenkritische Einstellungen, distanziertes religiöskirchliches Verhalten und Kirchenaustritte identifiziert wurden35. Hintergründe, Einflussfaktoren und Konsequenzen der Religiositätsentwicklung in konfessionsverschiedenen Ehen und Familien konnten jedoch je nach Ausrichtung und den Zielsetzungen der Analyse unterschiedlich interpretiert werden. In soziografischen und pastoralsoziologischen Untersuchungen wurden die Akzeptanz evangelisch-katholischer Verbindungen und deren zurückgehende Kirchlichkeit als Ergebnis und Ausdruck derjenigen Segmentierungs- und Differenzierungsprozesse aufgefasst, die als charakteristisch für die „moderne Industriegesellschaft“ betrachtet wurden. Unter Rückgriff auf rollentheoretische Ansätze wurden sie auf Trennung, unterschiedliche Gewichtung und entsprechende Hierarchisierung der – teilweise inkompatiblen – Rollenerwartungen von zu differenten Sozialsystemen gehörenden Menschen zurückgeführt, die einen Rückzug aus dem weniger relevanten System nach sich ziehen mussten. Sollte dieses System formal nicht verlassen werden, ergab sich daraus eine „Kompromisshaltung“, eine Anpassung an die „bequemeren“ Verhaltensweisen, die zu einer Nivellierung der
33 Rendtorff, Aspekte, 39–42. 34 Ebd., 39. 35 Vgl. Kuphal, Abschied, 56–107; Hild, Kirche, 135 u. ö.
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Kirchlichkeit und der Kirchenbindung nach unten führte36. Solche Analysen hatten nicht selten kulturkritische Implikationen und wurden u. a. von dem Interesse geleitet, kirchliche Reproduktion zu sichern, Mitgliederbindung an die Kirche zu erhalten und pastorale Versorgung zu optimieren. Diese Interessenlage war für die (katholische) Pastoralsoziologie der 1950er und großenteils auch 1960er Jahre kennzeichnend und beeinflusste maßgeblich die Selektion, Einordnung und Interpretation ihrer Ergebnisse37. Bildeten hingegen nicht die Reproduktionsfragen, sondern kirchenkritische Positionen und die Neubestimmung der kirchlichen Rolle im Wandel der Gesellschaft, wie sie etwa im Umfeld der Kirchenreformbewegung in der evangelischen Kirche diskutiert wurden, den Hintergrund der Thematisierung von Religiosität und Konfession im Zusammenhang der Bikonfessionalität, wurden ganz andere Akzente gesetzt. Die eingeschränkte religiöskirchliche Betätigung evangelisch-katholischer Ehepaare stellte unter diesem Gesichtspunkt eine Folge der mangelnden Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb der Kirchen für besondere, sich durch das Zusammenleben und die gemeinsame Lebenspraxis von Angehörigen unterschiedlicher Konfessionen entwickelnde Glaubens- und Frömmigkeitsformen dar. Die Vielfalt dieser Formen in der Gesellschaft fand mithin kein Äquivalent in kirchlichen Strukturen und Angeboten38. Solche spezifischen, eigenständigen Formen entfalteten sich jenseits von etablierten, theologisch-dogmatisch begründeten und legitimierten Mustern. Dementsprechend waren sie nicht explizit konfessionell ausgerichtet, gleichwohl blieben in ihnen konfessionelle Elemente vor dem Hintergrund der individuellen Selektivität gegenüber kirchlichen Vorgaben und der „partiellen Identifikation“39 mit der Konfession und Konfessionskirche erhalten. Im Kontext dieser Prozesse wurden die Verbreitung der konfessionellen Heterogamie und die Religiositätsentwicklung in konfessionsverschiedenen Ehen denn auch nicht unter dem Blickwinkel der Nivellierung und Rollenanpassung, sondern aus der Perspektive von deren positiver Funktion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt interpretiert. Unter den Bedingungen des Konfessionalismus, der sich nach Kriegsende bis in die 1960er Jahre hinein im öffentlichen Leben, aber auch in privaten Lebenswelten auswirkte, wurden diese Ehen als verbindendes Element, als Integrationsfaktor angesehen, der der Abschließung und Separierung konfessionsbestimmter Teile der Gesellschaft entgegenwirkte und ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher konfessioneller Herkunft im Rahmen des westdeutschen Staates ermöglichte40. 36 37 38 39 40
Vgl. u. a. Sozialer Wandel, Teil 1, 43 f. Vgl. Feige, Kirchenmitgliedschaft, 28–48; sowie Ziemann, Kirche. Rendtorff, Aspekte, 40. Lengsfeld, Problem, 151 f. Rendtorff, Aspekte, 39 ff.
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Ähnlich wie bei den Aspekten der Fremdwahrnehmung zeichnete sich auch die Selbstsicht evangelisch-katholischer Ehepaare durch divergierende Tendenzen aus. Die Parallelen zum soziologisch orientierten Diskurs äußerten sich dabei etwa in der Hervorhebung von Vorteilen einer interkonfessionellen Sozialisation. In der Eigenperzeption eines Teils von bikonfessionellen Ehepaaren stellte eine gemeinsame, konfessionsübergreifende Kindererziehung eine adäquatere, der pluralistischen Situation in der Gesellschaft besser entsprechende Sozialisationsform dar. Jedoch bildete die Betonung der Vorteile und positiven Funktionen von konfessionsverschiedenen Ehen und Familien in den 1960er Jahren nur die eine Seite von deren Selbst- und Fremdwahrnehmung. Neben dieser Betonung bestanden auch Skepsis und Zurückhaltung, und zwar nicht nur im Umfeld der kirchlichen Positionen, weiter. So wurde von Teilen evangelisch-katholischer Ehepaare die Konfessionsverschiedenheit als Belastung empfunden; auch Akademiker(innen) konnten diese Belastungen akzentuieren und „Verständnis“ für die Warnungen der Kirchen haben41. Auch im Hinblick auf den Stellenwert der Konfession in den Wechselbeziehungen innerhalb des interkonfessionellen Familienmilieus traten mitunter spannungsreiche Prozesse hervor. Neben den erfahrenen und zum Ausdruck gebrachten Belastungen, die vielfach durch die restriktive Politik der katholischen Kirche bedingt waren und teilweise mit einem, wenn auch relativierten Bedauern über das Eingehen einer gemischtkonfessionellen Ehe einhergingen, konnte auch die Weitergabe der Konfessionsverschiedenheit in evangelisch-katholischen Familien Dissonanzen hervorrufen. Das Missbehagen an einer bikonfessionellen Heirat der Kinder bzw. an deren anderskonfessioneller Trauung stellte ein Verhaltensmuster dar, das in unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Kontexten beobachtet werden konnte und auf das Fortbestehen tieferer, latenter, partiell unbewusster Schichten der (konfessionsbestimmten) Identität hindeutete42. Die Eigen- und Fremdwahrnehmung konfessionsverschiedener Ehen sowie deren öffentliches Bild in den 1960er Jahren waren somit zwiespältig: Kirchenkritische Motive und Betonung des Missverhältnisses zwischen der Vielfalt und Pluralität von Religiositätsformen und deren kirchlich bestimmten Ausdrucksmöglichkeiten wurden von dem Fortwirken konfessioneller Faktoren begleitet; die Feststellung der positiven und integrierenden Funktionen familialer Bikonfessionalität ging mit Erfahrungen von Belastungen und Dissens einher. Darüber hinaus trat eine gewisse Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Handeln hervor: Aus der partiellen Zustimmung zu kirchlichen Warnungen und Positionen folgte nicht zwingend ein Verzicht auf eine konfessionsverschiedene Eheschließung, genauso wie das 41 Vgl. Kirschbaum, Miteinander, 23; Will / Will, Mischehe, 241 u. ö. 42 Vgl. Lengsfeld, Praxis, 109 f., 260 f.; Schreuder, Kirche, 107 f.; Will / Will, Mischehe, 31–35.
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Einverständnis mit dem unproblematischen Charakter einer solchen Eheschließung und eine hohe Einschätzung der religiösen Erziehung nicht unbedingt zu einer tatsächlichen konfessionellen Heterogamie und einer bewussten religiösen Kindererziehung führen mussten. Äußerte sich in diesen Momenten die komplexe und widersprüchliche Situation der Religion und der Kirchen in den 1960er Jahren, war die Verschränkung und Interdependenz des religiösen Wandels mit den Wandlungen der Sozialstruktur, des „Zeitgeistes“ und der Handlungsorientierungen auch für die Entwicklung der familialen Bikonfessionalität einer der zentralen Einfluss- und Bestimmungsfaktoren im Hinblick auf ihre Stellung in den Transformationsprozessen dieser Zeit.
3. Die 1960er Jahre, Lebensführung und Wandlungsprozesse der religiös-konfessionellen Sozialisation in der Familie Wie können nun die Entwicklungsprozesse im Bereich der konfessionellen Heterogamie im Kontext der Wandlungen der 1960er Jahre sowie deren Reflexion im innerkirchlichen und sozialwissenschaftlichen Diskurs interpretiert werden und wie lässt sich dieses Jahrzehnt in die längeren Entwicklungslinien von Religion und Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg einordnen? Für konfessionsverschiedene Ehen und Familien, ihr soziales Umfeld und ihre Sozialisationswirkung waren dabei mehrere wesentliche Momente, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt waren, charakteristisch. Erstens stellten sowohl die zunehmenden evangelisch-katholischen Eheschließungen als auch die sich dadurch etablierenden Religiositätsmuster bereits per se eine Äußerung der Pluralisierung im religiösen Feld dar. Zugleich – und das war die andere Seite dieses Prozesses – bildeten konfessionsverschiedene Verbindungen keinen einheitlichen Komplex, sondern waren in sich heterogen und differenziert. Eine solche Heterogenität bedeutete neben der „äußeren“ eine „innere“ Pluralisierung, sie implizierte unterschiedliche, von einer religiös-kirchlichen Indifferenz bis zu einer religiösen Interessiertheit und einer ökumenisch orientierten Aktivität reichende Religiositätsmuster, die auch eine religiöse Erziehung der Kinder – in konfessionsübergreifenden oder konfessionellen Formen – nach sich zogen. Setzt man die Entwicklung der Religiosität und Kirchlichkeit in evangelisch-katholischen Ehen und Familien in Bezug zu den Kategorien der zeitgenössischen Kirchensoziologie, können auch innerhalb von dieser Gruppe der Kirchenmitglieder, zweitens, mehrere „Schichten“ – etwa Kern-, Kontakt-, Ritual- und Randschicht – unterschieden werden43, für die jeweils charakte43 Vgl. Wçssner, Kirche; sowie allgemein Matthes, Kirche, 76–84.
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ristische Formen und Intensitäten der kirchlichen Beteiligung kennzeichnend waren. Die Kongruenz in der Schichteneinteilung zwischen den gleich- und gemischtkonfessionellen Paaren bedeutete aus der Perspektive der Letzteren, dass ihre reduzierte Kirchlichkeit einen nur graduellen Unterschied darstellte und dass sie selbst, wie in der zeitgenössischen Diskussion registriert wurde, lediglich in einer besonders markanten Form die allgemeingesellschaftlichen Entwicklungstendenzen des Religiösen und dessen institutionalisierter Formen zum Ausdruck brachten. Zu diesen Tendenzen gehörte auch, drittens, dass der Kirchgang und der Kontakt zur Kirche, ebenso wie die Zustimmung zu kirchlichen Lehraussagen und Positionen, zunehmend als keine alleinigen oder ausreichenden Kriterien für die subjektive Verbundenheit mit der Kirche auftraten44. Die Kirchenverbundenheit äußerte sich somit nicht nur und nicht ausschließlich in einem regelmäßigen Gottesdienstbesuch oder in der Befolgung von kirchlichen Normen und Vorgaben, deren Inhalte seitens konfessionsverschiedener Familien eigenständig, im individualisierten Sinne definiert und interpretiert werden konnten. Dadurch wurde auch das Definitionsmonopol der Kirche, etwa in Bezug auf „katholische Erziehung“, tendenziell infrage gestellt45. In einem solchen Kontext waren sowohl die „Protestantisierung“ der Religiositätsmuster und der religiösen Praxis in konfessionsverschiedenen Familien als auch die Versuche der ökumenischen Gruppen, über die Beschränkungen der konfessionellen Religiositäts- und Kirchlichkeitsvollzüge hinauszugehen, ebenfalls Momente der tief greifenden Transformation im Modus der Kirchenbindung und Kirchenzugehörigkeit. Diese Transformation war, viertens, durch gravierende sozialstrukturelle und soziokulturelle Verschiebungen seit den 1950er Jahren bedingt. Vor allem Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur hatten weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit. Neben der Zunahme und dem Strukturwandel der Freizeit waren es die mit dem Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit einhergehende Ausdehnung des Dienstleistungssektors und die Bildungsexpansion, die die familialen Lebenswelten und die Handlungsorientierungen nachhaltig beeinflussten46. Die mit diesen Prozessen verbundene Ausweitung der Mittelschichten trug zur Individualisierung im religiösen Bereich und zu einem zunehmenden Auseinandertreten von Religiosität und Kirchen- bzw. Gemeindebindung bei. Die leitenden Werthaltungen und Verhaltensdispositionen der (gebildeten) Mittelschichten, wie Autonomie und freie Entfaltung, Verantwortung und Selbstbestimmung, begünstigten das Zurücktreten explizit religiöser Erziehungsziele, die Relati-
44 Vgl. Hild, Kirche, 46–55, 171–194. 45 Vgl. etwa Will / Will, Mischehe, 86. 46 Vgl. als Überblick Schildt, Sozialgeschichte, 30–53 sowie den Beitrag von Detlef Pollack in diesem Band. Zur Familienentwicklung vgl. auch den Beitrag von Christopher Neumaier.
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vierung der konfessionellen Unterschiede und damit die bereits erwähnte „Protestantisierung“ religiöser Haltungen und Praxis. Die Mittelschichten spielten eine signifikante Rolle in den Kirchenreformbestrebungen etwa der evangelischen Kirche, prägten die öffentliche Wirkung der Kirchen- und Katholikentage und kirchlichen Akademien, sie beteiligten sich maßgebend an der interkonfessionellen Diskussion und den interkonfessionellen Zusammenschlüssen und Gruppen, darunter auch der evangelisch-katholischen Ehepaare. Bezeichnenderweise waren auch die neuen Formen der kirchlichen Arbeit und der gemeindlichen Tätigkeit, die sich in den 1960er Jahren als Reaktion auf den gesellschaftlichen und religiösen Wandel etablierten – von den neuen Gottesdiensten bis zur Reform des Konfirmandenunterrichts – in hohem Maße mittelschichtorientiert. Die Taufdiskussion in der evangelischen Kirche in den 1960er und frühen 70er Jahren brachte ebenfalls die Mittelschichtbezogenheit der innerkirchlichen Entwicklungen zum Ausdruck47. Die Ausweitung der Mittelschichten, die mediale Vermittlung des mittelschichtorientierten Habitus und der entsprechenden Verhaltensdispositionen führten zur Verstärkung der Leitbildfunktionen dieser sozialen Gruppe und zu Universalisierungstendenzen mittelschichtbezogener Konsumhaltungen, Wertmuster und Lebensgestaltung. Auch die Selbstzuordnung der Bevölkerung wies im Unterschied zu objektiven Kriterien eine stärkere Tendenz zur „Mitte“ auf. Das Problem der sozialen Ungleichheit wurde dabei zwar durch den Fahrstuhleffekt auf eine andere Ebene verlagert, in seinen Strukturen aber kaum berührt48. All diese Prozesse, die den Wandel der religiös-konfessionellen Vergemeinschaftung zur Folge hatten, schlugen sich in den sozialwissenschaftlichen und – mit der verstärkten Hinwendung zu den Humanwissenschaften innerhalb der Kirchen – auch theologischen Diskursen nieder. Kennzeichnend für die 1960er Jahre waren im Hinblick darauf das Aufkommen und die beginnende Expansion der Sozialisationsforschung, die durch die Debatten um die Bildungsdefizite der Bundesrepublik und den gesellschaftlichen „Innovationsdruck“ bestimmt wurden49. In der Familiensoziologie, in der die Sozialisationsproblematik bis in die 1970er Jahre hinein eine zentrale Rolle spielte, wurde die schwerpunktmäßige Beschäftigung mit den Sozialisationsprozessen zugleich durch strukturfunktionalistische Deutungen der Familienentwicklung befördert, aus deren Perspektive die gesellschaftliche Differenzierung zu einer Reduzierung des familialen Funktionsfeldes und einer Konzentration der Familie auf die Sozialisationsfunktionen führte50. 47 48 49 50
Vgl. zu diesen Aspekten ausführlich Owetschkin, Suche. Schildt, Sozialgeschichte, 31 ff. Veith, Selbstverständnis, 371, 232–238; Schmidt, Familiensoziologie, 204 f. Ebd., 204 f., 386–389.
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Die Dominanz der strukturfunktionalistischen Ansätze wie die Rezeption und Weiterentwicklung rollentheoretischer Konzepte unter dem Aspekt der Interaktion spiegelten die Wandlungen der gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und Integrationsfaktoren wider, die ihrerseits mit sozioökonomischen und mentalen Veränderungen zusammenhingen. Während in den 1950ern und teilweise bis in die 1960er Jahre soziale Integration als Anpassung an gesellschaftliche Rollenerwartungen und Sozialisation als Rollenlernen und Zuwachs an Rollenkompetenz erschienen, rückten ab den späten 1960er Jahren zunehmend Emanzipation, Mündigkeit und Autonomie als Eigenschaften oder Orientierungsziele vergesellschafteter Individuen in den Vordergrund. Der Integrationsmodus der Gesellschaft und die entsprechenden Sozialisationsmuster umfassten nunmehr in erster Linie die Interaktions- und Verständigungsfähigkeit, die rollentheoretisch gesehen auch Rollendistanz und Rollenkritik einschloss, sowie die angestrebte Unabhängigkeit von äußeren und inneren Zwängen51. Diese Orientierungen und Muster besaßen ebenfalls eine Affinität zu den Mittelschichten und entsprachen deren Vergesellschaftungsformen. Somit hingen sie mit dem übergreifenden, gesamtgesellschaftlichen Tertiärisierungsprozess zusammen, der sich nicht nur auf sozialstruktureller Ebene, sondern – im Sinne der Dienstleistungsförmigkeit – auch im kirchlichen Raum auswirkte. Eine zunehmende Relevanz bekamen solche Vergesellschaftungsformen bzw. ihre Reflexion in der Sozialisationstheorie allerdings erst in den 1970er Jahren, u. a. im Kontext des Aufstiegs und der Kritik an der schichtspezifischen Sozialisationsforschung und des Wertewandels. Im vorangegangenen Jahrzehnt bewegte sich die Interpretation der Familiensozialisation und deren religiös-kirchlicher Aspekte noch vielfach im strukturfunktionalistischen und rollentheoretischen Rahmen, in dem Familie und Kirche als segmentierte „funktionale Einheiten“ mit „begrenztem Funktionswert“ behandelt wurden52. Aus einer solchen Perspektive bestand die funktionale Leistung der Familie, neben der biologischen Reproduktion, in ihrem maßgeblichen Anteil an der Formung einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit und diejenige der Kirche in der Erzeugung und Aufrechterhaltung eines gesellschaftlich relevanten Werte-, Normen- und Praxissystems. Vor dem Hintergrund des differenzierungstheoretisch gedeuteten rückgängigen Einflusses der Kirche und der entsprechenden Reduktion von deren gesellschaftlicher Reichweite stellte sich die Familie als die Institution dar, auf die die Sozialisation kirchlicher Norm- und Werthaltungen angewiesen war. Da die Familie dabei auf der Basis „privater Freiwilligkeit“, individualisiert und selektiv agierte, konzentrierte sich ihre Funktion auf die Zuweisung zu unterschiedlichen, je nach dem Grad der kirchlichen Teilnahme differenzierten „Schichten“, d. h. auf eine Platzie51 Veith, Selbstverständnis, 371 f. 52 Vgl. etwa Wçssner, Kirche, 309 ff.
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rung. Somit wurde sie zu einem entscheidenden „Träger kirchlicher Schichtung“53. Im Hinblick darauf musste die konfessionelle Heterogamie in dieser Sichtweise zu „Platzierungsproblemen“ für die Kirchen führen, denn die niedrigeren Teilnahmegrade in konfessionsverschiedenen Familien beeinflussten die Sozialisation kirchlichen Verhaltens im negativen Sinne54. Solche strukturfunktionalistisch orientierten Deutungen der familialen und religiös-kirchlichen Sozialisation mit rollentheoretischen Implikationen brachten die Vergesellschaftungserfahrungen und sozialen Integrationsmodi unter den pluralistischen, zugleich aber auch relativ stabilen Bedingungen in der Prosperitätsperiode der 1950er und 60er Jahre zum Ausdruck. Bezogen auf die Lebensführung gingen sie von einer abnehmenden Relevanz der konfessionellen Faktoren wie des Religiösen insgesamt für die Lebenswelt und das alltägliche Verhalten aus, wobei Pluralisierung und Pluralismus einen wesentlichen Hintergrund und eine signifikante Einflussgröße für diese Relevanzabnahme bildeten. Pluralisierung, gedeutet u. a. als ein Prozess, der im Zusammenhang mit der zunehmenden Anonymisierung und Individualisierung eine Zurückdrängung des Religiösen ins Private und Verbreitung konkurrierender Sinnund Sozialisationsangebote zur Folge hatte55, ist allerdings eher unter dem Gesichtspunkt der Segmentierung und Separierung von Lebensbereichen und Handlungsbezügen sowie der Vervielfältigung und partiellen Inkompatibilität von Gruppenzugehörigkeiten und Rollenanforderungen wahrgenommen worden. Demgegenüber beschränkte sich die Pluralisierung nicht auf eine Multiplizierung von Werthaltungen, Handlungsorientierungen und Wahlmöglichkeiten. Über die Unterscheidung von struktureller, individueller und kultureller Pluralisierung hinaus56 enthielt sie im Hinblick auf die Lebenswelten und das Alltagsverhalten auch gewichtige qualitative Momente. Dies wird besonders an der Interpretation der Umbruchsprozesse seit den 1960er Jahren im Sinne des Wertewandels als Änderung in der Hierarchie der Werte deutlich57. Auch in einem solchen Bezugssystem stellte der Wertewandel nicht bloß einen Übergang von „Pflicht- und Akzeptanz-“ zu „Selbstentfaltungswerten“ dar. Der Wandlungsprozess bestand vielmehr in einem Stellenwertzuwachs der Letzteren und in der Entwicklung eines gewissen Gleichgewichts, einer „Mischlage“ von beiden Wertkategorien58. Die qualitativen Momente umfassten in diesem Zusammenhang – außer der
53 54 55 56 57
Ebd., 312–316, 321–331. Vaskovics, Religion, 342, 346. Vgl. beispielsweise Arnold u. a., Handbuch, 199–230. Vgl. Ebertz, Erosion, 142–155. Das Konzept bzw. die Konstruktion des Wertewandels werden seit einiger Zeit zunehmend kritisch hinterfragt. Vgl. aus der Perspektive der historischen und empirischen Wertewandelsforschung Dietz / Neumaier / Rçdder, Wertewandel. 58 Klages, Wertedynamik, 56–60.
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Möglichkeit einer „Wertesynthese“59 oder einer zunehmend rationalen, reflexiven Einstellung gegenüber Werten60 – auch eine wechselseitige Bezogenheit der pluralisierten Werte aufeinander. Zugleich implizierten diese Momente eine tendenzielle Schrumpfung des Konfessionellen bzw. des Religiösen als Faktors im Wertesystem und dadurch in der Lebensführung sowie seine Einwanderung in andere, nicht primär religiös konturierte Lebens- und Wertebereiche. Ein solcher Prozess der „Dispersion“ der konfessionellen und religiösen Faktoren, der jedoch wiederum erst in den folgenden Jahrzehnten manifest wurde61, ging mit einem zum Teil latenten Fortwirken dieser Faktoren in mannigfaltigen Identitäts-, Mentalitäts- und Handlungskontexten einher. In konfessionsverschiedenen Ehen und Familien als Instanzen der religiösen Sozialisation bekam er eine spezifische Ausprägung. Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser Prozesse die Stellung der 1960er Jahre in den Transformationsprozessen der religiösen Sozialisation in bikonfessionellen Kontexten, treten als wesentliche Merkmale dieser Periode vor allem Ungleichzeitigkeit und Ambivalenz hervor. Neben der Veränderung in den Werthaltungen und der Relativierung des Konfessionellen wurden auch retardierende Momente deutlich. Die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Handeln, die Koexistenz von Skepsis und interkonfessioneller Aufgeschlossenheit, von kritischer Haltung zu den Konfessionskirchen und Wieterwirkung konfessioneller Faktoren deuteten auf einen nichtlinearen, mehrdimensionalen und widersprüchlichen Wandlungsprozess hin. Die 1960er Jahre insgesamt scheinen somit eine Zeit der Kumulation und partiellen Beschleunigung von Veränderungstendenzen gewesen zu sein. Eine Zäsur, die allerdings vorwiegend die öffentliche Wahrnehmung des konfessionellen Heterogamieproblems und seiner sozialisatorischen Aspekte sowie den relativen Anstieg evangelisch-katholischer Eheschließungen betraf, zeichnete sich erst am Ende des Jahrzehnts und in den beginnenden 1970er Jahren ab, u. a. mit den Kirchenaustrittswellen und der Entschärfung der katholischen Rechtsvorschriften. Im Hinblick auf den Wandel des Sozialisationsmodus, der Erziehungsstile, -zielsetzungen und die Rolle der Konfession als Identitäts- und Sozialisationsfaktor gestaltete sich der Übergang eher allmählich und inkrementell. Eine maßgebliche Bedeutung kam in dieser Hinsicht – wie in unterschiedlichen Zusammenhängen deutlich wurde – ebenfalls erst den 1970er Jahren zu.
59 Ebd., 112–147. 60 Hillmann, Wertwandel, 176. 61 Vgl. Ebertz, Erosion, 155–161.
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Eberhard Hauschildt
Kirchliche Familienberatung in den 1960er Jahren Der Wandel im Selbstverständnis: von der paternalen Fürsorge in Abwehr der Modernisierung zur fachlichen sozialen Arbeit im therapeutischen Dialog Das Phänomen kirchlicher Beratungsstellen stellt sich im Rückblick als typischer Exponent einer Form kirchlicher Arbeit dar, die für die innerkirchlichen Neuerungen der 1960er Jahre steht, nicht zuletzt im Zuge der Therapeutisierung der Gesellschaft. Allerdings gab es erste Beratungsstellungen durchaus schon davor, auch wenn deren Zahl erst im Verlauf der 1960er und 70er Jahre starken Aufschwung nahm. Wie auch sonst in der Gesellschaft und dann ebenfalls in der Kirche, schlug sich in der Praxis der Beratungsstellen in den 1960ern eine veränderte Sicht auf die Praktiken der Lebensführung betreffend Familie, Ehe und Sexualität nieder. Andere Artikel des vorliegenden Bandes beschäftigen sich mit diesen Thematiken im Detail. Darum kann sich dieser Beitrag darauf konzentrieren, den Wandel im Selbstverständnis der Beratungsstellen selbst vom Helfen in Fragen der Lebensführung genauer darzustellen. Wann setzte er ein? Wer betrieb ihn? Worin bestand er nach Ansicht der Beteiligten bzw. welche Idealbilder lagen ihm zugrunde? In einem ersten Abschnitt wird der bisherige Forschungsstand skizziert, der zweite entwirft thetisch ein Gesamtbild zur Beantwortung der eben gestellten Fragen, während der dritte, ausführlichste dann dazu die Nachweise und Details liefert.
1. Vorbemerkungen zur Forschungslage Das Thema befindet sich im blinden Fleck gleich zweier Professions- und Wissenschaftsperspektiven, sowohl der Wissenschaften sozialer Arbeit als auch der Praktischen Theologie. In der Perspektive der Wissenschaften sozialer Arbeit liegen die 1960er Jahre noch vor dem großen Verwissenschaftlichungsschub von Sozialpädagogik und Sozialarbeitswissenschaft. Das gesuchte Phänomen kirchlicher Beratungsarbeit bzw. der Religion in sozialer Arbeit lässt sich darum der Vorgeschichte sozialstaatlich durchorganisierter und sozialwissenschaftlich durchreflektierter Beratungsarbeit zuweisen: der von religiöser Motivation durchsetzten Praxis, die dann durch die Theorie und Praxis sozialer Arbeit ersetzt wird. Darum sind kirchliche Beratungsarbeit und der Faktor Religion
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in sozialer Arbeit nicht weiter von Interesse1. In ihrer Gestalt der 1950er Jahre gelten sie als ein Auslaufmodell und die kirchlichen Beratungsstellen der 1960er Jahre müssen darum nicht im Rahmen der wissenschaftlicher Analyse sozialer Arbeit als Aufgabe des Sozialstaats eigens beforscht werden. Sie gelten, sofern sie fachlich gut arbeiten, schlicht als ein Teil sozialstaatlicher und sozialprofessioneller Beratung. In der praktisch-theologischen Wissenschaft kirchlicher Seelsorge geht es klassischerweise zentral um die Theorie pastoralen Handelns und dementsprechend vorrangig um die Seelsorge durch Pfarrerinnen und Pfarrer. In dieser Perspektive kommt der Gegensatz zwischen der von der Dialektischen Theologie stark geprägten Theologie der 1950er Jahre und der Theologie seit der empirischen Wende ab 1968 in den Blick. Die Differenz bestimmt noch bis in die 1980er Jahre die Grabenkämpfe zwischen beiden Lagern in der Seelsorgetheorie2. Für den Neueinsatz in der Theorie pastoraler Seelsorge im Gefolge der Entwicklungen der 1960er Jahre gilt die Monographie „Seelsorge als Gespräch“ des Praktischen Theologen und Psychoanalytikers Joachim Scharfenberg aus dem Jahr 1972 als das herausragende Beispiel3. Scharfenberg wird als Vertreter der „Seelsorgebewegung“ gesehen, die als ein Import aus den USA (teils über die Niederlande) in „Klinischer Seelsorgeausbildung“ gilt, welche Ende der 1960er Jahre Deutschland erreichte.
1 Vgl. Niklas Luhmanns Unterscheidung dreier kulturgeschichtlich-gesellschaftlicher Formen des Helfens. Gezeigt wird, dass mit den an Programm und Profession ausgerichteten Organisationen die religiöse Motivation strukturell überflüssig geworden ist (Luhmann, Formen, 37). Vgl. auch die Darstellung bei Lambers, Helfen. Ein weiteres typisches Beispiel liefern Schilling / Zeller, Arbeit: Hier sind der Sozialarbeit die „caritative Armenpflege“ und der Sozialpädagogik die „Anstaltserziehung“ zugeordnet, und zwar so, dass sie als „Vorläufer“ bezeichnet und dem Zeitraum „bis 1830“ zugewiesen werden (117); die Existenz der Wohlfahrtverbände als Trägerorganisationen ist kurz genannt (247 f.); die „Verberuflichung“ habe mit der Wende zum 20. Jahrhundert eingesetzt, denn es sei zunehmend schwer geworden, für die Fülle der Arbeitsgebiete ausreichend viele ehrenamtliche HelferInnen zu finden (257). Das Standardwerk Sachsse / Tennstedt, Geschichte, behandelt im ersten Band für den Zeitraum bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die „Privatwohltätigkeit im 19. Jahrhundert“, unter die Diakonie und Caritas auch subsumiert sind, in einem „Exkurs“ (222–244) und die Innere Mission/Diakonie darin auf 4 Seiten (227–232). – Der Trend zur Verdeckung der Zusammenhänge findet sich übrigens nicht nur für den Anteil der Religion an der Geschichte der Sozialberatung, sondern ebenso für den der Pädagogik: Vgl. dazu Grçning, Entwicklungslinien: Bereits in den 1920er Jahren unterliegen die reformpädagogischen und die freiheitlich-bürgerlichen Initiativen ebenso wie die emanzipatorischen der Frauenrechtlerinnen den staatlichen Interessen; diese sind darauf ausgerichtet, Beratung als Instrument einzusetzen, um von der Norm abweichende und darum als gefährlich eingestufte Individuen zu identifizieren. 2 Als Exponent etwa einer von der Dialektischen Theologie weiterhin geprägten theologischen Kritik an der in der Praktischen Theologie dominierenden Seelsorgebewegung kann gelten: Tacke, Glaubenshilfe. 3 Scharfenberg, Seelsorge. Im einleitenden Kapitel setzt sich Scharfenberg mit der Seelsorgetheorie der 1950er Jahre unter dem Titel „Der Mißbrauch des Gesprächs in der Seelsorge“ scharf auseinander (14–19) und bezeichnet sie als „autoritär“ (19).
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Dabei ist in diesem Neuansatz dann mit der Seelsorge immer auch die Beratung gemeint und wird auch mitgenannt. Das Doppel von „Seelsorge und Beratung“ / „pastoral care and counseling“ begegnet geradezu als stehender Begriff in der Seelsorgebewegung4. Doch in dieser Rede wird die mitgemeinte Beratung dabei in der Regel nicht eigens von den Aussagen zur Seelsorge abgehoben und erscheint insofern auch hier als wissenschaftlich vernachlässigbares Phänomen. Hinzu kommt: Die neue und andere Seelsorgetheorie versteht sich als eine Bewegung aus der Praxis helfender Gespräche anstelle einer innertheoretischen akademischen Disziplin. Dementsprechend äußerte sich auch die neue akademische Seelsorgeliteratur der 1960er und 1970er Jahre in einer Denkform, die an einer Praxistheorie interessiert war und nicht an theologischen und historischen Gesamtdarstellungen5. Learning by doing war das Credo der Seelsorgebewegung. Die Folge der beschriebenen Trends in den beiden Wissenschaftsbereichen: Die Forschungsliteratur über das Phänomen kirchlicher Beratung in den 1950er und 60er Jahren ist – freundlich formuliert – sehr übersichtlich. Historische Details zum Zustandekommen von kirchlichen Beratungsstellen liefert allein das erste Kapitel in einer Monografie von Helmut Halberstadt aus dem Jahr 1983 über „Psychologische Beratungsarbeit in der evangelischen Kirche“6. Auch die knappen Beschreibungen der kirchlichen Beratung in den gegenwärtigen Seelsorgedarstellungen der Praktischen Theologie gehen hinsichtlich der Informationen zur Geschichte der Beratungsarbeit nirgends darüber hinaus7. So sind wir, um mehr zu sehen, an die Quellen selbst gewiesen. Die folgende Darstellung beruht auf Prüfung der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Zeitschrift „Wege zum Menschen“ in dem uns interessierenden Zeitraum. Die dortigen Beiträge erweisen sich als sehr aussagekräftig, um die gesuchten Veränderungsprozesse zu erfassen. Wie keine andere Zeitschrift ist diese, die von vornherein auf das Schnittfeld von Seelsorge, Psychotherapie und Erziehungsberatung angelegt war8, für eine solche Fragestellung geeignet. Wer an 4 Z. B. Groeger / Scharfenberg, Handbibliothek; Kilpelinen, Zuhören; Thilo, Seelsorge; das Themaheft „Seelsorge und Beratung“; Clements / Stone, Handbook; die Reihe „Creative Pastoral Care & Counseling“ mit 22 Bänden ab 1993, erschienen bei Fortress Press. 5 Das zeigen auch der Titel und Untertitel von Scharfenberg, Seelsorge: „Seelsorge als Gespräch. Zur Theorie und Praxis der seelsorgerlichen Gesprächsführung“. 6 Halbertstadt, Beratungsarbeit. 7 So z. B. Morgenthaler, Beratung; Ders., Seelsorge; Klessmann, Seelsorge. 8 „Wege zum Menschen“ (so der Titel ab 1954) wird 1949 unter dem Titel „Wege zur Seele“ von dem evangelischen Pfarrer, Mediziner und Psychotherapeuten Klaus Thomas gegründet. Der Untertitel lautet ab 1949 „Monatschrift für Seelsorge, Therapie und Erziehung“. Die Zeitschrift steht in der Tradition der Arbeitsgemeinschaft „Arzt und Seelsorger“, die 1925 in Berlin gegründet wurde und eine gleichnamige Schriftenreihe herausgab, mit einer Reihe von Buchtiteln in den 1950er Jahren (vgl. Winkler, Seelsorge, 133, Anm. 185). Die Begrifflichkeit „Arzt und Seelsorger“ läuft zunächst über eine Beilage, ab 1957 im Untertitel der Zeitschrift bis 1990 mit. GründungsMitherausgeber von „Wege zum Menschen“ sind der Theologe und Religionspsychologe Werner
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kirchlicher Beratung interessiert war, für den war bereits in den 1950er Jahren diese Zeitschrift ganz eindeutig die erste Adresse für Information und Austausch. Ab 1960 bis 1971 gibt es auch eine vierteljährliche Beilage unter dem Titel „Praxis der Familienberatung“, bevor die Zeitschrift dann 1972 zum „Organ der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung“ wird9. Mit dieser Auswahl wird sich die Darstellung im Folgenden auf den evangelischen Bereich konzentrieren. Dabei ist davon auszugehen, dass sich eine entsprechende Entwicklung auch im katholischen Bereich vollzog – wohl etwas zeitverzögert und versteckter, im Nachgang zu den Veränderungen durch das Zweite Vatikanischen Konzil (1962–1965), dann aber auch klar und deutlich – wenngleich sich das zunächst weniger in veröffentlichtem Schrifttum niederschlug10.
2. Thesen zur Veränderung im Selbstverständnis der kirchlichen Familienberatung Das Ergebnis der Untersuchung sei der Erörterung der Details vorangestellt. Es zeichnet sich, wenigstens für den evangelischen Bereich, wie er sich in den Debatten in der Zeitschrift „Wege zum Menschen“ darstellt, ein ziemlich kohärentes Bild ab. So lassen sich recht eindeutige Angaben dazu machen, a) wann bzw. in welchen Phasen sich der Wandel vollzog, b) durch wen er in
Gruehn (bis 1955) sowie der Mediziner, Psychiater und Entwickler des Autogenen Trainings Johannes Heinrich Schultz (bis 1956), die übrigens beide deutlich mit dem Nationalsozialismus verbunden gewesen waren. 1954 beschreiben die Herausgeber die Aufgabe der Zeitschrift als ein Blatt, „das auf wissenschaftlicher Grundlage und doch in allgemein verständlicher Sprache den bedeutsamen Anliegen der Seelsorge und Psychotherapie und Erziehung Rechnung tragen sollte.“ (Schriftleitung, Wege, 1). 9 Ab 1973 zusätzlich und bis zur Gegenwart auch zum „Organ der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie e.V. (DGfP) und der Konferenz für Krankenhausseelsorge“. 10 Eine mit „Wege zum Menschen“ vergleichbare katholische Zeitschrift gab und gibt es nicht. Die ähnlich lange schon existierende katholische Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ thematisiert die gesamte Pastoral, also kirchliche Arbeit in der Gemeinde und Kirche für die Menschen und arbeitet mit Themenheften, was zu einem höheren Maß an Steuerung führt. Familie und Ehe und Sexualmoral werden natürlich auch hier thematisiert, doch lange schlägt sich dies nicht in Aufsätzen nieder, die etwas vom Selbstverständnis in katholischen Familienberatungsstellen explizit machen. Diese Einrichtungen sind und bleiben stärker als die evangelischen an eine auch organisatorisch mit mehr Rechten ausgestattete kirchliche Leitung und Steuerung gebunden. Erst 1972 findet sich in „Lebendige Seelsorge“ ein Artikel, der die „Ehe-, Familien- und Lebensberatung“ knapp darstellt und sie unter den Gesichtspunkt der Prophylaxe stellt. Der Diskurs, der die Veränderungen der Familienberatung im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre im Detail belegen könnte, dürfte hier viel stärker in nicht-öffentlichen Papieren geführt worden sein.
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der öffentlichen Darstellung betrieben sowie c) als was er von den Beteiligten damals verstanden wurde. a) Eine Übergangsphase im Verständnis der Beratung zwischen der Logik der 1950er Jahre bzw. der 1960er wird in der Zeitschrift „Wege zum Menschen“ ab 1959 deutlicher sichtbar und ist ab 1963 im Wesentlichen abgeschlossen. Vier Jahre lang gibt es eine ausgesprochene innere Widersprüchlichkeit in den Aussagen bei den zukünftigen Promotoren der 60er-Jahre-Logik, dann ist die Unsicherheit überwunden. b) Der Wandel vollzieht sich nicht nur in der Beratung, sondern steht in Zusammenhang mit dem Wandel in der Seelsorge. Er wird aber interessanterweise in der Seelsorgetheorie etwas später maßgeblich von solchen Theologen vorangetrieben, die durch ihre Arbeit in den Beratungsstellen geprägt waren. Unter denen, die für die neue Seelsorgetheorie stehen, stammen die wichtigen Exponenten Joachim Scharfenberg und Hans-Joachim Thilo aus der Beratungsarbeit, in der sie, selbst psychoanalytisch ausgebildet, in den 1950er Jahren mit Medizinern und Psychoanalytikern zusammenarbeiteten und mit ihnen im Austausch standen. c) Ein tiefgreifender Wechsel vollzieht sich im Ideal der veröffentlichen Äußerungen der Akteure. Vergleicht man den Stand der Debatte von 1959 mit dem von 1964, so wird hier das Verhältnis zwischen Kirche und Beratungssuchenden ebenso wie zwischen Kirche und Beratungsstellen in seinen Grundsätzen neu formuliert: 1959 ist noch klar : Die von Kirche und Theologie gemeinsam vertretene Theologie bestimmt mit ihren Vorstellungen dessen, wie die Lebensführung auszusehen habe, die Beratung. Beratung läuft demnach unter pastoraler Leitung und soll die Beratungssuchenden erziehen, indem sie sie belehrt. Der favorisierte Begriff für diese Art von Beratungs-Kommunikation ist „Verkündigung“. 1964 hingegen ist deutlich, dass die Beratung nun die Aufgabe hat, bei Konflikten die Subjekte für einen Zeitraum zu begleiten, und zwar ergebnisoffen, auch was die Ethik betrifft. Die Beratungsstellen gehören unter fachlichpsychologische Leitung – mit Theologen als maximal gleichberechtigtem Teil des Teams. Von der Kirche wird erwartet, dass sie diesen Wandel in den Beratungsstellen in ihrer Theologie und ihrem Handeln respektiert und hoffentlich für sich entsprechende Schlüsse zieht. Der favorisierte Kommunikationsbegriff für Beratung ist nun „Dialog“. Aus dem Idealbild von Beratung als kirchlicher Erziehung zur Befolgung der richtigen christlichen kirchlichen Lebensführung ist also ein Idealbild von Beratung als ergebnisoffener Begleitung in der jeweiligen pluralen Lebensführung der Subjekte geworden. Die Thematisierung des Selbstverhältnisses im Blick auf therapeutisches Handeln geschieht dabei aber schon bereits in den 1950er Jahren unter der Devise einer zusätzlich sinnvollen nicht-theologischen Fachlichkeit auch beim kirchlichen Beraten.
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3. Der Wandel im Detail Ich konzentriere mich auf die kirchlichen Beratungsstellen. Außen vor bleiben muss die Prüfung, wie Vorgänge bei den evangelischen Beratungsstellen sich zeitlich genau zu Veränderungen in den Prozessen der nicht-kirchlichen Beratung verhalten. Indizien, dass sich der Diskurs deutlich verzögert gegenüber dem in den säkularen Einrichtungen vollzieht, habe ich nicht gefunden. 3.1 Die kirchlichen Beratungsstellen der 1950er Jahre Die kirchlichen Beratungsstellen in der Nachkriegszeit haben Vorläufer. Eine erste kirchliche Beratungsstelle in Deutschland lässt sich für das Jahr 1927 nachweisen; bis 1931 gibt es insgesamt 13 kirchliche Beratungsstellen11. Diese sind zu verstehen im Kontext gesellschaftlicher Muster von Erziehungsberatung, Sexualberatung und Eheberatung, die miteinander verknüpft werden12. Die Entstehungsvorgänge ab Ende des 19. Jahrhunderts und dann vor allem in der Weimarer Republik passen ins Bild sonstiger zivilgesellschaftlicher Aktivierungsprozesse der Zeit: Innovative Individuen und freie Vereine mit reformpädagogischen und feministischen Zielen werden öffentlich wahrgenommen; andererseits nimmt sich nun der Staat verstärkt der Aufgabe an. Spätestens in den 1920er Jahren sind beim staatlichen Aufschwung der Beratung zwei weitere Zielbestimmungen medizinischer Provenienz besonders durchschlagend: genetische Prüfung (so in den USA ab 1895) und psychopathologische Diagnostik13. Man ist erfüllt von sogenannten volkshygienischen Zielen der Unterscheidung von Kranken und Gesunden. Dabei will man nicht nur krankhafte Abweichungen bei Individuen identifizieren, sondern auch den Schutz der Gesellschaft vor Durchseuchung erreichen. Diese Zielsetzung bereitete den Boden für die Praktiken im NS-Staat. Seit 1922 wird in Deutschland staatlich jede Stadt über 100 000 Einwohner zur Errichtung von Jugendwohlfahrtsämtern verpflichtet, 1928 gibt es 42 „Erziehungsberatungsstellen“; in Wien entstehen unter der Mitwirkung von Alfred Adler 22 Beratungsstellen flächendeckend für die Stadtbezirke14. Die medizinische Profession bekommt dabei bereits eine starke staatlich unterstützte Stellung; Psychoanalyse wird ihr zugerechnet. Folgend auf die Phase der Okkupation sozialer Arbeit durch die Nazis ab 1933 mit ihrer erzwungenen Durchsetzung sogenannter rassehygienischer Selektions- und Tötungsmaßnahmen wird nach dem Krieg in der neuen 11 12 13 14
Halberstadt, Beratungsarbeit 18–20. Ebd., 16–18. Vgl. Grçning, Entwicklungslinien, 105–107. Vgl. Halberstadt, Beratungsarbeit, 16 f. Vgl. Vossler, Erziehungsberatung, 4.
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Bundesrepublik Deutschland im kommunalen Bereich das amerikanische System einer staatlichen Erziehungsberatung in einem multiprofessionellen Team maßgebend15. 1953 gibt es 96 staatliche Erziehungsberatungsstellen mit 134 hauptamtlichen Mitarbeitern16. Als soziale Herausforderung steht zunächst die Lage der Frauen und alleinerziehenden Mütter (mit im Krieg gefallenen oder in der Gefangenschaft befindlichen Ehemännern) im Vordergrund; damit geht es auch um die Auswirkungen auf Familie und Partnerschaft. Typisch ist das Müttergenesungwerk, Anfang 1950 von der Präsidentengattin Elly Heuss-Knapp gegründet als konzertierte Aktion unter maßgeblicher Beteiligung der freien Wohlfahrtsverbände. Die ersten kirchlichen Beratungsstellen der Nachkriegszeit beruhen auf Initiativen Einzelner oder freier Vereine. So war es schon 1927 bei der ersten evangelischen Beratungsstelle in Berlin gewesen, gegründet von der Vereinigung evangelischer Frauenverbände Groß-Berlin und geleitet von einer Pastorenfrau17. Im Verlauf der 1950er Jahre entstehen Schritt für Schritt in allen evangelischen Landeskirchen evangelische Beratungsstellen. Die Initiativen erfolgen durchwegs in städtischen Bereichen. Teils werden freie Vereine tätig (in Berlin wieder die dort starke Stadtmission); es kommt aber wie auch sonst im Bereich des diakonischen Handelns zusätzlich vermehrt zur Trägerschaft durch die Amtskirche. Nach einer Aufstellung von Halberstadt zum Ausbau der Beratungsarbeit gibt es von 1947 bis 1950 erste Beratungsstellen in drei Landeskirchen, von 1951 bis 1955 in weiteren sechs; ebenso sechs weitere folgen zwischen 1956 und 1960; die beiden letzten Landeskirchen von Bedeutung folgen 1963 und 1966 (erstaunlicherweise sind dies die beiden städtischen Landeskirchen Hamburg und Bremen, dort interessanterweise als Erweiterung der Arbeit der Telefonseelsorge)18. Auch bei den institutionalisierten Trägern der Arbeit gibt es große Vielfalt. 1953 richtet z. B. in Osnabrück der Kirchenkreisvorstand eine Beratungsstelle ein19 ; in Kassel geht 1955 die Arbeit auf das evangelische Seminar für soziale Berufsarbeit zurück20. Die ersten Anfänge sind ökumenischer (so etwa eine Gründung 1951 in Karlsruhe21) als der Trend der Folgezeit. Zuerst entsteht schon 1949 ein christlichüberkonfessioneller Fachverband: die „Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Eheberatung“ mit dem Ziel der Gründung entsprechender Beratungsstellen22, dann folgen die beiden konfessionellen: Auf katholischer Seite wird 1952 ein „Katholisches Zentralinstitut für Ehe- und Familienfragen“
15 16 17 18 19 20 21 22
Ebd., Erziehungsberatung, 5. Ebd. Vgl. Halberstadt, Beratungsarbeit, 18. Ebd., 24 f.; zu Hamburg und Bremen s. 43 u. 38. Ebd., 39. Ebd., 42. Ebd., 33. Ebd., 63 f.
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eingerichtet23, auf evangelischer bildet sich 1959 die „Konferenz für Ev. Familienberatung“24. Vielfach sind die beratenden Personen nebenamtlich tätig, häufig solche mit Berufen aus Medizin und Psychotherapie sowie Pädagogik; sie verstehen sich alle als bekennende Christen. Ein paar Beispiele zur Mentalität der Beratung in diesen Jahren: 1955 erscheint in „Wege zum Menschen“ ein Bericht über das neue kirchliche „Haus der christlichen Familie“ in Frankfurt a. M. Es gehe dort, so liest man, um „eine ständige Elternschule […], regelmäßige Zusammenkünfte zur Besprechung von Lebensfragen, von denen Erziehungsfragen nur ein Teil sind“25. 1956 lautet das Thema der Tagung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugend und Eheberatung: „Die berufsstätige Frau als Gattin und Mutter“26. Die Themenformulierung verrät schon: Die Rollenerwartungs-Normen sind klar. Nur innerhalb deren finden Umschichtungen statt, eben etwa das Problem der berufstätigen Frau wahrzunehmen. Die Ärztin Frau Dr. Wülker, die darüber referiert, legitimiert ihre Ausführungen als „aus der Sicht des Soziologen“ gesprochen27. Ein anderes Beispiel aus der Sexualerziehung: Wissenschaftserkenntnisse werden wahrgenommen, aber in die 50er-Jahre-Normen von Lebensführung eingeordnet. So etwa bei dem Pfarrer Hans-Joachim Thilo, der die kirchliche Beratungsarbeit mit aufbaute. Er macht sich 1955 im Hinblick auf das Phänomen der Onanie für eine psychotherapeutische Sicht stark. Es sei festzustellen, in Übereinstimmung mit der Kinderpsychologie und der psychotherapeutischen Erfahrung der letzten 30 Jahre, dass Onanie „nicht in das Gebiet der moralischen Verfehlungen gerechnet werden darf“, doch auch so bleibt jenes Verhalten für ihn selbstverständlich eine „Entwicklungsschwierigkeit“28. Schließlich ein spätes Beispiel aus dem Jahr 1959. Bei ihrer Gründung formuliert die „Konferenz der Evangelischen Familienberatung“ die Sicht auf die eigene Arbeit in einer „Entschließung“ eingangs folgendermaßen: „Die allgemeine Unsicherheit gegenüber Fragen der Lebensführung hat längst die Glieder der Evangelischen Gemeinde erfaßt.“ Sie wird in dem Text gekennzeichnet als „Ratlosigkeit […] in der Einstellung zur Erziehung, zur Ehe und zur Familie“. Da sei gefordert „nicht nur […] Anwendung dessen […], was säkulare Berater aus ihrer Schau zu sagen haben. Die Lebensordnungen der Erziehung, der Ehe und der Familie müssen vielmehr vom Evangelium her verstanden werden.“ Darum sind wichtig: „Ausbildung und Fortbildung“ von Einzelnen sowie „Gründung und Förderung evangelischer Beratungsstellen
23 Ebd., 64 f. Das Institut wird in den 1970er Jahren aufgelöst und eine Bundesarbeitsgemeinschaft für Beratung gegründet. 24 Ebd., 56; 1966 bildet sich auch aus der Konferenz heraus ein Zentralinstitut (69–71). 25 Fìhrer, Mütterschulung, 276. 26 Jahrestagung, 371 f. 27 Ebd., 371. 28 Thilo, Pädagogik, 278.
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[…]. Diesen Dienst ist die Gemeinde allen Menschen schuldig.“29 Bezeichnend ist: Angesichts von „Unsicherheit“ in „Fragen der Lebensführung“ setzt man hier auf die religiös legitimierten „Lebensordnungen“. Das Anliegen der 1950er Jahre ist also ,Helfen durch Erziehen‘. Mutterschaft, Ehe und Familie werden als gegebene und zugleich christliche Ordnungen verstanden, die man durch die Beratung stärken will. Evangelische Einrichtungen sollen nach dieser Vorstellung der 1950er Jahre so beraten, dass sie auf die Einhaltung eines Sets von Normen zielen, die nicht nur als kulturell gegeben, sondern zugleich als religiös begründet verstanden werden. Die kirchliche Beratung der 1950er Jahre sieht Anzeichen für einen Wandel – und meint, sich gegen ihn stellen zu sollen. 3.2 Übergangszeit von 1959 bis 1963 Im gleichen Jahr 1959, in dem die „Konferenz der Evangelischen Familienberatung“ das Verständnis der 1950er Jahre noch einmal bekräftigt, finden sich drei Artikel in „Wege zum Menschen“, die von dem Pfarrer Joachim Scharfenberg verfasst sind. Der hatte 1953 mit einer Seelsorgearbeit promoviert, die ganz der Dialektischen Theologie gefolgt war30, war dann zur Clinical Pastoral Education in die USA gegangen, anschließend nach Berlin in die Klinikseelsorge und ließ sich am Berliner Institut in Psychoanalyse ausbilden. Seit Mitte der 1950er Jahre arbeitete er in der Berliner kirchlichen Familienberatungseinrichtung mit31, Anfang der 1960er Jahre wurde er ihr Leiter. Scharfenberg hier herauszugreifen ist nicht nur berechtigt wegen seiner späteren Wirkungsgeschichte als prägende Figur der 60er-Jahre-Seelsorge und -Pastoralpsychologie. Ab 1959 ist Scharfenberg auch der „Schriftleiter“ von „Wege zum Menschen“ unter den beibehaltenen Herausgebern32. Vielleicht mag dieser Umstand dazu beigetragen haben, dass er meint, in diesen Artikeln die Kontinuität zu den 1950er Jahren noch einmal deutlich herausstreichen zu müssen. Es entspricht jedenfalls ganz seiner Promotion von 1953, die er erst ebenfalls 1959 faktisch unverändert veröffentlicht33. Ein Artikel behandelt „Erziehung und Eheberatung als Auftrag der Gemeinde“34. Scharfenberg setzt ganz von der Perspektive der Dialektischen 29 Die Entschließung ist abgedruckt bei Halberstadt, Beratungsarbeit, 57 f. 30 Scharfenberg, Blumhardt. 31 In einem Vortrag vom Mai 1963 bezeichnet sich Scharfenberg selbst als jemand, der „jetzt fast ein Jahrzehnt in der praktischen Familienberatungsarbeit steht“ (Scharfenberg, Bedeutung, 72). 32 Nach Angaben im Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs. 33 Es gibt außer einem zusätzlichen Vorwort keine inhaltlichen, sondern nur redaktionelle Änderungen im Wortlaut gegenüber der Fassung von 1953 (vgl. die Aufstellung bei Ko, Übertragung, 74, Anm. 105). 34 Scharfenberg, Erziehung. Es handelt sich, wie in der ersten Anmerkung des Texts genannt,
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Theologie her ein: Bei der Beratungsarbeit handele es sich um „eine Sonderform seelsorgerlicher Verkündigung“, um „Verkündigung in der Form des Gesprächs“35. Und doch, so der nächste Gedankengang des Autors: dass diese Verkündigung in der Form des Gesprächs ergeht, ist ihm wichtig, und ebenso, dass die Kirche über die Ortsgemeinde in ihrem Handeln hinausgehen muss. Er stellt dann dazu fest: „Beide Forderungen, die Forderung nach einer neuen Form der Verkündigung und die Forderung nach einer übergemeindlichen Form, erfüllen sich in der Erziehungs- und Eheberatung auf beinahe ideale Weise, so dass wir sie ganz legitim als Sonderform der Verkündigung ansehen dürfen.“36
Dieser Satz lässt tief blicken. Einerseits: Der Autor teilt die „Forderungen“ nach Modernisierung; diese Forderungen werden dabei allerdings als Erneuerung nicht der Inhalte, sondern der Form relativiert, als Ergänzung in Sonderkonstellationen, keinesfalls als Durchbrechung des Normalfalls. Es handelt sich insofern nur um eine „Sonderform“. Wiederum andererseits: Diese Sonderform gilt als „ganz legitim“. Beides verbindet sich hier zu einer Art Erlaubnis zur Interpretation, nach der „wir“ die Familienberatung so „ansehen dürfen“, offensichtlich weil und solange es nicht die bisherigen Interpretationsmuster infrage stellt. Nachdem dies sichergestellt ist37, beschäftigen sich weitere Ausführungen in dem Artikel mit dem Gespräch. Laut Scharfenberg kommt es auf die Grundhaltung der Annahme an; er verweist hier auf den deutsch-amerikanischen Systematischen Theologen Paul Tillich. So kann er formulieren, „daß die Verkündigung sich so vollziehen kann, daß sie nicht immer mit Worten gesprochen werden muß, daß es auf die Grundhaltung ankommt, die das rein fachliche und sachliche Können und Wissen durchdringt und trägt“38. Er betont, dass es bei der Beratung „nicht um Moral und Gesetz, sondern um Gespräch und Erleben“ gehe39. Der Autor rückt außerdem die Beratungsarbeit in den Horizont der Diakonie, als „absichtsloser Dienst“40, und von da aus in den Horizont der Psychotherapie, als „Hilfe nicht in äußeren, sondern in inneren Nöten“41, für die die Einsicht in Neurosen zentral sei. Er plädiert für
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um einen Vortrag vom 18. März 1959, gehalten auf der Gründungsversammlung der Konferenz für Evangelische Familienberatung. Ebd., 275. Ebd., 276. Scharfenberg identifiziert sich noch einmal eindeutig mit dem Anliegen der 1950er Jahre: „So steht für die Zukunft die große Aufgabe vor uns: Verkündigung, Kirchenzucht, Erweckung, Heiligung als Grundanliegen evangelischer Seelsorge müssen wieder zusammengeführt werden“ (ebd.). Ebd., 277. Ebd. Ebd., 278. Ebd., 279.
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fachliche Weiterbildung und Ausbildung42. Die Deutung der Beratung als Gesprächsverfahren und so als Psychologie im Sinne kirchlicher Diakonie sind also der Zielpunkt der Argumentation, wenn auch dies als „Sonderform“, weil nicht so nahe an der „Verkündigung“ liegend und damit als nicht mehr als ein Nebenthema der Seelsorge eingeordnet bleibt. Ein weiterer Artikel von Scharfenberg aus dem gleichen Jahr beschäftigt sich mit Sigmund Freud und bezeichnet schon in der Titelgebung bezogen auf das „heilende Gespräch“ die Psychoanalyse als „Paradigma“43. Scharfenberg führt aus, dass die Medizin (die Psychoanalyse) das „Gespräch als Therapeutikum“ entdeckt habe44. Er sieht auch dies geistesgeschichtlich als einen Baustein in dem „dialogischen Zeitalter“, in dem man sich befinde, mit dem „Dialogischen als Lebensform“45. Doch gleichzeitig gelingt, so wird ausführlich dargestellt, faktisch das Führen von Gesprächen nicht. „Das Gespräch selbst scheint krank zu sein“46. Hier führen die Erkenntnisse Freuds zur Gesprächsführung weiter, die dann dargestellt werden. Zum Schluss erfolgt wieder, diesmal im letzten Absatz, die Einkehr in die bisherigen Denkmuster der 50er-Jahre-Theologie: Das bei Freud Entdeckte, so wird ausdrücklich betont, […] „muß im Sinn einer Notlösung angesehen werden“. Es sei zwar eine „heilsame Notwendigkeit“, doch bleibt es dabei, so bemüht sich dann der Autor zu versichern, dass die verlorengegangene „Begegnungsfähigkeit […] auch sicher nicht durch alle Psychologie zurückgeholt werden kann“, sondern „sie sollte Raum geben für das Wunder echter Begegnung“47. Und diese Begegnung bleibt, ohne dass das noch direkt gesagt wird, dem religiösen Sprechen und Erleben, das aus der Verkündigung kommt, vorbehalten. Explizit ist die Rede von „dem Wunder echter Begegnung, das sich nicht herbeizitieren läßt, sondern dem man sich nur öffnen kann und das man sich nur ereignen lassen kann“48.
42 Ebd. 43 Scharfenberg, Gespräch. Am Ende des zuvor behandelten Textes (Scharfenberg, Erziehung) war angekündigt gewesen: „Der Schluß dieses Vortrags folgt in einem der nächsten Hefte“ (279). Doch dieser erscheint nicht. Stattdessen präsentiert Scharfenberg eine Beschäftigung mit Freuds Thematisierung des Gesprächs, veröffentlicht als eigener Artikel mit eigener Überschrift, vermutlich eine Bearbeitung jenes Vortragsschlusses, wodurch nun jedoch das Thema gegenüber der Gemeindeseelsorge eigenständiger wird. Das passt dazu, dass, wie der gewählte Untertitel es benennt, die Psychoanalyse nun in den Rang eines „Paradigmas“ aufgerückt ist. 44 Scharfenberg, Gespräch, 340. 45 Ebd., 338. 46 Ebd., 339. Zuvor hatte Scharfenberg die Frage gestellt „Gespräch, ja wohl. Aber wie macht man das?“ Und daran schloss er sechs Absätze an, die jeweils eingeleitet sind „Man führt ein Gespräch, aber […]“ und das Nichtgelingen faktischer Gespräche in einer Reihe von Hinsichten ausführt (338 f.). 47 Ebd., 344. 48 Ebd.
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Der Eingangsartikel für den Jahrgang 1959 über „Wo steht die evangelische Seelsorgelehre?“49 stammt ebenfalls von Scharfenberg. Nach einem Bekenntnis zur Sicht und Terminologie der Dialektischen Theologen Asmussen und Thurneysen plädiert Scharfenberg hier für eine Unterscheidung von (menschlicher) Religion und christlichem Glauben. Das ist auch noch ganz auf der 50er-Jahre-Linie. Doch dann gibt er dem eine andere Wende, die Folgendes zu bedenken gibt: „Wäre es nicht lohnend, von den theologischen Grundpositionen Bonhoeffers aus einen neuen Gesprächsgang mit Sigmund Freud zu wagen?“50 Gerade für das Phänomen von Übertragung und Gegenübertragung auch in der Seelsorge sei hier zu lernen. Scharfenberg bezeichnet das, was bei Freud zu finden sei, als „Wirklichkeitsnähe“ und – wieder zurück in die Interpretation der 1950er Jahre – im gleichen Atemzug wird das verstanden als ein Akt, „seelsorgerliche Hilfskräfte zu mobilisieren.“51 Das Zentrum der Seelsorge bleibt insofern noch unberührt von der Psychologie, wie sie, in den Worten Thurneysens, den Status einer bloßen „Hilfswissenschaft“52 hat. Muster einer Übergangszeit finden sich auch in anderen Artikeln von „Wege zum Menschen“. Zunächst seien als Beispiel hier drei Artikel von 1961 erwähnt. Man wird sich dessen bewusst, dass sich in den USA Beachtenswertes in Sachen Seelsorge abspielt. Abgedruckt ist ein Bericht eines Amerikaners über „die Zusammenarbeit von Psychologe und Seelsorger in den USA“53. Der streicht die „Atmosphäre des Austauschs und Lernens zwischen gleichberechtigten Partnern“54 heraus. Demgegenüber scheinen die diesbezüglichen Verhältnisse in Deutschland an ihr Ende gekommen zu sein. Ein Mediziner berichtet über – so der Titel – „Erziehung am Ende des Patriarchats“55. Ein weiterer Artikel stammt vom Stockholmer Domprobst. Der setzt ein mit den Sätzen: „Die Familie ist in Gefahr! Überall diskutiert man über die Situation der Familie“56. Der Kirchenmann geht dann mit dem bemerkten Wandel erwartbar defensiv um: „Was kann getan werden, um die Familie zu schützen und zu fördern?“57 Anders ist das in einem Artikel über „Strukturwandel der Familie“ im gleichen Jahrgang der Zeitschrift. Der enthält Verweise auf Schelsky und Riesman58 und versteht den Wandel der Familie als Teil eines größeren Prozesses der „Revolutionisierung aller unserer Lebensformen und der tastenden Suche nach dem Neuen“59. 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Scharfenberg, Seelsorgelehre? Ebd., 9. Ebd. Vgl. Thurneysen, Lehre, 174. Thurneysens Sicht wird dann 1968 von Scharfenberg deutlich kritisiert: Scharfenberg, Freud, 26–29 u. 38. Leslie, Zusammenarbeit. Ebd., 228. Rotthaus, Erziehung. Hellstein, Familie, 49. So die Überschrift des Artikels. Backhaus, Strukturwandel, 129. Ebd., 128.
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1962 deutet sich bei Scharfenberg noch mehr an. Seine Wendung zu Freud, die sich im Artikel von 1959 zu Freud bereits zeigte, wird jetzt programmatisch und der Autor markiert nun die Differenz zum verehrten Lehrer Otto Haendler60. Haendler selbst war die große Ausnahme eines ungleich psychologieaffinen Praktischen Theologen der 1940er und 50er Jahre gewesen. Er hatte aber bewusst auf C. G. Jung rekurriert, weil dieser religionsfreundlich sei, und meinte sich aus diesem Grund von Freud als dem Atheisten fernhalten zu müssen, so auch 1956 in „Wege zum Menschen“61. Nun, 1962, veröffentlicht Scharfenberg direkt hinter einem kurzen Gedenkartikel Haendlers zu Jungs Tod zwar ebenfalls einen Artikel zu C. G. Jung62. Er sucht aber darin aufzuzeigen, dass bei Jung die Psychologie de facto die Grenze zur Religion überschritten habe, sich damit aber eben gerade nicht als hilfreich erweist, weil dies die Krisis aller Religion, die das Evangelium bedeute, unterschlage. An diesen der Dialektischen Theologie nahestehenden Gedanken anschließend wird nun, auf Tillichs Beschäftigung mit Freud verweisend, der Gedanke geäußert, Freud, der Hebräer, könnte dem Evangelium näher kommen als der (hellenistische) Grieche Jung63. Damit ist schon diejenige Perspektive angelegt, unter der dann 1968 Scharfenbergs Habilitationsschrift Freuds Werk nicht nur als gute Psychologie, sondern auch als exzellente Philosophie und Hermeneutik darstellt und dessen Religionskritik als Anliegen präsentiert, das sehr wohl theologisch berechtigten Wünschen nach einer „reifen Form des Glaubens“ nachkommt64. 3.3 Die Beratung als Ausdruck der 1960er Jahre Bereits ab 1963 hat sich bei manchen in der Beratungsarbeit ein neues Verständnis von Beratung geklärt: Gespräch gilt ihnen nun nicht mehr nur als eine Form der Verkündigung, sondern sie ist zu dem Modell für die grund60 Kurz davor, in einem Beitrag Scharfenbergs zur Haendler-Festschrift, veröffentlicht 1961, ist die Beschäftigung mit Freud zwar materialiter gegenüber 1959 ausgeweitet, dennoch wird eingangs ein letztes Mal mit starken Worten ein Bekenntnis zum alten Verständnis abgegeben: „In einer Zeit, in der sich die kirchliche Seelsorge mit aller Entschiedenheit auf ihren Gegenstand zu besinnen hat, soll sie nicht einer fatalen Verwechslung mit den modernen Formen der säkularen Seelsorge verfallen, ist es sicher notwendig zu betonen, dass dem psychotherapeutisch-analytischen Gespräch gegenüber das seelsorgerliche Gespräch etwas toto genere und unabtauschbar Anderes darstellt. Es ist dankbar anzuerkennen, dass die Definition von Asmussen, der unter Seelsorge das Gespräch von Mann zu Mann, in welchem dem einzelnen auf seinen Kopf zu die Botschaft gesagt wird, versteht, zum Allgemeingut evangelischer Seelsorge geworden ist“ (Scharfenberg, Übertragung, 80). 61 Haendler, Psychologie. 62 Scharfenberg, Gespräch mit C. G. Jung. 63 Ebd., 8. 64 Scharfenberg, Freud, 180. Freud als Theologen zu verstehen, findet Scharfenberg aber übertrieben; dazu habe dieser sich mit den Quellen des christlichen Glaubens nicht sorgfältig genug auseinandergesetzt (37).
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sätzlich dialogische Haltung von Theologie überhaupt geworden. Beratung erscheint dann, so ein Mediziner, als „dialogische Lebenshilfe“65. Sie ist, so formuliert es Scharfenberg im gleichen Jahr für die Telefonseelsorge, durch die beiden „Stichworte“ „Partnerschaft und Dialog“ gekennzeichnet66. Im Jahr 1964 schreibt Scharfenberg über „Die Beratung der Familie“67. Hier werden ausdrücklich Zusammenhänge zum Bundessozialhilfegesetz von 1961 und zur Frauenemanzipation hergestellt (samt einem Diskurs über Aussagen von Marx und Engels zur Modernisierung der Familie). Das Ideal eines multiprofessionellen Teams aus Hauptamtlichen findet er in der evangelischen Familienberatung aufgestellt. In einem Literaturbericht zur Freud-Literatur wünschte sich Scharfenberg 1963 für die Theologie einen „brüderlichen Dialog mit Freud“68. Bei der Verbrüderung mit der Psychologie und mit Freud tun sich nun umgekehrt aber auch neue Spannungen auf – innere Spannungen der in der kirchlichen Familienberatung Tätigen gegenüber der bisherigen Kirchlichkeit. Scharfenberg veröffentlicht 1964 einen weiteren Aufsatz unter der Überschrift „Der Berater im Konflikt zwischen Tradition und Wirklichkeit.“ Die therapeutische Rede vom Konflikt wird auf die Situation zwischen Kirche und beratener Person übertragen bzw. auf die innere Situation des Beraters in kirchlichen Beratungsstellen selbst. Dabei hat sich das Verständnis des Gegenübers verändert. Hier tritt nicht mehr das, was kirchlich und theologisch fest steht und wichtig ist, den Auflösungstendenzen der Moderne entgegen. Das Gegenüber wird stattdessen mit den Begriffen „Tradition“ und „Wirklichkeit“ bezeichnet. Infrage steht die theologische Tradition auf Seiten des Beraters, die sich von der Wirklichkeit in Gestalt der beratenen Person herausgefordert sieht. Bewegen und verändern müssen sich also Theologie und Kirche – und das hat Konsequenzen. Es führt zu einem anderen Umgang mit Ethik. Scharfenberg konstatiert: Die „grundsätzliche […] Offenheit und Bereitschaft, aus der dialogischen Situation etwas Neues entstehen zu lassen, muß nun auch für ethische Entscheidungen gelten“69. Nur kurz wird angedeutet: „[…] zu diesem Verfahren glaube ich mich theologisch legitimiert. Gott erweist jedenfalls seine Autorität darin, daß er in Christus uns Partner wird“70. Der Text mündet in eine neue knappe Definition der Aufgabe von kirchlicher Beratung: „Beratung ist fachkundige Partnerschaft auf Zeit“71. Damit kommt es auch zu 65 66 67 68 69
Wrage, Seelsorge, 120. Scharfenberg, Telefonseelsorge, 36. Scharfenberg, Beratung. Scharfenberg, Beiträge, 461. Scharfenberg, Berater 368. Interessant ist hier der Paradigmenwechsel gegenüber früher : Das „Muß“ ist hier ein therapeutisch-psychologisches Muß für den Berater, während es noch 1961 ein theologisches war (siehe oben bei Anm. 47). Die Theologie tritt jetzt nicht mehr in der Rolle desjenigen auf, der die Psychologie beschränkt, sondern der sie erlaubt. 70 Scharfenberg, Berater 368. 71 Ebd., 369. Direkt davor werden drei „Richtlinien“ aufgestellt: „1. Die Verpflichtung, sich als
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anderen Rollenverteilungen. Scharfenberg geht es um einen „grundsätzliche[n] Verzicht auf jede unorganische institutionelle Väterlichkeit“72 des Theologen im Team der Beratungsstelle. Schon 1963 behandelt ein niederländischer Pfarrer in einem anderen Artikel über „Die Neutralität der Eheberatung“73 ebenfalls die Frage nach der Rolle der Theologen in den kirchlichen Beratungsstellen. Darin wird die Ansicht vertreten: Die Eheberatungsstelle solle von einem Psychologen geleitet werden. Die Teilnahme von Pfarrern sei gut, aber als Teil des Teams; ja, Pfarrer hätten einen Ort eher nur in der Teambesprechung, also als Hintergrundexperten, statt in der Beratung selbst74. „Der Pfarrer ist kein Berater. Kann es nicht sein. Und soll es nicht sein“75. Es stellt sich dann die Frage: Welchen Sinn hat es, dass die Kirche eigene Beratungsstellen unterhält? Die Antwort des Artikels: Die Kirche steht „in der Freiheit des Herrn, mitten in der Welt und dient ihr“76. Und Beratungsstellen „helfen, die eigene Aufgabe der Seelsorger klarer ins Auge zu fassen“77. Die soziale Arbeit der kirchlichen Familienberatungseinrichtungen ist damit als Ausdruck einer Beteiligung der Kirche an der Gesellschaft legitimiert, von der sie für ihre eigene pastorale Seelsorge zudem etwas lernen kann und soll. Damit erscheint für den Autor der Sinn kirchlicher Beratungsarbeit hinreichend beantwortet. Interessant sind – im Vergleich zu früheren Jahren – dabei die Auslassungen: Kein Wort mehr davon, dass die Kirche in der Beratung eine Botschaft der Wahrheit verbreite oder ein Wissen vom ethisch Richtigen in die Gespräche einbringe. Ein letztes Beispiel belegt, wie die gewandelte Situation nun auch beginnt, in kirchenleitenden Positionen erste Wirkung zu zeigen. 1964 erscheint ein Artikel des damaligen rheinischen Präses Joachim Beckmann: „Was erwartet die Kirche von der Erziehungsberatung?“78 Beckmann plädiert eindeutig für den weiteren Ausbau der Beratungsarbeit: „[…] in möglichst jedem Kirchenkreis eine Beratungsstelle“79. Er versteht die Arbeit als Ergänzung des Pfarramts und als Fortführung des kirchlichen „Mandats“ Christi80. Insofern gibt es jedenfalls einen Auftrag und wohl auch eine inhaltliche Ausrichtung.
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Berater als fachkundig zu erweisen, soweit das möglich ist und die Notwendigkeit ethische Forderung nicht metaphysisch, sondern dialogisch zu begründen.“ „2. Der grundsätzliche Verzicht auf jede unorganischer Väterlichkeit und das Ja zu der Funktion, die ich in einer Arbeitsgruppe, in einem Team wahrzunehmen habe, und das Ja zu vorbehaltloser Partnerschaft.“ „3. Das klare Bewußtsein eines nur partiellen und auf Zeit begrenzten Zurverfügungstehens“ (ebd.). Ebd., 369. Kaptein, Neutralität. Ebd., 184. Ebd., 183. Ebd., 184. Ebd. Beckmann, Kirche. Ebd., 347. Ebd., 350; vgl. 347.
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Doch es zeigen sich nun daneben zugleich neue Unsicherheiten des geistlichen Oberhaupts der Landeskirche über die Aufgabe der Kirche. Da wird zu den Beratungsstellen zunächst gesagt: „[…] so ist kein Zweifel, dass es diesen legitimen Ort gibt“, um dann fortzufahren: „wenn man ihn auch noch nicht genau beschreiben kann und noch kein theologisches Schubfach dafür da ist. Vielleicht ist es auch gar nicht gut, wenn alles, was lebendig ist in der Kirche allzu schnell in theologische Schubfächer eingeordnet wird!“81 Offensichtlich ist die Theologie an dieser Stelle den Veränderungen noch nicht nachgekommen; aus dieser Not wird ein wenig eine Tugend gemacht. Was sich aber sagen lässt, ist: Die Kirche erwartet in der Erziehungsberatung „an erster Stelle ein gutes fachliches Können“82. Sie erwartet dann auch von den Beratenden „ein Studium der christlich-kirchlichen Aufgaben“. Die Ausführungen zeigen, dass hier, anders als im zuvor zitierten Artikel, der die Kirche Leitende sehr wohl weiterhin die These vertreten will, dass Religionsspezifika hilfreich für die Beratung seien und ihr ein eigenes Profil geben. Nur wie soll er es begründen? Beckmann verwahrt sich dann jedenfalls sogleich gegen die Rede vom christlichen Menschenbild. Das eine christliche Menschenbild gebe es nicht83. Aber – man sucht die Flucht in Personalisierung und Christologie – : allein Christus sei ein Bild von Gott, auf das ein Christ vertraue84. Schließlich bleibt dann diese Konkretisierung einer kirchlichen Verhaltensanforderung: „Die Kirche erwartet von ihrem Berater, dass er einen persönlichen Kontakt mit ihren Einrichtungen, ihren Gemeinden und ihren Gemeindegliedern“ hat, allerdings gehe es dabei nicht um ein „Glaubensexamen“, sondern eben um den „persönlichen Kontakt“85. In der Zeitschrift steht direkt vor diesem Artikel ein anderer, der die Fragerichtung umkehrt: Er stammt von einem Düsseldorfer Arzt: „Was erwartet der evangelische Berater von der Kirche?“86 Der Artikel entfaltet drei Erwartungen der Beratungspraxis an die Kirche: 1. Gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Kirche und Beratung beim Umgang miteinander. 2. Dass die Kirche ihre Theologie so weiterentwickelt, dass sie die Arbeit der Beratungsstellen mitberücksichtigt als integralen Bestandteil von Kirche. 3. Dass sie organisatorisch die Beratungsarbeit unterstützt und fördert. Ging es in den 1950er Jahren noch darum, gesellschaftliche Institutionen in der kirchlich normierten Fassung zu stärken und zu erhalten (Mutterschaft, Ehe, Familie), so sollen nun individuelle Konfliktlagen begleitet werden. Artikelüberschriften tauchen in der Zeitschrift auf, die es so vorher nicht gab: 81 82 83 84 85 86
Ebd., 346. Ebd., 347. Ebd. Ebd. Ebd., 350. Groeger, Berater.
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z. B. „Sexualität“ (1966) und „Homosexualität“ (1965) und „eheliche Intimität vor der Ehe“ (1968). Exkurs: Facetten der Entwicklung bei Scharfenberg und sein Verhältnis zu seiner eigenen 50er-Jahre-Vergangenheit Nachdem der wichtige Anteil Scharfenbergs an dem Umschwung in kirchlicher Beratung und dann auch in der Seelsorge deutlich wurde, mag es von Interesse sein, was von dem Wandel der Einstellungen dieser Person öffentlich wurde und wie er selbst in den eigenen Publikationen damit umging. Für das im Aufbau begriffene Arbeitsfeld Beratung werden durch Scharfenberg, wie wir sahen, die Veränderungen in den einzelnen Schritten sogleich öffentlich gemacht (und zunächst nicht für die Gemeindeseelsorge oder auch die Krankenhausseelsorge). An den veröffentlichten Texten Scharfenbergs ist nicht auszumachen, wie sich beim Wandel seiner Theologie zwischen 1959 und 1961 die beiden anderen Faktoren 1. USA-Erfahrungen und 2. die Psychoanalyse, der er sich im Zusammenhang seiner Psychoanalyse-Ausbildung unterzog, zu den Erfahrungen in der Beratungsarbeit im Detail zeitlich und sachlich zueinander verhalten. Als der Wandel vollzogen ist und von Scharfenberg auch für die Krankenhausseelsorge sowie für die Seelsorge generell geltend gemacht wurde – die Programmschrift “Seelsorge als Gespräch“ von 1972 ist dafür das Paradebeispiel – mag man sich fragen, wie der Autor sich nun zu seiner eigenen Vergangenheit verhält. 1972 bezeichnet er die theologischen Väter als autoritär. Zugleich sind in dieser Schrift – ohne Nennung – in ihren Passagen zu Übertragung und Gegenübertragung bei Freud fast gänzlich wortgleiche Abschnitte aus seinem Aufsatz von 1961 zum Thema enthalten, in dem er sich noch ganz eindeutig zu der 1950er-Jahre-Theologie bekannt hatte.87 Während die ’68er-Generation, zu der man Scharfenberg zählen könnte, ihren Vätern die Verdeckung der Nazizeit vorwarf, hielt Scharfenberg seine eigene Vergangenheit, seine eigenen publizierten Wurzeln in der Dialektischen Theologie, ziemlich verborgen. Auch ein Gesamtverzeichnis seiner Schriften wurde nie erstellt. Ulrike Wagner-Rau hat 2008 in einem Artikel auf den Sachverhalt und die früheren Schriften Scharfenbergs in „Wege zum Menschen“ hingewiesen88 : In den Texten von 1959 finden sich „teilweise bis in die Wortwahl ähnliche Gedanken“89. Sie interpretiert dabei allerdings die Passagen mit Nähe zur 1950er-Jahre-Theologie m. E. noch zu sehr als solche, die nicht Schar-
87 S. o. Anm. 60. Eine Synopse der fast wortgleichen Abschnitte in beiden Schriften findet sich bei Ko, Übertragung, 93 bis 96, Anm. 165–168. 88 Wagner-Rau, Seelsorge, 20–32. 89 Ebd., 21.
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fenbergs wahre damalige Meinung ausgesagt haben könnten90. Nach den im vorliegenden Artikel aufgeführten Beobachtungen ergibt sich der Eindruck, dass Scharfenberg 1959 bis 1961 durchaus bewusst selbst diese Verankerung in der Dialektischen Theologie noch wollte. Wenn dies so ist, dann sollte auch stärker ausgearbeitet werden, wo hier sich eine sachliche Brücke zur 1960erTheologie ergab. Sie liegt m. E. in dem, was man – in einem weiten Sinne – als die hermeneutische Theologie der 1950er Jahre bezeichnen kann. Sie teilte mit der Dialektischen Theologie einen Radikalismus in der Relativierung von „Religion“, betonte aber in der zeitgenössischen Säkularisierungsdebatte positiv die säkulare Sachlichkeit und bot so die Erlaubnis, das Fremde (im Fall Scharfenbergs: Freud) ohne Einschränkungen wahrzunehmen. Und in dieser Wahrnehmung ergab sich schließlich auch, die Theologie selbst neu zu interpretieren.91 Dass die theologische Reinterpretation bei Scharfenberg ab 1963 – und auch das dürfte typisch sein für viele seiner Generation – so wenig ausdrücklich gemacht ist (anders bei den „Linksbarthianern“ wie z. B. Jürgen Moltmann), könnte dann z. T. so erklärt werden. Es mag auch damit zusammenhängen, dass dabei die faktische Verbindung und damalige Zustimmung zu den 1950ern deutlicher hervortreten würde, als Scharfenberg es wollte. So präsentiert Scharfenberg 1972 die 1950er Jahre später öffentlich als Antipoden, obwohl sie zugleich (verdeckt) biographisch und auch im Denken die Brücke darstellten. In diesem doppelten Sinne ist und bleibt die 60er-Jahre-Theologie Scharfenbergs im Schatten der 1960er Jahre. Und auch dies könnte sich als typisch für einen guten Teil der neuen Theologie der 1960er Jahre erweisen.
4. Fazit Womit setzen sich in der kirchlichen Familienberatung die 1960er Jahre durch? Für den Diskurs der Beteiligten, soweit er sich in der Zeitschrift „Wege zum Menschen“ spiegelt, ist die Antwort deutlich: Die Pluralität der Lebensführung wird nicht nur wahrgenommen, sondern evangelische Beratung 90 „Man kann hier zwischen den Zeilen den Versuch erkennen, sich zurückhaltend zu positionieren und vorsichtig zu formulieren im theologischen Zusammenhang der späten ’50er Jahre […]“ (ebd., 22). Scharfenberg sei hier „in seiner Kritik an den dominierenden Seelsorgeentwürfen der Zeitgenossen durchaus noch maßvoll“ (ebd.), wobei er „durchaus den theologischen Positionen der Bekennenden Kirche nicht fern stand“ (23). Ähnlich auch Noth, Aktualität, 198: Es „zollte Scharfenberg noch seinen Lehrern bzw. der Dialektischen Theologie Tribut“. 91 Zur Linie hermeneutischer Theologie passt der ausführliche Rückgriff auf Ernst Fuchs im Freudbuch von 1968, wobei Fuchs dann später keine Rolle mehr für Scharfenberg spielt, und im Spätwerk von 1985 die Darstellung der Freudschen Psychoanalyse als Hermeneutik; Scharfenberg, Pastoralpsychologie, 32 u. ö.; eingangs, 14, ist dort vielsagend, aber pauschal die Rede von „Widersprüchen, die mich oft zu zerreißen drohten und die ich oft genug als unlösbar vor mir herschob“. Außerdem wird auch auf Tillich (s. o. bei Anm. 38 und 68) verwiesen.
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will sich nun dazu als Partnerin im Dialog mit den Subjekten verhalten. Ab 1963 wird dies eindeutig. Das Idealbild von kirchlicher Beratungsarbeit 1959 als Erziehung durch die Institution Kirche mit ihrer Theologie wird 1963 abgelöst von einem ganz anderen Idealbild: Kirchliche Beratungsarbeit vollzieht eine fachlich (psychologisch) gesteuerte Weise des Dienstes zur Selbstthematisierung der Subjekte, wenn und soweit diese das wünschen – mit bewusst moralisch von Seiten der Beratenden offen gehaltenem Ausgang für deren Lebensführung. Der Wandel der 1960er Jahre mit seinem Symboldatum 1968 wurde bekanntlich als ausgesprochen rasant wahrgenommen. Der Einblick in die Diskussionen über die Praxis kirchlicher Familienberatung liefert einen Baustein zur Erklärung, wie stark dies, jedenfalls auf der Ebene der Thematisierung von Beratung, Seelsorge und Kirche, bereits deutlich vor 1968 öffentlich vorbereitet war.
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Kirchliche Familienberatung
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–, Die Beratung der Familie. In: Wege zum Menschen 16 (1964), 65–73. –, Sigmund Freud und seine Religionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben. Göttingen 1968. –, Seelsorge als Gespräch. Zur Theorie und Praxis der seelsorgerlichen Gesprächsführung (Handbibliothek für Beratung und Seelsorge 8). Göttingen 1972. –, Einführung in die Pastoralpsychologie. Göttingen 1985. Schilling, Johannes / Zeller, Susanne: Soziale Arbeit – Geschichte – Theorie – Profession. 3. überarb. Aufl. Stuttgart 2007. Schriftleitung, Die: Wege zum Menschen. In: Wege zum Menschen 6 (1954), 1 f. „Seelsorge und Beratung“ (Themaheft). In: EvTh 35 (1975), H. 1. Tacke, Helmut: Glaubenshilfe als Lebenshilfe. Probleme und Chancen heutiger Seelsorge. Neukirchen (1975) 21979. Thilo, Hans Joachim: Evangelische Pädagogik ohne Psychologie? In: Wege zum Menschen 7 (1955), 276–279. –, Beratende Seelsorge. Göttingen 1971. Thurneysen, Eduard: Lehre von der Seelsorge. Zürich 1946; zit. nach der Ausgabe München 1948. Vossler, Andreas: Erziehungsberatung im Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche. In: ajs. Informationen 3/2005, 1–12, 4 (http://www.ajs-bw.de/media/files/ajs-info/aus gaben_altbis05/Andreas_Vossler.pdf, letzter Aufruf 11. 8. 2015). Wagner-Rau, Ulrike: Seelsorge als Gespräch. Relecture eines Klassikers der Pastoralpsychologie. In: Wege zum Menschen 60 (2008), 20–32. Winkler, Klaus: Seelsorge. 2. erw. Aufl. Berlin / New York 2000. Wrage, Karl Horst: Was kann die Seelsorge von der Psychotherapie lernen? In: Wege zum Menschen 15 (1963) 113–130.
Kapitel 5: Sexualitt und Fortpflanzung
Reiner Anselm
Einführung: Sexualität und Fortpflanzung
Nirgendwo ist der Wandel gesellschaftlicher Normvorstellungen so augenfällig wie im Bereich der Sexualität. Über Jahrhunderte betrachtete man in Kirche und Gesellschaft den Geschlechtstrieb mit Argwohn. Eros und Lust galten als Gegensatz zu einem moralischen, an der Sitte und den Geboten der Kirche orientierten Leben. Diese Auffassung verband sich mit der Unterscheidung von Fleisch und Geist, die das Christentum aus seiner Umwelt übernahm und dann selbst weitertradierte: Das „Fleisch“, die Leiblichkeit des Menschen, wird zum Zeichen seiner Sündhaftigkeit und Vergänglichkeit. Es muss vom Geist, Ausdruck der Gottesbeziehung und der Reinheit, kontrolliert werden. Sexualität ist in dieser Tradition nur akzeptabel, weil sie für den Fortbestand der Gesellschaft unverzichtbar ist. Dementsprechend hat sie sich aber auch in die Regeln der Gesellschaft einzufügen. Und dennoch: Das eigentliche Ideal bleibt das der Keuschheit. Völlige Hingabe kann es nur gegenüber Gott, nicht aber gegenüber anderen Menschen geben. Die Reformation brach zwar mit dem Gedanken, dass das keusche und ehelose Leben der Kleriker gottgefälliger sei. Doch dass die Lust durch die von Gott gestiftete und von der Kirche kontrollierte Ordnung der Ehe im Zaum gehalten werden müsse, daran hielt auch der Protestantismus fest. Erst Friedrich Nietzsches Kritik an moralischer Repression, die Ideale der Lebensreformbewegung und Sigmund Freuds Thesen über die krankhafte Unterdrückung der Lust bereiteten den Weg für Veränderungen, die sich in der „sexuellen Revolution“ der 1960er-Jahre mit großem Nachdruck durchsetzten: Nicht mehr die Verwirklichung von Sexualität, Trieb und Lust erscheint nun problematisch, sondern umgekehrt deren Leugnung, Unterdrückung und Regulierung. Führt man sich diese Ahnenreihe vor Augen, dann ist auch deutlich, dass auf die Neubewertung der Sexualität seitens der großen Kirchen nur im Modus der Kritik oder gar der scharfen Ablehnung reagiert werden konnte. Die Protagonisten der sexuellen Revolution schenkten dabei der direkten Auseinandersetzung mit einzelnen Elementen der kirchlichen Sexualmoral gar keine besondere Aufmerksamkeit. Sie deuteten vielmehr diese Sexualmoral als Ausdruck eines insgesamt autoritären und repressiven Weltbilds. Die Auseinandersetzung um die Sexualethik fungierte so als Aufhänger für eine Auseinandersetzung mit der Religion der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt. Die Unterdrückung der Sexualität wird so zum Exempel für die autoritären Strukturen eines Staatswesens, das sich zwar den Anstrich einer li-
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Reiner Anselm
beralen Demokratie gibt, in seinem Kern aber nur darauf aus ist, den Einzelnen der Logik des Systems zu unterwerfen. Die sexuelle Revolution ist in dieser Perspektive Teil eines groß angelegten sozialrevolutionären Konzepts. Charakteristisch wird das an der Renaissance des Freud-Schülers Wilhelm Reich deutlich, dessen Programmschrift von 1936, „Die sexuelle Revolution“, 1966 in zweiter Auflage erscheint. Reich hatte mit Freud gebrochen, weil dieser die Psychoanalyse als unpolitische Wissenschaft begreifen wollte, er sie jedoch als Hilfswissenschaft für den Marxismus verstand und dabei der sexuellen Aufklärung durch die Psychoanalyse eine entscheidende Funktion zuschrieb. Sexualaufklärung, Marxismus und Religionskritik gehen bei Reich Hand in Hand, sodass er, obwohl sein Denken nach 1945 immer verworrenere und fast krankhafte Züge annimmt, zum Helden der sexuellen Revolution der 1960erJahre werden kann1. Aus der Verbindung mit dem Marxismus und der kritischen Theorie übernehmen die Aktivisten der Studentenbewegung auch die Strategie, mit der sie die repressiven Züge, die die Verflechtung zwischen politischer Klasse, Industrie, Bürgertum und Kirche kennzeichnet, aufdecken möchten: Indem man sie gezielt reizt, zeigen sie ihr wahres autoritäres Gesicht. Ein instruktives Beispiel dafür ist der Skandal, den die SDS-Aktivistin Ursula Seppel 1968 auslöst: Sie erscheint mit einer durchsichtigen Bluse im Gerichtssaal, die sie sodann vor den Augen aller auszieht und mit nacktem Oberkörper dem Richter gegenübertritt. Dieser lässt sie erwartungsgemäß von Polizisten in diesem Zustand aus dem Saal tragen – die Wirkung der sodann im „Spiegel“ veröffentlichten Bilder ist entsprechend2. Aber nicht nur die Justiz, auch die Kirchen tun den marxistischen Aktivisten den Gefallen, sich entsprechend provozieren zu lassen. Dass dabei der Rat der EKD im Bußtagswort auch noch den Schulterschluss mit dem staatlichen Recht für die Durchsetzung (sexual-) moralischer Standards sucht, ist aus der Perspektive der Kritiker eine willkommene Unterstützung ihrer Ziele. Dass die Resonanz für die sexuelle Revolution nicht unwesentlich durch die nach amerikanischem Vorbild über die Illustrierten verbreiteten Nacktphotos und auch über den 1954 und 1955 in Deutschland veröffentlichten Kinsey-Report vorbereitet worden war, wurde dabei nicht weiter diskutiert, ebenso wie der Sachverhalt, dass die DDR sexuelle Freizügigkeit durchaus als Propagandamittel einsetzte. Die Aktivitäten verfehlten ihren Erfolg nicht. Im Umfeld der sexuellen Revolution kam es zur ersten großen Kirchenaustrittswelle und vor allem zu einer sehr nachhaltigen Distanzierung der jüngeren Generation von der Kirche – eine Entwicklung, die bis heute nachwirkt. Doch das Bild wäre nicht vollständig, wenn man nicht auch in Rechnung stellen würde, dass gerade der Protestantismus im Blick auf die Sexualethik eine bemerkenswerte Flexibilität zeigte: Gerade unter den Angehörigen der 1 Vgl. Reich, Revolution; zu Reichs Programm vgl. ausführlicher Anselm, Wilhelm Reich. 2 Vgl. „Brìste“, 24.
Einführung: Sexualität und Fortpflanzung
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jüngeren Generation, also denjenigen Theologen und kirchlich Engagierten, die ihre Ausbildung erst nach 1945 begonnen hatten, veränderte sich die Perspektive schnell. Diese Entwicklung ist auf ein Bündel unterschiedlicher Faktoren zurückzuführen, die sich, obwohl sie untereinander teilweise durchaus widersprüchlich waren, gegenseitig verstärkten: Seitens der akademischen Theologie sind hier zunächst die Entwürfe von Karl Barth und Rudolf Bultmann zu nennen, die zu den maßgeblichen theologischen Lehrern dieser Generation gehörten. Karl Barths im Rahmen der Schöpfungslehre 1951 als Kirchliche Dogmatik (KD) III/4 veröffentlichte Ethik ging hart mit der Vorstellung einer kasuistischen Ethik ins Gericht und öffnete den Blick für die Ausrichtung am Wort Gottes, das aber letztlich nur am Ort des einzelnen Glaubenden wirksam werden könne. Auch wenn sich der Einzelne in seiner Lebensführung also an dem „geformten Hinweis“ des Gebot Gottes zu orientieren habe, gebe es doch immer wieder Grenzfälle, in denen, wie in bestimmten Fällen des Schwangerschaftsabbruchs, die ursprüngliche Aussage des Gebots durch die Situation modifiziert werden müsse. Rudolf Bultmanns existenziale Interpretation des Neuen Testaments legte den Fokus der Schriftauslegung auf die Situation des Einzelnen vor Gott und depotenzierte dementsprechend die Anwendbarkeit von Schriftaussagen für die Gesellschaftsgestaltung. Darüber hinaus sympathisierten einige Theologen dieser Generation mit einem sozialistischen Gesellschaftsideal und fanden von dort Anschluss an die Ideen, wie sie im Umfeld Reichs und dann, später, in der Studentenbewegung vertreten wurden. Schließlich ist in dieser Generation eine verstärkte Hinwendung zu außertheologischen Paradigmen zu erkennen, bei denen die Naturalisierung der Sexualität wie im Kinsey-Report, sowie deren Dekonstruktion in den Sozialwissenschaften Hand in Hand in Richtung Liberalisierung der Sexualethik gehen konnten: Die stärkere Berücksichtigung gesellschaftlicher Einflussgrößen ließ eine Emanzipation des Einzelnen von solchen Fremdbestimmungen als notwendig für die Realisierung der Freiheit erscheinen und kennzeichnete zudem die scheinbar überzeitlich vorgegebenen Normen und Ordnungsmuster als gesellschaftliche Konstrukte. In der Summe bewirkte dies ein Zurücktreten der Plausibilität objektiv fundierter Maßstäbe und eine Verlagerung des Interesses auf die subjektive Perspektive der Betroffenen. Die Hinwendung zum Einzelnen, seiner Situation, seinem Gewordensein und seinen individuellen Gründen für bestimmte Handlungsoptionen bildet den Fokus der gesellschaftlichen Reformdebatten der 1960er und 70er Jahre. Sehr deutlich lässt sich das an der Debatte um die Strafrechtsreform beobachten. Hier verlagert sich der Akzent vom Tat- zum Täterstrafrecht. Nicht die objektiven Straftatbestände sollen im Mittelpunkt der Strafzumessung stehen, sondern die subjektiven Beweggründe. Dementsprechend gilt das Augenmerk auch der Spezial- und weniger der Generalprävention, der Resozialisierung eher als Vergeltung und Sühne. Die Reformen im Ehescheidungsrecht, aber auch hinsichtlich der weitgehenden Straffreistellung der
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Homosexualität sowie in ganz besonderem Maße die Diskussion um die Neuregelung des § 218 lassen sich hier einzeichnen und verdeutlichen je auf ihre Weise diese Verschiebung3. In Kirche und Theologie wiederum bildet sich das nicht nur in einer stärker werdenden Parteinahme für die Reformprojekte ab, sondern auch in einer Konzentration auf die Beratungspraxis. Auch wenn die in jener Zeit angestoßenen Reformprojekte in der Folge zu einer „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas4) der Gesellschaft führen, wäre es doch unzutreffend, diese Verlagerung auf den Einzelnen eindimensional als Akzeptanz der Liberalisierung durch Kirche und Theologie zu deuten. Denn, darauf haben schon in den Debatten um die Strafrechtsreform die Vertreter des Tatstrafrechts hingewiesen, die Konzentration auf den Täter, auf die subjektive Seite bedeutet auch einen Übergriff der öffentlichen Hand und der Kirche auf den Einzelnen. Der Fokussierung auf die subjektive Seite der Lebensführung und die Abwendung von objektiven Figuren eignet daher immer auch ein illiberaler Zug, der Versuch nämlich, die Entscheidung des Einzelnen direkt zu beeinflussen und damit in den Privatbereich seiner Weltanschauungen und Überzeugungen einzudringen. Das Private ist politisch – diese Formel konnte eben nicht nur emanzipativ gespielt werden, sondern auch umgekehrt den Binnenbereich der Persönlichkeit der öffentlichen und kirchlichen Kontrolle preisgeben. Diese Janusköpfigkeit der Konzentration auf den Einzelnen und des Beratungsparadigmas scheint dafür verantwortlich gewesen zu sein, dass die Resonanz all dieser Bemühungen eher verhalten ausfiel und sich faktisch eine Sexualmoral ausbildete, die sich am Ideal der Partnerschaftlichkeit orientierte, sich aber zu den kirchlichen Vorstellungen weitgehend distanziert verhielt.
Literaturverzeichnis Anselm, Reiner : Jüngstes Gericht und irdische Gerechtigkeit. Protestantische Ethik und die deutsche Strafrechtsreform. Stuttgart 1994. –, Wilhelm Reich. Religiöse Theorie der Sexualität, oder : Die erlösende Kraft des Orgasmus. In: Christophersen, Alf / Voigt, Friedemann (Hg.): Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II. München 2009, 221–231. Habermas, Jürgen: Interview mit Angelo Bolaffi. In: Ders.: Die nachholende Revolution (Kleine politische Schriften 7). Frankfurt a. M. 1990, 21–28. Reich, Wilhelm: Die sexuelle Revolution. Frankfurt a. M. 2004. „Und wir zeigen unsere Brìste fìr Jeden“. In: Der Spiegel 23 (1968), H. 51, 24.
3 Vgl. ausführlicher: Anselm, Jüngstes Gericht. 4 Habermas, Interview, 21–28.
Claudia Lepp
Die Kirchen als sexualmoralische Anstalt? Fremdwahrnehmung und Selbstverständnis zwischen Verbotsethik und Beratung
Sexualität und Sexualitätsdiskurse wurden in den letzten Jahren auch für die bundesdeutsche Geschichte als Forschungsobjekte entdeckt1. Zunächst war es die Amerikanerin Dagmar Herzog, die sich in ihrer Studie von 2005 mit der vielfach umgedeuteten Erinnerung an die nationalsozialistische Sexualpolitik in den bundesdeutschen Sexualdiskursen beschäftigte2. Im Jahr 2011 gab Sybille Steinbacher eine Antwort auf die Frage „Wie der Sex nach Deutschland kam.“ Zu Recht sieht sie in der Sexualität ein Feld, auf dem verschiedene Akteure um ihr Verhältnis zu den Transformationsprozessen der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft rangen3. Beide Autorinnen beziehen auch die christlichen Großkirchen als Akteure im Sexualdiskurs in ihre Untersuchungen ein. Jedoch erscheinen sie dort fast ausschließlich und mitunter recht holzschnittartig als Vertreterinnen einer restriktiven, konservativen Sexualmoral. Die Entwicklungen im religiösen Feld lohnen aber durchaus für eine differenziertere Analyse, die sich nicht allein vom Emanzipationsnarrativ leiten lassen sollte. Im Folgenden werden zunächst die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Kirchen in den Debatten über den Wandel sexualmoralischer Normen in der Bundesrepublik während der langen 1960er Jahre untersucht. Daran schließen sich Ausführungen zur Entwicklung der kirchlichen Sexualberatung und -pädagogik an. Abschließend wird mithilfe der Auswertung von demoskopischen Umfragen und statistischem Material der Frage nachgegangen, wie sich im Untersuchungszeitraum Sexualverhalten, kirchliche Sexualmoral und Religiosität zueinander verhielten.
1. Der Sexualdiskurs und die Kirchen Veränderungen im Sexualverhalten sowie die Debatte über die sogenannte sexuelle Revolution setzten nicht erst im letzten Drittel der 1960er Jahre ein4. 1 Einen Forschungsüberblick über die Sexualitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum findet sich bei Bnziger / Stegmann, Politisierungen. 2 Herzog, Politisierung. 3 Steinbacher, Sex, 7 und 347. 4 Vgl. ebd., 10.
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Bereits die letzten Kriegsjahre sowie die unmittelbare Nachkriegszeit waren von einer gewissen sexuellen Freizügigkeit gekennzeichnet5, die ihren Niederschlag auch in den populären Magazinen und der Ratgeberliteratur fand6. Nach der Währungsreform 1948 kam es mit den erotischen Heftchen zu einem ersten Boom des neu entstehenden publizistischen Erotikmarktes. Die Vertreter des Sittlichkeitsparadigmas reagierten darauf mit dem Ruf nach staatlichem Einschreiten gegen „Schmutz und Schund“. Die Rückkehr zur „Sittlichkeit“ im Zuge einer Rechristianisierung wurde von Kirchenvertretern zum Lösungsansatz für die Bewältigung der NS-Vergangenheit sowie der komplizierten Sozialstruktur der Nachkriegszeit erklärt7. Der Vorschlag zu dem 1953 verabschiedeten „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften“ kam Ende 1949 vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, den politischen Entscheidungsprozess trieben die Katholiken voran8. In der breiten Bevölkerung, deren Lebensstandard sich ab Anfang der 1950er Jahre allmählich verbesserte, war der soziale Rückhalt für das mit viel Krisensemantik befeuerte Sittlichkeitspostulat allerdings gering9. 1953 setzte in der Bundesrepublik die Presseberichterstattung über den Kinsey-Report ein. Der US-amerikanische Sexualforscher Alfred Charles Kinsey besetzte Sexualität semantisch neu: die „befreite Sexualität“ des Individuums stand nun für eine fortschrittliche und liberale Gesellschaft10. Die Empörung über Kinsey schlug hohe Wellen, in ihr entluden sich auch antiamerikanische, kulturkritische Ressentiments11. Soziologische Argumentationshilfe erhielten die Gegner Kinseys von Helmut Schelsky. Der bekannte Soziologe unterstrich die „lebenswichtige Funktion der Moral im sexuellen Verhalten für den einzelnen und die Gesellschaft“ und sprach von der Aufgabe, „neue Traditionen zu begründen“12. Damit war er vor allem für reformorientierte Kirchenvertreter anschlussfähig, die sich gegen überzeitliche sexualethische Normen ebenso wandten wie gegen eine rein naturwissenschaftlich-biologische Sicht auf die Sexualität13. Konsequent vermarktet wurde der von Kinsey verkündete Fortschritt einer „befreiten Sexualität“ von der Unternehmerin Beate Uhse, die einen Siegeszug der Erotikindustrie einleitete, den ein ganzes Netzwerk von Ämtern aufzuhalten suchte14. Zur gleichen Zeit flossen unter Konrad Adenauer und seinem katholischen Familienminister 5 Vgl. Herzog, Politisierung, 83–125. 6 Vgl. Hannig, Religion, 274. 7 Steinbacher, Sex, 349; laut Herzog rückte das Thema Sexualität in den Mittelpunkt der Bemühungen, den Faschismus – und seine Niederlage – zu bewältigen. Vgl. Herzog, Politisierung, 83, 93–97. 8 Vgl. Herzog, Politisierung, 135, 140. 9 Vgl. Steinbacher, Sex, 350. 10 Vgl. ebd., 354. 11 Vgl. ebd., 353. 12 Schelsky, Soziologie, 9. Zu Schelsky vgl. auch Steinbacher, Sex, 221–231. 13 Vgl. u. a. Diskussionsbeitrag. 14 Vgl. Steinbacher, Sex, 355, und Keil, Fragen, 333.
Die Kirchen als sexualmoralische Anstalt?
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Franz Josef Wuermeling betont konservative christliche Vorstellungen von Sexualität, Geschlechterrollen und Familienpolitik in die deutsche Gesetzgebung ein. Auch die Medien traten in dieser Zeit der kirchlichen und staatlichen Normierung der individuellen Lebensführung nicht nennenswert entgegen15. Die katholische Presse und Traktatliteratur vermittelte unterdessen rigide Sexualvorschriften insbesondere für junge Frauen16. Der „verbale Sexualkonservativismus“17 der 1950er Jahre ging allerdings nur begrenzt mit dem Sexualverhalten der Menschen konform18. Wie aber sah in dieser Zeit die evangelische Sexualethik abseits der Barrikaden des Sittlichkeitskampfes aus? Im Evangelischen Soziallexikon von 1954 begann der Artikel „Sexualethik“ mit dem Satz: „Wir stehen mitten in einer Umwandlung der Auffassung des Geschlechtlichen“19. Etwas weiter hieß es: „Die sexuelle Revolution mit all ihren Erscheinungen, der Proklamierung des vorehelichen Geschlechtsverkehrs, der Betonung der Notwendigkeit sexueller Betätigung, dem Anspruch auf gleiches Recht für die gleichgeschlechtl[ich] Eingestellten machte eine intensive Beschäftigung mit diesen Phänomenen notwendig.“20 Der Autor Guido Groeger war Arzt, Psychotherapeut und Theologe und seit 1951 in Düsseldorf maßgeblich am Aufbau der evangelischen Erziehungs-, Ehe- und Lebensberatung beteiligt. Er lehnte es ab, der diagnostizierten „Sexualisierung“ der Gegenwart mit einer „Verdammung“ zu begegnen. Eros und Sexus zählte er zu den „guten Gaben“ Gottes. Die augustinische Verbindung von Sexualität und Sünde war hier also aufgegeben. Dem Geschlechtlichen komme, so Groeger, vielmehr ein „hoher Wert“ zu, doch müsse die Kirche dem Menschen „zu einer Einordnung der geschlechtl[ichen] Kräfte in Person und Leben“ verhelfen21. Sexualität wurde von Groeger nicht als biologischer, sondern als „personaler Vorgang“ gedeutet, der allein in der Ehe zu vollziehen sei. Es blieb also bei der Ehezentrierung der christlichen Sexualethik. Eindeutige Ablehnung erfuhren in dem Artikel vorehelicher Geschlechtsverkehr, Promiskuität, Prostitution, Abtreibungen und außereheliche Verhältnisse. Bei den Themen Selbstbefriedigung, uneheliche Mutterschaft, Homosexualität und Geburtenregelung waren die Positionen laut Groeger im Fluss. Insgesamt liest sich der Artikel wie ein tastender Versuch, sexualmoralische Wandlungsprozesse zumindest partiell sexualethisch konstruktiv zu erfassen. In die überarbeitete Fassung des Soziallexikons von 1963 wurde der Text unverändert übernommen. Seit Mitte der 1960er Jahre nahm die Kommerzialisierung von Sexualität in Medien und Werbung immens zu. Gleichzeitig ging das sexuelle Fort15 16 17 18 19 20 21
Vgl. Hannig, Religion, 279. Vgl. Grossbçlting, Himmel, 40. Vgl. ebd., 38. Vgl. Hannig, Religion, 280–283. Groeger, Sexualethik, 897. Ebd., 899. Ebd.
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schrittsparadigma in die Selbstfindung der kritischen Öffentlichkeit ein und stand dort für die Ablehnung autoritärer Bevormundung in Fragen der Lebensführung22. Die Medien sprachen vor allem dem amtskirchlichen Katholizismus zunehmend Richtlinienkompetenzen im Bereich der Sexualität ab und brandmarkten ihn als einen Störfaktor für die moderne Gesellschaft23. Im Kampf um eine freizügigere Sexualmoral wurde nun auch der Nationalsozialismus mit der Unterdrückung von Sexualität in Verbindung gebracht24. Hatten in den frühen Nachkriegsjahren konservative Christen sich und ihre restriktive Sexualmoral noch als Antithese zum Nationalsozialismus und dessen Sexualmoral inszenieren können, stellte z. B. das Nachrichtenmagazin Der Spiegel 1966 Christen und Nationalsozialisten als Gegner sexueller Freiheit in eine Reihe25. Für die Neue Linke, die APO und die Studentenbewegung, die alle Themen rund um die Geschlechterbeziehungen radikal politisierten, galt die „sexuelle Befreiung“ als „antifaschistisches Gebot“26. Mit den Vorgängen, die in der Forschung als Medialisierung, Kommerzialisierung und Politisierung von Sexualität bezeichnet werden, war dem Sexualkonservativismus bis Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik der Boden entzogen27 und hatten die Kirchen ihre bestimmende Rolle im Sexualdiskurs verloren. In den Siebzigern kehrte die Debatte um die kirchliche Sexualmoral nur noch episodisch in die breite Mediendiskussion zurück28. Wie aber agierten der Protestantismus und der Katholizismus im bundesdeutschen Sexualdiskurs der 1960er Jahre und wie verlief er in ihren eigenen Reihen? Mitte des Jahrzehnts gingen noch einmal die christlich-konservativen Sittlichkeitswächter in die Offensive. Mit Unterstützung der katholischen Kirche formierte sich 1964 die „Aktion Saubere Leinwand“, um gegen den vermeintlichen Niedergang der Kultur zu mobilisieren29. Die Forderung, die tradierte Sexualmoral mit Hilfe einer Grundgesetzänderung und Polizeieinsätzen zu verteidigen, stieß aber sowohl in der Presse als auch in der Politik auf Bedenken. Sittlichkeit als Norm war gesellschaftlich nicht mehr nachhaltig reaktivierbar30. Anders als noch zu Beginn der 1950er Jahre lehnte der Staat einschränkende Gesetze ab. Neben der Sexualisierung der Medien stellte für katholische Sittenwächter auch die seit 1961 in Deutschland erhältliche Antibabypille eine Bedrohung der gesellschaftlichen Moral dar31.
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Steinbacher, Sex, 356. Vgl. Hannig, Religion, 272, 304. Vgl. Herzog, Politisierung, 165. Vgl. ebd., 168. Ebd., 191. Ebd., 173. Vgl. Hannig, Religion, 300. Vgl. Steinbacher, Sex, 289–295. Vgl. ebd., 294. Vgl. Silies, Lebensführung, 211.
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Konservative Moralpolitik wurde Mitte der 1960er Jahre auch noch auf protestantischer Seite betrieben. So findet sich das Sittlichkeitsparadigma im Wort des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland zum Buß- und Bettag am 18. November 1964. Dessen Kernsatz lautete: „Wir sind in der Gefahr, unter die Diktatur der Unanständigkeit“ zu geraten32. Kurz darauf gründete sich, befürwortet von mehreren Bischöfen, die „Aktion Sorge um Deutschland“, die das deutsche Volk von einer „Flut dämonischer Kräfte überschwemmt“ sah33. Potenziert findet sich deren apokalyptische und völkische Rhetorik in den Schriften der Oberin der Evangelischen Marienschwestern in Darmstadt, Clara (Mutter Basilea) Schlink, die fünfstellige Auflagenzahlen erzielten34. Dieser Vorstoß der Vertreter einer repressiven Sexualmoral blieb innerprotestantisch nicht unwidersprochen. In den Kontroversen zeigte sich dabei eine innerprotestantische Polarisierung, wie sie zeitgleich auch in den Auseinandersetzungen um die Bibelexegese und die sogenannte Politisierung der Kirche zu finden war. Die Frontlinien liefen parallel und es gab personelle Überschneidungen35. In den Auseinandersetzungen setzten beide Seiten die NS-Vergangenheit argumentativ gegen ihren jeweiligen Gegner ein. Die evangelische Presse reagierte auf die „Aktion Sorge um Deutschland“ überwiegend mit Ablehnung. Der Publizist Eberhard Stammler deutete die Aktion als Teil einer Auseinandersetzung zwischen den Anhängern einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung und denen einer autoritären Ordnung36. Der Vorstand der Konferenz für evangelische Familien- und Lebensberatung warnte vor einer „Diktatur der ,Anständigen‘“37. Ende Juli 1965 schaltete sich der Deutsche Evangelische Kirchentag in den laufenden Sexualdiskurs ein. In seinen Referaten und Diskussionen spiegelten sich die damaligen Themen und Positionen der evangelischen Sexualethik in der Bundesrepublik wider38, die Impulse aus der internationalen Diskussion um eine „New morality“ und die Situationsethik erhalten hatte39. Zwei einflussreiche Vertreter der deutschen 32 Wort, 113. 33 Aufruf, 88. 34 Vgl. u. a. Schlink, Keiner; dies., Mitmenschlichkeit; dies. / Baginski, Tatsachen. Zu den Auflagezahlen vgl.: Ringeling, Bibel, 188 f. 35 Auf konservativer Seite ist z. B. der Erlanger Theologe Walter Künneth zu nennen. Die inhaltlichen und personellen Zusammenhänge werden auch deutlich durch das Schreiben der Konferenz der Bekennenden Gemeinschaften in Deutschland an den Bundespräsidenten u. a. gegen die Teilfreigabe der Pornographie. In: Kirchliches Jahrbuch 98, 1971, 157–159. 36 Stammler, Gefahr, 67. 37 Stellungnahme, 354. 38 In Arbeitsgruppen wurden folgende Referate gehört und diskutiert: „Gesellschaftsstruktur und Geschlechtsverhalten“ (Siegfried Keil); „Die neue Einstellung der Christen heute zur Ehe“ (Madeleine Barot); „Was sagt die Bibel zur Liebe?“ (Hermann Ringeling); „Verantwortete Geschlechtlichkeit“ (Rudolf Affemann); „Verantwortliche Elternschaft“ (Richard Kepp). Vgl. Deutscher Evangelischer Kirchentag. 39 Vgl. u. a. Robinson, morals.
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Diskussion waren der Theologe Hermann Ringeling40 und der Theologe und Soziologe Siegfried Keil41. Beide rezipierten human- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien42 und machten den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess mit seinen gesellschaftsstrukturellen Veränderungen zur Grundlage ihrer sexualethischen Überlegungen. In der kirchlichen Haltung zur Sexualität sahen sie ein Indiz für deren Ablehnung oder Akzeptanz der demokratischen und pluralen Gesellschaft43. Beide trennten Sexualität und Generativität und vertraten ein ganzheitliches und personales Verständnis von Sexualität. Keil sprach in Anlehnung an den Sozialethiker Dietrich von Oppen und sein 1960 erschienenes Buch über „Das personale Zeitalter“ von einer „Personalisierung der Sexualität“44. Ausgangpunkt aller Reformbemühungen blieb aber sowohl für Keil als auch für Ringeling die monogame und auf Dauer angelegte Ehe. Gegen eine statische Ordnungstheologie wollte Keil zwischen normativer und Situationsethik vermitteln und drängte auf eine Überordnung des Liebesgebotes über die einzelnen biblischen Weisungen45. Ausgehend von strukturfunktionalistischen Ansätzen ging es ihm darum, die Institution Ehe so zu reformieren, dass sie in den veränderten gesellschaftlichen Kontexten ihre Funktion erfüllen konnte46. Konkret schlug er vor, „der öffentlichen Verlobung“ unter der Voraussetzung einer „verantwortlichen Empfängnisverhütung“ den „Sinn eines institutionalisierten Schutzraumes für den Geschlechtsverkehr (aus äußerlichen Gründen) noch nicht verheirateter Paare“ zuzusprechen47. Damit stellte er sich nicht nur gegen geltendes Strafrecht, sondern widersprach auch dem Theologen Helmut Thielicke, der in seiner viel gelesenen Sexualethik den vorehelichen Geschlechtsverkehr als Vergnügen ohne Verantwortung abwertete48. Noch negativer wurde er in der Ordnung des kirchlichen Lebens in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern vom 18. Mai 1966 bewertet, wo es hieß: „Wer sich durch das verführerische Leitbild der sexuellen Freizügigkeit bestimmen läßt, gefährdet zudem seine Gemeinschaft mit Gott, seine künftige Ehe und die Ehen anderer.“49 Die voreheliche Sexualität war das zentrale Thema der protestantischen sexualethischen Debatte, die 1966 und 1967 in der Bundesrepublik ihre Hochzeit erlebte50. 40 Ringeling, Ethik; ders., Bibel; ders., Theologie. 41 Keil, Fragen; ders., Sexualität; ders., Rollen. 42 Keil war insbesondere von der amerikanischen, vom Strukturfunktionalismus geprägten sozialwissenschaftlichen Forschung beeinflusst. Vgl. ders., Fragen, 335; Haspel, Person, 45. 43 Vgl. Keil, Sexualethik, 171. 44 Keil, Sexualität, 186 ff. 45 Vgl. Haspel, Person, 49. 46 Vgl. ebd., 48 f. 47 Keil, Fragen, 346 f. 48 Thielicke, Ethik, 727. 49 Ordnung, 27. 50 Neben den Arbeiten von Keil und Ringeling vgl. u. a. folgende Buchpublikationen: Goldstein,
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Im Katholizismus äußerten sich seit dem ersten Drittel der 1960er Jahre reformerische Stimmen in Bezug auf die Ehelehre. 1963 sprach sich der Mainzer Weihbischof Josef Maria Reuss dafür aus, dass Ehepaare eigenverantwortlich über Verhütungsmethoden entscheiden sollten51. Ein Jahr später ließ der Kölner Kardinal Frings in seinem Bistum eine „Ehebelehrung“ verlesen, in der die Ehezwecke Liebesgemeinschaft und Fortpflanzungsgemeinschaft gleichrangig aufgeführt wurden52. In der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde neben dem Fortpflanzungszweck erstmals die gegenseitige personale Liebe der Ehepartner als eigenständiger Sinngehalt der Ehe anerkannt und Sexualität als Ausdrucksmedium dieser Liebe gewürdigt53. Zur Frage der Empfängnisberatung äußerte sich das Konzil nicht, da der Papst die Entscheidung hierzu an sich gezogen hatte54. Die reformerischen Stimmen im Protestantismus und Katholizismus wurden auch in den Massenmedien wahrgenommen55 und mitunter sogar für eine Rechtfertigung der gesellschaftlichen Neubewertung von Sexualität herangezogen56. Für negative Schlagzeilen sorgte hingegen das am 25. Juli 1968 von Papst Paul VI. erlassene Lehrschreiben „Humanae vitae“57. Die katholische Kirche berief sich gerade auch hinsichtlich der Sexualität auf die Zuständigkeit des Lehramtes. In der sogenannten „Pillenenzyklika“ verbot der Papst alle Sexualpraktiken, die nicht der Fortpflanzung dienten, und untersagte den Gebrauch empfängnisverhütender Mittel. Auf dem deutschen Katholikentag erklärte aber die Mehrheit der Teilnehmer, den Gehorsamsforderungen in Bezug auf die lehramtlichen Aussagen zur Empfängnisverhütung nicht folgen zu können58. Theologen und Laienpresse kritisierten die fehlende biblische Grundlage von „Humanae vitae“59. Die deutschen Bischöfe schwächten in ihrer „Königssteiner Erklärung“ das päpstliche Gehorsamsgebot dahingehend ab, dass sie auf die „Letztverantwortlichkeit des persönlichen Gewissens verwiesen“60. Die Gläubigen sollten sich jedoch ernsthaft um die Aneignung der Lehre bemühen. Die katholischen Weisungen für das eheliche Geschlechtsleben stießen jedoch bei vielen Katholiken auf zuneh-
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Beziehung; Wrage, Mann; Christen und die Unmoral der Zeit; Thielicke, Sex; Scharfenberg, Reife; Barczay, Revolution; Sex und Moral. Vgl. Grossbçlting, Himmel, 115. Vgl. ebd. Gruber, Sexualmoral, 1260. Vgl. ebd. Vgl. z. B. den Spiegel-Artikel „Freude im Haus“, in dem Keils Positionen referiert und diskutiert wurden, oder den Stern-Artikel „Sex soll nicht mehr Sìnde sein“. Vgl. Hannig, Religion, 293. Vgl. zum Folgenden Silies, Lebensführung; Grossbçlting, Himmel, 110–115. Zur europäischen Diskussion vgl. McLeod, Crisis, 166–169. Grossbçlting, Himmel, 112. Silies, Lebensführung, 213. Gabriel, Aufbruch, 534.
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mend geringere Akzeptanz. Dieser Dissens wurde nunmehr öffentlich diskutiert. Die Massenmedien kolportierten eine katholische Autoritätskrise61. Und tatsächlich ging es im Kern der scharfen innerkatholischen Auseinandersetzung um die lehramtliche Autorität, den Anspruch auf eine selbst verantwortete Lebensführung sowie das Mitspracherecht der Laien in der Kirche. Ein weiterer Grundsatzstreit, der im Zusammenhang mit der Sexualmoral geführt wurde, kreiste um das Verhältnis von Recht und Moral und damit auch um Staat und Kirche. Die Pläne zur Reform des Eherechts und bestimmter Teile des Strafrechts brachten konservative Kirchenvertreter beider Konfessionen auf den Plan und führten zur Veröffentlichung der ersten evangelischkatholischen Ausarbeitung in der Geschichte der Bundesrepublik62. Obwohl es sich nicht um eine offizielle Erklärung der beiden Kirchen handelte, unterstützten der Ratsvorsitzende Landesbischof Hermann Dietzfelbinger und der Vorsitzende der Bischofskonferenz Kardinal Julius Döpfner im Vorwort die Zielsetzung der Schrift. Darin bekundeten die Autoren zwar Verständnis für ein positiveres Verhältnis zur Sexualität und den „modernen Weltanschauungs- und Gesinnungspluralismus“63, forderten aber doch faktisch vor dem Hintergrund des katholischen Naturrechtsdenkens und des protestantischen Staatsverständnisses von der Bundesregierung, „die christliche Sittlichkeit zur Leitlinie seiner Gesetzgebung [zu] machen“64. Andernfalls drohe „die totale Unfreiheit ideologischer Verstrickungen“65, denn die Verfechter der „sexuellen Revolution“ verfolgten, so die Textautoren, eine „gesellschaftliche Revolution umfassender Art“66. Innerkirchlich lösten die fehlende Autorisierung, der Duktus und der Inhalt der im Dezember 1970 in hoher Auflage veröffentlichten Broschüre nur innerhalb des Protestantismus eine scharfe Kontroverse aus67. Im Katholizismus kam es zu keiner Neuauflage des Streits von 1968. Während der Text in der Presse durchgehend negativ beurteilt wurde68, stieß er in Bonner Kreisen kaum auf offene Kritik69. Zwei Monate nach dem Text „Das Gesetz des Staates und die Sittliche Ordnung“ erschien die EKD-Denkschrift zu „Fragen der Sexualethik“70. Bereits die beiden Titel verdeutlichen die Differenz in Ansatz und Zielsetzung der Texte. Die Denkschrift war das Ergebnis jahrelanger Arbeit einer Kommission, die der Rat der EKD im Juni 1965 angesichts einer identifizierten „Unsicher61 62 63 64 65 66 67
Vgl. Hannig, Religion, 295–298, hier 296. Vgl. hierzu und zum Folgenden Mantei, Nein, 61–96 sowie Anselm, Gericht, 150–158. Das Gesetz des Staates, 117, 121. Anselm, Gericht, 151. Das Gesetz des Staates, 117. Ebd., 122. Vgl. Anselm, Gericht, 150, 158; zu den innerkirchlichen Reaktionen vgl. Mantei, Nein, 76–88. Konzentriert lassen sich die Proteste der Schrift „Das Gesetz der Moral und die staatliche Ordnung“ entnehmen. 68 Vgl. Mantei, Nein, 67 f. 69 Vgl. ebd., 75. 70 Denkschrift.
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heit“ sowie „gegensätzlicher Auffassungen in Grundfragen der Sexualethik“ im protestantischen Raum eingerichtet hatte71. In der Kommission waren alle sexualethischen Positionen vertreten72. Unter den 24 Kommissionsmitgliedern waren Theologen, Soziologen, Juristen, Mediziner, Pädagogen, Psychologen und Psychoanalytiker. Mehrheitlich arbeiteten sie in kirchlichen Einrichtungen wie Beratungsstellen für Erziehungs-, Ehe- und Lebensfragen und Ausbildungsstätten für kirchliche Mitarbeiter73. Durch diese Mitglieder flossen Praxiserfahrungen mit dem bundesdeutschen Sexualverhalten in die Entwicklung einer neuen evangelischen Sexualethik ein. Auch Guido Groeger, Siegfried Keil und Hermann Ringeling gehörten der Kommission an. Den Vorsitz hatte der Mediziner Karl Horst Wrage, Leiter des Sozialmedizinischen Amtes der Hannoverschen Landeskirche und geschäftsführender Vorsitzender der Konferenz für evangelische Familien- und Lebensberatung. Seine Zielsetzung für die Kommission war eine konstruktive sexualethische Stellungnahme zur gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik74. In den Kommissionsdiskussionen erwiesen sich folgende Punkte als strittig: das Verhältnis von Norm und Liebesgebot, die Frage der Verbindlichkeit biblischer Aussagen angesichts des hermeneutischen Problems, die Wertung der Ehe als Ordnung oder als Institution, Normative Ethik versus Situationsethik sowie ganz konkret die Bewertung des vorehelichen Geschlechtsverkehrs. Einig war man sich hingegen darin, dass die Denkschrift im Unterschied zur päpstlichen Enzyklika „den Tenor der evangelischen Freiheit zur persönlichen Verantwortung des Einzelnen tragen und jede Gesetzlichkeit vermeiden“ sollte75. Man wollte „dem einzelnen Befreiung zu eigener Entscheidung bringen“76. Die beteiligten Mitarbeiter aus den Beratungsstellen versuchten die Denkschrift in Analogie zu einem Beratungsgespräch als „eine problemklärende Beschreibung der Realität unter dem Gesichtspunkt der ,Lebensförderlichkeit‘“ als ethischem Maßstab zu konzipieren77. Die Denkschrift sollte christliche Orientierungshilfe für die individuelle Lebensführung und nicht kirchliche Vorgabe für staatliche Ordnungspolitik sein. Beratung anstelle von Verbotsethik war die protestantische Antwort auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der 1960er Jahre, wobei
71 Vgl. Wilkens an die Mitglieder des Rates der EKD, 26. 5. 1965; Protokoll der Sitzung des Rates der EKD am 17./18. 6. 1965 (EZA Berlin, 2/2730). 72 Wilkens an Wolfgang Schrage, 26. 1. 1966 (EZA Berlin, 2/2730). 73 Vgl. Keil, Sex. 74 Wrage an Wilkens, 27.9.65 (EZA Berlin, 2/2730). 75 Anlage 1 zum Protokoll der Sitzung vom 19.–21. 12. 1968: Betr. Besprechung mit dem Herrn Ratsvorsitzenden Landesbischof D. Dietzfelbinger am 2. 12. 1968 in Hannover (EZA Berlin, 81/ 3/75). 76 Niederschrift über die Sitzung der sexualethischen Kommission am 27./28. 2. 1967 in Ost-Berlin (EZA Berlin, 81/3/74) 77 Keil, Sex.
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Reiner Anselm zu Recht darauf hingewiesen hat, dass auch der Beratung ein normierendes Interesse inhärent sein kann78. Doch zunächst wurde Anfang September 1969 das Memorandum „Chancen der Ehe heute“ der Sexualethischen Kommission der ostdeutschen Gliedkirchen abgeschlossen79. Die Entscheidung, eine eigene Ostkommission zu gründen, war 1965 aus sachlichen Gründen gefallen: Die divergierenden gesellschaftlichen Kontexte wirkten sich auch auf sexualethische Themen aus. Aufgrund der Entwicklungen in der DDR waren für die ostdeutschen Kirchen zu diesem Zeitpunkt Indikationsfragen vorrangig80. Allerdings tagten die West- und die Ostkommission mehrmals gemeinsam in Ost-Berlin, um grundsätzliche Fragestellungen zu diskutieren. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass sich die geplanten Texte in ihrer sexualethischen Substanz nicht widersprachen81. Die Ostsektion strebte von der Anlage und dem Ziel ihrer Arbeit eine Ehekasuistik im Kontext der sozialistischen Gesellschaft der DDR an82. Sie setzte die monogame Ehe voraus, während die westliche Kommission ihren Ausgangspunkt von der Sexualität nahm und die Einehe zu begründen suchte. Damit setzte die bundesdeutsche Kommission „die Relativierung der Normen trotz Ehegesetzgebungen voraus.“83 Sie wollte alle Bereiche, in denen Sexualität eine Rolle spielt, zusammengefasst abhandeln und nahm daher zu folgenden Themen Stellung: Mann und Frau, Ehe, Ehelosigkeit, Sexualverhalten in der Jugend, Empfängnisregelung, Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation, Instrumentelle Besamung, Adoption und Pflegeverhältnis, sexuelle Perversionen, Homosexualität, allgemeine Beziehungen von Mann und Frau in der Gesellschaft sowie Geschlechtererziehung. Als Beziehungsideal wurde die heterosexuelle, partnerschaftliche Ehe definiert. Die Übertragung von Konsum- und Leistungskategorien in den Bereich des Sexuellen lehnte man mit kulturkritischer Tendenz ab84. Sexualität wurde aber auch nicht mehr von ihrer generativen Funktion her beurteilt. Empfängnisverhütung erschien insbesondere zur Familienplanung als legitime und empfohlene Praxis. Beim Thema vorehelicher Geschlechtsverkehr wurden auf der gemeinsamen Basis der „personalen Gemeinschaft“ dissentierende Positionen innerhalb der evangelischen Kirche aufgeführt, ohne dass die Mehrheitsverhältnisse in der Kommission erwähnt wurden. Insgesamt spiegelte die Denkschrift eine gewisse innerprotestantische Pluralität in sexualethischen
78 Vgl. Anselm, Einleitung, 284. 79 Das Memorandum, das in der DDR für den innerkirchlichen Gebrauch bestimmt war, wurde in der Bundesrepublik im Anhang der EKD-Denkschrift abgedruckt. 80 Protokoll der Sitzung des Rates der EKD am 17./18. 6. 1965 (EZA Berlin, 2/2730). 81 Niederschrift über die Sitzung der sexualethischen Kommission in Berlin (Ost) am 10. 10. 1967 (EZA Berlin, 2/2731). 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Dies kann als eine Form von Konsumkritik gelesen werden. Vgl. Oelke, Grenzenlos, 151.
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Fragen wider und ist zugleich ein Indiz dafür, dass die reformerischen Stimmen an Gewicht gewannen. Die Denkschrift war das Ergebnis eines langen Einigungsprozesses innerhalb der Kommission85 sowie von mehrfachen Überarbeitungen auf Wunsch des Rates86. Erst die zehnte Fassung wurde vom Rat zur Veröffentlichung freigegeben, wenn auch nicht in seinem Namen87. Insbesondere der Ratsvorsitzende Dietzfelbinger hatte tiefgreifende Bedenken geäußert88. In der Presse wurde die Denkschrift tendenziell positiv aufgenommen89, erregte aber lange nicht so viel Aufmerksamkeit wie die christlich-konservative Schrift „Das Gesetz des Staates und die Sittliche Ordnung“. Während sie im medialen Sexualdiskurs eine weniger spektakuläre Rolle spielte, stieß die Denkschrift im Bereich der evangelischen Jugendarbeit, der Ehe-, Familien- und Erziehungsberatung sowie in der Religionspädagogik auf nachhaltiges Interesse90, d. h. sie wurde überall dort rezipiert, wo man kirchlicherseits mit sexualethischen Themen in der Praxis konfrontiert war. Im Juni 1971 waren 45.000 Exemplare verkauft91.
2. Kirchliche Sexualberatung und Sexualpädagogik Die Anfänge der institutionalisierten konfessionellen Eheberatung reichen in die Zwischenkriegszeit zurück. In dieser Phase war die Beratung vornehmlich psychiatrisch, sexualpathologisch, erbhygienisch und juristisch ausgerichtet92. Nachdem die katholischen und evangelischen Beratungsstellen während der NS-Herrschaft ihre Tätigkeit einstellen mussten93, wurde die konfessionelle Beratungsarbeit in der Nachkriegszeit erneut aufgebaut94 und vor allem seit den 1960er Jahren als psychosoziale Beratung massiv ausgebaut. Die christlichen Konfessionen reagierten damit auf gesellschaftliche Veränderungen im Bereich von Sexualität, Geschlechterverhältnissen und Familienstrukturen, die individuellen Beratungsbedarf hervorbrachten und mit 85 Vgl. Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Rates der EKD vom 10. 6. 1970 (EZA Berlin, 2/14319). 19 der 22 Kommissionsmitglieder stimmten der Letztfassung der Denkschrift zu. 86 Der Rat selbst befasste sich auf einer Klausurtagung im Juni 1970 selbst intensiv mit der Studie. 87 Auszug aus dem Protokoll der Ratssitzung vom 13./14. 1. 1971 (EZA Berlin, 2/14320). 88 Am 6. 7. 1970 sandte er an das Kirchenamt 11 Seiten mit Anmerkungen zur Denkschrift (EZA Berlin, 81/3/76). Dietzfelbinger konnte krankheitsbedingt an der entscheidenden Ratssitzung im Januar 1971 nicht teilnehmen. 89 Eine Zusammenstellung der Artikel findet sich im EZA Berlin, 81/3/78. 90 Schreiben Hammers an die Ratsmitglieder, 27. 4. 1971 (EZA Berlin, 81/3/78). 91 Liebe, 136. 92 Groeger, Geschichte, 7. 93 Groeger, Eheberatung, 1980, 266. 94 Vgl. hierzu für den evangelischen Bereich: Kaminsky / Henkelmann, Beratungsarbeit, 92–95; für beide Kirchen: Fischer, Dienst, 141–159; Kuller, Familienpolitik, 231–236.
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dessen Befriedigung die Kirchen weiterhin Einfluss auf die Lebensführung ihrer Mitglieder zu nehmen versuchten. Dies taten sie indes in Konkurrenz mit anderen „Ratgebern“. Vor allem auf katholischer Seite, wo die Beratungsarbeit zunehmend in amtskirchliche Verantwortung überging95, wurde Beratung zu einer Bewältigungsstrategie für die sogenannte sexuelle Krise mit dem Ziel des Aufhaltens bzw. einer Umkehrung gesellschaftlicher Entwicklungen im Bereich von Ehe, Familie und Sexualität96. Seit den späten 1960er Jahren entwickelte sich die therapeutische Praxisform dann auch zu einer Bewältigungsstrategie für die „Krise der Vergesellschaftung von Religion“97. Im Jahr 1971 wurden von circa 350 Ehe-, Familien und Lebensberatungsstellen insgesamt 180 von Organisationen der katholischen Kirche und 125 von den evangelischen Landeskirchen unterhalten98. Die Beratungsstellen waren in der Regel mit jeweils mehreren haupt- und nebenamtlichen Beratern besetzt. Außerdem verfügten sie über ein Fachberaterteam aus Ärzten, Juristen, Psychologen, Psychotherapeuten, Pädagogen und Theologen99. Damit wurden Vertreter der Wissenschaften integriert, die seit den 1950er Jahren allmählich die Deutungsmacht in Sexualfragen übernahmen: Psychologen, Sozialpädagogen und Soziologen. Mehr als die Hälfte der Themen, wegen derer eine große Eheberatungsstelle in den Jahren 1957 bis 1961 aufgesucht wurde, betrafen die Sexualität, davon 26,7 % das Sexualleben in der Ehe und 24 % die sexuelle Untreue100. Im Wesentlichen bediente sich die Eheberatung folgender Methoden: Einzel- und Paarberatung, Gruppenberatung (Verlobte, Eltern, Ehepaare), öffentliche Vorträge oder Vortragsreihen101. In der Einzel- und Paarberatung ging der Trend während der 1960er Jahre zur psychologischen Arbeit102. Dabei veränderte sich auch der Umgang mit den Beratungssuchenden: der Berater fühlte sich „seinem Klienten“ nun „in einer Art Partnerschaft auf Zeit verbunden“103. Eberhard Hauschildt kennzeichnet diesen Wandel als den Wechsel von der Beratung als „Verkündigung“ zur Beratung als „Dialog“104. Innerkirchlich ordnete sich die evangelische Eheberatung in erster Linie der Seelsorge zu, zusätzlich bestand ein Bezug zur Diakonie105. Die Verhält95 Kaminsky / Henkelmann, Beratungsarbeit, 103; Kuller, Familienpolitik, 234. 96 Dies ist auch der Befund von Christiane Kuller mit Blick auf den katholischen Familienbildungsplan der „Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung“ aus dem Jahr 1967. Vgl. Kuller, Familienpolitik, 235 f. 97 Vgl. Ziemann, Bewegung, 393. 98 Junker / Struck, Familienberatung, 27. 99 Ebd., 27. 100 Groeger, Eheberatung, 1963, 278. 101 Vgl. Groeger, Eheberatung, 1963, 279. 102 Groeger, Eheberatung, 1980, 266. In der katholischen Kirche setzte sich die psycho-soziale Beratung während der 1970er Jahre auf breiter Front durch. Vgl. Ziemann, Bewegung, 380. 103 Junker / Struck, Familienberatung, 26. 104 Vgl. Hauschildt, Familienberatung, 261. 105 Groeger, Eheberatung, 267.
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nisbestimmung von Beratung und Theologie entwickelte sich im protestantischen Bereich seit den 1960er Jahren zu einem Dauerthema106. Auf katholischer Seite gab es hingegen die normativ-kirchliche Vorgabe, die katholische Morallehre in der Beratung unverkürzt zur Geltung zu bringen107, was dem Ideal einer ergebnisoffenen Beratung widersprach. In der Praxis wurde diese Direktive aber auch in katholischen Beratungsstellen unterlaufen108. Bereits seit Anfang der 1950er Jahre galt die Sexualpädagogik als Bestandteil der evangelischen Eheberatung und damit als „direkte evangelische Aufgabe“109. Als „Geschlechtserziehung“ wollte sie mehr sein als biologische Aufklärung110 ; sie ging vielmehr von einer personalen, einer sozialen und einer ehelichen Geschlechtsbedeutung aus, die den Jugendlichen vermittelt werden sollte. Der evangelischen „Geschlechtserziehung“ lag ein binäres Geschlechtssystem zugrunde, in dem das biologische und das soziale Geschlecht heterosexuell normiert waren. In dieses Geschlechtssystem galt es die Jugendlichen einzuüben. Dabei zielte man indes zunehmend auf ein partnerschaftlich gestaltetes sexuelles Geschlechterverhältnis. Während der 1960er Jahre erwies sich das religiöse Feld als eine treibende Kraft im Bereich der „Geschlechtserziehung“. So hatten die konfessionellen Jugendorganisationen Anteil daran, dass 1959/60 in den 10. Bundesjugendplan eine Abteilung „Vorbereitung auf Ehe und Familie“ aufgenommen wurde, die Gelder für Forschung und Aktivitäten in diesem Bereich zur Verfügung stellten111. Aus diesen Mitteln finanzierte die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland einen Studienauftrag zur Evaluation der bisherigen kirchlichen „Geschlechtserziehung“, den sie dem Mediziner und kirchlichen Jugendleiter Martin Goldstein übertrug. 1961 legte die Konferenz für Evangelische Familienberatung ein „Votum zur Geschlechtserziehung“ vor, in dem sie die „Entdämonisierung der Sexualität“ und eine „neue Schau der ganzheitlichen Gemeinschaft von Mann und Frau“ forderte112. Vier Jahre später erschien im Auftrag der Kirchenleitung der Rheinischen Kirche eine Handreichung zu „Fragen und Aufgaben der Geschlechtserziehung heute“, die auch einen Artikel von Goldstein enthielt. Darin beschrieb er den Beitrag der evangelischen Jugendarbeit zur „Geschlechtserziehung“ als „Glaubensbindung und Gewissensbildung bei jungen Menschen“113. Von den Jugendleitern forderte er, sich von tradierten Leitbildern zu lösen und sich fachlich fortzubilden114. Als Grundlage hierfür veröffentlichte Goldstein 1966 ein Ar106 107 108 109 110 111 112 113 114
Kaminsky / Henkelmann, Beratungsarbeit, 98–101. Vgl. Ziemann, Bewegung, 381; ders., Kirche, 309. Ebd. Groeger, Geschlechtserziehung, 1954, 420. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Groeger, Geschlechtserziehung, 1963. Goldstein, Geschlechtserziehung, 36. Vorbereitung, 376. Goldstein, Geschlechtserziehung, 37. Ebd., 43.
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beitsbuch. „Geschlechtserziehung“ wurde darin als eine von der Bibel her gebotene Erziehung zur Partnerschaft von Mann und Frau definiert115. Im gleichen Jahr fasste Karl Horst Wrage das Ergebnis seiner langjährigen Erfahrungen in der ärztlich-psychologischen Jugend- und Eheberatung in einem Band über „Grundfragen der Geschlechterbeziehung“ zusammen116. Und ein Jahr später publizierte der Theologe, Pastoralpsychologe und Psychoanalytiker Joachim Scharfenberg, der seit 1964 eine Eheberatungsstelle in Stuttgart leitete, ein Buch über „Reife und Sexualität“117. Die Zunahme dieser evangelischen sexualpädagogischen Literatur ist auch im Zusammenhang mit dem Ausbau der schulischen Sexualerziehung zu sehen, für die am 3. Oktober 1968 die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland „Empfehlungen zur geschlechtlichen Erziehung in der Schule“ herausgab118. Die genannten evangelischen Publikationen zielten auf Pfarrer, Religionslehrer, Jugendleiter, zum Teil auch auf Eltern. Davon zu unterscheiden ist die Aufklärungsliteratur für Jugendliche. Innerhalb dieser Gattung blieben die bereits Mitte der 1940er Jahre verfassten Publikationen des Schweizer Mediziners und protestantischen Eheberaters Theodor Bovet bis Ende der 1960er Jahre in der kirchlichen Jugendarbeit populär119. In ihnen wurden die körperlichen Veränderungen im Jugendalter und die jugendliche Sexualität vergleichsweise offen behandelt120. Grundaussage aber blieb, dass eine erfüllte Sexualität nur in der Ehe möglich sei. Darin war sich Bovet mit seinen katholischen Autorenkollegen einig121. In einer Publikation von 1971 thematisierte er die Ehe hingegen nur noch kurz und bezeichnete sie als zwar nicht alleinige Möglichkeit der Geschlechtsbeziehung, aber als „erstrebenswerte Lösung“122. Noch stärker kommt der Wandel in der evangelischen Aufklärungsliteratur Ende der 1960er Jahre in den Publikationen von Martin Goldstein zum Ausdruck. 1967 erschien im Jugenddienst-Verlag Wuppertal der Band „Anders als bei Schmetterlingen. Er und sie und ihre Liebe.“ Er enthielt Ausschnitte aus Gruppengesprächen mit Jugendlichen über Sexualität. 1970 brachte Goldstein im gleichen Verlag das reich bebilderte „Lexikon der Sexualität. 400 mal Auskunft und Antwort und Beschreibung“ heraus, in dem laut Intention des Verfasser „junge Leute sich über die Möglichkeiten und Schönheiten der Sexualität informieren“ konnten123. Zum Thema vorehelicher Geschlechtsverkehr hieß es dort, dass es in der Gesellschaft hierzu verschie115 116 117 118 119 120 121 122 123
Goldstein, Beziehung, 87. Wrage, Mann. Scharfenberg, Reife, 13. Zu Scharfenberg vgl. oben den Beitrag von Hauschildt. Vgl. hierzu Kuller, Familienpolitik, 246 f. Vgl. Kienzle, Mentalitätsprägung, 254. Bovet, Mann; ders., Frau. Vgl. hierzu Herzog, Politisierung, 99. Vgl. Kienzle, Mentalitätsprägung, 254. Goldstein, Lexikon, 7.
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dene Auffassungen gebe124. Bezogen auf die evangelische Kirche entsprach das in etwa der Aussage der Denkschrift zu sexualethischen Fragen. An dieser hatte Goldstein von Anfang mitgearbeitet125 und die umfangreichen Teile zum Sexualverhalten in der Jugend und zur Geschlechtererziehung maßgeblich mitverfasst. In diesen Denkschriftpassagen kam die „sexualpädagogische Aufbruchsstimmung im deutschen Protestantismus“ der 1960er Jahre zum Ausdruck126. Auf Goldsteins Schriften trafen die massiven Angriffe linker Sexualaktivisten auf die konfessionellen Sexualberatungsbücher127 nicht zu128. Deren Feindbild – für das es auch in den 1960er Jahren durchaus noch vereinzelt reale Verkörperungen gab – fand bei ihm keine Bestätigung. Der Vorwurf einer „Glaubenspropaganda mit dem Mittel sexueller Repression“, der auch noch gegen Bovet gerichtet wurde, stieß hier ins Leere129. Zu fragen wäre vielmehr nach einer impliziten „Glaubenspropaganda“ durch orientierende Sexualberatung auf das Leitbild der heterosexuellen, monogamen Paarbeziehung hin, die auf die Ehe zielte130. Uwe Kaminsky und Andreas Henkelmann sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Unsichtbarwerdung der Religion“ in der kirchlichen Beratungsarbeit131. Gänzlich unsichtbar wurde die Religion in Martin Goldsteins weiterer Beratungsarbeit, die nicht in kirchlicher Verantwortung erfolgte. Denn ab Oktober 1969, also zu einem Zeitpunkt, als Goldstein noch in der EKDKommission für sexualethische Fragen mitarbeitete, beantwortete er in der Jugendzeitschrift „Bravo“ unter dem Pseudonym „Dr. Jochen Sommer“ die Fragen von Jugendlichen rund um deren Sexualität. Er war der Bravo-Chefredakteurin durch sein Buch „Anders als bei den Schmetterlingen“ aufgefallen132. Goldstein führte bei „Bravo“ die teamorientierte Beratungstätigkeit ein; seit 1970 besprach er sich wöchentlich mit einer Gruppe von Sozialarbeitern, Psychologen, Soziologen und auch Eltern. Hauptberuflich blieb er ärztlicher Mitarbeiter an der Evangelischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Ehe- und 124 Ebd., 217. 125 Goldstein wurde auf Wrages Vorschlag hin vom Rat der EKD am 16./17.12.1965 in die Kommission berufen (EZA Berlin, 2/2730). 126 Keil, Was, 357. 127 Vgl. z. B. Schwenger, Propaganda. 128 Entsprechend erklärte Siegfried Keil 1971: „Als die staatliche Wohlfahrtspflege und das öffentliche Schulwesen in der Bundesrepublik noch zurückhaltend waren, haben kirchliche Erziehungs- und Eheberater wie auch Sexualpädagogen bereits Pionierarbeit geleistet. Das ist die Kehrseite der oft kritisierten ,antisexuellen Propaganda‘ der kirchlichen ,Sexualpolitik‘“ (Keil, Sex). – Zur katholischen Entwicklung vgl. Grossbçlting, Himmel, 42. 129 Schwenger, Propaganda, 8 und Rückentext. 130 Sauerteig arbeitet für die Beratung Goldsteins heraus, dass für diese das Ziel „die Normalität der heterosexuellen Beziehung [blieb, C. L.], die in die Ehe führen sollte“. Vgl. Sauerteig, Rat, 148. 131 Kaminsky / Henkelmann, Beratungsarbeit, 90. 132 Vgl. Arx, Fragen, 290.
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Lebensfragen in Düsseldorf, wo er seit 1967 arbeitete133. Die dort beschäftigten Theologen bestärkten ihn in seiner Arbeit134. Als „Dr. Sommer“ beantwortete Goldstein bis 1984 Leserbriefe. Während seiner Zeit erreichten die „Bravo“ 3.000 bis 5.000 Zuschriften im Monat135 ; die nicht veröffentlichten Briefe beantwortete die „Dr.-Sommer-Abteilung“ in der Bravo-Redaktion in München mit Formbriefen, die das Team um Goldstein formuliert hatte136. Die massenmediale Beratung verzeichnete eine deutlich höhere Nachfrage als die kirchlichen Beratungsstellen137, vor allem da der Zugang zu ihr niedrigschwelliger war. Jedoch stand ein aus der evangelischen Jugendarbeit kommender Arzt an der zentralen Stelle dieser medialen Sexualberatung und wurde zum Chefaufklärer der Nation. Die neue evangelische Sexualethik kam in Goldsteins alias Dr. Sommers Antworten indirekt vor, als Ermutigung zu einem verantwortlichen, partnerschaftlichen Sexualverhalten. Fragen zum Thema Kirche und Sexualität spielten in der „Bravo“ aber so gut wie keine Rolle – ein Indiz dafür, dass es für die jungen Bravoleser seit Ende der 1960er Jahre kaum mehr zu Konflikten zwischen der kirchlichen Sexualmoral und ihrem eigenen sexuellen Verhalten kam138.
3. Das Verhältnis von Sexualverhalten, Sexualmoral und Religiosität Eine Möglichkeit, sich dem Sexualverhalten und der Sexualmoral der bundesdeutschen Bevölkerung während der 1960er Jahre zu nähern, liegt in der Auswertung zeitgenössischer Sexualforschung, die sich in dieser Zeit stärker sozialwissenschaftlich ausrichtete und gesellschaftskritisch positionierte. Dies traf insbesondere auf das Hamburger Institut für Sozialforschung und die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung zu. Seit Ende der 1960er Jahre gaben die Kirchen selbst Umfragen in Auftrag, die auch Fragen zum Bereich der Sexualität enthielten. Bei allen demoskopischen Umfragen ist jedoch zu bedenken, dass sie im Kontext der jeweiligen Diskurse ihrer Zeit standen bzw. selbst ein Teil davon waren139. Alfred Kinsey hatte in seinen Schriften den Zusammenhang von religiösen Normen und Sexualität und die zwischen beiden bestehenden Diskrepanzen thematisiert. Für die Bundesrepublik tat dies der Soziologe Ludwig von 133 134 135 136 137 138 139
Vgl. ebd. Vgl. ebd., 292. Vgl. ebd., 290. Sauerteig, Rat, 140 f. Vgl. Hutten, Revolution, 112. Vgl. Wenzel, Fragen, 191, 328. Zur historischen Analyse demoskopischer Datenproduktion und -deutung in Bezug auf das Allensberger Institut vgl. Grube, Glückes Schmied.
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Friedeburg in seiner 1953 erschienenen Studie „Umfrage in der Intimsphäre“, die auf Daten von 1949 basierte. Danach war die Ehe faktisch nur noch in geringem Maße eine Voraussetzung für heterosexuelle Intimbeziehungen140. Von den Unverheirateten gaben 89 % der Männer und 69 % der Frauen an, bereits sexuelle Beziehungen gehabt zu haben. 71 % der Befragten billigten Intimbeziehungen zwischen Unverheirateten. Damit wich sowohl das Sexualverhalten als auch die Sexualmoral deutlich von den zeitgenössischen christlichen Sexualnormen ab. Unter den Einflüssen, die im Bereich der Intimbeziehungen 1949 wirksam waren, war indes der der kirchlichen Bindung der wichtigste141. Regelmäßige Kirchgänger, die 24 % der Befragten ausmachten142, traten entschiedener für die tradierte Moral und für gesetzliche Regulationen im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen ein143. Sie waren weitaus reservierter gegenüber der sich vollziehenden Umwandlung der moralischen Wertung. 40 % von ihnen hielten intime Beziehungen zwischen Unverheirateten für verwerflich (gegenüber 16 % der Gesamtbefragten); allerdings hatten 67 % von ihnen intime Beziehungen vor der bzw. ohne Ehe (gegenüber 79 % der Gesamtbefragten)144. Aufgeschlüsselt nach der Häufigkeit des Kirchenbesuchs gab es nur bei den Stellungnahmen zur Ehescheidung und zur Empfängnisverhütung relevante Unterschiede zwischen den Konfessionen145. Insgesamt belegen die Zahlen, dass Kirchenbindung zwar Sexualverhalten und die Einstellung zur Sexualität beeinflussten, dass 1949 aber auch die Mehrheit der regelmäßigen Kirchgänger weder in ihren Wertungen und noch weniger in ihrem Verhalten der kirchlichen Sexualmoral folgte. Friedeburg schloss daraus: „Die veränderte Einstellung zum Geschlechtsleben und der Druck der äußeren Gegebenheiten führt über die Anpassung im Verhalten zum Bedeutungsverlust der traditionellen Leitbilder.“146 Eine vergleichbare Untersuchung des Allensbacher Instituts im Jahr 1963 wies die Kirchenbindung leider nicht. Insgesamt ging gegenüber 1949 jedoch die Zahl derer, die sexuelle Beziehungen von Unverheirateten für zulässig hielten, deutlich zurück, während die Zahl derer, die sie für verwerflich hielten, leicht stieg. Stark in die Höhe ging die Zahl der Unentschiedenen147. Diese Veränderungen können als Auswirkungen der offiziellen Sexualmoral der 1950er Jahre verstanden werden148. Unter den lediglich 16 % der Befragten, die sich gegen Empfängnisverhütung aussprachen, war der häufigste Grund
140 141 142 143 144 145 146 147 148
Vgl. hierzu und zum Folgenden: Friedeburg, Umfrage, 24. Ebd., 48. Ebd., 46. Vgl. hierzu und zum Folgenden: ebd., 48. Ebd., 50. Ebd., 51 f. Ebd., 54. Jahrbuch, 589. So Herzog, Politisierung, 153.
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ein religiöser149. Keine größeren Veränderungen gegenüber 1949 ergaben sich im Sexualverhalten. 1963 hatten lediglich 12 % der befragten Männer (1949: 10 %) und 25 % der Frauen (1949: 28 %) vor ihrer Ehe keine intimen Beziehungen unterhalten150. Die restriktive, von den Kirchen gestützte Sexualmoral der 1950er und frühen 60er Jahre führte demnach nicht zu gravierenden Veränderungen im Sexualverhalten der Bundesbürger. Laut einer Jugendstudie, die auf einer für das Bundesfamilienministerium erstellten Emnid-Jugendumfrage von 1964 basierte, hielten 20 % der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren voreheliche Erfahrungen für richtig, 34 % hielten nur voreheliche Erfahrung mit dem zukünftigen Ehepartner für richtig, 20 % lehnten voreheliche Erfahrungen tendenziell ab, 11 % lehnten voreheliche Erfahrungen streng ab und 15 % machten keine Angaben151. Damit hielt zwar mehr als die Hälfte der Befragten vorehelichen Geschlechtsverkehr für richtig, die Tendenz insgesamt ging aber deutlich hin zur Ehe. Der größte Anteil unter den Befragten hielt sexuelle Erfahrungen nur mit dem künftigen Ehepartner für legitim. Genau auf diese unter Jugendlichen Mitte der 1960er Jahre verbreitete sexualmoralische Einstellung reagierte die neue evangelische Sexualethik152. Eine Umfrage des Hamburger Instituts für Sexualforschung zur Studentensexualität von 1966 ergab hinsichtlich von religiöser Überzeugung und Kirchenbesuch als Korrelate der Sexualität folgende Ergebnisse: Bei beiden Geschlechtern nahm das Masturbationsverhalten mit der religiösen Überzeugung bzw. der Häufigkeit des Kirchgangs ab153. Insgesamt ergab sich eine geringfügige bis mäßig ausgeprägte Korrelation zwischen Religiosität und Masturbationsaktivität154. Pettingerfahrungen waren ebenfalls negativ mit Religiosität korreliert, vor allem bei Frauen155. Einen besonders starken Einfluss hatten die Kirchenbindung und die religiöse Überzeugung auf das heterosexuelle Koitusverhalten156. Mit zunehmender kirchlicher Bindung reduzierte sich die Wahrscheinlichkeit vorehelichen Geschlechtsverkehrs entscheidend. Ähnliche, aber weniger ausgeprägte Trends ergaben sich für die religiöse Überzeugung. Bei den Frauen waren die Korrelationen durchweg höher157. Allerdings hatten 55 % der Studenten und 37 % der Studentinnen, die sich als religiös überzeugt bezeichneten, zum Zeitpunkt der Befragung bereits
149 Jahrbuch, 590. 150 Ebd., 592. 151 Blìcher, Generation, 152. 61 % der 2380 Befragten waren evangelisch und 36 % katholisch (ebd., 404). 152 Keil, Fragen, 329 f. 153 Giese, Studenten-Sexualität, 282. 154 Ebd., 283. 155 Ebd., 284. 156 Ebd. 157 Ebd., 285.
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Koituserfahrung158. Die Tendenz zum Wechsel der Partner nahm mit Kirchenbindung und religiöser Überzeugung ab, wenn auch nicht sehr stark159. Von den koitusaktiven Studierenden hatten indes ohnehin 67 % nur einen Partner. Von sexueller Revolution unter den Studierenden im Sinne von Promiskuität konnte 1966 keine Rede sein. Noch stärker als das sexuelle Verhalten wurden die Einstellungen zur Sexualität vom religiösen Hintergrund beeinflusst160. Die Wahrscheinlichkeit einer freizügigen Einstellung zu sexuellen Themen wurde mit der religiös-kirchlichen Bindung erheblich reduziert161. Nur bei religiös oder kirchlich besonders gebundenen Studenten fand sich ein nennenswerter Prozentsatz restriktiver vorehelicher Standards: unter den religiös Überzeugten lehnten 20 bis 30 % und bei den regelmäßigen Kirchgängern 35 bis 42 % voreheliche Beziehungen gänzlich ab162. Doch selbst in der Gruppe der religiös überzeugten Studierenden mit enger Kirchenbindung bekannte sich die Mehrheit zu freizügigen vorehelichen Standards163. Die Anwendung von Antikonzeptiva lehnten 8 bis 16 % der religiös-kirchlich Gebundenen ab, während 84 bis 92 % sie akzeptierten164. Die Daten zeigen insgesamt, dass sich religiös-kirchlich gebundene Studierende noch am ehesten mit der kirchlichen Sexualmoral identifizierten; doch selbst bei diesen Befragten distanzierte sich ein nicht unbeträchtlicher Teil von den traditionellen Normen der Kirche sehr deutlich165. Dies galt besonders für die Bewertung vorehelicher Beziehungen, aber auch für die Einschätzung von Verhütungsmitteln, der Masturbation, der Schwangerschaftsunterbrechung und der Homosexualität166. Bei gleicher religiös-kirchlicher Bindung war der Einfluss der jeweiligen Konfession auf das Sexualverhalten und die sexuellen Einstellungen sehr begrenzt167, wie sich schon bei der Untersuchung von Friedeburg gezeigt hatte und wie es auch eine Untersuchung zur ArbeiterSexualität bestätigte168. Die Hamburger Sexualforscher resümierten, dass die religiös-kirchliche Bindung „der prominenteste Faktor in der Hemmung und Unterdrückung der Sexualität“ sei169. Bei einer 1971 publizierten Umfrage zur Arbeiter-Sexualität waren liberale Einstellungen gegenüber der Sexualität Unverheirateter so generell, dass sich kaum Korrelationen zu den Merkmalen „Konfession“ und „Kirchenbesuch“ 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169
Ebd., 307. Ebd., 286. Ebd. Ebd., 287. Ebd. Die genauen Zahlen 309. Ebd., 287. Ebd., 288. Ebd., 289. Ebd. Ebd., 294. Schmidt /Sigusch, Arbeiter-Sexualität, 39 f. Giese / Schmidt, Studenten-Sexualität, 300.
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nachweisen ließen170. Nur das Alter bei der Aufnahme heterosexueller Beziehungen war von der Kirchenbindung beeinflusst171. Auf die Einstellung zur Antikonzeption hatte die Haltung der katholischen Kirche einen sehr geringen Einfluss; auf das Verhütungsverhalten war er noch deutlich geringer172. Die Ergebnisse einer Jugendstudie aus dem Hamburger Institut für Sexualforschung von 1973 lassen auf einen deutlichen Wandel in der Haltung zur vorehelichen Sexualität schließen. Im Unterschied zur genannten Studie von 1964 hielten nun 98 % der Mädchen und Jungen Koitusbeziehungen unverheirateter junger Menschen prinzipiell für zulässig173. Allerdings nannte drei bis vier Fünftel der Befragten eine personale Beziehung als Voraussetzung für die Aufnahme von Geschlechtsverkehr. Auch sexuelle Treue war eine zentrale Wertvorstellung der Jugendlichen174. Beides schlug sich auch im Verhalten der Jugendlichen nieder175. Korreliert man die demoskopischen Ergebnisse mit den Aussagen der Denkschrift zu Fragen der Sexualethik von 1971 so hatten evangelische Christen keinen Anlass, ihre Kirche wegen sexualmoralischer Differenzen zu verlassen. Der Sexualforscher Volkmar Sigusch, Autor der gerade erwähnten Studie zur Jugendsexualität, erklärte denn auch in einer Rezension der Denkschrift: „Mit einer angemessenen Erwartungshaltung im Genick gibt es also gar nicht so selten ein d’accord zu dieser ,Denkschrift zur Fragen der Sexualethik‘.“176 Fraglich ist jedoch, inwieweit die neue Sexualethik von den Kirchenmitgliedern auch wahrgenommen wurde. In den Jahren 1972 und 1973 brachte der katholische Soziologe Gerhard Schmidtchen zwei empirische Studien heraus; die erste basierte auf 1970 und 1971 durchgeführten Umfragen unter Katholiken, die zweite auf Umfragen unter Protestanten, die zur Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland gehörten. In seinen Untersuchungen fasste Schmidtchen sexuelle Freiheit unter die „Werte“, deren Korrelation zur Einstellung gegenüber der Kirche er untersuchte. Allerdings hielten insgesamt nur 17 % der befragten Katholiken und Protestanten sexuelle Freiheit überhaupt für sehr wichtig177. Damit rangierte sie unter 36 Werten an fünftletzter Stelle. Während 7 % der VELKD-Protestanten fanden, dass die Kirche den Wert „Möglichst frei und unabhängig in den Beziehungen zum anderen Geschlecht sein“ fördere, waren es bei den Katholiken 8 %. Dass die Kirche sexuelle Freiheit als Wert behindere, meinten 33 % der VELKD-Protestanten und immerhin 44 % der Ka170 Schmidt /Sigusch, Arbeiter-Sexualität, 87. 171 Ebd., 40. 172 77 % der katholischen Arbeiter und 62 % der katholischen Arbeiterinnen lehnte die Haltung der katholischen Kirche zu Verhütungsmitteln ab. Vgl. ebd., 105 f. 173 Sigusch / Schmidt, Jugendsexualität, 43. 174 Ebd., 44. 175 Ebd., 46. 176 Liebe, 138. 177 Ebd., 7.
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tholiken178. 56 % der VELKD-Protestanten befanden, dass die Kirche mit sexueller Freiheit nichts zu tun habe; bei den Katholiken waren 42 % dieser Meinung179. Katholiken empfanden demnach ihre Kirche in Bezug auf sexuelle Freiheit als wesentlich restriktiver als Protestanten, während Protestanten in größerer Zahl der Ansicht waren, dass die Kirche mit dem Wert einer freien Sexualität gar nichts zu tun habe180. Die größten Dissonanzen hatten Katholiken mit den kirchlichen Auffassungen im Bereich der Empfängnisverhütung (61 %) und der Sexualität (43 %)181. Die Dissonanzen waren umso größer, je schwächer die kirchliche Praxis war182. Insgesamt kommt Schmidtchen zu dem Ergebnis, dass je inkongruenter Kirche und Gesellschaft in ihren Wertsystemen den Kirchengliedern erschienen, desto stärker wuchs deren Kritik an der Kirche183. Zieht man neben der Demoskopie noch die Statistik heran, ergeben sich folgende Tendenzen: Die Zahl der Eheschließungen ging in der Bundesrepublik zwischen 1965 und 1975 um 21,4 % zurück, die Zahl der katholischen Trauung um 30,8 %184. Die Zahl der Lebendgeborenen sank zwischen 1965 und 1975 um 42,4 %, die Zahl der Lebendgeborenen von katholischen, verheirateten Eltern sank um 48,9 %185. Die Zahlen belegen, dass Katholikinnen und Katholiken ihre Sexualpraxis zunehmend weniger an der katholischen Morallehre ausrichteten. In der historischen Forschung gibt es unterschiedliche Auffassungen über das Kausalverhältnis von Veränderungen im sexuellen und im religiösen Bereich. Callum G. Brown sieht in der sexuellen Emanzipation von jungen, unverheirateten Frauen im Laufe der 1960er Jahre eine signifikante Ursache für die „religiöse Krise“ in England, die sich in einem Rückgang religiöser Einstellungen und des Kirchenbesuchs niederschlug186. Hugh McLeod hält dagegen, dass die religiöse Einstellung zwar einigen hemmenden Einfluss darauf habe, wann junge Menschen ihren ersten Geschlechtsverkehr hätten, aber es gäbe keine Belege dafür, dass das Sexualverhalten, konkret die Aufnahme von Geschlechtsverkehr, insgesamt Einfluss auf die religiöse Einstellung von jungen Menschen habe187. Bilanzierend lässt sich festhalten, dass die christlichen Kirchen in der frühen Nachkriegszeit einen historisch singulären Einfluss auf die gesellschaftlichen Werthaltungen hatten. Seit Mitte der 1960er Jahre aber wurde der 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187
Schmidtchen, Gottesdienst, 24. Ebd., 27. Ebd., 20. Schmidtchen, Kirche, 15. Ebd., 14 und 17. Schmidtchen, Gottesdienst, 21. Statistische Zusammenstellung bei Rçlli-Alkemper, Familie, 626. Ebd., 630. Brown, Sex, 189 und 215. McLeod, Crisis, 166, 187.
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sexualmoralische Normierungsanspruch der Kirchen gegenüber der Gesellschaft und dem Einzelnen in den Massenmedien immer mehr negiert. Und von staatlicher Seite war man seit Ende des Jahrzehnts zunehmend weniger bereit, die tradierte christliche Sexualmoral legislativ abzustützen. Innerkirchlich wurden die sexualethischen Vorstellungen vor allem im protestantischen Bereich seit Mitte der 1960er Jahre pluraler. Eine neue evangelische Sexualethik versuchte den sexualmoralischen Wandel in der Gesellschaft unter Betonung der personalen Seite der Sexualität konstruktiv zu begleiten. Anstelle normativ-kirchlicher Vorgaben wurde in Reaktion auf Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse dem Einzelnen Orientierungsangebote auf der Grundlage eines christlich-protestantischen Menschenbildes offeriert. Auch unter Katholiken wurde die Sexualmoral pluraler, doch reagierte das katholische Lehramt darauf mit einer Normenverhärtung und versuchte diese autoritär durchzusetzen, was nun auf offenen Widerspruch der Gläubigen stieß. Impulse zu Veränderungen in der Sexualethik kamen aus der kirchlichen Beratungsarbeit, die sich während der 1960er Jahre professionalisierte188. Mit dem Instrument der orientierenden Beratung versuchten die Kirchen, sich in sexualmoralischen Umbruchszeiten Einfluss auf die Lebensführung zu sichern. Dabei trat der explizit religiöse Bezug in der konfessionellen psychosozialen Beratungsarbeit allmählich zurück. Aktiv zeigte sich der Protestantismus während der 1960er Jahre auch auf dem Feld der Sexualpädagogik, wo er einen mündigen Umgang mit zweigeschlechtlicher Sexualität und ihre partnerschaftliche Ausgestaltung propagierte. Die Auswertung demoskopischer Umfragen ergab, dass Kirchenbindung und religiöse Überzeugung eine stärkere Auswirkung auf die Einstellungen zur Sexualität hatten als auf das sexuelle Verhalten selbst. Auch beeinflussten sie das Sexualverhalten von Frauen stärker als das von Männern; dies entsprach der stärkeren Fokussierung der tradierten kirchlichen Sexualmoral auf die weibliche Sexualität. Im Untersuchungszeitraum veränderte sich unter den Bundesbürgern vor allem die Einstellung zur zwischengeschlechtlichen vorehelichen Sexualität, worauf eine neue evangelische Sexualethik konstruktiv zu reagieren versuchte. Insgesamt nahm der normierende Einfluss der Kirchen auf das Sexualverhalten und vor allem auf die Sexualmoral ihrer Anhänger während der 1960er Jahre ab. Nicht gänzlich klären lässt sich hingegen, ob Dissonanzerfahrungen in Bezug auf Sexualität für Bundesdeutsche während der langen 1960er einen hinreichenden Grund darstellten, sich von Kirche und Religion abzuwenden.
188 Impulsgeber waren die Theologen aus den Beratungsstellen auch für einen Wandel in der Seelsorgetheorie, wie Eberhard Hauschildt in seinem Beitrag zeigt.
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Katharina Ebner
Religiöse Argumente in rechtspolitischen Debatten des Deutschen Bundestags an den Beispielen Schwangerschaftsabbruch und Homosexualität Inwiefern spielen religiöse Argumente eine Rolle im politischen Gesetzgebungsverfahren moderner Demokratien? Und lassen sich dabei Wandlungsoder Entwicklungsprozesse feststellen? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages, der sich mit Argumenten und Veränderungen in den Argumentationsstrategien im politischen Raum des Deutschen Bundestags beschäftigt. Anhand einer Analyse der exemplarischen Themenfelder „Schwangerschaftsabbruch“ und „Homosexualität“ sollen im Folgenden Zusammenhänge und Berührungspunkte von Religion und Politik sichtbar werden. Hierfür werden Parlamentsprotokolle des Deutschen Bundestags sowie zugehörige Drucksachen untersucht. Wichtige Zäsuren bzw. Knotenpunkte sind das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Strafbarkeit von Homosexualität aus dem Jahr 1957 sowie die sogenannte Große Strafrechtsreform in den 1950er und 60er Jahren.
1. Das objektive Sittengesetz als Konsensgrund in moralischen und rechtlichen Fragen Nach dem Zweiten Weltkrieg war Abtreibung – mit Ausnahme einer medizinischen Indikation, die relativ weit ausgelegt wurde – verboten1. Zunächst gab es keine größere politische Debatte um den § 218 StGB. Lediglich in Zusammenhang mit Vergewaltigungen auch durch Angehörige der Streitkräfte der Siegermächte wurde die so genannte „ethische“ Indikation ein Thema. Sie bezeichnet eine Abtreibung nach vorhergegangener strafbarer Vergewaltigung, weshalb auch und treffender von kriminologischer Indikation gesprochen werden kann. In den 1950er Jahren wurde die Vorschrift darüber hinausgehend weder im Parlament noch in den Fraktionen thematisiert2. Bereits 1 Teilweise wurde die medizinische Indikation auch genutzt, um Vergewaltigungsfälle darunter zu fassen. Vgl. dazu ausführlicher Gante, § 218, 70 f. 2 Vgl. dazu Gante, § 218, 68. Als Ausnahme nennt er regionale Äußerungen von SPD-Gruppen. Lediglich die Meldepflicht sorgte zeitweise für Aufruhr und wurde in der Folge in einigen Bundesländern abgeschafft. Möglicherweise ist das als ein Indiz zu lesen, etwas schlicht nicht wissen zu wollen.
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vor 1933 gab es jedoch Bestrebungen, das Abtreibungsstrafrecht zu liberalisieren, die sich aber aufgrund fehlender Mehrheiten nicht in einer Änderung der Gesetzeslage niederschlugen3. Auch der „Entwurf eines Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes“ vom 29. September 1952 nahm lediglich eine Anpassung im Strafrecht vor, die durch das Verbot der Todesstrafe notwendig geworden war. § 175 StGB, der homosexuelle Handlungen zwischen Männern als „Unzucht“ unter Strafe stellte, behielt auch in der Nachkriegszeit seine Gültigkeit und wurde nach vereinzelten Versuchen der Beschränkung noch rigoroser angewandt4. In den Jahren 1950 bis 1965 gab es 45.000 dokumentierte strafrechtliche Ermittlungen, während in der Weimarer Zeit von 1918 bis 1932 nur knapp 10.000 erfasst wurden5. Franz-Josef Wuermeling6, Familienminister unter Bundeskanzler Adenauer, schrieb 1960 im Bulletin der Bundesregierung, Gott habe die Menschen dazu berufen, als seine Werkzeuge die Welt zu gestalten. Die Familie sei der Ort der sittlichen Bildung und gegen die Bedrohungen der Sittenlosigkeit und Zügellosigkeit zu schützen. Im eigenen Interesse müsse der Staat sein „Wächteramt“ sehr ernst nehmen, denn die „[a]llgemeine Zügellosigkeit [wirke] gesellschafts- und staatsauflösend“7. Im Hintergrund von Wuermelings Argumentation stand eine Familienpolitik, die Kinderreichtum auch mit Blick auf die zahlenmäßige Erstarkung der Bundesrepublik gegenüber der DDR als „Gebot der politischen Vernunft“8 entschieden förderte9. Dieselbe Sichtweise wurde ebenfalls in einem BGH-Urteil aus dem Jahr 1951 zur sogenannten Verlobtenverkuppelei deutlich, in dem nur heterosexuelle Akte, die zur Zeugung offen sind, als sittlich gerechtfertigt galten10. Zugleich gab es aber bereits Anfang der 1950er Jahre Versuche von 3 Vgl. Anselm, Jüngstes Gericht, 40 f., der auch auf den „Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches“ von Gustav Radbruch von 1922 hinweist, in dem die Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen infrage gestellt wird. 4 Vgl. Gollner, Homosexualität, 190: In der DDR wurde die Ausweitung des § 175 StGB aus dem Jahr 1935 hingegen als nationalsozialistisches Gedankengut gedeutet und nicht mehr angewandt. 5 Vgl. Baumann, Paragraph 175, 64 f. Erläuterungen dazu auch bei Stìmke, Homosexuelle, 146–148. 6 Franz-Josef Wuermeling, 1900–1986, r.-k., 1947–1951 MdL Rheinland-Pfalz, 1949–1969 MdB, 1953–1962 Bundesminister für Familienfragen (ab 1957 für Familien- und Jugendfragen). Vgl. für weiterführende Informationen und Literatur Gerlach, Wuermeling, 766–770. 7 Wuermeling, Lebensstandard, 2002. 8 Vgl. ebd. Wuermeling sprach hier über die Gefahren einer Konsumideologie, die die westdeutsche Jugend schwäche, wohingegen in Ostdeutschland eine kommunistisch klar ausgerichtete und konsequent auf künftige politische Aufgaben ausgebildete Jugend heranwachse. 9 Vgl. Stìmke, Homosexuelle, 139. Stümke sieht hier eine Abwertung aller Lebensformen, die nicht der traditionellen Familie entsprechen, die in den referierten Quellen eher indirekt zum Ausdruck kommt. Vielmehr werden sie schlicht nicht thematisiert. Wuermeling ist auch heute noch vielen bekannt, weil er eine Fahrpreisermäßigung der Bahn für kinderreiche Familien einführte, die noch vor einigen Jahren als Bahn Card Wuermeling existierte. 10 BGH Urt. v. 13.3.51 = BGHSt 1/80 ff. Vgl. erläuternd dazu Gollner, Homosexualität, 190 f.
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Juristenvereinigungen, Reformbestrebungen aus der Weimarer Republik aufzunehmen, die jedoch zunächst folgenlos blieben. Hauptargument der Reformer war die Trennung einer ethischen Bewertung durch Rekurs auf Religion oder objektive Sittlichkeit von ihrer strafrechtlichen Beurteilung – ein Argument, das auch in der weiteren Debatte an Relevanz gewann. Eine Eingabe der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung von 1950 schloss an die Empfehlungen des Strafrechtsausschusses von 1929 an und forderte die Freigabe einvernehmlicher Homosexualität zwischen Erwachsenen. Diese Forderung wurde 1951 im Rahmen eines Plädoyers für die Wiederaufnahme der Weimarer Reformansätze durch den Deutschen Juristentag erhoben, blieb jedoch ohne Erfolg11. In der 1954 gegründeten Großen Strafrechtskommission, die die Vorarbeit für eine umfassende Reform des Strafrechts leisten sollte, wurde eine Entschärfung ebenfalls diskutiert. Auch dort ging es ausschließlich um männliche Homosexualität, die Strafbarkeit weiblicher Homosexualität war kein Thema. Im Mai 1957 urteilte das Bundesverfassungsgericht aufgrund einer Verfassungsbeschwerde zur Strafbarkeit von männlicher Homosexualität12. Hierbei war zu klären, ob es sich bei § 175 StGB um NS-belastetes Recht handelte, da die Vorschrift eine Verschärfung der Gesetzeslage von 1935 enthielt. Darüber hinaus musste darüber entschieden werden, ob der Gleichheitssatz mit der Bestrafung allein männlicher Homosexualität zu vereinbaren sei und ob der strafgesetzliche Eingriff in die freie Entfaltung der Persönlichkeit beim „Straftatbestand“ männlicher Homosexualität gerechtfertigt sei. Alle drei Fragen wurden im Sinne des bestehenden Gesetzes beantwortet: Die Rechtsvorschrift wurde „formell ordnungsgemäß erlassen und von den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft hingenommen“ und habe „seither jahrelang unangefochten bestanden“13. Es finde sich in § 175 StGB kein Hinweis auf Diskriminierungen auf Grund von Rasse, Staatsangehörigkeit, Glaube oder politischer Überzeugung, weshalb keine Verbindung zum Nationalsozialismus bestehe. Die Verfassungsrichter betonten die Kontinuität der Gesetzgebung auch durch die Rechtsprechung in den jeweiligen Zonen der Siegermächte14. Dem Argument der Ungleichbehandlung lag eine biologistische Sichtweise auf Geschlecht und die „natürliche“ Verfasstheit der Geschlechter zugrunde: Biologische Verschiedenheiten ergäben, dass der Mann eher drängend-fordernd, die Frau hingebend sei, weshalb die weibliche Homosexualität nicht nur weniger sichtbar, sondern auch weniger verbreitet sei. Bei Frauen sei die körperliche Begierde und Empfindungsfähigkeit zudem notwendig verschmolzen, denn „[a]nders als der Mann wird die Frau unwillkürlich schon durch ihren Körper daran erinnert, 11 Vgl. Stìmke, Homosexuelle, 135. 12 Vgl. hierzu die zeitgenössische Berichterstattung etwa im Spiegel vom 19. Juni 1957, online abrufbar unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32092778.html (letzter Abruf 23.07.14). 13 BVerfGE 6, 389 (414). 14 Vgl. BVerfGE 6, 389 (417 f).
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daß das Sexualleben mit Lasten verbunden“15 sei. Das „natürliche Gefühl für die Verschiedenheit männlicher und weiblicher Homosexualität“ spiegelte sich nach Ansicht der damaligen Verfassungsrichter auch darin wieder, dass eine andere Gesetzeslage in der Vergangenheit nicht einmal erwogen wurde16. Die Annahme eines objektiv geltenden Sittengesetzes führte zur Beurteilung, bei homosexuellen und heterosexuellen Geschlechtsakten handele es sich um wesensverschiedene Akte. Der Eingriff in die freie Persönlichkeitsausbildung konnte deshalb mit der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und der Verbreitung unzüchtiger Lebensweisen gerechtfertigt werden. Diese Argumentation wurde folgendermaßen religiös fundiert: „[V]on größerem Gewicht ist, daß die öffentlichen Religionsgemeinschaften, insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen. Der Beschwerdeführer hält zwar die Verurteilung der Homosexualität durch die Lehren der christlichen Theologie für unbeachtlich: sie sei aus alttestamentlichen Vorschriften der jüdischen Religion übernommen, die nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft aus bevölkerungspolitischen Erwägungen als zeitbedingte Notmaßnahme entstanden seien. Ob diese Deutung den geschichtlichen Vorgängen gerecht wird, mag dahinstehen: Nicht darauf kommt es an, auf Grund welcher geschichtlichen Erfahrungen ein sittliches Werturteil sich gebildet hat, sondern nur darauf, ob es allgemein anerkannt wird und als Sittengesetz gilt.“17
Auffällig ist die eigenständige Geltung des Sittengesetzes gegenüber biblischen Grundlegungsbemühungen der betreffenden Religionsgemeinschaften. In der Konsequenz wurden die Kirchen damit als Garanten für Volksempfinden und sittliches Rückgrat wahrgenommen, die „überkonsensuales“ Wissen anbieten konnten, das sich nicht allein aus biblischem Wissen herleitete. Die historische Kontextuierung des Klageführers, wonach der konkrete Entstehungsund Geltungsort die überzeitliche Geltung der Normen nicht zwangsläufig rechtfertigte, relativierte dadurch zwar die biblischen Ausführungen zur Homosexualität, hatte aber nur mittelbare Konsequenzen für das objektive Sittengesetz. Das religiöse Spezifikum war vielmehr in einem allgemeinen und metaphysischen Sittengesetz integriert und transformiert. Weiter lässt sich beobachten, dass wissenschaftliche Erkenntnisse für den Entscheidungsprozess relevant waren. In der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts wurde zum einen auf medizinische und soziologische Untersuchungen und zum anderen auf den gesellschaftlichen Konsens in 15 Ebd. (426). 16 Auf die sich unterscheidende Rechtslage in Österreich wurde ebenfalls hingewiesen. Sie diente als Bestärkung des Arguments, da die Zahl der gerichtlich aktenkundig gewordenen Fälle von männlicher Homosexualität die der weiblichen deutlich übersteigen. Vgl. ebd. 424 f. 17 Ebd. 434 f.
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Sittlichkeitsfragen verwiesen. Dabei dienten wissenschaftliche Erkenntnisse der Fundierung der gesellschaftlichen Haltung. Auffällig war im Zusammenhang mit dem Urteil, dass keine religiösen oder theologischen Sachverständigen um ihr Votum gebeten wurden, weder aus dem Bereich der theologischen Wissenschaften noch von den Kirchen, sondern dass vielmehr die Verfassungsrichter selbst die oben referierte religiös-theologische Einschätzung vornahmen.
2. Erste Anfragen an das objektive Sittengesetz Erste Brüche im vormaligen Konsens naturrechtlicher Argumentation zeigten sich in der Bundesrepublik, als um die lange geplante und wiederholt angestrebte Strafrechtsreform gerungen wurde. Sie hatte durch die notwendige Überwindung nationalsozialistischen Rechts und einer bisher nur stückweise vorgenommenen Überarbeitung bleibende Dringlichkeit. 1953 wurde unter Bundesjustizminister Thomas Dehler18 mit einer Reform begonnen, die von den nachfolgenden Justizministern weiterverfolgt wurde. Im ersten Entwurf eines Strafgesetzbuchs vom 8. September 1960 hieß es zu § 218 StGB: „Zwar dienen die strafrechtlichen Normen weitaus überwiegend dem Rechtsgüterschutz, das schließt aber nicht aus, bestimmte Fälle ethisch besonders verwerflichen und nach der allgemeinen Überzeugung schändlichen Verhaltens auch dann mit Strafe zu bedrohen, wenn durch die einzelne Tat kein unmittelbar bestimmbares Rechtsgut verletzt wird.“19
Dieser erste Entwurf bot damit eine Mischung aus dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes und der Strafbarkeit einzelner Sachverhalte, die im gesellschaftlichen Konsens als verwerflich galten. Im Fall des Schwangerschaftsabbruchs ging man von einer „allgemeinen Überzeugung“, was seine Strafbarkeit betraf, aus. Die Erwähnung von Kriminalstatistiken und „Dunkelziffern“ in den Ausführungen zum Entwurf von 1962 zeigte die gestiegene Sensibilität für den Status quo beim Thema Abtreibung, bei dem die strenge Regelung und ihre laxe Auslegung der medizinischen Indikation sowie die große Zahl illegal vorgenommener Abbrüche in Kontrast zueinander standen20. In diesem Zu18 Dehler, Thomas, 1897–1967, r.-k., 1947–1948 Mitglied im Länderrat des amerikanischen Besatzungsgebietes, 1948–1949 des Parlamentarischen Rates. 1946–1949 MdL in Bayern, Bundesjustizminister 1949–1953, zunächst Mitglied der DDP, später der FDP. Umfangreiche Informationen finden sich bei Wengst, Thomas Dehler. 19 Deutscher Bundestag. Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Drucksache 2150, 3. Wahlperiode (3. 11. 1960), 347. 20 Vgl. Deutscher Bundestag. Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Drucksache IV/650, 4. Wahlperiode (4. 10. 1962), § 140: „Die Kriminalstatistik zeigt, daß Überhöhungen der Strafandrohungen, die
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sammenhang wurde auch die sogenannte ethische Indikation diskutiert und schließlich verworfen. Auch beim Thema Homosexualität ergaben sich zunächst keine Veränderungen: § 216 StGB21 betraf jetzt die „Unzucht zwischen Männern“. Hier wurden verschiedene Gründe referiert, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten für die Straffreiheit ins Feld geführt worden waren. Dazu gehörte vor allem die Frage, ob es sich um einen „Trieb, dessen Beherrschung dem von ihm Betroffenen häufig unmöglich sei“22 handele, oder um ein „Laster auf Grund von „Verführung, Gewöhnung oder geschlechtlicher[r] Übersättigung“23. Die Bezeichnung „Laster“ impliziert neben der Konnotation, dass es sich bei Homosexualität um eine schlechte Angewohnheit oder Schwäche handele, auch eine Nähe zu (christlichen) Tugendethikmodellen24. Beantwortet wurde die Frage nach der Beherrschbarkeit mit einem Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse: „Nach den bisherigen Forschungsergebnissen der Wissenschaft und auch nach der in der Rechtsprechung vorherrschenden Meinung muß angenommen werden, daß der weitaus überwiegende Teil der nach den §§ 175 oder § 175a StGB straffällig gewordenen Männer bei zumutbarer Anspannung der seelischen Kräfte in der Lage wäre, ein gesetzmäßiges Leben zu führen.“25
Die Vorstellung einer Gleichstellung mit heterosexuellen Beziehungen wurde unter Berufung auf den in der Natur liegenden Willen kategorisch zurückgewiesen. Ein Verweis auf die Historie parallelisierte gar Verfall und „Entartung“ mit der Verbreitung von Homosexualität: „Die von interessierten Kreisen in den letzten Jahrzehnten wiederholt aufgestellte Behauptung, daß es sich bei dem gleichgeschlechtlichen Verkehr um einen natürlichen und deshalb nicht anstößigen Trieb handele, für den das gleiche Recht in Anspruch zu nehmen sei wie für die Beziehungen zwischen Mann und Frau, und daß sogar die Neigung des Mannes zum Mann oder zum Jüngling der Ausdruck einer besonders hohen und edlen Kultur sei, kann nur als Zweckbehauptung zurückgewiesen werden. Wollte man den ihr zugrunde liegenden Gesichtspunkt anerkennen, so müßte die Gesellschaft jede Spielart menschlichen Wesens, sei sie auch noch so abartig, als naturgewollt hinnehmen und achten. Daß das nicht zutreffen kann, lehrt schon die geschichtliche Erfahrung. Wo die gleichge-
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den Rechtsanschauungen der Allgemeinheit widersprechen, in der Praxis durchweg wirkungslos bleiben.“ In E 1962 wurden homosexuelle Delikte unter § 216 anstelle des bisherigen § 175 verhandelt. Vgl. Deutscher Bundestag. Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Drucksache IV/650, 4. Wahlperiode (4. 10. 1962). Entwurf eines Strafgesetzbuches Drucksache IV/650, 4. Wahlperiode 4. 10. 1962, 375. Ebd. Vgl. Gollner, Homosexualität, 194; Lesch, Laster, 658. Entwurf eines Strafgesetzbuches Drucksache IV/650, 4. Wahlperiode 4. 10. 1962, 375.
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schlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kräfte die Folge.“26
Auch die strafrechtliche Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen wurde thematisiert. In der Plenarsitzung vom 28. März 1963 war der Umgang mit der ethischen bzw. kriminologischen Indikation erstmals wieder Thema: Adolf Müller-Emmert (SPD)27 formulierte pointiert, dass es sich bei der Ablehnung der kriminologischen Indikation in seiner Wahrnehmung um „katholisches Sondergut“ handele: Er plädierte für eine subsidiäre Entscheidung, einer Entscheidung auf Basis des eigenen Gewissens, die nicht durch strafrechtliche Bestimmungen vorweggenommen werden dürfe: „Wenn, wie wir es wünschen, die ethische Indikation nicht unter Strafe gestellt ist, bleibt es […] jeder einzelnen betroffenen, bedauerlicherweise betroffenen Frau vorbehalten, selbst nach ihrem Gewissen so zu entscheiden, wie sie es vor Gott verantworten möge. Trifft beispielsweise eine katholische Gläubige, die das bedauerliche Opfer eines Sittlichkeitsverbrechens mit Folgen geworden ist, von sich aus die menschlich in jeder Weise anerkennenswerte Entscheidung, gestützt auf die Regeln ihres Glaubens, die Leibesfrucht auszutragen, dann ist das ihre […] anerkennenswerte Entscheidung, die sie mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren mag. Man kann auf der anderen Seite von solchen Bürgern in unserem Lande, die eine solche Auffassung auf Grund anderer Konfession oder Weltanschauung haben, nicht fordern, daß sie sich einem solchen strafrechtlichen Gebot unterwerfen, und daß sie unter Umständen dann, wenn sie dieses Gebot nicht einhalten, mit dem Staatsanwalt in Konflikt kommen.“28
Emmy Diemer-Nicolaus29, Mitglied der FPD/DVP und Rechtsexpertin ihrer Partei, betonte die Zurückhaltung beim Schutz der Persönlichkeit ebenfalls mit Rekurs auf das eigene Gewissen. Eine Einschränkung sei nur zum Schutz allgemein anerkannter Rechtsgüter möglich: „[J]eder muß von sich aus entscheiden, was er auf Grund seiner ethischen Vorstellungen und auch – sprechen wir das ruhig ganz offen und klar aus – auf Grund seiner religiösen Bindungen für allgemein anerkannte Rechtsgüter, die von allen beachtet werden müssen, hält.“30 Eine Berufung auf religiöse und moralische Normen im Gesetzestext schien so denkbar, jedoch individuell zu berücksichtigen und nicht in einem Fraktions- oder Gesellschaftskonsens. Die Zuständigkeit der Kirchen erkannte Diemer-Nicolaus an den Grenzen des Rechts an und definierte auf diese Weise einen gewandelten Handlungsbereich für die Kirchen: 26 Ebd., 376 f. 27 Müller-Emmert, Adolf, 1922–2011, r.-k., 1961–1987 MdB, Mitglied des Rechtsausschusses der 4. und 5. Wahlperiode. Vgl. Vierhaus / Herbst, Handbuch, 589. 28 Plenarprotokoll 70. Sitzung des Deutschen Bundestags am 28. 3. 1963, 3210. 29 Diemer-Nicolaus, Emmy, 1910–2008, ev., 1950–52 MdL in Württemberg-Baden, Teilnahme an verfassungsgebender Landesversammlung, 1953–57 MdL in Baden-Württemberg, 1957–72 MdB, setzte sich für Frauen- und Familienfragen ein. Vgl. Vierhaus / Herbst, Handbuch, 146. 30 Plenarprotokoll 70. Sitzung des Deutschen Bundestags am 28. 3. 1963, 3208.
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den Bereich des Binnenethos, das in seinen Anforderungen über eine allgemeine Moral, die sich im Strafrecht niederschlägt, hinausreicht, dessen Geltungsbereich jedoch auf die jeweilige Religionsgemeinschaft beschränkt war31. So sollten die Kirchen damit nach innen wirken und über moralische Fragen, die ihre Mitglieder betrafen, reflektieren. Das Grundgesetz und besonders die Berufung auf die Menschenwürde erhielten aber die Bedeutung eines einenden Bandes, das über verschiedene Weltanschauungen hinweg Bestand hatte. Ein einheitliches Sittengesetz schien in einem derartigen Umfeld nicht mehr denkbar32. Müller-Emmert argumentierte auch für die Straffreiheit der „einfachen Unzucht zwischen Männern“. Nicht mehr der Schutz der sogenannten Sittenordnung, sondern der von Rechtsgütern war nunmehr Hintergrund strafrechtlicher Verbotsnormen. Kritisch zu bewerten sei aus dieser Sicht die gestiegene Zahl der Sittlichkeitsdelikte33. Des Weiteren unterschied er zwischen Schuld als strafrechtliche Kategorie und Sünde im metaphysischen oder religiösen Sinn, wobei nur erstere eine sinnvolle Kategorie im Strafrecht sein könne34. Auch aus Unionskreisen ließ sich eine gewisse Emanzipation von kirchlichen Positionen, möglicherweise auch ein Sich Verwahren gegen kirchliche Einflussnahme, beobachten35 : Mehrheiten und Kompetenzen sollten im Bundestag verhandelt werden. Gleichzeitig blieben kirchliche Positionen relevant, aber stärker informativ denn normativ. Darüber hinaus gewann das sich wandelnde Meinungsbild in der Gesellschaft an Gewicht. Beide Fragestellungen – Abtreibung und Homosexualität – wurden jedoch in dieser Sitzungsperiode nicht abschließend gelöst, sondern vielmehr unter leicht veränderten Vorzeichen thematisiert. Viele der Argumente, die in der folgenden Zeit maßgeblich für eine veränderte Gesetzeslage wurden, wurden allerdings bereits in den frühen 1960er Jahren diskutiert. Auch gegen die Subjektivierung und Betonung des Gewissens und für eine „objektive Sittenordnung“ wurden Argumente vorgebracht: Max Güde 31 Vgl. ebd., 3209:„Man wird erkennen müssen […] daß unsere Gesetze nicht in der Lage sind, ethische Forderungen, die nicht schon im Rechtsempfinden des Volkes ihre Wurzel haben, durchzusetzen. […] Es ist dann die Aufgabe gerade auch der Kirchen, bei ihren Gläubigen dahin zu wirken, daß diese nicht nur das tun, was gerade nicht strafbar ist, sondern darüber hinaus erkennen, daß dazu, in einem guten Staat zu leben, mehr gehört als nur das ethische Minimum einzuhalten.“ 32 Vgl. Plenarprotokoll 70. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 28. 3. 1963. 33 Vgl. ebd., 3212. 34 Vgl. ebd., 3210. 35 Deutlich wird dies etwa, wenn Friedrich Winter (CSU) zur Beurteilung der kriminologischen Indikation darum bat, „darauf zu verzichten, gerade in dieser Frage weltanschauliche, religiöse Fragen in den Vordergrund zu stellen. Sicher haben wie sonstwo auch in dieser Frage die christlichen Kirchen einen Beitrag zu leisten und uns mit Argumenten zu versehen. Sicher müssen wir dann die Argumente werten und würdigen; aber wir sind hier, um dann in Kenntnis und nach Würdigung der Argumente nach dem zu entscheiden was wir für richtig erkannt haben, und sei es auch in einer Mehrheitsentscheidung.“ (Plenarprotokoll 70. Sitzung des Deutschen Bundestags am 28. 3. 1963, 3217.)
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(CDU)36, ebenfalls Jurist und Katholik, plädierte für eine stärkere Orientierung an einer objektiven Sittenordnung, die als Ganzes Anwendung finden müsse: „Das hat nichts zu tun mit den moralischen oder moralisierenden Gefühlen meiner Person oder des Richters, sondern es ist ein Blick auf eine objektive gültige Sittenordnung, die der Richter sich nicht zurecht phantasiert […]. Aber man kann dagegen streiten, schon vom Recht her streiten, und ich sage Ihnen einmal ganz im Vertrauen: ich war in der rechtlichen Entscheidung dieser Frage anderer Meinung, aber ich wehre mich dagegen, daß das mit einem solchen Wort wie ,moralisierend‘ zur Seite geschoben wird. Und für den ganzen Bereich der Sittlichkeitsdelikte gilt dieses Gebot, eine objektive Sittenordnung im Auge zu behalten; das ist eine Aufgabe für den Gesetzgeber.“37
Er erhielt deutliche Zustimmung aus verschiedenen Fraktionen. Mit seiner Analyse umschrieb er die Schwierigkeiten ebendieses objektiven Sittengesetzes, indem er die unterschiedlichen Beurteilungen und Einschätzungen nannte. Die bleibende Frage, wie weit die Auslegung eines Naturrechts möglich und allgemein einsichtig sei, wurde damit angedeutet. Zugleich verstand er sein Plädoyer als eine Abwehrbewegung in Zeiten eines „allgemeinen Werteverfalls“, indem er für eine Rückbesinnung auf allgemein gültige Normen warb: „Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, die Wertetafel und die Tadelsfunktionen der Strafandrohung in seine Erwägungen einzubeziehen. Das gehört nun auch wieder zu etwas, was im Ganzen Reobjektivierung des Strafrechts heißen kann.“38 Die Strafrechtsreform konnte 1963 nicht abgeschlossen werden und so wurde ihre Beratung in der nächsten Legislaturperiode wieder aufgenommen. CDU und SPD verpflichteten sich in ihrer Koalitionsvereinbarung, den Entwurf der Strafrechtsreform von 1962 weiterzuverfolgen. Von den sogenannten „Alternativ-Professoren“39 wurde eine Liberalisierung des § 218 angeregt, aber nicht weiter verfolgt. Die bisherige Strafbarkeit der Homosexualität entfiel nach langer Debatte. Sieben Jahre nach dem ersten Entwurf wurde schließlich im Sommer 1969 das Erste und Zweite Strafrechtsreformgesetz verabschiedet. Es umfasste den allgemeinen Teil und einzelne Elemente des besonderen Teils40. Die zugrundeliegenden Plenardiskussionen sind Gegenstand des nächsten Abschnitts. 36 Güde, Max, 1902–1984, r.-k., 1956 Oberbundesanwalt, ab 1957 mit der neuen Bezeichnung bis 1961 Generalbundesanwalt am BGH, 1961–1969 MdB, Vorsitzender des Sonderausschusses „Große Strafrechtsreform“, weiterführend vgl. auch Tausch, Max Güde. 37 Plenarprotokoll 70. Sitzung des Deutschen Bundestags am 28. 3. 1963, 3223. 38 Ebd. 3224. 39 Der Alternativ-Entwurf basierte auf den Arbeiten deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer. Der Arbeitskreis präsentierte 1966 seine Alternative eines Strafrechts in Abgrenzung zum Entwurf 1962. Nachzulesen sind sowohl die Entwurfsversionen als auch die Entwicklung unter www.alternativentwurf.de. 40 Anselm, Jüngstes Gericht, 46.
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3. Grundlegungsbemühungen um die Rahmenordnung einer pluralen Gesellschaft Für die späten 1960er Jahre lässt sich ein Neuansatz in rechtspolitischen Debatten ausmachen, der die Funktion und Relevanz religiöser Argumentation deutlich beeinflusste. Horst Ehmke (SPD)41, zunächst Staatssekretär im Justizministerium unter Gustav Heinemann, dann Justizminister, sagte einleitend zur ersten Beratung über den neuen Entwurf einer Strafrechtsreform: „Das Werk, das heute zur Beschlußfassung vorliegt, weicht erheblich vom Ausgangspunkt des Entwurfs von 1962 ab. […] Es atmet einen anderen Geist. Das liegt an verschiedenen Dingen […]. Es liegt aber auch an einer ganzen Reihe von geistigen Faktoren, die in den letzten Jahren das geistige, politische Klima in diesem Land geändert haben. Ich glaube, daß ich hier, ohne Widerspruch fürchten zu müssen, an erster Stelle das Zweite Vatikanische Konzil nennen darf, das für die katholische Kirche wie für die katholischen Laien doch ein Ausgangspunkt zu sehr neuen Ansätzen auch auf dem Rechtsgebiet gewesen ist.“42
Auffällig an dieser Aussage war zunächst die Betonung der Rolle des II. Vatikanums. Das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) eröffnete neben dem innerkirchlichen Reformprozess eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Kirche und Welt. Ein verändertes Kirchenverständnis fand seinen Niederschlag darüber hinaus in der weiteren Debatte. Eine objektive Sittenordnung, aus der konkrete Handlungsnormen abgeleitet werden, wurde für die Gestaltung des Strafrechts zunehmend weniger akzeptiert. Der Bundesjustizminister Horst Ehmke verwendete nun andere – aber nicht weniger religiöse – Argumentationsformen: „Wir sind allerdings der Meinung. […] daß es dieser Gesellschaft sehr gut ansteht, auch den Rechtsbrecher als Mitbürger und als Mitmenschen zu empfinden und zu behandeln. Einer Gesellschaft, die sich sonst so gern mit christlichen Werten schmückt, steht es nicht an, in dieser Frage [dem Umgang mit straffällig Gewordenen, K.8E.] besonders hartherzig zu sein. […] Das Strafrecht […] dient nicht der Vorwegnahme des jüngsten Gerichts, und Gerichte sind nicht die Stellvertreter Gottes auf Erden.“43 41 Ehmke, Horst, *1927, 1952–1956 wiss. Assistent von Adolf Arndt, ab 1963 ordentlicher Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg/Br., 1967 beamteter Staatssekretär im Bundesjustizministerium unter Gustav Heinemann, wurde 1969 durch die Wahl Heinemanns zum Bundespräsidenten Bundesjustizminister. 1969–1974 und 1976–1994 MdB, 1972 Bundesminister für Forschung und Technologie sowie Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen, schied 1974 im Zuge der Guillaume-Affäre aus der Bundesregierung aus. Vgl. Vierhaus / Herbst, Ehmke, Horst, 168–169. 42 Plenarprotokoll 230. Sitzung des Deutschen Bundestags am 7. 5. 1969, 12712. 43 Ebd., 12713.
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Der religiöse Verweis diente nun unter Bezug auf den Anderen als Mitmenschen der menschenfreundlichen Ausgestaltung des Strafrechts. Der Verfügungsgewalt des Staates wurden Grenzen gesetzt – gerade im Namen der Religion. Die Beschlüsse zur Strafrechtsreform von 1969 zeigten klar, dass das neue Strafrecht keine religiösen Begründungselemente enthielt und nicht-metaphysisch argumentieren sollte. Der Staat strafte „nicht auf Grund irgendwelcher metaphysischer Vorstellungen, etwa weil eine Sünde begangen worden sein kann, sondern auf Grund der bitteren Notwendigkeit [zu] strafen.“44 Neben den Neuausrichtungen im allgemeinen Teil erfuhren auch die beiden Themen Abtreibung und Homosexualität neue Aufmerksamkeit. Sie standen geradezu exemplarisch für die Reform des Strafrechts, wie Diemer-Nicolaus zeigte: „In dem ersten Gesetz findet auch eine Reform – hier brauche ich ja nur den Paragraphen zu nennen – des § 175 statt sowie der bloße Anfang einer Reform des § 218.“45 Damit war jedoch keineswegs automatisch die positive Beurteilung der zu liberalisierenden Handlungen gegeben. Vielmehr zeigte sich Ablehnung und Vermeidung des öffentlichen Sprechens über homosexuelle Handlungen trotz einer Aufhebung der Strafbarkeit, wenn etwa Ehmke sagte, es sei ein Missverständnis zu unterstellen, „die Entkriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen bedeute etwa eine moralische Billigung des nicht mehr strafbaren Verhaltens. Moralisches und sittliches Verhalten beruh[e] seinem Wesen nach auf Freiwilligkeit und [könne, K. E.] nicht durch strafrechtlichen Zwang gebildet werden.“46 Neben der moralischen Bewertung von Homosexualität wurde Freiheit als Konstituens für moralisches Handeln genannt und seine Berücksichtigung im Rechtssystem eingefordert. Religiöse Argumente wurden weiter thematisiert, jedoch veränderte sich ihr Status. Der oben bereits genannte Max Güde etwa betonte: „Entgegen der Gespensterfurcht vieler Intellektueller droht niemandem das ,moralische Diktat der Weltanschauung einer politisch herrschenden Mehrheit oder gar Minderheit‘. Das ist ein Zitat von einem der Verfasser des AlternativEntwurfs […] Die drohende Diktatur wird natürlich uns, der CSU/CSU, zugeschrieben.“47
Es hat den Anschein, dass sich die Mehrheitsverhältnisse, was die Identifikation mit und/oder die Akzeptanz der erwähnten Weltanschauung betraf, auch in der Bevölkerung verschoben hatten. Der zuvor breite Konsens in moralischen Fragen verwandelte sich in eine katholische Minderheitenposition, nicht zuletzt beeinflusst durch die veränderte Haltung der Kirchen, wie Güde hier andeutete: 44 45 46 47
Ebd., 12703. Ebd., 12709. Ebd., 12715. Ebd., 12717.
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„Es droht auch nicht die ausschlaggebende Beeinflussung durch die Deutsche Bischofskonferenz. […] Ich denke, mit der vorliegenden Reform haben wir erklärt und unter Beweis gestellt, daß auch für die Christen, die christlichen Gruppe, die Christlichen Demokraten das Strafrecht eine weltliche Sache in einem weltlichen Staat ist, eine weltliche Sache, die nach der konkreten Staats- und Gesellschaftsordnung zu gestalten ist, und zwar von allen auf der gleichen Grundlage. Die kirchliche und theologische Entwicklung hat das Strafrecht auch für den Christen in die Weltlichkeit entlassen.“48
Der Gedanke einer Kompatibilität der Katholiken mit dem modernen Verfassungsstaat schien an dieser Stelle der Bekräftigung zu bedürfen. Ihre Bereitschaft zur Mitgestaltung der Bundesrepublik wurde betont sowie die Einflussnahme von Seiten der deutschen Bischöfe relativiert. Das verweist auf Debatten, wie sie etwa vom späteren Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde49 unter dem Titel „Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche“ geführt wurden50. Stärkere Betonung erfuhr das gemeinsame Fundament des Grundgesetzes, das in die Tradition des Christentums eingebettet wurde51. Die Beschränkung des Strafbaren sowie die Differenzierung zwischen dem, „was als kriminell bestraft werden muß, und dem, was sittlich-moralisch nicht zu billigen ist“52 wurden mehrheitlich anerkannt. Bei den Einzelregelungen im Besonderen Teil nahm die Debatte um die Streichung des § 175 StGB weiten Raum ein. Der deutliche Wandel zwischen alter und neuer Rechtsordnung, Haltungen der Bevölkerung sowie kirchliche Reformen wurden auch von Zeitgenossen kommentiert, etwa wenn der CDUAbgeordnete Güde zur „Entkrampfung des Sexualstrafrechts“ aufforderte: „Dabei darf ich den sehr geschätzten Kollegen Dr. Wuermeling, der vorgestern für die Beibehaltung des Ehebruch-Tatbestands plädiert hat, auf zweierlei hinweisen. Die Stelle aus der Begründung des Entwurfs 1962, die er zitiert hat, ist in ihrer Grundlage – lassen Sie es mich kurz sagen – überholt. Sie stammt ebenso wie die Begründung zu § 175 – diese in einem noch stärkeren Maße – noch aus einer Zeit, in der die Grenze zwischen Sittenverstoß und strafwürdigem, weil sozialschädlichem Unrecht von den Kirchen, ihren Moraltheologen und Ethikern anders gezogen worden ist als heute. […] Die Erkenntnis von der Unangemessenheit kri48 Ebd. 49 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, *1930, r.-k., Mitglied der SPD, Staats- und Verwaltungsrechtler, Richter am Bundesverfassungsgericht 1983–1996, ordentlicher Professor an den Universitäten Heidelberg, Bielefeld, Freiburg/Br. Vgl. Mçllers, Konziliarismus, 107–114. 50 Bçckenfçrde, Ethos, 9–25. 51 Vgl. dazu ebenfalls Güde: „Wenn ich übrigens vorhin von der Liberalität des Grundgesetzes gesprochen habe, so will ich nicht verheimlichen, daß ich für meine Person diese Liberalität in einem breiten Strom von Überlieferung christlichen Gedankengutes eingebettet sehe, das nach dem Verfassungsrechtler Dürig auch zur Deutung und zum Verständnis des Grundgesetzes herangezogen werden kann.“ (Plenarprotokoll 230. Sitzung des Deutschen Bundestags am 7. 5. 1969, 12717). 52 Diemer-Nicolaus, Plenarprotokoll 230. Sitzung des Deutschen Bundestags am 7. 5. 1969, 12720.
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mineller Bestrafung solcher Sachverhalte hat sich durchgesetzt. Es ist in der Tat notwendig, die Grenzen des Sexualstrafrechts neu zu bestimmen. Man muss also vorsichtig sein, wenn man die Begründung des E 1962 zitiert. Sie steht nicht mehr, nicht nur, weil ein anderer Justizminister da ist, sondern auch weil sie so nicht mehr geschrieben werden könnte, wenn man mit Welt und Kirche, mit der Meinung der Bürger und der Moraltheologen und Ethiker […] einig gehen will.“53
Zum Thema Abtreibung lässt sich des Weiteren festhalten: Trotz des Anliegens der Alternativ-Professoren wurde die Regelung nicht in Frage gestellt. Man stand jedoch vor dem Problem, wie mit Menschen umzugehen sei, die ins Ausland reisten, um dort eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Die fordernde Seite einer zunehmend heterogenen Gesellschaft formulierte etwa der Abgeordnete Hirsch: „Die Problematik der Abtreibung ist uns zur Genüge bekannt. Etliche in diesem Hause haben die eine und etliche haben die andere Meinung. Das ist nun wirklich der typische Fall einer an Nerven und Nieren gehenden Meinungsverschiedenheit in einem pluralistischen Lande.“54 Großer Konsens bestand über die Dringlichkeit einer Neuregelung des § 218 StGB. Sie sollte für die folgende Wahlperiode in Angriff genommen werden. 1971 erschien die von Alice Schwarzer55 initiierte Kampagne „Ich habe abgetrieben“ im Magazin Stern. Hier wurden sowohl auf die gesellschaftliche Praxis rekurriert als auch emanzipatorische Argumente angeführt. Denn die gesellschaftliche Wirklichkeit unterschied sich deutlich von der gesetzlichen Regelung, allerdings blieben die meisten Abtreibungen ohne strafrechtliche Folgen: die wenigen gerichtlich verhandelten Abtreibungen wurden meist lediglich mit Geld- oder geringer Bewährungsstrafe geahndet56. Seit Anfang der 1970er Jahre wurde das Thema Abtreibung dann verstärkt von der Frauenbewegung thematisiert und mit der Frage nach weiblicher Emanzipation kombiniert. 1974 entschied sich der Bundestag schließlich für eine Fristenregelung. Allerdings erfolgte unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes eine verfassungsrechtliche Prüfung auf Antrag einiger Abgeordneter und Bundesländer. Diese ergab, dass die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vom 18. Juni 1974 dem Schutz des werdenden Lebens nicht ausreichend gerecht werde57. Damit war die Debatte um die Bedingungen einer Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs erneut auf der Tagesordnung. Im Mai 1976 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Neuregelung des § 218 StGB, die eine modifizierte Indikationslösung umfasste. Straffreiheit war innerhalb einer bestimmten Frist (12 bzw. 22 Wochen) ge53 Plenarprotokoll 232. und 233. Sitzung des Deutschen Bundestags am 9. 5. 1969, 12832. 54 Ebd., 12729. 55 Schwarzer, Alice, *1942, Journalistin und Feministin, seit 1977 Begründerin und Herausgeberin der Zeitschrift Emma. Vgl. http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/aliceschwarzer/ (zuletzt abgerufen am 28. 04. 2013). 56 Vgl. Demel, Abtreibung, 117. 57 Vgl. zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts die ausführliche Dokumentation bei Arndt / Erhard / Funcke, § 218 StGB.
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geben, wenn darüber hinaus eine der vier Indikationen (medizinisch, embryopathisch, kriminologisch, sozial) vorlag. Diese sollte bis zur Neuregelung im Zuge der Wiedervereinigung Bestand haben.
4. Fazit Homosexualität wurde bis in die frühen 1960er Jahre als die natürliche Sittlichkeit störend und pervertiert wahrgenommen. Diese Einschätzung wurde mit dem Verweis auf ein objektives Sittengesetz fundiert, was wiederum häufig religiös begründet war. Grundlage für die mehrheitliche ablehnende Haltung war die Annahme einer gesellschaftlichen Ordnung bzw. Schöpfungsordnung, innerhalb derer Homosexualität als Störung empfunden wurde. Diese Einschätzung änderte sich mit einer neuen Sicht auf die „Natur“, die weniger normativ war und sich stärker auf natur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse stützte. Homosexualität galt nun nicht mehr als sich ausbreitende bewusste Verirrung oder als Verführung, sondern als angeborener oder „unfreiwillig angeeigneter“ Zustand oder Krankheit. Die politische und rechtliche Beurteilung trug dieser Entwicklung Rechnung, denn sie basierte maßgeblich auf der Vorstellung von Verantwortung, das heißt von der Möglichkeit des Auch-Anders-Handeln-Könnens. Lag keine Entscheidung für oder gegen Homosexualität vor, so war auch ihre Sanktionierung fragwürdig geworden. Die intensive Beschäftigung mit dem Phänomen Homosexualität in abgrenzend-ängstlicher Art und Weise in den 1950er Jahren bot so zusammen mit einer sich heterogenisierenden Gesellschaft die Grundlage für eine veränderte Einschätzung. Eine positive Bewertung homosexueller Partnerschaften fand sich hingegen erst gegen Ende des Untersuchungszeitraums und dort nur vereinzelt. Die Debatten um Schwangerschaftskonflikte zeigten, dass für die frühen 1960er Jahre Emanzipation und weibliche Selbstbestimmung keine maßgeblichen Themen im Deutschen Bundestag waren. Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung war zunächst vielmehr die kriminologische Indikation, d. h. die Zulässigkeit eines Abbruchs angesichts einer nicht selbst verantworteten Notlage. Das Argument der selbstbestimmten Entscheidung der Frau fand sich (noch) nicht. Unbestrittenes Argument war der Schutz des Lebens, der von Manchen auch religiös begründet wurde, wobei hier ein Wandel im Agieren der Abgeordneten von einer häufig anzutreffenden religiösen Begründung mit klarer Handlungsaufforderung hin zu einer informierenden Aufgabe der Kirchen sichtbar wurde. Die differenzierte evangelische Haltung wurde oft nur indirekt reflektiert, indem auf die (nun allein unveränderte) katholische Sicht verwiesen wurde. Das Spannungsfeld individueller Lebensführung und staatlicher sowie kirchlicher Normierung veränderte sich im Zeitraum der „langen 60er Jahre“.
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Die 1950er Jahre waren unter dem Stichwort „Rechristianisierung“ geprägt von einer Nähe der beiden großen Konfessionen zu politischen Akteuren. Zugleich war die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden Kirchen. Religiöse Argumente wie auch Argumente die Sittlichkeit betreffend wurden als solche auch im politischen Raum formuliert und akzeptiert. In den 1960er Jahren schwand diese umfassende Deutungshoheit in moralischen Fragen. Die Gründe hierfür lagen einerseits in der sinkenden Religionszugehörigkeit wie auch der zurückgehenden Zahl derer, die aktive Mitglieder in den Kirchen waren, zum anderen verwahrten sich auch Gläubige immer stärker gegen den unmittelbar normierenden Einfluss ihrer (Amts-) Kirche. Mit dem Stichwort „Individualisierung“ lässt sich die Tendenz beschreiben, individueller Lebensführung größeren Raum zu geben, und deshalb staatliche wie kirchliche Einflüsse zu beschränken. Der Schutz der Privatsphäre und die freie Entfaltung der Persönlichkeit erfuhren größere Aufmerksamkeit, wohingegen allgemeine Sittlichkeitsideale und die öffentliche Ordnung in den Debatten an Relevanz verloren58. Im Anschluss an den genannten Begriff der Verhäuslichung konnte in dieser Untersuchung gezeigt werden, dass der Wunsch nach Privatheit und Selbstbestimmtheit in diesem Bereich im Untersuchungszeitraum an Aufmerksamkeit gewann: „The government has no business in the bedrooms of the nation.“59 Darüber hinaus veränderten sich auch das Selbstverständnis der Kirchen sowie deren Verständnis von politischer Ethik in den 1960er Jahren fundamental. Das Zweite Vatikanische Konzil bot mit seinen Impulsen Raum für ein verändertes Verhältnis von freiheitlicher Demokratie und katholischer Kirche, zu nennen ist hier etwa die Anerkennung der Religionsfreiheit60, aber auch die Betonung der Bedeutung des Gewissens eines jeden Gläubigen und damit verbunden das neue Selbstverständnis der katholischen Laien61. In der evangelischen Kirche verwies man auf die Grenzen staatlichen Handelns in Bezug auf die persönliche Lebensführung. Die Stellungnahme des Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Beckmann, im Sonntagsblatt 1963, dokumentiert das, wenn er von einem „gefährlichen Irrtum“ sprach, das Strafgesetzbuch zur Strafandrohung in Gottes Namen zu verwenden; „[d]enn der Staat hat von Gott nicht den Auftrag, Richtlinien für ein den Geboten Gottes gehorsames Leben, in Sonderheit für Ehe, Geschlechtsleben und Kinderzahl, aufzustellen und über ihre Innehaltung durch Gesetz und Polizei zu wachen. 58 In diesem Beitrag wird folglich auf Grundlage der ausgewerteten Quellen das liberale Moment der Hinwendung zum Individuum betont, während Reiner Anselm auch auf den darin inhärenten illiberalen Zug verweist, nämlich den Binnenbereich der Persönlichkeit der öffentlichen und kirchlichen Kontrolle preiszugeben. Vgl. Anselm, Einleitung, 284. 59 Der Justizminister Ehmke zitiert hier in der 230. Sitzung den kanadischen Ministerpräsidenten Trudeau, s. Plenarprotokoll 230. Sitzung, 12715. 60 Vgl. weiterführend Schockenhoff, Freiheit 309 f. 61 Vgl. Rahner, Gegenwart.
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Er muss sich nach seinem göttlichen Auftrag (und nach seinen realen Möglichkeiten) darauf beschränken, ,für Recht und Ordnung zu sorgen‘ und darf demgemäß allein die Störung der öffentlichen Rechts- und Friedensordnung unter Strafe stellen.“62
Die Reflexion der eigenen Rolle im politischen Gemeinwesen führte hier offensichtlich ebenfalls zu einer Art der Zurückhaltung der Kirchen, wobei dies für die evangelische und katholische in unterschiedlichem Maß zutraf. Religiöse Argumente blieben auch in den späten 1960er Jahren aktuell. Wie das Beispiel der Strafrechtsreform 1969 zeigte, wurden nun aber andere Aspekte betont, die zur neuen Rolle von Kirchen, aber auch zum Selbstverständnis der Zeit passten. Nicht mehr der restriktive Schutz der sittlichen Ordnung, sondern Empathie, Barmherzigkeit und Friedfertigkeit standen im Vordergrund christlicher Identität. Eine-Welt-Bewegungen, Kirchentage und eine neue Politisierung von Kirche sowie die teils dezente, teils fundamentale Kritik an klerikalen Strukturen spielten eine größere Rolle. Bei aller Vergleichbarkeit unterliegen die beiden untersuchten Themenbereiche aber auch Ungleichzeitigkeiten. Die hier vorgestellte Problematik zeigte zudem konfessionelle und binnenkonfessionelle Differenzierungen wie etwa der Umgang mit naturrechtlichen Argumenten auf, soweit sie im politischen Raum Widerhall fanden. In einer direkten Abwehrbewegung zum Missbrauch des Rechtsstaates und des Rechts durch die Nationalsozialisten erschien zunächst eine starke naturrechtliche Fundierung des Rechts für viele unabdingbar. Diese Fundierung wurde doppelt untermauert, indem man sich sowohl auf die großen Kirchen als Garanten für Moral sowie auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens berufen konnte. Mit der stärkeren Heterogenisierung der Gesellschaft begann eine dieser Säulen zu wanken, binnenkirchliche Differenzierungsprozesse und die sinkende Zahl an Gläubigen in den Volkskirchen gefährdeten die zweite Säule. Eine bereits in den frühen 1960er Jahren aufkommende Lösung schien die Entwicklung hin zu einem liberaleren Recht zu sein, das nur die grundlegenden Pfeiler menschlichen Zusammenlebens regelte, während die Frage nach individueller Lebensgestaltung stärker dem Einzelnen überlassen blieb. Moralische Urteile unterschieden sich damit von rechtlichen Bewertungen. Denn mit der wachsenden Pluralität in der Bevölkerung nahm die Deutungsmacht naturrechtlicher Konzeptionen ab. Zugleich sank auch die gesellschaftliche Zustimmung und veränderte sich hin zu einer stärker von Selbstbestimmung und Wahlmöglichkeiten her verstandenen Haltung.
62 Zit. nach Stellungnahme des Öffentlichkeitsausschusses der Evangelischen Kirche im Rheinland, VIII – 002–047/2, 13.
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Homosexualität und evangelische Kirche in den 1960er Jahren
Als der Rat der EKD 1996 eine „Orientierungshilfe“ zum Thema Homosexualität und Kirche vorlegte, stand an deren Anfang ein Schuldeingeständnis: „Christen und Kirchen haben sich […] oft nicht schützend vor die Angegriffenen gestellt, sondern sind an ihnen mitschuldig geworden.“1 Das gilt auch für das hier ins Auge gefasste Jahrzehnt. Homosexualität war bis in die 1970er Jahre hinein im kirchlichen Kontext kein Thema, jedenfalls keines, über das eine offene Debatte unter Beteiligung derer möglich war, die „Betroffene“ waren. Die erste kirchenoffizielle Äußerung war die von einer eigens von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eingesetzten Kommission erarbeitete „Denkschrift zu Fragen der Sexualethik“. In der 1971 veröffentlichten Schrift war der Homosexualität ein eigener Abschnitt gewidmet. Sie galt als „sexuelle Fehlform“, was als „eine andere Beurteilung als die frühere moralisch verurteilende“ verstanden werden sollte. Das Wichtigste war hier das Angebot seelsorgerlicher und therapeutischer Hilfe2 – dieser Aspekt wird auch in diesem Beitrag eine zentrale Rolle spielen. Dass Homosexualität kein Thema war, jedenfalls keines, über das man offen und vorurteilsfrei sprach, galt freilich für die Gesellschaft insgesamt. Die in der Mentalität wohl der meisten Menschen verankerte Auffassung war die, die der § 175 StGB auf seine Weise formulierte, indem er Homosexualität an sich kriminalisierte. Unwiderlegbar schien es zu sein, dass Schwule triebhaft und tendenziell kriminell waren, Jugendliche zur Homosexualität verführen wollten, Netzwerke bildeten3 und allenfalls durch Triebverzicht oder – Höhepunkt der Toleranz – durch eine feste Partnerschaft zivilisierbar waren. Schwule versuchten selbst, sich nach außen hin als unauffällig und asexuell, nämlich nicht als homosexuell, sondern als „homophil“ darzustellen4. Noch galt in Umkehrung des dann so berühmt gewordenen Films Rosa von Praunheims aus dem Jahre 1971: Der Homosexuelle ist pervers, nicht die Situation, in der er lebt. Dies alles war definiert auf dem Hintergrund eines in Staat, Recht, Politik und Kirche propagierten Leitbildes, in dem die heterosexuelle Ehe den sichersten Hafen für Sex darstellte. Schwul oder lesbisch zu 1 2 3 4
Spannungen, 6. Denkschrift, 40. Riechers, Freundschaft, 14 ff. Ebd., 27 f.
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sein wurde als ein Faktor von vielen gesehen, die die Ehe bedrohten und die primär auf einer Überbetonung oder fehlerhaften Ausprägung der Sexualität begründet gesehen wurden. Diese Vorstellungen lassen sich auch als Verschärfung nach der Zeit des „Dritten Reiches“ sehen, wo es aus politischen Gründen eine Liberalisierung der Lebensweisen und moralischen Vorstellungen gegeben hatte, freilich nur für Heterosexuelle und „Arier“5. Schwule wiederum wurden nach einer kurzen Liberalisierungsphase nach dem Krieg bald wieder entschieden kriminalisiert6. Wo das Thema in der kirchlichen Öffentlichkeit vorkam, wurde es allenfalls versteckt debattiert, und dann eben als Teil eines größeren Komplexes, der die Furcht vor dem zum Inhalt hatte, was man „Sexualisierung“ der Gesellschaft nannte. Ein Anlass für solche Debatten war Ingmar Bergmans Film „Das Schweigen“, der 1964 in die deutschen Kinos kam. Die Geschichte zweier Schwestern, denen man beim Zuschauen lesbische Neigungen attestieren konnte, rief heftige Gegenreaktionen hervor, die den Rat der EKD dazu veranlassten, seinen Filmbeauftragten Hermann Gerber eine „Handreichung für Theologen zur Diskussion über den Film“ erstellen zu lassen. Diese war nicht einmal abwertend, sondern riet dazu, ihn unter der Leitlinie von Römer 1,18–32 zu analysieren7, also eines immer wieder für sexuelle „Abweichungen“ angeführten Schlüsseltextes. Der Öffentlichkeit, Politik und Intellektuelle stark bewegende Film war auch einer der Anlässe für ein Wort des Rates der EKD zum Buß- und Bettag des Jahres 1964, in dem beklagt wurde: „Die Zeichen moralischer Entartung in unserem öffentlichen und privaten Leben mehren sich in erschreckender Weise.“8 Dabei waren die anstößigsten Szenen in Deutschland nur nicht aus dem Film herausgeschnitten worden, weil die Verleihfirma das Schweigen als Schweigen Gottes interpretiert hatte – immerhin war Bergman Pfarrerssohn. In der evangelischen Filmpublizistik fand der Film positive Resonanz9. Freilich ist die Debatte um diesen Film schon deshalb eine Ausnahme, weil es hier um weibliche Homosexualität ging, wo sich die Debatten doch sonst primär um männliche Homosexualität drehten. Lesbische Lebensweise galt als wesentlich tolerabler und wurde auch nicht kriminalisiert, auch wenn „Lesbierinnen“ pathologisiert oder als „Männerhasserinnen“ herabgesetzt werden konnten10. Wo es um Homosexualität ging, redeten Männer über Männer, und trotz der beginnenden „sexuellen Revolution“ war Homosexualität schon wegen der Strafandrohung ein marginales Thema. Auch bei Beate Uhse fand Homosexualität nicht statt, und wenn, dann nur unbeabsichtigt, weil in den späten 1960er Jahren auch nackte Männer in ihren Versandkatalogen abge5 6 7 8 9 10
Herzog, Politisierung, 91. Ebd., 110. Handreichung, 108–111. Wort des Rates, 113 f. Steinbacher, Sex, 285; vgl. zur Auseinandersetzung um den Film weiterhin 283–288. Plçtz, Frauenleben, 47–69.
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bildet wurden11. Der polizeiliche Verfolgungsdruck ging zwar ebenso wie die gerichtlichen Verurteilungen zurück, doch gab es allenfalls Duldung für Prominente wie den Außenminister Heinrich von Brentano oder die Schauspieler Hubert von Meyerinck und Gustaf Gründgens. In den 1950er Jahren waren immer noch Tausende von Männern aufgrund des § 175 StGB verurteilt worden, einfach weil sie schwul waren. Zur Intensivierung der Debatte auch im westdeutschen Protestantismus trugen nicht zuletzt Impulse aus England bei, die durch den anglikanischen Theologen Derrick Sherwin Bailey vermittelt wurden, der dann auch den RGG-Artikel „Homosexualität“ verfasste. Die Anglikanische Kirche hatte in dieser Frage unter Baileys Einfluss schon früh eine moderate Haltung eingenommen und verstärkte diese auf der Grundlage des 1957 veröffentlichten „Wolfenden Reports“, einer Untersuchung des britischen Home Office, die eine Entkriminalisierung der Homosexualität empfahl und nach ihrem Vorsitzenden Sir John Wolfenden benannt war. In Deutschland fand der Wolfenden Report zuerst Rezeption durch eine Publikation des Hamburger Rechtsanwalts Albrecht Dieckhoff, die er zusammen mit dem Arzt Karl Knop und dem pensionierten Arbeitsgerichtsdirektor Hannes Kaufmann verantwortete. Der eigentliche Initiator dieser Publikation war Kaufmann, der in seinem Vorwort zwar betonte, seine Mitwirkung sei eine ganz persönliche, der es aber auch nicht unterließ zu betonen, er sei Vorsitzender des Hamburger Protestantenvereins. Hier wurde also eine späte Stimme des liberalen Protestantismus laut. „Der Protestanten-Bericht“ beruhte auf dem Wolfenden Report und zwei Stellungnahmen von anglikanischer und englischer katholischer Seite, bezog aber auch den Kinsey-Report ein, der schon für den Wolfenden Report Bedeutung gehabt hatte12. Das Anliegen des „ProtestantenBerichts“ bestand nicht nur in einer Entkrimininalisierung der Homosexualität, sondern auch in ihrer Anerkennung als der Heterosexualität gleichwertige und von Natur aus angelegte Spielart der Geschlechtlichkeit: Nicht Perversion, sondern Inversion lautete die Formel13. Die statistischen Befunde des Kinsey-Reports traten nun in Konkurrenz mit theologischen, psychologischen oder medizinischen Erklärungsmodellen. Der Report lieferte einen ersten Einblick in die realen Verhältnisse: Sex machte Spaß, Selbstbefriedigung, Sex vor oder außerhalb der Ehe und Oralverkehr waren in der Lebenspraxis normal, und es stellte sich ebenso heraus, dass die Zahl homosexueller Erfahrungen bei Heterosexuellen relativ hoch war und dass auch Homosexuelle heterosexuelle Beziehungen hatten. So ließ sich Homosexualität nicht mehr allein als Durchgangsstadium in der Entwicklung Jugendlicher oder Disposition einer kleinen Minderheit charakterisieren. Freilich blieben Kinseys Interpretationen und vor allem seine Zahlen – 37 % 11 Heineman, porn, 15 f., 145. 12 Dieckhoff / Knop / Kaufmann, Stein, 5–7. 13 Ebd., 17.
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der Männer sollten in ihrem Leben eine homosexuelle Erfahrung gemacht haben – auch nicht unwidersprochen14. Kinseys Ergebnisse waren ein Anstoß für die Zeitschrift „Wochenend“, beim Allensbach-Institut eine Umfrage in Auftrag zu geben, die 1949 durchgeführt und als „große deutsche SexualAnalyse“ veröffentlicht wurde. Zwar hatte Allensbach nach Homosexualität gefragt, jedoch veröffentlichte „Wochenend“ die diesbezüglichen Ergebnisse nicht. Immerhin hatte ein knappes Viertel der befragten Männer homosexuelle Erfahrungen gemacht, doch wählten nur 4 % der Befragten die Antwort, Homosexualität sei eine ganz natürliche Sache. Rund 40 % hielten sie für eine Krankheit, rund 50 % für ein Laster, der Rest für eine Angewohnheit15. In der Bundesrepublik lieferte eine 1968 veröffentlichte Umfrage an zwölf Universitäten besseres empirisches Material16. Hier kam zutage, dass 18 % der Studenten (männlich) zwischen dem 12. und dem 18. Lebensjahr „homosexuelle Erlebnisse“ hatten, allerdings zumeist einmalige. Da die Zahlen im beginnenden Erwachsenenalter niedriger lagen, wurde dies in geläufiger Weise als „passagere homosexuelle Reaktionen“ gedeutet, und eine bei der Auswertung der Untersuchung gestellte Frage war, „inwieweit homosexuelle Kontakte im Jugendalter die spätere sexuelle Anpassung beeinflussen“17. Gefragt wurde in dieser Untersuchung auch nach Kirchenzugehörigkeit und Kirchenbesuch. Dabei stellte sich heraus, was freilich zu erwarten war : NichtKirchgänger billigten zu über 90 % „homosexuelle Betätigung“, während dies unter den kirchlich Gebundenen nur 50 bis 60 % waren. Unter ihnen war immerhin die Hälfte für eine Liberalisierung des § 175 StGB, unter den religiös nicht Gebundenen waren es aber über 80 %18. Grundsätzlich machte die Umfrage deutlich, dass die Einstellung zu Ehe und Sexualität und vor allem die Praxis unter den Studierenden sehr liberal waren und mit kirchlichen Vorstellungen zumeist nicht übereinstimmten. Als 1981 eine Vergleichsstudie durchgeführt wurde, war die Zahl der Männer, die homosexuelle Erfahrungen gemacht hatten, leicht auf 25 % angestiegen19. Theologie und Kirche blieben von solchen Befunden unbeeindruckt – bis heute, könnte man sagen. Was die Theologie und ihre Vermittlung in die Kirche hinein angeht, hatte Helmut Thielicke wohl Recht, als er 1962 in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Evangelische Ethik schrieb, von den protestantischen Ethikern sei das Thema kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen worden. Thielicke protestierte gegen eine Pathologisierung der Homosexualität und diagnostizierte einen „Abwehrinstinkt“ in der theologischen Literatur, den man im Namen von Wissenschaftlichkeit und seelsorgerlicher 14 15 16 17 18 19
Schmidt, Alfred C. Kinsey, 350–359; Haeberle, Alfred C. Kinsey, 230–238. Steinbacher, Sex, 163. Giese / Schmidt, Studenten-Sexualität. Ebd., 173 f., 175 (hier das Zitat). Ebd., 288. Clement, Sexualität, 55.
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Diakonie besser unter Kontrolle bringen sollte20. Thielicke scheute sich nicht, denen, die das Thema im damals gängigen abwertenden Sinne aufnahmen, eine „doktrinär gehandhabte Ordnungstheologie“ vorzuwerfen, „die sich offenbar kaum durch eine seelsorgerliche Begegnung mit den Betroffenen hat in Frage stellen lassen“21. Interessant ist bei Thielicke der Umgang mit jener biblisch-theologischen Denkfigur, die bis heute immer wieder angeführt wird und sich in dem bereits erwähnten Brief des Apostels an die christliche Gemeinde in Rom findet: Dass alle Menschen Sünder seien, hatte Paulus im 1. Kapitel seines Briefes befunden (Röm 1,26 f), und Thielicke schloss daraus: „Wir befinden uns alle in gleicher Verdammnis, und jeder hat ,sein‘ Teil von ihr bekommen. Auf dem homosexuellen Teil liegt jedenfalls, von hier aus gesehen, keineswegs ein erhöhtes Gewicht, das berechtigt wäre, pharisäische Gefühle der Selbstgerechtigkeit und des Intaktseins bei uns ,Normalen‘ hervorzurufen.“22 Thielickes Folgerung war denn auch: Homosexualität ist eine Verkehrung der Schöpfungsordnung, die sich aber kaum medizinisch oder psychologisch korrigieren ließ. Da blieb nur, „die Last dieser Veranlagung als Schickung zu bejahen“23. In einem zweiten Schritt formulierte Thielicke es als Aufgabe des Homosexuellen, „innerhalb des Koordinatensystems seiner Konstitution die mannmännliche Verbundenheit ethisch verbindlich zu gestalten“24. Das allerdings hatte für Thielicke wiederum mit Triebsublimierung zu tun, die unter Anleitung eines ärztlichen oder seelsorgerlichen Begleiters eingeübt werden sollte25. Eben diese Auffassung fand sich dann auch in Thielickes „Theologischer Ethik“ wieder26. Auch wenn sich Thielicke also gegen eine Pathologisierung von Schwulen wendete, „theologisierte“ er sie doch. Thielicke benannte mit der „Begleitung“ auch das Feld, auf dem in den 1960er Jahren Homosexualität innerhalb der Kirche am ehesten thematisiert wurde, nämlich das der Seelsorge oder der Beratung. Homosexualität war eigentlich – so sah es Thielicke und so sollten es ganz allmählich auch andere sehen – eine ethische oder psychologische, keine strafrechtliche Frage27. So wurde Thielicke neben Theodor Bovet, dem Leiter der evangelischen Eheberatungsstelle in Zürich, zum Kronzeugen für eine evangelische Haltung, die Homosexualität an sich straffrei gestellt sehen wollte28. Seelsorge und Beratung waren demnach die Arenen, in denen Homosexualität individuell zur Sprache kommen konnte, wobei zu beachten ist, dass die Seelsorge sich immer mehr als psychoanalytische Seelsorge verstand – 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Thielicke, Erwägungen, 151 f. 155. Ebd., 150. Ebd., 159 f. Ebd., 160. Ebd., 161. Ebd., 163. Thielicke, Ethik 3, 788–810. Thielicke, Erwägungen, 163. Bovet, Anders-Sein, 9 f.; vgl. auch Strauss, Fragen, 511 f.
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eine Bewegung, für die die Klinische Seelsorgeausbildung und Namen wie Joachim Scharfenberg und Dietrich Stollberg stehen. Zuständig waren also die evangelischen Ehe- und Familienberatungsstellen. Dabei kam es zu einer merkwürdigen Koalition von Beratenden und Beratenen, solchen Menschen also, die ihr Schwul- oder auch Lesbischsein als Problem ansahen, was allerdings in dieser Zeit aufgrund des herrschenden Meinungsklimas nicht verwunderlich ist. Eine Statistik der Hauptstelle der evangelischen Kirche im Rheinland für Ehe- und Familienfragen verzeichnet für die Zeit von 1951 bis 1966 unter dem Punkt „Perversionen“ 0,7 % Rat Suchende unter der Rubrik „Verschiedene“ und 0,6 % unter der Rubrik „Homosexualität“29. Homosexualität war für die Beratungsstellen statistisch gesehen demnach ein Randthema. Als 1964 das Evangelische Zentralinstitut für Familienberatung in Berlin gegründet wurde, das aus der 1959 gegründeten „Konferenz für Evangelische Familien- und Lebensberatung“ erwuchs, hatten die landeskirchlichen Ehe- und Erziehungsberatungsstellen ein Zentrum bekommen30. Auch auf dieser Ebene lässt sich eine Marginalisierung beobachten, die nicht allein statistischer Natur ist: Einer der führenden Männer des Evangelischen Zentralinstituts war Guido Groeger, sein Maßstab war unverkennbar die Ehe, auf die junge Menschen unter Ausschaltung vorehelicher Sexualität hingeführt werden sollten. Homosexualität wurde in Groegers Ratgebern peinlichst ausgeklammert31. Der totalen Fokussierung auf die Ehe entsprach die Verpflichtung aller, die sie einzugehen nicht willig oder fähig waren, zum Verzicht auf Sexualität, was wiederum normativen Aussagen aus dem Bereich evangelischer Ethik entsprach, die ja immerhin durch Helmut Thielicke kritisiert wurden. Die referierte Position Guido Groegers ließe sich demnach als Grundposition evangelischer Ethik, so wie sie in den Beratungsstellen vertreten werden sollte, verstehen. Diese aber war ambivalent: Einerseits versuchte man, Sexualität psychologisch zu interpretieren, andererseits diagnostizierte man Abweichungen von einer postulierten psychologischen oder ethischen Norm, die man kurieren wollte. Hier hatte dann die Homosexualität einen Platz. Inwieweit es eine Veränderung gab, lässt sich an einer Rezension Guido Groegers zeigen, die 1966 in der Zeitschrift „Wege zum Menschen“ erschien. Besprochen wurde das Buch „Sexuelle Partnerschaft in Ehe und Gesellschaft. Variationen und Perversionen“, das nicht aus dem kirchlichen Kontext stammte32. Dem Verfasser, Willhart Siegmar Schlegel, warf Groeger „eine biologische Interpretation“ vor, da für ihn das Sexualverhalten festgelegt sei 29 30 31 32
Groeger, Beratungsmotive, 48. Sommer, Zentralinstitut, 263–266; Fischer, Entwicklung, 299–302. Z. B. Groeger, Mädchen. Schlegel, Partnerschaft. In einer späteren Auflage hieß das Buch „Sexuelle Partnerschaft. Formen und Verhaltensweisen“ (Gütersloh 1971). Hier war das die Homosexualität thematisierende Kapitel völlig überarbeitet und um ein Kapitel zur Homosexualität von Frauen ergänzt worden (Kap. VI. Die Zweigleisigkeit der männlichen Sexualität).
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und er sich nicht mit den psychosomatischen und tiefenpsychologisch-psychoanalytischen Auffassungen auseinandersetze33. Bedenkt man, dass Schlegel als Schüler von Otmar von Verschuer der Herkunft nach wirklich ein Biologist war, der sogar die Vererbung der Homosexualität behauptete34, war Groeger auf der richtigen Spur. Tragisch ist wiederum, dass Schlegel wie so mancher, der sich mit der Materie befasste und Homosexualität abwertete, offensichtlich selbst schwul war. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Seitenblick auf die Debatten außerhalb der evangelischen Theologie und Kirche. Führend waren hier Mediziner und Psychoanalytiker. Namen wie die von Hans Bürger-Prinz oder Hans von Hentig stehen für Positionen, die Homosexualität als abnorm oder asozial disqualifizierten. Bürger-Prinz hatte in der Zeit des „Dritten Reiches“ als Gutachter viele Homosexuelle beurteilt, mit fatalen Folgen35. Für eine andere Haltung steht der ausgerechnet von Bürger-Prinz geförderte Hans Giese, der zwar die Etablierung der Sexualwissenschaft als eigene Disziplin vorantrieb und damit auch gegen den § 175 StGB vorgehen wollte, aber letztlich ein Einzelkämpfer war. Auch Giese aber stellte wie andere eine Nomenklatur von Homosexuellen auf, in der diejenigen, die in einer Partnerschaft lebten, für gut befunden wurden, jene aber, die das nicht taten, als der Promiskuität verfallen pathologisiert wurden36. Anders als man ihn später sah, war Giese kein Vorkämpfer sexueller Freiheit. Das ostdeutsche Pendant zu Giese im Kampf gegen den § 175 StGB war der in Dresden praktizierende Arzt Rudolf Klimmer, dessen Hauptwerk „Die Homosexualität als biologisch-soziologische Zeitfrage“ nur in der Bundesrepublik erscheinen konnte. Wie Giese war auch Klimmer selbst „Betroffener“ und – anders als der dezidierte Mitläufer Giese – im „Dritten Reich“ zum Opfer des § 175 StGB geworden37. In den Fokus der kirchenleitenden Organe kam das Thema Homosexualität erst im Vorfeld der großen Strafrechtsreform. In seiner Sitzung am 17. und 18. Januar 1963 nahm der Rat der EKD einen Bericht der Strafrechtskommission der Evangelischen Studiengemeinschaft entgegen, den der Kirchenrechtler Hans Dombois verantwortete. Diese Kommission war es, die den Rat der EKD in den 1960er Jahren in Fragen des Strafrechts beriet, wobei sich die EKD aus den Debatten um diese Reform offiziell heraushielt38. In dem Bericht der Strafrechtskommission, der 1963 zur Vorlage kam, hatte auch ein Abschnitt zur Reform des § 175 StGB seinen Platz, dessen Inhalt zwiespältig
33 Groeger, Rezension, 319 f. Schlegel selbst hatte 1964 in der Zeitschrift für Evangelische Ethik seine Position kurz vorgestellt: Die Homosexualität in biologischer und in ethischer Sicht. 34 Mildenberger, Willhart S. Schlegel, 629 ff.; Sigusch / Grau, Geschichte, 394–396. 35 Grau, Hans Bürger-Prinz, 103 f. 36 Dannecker, Hans Giese, 231–234; Sigusch / Grau, Geschichte, 391–394, 409–414, 415–429; Steinbacher, Sex, 215–221. 37 Grau, Rudolf Klimmer, 360–366. 38 Rendtorff, Schuld, 636.
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ausfiel39. Zum einen wurde als Maßstab „sexueller Betätigung“ ihre sozialethische Funktion angeführt, die nur in der Ehe verwirklicht werden könne. Darum sei Homosexualität „sozialethisch als Unrecht zu beurteilen“ und könne nicht prinzipiell straflos gestellt werden. Abgemildert wurde diese Aussage freilich durch den Satz: „Dieses Urteil schließt nicht aus, daß der homosexuelle Mensch auch als Mensch geachtet und in der Rechtsgemeinschaft belassen werden muß.“ Noch weiter ging dann die Forderung von Teilen der Kommission, die Strafbarkeit der Homosexualität aufzuheben bzw. auf bestimmte Tatbestände einzuschränken, weil sie „den Effekt einer allgemeinen sozialen Ächtung des Homosexuellen haben kann“. Das Grundproblem wurde von der Kommission in der Gefahr einer Art Dammbruch gesehen, der sich bei einer Entschärfung des § 175 StGB in Form einer Flut homosexueller Propaganda einstellen könnte. Im Endergebnis aber konnte man sich zu einem „Auseinandergehen zwischen dem sittlichen Unwerturteil und der positiven Strafrechtsordnung“ verstehen, und dies auch unter Hinweis auf jenen Aufsatz von Helmut Thielicke aus dem Jahre 1962, der bereits angeführt wurde. Innerhalb der evangelischen Szene von Beratern und Beraterinnen und sich als medizinisch und psychologisch sachverständig Ansehenden hatten die Beiträge in der Zeitschrift für Evangelische Ethik durchaus initialen Charakter für weitere Debatten. Nicht nur Thielickes Aufsatz war 1962 in dieser Zeitschrift erschienen, sondern auch andere zum gleichen Thema. Den Reigen eröffnete der Tübinger Systematische Theologe Adolf Köberle, der zwischen verschiedenen Formen homosexueller – und hier auch wieder allein männlicher – Beziehungen differenzierte, sie aber insgesamt als Entwicklungsstörung disqualifizierte, für die er die verschiedensten Ursachen ausfindig machte40. Damit lag er auf einer Linie mit einer Auffassung, die in den 1950er Jahren aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland gekommen war41. Homosexualität war danach eine Störung, eine Krankheit, die es zu heilen galt, wenn auch die Chancen dafür schlecht standen, da viele Homosexuelle gar nicht geheilt zu werden wünschten42. Was blieb, war erneut die Forderung nach Triebverzicht und das Angebot, durch die christliche Gemeinde getragen und gestützt zu werden43. In der Folge der 1962 in der Zeitschrift für Evangelische Ethik veröffentlichten Aufsätze erschien 1965 in der Zeitschrift „Wege zum Menschen“, einem wichtigen Organ des Personenkreises von Beratern und Beraterinnen, ein Beitrag des Mediziners Jochen Fischer. Fischer war Leiter der Abteilung Gesundheitsfürsorge der Hauptgeschäftsstelle der Inneren Mission und Mitglied der Strafrechtskommission der Evangelischen Studiengemeinschaft. Er 39 Strafrechtsreform, 111 f. (zur Frage der Homosexualität); auch in: Lutherische Monatshefte 2 (1963), 260 f. 40 Kçberle, Deutung, 141–149. 41 Kondratowitz, Stichwort, 240 f. 42 Kçberle, Deutung, 144. 43 Ebd., 149.
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referierte die Beiträge Thielickes und anderer und nahm selbst wiederum auf die Strafrechtsreform Bezug44. Im Überblick zeigt Fischers Beitrag, dass die Diskussionslage äußerst kontrovers, in theologischer Hinsicht vage und von vielen scheinbar unhinterfragbaren Annahmen geprägt war. Als Fazit und These lässt sich festhalten, dass die Beraterinnen und Berater die Pathologisierung von Homosexualität noch einmal auf eine neue Grundlage stellten und sich damit auch selbst eine Klientel konstruierten, die angeblich der Beratung bedurfte. Dies vollzog sich im Kontext einer pessimistischen Weltsicht, die einen Zerfall der Ehe diagnostizierte und diesen als Symptom eines umfänglichen moralischen Verfallsprozesses deutete. Andererseits war die psychoanalytische bzw. seelsorgerliche Perspektivierung des Themas auch ein wichtiger Beitrag zu einer Entkriminalisierung der Homosexualität. Dass sich humanwissenschaftliche Methoden sowie Theologie und Kirche so nahe kamen, war etwas relativ Neues und rief entsprechende Abwehrreaktionen auf evangelikaler Seite hervor. Entlastet war dadurch auch die Medizin, die jetzt nicht mehr mit Hormonkuren, Kastrationen oder Hirnoperationen für Heilung sorgen sollte45. Inwieweit die Bemühungen in Seelsorge und Beratung sowie die kirchlichen Äußerungen auf die Lebensführung der Individuen Einfluss hatten, lässt sich schwer ermessen. Ob sie in einem im ganzen gegenüber Schwulen noch repressiven Klima als wenigstens teilweise Entlastung verstanden wurden, ebenso schwer. Dazu müsste man wissen, was die „Betroffenen“ dachten, nicht nur, was man über sie dachte. Gravierende Veränderungen im Umgang mit dem Thema Homosexualität in der Öffentlichkeit gab es erst seit dem Ende der langen 1960er Jahre: 1972 fand die erste Lesben- und Schwulendemonstration statt, und zwar im katholischen Münster ; 1979 wurden in Berlin und Bremen erstmals öffentlich der Christopher Street Day gefeiert. Inzwischen war der § 175 StGB reformiert worden. Kirchlich wurde Homosexualität zum Thema, als sich 1977 die Initiative Homosexuelle und Kirche gründete und vor allem, als 1981 Pastor Klaus Brinker aus dem Dienst der Hannoverschen Landeskirche entlassen wurde: nicht weil er schwul war, sondern weil er das offen, nämlich mit seinem Partner, leben wollte.
44 Fischer, Diskussion, 21–31. 45 Vgl. dazu Klimmer, Homosexualität, 203–223.
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Fazit
Traugott Jähnichen
Religion und private Lebensführung Resümee über die konfessionellen Transformationsprozesse der „langen“ 1960er Jahre in theologischer Perspektive
Die leitende Fragestellung der Beiträge dieses Bandes, sich auf Themen der Lebensführung zu konzentrieren, um den dynamischen gesellschaftlichen und religiösen Wandel der 1960er Jahre eingehend zu analysieren, thematisiert zweifelsohne eine zentrale Dimension dieser Transformationsprozesse. Da der Begriff der Lebensführung sowohl eine normative wie auch eine empirische Dimension umfasst, sind durch diese Zuspitzung soziologische und theologisch-ethische Perspektiven sowie ihre jeweiligen Verschränkungen gehaltvoll zu analysieren. Dies bedeutet freilich auch die interpretative Herausforderung, dass beide Aspekte, wie es insbesondere eine Vielzahl von Quellentexten aus den 1960er Jahren zeigt, nicht immer klar voneinander abgegrenzt sind und sich die Ebenen bisweilen zu vermischen drohen. Dennoch liegt gerade in diesem durch den Begriff der Lebensführung angelegten doppelten Verweis auf normative wie auf empirische Aspekte des religiösen Wandels ein besonderer Reiz, um einerseits den Einfluss christlicher Wertvorstellungen wie aber auch den tiefgreifenden Wandel, den diese Wertvorstellungen insbesondere im Bereich des Protestantismus jener Zeit kennzeichnen, angemessen in den Blick zu nehmen. Als tragfähig und sinnvoll hat sich die weitgehende Konzentration auf Fragen der privaten Lebensführung erwiesen. Dabei gilt es, sich freilich bewusst zu machen, dass auf diese Weise lediglich eine gleichsam „halbierte“ Lebensführung, nämlich weithin diejenige des Freizeitbereichs, in den Blick kommt. Indem auch wirtschaftliche Aspekte, etwa die Veränderungen der Konsumgewohnheiten, eher aus der Sicht der Freizeit der Individuen thematisiert worden sind, bleibt die Dimension der Produktion wie der Arbeitswelt generell tendenziell ausgeblendet. Demgegenüber ist der bereits von Max Weber um die Wende zum 20. Jahrhundert erörterte eherne „Zwang“ der Arbeitsbedingungen gerade im Blick auf die individuelle Lebensführung von nicht zu unterschätzender Bedeutung1, wenngleich sich die religiöse Praxis speziell unter den Bedingungen der Moderne weithin im Freizeitbereich der 1 Vgl. Weber, Ethik. Zur Schilderung des „überwältigenden Zwangs“ der ökonomischen Verhältnisse vgl. ebd., 153 f. Auf die Problematik der Ausklammerung der ökonomischen Dimension hat auch Pascal Eitler in seinem Einleitungsbeitrag während der Tagung aufmerksam gemacht. Im vorliegenden Tagungsband wird nun durch den Beitrag von Traugott Jähnichen über „Leben und Arbeiten unter den Bedingungen industrieller Massenproduktion in den 1960er Jahren“ eine exemplarische Dimension dieser Thematik behandelt.
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Individuen vollzieht und somit die in dem vorliegenden Tagungsband wie auch in diesem Resümee dominierende Perspektive der individuellen Lebensführung mit guten Gründen zu legitimieren ist. Eine große Einigkeit bestand während der Tagung hinsichtlich der Periodisierung der „langen“ 1960er Jahre, wobei insbesondere die kirchenstatistischen Daten, die Detlef Pollack präsentiert hat2, diese Einteilung unterstreichen. Aber auch verschiedene andere Indizien, wie etwa die aufweisbaren Wandlungen der Familienstruktur3, nicht zuletzt der relativ deutliche Anstieg konfessionsverschiedener Ehen seit dem Ende der 1960er Jahre4 sowie die konsum- oder sexualethischen Neuorientierungen im Protestantismus5 bieten eine Bestätigung für diese Periodisierung. Dementsprechend ist mit dem Begriff der „langen“ 1960er Jahre angedeutet, dass sowohl der Vorlauf der späten 1950er wie auch die Aufbruchprozesse der frühen 1970er Jahre in die Betrachtungen mit einbezogen werden müssen, um den tiefgreifenden Wandel der „langen“ 1960er Jahre angemessen zu erfassen. In diesem Sinn können insbesondere die späten 1950er Jahre als eine Art Inkubationsphase für die Transformationsprozesse der 1960er Jahre angesehen werden. In dieser Zeit hat es erste Anzeichen einer kritischen Infragestellung der traditionellen kirchlichen Werthaltungen und Mentalitäten vor allem durch Jugendliche gegeben, wie dies vor allem die Verantwortlichen in den Bereichen der konfessionellen Jugendarbeit früh wahrgenommen haben6. Ferner ist an die frühen Debatten über das sexuelle Verhalten sowie über Fragen der Ehegestaltung in der Bevölkerung zu denken, die bereits in den 1950er Jahren weithin nicht mit den moralischen Vorstellungen der Großkirchen in Übereinstimmung standen7. Allerdings fanden diese Diskurse um die Veränderungen der Jugendkultur wie insbesondere auch im Blick auf das Sexualverhalten in den 1950er Jahren weithin intern unter den unmittelbar mit den Herausforderungen konfrontierten kirchlichen Beratern bzw. Mitarbeitenden statt. Erst im Verlauf der 1960er Jahre sind diese Themen in der breiten Öffentlichkeit erörtert worden und haben vor allem durch medial vermittelte Diskurse noch einmal eine besondere Dynamik gewonnen. Während sexualethische Fragen seit der Veröffentlichung der Kinsey-Reportagen relativ früh eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren8, hat im Blick auf das Geschlechterverhältnis, die Sozialisationsbedingungen und vor allem die zuvor dominierenden Leitbilder von Ehe und Familie die Zäsur der Studentenrevolte eine nicht unerhebliche Rolle gespielt, da im Rahmen der Studentenproteste diese zuvor weithin tabuisierten oder lediglich in privaten oder internen 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. die von Detlef Pollack vorgelegten Statistiken. Vgl. den Beitrag von Christopher Neumaier. Vgl. den Beitrag von Dimitrij Owetschkin. Vgl. die Beiträge von Harry Oelke und Claudia Lepp. Vgl. die Beiträge von Thomas Grossbçlting und Ulrich Schwab. Vgl. die Beiträge von Claudia Lepp und Eberhard Hauschildt. Vgl. den Beitrag von Claudia Lepp.
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Zirkeln diskutierten Themen öffentlich gemacht wurden und häufig durch provokante Positionierungen geprägt waren, was entsprechende Gegenreaktionen gerade auch in kirchlichen Kreisen hervorrief. Auch der drastische Einschnitt des Rückgangs des kirchlichen Teilnahmeverhaltens, der sich insbesondere seit dem Beginn der 1970er Jahre registrieren lässt, ist vor dem Hintergrund einer Enttabuisierung immer weiterer Bereiche der Lebensführung durch neue Formen und Inhalte öffentlicher Diskurse zu interpretieren. Als Endpunkt der „langen“ 1960er Jahre wird vielfach das Jahr 1973 genannt, da durch den Auslöser der sogenannten Ölkrise die sich bereits zuvor andeutenden krisenhaften Entwicklungen der Weltwirtschaft ihren prägnanten Niederschlag fanden. Ferner ist in dieser Zeit durch das Bewusstwerden der ökologischen Gefährdungen die fortschrittsoptimistische Grundhaltung der 1960er Jahre zunehmend in Frage gestellt worden. Mit verschiedenen Akzentsetzungen beantwortet und letztlich ungeklärt blieb im Verlauf der Tagung die Frage, wie die Art des skizzierten Wandels der 1960er Jahre zu bezeichnen ist, ob eher der Begriff „Umbruch“9 im Sinne eines „kulturellen Bruchs“10 oder die Perspektive einer evolutionären Transformation den Wandel angemessener erfasst. Versucht man den religiösen Wandel während der „langen“ 1960er Jahre im Blick auf die während der Tagung diskutierten Aspekte der individuellen Lebensführung zusammenzufassen, sind insbesondere zwei Punkte hervorzuheben: 1. Der Bedeutungsverlust bzw. sogar die Infragestellung der kultischen Praxis in den christlichen Kirchen sowie 2. die Zurückweisung der traditionellen, ethisch begründeten Normierungen der Verhaltens. Hinsichtlich der Infragestellung der kultischen Praxis des christlichen Glaubens markiert exemplarisch die sogenannte Zentrenbildung in der kirchlichen Architektur eine deutliche Neuorientierung, die letztlich auf ein verändertes Verständnis von Sakralität oder sogar eine nachsakrale Religiosität zielt. Durch den Bau von Kirchenzentren oder Kirchenforen, die im Wesentlichen durch eine multifunktionale Raumgestaltung gekennzeichnet sind, sollte eine der „Welt“ zugewandte, die Sakralität relativierende oder gar zurückdrängende christliche Praxis zum Ausdruck gebracht werden. Speziell im Protestantismus ist diese Tendenz, wie sie zeitgenössisch vor allem von dem Bochumer Praktischen Theologen Hans-Eckehard Bahr propagiert wurde11, dominant. Theologisch spielte diesbezüglich die Rezeption der unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ veröffentlichten Gefängnisbriefe von Dietrich Bonhoeffer eine große Rolle, dessen Proklamation eines „religionslosen Christentums“, das sich in der Nachfolge Jesu als „Kirche für andere“ in neuer Weise darzustellen habe, gerade in den 1960er Jahren auf große Resonanz stieß. Eigenständig weitergeführt hat diese Impulse theologisch insbe9 So die Formulierung im Titel der Tagung. 10 So Detlef Pollack in seinem Beitrag. 11 Vgl. Bahr, Kirche.
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sondere Harvey Cox in seiner auch in Deutschland stark diskutierten Studie „The Secular City“, im Blick auf die Umsetzung dieser Konzeption im gottesdienstlichen Vollzug ist vor allem an das „Kölner Nachtgebet“ zu erinnern. In diesem Sinn verstand sich ein Teil des Protestantismus jener Zeit als Vorreiter eines nachsakralen Christentum, das die Säkularisierungsprozesse als Konsequenz des christlichen Glaubens zu deuten versuchte und in dieser Perspektive an einer christlich motivierten Neugestaltung der Gesellschaft großes Interesse zeigte. Dementsprechend gewann das ethisch begründete soziale Engagement von Christen, wie es gerade auch im Blick auf das Konsumverhalten gezeigt werden kann12, eine immer größere Bedeutung. Der Wandel von einer traditionellen, auf den Gottesdienst zentrierten Glaubenspraxis hin zu einer „Sozialreligion“13 des christlichen Glaubens lässt sich – über die Tagung und die hier publizierten Beiträge hinausgehend – ferner im Blick auf die Transformationsprozesse von Diakonie und Caritas zeigen14, exemplarisch hinsichtlich der gewandelten Struktur der Mitarbeitenden. So kam es, bereits in den 1950er Jahren einsetzend, zu einer sich dramatisch zuspitzenden Rekrutierungskrise der geistlichen Gemeinschaften und religiösen Orden, während gleichzeitig durch eine Professionalisierung und – speziell seit der Gründung konfessioneller Hochschulen für soziale Arbeit – durch die Verwissenschaftlichung dieser Berufe in erheblicher Weise neue Milieus von Mitarbeitenden mit einer deutlich höheren Qualifikation als zuvor gewonnen werden konnten. Der Wandel von Diakonissen und Ordensschwestern hin zu wissenschaftlich ausgebildeten Sozialarbeitern/innen markiert sicherlich einen nicht zu unterschätzenden Umbruch der Mentalität und der Milieus der Mitarbeitenden bei Diakonie und Caritas, wenngleich auch diese Mitarbeitenden ihr Handeln in der Regel als Ausdruck des christlichen Glaubens verstanden haben. Dabei hat jedoch sowohl die Begründung wie auch der konkrete Ausdruck des christlichen Hilfehandelns einen tiefgreifenden Wandel erfahren, indem die traditionelle, paternalistisch geprägte Hilfekultur zunehmend durch emanzipatorische und auf die Mündigkeit der Betroffenen zielende Konzepte ersetzt worden ist. Ähnlich tiefgreifende Wandlungsprozesse sind hinsichtlich der Infragestellung eines das Alltagsverhalten moralisch normierenden Anspruchs der christlichen Kirchen in den 1960er Jahren zu verzeichnen. Waren die Nachkriegszeit und die 1950er Jahre von dem Bemühen um eine Stabilisierung der Lebensführung durch den Rückgriff auf traditionelle Werte und Versuche der Rechristianisierung der Bevölkerung geprägt, ist die Brüchigkeit dieser Konzepte bereits in den 1950er Jahren in einzelnen Bereichen, wie der Jugendarbeit, deutlich geworden und spätestens Mitte der 1960er Jahre vehe12 Vgl. den Beitrag von Harry Oelke. 13 Vgl. dazu Fìrstenberg, Zukunft, 49–59. 14 Vgl. Jhnichen u. a., Caritas; Dies., Abschied.
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ment zum Ausdruck gekommen. Dabei hat es sich für die christlichen Kirchen zunehmend als problematisch erwiesen, dass sie aufgrund der politischen Konstellation der 1950er Jahre und einer stark an einer restaurativen Interpretation des Naturrechts orientierten Haltung des Bundesverfassungsgerichts15 verschiedene Gesetze und Richtlinien durchsetzen konnten, die immer stärker in einem deutlichen Widerspruch zur Haltung der Mehrheit der Bevölkerung standen. Dies galt vor allem im Blick auf die rechtlichen Regelungen sexuellen Verhaltens oder auch hinsichtlich des Jugendschutzes, wo die Kirchen in den 1950er Jahren weithin ihre Normen öffentlich durchsetzen konnten. Diesbezüglich kam es in den 1960er Jahren in der Tat zu einem „Umbruch“. Man kann dementsprechend die Normierungsansprüche und auch die Durchsetzung rechtlicher Standards seitens der Großkirchen in den 1950er Jahren als „verlorene Siege“16 bezeichnen, da diese Formen der Beeinflussung und Prägung der Bevölkerung von den Betroffenen zunehmend als inakzeptable Bevormundung verstanden und entsprechend zurückgewiesen wurden. Dieser Wandel lässt sich einerseits an der zunehmenden Krisenrhetorik der Verantwortlichen in den Kirchen in den 1960er Jahren ablesen, mehr aber andererseits hinsichtlich der Veränderungen etwa der kirchlichen Beratungspraxis selbst, die sich zunehmend durch offenere Deutungsangebote der Lebensführung und eine allgemeine Dialogorientierung auszeichnete17. Das Schema von Befehl und Gehorsam, das die kirchliche Moralverkündigung in den 1950er Jahren weithin dominierte und das sich am längsten in der Kinder- und Jugenderziehung nachweisen lässt, erwies sich definitiv als überholt und hat sowohl in der kirchlichen Praxis wie auch in den theologischen Deutungen der 1960er und vor allem der 1970er Jahre zu einer deutlichen Selbstkritik und entsprechenden Neuorientierungen geführt. Für den Bereich der protestantischen Ethik ist exemplarisch an Dorothee Sölles Streitschrift „Phantasie und Gehorsam“ mit ihrer eindringlichen Verurteilung der Gehorsamskultur und ihrem Plädoyer für eine Ethik der Phantasie zu erinnern18. Ferner sind die Neuansätze der Seelsorgekonzeptionen und im Protestantismus eine sich langsam durchsetzende Neuorientierung im Bereich der Sexualethik – dies im Kontrast zu manchen Verhärtungen in der römisch-katholischen Kirche dieser Zeit – hervorzuheben. In diesem Sinn lässt sich von einer in einzelnen Feldern durchaus tiefgreifenden Selbstmodernisierung19 kirchlicher Praxis wie theologischer Reflexion sprechen.
15 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Katharina Ebner. 16 So die Kennzeichnung von Brigitte Kramer und Reinhard von Spankeren im Blick auf die Initiativen des konfessionellen Jugendschutzes in den 1950er Jahren, die damit einen Begriff des deutschen Generalfeldmarschalls von Manstein aufnahmen. Vgl. Kramer / Spankeren, Siege, 75–99. 17 Vgl. die Beiträge von Eberhard Hauschildt und Claudia Lepp. 18 Vgl. Sçlle, Phantasie. 19 Vgl. Hellemans, Zeitalter.
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Abschließend soll kurz auf die Gründe für diesen letztlich wohl doch eher als „kulturellen Umbruch“ zu bezeichnenden Wandel der Verhaltensmuster der Individuen gegenüber den verhaltensnormierenden Ansprüchen der christlichen Kirchen wie auch für die nicht zu unterschätzenden Transformationsprozesse innerhalb der Kirchen selbst hingewiesen werden. Unbestritten ist, dass diesbezüglich die allgemeine Wohlstandsentwicklung, die Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten20, die Zunahme der freien Zeit, speziell des arbeitsfreien Samstags, sowie die erheblich gesteigerten Möglichkeiten der Mobilität21 eine zentrale Rolle gespielt haben. Diese Prozesse haben insbesondere die soziale Mobilität in der bundesdeutschen Gesellschaft gefördert, wodurch sich die zuvor bestehenden konfessionellen und sozialen Milieus nach und nach aufgelöst haben, was eine erhebliche Pluralisierung der Optionen der Lebensführung ermöglicht hat22. Insgesamt kam es zu einer deutlichen Pluralisierung auch des religiösen Feldes, was sich etwa an der deutlichen Zunahme gemischtkonfessioneller Ehen zeigen lässt23. Diese Prozesse stehen in einem deutlichen Kontrast zu den moralischen Normierungsund rechtlichen Regelungsansprüchen der christlichen Kirchen während der 1950er Jahre. In diesem Zusammenhang sind schließlich auch die eingangs kurz erwähnten Wandlungsprozesse der Arbeitswelt und der Wirtschaftsstruktur wahrzunehmen. Erst in den 1960er Jahren setzte sich die Industriearbeit – gegenüber dem primären Sektor mit Landwirtschaft und Bergbau – als dominierender Bereich der Erwerbsarbeit durch, da erst seit dieser Zeit die Mehrheit der Erwerbstätigen im sekundären Sektor tätig war. Das damit durchgesetzte Muster von in der Regel „fordistisch“ organisierter Arbeit im Sinne der auf Fließbandfertigung beruhenden Massenproduktion sowie parallel hierzu die zunehmende Ausweitung der Erwerbsarbeit von Frauen hat die Lebensführung der Menschen in erheblichem Maße verändert. Dies gilt insbesondere im Blick auf das Geschlechterverhältnis, wobei die sich in den 1960er Jahren verstärkende Integration von Frauen in die Erwerbsarbeit und damit die Zurückdrängung der traditionellen, auf den Binnenbereich der Familie bezogenen Rollenzuschreibungen in erheblicher Weise den gesellschaftlichen und auch den religiösen Wandel beeinflusst haben24. Aber auch die veränderten Rollenbilder vieler Männer durch ihre Integration in die industrielle Arbeitswelt sind hinsichtlich der Auswirkungen auf die individuelle Lebensführung oder auch die ethischen Werthaltungen bisher nur unzureichend in den Blick genommen worden. Die bereits von Ernst Troeltsch dia20 So die Hinweise von Detlef Pollack während der Tagung. 21 Diesen Aspekt hat insbesondere Thomas Grossbçlting hervorgehoben. 22 Vgl. dazu exemplarisch die Studie von Wilhelm Damberg über die Auflösung des konfessionellen katholischen Milieus im Münsterland: Damberg, Abschied? 23 Vgl. hierzu den Beitrag von Dimitrij Owetschkin. 24 Vgl. dazu die Studie über Großbritannien von Brown, Death; Vgl. auch den Beitrag von Christopher Neumaier.
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gnostizierte „Konstruktion des ganzen Daseins aus wirtschaftlichen Gesetzen“25 wäre im Blick auf die Auswirkungen der in den 1960er Jahren massenhaft durchgesetzten, fordistisch organisierten Industriegesellschaft erst noch zu bestimmen. In diesem Sinn wäre näher zu untersuchen, inwiefern die von Jürgen Habermas herausgestellte „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die systemischen Bedingungen moderner Gesellschaften, speziell durch das Wirtschaftssystem, zur Erklärung der Wandlungen auch des religiösen Verhaltens herangezogen werden kann. Diese Fragestellung dürfte in Verbindung mit einer entsprechenden Thematisierung des Wandels der Geschlechterordnung eine neue, weiterführende Perspektive für die Erforschung der Wandlungsprozesse der 1960er und 70er Jahre aufzeigen. Anschließend ist an die Bedeutung einer internationalen Vergleichsperspektive zu erinnern, die im Verlauf der Tagung, von vereinzelten Hinweisen26 abgesehen, randständig geblieben ist. Diesbezüglich könnte intensiver der mehrfach aufgeworfenen Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit die wiederholt vermutete Tiefenwirkung der NS-Geschichte als Ausdruck einer besonderen Pfadabhängigkeit der deutschen Geschichte auch in den Wandlungsprozessen der 1960er Jahre aufgewiesen werden kann oder ob letztlich die allgemeinen Entwicklungen westlicher Industriegesellschaften das Muster der bundesdeutschen Wandlungsprozesse angemessen zu erklären vermögen. Dementsprechend könnte ein Seitenblick auf die Entwicklungen in anderen westeuropäischen Ländern oder in den USA einen weiteren Horizont zur Beschreibung und Erklärung des tiefgreifenden gesellschaftlichen und religiösen Wandels in der Bundesrepublik während der „langen“ 1960er Jahre aufzeigen.
Literaturverzeichnis Bahr, Hans-Eckehard (Hg.): Kirche in nachsakraler Zeit. Hamburg 1968. Brown, Callum: The Death of Christian Britain. Understanding secularisation 1800–2000. London / New York 2001. Damberg, Wilhelm: Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 79). Paderborn 1997. Fìrstenberg, Friedrich: Die Zukunft der Sozialreligion und ihre Organisationsformen. In: Gabriel, Karl (Hg.): Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände. Perspektiven im Spannungsfeld von Wertbindung, Ökonomie und Politik (Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft 25). Berlin 2001, 49–59. 25 Troeltsch, Wesen, 309. 26 Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge von Christopher Neumaier und Eberhard Hauschildt.
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Hellemans, Staf: Das Zeitalter der Weltreligionen. Religion in agrarischen Zivilisationen und modernen Gesellschaften (Religion in der Gesellschaft 27). Würzburg 2010. Jhnichen, Traugott u. a.: Caritas und Diakonie im „goldenen Zeitalter“ des bundesdeutschen Sozialstaats. Transformationen der konfessionellen Wohlfahrtsverbände in den 1960er Jahren (Konfession und Gesellschaft 43). Stuttgart 2010. –, u. a. (Hg.): Abschied von der konfessionellen Identität? Diakonie und Caritas in der Modernisierung des deutschen Sozialstaats seit den sechziger Jahren (Konfession und Gesellschaft 46). Stuttgart 2012. Kramer, Brigitte / Spankeren, Reinhard von: Verlorene Siege. Jugendschutz und Nachkriegsprotestantismus in den fünfziger Jahren. In: Friedrich, Norbert / Jähnichen, Traugott (Hg.): Gesellschaftspolitische Neuorientierungen des Protestantismus in der Nachkriegszeit (Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus 3). Münster 2002, 75–99. Sçlle, Dorothee: Phantasie und Gehorsam. Stuttgart 1965. Troeltsch, Ernst: Das Wesen des modernen Geistes. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Hg. von Hans Baron. Tübingen 1925, 297–338. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05. Hg. von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß. Bodenheim 1993.
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Der Wandel der Kirchen, Religion und Lebensführung Anmerkungen aus der Perspektive der Zeitgeschichtsforschung Dass die 1960er Jahre für die Geschichte der Kirche und Religion eine zentrale Umbruchszeit waren, ist nicht zu bestreiten. Bekannt sind die Daten zur Kirchlichkeit, insbesondere zu den Kirchenaustritten, ebenso die Umfragewerte, die einen Wandel von Einstellungen und Glauben ausmachen1. Weiterhin zu diskutieren ist jedoch, wie wir diese Daten und Diskurse interpretieren. Hierfür hat die Tagung unterschiedliche Erklärungsansätze angeboten: So wurden der wachsende Wohlstand und der Medieneinfluss angeführt, ebenso die zunehmende Verhäuslichung (Detlef Pollack), der Wertewandel oder die verstärkte Mobilität (Thomas Großbölting)2. Obgleich diese Befunde ebenso einleuchtend und zutreffend erscheinen, ist es nötig, sie genauer zu hinterfragen, zu prüfen und zumindest zum Teil zu modifizieren. Mein Kommentar zu dieser Tagung soll dazu einen Beitrag leisten. Aus Sicht des Zeithistorikers schwingt hier vor allem die Mahnung mit, sensibel mit den Quellen und möglichen Kausalitäten umzugehen.
Erklärungsansätze für Umbruch und Persistenz durch Reformen So lässt sich ein Wirtschaftsboom mit entsprechenden gesellschaftlichen Folgen in vielen Ländern ausmachen, und doch verlief der Wandel von Kirche und Religion in Ländern wie den USA, Irland oder Italien deutlich anders als in der Bundesrepublik. Andere Weltreligionen partizipierten ebenfalls an wachsendem Wohlstand, mehr Mobilität und Medien – aber insbesondere der Islam scheint gerade dadurch in vielen Ländern eher an Bedeutung gewonnen zu haben. Im Iran etwa entstand trotz oder gerade wegen der Modernisierung, die Schah Reza Pahlavi durchsetzte und die die Religion verdrängen sollte, 1979 eine islamische Republik. Zu analysieren ist zudem nicht allein eine „Niedergangsgeschichte“ der Religion, die nach Fehlern der Kirchen oder der Übermacht nicht-kirchlicher Verlockungen sucht. Vielmehr ist ebenso zu erklären, warum auch in der 1 Vgl. etwa: Pollack, Säkularisierung. 2 Die Ausführungen meines Schlusskommentars beziehen sich auf die Diskussionslinien der Tagung. Als breiteres Panorama vgl. Grossbçlting, Himmel.
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Bundesrepublik weiterhin die deutliche Mehrheit der Menschen, trotz all der konkurrierenden sozialen und sinnstiftenden Angebote, an Gott oder „an ein höheres Wesen“ glauben (wie es Umfragen ausdrücken) und Kirchenmitglieder sind. Gerade der gewisse Abbruch der Austrittswelle Mitte der 1970er Jahre und die seitdem bestehende relative Konstanz von Glaubensüberzeugungen legt es nahe, nicht nur eine Verlustgeschichte zu analysieren, wie es der Blick auf die 1960er Jahre nahelegt, sondern auch die erstaunlich erfolgreiche Behauptung der christlichen Religion selbst in Westeuropa zu erklären. Es lohnt daher, einerseits genauer die spezifisch (west)deutschen gesellschaftlichen Bedingungen und Deutungsformen zu diskutieren, die hier verhandelt werden, andererseits die jeweilige Rolle der Kirchen selbst in diesem Prozess zu beachten. Dabei lassen sich die oben genannten Erklärungen für den Wandel der Religion durchaus kontrovers debattieren. Das Wirtschaftswunder und die neue Medienwelt führten ja eben nicht zu einer „Verhäuslichung“ und zu einem Rückzug ins Private. Vielmehr suchten seit den 1960ern die Westdeutschen verstärkt außerhäusliche Räume auf, was sich statistisch etwa mit dem starken Zuwachs von Vereinsmitgliedschaften, Versammlungen oder auch der Zunahme von geselligen Treffen, von Festivals und selbst der Restaurantbesuche belegen lässt3. Die Etablierung des Wohlstands und Fernsehens führten also nicht zu einem Rückzug in die eigenen vier Wände, sondern förderten vielmehr zugleich die Sehnsucht nach einer außerhäuslichen sozialen Einbindung und Sinnstiftung. Die Kirchen reagierten Ende der 1960er Jahre durchaus darauf, indem sie neue Räume schufen (Gemeindezentren u. ä.), sich an der Eventisierung beteiligten (Kirchen- und Katholikentage etc.) oder an weltlichen Versammlungen partizipierten (wie Demonstrationen)4. Diese kirchliche Partizipation, die auf das neue Bedürfnis nach anderen Formen und Orten der öffentlichen Sinnstiftung reagierte, dürfte mit erklären, warum die Kirchen seit Mitte der 1970er nicht verschwanden, sondern sichtbarer Teil der Gesellschaft blieben. Den Wertewandel, den die Tagung vielfach thematisierte, kann man schwer als Argument anführen, da man schnell in eine Tautologie gerät: Der Wertewandel soll quasi als externe Größe die Abnahme des Glaubens und der Kirchlichkeit erklären und umgekehrt die Abnahme des Glaubens die Existenz eines Wertewandels verifizieren5. Ein weiteres Problem ist zudem, dass der Wandel seit den 1950er Jahren genau für eine Zeit ausgemacht wird, in der sich die Techniken der Selbstbeschreibung der Gesellschaft entscheidend veränderten, insbesondere durch die Meinungsforschung, aber auch durch neu3 Daten, die dies quantitativ verifizieren, finden sich sowohl in den Umfragen der Jahrbücher von Allensbach als auch in den Angaben des statistischen Bundesamts. Nicht nur die Mitgliederzahlen von Sportvereinen nahmen stark zu, sondern auch traditionelle Vereine (vgl. Schützenvereine). 4 Zur räumlichen Verlagerung in die Öffentlichkeit vgl. Bçsch / Hçlscher, Öffnung. 5 Inwieweit hier sozialwissenschaftliche Konstruktionen der 1970er Jahre übernommen werden können, ist umstritten. Vgl. Dietz / Neumaier / Rçdder, Wertewandel?
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artige Beobachtungsformen der Medien und Sozialwissenschaften. Für die 1920er Jahre haben wir bekanntlich keine demoskopischen Daten, die den Glauben an Gott, die Kritik am Vatikan oder den vorehelichen Verkehr erfragten. In dem Moment, wo wir sie haben und sich die Menschen an ehrliche Antworten gegenüber wildfremden Befragern gewöhnen, erscheint uns der Umbruch in der Sphäre des Privaten fundamental, auf den die Kirchen wiederum mit vielfältigem Engagement reagierten6. Ebenso besteht bei Textquellen die starke Gefahr, dass wir den kritischen Niedergangsdiskurs der Zeitgenossen rekapitulieren, der sich gerade bei sprachmächtigen Akademikern in vielen Jahrzehnten finden lässt. Stattdessen würde ich dafür plädieren, den Wertewandel nicht nur als einen externen Prozess zu fassen, der über die Kirchen und die Gläubigen hereinbricht. Vielmehr veränderten sich auch die Einstellungen von gläubigen Menschen und der Kirchenleitung seit den späten 1960er Jahren beschleunigt als Teil des allgemeinen Wandels und standen ihm damit nicht gegenüber. Auch dies erklärt die mittelfristige Stabilisierung der Kirchen und des Glaubens. Ähnlich ambivalent muss man die Rolle der Medien deuten. In den 1960er Jahren nahm nicht nur die Ausbreitung des Fernsehens rasant zu, sondern ebenso der Printmedien und danach auch des Radios, während kirchliche Druckerzeugnisse nun an Reichweite verloren und die mediale Kritik an der Institution Kirche zunahm7. Zweifelsohne etablierte insbesondere das Fernsehen neue Formen der Sinnstiftung und Kontingenzbewältigung. Aber selbst dieses Massenmedium dürfte zugleich mit dazu beigetragen haben, die Präsenz der Kirchen und des Glaubens weiterhin zu fördern. Die Zahl der Gottesdienstbesucher nahm zwar ab, aber die Zahl der Fernsehzuschauer bei den Gottesdiensten, die in Statistiken nie hinzugerechnet wird, nahm zu. Schließlich übertraf bei den Protestanten die Zahl der Fernsehzuschauer bei dem einen ausgestrahlten Gottesdienst die Zahl aller Besucher der 19.000 Gottesdienste, die am Sonntag gefeiert wurden, wobei jedoch nur letztere kirchenstatistisch erfasst werden8. Ebenso wurden kirchliche Events oder auch die neue Rolle des Papstes seit den 1960er Jahren durch das Fernsehen gefördert. Kirchliche Sendungen hatten in den 1970er Jahren noch prominente Sendeplätze (in der ARD direkt vor der Bundesliga um 18.00 Uhr), verloren dann aber insbesondere im Zeitalter des dualen Rundfunks an Reichweite. Dennoch blieben die Geistlichen zumindest in der Funktion als Ratgeber und Problemlöser auch nach dem Ende von Sendeformaten wie 6 Zur Auseinandersetzung der Kirchen mit den Sozialwissenschaften und ihrer Reaktion auf die Befunde von Umfragen vgl. Ziemann, Katholische Kirche. 7 Dies haben wir im Teilprojekt „Medien und Religion“ der DFG-Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne“ vielfältig untersucht; vgl. Hannig, Religion; Bösch / Hölscher, Kirchen. 8 Daten zur Zahl der Gottesdienste nach der EKD-Statistik: www.ekd.de/statistik/gottesdienst. html (Letzter Abruf 17. 08. 2015). Vgl. zur Entwicklung der Übertragungen: Funke, Kirchenräume; Gilles, Auge, 150 f.
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„Pfarrer Sommerauer antwortet“ in den fiktionalen Abendserien stark präsent. Beim Nachdenken über den Wandel des Glaubens und der Religion blicken wir meistens auf die Gesellschaft, die Konsumwelt oder die Kirchen, selten hingegen, auch bei dieser Tagung kaum, auf die jeweilige Rolle des Staates. Staatliche Vorgaben und Rahmen sind meist nur bei der Analyse der Kirchen in Diktaturen zentral, bei Demokratien hingegen bleiben sie oft eher unsichtbar. Bekannt ist, dass der bundesdeutsche Staat die Rolle der Kirche stark aufwertete und rechtlich verankerte. Aber gerade im Feld der Lebensführung ermöglichte und schuf er in den 1960er Jahren Konkurrenzangebote, auf die die Kirchen wiederum mit der Expansion eigener Einrichtungen reagierten, sei es im Feld der Wohlfahrt oder Jugend- und Kinderbetreuung, sei es bei moralischen oder sinnstiftenden Positionierungen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen wechselseitiger Unterstützung und Konkurrenz von Staat und Kirche führte Menschen nicht nur vom Glauben weg, sondern dürfte gerade in den 1970er Jahren auch eine stabilisierende Funktion gehabt haben. Der Begriff der „langen 1960er Jahre“ bewährt sich dabei, wie auch die meisten Beiträge der Tagung zeigten, in doppelter Weise: Die späten 1950er Jahre wurden, wie bei zahlreichen anderen zeithistorischen Studien auch, bei dieser Tagung als Phase des beschleunigten Wandels in der Gesellschaft ausgemacht. Die späten 1960er Jahre erscheinen dagegen als eine Phase, in der die Kirchen stärker versuchten, sich an diesen Wandel anzupassen. Diese Diskrepanz, dieser „Time-Lag“ mag ebenso die Austrittswelle Ende der 1960er Jahre miterklären wie die gewisse Stabilisierung von Kirchlichkeit und Glauben ab Mitte der 1970er Jahre. Ob eine frühere kirchliche Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel andere Konsequenzen gehabt hätte, lässt sich natürlich kaum beantworten. Gemeinsam war den Reaktionen der Kirchen, dass sie stets das Gewand der Weltlichkeit anlegten: Sei es in der Architektur der weltlich konzipierten Gemeindehäuser, bei selbst produzierten Fernsehserien, die nur noch indirekt Glaubensfragen vorbrachten („Familie Mack verändert sich“), bei Pfarrern, die wie Sozialarbeiter agierten, oder bei Weltjugendtagen, die Stadtfesten ähnelten9. Dies förderte die Annäherung der Konfessionen. Die Unterschiede zwischen Kirche und Welt wurden dadurch feiner. Jedoch wissen wir dank Pierre Bourdieu, dass die feinen Unterschiede eben durchaus sichtbar sind und selbst in Details spürbar – seien es nur der Tonfall, Nuancen in der Kleidung oder das Auftreten. Entsprechend wurden die Kirchen und die Religion nicht unsichtbar, auch wenn sie nicht mehr mit Weihrauch und Soutane auftraten, aber sich zumindest auf den zweiten Blick durchaus von weltlichen Repräsentationen abhoben. Selbst ein kirchlicher Kindergarten, um an ein anderes Beispiel der kirchlichen Anpassung an die Welt in den 1970er Jahren 9 Vgl. neben Funke, Kirchenräume, auch zum Wandel der Darstellung in Bild und Film: Stdter, Bild.
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zu erinnern, hatte und hat zwar stark die Form der weltlichen Moderne, aber förderte trotzdem die öffentliche Präsenz von Kirche und Glauben, wenn nicht gar eine religiös gefärbte Lebensführung. Und obgleich kirchliche Kindergärten und Schulen Erfolgsmodelle sind, werden sie in der Religionsgeschichte bislang kaum berücksichtigt.
Lebensführung als Forschungsansatz Der Begriff der Lebensführung, den die Tagung in den Mittelpunkt stellte, scheint mir ein gewinnbringender und innovativer Ansatz zu sein, um die Ebene der Deutungen mit der der Handlungen zu verbinden. Andere Begriffe, wie der des Milieus oder der Lebensstilgruppe, haben das selbstverständlich ebenfalls angestrebt, aber dabei weniger die individuelle Ebene fokussiert10. Allerdings stand bei der Tagung tendenziell sehr stark die Wahrnehmung von Zeitgenossen im Mittelpunkt, die über die zeitgenössische Lebensführung reflektierten. Künftige Forschungen zur Lebensführung sollten hingegen stärker die alltäglichen Praktiken selbst und auch konkrete Handlungsformen untersuchen, in denen sich der Glauben oder eben weltlich Sinnstiftungen niederschlugen. In gewisser Weise würde damit die Performanz der Lebensführung in den Mittelpunkt rücken, also die Selbst- und Fremddeutung im Vollzug von konkreten Handlungen und Aussagen. Zugleich spricht für den Begriff der Lebensführung, dass er auf eine Analyseebene verweist, die nicht allein das Exzeptionelle und Skandalöse untersucht, sondern Normalität und deren Herstellung. Stärker zu untersuchen wären damit für die künftige Religionsgeschichte Sozialisationsinstanzen, seien es klassische (Familie, Kindergärten, Bildungseinrichtungen), seien es Instanzen der Menschenführung im weiteren Sinne, die eine „Regierung des Selbst“ schaffen. Denn gerade die Aufwertung von individueller Moral und Gewissen trat ja oft an die Stelle kirchlicher Autoritäten und Verordnungen. Und auch in der kritischen Abgrenzung von „kirchlicher Doppelmoral“ steckte zugleich oft der Anspruch, die wahren christlichen Werte zu leben. Über Familie oder Bildungsstätten hinaus wäre dabei die oft vergessene Welt der Arbeit einzubeziehen, die ebenfalls eine wichtige Sozialisierungsinstanz bildet und sich zeitgleich in den 1960/70er Jahren entscheidend veränderte. Und auch in diesem Feld reagierten die Kirchen seit den 1970er Jahren bekanntlich mit stabilisierender Wirkung, indem sie in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit neben dem Staat zum größten Arbeitgeber wurden. Die christliche Lebensführung dürfte dies entscheidend mit geprägt haben. Der Ansatz der Lebensführung verweist zugleich auf generationelle Lagerungen und Alterskohorten. Die zeitgenössischen Diskurse der 1960er Jahre, 10 Grundlegend hier etwa: Vester, Milieus.
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aber auch die Papiere dieser Tagung richteten sich stark auf die jüngere Generation. Da die Jugend als Seismograph für die Zukunft und den Wandel gilt, ist dies verständlich. Generell steht gerade bei Arbeiten zu den 1960er Jahren die junge Generation im Mittelpunkt, was mit der Strahlkraft der 1968er und der neuen Kultur der Baby-Boomer leicht zu erklären ist. Generationskonflikte, die die Autorität der Alten anprangern, sind nichts Neues, aber ihre Entfaltung und Sichtbarkeit in den 1960er Jahren schon, die durch die neuartige Meinungsfreiheit und Medienwelt möglich wurden, ebenso durch die Bildungsexpansion und das neue Maß an Freizeit. Dennoch gibt es gute Gründe, eine Analyse der Lebensführung der 1960er Jahre auch auf ältere Generationen zu beziehen und diese nicht als statisch zu betrachten. Anzunehmen ist vielmehr, dass gerade die mittlere und ältere Generation, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geboren wurde und im Nationalsozialismus aufwuchs, erste Karrieren machte und nun Leitungspositionen inne hatte, eine weniger religiöse Lebensführung aufwies als zuvor. Dies spricht zugleich dafür, nicht allein die Spezifika der 1960er Jahre in den Blick zu nehmen, sondern in längeren Linien auch die Sozialisation in den Jahrzehnten zuvor und die Wirkungsmacht des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs stärker zu berücksichtigen. 1969 war der Nationalsozialismus so lange pass¦ wie heute die DDR. Und genau wie wir heute weiterhin in West- und Ostdeutschland differente Werthaltungen ausmachen, war auch die NS-Erfahrung nicht weggeblasen. Zudem suggeriert der Blick auf die Jugend der 1960er Jahre eine generationelle Lagerung, die statisch bleibt. Tatsächlich nimmt die Bedeutung des Glaubens und der Kontakt mit Kirchen im Alter lebenszyklisch vielfach zu, sei es im Zuge der Sozialisation der eigenen Kinder, sei es durch die Nähe zum Tod im höheren Alter. Niedergangsthesen entstehen hingegen oft, wenn ältere Menschen über die Jugend philosophieren. Jede Suche nach einem „Umbruch“ suggeriert, mitunter etwas normativ, eine Normalität für andere Jahrzehnte. Diese ist schwer zu fassen, wenn man die Jahrzehnte zuvor betrachtet. Waren die 1910er Jahre kein Umbruch, die 1920er, die 1930er oder die 1940er? Maßstab für die vielen Betrachtungen sind oft die 1950er Jahre, die in vielfacher Hinsicht ebenfalls ein Ausnahmejahrzehnt waren – egal ob für den Status von Familien, die Frauenarbeit oder eben die Stellung der Kirchen. Insgesamt fällt es leichter, die Jahrzehnte der Demokratie daraufhin zu befragen, wann sich Religion und Lebensführung stärker veränderten als in anderen Jahrzehnten. Neben den 1960er Jahren scheinen mir gesellschaftsgeschichtlich die 1990er Jahre wiederum eine Phase zu sein, in der sich mit ähnlicher Wucht wie in den 1960er Jahren Einflüsse auf die Lebensführung wandelten (Wandel der Medien, Mobilität, Arbeitswelt, Normen etc.). Sich an diese Pluralisierung anzupassen und in ihr sichtbar zu bleiben, dürfte den Kirchen deutlich schwerer fallen als in den 1960er Jahren. Und zumindest aus dieser gegenwärtigen Perspektive ist es den Kirchen recht gut gelungen, auf den Umbruch der 1960er Jahre zu reagieren.
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Literaturverzeichnis Bçsch, Frank / Hçlscher, Lucian (Hg.): Kirchen – Medien – Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945 (Geschichte der Religion in der Neuzeit 2). Göttingen 2009. –, (Hg.): Jenseits der Kirche. Die Öffnung religiöser Räume seit den 1950er Jahren (Geschichte der Religion in der Neuzeit 5). Göttingen 2013. Dietz, Bernhard / Neumaier, Christopher / Rçdder, Andreas (Hg.): Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren (Wertewandel im 20. Jahrhundert 1). München 2014. Funke, Ronald: Mediale Kirchenräume. Katholische und evangelische Fernsehgottesdienste seit den 1950er Jahren. In: Bösch / Hölscher, Öffnung, 203–240. Gilles, Beate: Durch das Auge der Kamera. Eine liturgie-theologische Untersuchung zur Übertragung von Gottesdiensten im Fernsehen (Ästhetik – Theologie – Liturgik 16). Münster 2000. Grossbçlting, Thomas: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung 1327). Göttingen 2013. Hannig, Nicolai: Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945–1980 (Geschichte der Religion in der Neuzeit 3). Göttingen 2010. Pollack, Detlef: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen 2003. Stdter, Benjamin: Der Geistliche im Bild – Zur Transformation öffentlicher Bildwelten in der Bundesrepublik 1945–1970. In: Bösch / Hölscher, Kirche, 89–114. Vester, Michael u. a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt a. M. 22001. www.ekd.de/statistik/gottesdienst.html. Ziemann, Benjamin: Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 175). Göttingen 2007.
Autorinnen und Autoren
Anselm, Reiner, Jg. 1965, Dr. theol., Prof. für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bçsch, Frank, Jg. 1969, Dr. phil., Prof. für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam; Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Ebner, Katharina, Jg. 1986, Dipl.-Theol., M.A. Germanistik, katholische Theologie und Philosophie, Kollegiatin im Internationalen Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ an der LudwigMaximilians-Universität München. Eitler, Pascal, Jg. 1973, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Fitschen, Klaus, Jg. 1961, Dr. theol., Prof. für Neuere und Neueste Kirchengeschichte am Institut für Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig; Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Friedrich, Norbert, Jg. 1962, Dr. phil., Leiter der Fliedner Kulturstiftung Kaiserswerth. Grossbçlting, Thomas, Jg. 1969, Dr. phil., Prof. für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Hauschildt, Eberhard, Jg. 1958, Dr. theol., Prof. für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Hermle, Siegfried, Jg. 1955, Dr. theol., Prof. für Kirchengeschichte am Institut für Evangelische Theologie der Philosophischen Fakultät der Universität
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Autorinnen und Autoren
zu Köln; Stellvertretender Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Jhnichen, Traugott, Jg. 1959, Dr. theol., Prof. für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Kuller, Christian, Jg. 1970, Dr. phil., Prof. für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik am Historischen Seminar der Universität Erfurt; Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Lepp, Claudia, Jg. 1965, Dr. phil., apl. Prof. für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München; Leiterin der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte, München. Neumaier, Christopher, Jg. 1978, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung II „Geschichte des Wirtschaftens“ am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Oelke, Harry, Jg. 1957, Dr. theol., Prof. für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München; Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Owetschkin, Dimitrij, Jg. 1972, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum. Pollack, Detlef, Jg. 1955, Dr. theol., Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ; Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Schwab, Ulrich, Jg. 1957, Dr. theol., Prof. für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Personenregister Adenauer, Konrad 57, 70, 176, 179, 288, 316 Adler, Alfred 264 Altner, Günther 143 Anderson, Walter F. 199 Anselm, Reiner 296, 329 Arendt, Hannah 119–123 Arndt, Adolf 324 Asmussen, Hans 270 f. Bacon, Francis 143 Bahr, Hans-Eckehard 351 Bailey, Derrick Sherwin 337 Barth, Karl 109, 142, 195, 276, 285 Baumert, Gerhart 216–218, 228 Bäumler, Christof 191 f. Beck, Ulrich 132 Beckmann, Joachim 273 f., 329 Bellah, Robert N. 181 Berger, Brigitte 220–222 Berger, Peter L. 220–222 Bergman, Ingmar 336 Biedenkopf, Kurt 116 Binder, Heinz-Georg 190 Blaschke, Olaf 12 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 326 Böckle, Franz 225 Bonhoeffer, Dietrich 191, 270, 351 Bourdieu, Pierre 66, 360 Bovet, Theodor 300 f., 339 Brakelmann, Günter 116 f., 121 Brandt, Willy 70, 199 Breinfeld, Klaus 178 Brentano, Heinrich von 337 Brinker, Klaus 343 Brown, Callum G. 12, 14, 31, 307 Bruce, Steve 12 Bultmann, Rudolf 142, 285 Bürger-Prinz, Hans 341
Burgess, Ernest 227 Burkart, Günter 224 Busch, Heinz 144 Cherlin, Andrew J. 227 Conze, Eckart 75, 217 Cooper, David 220–222 Cox, Harvey 352 Daecke, Sigurd Martin 141 Dahrendorf, Ralf 166 Damberg, Wilhelm 15, 18, 33 David, Jakob 10 Davie, Grace 17, 43 Dehler, Thomas 319 Dieckhoff, Albrecht 337 Diemer-Nicolaus, Emmy 321, 325 Dietzfelbinger, Hermann 294 f., 297 Dobbelaere, Karel 12 Dombois, Hans 341 Döpfner, Julius August (Kardinal) 294 Dürig, Günter 326 Dutschke, Rudi 193 Ebner, Katharina 353 Ehler, Johanna 177 Ehmke, Horst 324 f., 329 Eitler, Pascal 102, 349 Engels, Friedrich 272 Eppler, Erhard 148 Erhard, Ludwig 115 Fischer, Jochen 342 f. Foley, Grover 142 Foucault, Michel 76 Freud, Sigmund 269–272, 275 f., 283 f. Friedeburg, Ludwig von 303, 305 Frings, Josef Richard 293
368
Personenregister
Fromm, Erich 129, 148 f., 151 Fuchs, Ernst 276
Johannes XXIII. (Papst) Jung, Carl Gustav 271
Gabriel, Karl 9, 12, 15, 17, 32 Gerber, Hermann 336 Giddens, Anthony 167 Giese, Hans 341 Giesecke, Hermann 191 Goldstein, Martin 299–302 Gollwitzer, Helmut 147 Gräb-Schmidt, Elisabeth 22 Grass, Günter 102 Greschat, Martin 55, 161 Groeger, Guido 289, 295, 340 f. Großbölting, Thomas 10, 13, 15, 31, 33 f., 45, 54, 58, 102, 163, 217, 225, 357 Gruehn, Werner 262 Gründgens, Gustaf 337 Güde, Max 322 f., 325 f.
Kaminsky, Uwe 18, 301 Kästner, Erich 102 Kaufmann, Hannes 337 Keil, Siegfried 292, 295 Kentler, Helmut 191 Kersting, Franz-Werner 163 Kinsey, Alfred Charles 284 f., 288, 302, 337, 350 Klages, Helmut 71, 73 Klens, Hermann 170 Kleßmann, Christoph 130, 165 Klimmer, Rudolf 341 Kluckhohn, Clyde 22 Knoblauch, Hubert 17, 32, 34, 43 Knop, Karl 337 Köberle, Adolf 342 König, Wolfgang 129 Kramer, Brigitte 353 Krockert, Horst 112 Krusche, Peter 189 f., 192 Küng, Hans 180 Künneth, Walter 291 Kunter, Katharina 18
Habermas, Jürgen 129, 286, 355 Haendler, Otto 271 Halberstadt, Helmut 261, 265 Hauschild, Wolf-Dieter 134 Hauschildt, Eberhard 298, 300, 308, 350, 355 Hausmann, Manfred 102 Heinemann, Gustav 324 Helbich, Hans-Martin 186 f. Henkelmann, Andreas 18, 301 Hentig, Hans von 341 Hervieu-L¦ger, Dani¦le 17 Heuss-Knapp, Elly 265 Hobsbawm, Eric 73 Höffner, Joseph (Kardinal) 219, 224 Hradil, Stefan 22, 224 Inglehart, Ronald
49, 53
Jähnichen, Traugott 104, 137, 349 Janowski, Hans Norbert 141 ff. Jesus (Christus/von Nazaret) 150 Johannes Paul II. (Papst) 151
134
Langgässer, Elisabeth 177 Le Fort, Gertrud von 177 Leber, Georg 116, 179 Lepp, Claudia 350, 353 Marcuse, Herbert 129 Marsch, Wolf-Dieter 143 Marx, Karl 20, 113, 118, 129, 224, 272, 284 McLeod, Hugh 12 ff., 32 f., 49, 58, 307 Meyer, Sibylle 227 Meyerinck, Hubert von 337 Mitscherlich, Alexander 190 Mitscherlich, Margarete 190 Mitterauer, Michael 213, 216, 221 ff. Mollenhauer, Klaus 191 f., 197, 199 Moltmann, Jürgen 144, 150, 191, 276
Personenregister Müller, Ludwig 168 Müller, Manfred 170, 187 Müller, C. Wolfgang 191 Müller-Emmert, Adolf 321 f. Muggli, Marta 103 Nave-Herz, Rosemarie 222 Neidhardt, Friedhelm 222 Nellessen, Bernd 171 Neumaier, Christopher 57, 250, 350, 354 f. Nicholson, Max 139 Nietzsche, Friedrich 283 Norris, Pippa 53 Nowak, Kurt 9 Oelke, Harry 101 f., 104, 350, 352 Oppen, Dietrich von 292 Osten, Petra von der 18 f. Otte, Gunnar 22 Owetschkin, Dimitrij 46, 350, 354 Pahlavi, Mohammed Reza 357 Pasture, Patrick 15 Paul VI. (Papst) 179, 293 Paulus von Tarsus (Apostel) 339 Picht, Georg 55, 142, 162, 165 Pius XII. (Papst) 151, 173 Pollack, Detlef 66, 102, 250, 350 f., 354, 357 Potter, Philip 150 Praunheim, Rosa von 335 Priddat, Birger 127 Pust, Hans Georg 104 Radbruch, Gustav 316 Reich, Wilhelm 284 f. Reichardt, Sven 165 Rendtorff, Trutz 190 Reuss, Josef Maria 293 Rich, Arthur 113, 118, 123 Riehl, Wilhelm Heinrich 225 Riehl-Heyse, Herbert 176, 178 Riesman, David 129, 270
369
Rilke, Rainer Maria 177 Ringeling, Hermann 292, 295 Rölli-Alkemper, Lukas 218, 228 f. Rössel, Jörg 22 Rooden, Peter van 12, 58 Roth, Heinrich 168 Ruff, Mark Edward 10, 33 Schaefer, Rudolf 141 Scharfenberg, Joachim 260, 263, 267–273, 275 f., 300, 340 Schelsky, Helmut 101, 188 f., 208 f., 216 f., 270, 288 Schildt, Axel 15 f., 132, 135 Schiller, Margit 163 Schirach, Baldur von 168 Schlegel, Willhart Siegmar 340 f. Schlink, Clara (Mutter Basilea) 291 Schmidtchen, Gerhard 50, 306 f. Schultz, Johannes Heinrich 262 Schulze, Eva 227 Schwab, Ulrich 164, 350 Schwarzer, Alice 327 Seidelmann, Karl 167 Seppel, Ursula 284 Shorter, Edward 220 f. Siegfried, Detlef 15, 73, 101 Sigusch, Volkmar 306 Simmel, Georg 22, 77 Sinatra, Frank 176 Sölle, Dorothee 150, 199, 353 Sommer, Jochen, Dr. 162, 301 f. Sommerauer, Adolf 360 Spankeren, Reinhard von 353 Stange, Erich 170 Steinbacher, Sybille 287 Stollberg, Dietrich 340 Stolz, Jörg 16 Strate, Katharina 178 Symanowski, Horst 112 f., 116 Sywottek, Arnold 16
370
Personenregister
Tenhumberg, Heinrich 220 Thielicke, Helmut 103, 292, 338–340, 342 f. Thomas, Klaus 261 Thurneysen, Eduard 270 Tillich, Paul 268, 271, 276 Tödt, Heinz Eduard 113 f., 123 Trudeau, Pierre 329 Twiggy (Lesley Lawson) 161 Uhse, Beate 288, 336 Veblen, Thorstein 129 Verschuer, Otmar von 341 Vilmar, Fritz 115 f. Vogel, Bernhard 219 Voß, Günter 22 Wagner-Rau, Ulrike 275 Weber, Max 21, 66, 77, 213, 349 Wehler, Hans-Ulrich 101
Wehner, Herbert 178 Wellmer, Gerhard 170 Wendland, Heinz-Dietrich 113, 118 f., 123 Wichert, Ernst 177 Wildt, Michael 130 f. Winter, Friedrich 322 Wohlrab-Sahr, Monika 34 Wölber, Hans-Otto 187, 189 Wolfenden (Sir), John Frederick, Baron of Westcott in Surrey 337 Wolker, Ludwig 170 Wrage, Karl Horst 295, 300 f. Wuermeling, Franz-Josef 207, 215 f., 289, 316, 326 Wülker 266 Wuthnow, Robert 14 Ziemann, Benjamin 10, 12, 18 f., 39, 54 Zink, Jörg 141