Spiel der Unsicherheit / Unsicherheit des Spiels: Experimentelle Praktiken in der estnischen Kunst und im estnischen Theater der 1960er Jahre [1. Aufl.] 9783839429662

Neo-Avantgarde meets the ambivalence of late socialism - a study on art and theater experiments in the Soviet West.

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German Pages 312 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I Das Spiel und die 1960er Jahre
1.1 Kontext: Spielimpulse
1.2 Der Begriff ›Spiel‹ in den Künsten
1.3 Kennzeichen des Spiels in den Künsten
II Verknüpfte Kontexte: Spielräume in Osteuropa
2.1 Gesellschaftliche und kulturelle Spielebenen
2.2 Das Spiel und die künstlerischen Strategien
III Spielbegriff in der estnischen Kultur
3.1 Hintergründe, Diskurse, Territorien
3.2 Theatererneuerung
3.3 Die Happenings
3.4 Verflochtene Spielräume
IV Spielkategorien in der künstlerischen Praxis
4.1 Die Regeln
4.2 Das Imaginäre
4.3 Die Unwissenheit
4.4 Die Antistruktur
4.5 Die Totalität
V Das absurde Spiel
5.1 Übernahme des Existenzialismus im sozialistischen Umfeld
5.2 ›Sowjetischer Existenzialismus‹ und ›sowjetisches Absurde‹ in den Künsten
5.3 Das Absurde und das Spiel
5.4 Spiel der Unsicherheit/Unsicherheit des Spiels
Schlussbetrachtungen
Literatur
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Spiel der Unsicherheit / Unsicherheit des Spiels: Experimentelle Praktiken in der estnischen Kunst und im estnischen Theater der 1960er Jahre [1. Aufl.]
 9783839429662

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Anu Allas Spiel der Unsicherheit / Unsicherheit des Spiels

Theater | Band 71

2015-01-21 10-33-25 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e2388235974808|(S.

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4) TIT2966.p 388235974816

Anu Allas arbeitet als Kuratorin im Kumu Kunstmuseum in Tallinn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind künstlerische Neo-Avantgarde der 1960er Jahre und osteuropäische Kunst der Nachkriegszeit.

2015-01-21 10-33-25 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e2388235974808|(S.

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4) TIT2966.p 388235974816

Anu Allas

Spiel der Unsicherheit / Unsicherheit des Spiels Experimentelle Praktiken in der estnischen Kunst und im estnischen Theater der 1960er Jahre

2015-01-21 10-33-25 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e2388235974808|(S.

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4) TIT2966.p 388235974816

Dissertation Freie Universität Berlin 2013 Gedruckt mit Hilfe der Böckler-Mare-Balticum-Stiftung und der Stiftung Eesti Kultuurkapital.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Inszenierung »Nur ein Lied ...« im Haus der Schriftsteller, Tallinn, 1969. Foto Jüri Tenson, Estnisches Theater- und Musikmuseum Korrektorat: Angelika Wulff Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2966-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2966-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2015-01-21 10-33-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e2388235974808|(S.

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4) TIT2966.p 388235974816

Inhalt

Einleitung | 7 I Das Spiel und die 1960er Jahre | 19

1.1 Kontext: Spielimpulse | 19 1.2 Der Begriff ›Spiel‹ in den Künsten | 34 1.3 Kennzeichen des Spiels in den Künsten | 45 II Verknüpfte Kontexte: Spielräume in Osteuropa | 59

2.1 Gesellschaftliche und kulturelle Spielebenen | 60 2.2 Das Spiel und die künstlerischen Strategien | 75 III Der Spielbegriff in der estnischen Kultur | 93

3.1 Hintergründe, Diskurse, Territorien | 94 3.2 Theatererneuerung | 106 3.3 Die Happenings | 124 3.4 Verflochtene Spielräume | 143 IV Spielkategorien in der künstlerischen Praxis | 155

4.1 Die Regeln | 156 4.2 Das Imaginäre | 171 4.3 Die Unwissenheit | 186 4.4 Die Antistruktur | 198 4.5 Die Totalität | 210 V Das absurde Spiel | 225

5.1 Übernahme des Existenzialismus im sozialistischen Umfeld | 226 5.2 ›Sowjetischer Existenzialismus‹ und ›sowjetisches Absurde‹ in den Künsten | 240 5.3 Das Absurde und das Spiel | 255 5.4 Spiel der Unsicherheit/Unsicherheit des Spiels | 2 68 Schlussbetrachtungen | 283 Literatur | 295

Einleitung

Am 16. Januar 1968 legten zwei junge estnische Komponisten, Arvo Pärt und Kuldar Sink, als Antwort auf die offizielle Nachfrage ein Erläuterungsschreiben für den Vorstand des Estnischen Komponistenverbandes vor.1 Es ging um ein Ereignis, das sie eine Woche zuvor im Haus der Schriftsteller in Tallinn veranstaltet hatten und das die Aufmerksamkeit der Behörden erregte, selbst wenn nicht eindeutig klar war, aus welchem Grund die Initiatoren angeklagt werden sollten (außer dem Übersehen der Brandschutzmaßnahmen, infolge dessen eine Geige in Brand geraten war). Laut der Erläuterung von Pärt und Sink handelte es sich um eine experimentelle Aufführung, um eine improvisatorische Freizeitaktivität vor Publikum – um ein Happening, das nichts mit einem bestimmten Musikstück zu tun hatte,2 sogar wenn eine Geige im Mittelpunkt der Aktivitäten stand und verschiedene Ausschnitte aus Stücken klassischer Musik vorgetragen wurden. Diese Ausschnitte hat man angeblich nur als ›Requisit-Musik‹ betrachtet und die Geige als gleichwertig mit den anderen in Gebrauch genommenen Objekten (Messband, Tonband, Kaffeemühle, Luftballons u.a.) behandelt.3 Pärt und Sink vermieden jede tiefgreifende Aussage bezüglich des Ereignisses, konzentrierten sich überwiegend auf die organisatorischen Details, bestätigten, dass während des Happenings nicht gegen die moralischen und ethischen Normen verstoßen wurde, und stellten schließlich fest, dass das produktive Potential solcher Experimente sich nur im Laufe ihrer Fortsetzung herausstellen kann.4

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Arvo Pärt, Kuldar Sink, An den Vorstand des Estnischen Komponistenverbandes: Er-

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läuterungsschreiben, 16.01.1968; Archiv des Estnischen Komponistenverbandes.

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Das Happening mit dem Titel »Reigen von Cremona«,5 das die jungen Musiker im Haus der Schriftsteller (im Saal, den man zumeist für die literarischen Präsentationen und Diskussionen benutzte) aufführten, war eines der wenigen derartigen Ereignisse in Estland während der 1960er Jahre, das für das breitere Publikum zugänglich gemacht wurde, und das einzige, das auf einem direkten Vorbild basierte – einige Jahre zuvor, im Jahr 1964, hatten die Initiatoren im Musikfestival Warschauer Herbst den Auftritt von John Cage und Merce Cunningham gesehen.6 Abbildung 1: »Reigen von Cremona« im Haus der Schriftsteller, Tallinn, 1968 (Arvo Pärt, Toomas Velmet)

Foto Jüri Tenson, Archiv des Estnischen Kunstmuseums

Die Handlungen in »Reigen von Cremona« bezogen sich auf das Konzert der klassischen Musik, das vor dem Publikum mehrfach ›dekonstruiert‹ wurde: Auf der Bühne hatte man ein eigenartiges Laboratorium aufgebaut, in dem die Geige als 5

Das Happening fand am 5.01.1968 statt, die Beteiligten waren die Musiker Arvo Pärt,

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Videointerview mit dem Musiker Toomas Velmet, exponiert in der Wanderausstellung

Kuldar Sink, Toomas Velmet und Mart Lille; vgl. dazu Kapitel IV, S. 164-167. »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe« im Kumu Kunstmuseum in Tallinn (2008, Kuratorin Petra Stegmann, Produzent Künstlerhaus Bethanien, Berlin); Archiv des Estnischen Kunstmuseums, EKMa 12.1.–8/27.

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Objekt und der Akt des Geigenspielens vielfältig untersucht wurden, mit nur einer Einschränkung – das Instrument sollte nicht ›normal‹ verwendet werden.7Auf eine interessante Weise brachte dieses Ereignis die Umdeutungen und Verschiebungen des neoavantgardistischen künstlerischen Diskurses im sowjetischen Kontext zum Vorschein. Das Happening ging einerseits von dem Bestreben nach unmittelbarer Wahrnehmung des physischen Raumes und der materiellen Objekte sowie vom Anspruch auf das Herausbrechen aus dem institutionellen Rahmen der künstlerischen Tätigkeit aus (die den Kern des Cage’schen Diskurses in der westlichen NeoAvantgarde bildeten), verknüpfte diese Bestrebung aber paradoxerweise sowohl mit dem Interesse für wissenschaftliche Revolution (die als eines der Leitmotive der offiziellen sowjetischen Ideologie diente) als auch mit dem zwiespältigen Verhältnis zur ›Kultur‹, die man in den experimentellen künstlerischen Praktiken dieser Zeit in den sowjetischen Ländern häufig zugleich unterminieren und beschützen wollte. Diese Praktiken in Estland wurden oft innerhalb der vergleichsweise liberaleren kulturellen Institutionen initiiert, um die Aktivitäten zu legitimieren. Die ›Kultur‹ mit ihren Traditionen und konventionellen Rahmenbedingungen wurde nicht nur als bedrängend empfunden (wie in der westlichen Neo-Avantgarde), sondern auch als ein universaler und mutmaßlich unkorrumpierter Gegensatz zur repressiven politischen Ideologie bewertet. Die laboratorische Untersuchung eines künstlerischen Ereignisses, das man in »Reigen von Cremona« vornahm, wurde von zwei unterschiedlichen Impulsen geprägt: von einem ernsthaften Versuch, dadurch die reine Materialität der Objekte und das ursprüngliche Chaos der Klänge aufzudecken, und von der Parodie der wissenschaftlichen Forschung. Durch diese Koppelung bzw. vom expliziten (oder simulierten) Anspruch auf Objektivität, der mithilfe der Strategien der Fluxus-Konzerte umgesetzt wurde, entstand jedoch das Gegenteil eines wissenschaftlichen Forschungsergebnisses: die Entblößung der vollkommenen Irrationalität, die den Bühnenaktivitäten zugrunde lag. Einerseits lässt diese Demonstration des Scheiterns der wissenschaftlichen Herangehensweise sich mit der romantischen Idee, dass die Kunst durch rationale Mittel unbegreifbar bleibt, in Verbindung bringen, andererseits hat das Ereignis alle etablierten Grundlagen der künstlerischen Tätigkeit hinterfragt und romantische Einstellungen abgelehnt. Sogar wenn die Initiatoren des Happenings eine gewisse Hinwendung zu den Leitsprüchen der offiziellen Ideologie aufwiesen, galten die allgemeine Ambivalenz und Spielhaftigkeit der Aktion, die fließenden Positionierungen der Künstler (und deren unabsehbare Folgen) in diesem Kontext ebenso – oder gar mehr – subversiv als eine eindeutige ideologische Inkorrektheit und führten dazu, dass sich derartige Experimente weiterhin aus der breiteren Öffentlichkeit zurückziehen sollten. Fast vier Jahre später, am 13. November 1971, fand im Theater »Vanemuine« in Tartu die Besprechung der Kontrollaufführung der Inszenierung »Du, wer die Ohr7

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feigen kriegt« vom jungen Regisseur Evald Hermaküla statt. 8 Derartige Besprechungen, an denen sowohl die Experten aus dem künstlerischen Bereich als auch die Vertreter der Behörden teilnahmen, dienten zur Formulierung der offiziellen Einschätzung der jeweiligen Inszenierung vor der öffentlichen Premiere bzw. zur Entscheidung, ob – oder mit welchen eventuellen Änderungen – es aufgeführt werden kann. »Ohrfeigen« galt als Kulmination und Finale der vor einigen Jahren begonnenen Theatererneuerung in Estland9 und brachte deren verschiedene, teils widersprüchliche Absichten und Arbeitsweisen (improvisatorische Schauspieltechniken, neuartige Verbindung zwischen den Schauspielern und dem Publikum, Umdeutung der Rolle des Textes in einer Theateraufführung u.a.) auf eine konzentrierte Weise zum Ausdruck. Abbildung 2: »Du, wer die Ohrfeigen kriegt« im Theater »Vanemuine« Tartu, 1971 (Mare Puusepp, Jaan Tooming)

Estnisches Theater- und Musikmuseum

Die hauptsächlichen Vorwürfe gegen die Inszenierung, die während der Besprechung geäußert wurden, bezogen sich auf die allgemeine Unverständlichkeit – auf

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Protokoll der Sitzung des Kollegiums des Theaters »Vanemuine« am 13.11.1971; Bibliothek des Theaters »Vanemuine«: n. 2, s. 519. Die Inszenierung basierte auf der Bearbeitung des Textes von Leonid Andrejew, vgl. dazu Kapitel III, S. 113-114, und Kapitel IV, S. 211-213.

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Vgl. dazu Kapitel III, S. 106-124.

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eine Inkongruenz des Basistextes und der Bühnenaktivitäten, wobei die Intensität der körperlichen Handlungen angeblich den Text verdrängte und die Undeutlichkeit des inszenatorischen Verfahrens den Gedanken abgewertet hat; laut der Aussagen der Experten mochte das Ganze zwar teilweise interessant sein, benötige aber eine Erklärung, da ansonsten ›ein Spiel um des Spieles selbst willen‹ entstehe.10 Der Regisseur Hermaküla reagierte auf die Kritik mit der hektischen, aber resoluten Stellungnahme, dass der Anfang bzw. das Neue in der Kunst nicht eine Konkretheit bedeutet, dass das Theater – das, was auf der Bühne und im Saal passiert – für sich selbst sprechen muss, dass die Ausgangspunkte der Schauspieler das emotionale Gedächtnis und Spiele der Kindheit seien, dass die Inszenierung nicht grundsätzlich geändert werden kann und auch keine weiteren Erklärungen braucht.11 Der Theaterdirektor Kaarel Ird, der sich zwar Sorgen um die Reaktion des Publikums machte, stellte jedoch fest, dass er sich weigere, für die junge Generation zu denken – die wisse es selbst, was gemacht werden müsse, und wenn derartige Experimente nötig seien, dann solle man die auch erlauben.12 Die Inszenierung wurde auf die Bühne gebracht und gilt für die damalige junge Generation als eines der legendärsten Theaterereignisse in Estland zu dieser Zeit. Diese beiden Fälle sind zwei unter vielen vergleichbaren Beispielen, die die kulturelle Dynamik im sowjetischen Kontext und deren Einfluss auf jede künstlerische Aktivität in diesem Umfeld beleuchten. Dieser Einfluss zeigte sich nicht nur auf der praktischen Ebene – durch unvermeidliche Grenzen der künstlerischen Tätigkeit, ideologische Erfordernisse u.a. –, sondern auch in den ideellen Zielsetzungen der experimentellen künstlerischen Praxis. Jede künstlerische Neuorientierung entstand in der – expliziten oder impliziten – Kommunikation mit der aktuellen Lebensumwelt, deren konstitutive Faktoren, die das sowjetische Regime festlegte, sich auf vielfältige Weisen in die Künste einmischten bzw. von den Künsten angenommen wurden. Besonders während der 1960er und am Anfang der 1970er Jahre lässt sich in dieser Kommunikation zwischen der jungen Künstlergeneration und den Behörden eine gewisse Verwirrung sowie eine Flexibilität beider Seiten beobachten: Die jungen Künstler waren aufgeregt, manchmal überfordert von der kulturellen Öffnung der Liberalisierungszeit, die Forderungen der Behörden wurden wiederum im Rahmen der Modernisierung der sowjetischen Gesellschaft umgestaltet. Vor diesem Hintergrund kann man die Aushandlung der Bedingungen und Grenzen für die neuartigen künstlerischen Aktivitäten häufig als eine performative Auseinandersetzung und nicht als einen Kampf mit den ideologischen Ansätzen beschreiben. Aufforderung zu Experimentalität und Erneuerung in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft gehörte zum modernisierten Selbstbildnis der Sowjetunion und erlaubte auch 10

Protokoll der Sitzung des Kollegiums des Theaters »Vanemuine« am 13.11.1971.

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12 | S PIEL DER UNSICHERHEIT / U NSICHERHEIT DES S PIELS

für die künstlerische Praxis einen vergleichsweise breiteren Bewegungsraum als früher. Ausgehend davon bildete die junge (auf die Neo-Avantgarde orientierte) Generation der Künstler ihre Positionierungen nicht in der eindeutigen Konfrontation mit dem System heraus, sondern zeigte eine Bereitschaft zum Dialog mit der offiziellen Ideologie. Der Verlauf dieses Dialogs sowie die ständigen Hemmungen weisen eine erhöhte Spielhaftigkeit des gesamten Prozesses auf – das System war sporadisch durchlässig geworden und entwickelte manchmal eine Subversivität gegen sich selbst, die künstlerischen Experimente bewegten sich zwischen der praktischen Anpassung und dem idealistischen Widerstand gegen das Regime. Bei den Festlegungen der Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen wurden die Regeln oft verändert, in den ideologischen Diskussionen ging es häufig nicht um die inhaltlichen Argumente, sondern um die Suche nach den kraftvollsten rhetorischen Taktiken. Die den experimentellen künstlerischen Praktiken vorgeworfene Unverständlichkeit entstand nicht nur, weil sie keine Übereinstimmung mit dem offiziellen Kunstbegriff ermöglichten, sondern auch aufgrund ihrer Eigendynamik, die eine ambivalente Mischung von intuitiv aufgenommenen Impulsen, übersetzten und umgedeuteten Ideen sowie kontextuellen Bestimmungen ausprägte. Der vor diesem Hintergrund in den Künsten in Estland – im Rahmen der Theatererneuerung und in Bezug auf die Happenings – ausdrücklich zutage tretende Spielbegriff, dessen Auslegungen, Funktionen und Umsetzungen in späten 1960er und frühen 1970er Jahren im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, erweist sich als mehrfach bedeutend: Er wird nicht nur zur Beleuchtung der künstlerischen Neuorientierungen in einem bestimmten Kontext dienen, sondern vermag auch zur Erörterung einer breiteren kulturellen Dynamik und deren Besonderheiten beizutragen, die die künstlerische Praxis sichtbar machte. Dieses Buch hat zwei gleichermaßen wichtige und ambivalente Ausgangspunkte: den Begriff ›Spiel‹ und den kulturellen Kontext von einem sozialistischen Land am Ende der 1960er Jahre. Keiner von beiden lässt sich als feste Grundlage für eine komplexe Betrachtung definieren oder beschreiben: Der Erste wegen der ›Totalität‹ des Phänomens, der Zweite wegen der komplizierten und paradoxen Dynamik der gesellschaftlichen Beziehungen, die man nur zum Teil rekonstruieren kann. Doch basiert das Folgende auf der Annahme, dass die Analyse der Knotenpunkte, die zwischen dem Spiel und einer bestimmten kulturellen Situation zum Vorschein kommen, für beide Seiten erhellend sein könnte. Das erste Ziel der Arbeit ist – mithilfe einiger Beispiele aus dem estnischen Theater und der estnischen Kunst – zu untersuchen, wie der Spielbegriff in der Kultur der 1960er Jahre aktualisiert, interpretiert und in den künstlerischen Praktiken umgesetzt wurde. Dabei wird sowohl die Frage gestellt, welche Bedeutung dieser Prozess vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Ereignisse dieser Jahre hatte, als auch die Bewegung beobach-

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tet, in der die Grenzen zwischen Kunst und Alltagsleben destabilisiert wurden. Darüber hinaus wird diese Arbeit hoffentlich einen Forschungsbeitrag zum Spielphänomen darstellen, wobei der Nachvollzug dessen, was man als Spiel bezeichnet hat oder bezeichnen könnte, nicht nur die Ambivalenz des Phänomens beschreibt und bestätigt, sondern in Bezug auf dessen spezifische Entstehungsweise vielleicht auch ergänzt oder erweitert. Eine der dominierenden Tendenzen in den letzten Jahren in der Forschung über die Sowjetzeit bzw. Zeit des Sozialismus ist der Versuch, über die festen Oppositionen, wodurch diese Periode nach der Wende konzeptualisiert wurde (offizielle und nicht-offizielle Kultur, Konformismus und Resistance, öffentliche und private Räume u.a.), hinauszukommen und zu analysieren, wie verschiedene Ebenen der Gesellschaft unmittelbar miteinander verbunden waren. Zu dieser Tendenz gehören auch neue Ansichten bezüglich der Beziehungen zwischen der sozialistischen und der westlichen Kultur, wobei man nicht mehr unbedingt (von der osteuropäischen Seite aus) nach der versteckten Zusammengehörigkeit sucht oder Orientierungsmodelle konstruiert, sondern vielmehr die vielfältigen Bedeutungswandlungen dieser Beziehungen betrachtet. Diese Diskussionen bilden auch einen der Rahmen dieser Arbeit. Allerdings muss man sich dessen bewusst sein, dass sowohl die genannten Oppositionen als auch die Vorstellungen von bestimmten Einflussströmungen besonders in den 1960er Jahren nicht einfach zu vermeiden sind und/oder oft in Versuchung führen, Gegenmodelle zu bilden (die bisher depolitisierte ResistancePhänomene als direkte oder indirekte Ausdrücke der offiziellen Ideologie zu erörtern u.a.). Die Beobachtung der Spieldynamik in den kulturellen Ereignissen dieser Zeit könnte daher hilfreich sein: Sie ermöglicht bzw. verlangt, dass man sich statt der Auflösung der Zwiespältigkeit auf das Zusammensein der verschiedenen und gegensätzlichen Strömungen konzentriert. Der Begriff ›Spiel‹ hat in dieser Arbeit zwei Funktionen: eine stabilisierende und eine dynamische. Einerseits ist er Gegenstand der Forschung. So wird untersucht, in welcher Form das Wort ›Spiel‹ in der Kultur der 1960er Jahre Verwendung fand, wie es in den konkreten Fällen – oft aus verschiedenen Gründen und mit verschiedenen Zielen – benutzt, interpretiert und realisiert wurde. Andererseits ist ›das Spiel‹ bzw. einige Grundkategorien, die in den Diskussionen darüber im Mittelpunkt stehen, ein Mittel zur Analyse: Im Hintergrund dieser Kategorien werden in den als Beispiele gewählten Ereignissen Kennzeichen des Spiels betrachtet, wobei man nicht zwangsläufig eine Übereinstimmung mit den Ausgangsthesen der künstlerischen Tätigkeiten angestrebt wird. Das Ziel dieses Verfahrens ist unter anderem eine hoffentlich fruchtbare Erweiterung des Untersuchungsfeldes dieser Ereignisse, in den man eine stetige Spannung zwischen den entgegengesetzten Strömungen verfolgen kann: Den Wunsch, Kunst zu machen, und den Wunsch, unmittelbare Verbindungen mit dem Alltagsleben herzustellen. Grund dieser Spannung war einerseits der Wille, über die Grenzen der Kunst hinauszukommen, ande-

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rerseits aber auch die Absicht, die Grenzen des Alltags zu transzendieren. Durch das Zugleich der beiden Richtungen entwickelte sich der Zustand einer anhaltenden, teils produktiven, teils hinderlichen Unentschiedenheit, die ein großes Potential besitzt, gleichzeitig aber nichts eindeutig fixiert. Natürlich muss man bei dieser Spannung sowohl die damalige Destabilisierung des Kunstbegriffes (die auch in der osteuropäischen Kultur stattfand, obwohl auf eine in mancher Hinsicht andere Weise als im Westen) beachten als auch die Komplexität der Handlungsebenen des Alltagslebens und die Wahrnehmungsformen der ›Realität‹ in der sowjetischen Gesellschaft berücksichtigen. Die Betrachtung der Letzteren kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nur teilweise aufgenommen werden und wird hauptsächlich im Hinblick auf deren explizite Erscheinungsweisen in den künstlerischen Praktiken erörtert. Der Spielbegriff wird im Folgenden als eines der ›Schlüsselwörter‹ – wie Raymond Williams diese geschildert hat13 – betrachtet. Es wird nicht auf eine vorab festgelegte Definition gezielt, sondern von einer unmittelbaren Verbindung zwischen dem Begriff und den Problemen, die mithilfe dessen untersucht werden sollen, ausgegangen. Der Gebrauch des Wortes dient dabei zugleich, ihn auf den Prüfstand zu stellen und eine mögliche Bedeutungserweiterung anzuvisieren. Von den in gleich mehreren Definitionen und Theorien enthaltenen Grundkategorien des Spiels sind einige in dieser Arbeit jedoch von besonderem Wert. Erstens wird das sog. subversive Potential des Spiels in den Mittelpunkt gebracht und die antistrukturellen Spielformen fokussiert (beispielsweise im Sinne von Roger Caillois alea und ilinx: dem vom Zufall geführten Spiel und dem Spiel als Rausch). Vor dem Hintergrund des beschriebenen Kontextes wird diese Subversivität nicht als Gegensatz zum System, sondern als dessen Teil betrachtet. Der zweite Schwerpunkt der Arbeit liegt auf einem der kompliziertesten, aber auch interessantesten Kennzeichen des Spiels: auf der paradoxen Dynamik von Glauben (Einleben in das Spiel) und Wissen (Bewusstsein der Fiktivität des Spiels). Sogar wenn die Untersuchung dieses Paradoxes in Bezug auf die vor Jahrzehnten stattgefundenen künstlerischen Ereignisse unvermeidlich spekulativ ist, wird es hierbei jedoch im Auge behalten und über indirekte Wege (Ziele und Methoden der Spiele und deren Funktion in einer bestimmten sozialen Umwelt) zumindest teilweise beleuchtet, aufgrund der Annahme, dass ohnedies ein eventuelles Kernproblem in diesen Ereignissen bzw. in dieser kontextuellen Bedeutung unbeachtet bleiben würde. Eine der Ausgangsthesen dieser Arbeit ist die Behauptung, dass sowohl die allgemeine kulturelle Intensität als auch die Aktualisierung des Spielbegriffs in den letzten Jahren der 1960er im östlichen Europa unter anderem aus einem Konflikt in der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Bedingungen entstand: Man wollte nicht 13

Vgl. Raymond Williams, Keywords: A Vocabulary of Culture and Society. London: Collins, 1976.

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das in der Zeit des ›Tauwetters‹ entstandene Freiheitsgefühl aufgeben, obwohl die aktuellen politischen Ereignisse bereits eindeutig diesem Gefühl widersprachen. In diesem Sinn kann man das Interesse für das Spiel in der Kultur dieser Zeit sowohl als ein Krisenphänomen (das dann auftaucht, wenn man den Hoffnungen auf die realen Veränderungen in der Gesellschaft schon entsagt hat) als auch als eine Bewältigungsform dieser Krise betrachten. Darüber hinaus muss man in Bezug auf die künstlerischen Aktivitäten natürlich auch eine breitere Tendenz bzw. zwei gegensätzliche Tendenzen in der Kultur der 1960er Jahre berücksichtigen, die sich vor dem Hintergrund dieser konkreten sozialen Wahrnehmungsdissonanz teils verschärft, teils spezifiziert haben: einerseits die Suche nach ›Authentizität‹ (die insbesondere in den performativen künstlerischen Praktiken zum Vorschein kam), andererseits das erhöhte Bedürfnis nach Reflexion (das sich in den konzeptuellen Kunstformen zeigt). Diese zwei (manchmal verbundenen, aber immer unvereinbar gebliebenen) Strömungen oder deren Modifikationen bildeten verschiedene Rahmungen für das Interesse am Spielphänomen heraus und lassen sich in den meisten von den in dieser Arbeit analysierten künstlerischen Ereignissen beobachten, sowohl als Impuls der Tätigkeit als auch als deren strukturierende Elemente. Die Position Estlands und der estnischen Kultur unter den ehemaligen sozialistischen Staaten kann man (von außen) durch eine mehrfache Marginalität und (von innen) durch die Selbstwahrnehmung als kulturelles Zwischengebiet beschreiben. In dem kleinsten Staat des Ostblocks am Rande der Sowjetunion, der den Status des ›sowjetischen Westens‹ erworben hat, konnte man sich vergleichsweise größere Freiheiten leisten und besonders in den 1960er Jahren auch innerhalb (oder an der Grenze) der offiziellen Kultur unter bestimmten Bedingungen relativ weitgehende künstlerische Experimente durchführen. Die Realisierung dieser Experimente basierte auf einer aktiven Reflexion der aus der westlichen Kultur stammenden Impulse oder deren osteuropäischen Übersetzungen, wurde aber immer auch durch die eigene Abwesenheit filtriert. Der geringen Größe der Gesellschaft und der Entfernung von allen Zentren scheint hier bei der Schaffung der Spielräume eine wichtige Rolle zuzukommen: Man orientierte sich intensiv (ideell) nach außen, die eigentliche soziale und kulturelle Umgebung der künstlerischen Aktivitäten war aber auf den engen Kreis der Beteiligten begrenzt. Diese Verbindung der virtuellen Offenheit und eigentlichen Geschlossenheit hat spielbezogene Experimente in zwei (zwar nicht immer eindeutig getrennte) Richtungen gelenkt und einerseits die Leichtigkeit des Spiels (ein produktives Gefühl der eigenen Irrelevanz) hervorgebracht, andererseits die Schwere des Spiels (den Glauben an einer Befreiung durch die Intensivierung der Geschlossenheit, durch ein in sich gekehrtes und oft traumatisches Spiel) vertieft. Obwohl diese Dialektik in der folgenden Arbeit häufig angesprochen und untersucht wird, kann man sie keineswegs – weder hinsichtlich der osteuropäischen Kultur noch der Spielformen in den Künsten – absolutisieren. Sie dient eher als ein Mittel in der Analyse der Prozesse, die häufig nicht auf festen Positionierungen

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basierten und auch nicht immer zu bedeutenden künstlerischen Ergebnissen führten, sondern in erster Linie durch ihre Ambivalenz und Flexibilität zu charakterisieren sind. Es lässt hoffen, dass die Betrachtung dieses Rohzustandes der künstlerischen Produktion und der Entstehung der spielbezogenen Experimente es ermöglicht, einige anderswo unsichtbar gebliebene Elemente der kulturellen Konstellationen zum Vorschein zu bringen. In diesem Rahmen werden zwei Phänomene in der estnischen Kultur der 1960er Jahre eingehender analysiert: die sog. Theatererneuerung im Theater »Vanemuine« in Tartu und die von Kunststudenten durchgeführten Aktionen, die im Nachhinein als die ersten Happenings in Estland in die Kunstgeschichte Einzug fanden. Sowohl die Ansprüche als auch die Rolle des Spielbegriffs war bei beiden unterschiedlich: Für die methodische und mehrfach reflektierte Theatererneuerung war ›das Spiel‹ (besonders in einigen psychoanalytischen Definitionen) einer der wichtigsten Ausgangs- und Anknüpfungspunkte, bei den oft zufälligen künstlerischen Aktionen kam das Wort eher poetisch und/oder undefiniert vor. Diese Ungleichheit muss man trotz der Komplikationen im direkten Vergleich nicht unbedingt als Nachteil sehen, die stabilisierende und destabilisierende Tendenz sowohl in der begrifflichen Bestimmung als auch in den Ausführungen lassen sich als Charakteristik des Spielphänomens auffassen. Die Aufarbeitung der Quellen, mithilfe deren man die künstlerischen Ereignisse zu rekonstruieren versucht, bereitet in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema natürlich verschiedene Schwierigkeiten. Bei der Theatererneuerung stehen sowohl viele damalige Texte, die Dokumentationen der Inszenierungen, im Nachhinein veröffentlichte Briefwechsel und Tagebücher als auch viele spätere Überlegungen zur Verfügung; sowohl die Vielfalt der Ebenen und Funktionen der Quellen als auch die unterschiedlichen Zeitpunkte der Einschätzungen verlangen aber einen sehr vorsichtigen Umgang mit den Aussagen. Zu den künstlerischen Aktionen gibt es wesentlich weniger Materialien, auf die man sich stützen kann (einige damalige Texte, einige Fotos und sehr widersprüchliche Erinnerungen); bei der Betrachtung dieser Aktivitäten stellt sich unter anderem immer die Frage, welche Herangehensweise an diese Aktionen geeignet sein könnte, warum und wie man über sie nachdenken sollte, und manchmal sogar – ob sie überhaupt existierten? Die wissenschaftliche Annäherung an diesen Gegenstand gilt als ein Versuch, das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Stimmen zu finden, im Bewusstsein, dass sie alle (teilweise widersprüchliche) Aspekte eines komplexen Untersuchungsgegenstandes bilden, wobei aber keiner von ihnen einen direkten Weg zum eigentlichen Geschehen darstellen kann. Im ersten Kapitel dieser Arbeit wird die Relevanz des Begriffs ›Spiel‹ in verschiedenen Diskursen der Kultur der 1960er Jahre betrachtet und untersucht, wie das Wort in Bezug auf künstlerische Praxis benutzt und definiert wurde oder unter welchen Bedingungen man neue Richtungen in der Kultur dieser Zeit mit dem Spielphänomen in Zusammenhang bringen könnte. Das zweite Kapitel widmet sich

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dem kulturellen Kontext in Osteuropa und dem Prozess, bei dem sich in Verbindung mit einer bestimmten sozialen Umgebung und durch mehrfache Übersetzungen, Bedeutungs- und Zeitverschiebungen ein spezifischer Kontext für die Aktualisierung des Spiels herausbildete. Die drei weiteren Kapitel konzentrieren sich auf die Analyse der konkreten Beispiele aus der estnischen Kunst und aus dem estnischen Theater. Erstens wird einen Überblick über die kulturellen Hintergründe sowie auch über die Theatererneuerung, die ersten Happenings, deren Kontakte und die Rolle des Spielbegriffs in den beiden Kontexten gegeben. Zweitens analysiere ich Erscheinungs- und Bearbeitungsweisen der bestimmten – in Bezug auf das Material besonders relevanten bzw. interessanten – Spielkategorien in der künstlerischen Praxis im Hinblick auf deren soziale und kulturelle Bedeutsamkeit sowie auf die Interaktion zwischen den theoretischen Ansätzen und praktischen Ergebnissen. Im Mittelpunkt des letzten Kapitels steht die Betrachtung der Übernahme des Existenzialismus in einer sozialistischen Gesellschaft, dessen Einflusses auf die Wahrnehmung des Spielphänomens und auf die künstlerischen Umsetzungen dieser Wahrnehmung. Neben den oben geschilderten Konflikten zwischen dem imaginären und eigentlichen Lebensumfeld ist der zweite Ausgangspunkt dieser Arbeit die These, dass ein wichtiger Teil der Spezifik des Spielverstehens in sozialistischen Ländern durch dessen Zusammenfallen mit der Rezeption der existenzialistischen Philosophie und durch die Verknüpfung mit dem Konzept des Absurden zu beobachten ist. Das Ziel des letzten Unterkapitels ist eine (nicht zerstörende, sondern hoffentlich gewinnbringende) Konfrontation mit den Grundlagen des Vorherigen: Es ist ein Versuch zu überlegen, was in diesen spielbezogenen Ereignissen nach deren Betrachtung als Ausdruck einer spezifischen sozialen und kulturellen Situation (oder als Mittel zum Handeln in dieser Situation) erhalten bleibt bzw. im Rahmen der gesellschaftlichen Bedingungen nicht anschließbar ist, und ob man diesen Überschuss zwar als ein fragiles, nicht immer klar identifizierbares, jedoch bedeutendes Kennzeichen des Spiels erörtern kann.

I Das Spiel und die 1960er Jahre

Das Ziel dieses Kapitels ist zu untersuchen, inwieweit einige Charakteristika, die häufig in den Beschreibungen der kulturellen Umbrüche der 1960er Jahre im Vordergrund stehen, mit denen des Spielphänomens in Verbindung gesetzt werden können. Die Eigenart dieser Verbindung in der Kultur des sozialistischen Osteuropas, die in den nächsten Kapiteln in Betracht kommt, wird hier vorerst unbeachtet bleiben; ich konzentriere mich auf die generellen Gemeinsamkeiten zwischen der westlichen und der osteuropäischen Kultur. In einem ersten Schritt sollen die Impulse, die das Phänomen ›Spiel‹ im Rahmen des kulturellen Wandels der 1960er Jahre aktualisiert haben, erläutert werden. Zweitens sollen die Positionen und die Verwendungsweisen des Begriffs ›Spiel‹ bezüglich der künstlerischen Praktiken und drittens die Aktualisierung einiger Kernkategorien des Spiels (Zufall, Präsenz, Rausch u.a.) in den Künsten beobachtet werden. Die konkreten Beispiele beanspruchen nicht, alle spielgebundenen Bewegungen in der Kultur der 1960er Jahre zu umfassen, sondern lediglich einige zentrale und maßgebliche Tendenzen herauszuarbeiten.

1.1 K ONTEXT : S PIELIMPULSE Die Spezifik der kulturellen Prozesse der 1960er Jahre wird sowohl im westlichen als auch im osteuropäischen Kontext hauptsächlich durch die während oder nach dem II. Weltkrieg geborene – idealistische, offene, mutige, selbstbewusste, aber auch zynische – Generation begründet. Die soziale und kulturelle Situation, die diese Generation herausgebildet hat, wird einerseits durch die ständige Destabilisierung der bisher als gültig akzeptierten Wahrheiten, Normen und gesellschaftlichen Konstellationen begriffen, andererseits durch einen flexiblen Zustand zwischen Protest und Anpassung, Tradition und Neuorientierung, Aufbruch und Absturz,

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Pragmatismus und Utopie, Wirklichkeitsflucht und Realitätsprinzip u.a.14 Bei der Betrachtung der verschiedenen gesellschaftlichen Bewegungen (besonders der Studentenrevolte und der New Left im Westen, aber auch Jugend- und Protestbewegungen in Osteuropa) ist es vor allem die Haltung der Beteiligten, deren Einschätzung Schwierigkeiten bereitet. Immer wieder stellt sich die Frage, wie ›ernst‹ diese Bewegungen waren: Ging es um authentische und idealistische Rebellion oder um die Pantomime rhetorischer Gesten,15 wie verhielten sich die Ansprüche auf reale Veränderungen, die utopischen Visionen und die Rebellion als Performance zueinander? Das Folgende geht davon aus, dass die verschiedenen performativen und/oder spielerischen Praktiken zwischen diesen Polaritäten – Ernst und Scherz, Anpassung und Widerstand, eigentliche soziale Umgebung und imaginäre ›andere Welt‹ – eine versöhnende Funktion hatten: Sie entstanden als eine bedeutende Ausdrucksform für die Ambivalenzen in ihrer Umwelt und galten als ein Ort des Ausgleichs der Gegensätze sowie als Erscheinungs- und Realisierungsweise eines bestimmten kulturellen Zustandes. Der Charakter dieser performativen Praktiken, die sich während der 1960er Jahre (im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen oder künstlerischen Bewegungen) herausbildeten, ist besonders im Rahmen der verbreiteten Begrifflichkeiten in dieser Zeit (›Alles ist Politik‹, ›Jeder ist ein Künstler‹ u.a.) nicht immer klar definierbar. Das betrifft sowohl die Intention als auch die Rezeption dieser Praktiken: Für die Künstler fand sich die echte und anregende Energie oft in den sozialen Handlungen, die (noch) nicht als Kunst anerkannt waren,16 bei der Betrachtung der Studentenrevolte hat man deren Neigung zum ›Karnevalistischen‹ betont oder auf die Möglichkeit hingewiesen, die Revolte als Performance zu beschreiben. Darüber hinaus tauchten neue kulturelle Orientierungen auf, denen die Verflechtung des Künstlerischen und Politischen ausdrücklich zugrunde lag (wie beispielsweise im Guerilla Theatre17 oder in den Aktivitäten von Joseph Beuys). Doch kann man bei beiden Richtungen – bei tendenziell eher politischen oder eher künstlerischen Ereignissen – eine ähnliche Dynamik beobachten, die von der gleichzeitigen Orientierung auf 14

Werner Faulstich, Einleitung. – Die Kultur der sechziger Jahre. Hg. Werner Faulstich.

15

David Caute, The Year of the Barricades: A Journey through 1968. New York: Harper

16

Lucy Lippard, Escape Attempts. – Six Years: The Dematerialization of the Art Object

Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. München: Wilhelm Fink, 2003, S. 7. & Row, 1988, S. 34. from 1966 to 1972. Hg. Lucy R. Lippard. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 1973, S. xxii. 17

Vgl. dazu Richard Schechner, Guerilla Theatre: May 1970. – Tulane Drama Review 3 (14), 1970, S. 163; Richard Schechner, Invasions Friendly and Unfriendly: The Dramaturgy of Direct Theatre. – Critical Theory and Performance. Hg. Janelle G. Reinelt, Joseph R. Roach. Ann Arbor: The University of Michigan Press, 1992, S. 93.

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das Imaginäre/Utopische und auf das Konkrete/Alltägliche geprägt war, deren Konfrontation in einem unbestimmten, intensiven, performativen Akt eine gewisse Auflösung fand. Paolo Bianchi hat bezüglich der Revolte des Pariser Mai das Ineinsfallen des Existenziellen und des Politischen, des Willens zur Freiheit und der Ironie beschrieben und es als »das Lächeln der Achtundsechziger« bezeichnet, in dem der Riss zwischen dem »Realen« und »Idealen« erschien: Der Freiheitsdrang dieser Generation habe nichts Absolutes an sich gehabt, es sei damit nicht die philosophische Freiheit gemeint, sondern die Freiheit als – laut der Formulierung von Heinz Bude – »ein zugleich unwiederbringlicher und augenblicklicher Akt, der darin besteht, eine Möglichkeit unter anderen auszuwählen«.18 Eine ähnliche Haltung wurde bei verschiedenen künstlerischen Praktiken sichtbar – bei Happenings, bei der Fluxus-Bewegung, im Avantgarde-Theater –, in denen man sich auf den Akt, auf die Geste, auf die Bewegung, auf den Fluss oder auf den Prozess konzentrierte. Diese Praktiken gingen häufig entweder von der Suche nach ›Spontaneität‹ und ›Authentizität‹ aus oder waren vom Gefühl ihres Verlusts motiviert und geformt.19 Die Spuren dieser Einstellung, das Streben nach maximaler Präsenz und der Verzicht auf das Schaffen eines stabilen Kunstwerkes, sind jedoch viel früher zu verorten, sowohl in der historischen Avantgarde als auch in der Kunst der Nachkriegszeit, hier besonders in der Tätigkeit von John Cage, dessen direkter oder indirekter Einfluss auf verschiedene künstlerische Phänomene nicht zu unterschätzen ist.20 Diese Tendenz hat sich jedoch in den 1960er Jahren verschärft und eine neue Dimension gewonnen. Sie war nicht nur der Ausgangspunkt vieler Formen der Aktionskunst und des Avantgarde-Theaters, sondern bildete einen breiteren Anspruch heraus, den Susan Sontag als den Wunsch des Kunstwerkes (bzw. des Künstlers) sich gegen die Interpretation zu schützen beschrieb: Der Betrachter sollte von dem

18

Paolo Bianchi, Das LKW: Vom Gesamtkunstwerk zum Lebenskunstwerk oder ästhetisches Leben als Selbstversuch (I). – Kunstforum International: Lebenskunstwerke. Hg. Paolo Bianchi. Bd. 142, Oktober–Dezember 1998, S. 60. Zitat von Heinz Bude: Heinz Bude, Emanzipation oder Surrealismus? 1968 als Rätsel. – Neue Zürcher Zeitung, 30./31.05.1998 (Nr. 123), S. 67.

19

Thomas McEvilley, Anti-Art as Ethics: Themes and Strategies. – The Triumph of AntiArt: Conceptual and Performance Art in the Formation of Post-Modernism. New York: McPherson & Company, 2005, S. 230.

20

So hat Michael Kirby beispielsweise festgestellt, dass die Diskussionen über »das neue Theater« bzw. über die Happenings von Gedanken, der Lehre, dem Schreiben, den Vorträgen, den Werken von John Cage initiiert wurden und diese somit das »Rückgrat« des neuen Theaters bilden. S. Michael Kirby, The New Theatre. – Happenings and Other Acts. Hg. Mariellen R. Sandford. London & New York: Routledge, 1995, S. 30. Erstveröffentlichung in: Tulane Drama Review 2 (10), 1965.

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Inhalt und von der Botschaft des Werkes zu dessen Dasein und Wirkung geführt werden, um ihn zu lehren, mehr zu sehen, mehr zu hören, mehr zu fühlen.21 Es lassen sich sowohl in den gesellschaftlichen Strömungen als auch in den Künsten einige allgemeine Charakteristika finden, die sich in der sozialen und kulturellen Umgebung der 1960er Jahre verstärkt haben: erstens die Orientierung auf einen spontanen Akt und auf das Ereignis, zweitens der Wunsch, den unmittelbaren Kontakt mit dem ›Leben‹ zu schaffen bzw. mehr, echter und intensiver zu leben, drittens der Glaube an die Macht der Phantasie, viertens der Anspruch auf Totalität. Diese Tendenzen waren eng miteinander verbunden und in einigen kulturellen Phänomenen nicht voneinander abzulösen, gleichzeitig bildeten sich aber auch mehrere Kombinationen unter ihnen heraus, wobei nicht alle vier unbedingt gleichzeitig präsent waren. In den Künsten erschien das Streben nach der Verschmelzung mit dem Alltagsleben bereits während der 1940er und 1950er Jahre in den Ideen von der »anderen Kunst« oder »Anti-Kunst«22 und fand während der 1960er vielfache und vielfältige Fortsetzungen und Erweiterungen – unter anderem in engem Zusammenhang mit der Neubewertung der Rolle des Künstlers und der Abwendung von der (überwiegend lebensfernen) Kultur der Nachkriegszeit. In der Studentenbewegung und in den Subkulturen bedeutete ›mehr Leben‹ zumeist eine Konzentration auf die sogenannten nicht-normativen Erfahrungen als den möglichen Weg zu einem authentischen Dasein im Gegensatz zu den illusorischen Erfahrungen der Konsumkultur.23 Das Wort ›Phantasie‹ oder dessen Parallelbegriffe (›das Imaginäre‹, ›das Unmögliche‹ u.a.) tauchten sowohl in den Losungen des Pariser Mai24 als auch in den Stellungnahmen von Künstlern25 auf: im ersten Fall als ein Mittel zur Befreiung von der Bedrängnis der Gesellschaft, im zweiten Fall von der Bedrängnis der (institutionalisierten) Kultur. Der Anspruch auf Totalität äußerte sich sowohl im

21

Susan Sontag, Against Interpretation. New York: Dell Publishing, 1961, S. 23.

22

Beispielsweise im Rahmen des Informalismus (l’art informel) in Frankreich, vgl. Jean Dubuffet, L’Art brut préféré aux arts culturels. – Prospectus et tous écrits suivants. Tome 1, Paris, 1949, S. 198-202; Michel Tapié, Un art autre. Paris: Gabriel-Giraud et fils, 1952.

23

Gavin Butt, »America« and its Discontents: Art and Politics 1945–60. – A Companion to Contemporary Art since 1945. Hg. Amelia Jones. Malden, Oxford, Carlton: Blackwell, 2006, S. 31.

24

Z. B. »L’imagination prend le pouvoir!«, »Soyez réalistes, demandez l’impossible!«, »Prenez vos désirs pour la réalité!«.

25

»And the power of imagination was at the core of even the stodgiest attempts to escape from »cultural confinement«, as Robert Smithson put it, from the sacrosanct ivory walls and heroic, patriarchal mythologies with which the 1960s opened«. Lucy Lippard, Escape Attempts, S. vii.

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»integrierten Spektakel«26 der Studentenbewegung, im Protest gegen die Differenzierung der modernen Gesellschaft als auch in der Mischung und gegenseitigen Entgrenzung der künstlerischen Disziplinen und davon ausgegangenen unklassifizierbaren, ›rhizoiden‹ Aktivitäten.27 Andererseits lassen sich neben diesen vier Tendenzen während der 1960er Jahre auch gegenteilige Bewegungen beobachten. Den Versuch, ein echtes Leben zu leben, hat man beispielsweise bei der New Left als eine feige Rebellion in einer sicheren Umgebung kritisiert und damit als bloßes Ausprobieren, im Wissen, dass man sich auf die allgemeinen gesellschaftlichen Schutzmechanismen verlassen kann und dieser Versuch keine ernsten Folgen haben wird.28 In vielen Strömungen der Aktionskunst und des Avantgarde-Theaters bedeutete die Konzentration auf Materialität, auf Körperlichkeit und Präsenz genau das Gegenteil von Phantasie – eine Ablehnung des Imaginären zugunsten des Konkreten. 29 Zusammen mit dem Streben nach authentischen Handlungen etablierten sich zudem Praktiken der ›rhetorischen‹ Gesten und tendenziell ironischer Rollenspiele (beispielsweise in der Selbstdarstellung der Popkünstler), wobei man mit der sogenannten Gesellschaft des Spektakels keine Konfrontation suchte, sondern deren Regeln und Dynamiken anerkannte und ausnutzte. Neben den Versuchen, verschiedene Lebensbereiche zu verbinden bzw. soziale und kulturelle Praktiken und Erfahrungen zu totalisieren, lässt sich andererseits eine entgegengesetzte Richtung in Form einer »Ausdifferen-

26

»Thus, in my twenties, I participated in the integrated spectacle of the close reading of the avant-garde texts (Beckett), the performance of experimental theatre, student strikes, LSD trips, and the simultaneous (for me) founding of a counterculture and of a new school designed to integrate the arts«. Sue-Ellen Case, Theory/History/Revolution. – Critical Theory and Performance. Hg. Janelle G. Reinelt and Joseph R. Roach. Ann Arbor: The University of Michigan Press, 1992, S. 419.

27

Anne Rorimer, New Art in the 60s and 70s: Redefinig Reality. London: Thames and

28

L. H. Gann, Peter Duignan, The New Left and the Cultural Revolution of the 1960s:

Hudson, 2001, S. 11. A Reevaluation. Stanford University: The Hoover Institution on War, Revolution and Peace, 1995, S. 5. 29

Laut Michael Kirby sind die sinnlichen Qualitäten in den Happenings grundlegend und neigen selten zur Idealisierung oder zur reinen Abstraktion, die Materialien der Happenings sind konkret (»they are taken from and related to the experiential world of everyday life«), sie können auch Symbole sein, jedoch nur private, irrationale, polyvalente und nicht »intellektuelle« Symbole. Michael Kirby, Happenings: An Introduction. – Happenings and Other Acts, S. 2. Erstveröffentlichung: Michael Kirby, Happenings. New York: E. P. Dutton, 1965.

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zierung von Lebensstilen«30 sowie eine Pluralisierung der künstlerischen Praktiken als einen der grundlegenden Prozesse dieser Periode beobachten. Obwohl der Begriff bzw. das Phänomen ›Spiel‹ während der 1960er Jahre weder in der Theorie noch in der Kunstpraxis jemals explizit im Vordergrund stand, ist es doch (in Verbindung mit den Wandlungen sowohl in der Theorie als auch in den Künsten) nicht verwunderlich, dass genau in diesem kulturellen Umfeld die Kritik an den zwei bislang umfang- und einflussreichsten kulturhistorischen Spieltheorien, die von Johan Huizinga31 und Roger Caillois,32 geübt und einige Grundlagen der Spielbetrachtung neu formuliert wurden. Der Ausgangspunkt dieser Kritik war vor allem die klare Grenzziehung zwischen dem Spiel und der Ernsthaftigkeit, auf der die Theorien von Huizinga und Caillois basierten: Das Spiel wurde mit Träumen, Vorstellungen und anderen ›freien‹ Phänomenen assoziiert, der Ernst mit Bewusstsein, Nützlichkeit und Realitätssinn; die Ernsthaftigkeit wurde somit privilegiert als die Basis des Spiels verstanden.33 Eine der ersten Äußerungen dieser Kritik findet sich in der Sonderausgabe »Game, Play, Literature« der Zeitschrift Yale French Studies aus dem Jahr 1968.34 Die meisten (zwar von verschiedenen Positionen geschriebenen) Essays revidierten auf die eine oder andere Weise die Spielkonzepte von Huizinga und Caillois aus der Perspektive der Literaturwissenschaft oder der allgemeinen Kulturtheorie. 35 Am deutlichsten fiel die Kritik im Beitrag »Homo Ludens Revisited« von dem Herausgeber der Sonderausgabe, Jacques Ehrmann, aus. Er forderte den Verzicht auf eine eindeutige Trennung zwischen dem Spiel und einer scheinbar stabilen, fixierten Realität: Laut Ehrmann befruchten sich das Spiel und die Realität gegenseitig und erzeugen so die Muster der ständig sich verändernden Praktiken; daher habe sich eine Untersuchung des Spiels vor allem darauf zu konzentrieren, wie sich diese Muster in verschiedenen Kontexten manifestieren.36

30

Werner Faulstich, Einleitung. – Die Kultur der sechziger Jahre, S. 7.

31

Johan Huizinga, Homo ludens: Proeve eener bepaling van het spel-element der cultuur.

32

Roger Caillois, Les Jeux et les hommes: Le masque et le vertige. Paris: Editions

33

Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction. New York, London: Routledge,

34

Game, Play, Literature. Hg. Jacques Ehrmann. Yale French Studies 41. New Haven,

35

Peter Hutchinson, Games Authors Play. London, New York: Methuen, 1983, S. 8-9.

36

Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction, S. 23. Hinweis auf: Jacques

Haarlem: H. D. Tjeenk Willink, 1938. Gallimard, 1958. 2004, S. 23. Conn.: Yale University Press, 1968.

Ehrmann, Homo Ludens Revisited. – Game, Play, Literature, S. 31-57.

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Während die frühere Geschichte der Spieltheorien als ein Prozess der Feststellung von immer neuen Oppositionen 37 oder den Grenzen des Spiels beschrieben werden kann, lässt sich ab den 1960er Jahren ein Richtungswechsel in den Spielbetrachtungen konstatieren. Fokussiert wird von da an nicht mehr die Abgrenzung des Spiels, sondern dessen unmittelbare Einbindung in das Alltagsleben und damit die gegenseitige Abhängigkeit von Spiel und ›Nicht-Spiel‹. Diese theoretische Neuorientierung hat sowohl die Historisierung des Spielphänomens als auch die Destabilisierung des Spielbegriffs mit sich gebracht. Natürlich ist zu beachten, dass auch die früheren Spieltheorien kein einheitliches Begriffszentrum herausgebildeten, sondern immer der Veränderbarkeit der Perspektiven verpflichtet waren.38 Verschiedene spezifische Richtungen in der Spielforschung (deren Augenmerk entweder auf die Struktur, auf die Funktion, auf den Als-Ob-Charakter des Spiels oder auf die Sprachspiele gerichtet war) haben je nach Perspektive der Beziehung zwischen dem Spiel und der Alltagsrealität äußerst unterschiedliche Grundlagen und Bedeutungen zugesprochen. Im Hinblick auf die Spiele, die während der 1960er in den Künsten oder an der Grenze der Künste entstanden, und auf die Bedingungen, die in diesem Fall die ›Realität‹ bzw. die Spielräume (zwischen der Kunst, deren institutionellen Rahmen, der verbreiteten Politik und dem Alltagsleben) geformt haben, sind einige Zusammenhänge zwischen der Umwelt und den Spielpraktiken doch von besonderer Bedeutung; sie sind vielleicht auch als strukturelle Grundlagen der Manifestationen des Spiels in diesem Kontext aufzufassen. Im Jahr 1968 haben Lucy R. Lippard und John Chandler in der gegenwärtigen Kunst eine Tendenz zur ›Dematerialisierung‹ diagnostiziert, die – falls diese auch weiterhin dominieren würde – zu dem Ergebnis führen kann, dass das Objekt »völlig veraltet« sein wird: »The visual arts at the moment seem to hover at a crossroad that may well turn out to be two roads to one place, though they appear to have come from two sources: art as idea and art as action. In the first case, matter is denied, as sensation has been converted into concept; in the second case, matter has been transformed into energy and time-motion«. 39 Fast vierzig Jahre später hat Thomas McEvilley das Entstehen der zwei neuen Phänomene in der Kunst der 37

Diese Gegenüberstellung stammt aus der idealistischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts (Rousseau, Schiller); die Gegenbegriffe des Spiels sind z.B. Arbeit, Ernst, Alltagswirklichkeit, Zweckbestimmte, Nützlichkeit, instinktkodiertes (tierisches) Verhalten, Notwendigkeit und Unfreiheit, Zwang, Profane, Gewöhnliche u.a. S. Gunter Gebauer, Christoph Wulf, Spiel – Ritual – Geste: Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek bei Hamburg: Rohwohlt, 1998, S. 190.

38

Gunter Gebauer, Christoph Wulf, Spiel – Ritual – Geste, S. 190.

39

Lucy R. Lippard, John Chandler, The Dematerialization of Art. – Art International, February 1968. Zitiert nach: Six Years: The Dematerilization of the Art Object from 1966 to 1972, S. 42.

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1960er, des Konzeptualismus und der Performance-Kunst, als von einem Impuls – von der Gegenüberstellung mit dem ›Ästhetischen‹ und von dem Bedürfnis nach ›Anti-Kunst‹ – ausgegangenen, aber verschiedene Medien benutzende und in die verschiedenen Richtungen weisende Prozesse betrachtet: Der Konzeptualismus würde sich mit selbstreflexiven Fragen, die Performance-Kunst mit der Tiefe des Unbewussten beschäftigen.40 Während jener sich eher intellektuell, westlich geprägt und zukunftsorientiert zeige, sei dieser eher körperlich, an den Ritualen der Vergangenheit orientiert und strebe (ähnlich wie die Hippiebewegung) nach einem kulturellen Zustand, in dem die Erfahrung des Modernismus entweder ignoriert oder ›vergessen‹ wird.41 Obwohl solche Trennungen im Hinblick auf die vielfältigen und ›rhizoiden‹ künstlerischen Aktivitäten der 1960er Jahre zu scharf scheinen und besonders McEvilley’s Definition der Performance-Kunst nur einen relativ begrenzten Teil der Performances berücksichtigt, lassen sich vor diesem Hintergrund zwei Schwerpunkte in den spielbezogenen Praktiken der Künste unterscheiden. Zum einen richtete sich das Interesse der Künstler auf die Struktur und Durchführung des Spiels, auf die Schaffung der konzeptuellen Regeln oder auf die Offenheit gegenüber Zufällen, zum anderen konzentrierte man sich auf den besonderen Zustand, der während des Spiels erreicht werden sollte, um durch das Entsagen der gesellschaftlichen Verhaltensnormen, durch den Rausch und durch die Präsenz ein authentisches Dasein anzustreben. In Bezug auf die analytische und erfahrungsbezogene Funktion des Spiels muss man auch einige weitere bzw. parallele (sowohl mit der oben geschilderten Spaltung als auch miteinander vielfältig verbundene) Erscheinungen in den Künsten der 1960er Jahre in Betracht ziehen: die neuartigen Zuwendungen zur Sprache (Konzeptualismus, konkrete Poesie, Sprachspiele von Fluxus u.a.) und die performative Wende bzw. ›Performativierung‹ der Künste 42 (Entstehung der Installations- und Performance-Kunst, aber auch die breiteren Verschiebungen der Präsentationsformen in den Künsten). Teils sind die beiden Phänomene gegensätzlich aufzufassen, was auf die Dialektik von ›Idee und Aktion‹ oder von ›Intellektualität und Körperlichkeit‹ zurückzuführen ist, andererseits können sie aber nicht voneinander ge40

Thomas McEvilley, Anti-Art as Ethics. Themes and Strategies, S. 217-218.

41

Ebd.

42

»In den frühen sechziger Jahren setzte in den Künsten der westlichen Kultur generell und unübersehbar eine performative Wende ein, die nicht nur in den einzelnen Künsten einen Performativierungsschub erbrachte, sondern auch zur Herausbildung einer neuen Kunstgattung geführt hat, der sogenannten Aktions- und Performancekunst. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten wurden immer fließender – sie tendierten zunehmend dazu, Ereignisse statt Werke zu schaffen, und realisierten sich auffallend häufig in Aufführungen«. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004, S. 22.

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trennt wahrgenommen werden, insofern die Performativierung auch in den sprachbezogenen Werken und Aktionen ihren Ausdruck fand. Ein wichtiger Grund sowohl für die Performativierung der Künste als auch für das neue Interesse an der Verbalität war das Misstrauen gegenüber der Sprache in der Kultur der Nachkriegszeit und das Bedürfnis, dieses Misstrauen entweder neuartig zu definieren und behandeln oder es gar aufzulösen bzw. zu überwinden: Im ersten Fall wurde dies durch die Abwendung von der Sprache zu anderen (körperlichen, räumlichen u.a.) Kommunikationsweisen, im zweiten Fall durch spracheigene Mittel versucht. In beiden Fällen hatte das Spiel bzw. das spielerische Handeln in der Auseinandersetzung mit der Sprache eine bedeutende Rolle. Einerseits hob die Wende zum unbestimmten, fließenden Ereignis im weitesten Sinne auch den spielerischen Charakter der künstlerischen Aktivität hervor (wenn man annimmt, dass das Spiel eine vor allem in gewissen zeitlichen und räumlichen Grenzen stattfindende Handlung ist, die unter anderem Spannung und Unsicherheit beinhaltet43), stellte die Präsenz und die körperlichen Bewegungen der Sprache bzw. dem Text gegenüber, deckte die Kraftlosigkeit und den entfremdeten Charakter der Sprache auf oder betrachtete die Wörter als stützenden, aber doch schwachen und uneffektiven Teil der künstlerischen Tätigkeit. 44 Andererseits kann man die Aktualisierung des Spiels in den Künsten der 1960er und 1970er Jahre vor dem Hintergrund der Rezeption von Marcel Duchamp (und Wiederentdeckung seiner Sprachspiele) und mit Augenmerk auf den Einfluss von Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie (bzw. Theorie der Sprachspiele) erläutern 45 und dadurch die zahlreichen neuen (u.a. performativen) Umgänge mit der Sprache nachvollziehen: die spielerische Auflösung der fixierten Zeichensysteme (Fluxus),46 das Spiel mit dem Verhältnis der sprachlichen und ästhetischen Erkenntnis (Bruce Nauman, Joseph Kosuth)47 u.a. Rainer Fuchs hat das Zusammenkommen der Kunst und des Spiels während der 1960er und 1970er Jahre als eine Dreieckbeziehung mit der Sprache (als die »un43

Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Ham-

44

Michael Kirby hat beispielsweise den »nicht-verbalen Charakter« der Happenings her-

burg: Rohwolt, 2006, S. 18-19. vorgehoben: Wenn die Wörter benutzt werden, dann nicht auf traditionelle Weise und selten in ihrer primären Bedeutung. Michael Kirby, Happenings: An Introduction. – Happenings and Other Acts, S. 4. 45

Rainer Fuchs, Kunst – Sprache – Spiele: Dreieckbeziehungen in der Kunst der 60er und 70er Jahre. – Kunstforum International: Kunst und Spiel II. Hg. Dieter Buchhart, Mathias Fuchs. Bd. 178, November 2005–Januar 2006, S. 40, 42.

46

Ina Conzen-Meairs, Fluxussprache – Prozess ohne Sinn und Ende? – Die Sprache der Kunst: Die Beziehung von Bild und Text in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Hg. Eleonora Louis, Toni Stooss. Kunsthalle Wien: Edition Cantz, 1993, S. 210.

47

Toni Stooss, Am Anfang … – Die Sprache der Kunst, S. 40.

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vermeidliche Dritte«) betrachtet: Diese Beziehung machte sich sowohl im Konzeptualismus als auch in den performativen und interdisziplinären Kunstrichtungen – die alle die neuen Schaffens- und Wahrnehmungsweisen hervorgebracht und die kommunikativen Komponenten der Kunst verstärkt haben – sichtbar. 48 Darüber hinaus hatten die zwei oben genannten Strategien – die Abwendung von der Sprache und die ›Neugestaltung‹ der Sprache – auch einige andere Anknüpfungspunkte, von denen in Bezug auf das Spielphänomen und dessen Verhältnis zu den Künsten einer besonders interessant ist: der Wille, zu den ›Quellen‹ (zu den ursprünglichen Impulsen der künstlerischen bzw. kreativen Tätigkeit) zurückzukehren, der sowohl in vielen rituellen Performances als auch in einigen sprachbezogenen konzeptuellen Praktiken (die die erste, von der Tradition noch nicht angesteckte Erfahrung der Symbolisierung wieder zu erlangen versuchten49) zu verfolgen ist. Wenn man das Spiel als den »Ursprung der Kultur«50 oder als die »praktische Interpretation der Welt« 51 betrachtet (wobei neben der Erfahrungsgewissheit auch Ordnungen und Strukturierungen der Erfahrungen entstehen), kann man angesichts der vielfältigen Ziele dieser künstlerischen Aktivitäten unter anderem einen intensiven ›Spieltrieb‹ beobachten – den Wunsch bzw. das Bedürfnis, sowohl den Weg zu den authentischen Erfahrungen zu finden als auch diese Erfahrungen neu zu deuten und zu organisieren. Der Grund dieses Spieltriebes ist unter anderem in Verschiebungen der Wahrnehmung des menschlichen Zustandes in der gegenwärtigen westlichen Kultur zu suchen. Während in der Nachkriegszeit der dominierende, auf der Psychoanalyse und dem Existenzialismus basierende Diskurs des modernen Menschen die Entfremdung und die Unsicherheit als unvermeidlichen Begleiter der Freiheit in der westlichen Gesellschaft betrachtete und über die wesentliche Irrationalität des Menschen sprach (wobei die Kunst als ein sicherer Erscheinungsort dieser Irrationalität betrachtet wurde),52 bildeten sich in den 1960er Jahren einige andere Perspektiven heraus – sowohl die Theorien der ›Anti-Psychiatrie‹ (David Cooper, R. D. Laing u.a.) als auch die verschiedenen Richtungen der kritischen Theorie und des Poststrukturalismus (Michel Foucault, Jacques Derrida, feministische Theorie u.a.). Sie alle haben das Verhältnis zwischen den biologischen und sozialen Bedingungen des 48

Rainer Fuchs, Kunst – Sprache – Spiele, S. 39.

49

Tony Godfrey, Conceptual Art. London: Phaidon, 1998, S. 153-154.

50

Laut Huizinga entsteht die Kultur in Form von Spiel, Kultur wird anfänglich gespielt.

51

Gunter Gebauer, Christoph Wulf, Spiel – Ritual – Geste, S. 207. Der Begriff »prakti-

Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 57. sche Interpretationen« stammt aus: Hans Lenk, Interpretationskonstrukte: Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 56. 52

David Hopkins, After Modern Art 1945–2000. Oxford: Oxford University Press, 2000, S. 11.

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menschlichen Daseins grundsätzlich neu definiert und festgestellt, dass der menschliche Zustand nicht überwiegend von universalen und unvermeidlichen, sondern von konkreten und gesellschaftlichen Faktoren bestimmt ist. Vor diesem Hintergrund kann man die Aktualisierung des Spiels bzw. der spielerischen Elemente sowohl in der sozialen als auch in der künstlerischen Praxis als ein gewisses Krisenphänomen – im Sinne von Krise als Bruchstelle, als Krise eines Paradigmas – mit den Worten von Ernst Strouhal erläutern: »Der Spielbegriff taucht in der Geschichte regelmäßig auf, wenn die Zweifel an einem metaphysischen Ideal den Glauben überwiegen. […] Leben als Spiel meint ein Leben in Immanenz, auf die ästhetische Theorie angewandt ist der Spielbegriff ein Krisenphänomen wie eine Demaskierungs- und Entpathetisierungsstrategie«.53 Mann kann vermuten, dass mit der intensivierten Wahrnehmung der sozialen Bedingtheit (des Lebens sowie der Kunst) auch der intensivierte Wille zum Spiel verbunden war. Dieser Wille ging anscheinend von der Erkenntnis aus, dass einerseits jeder Akt, jede Handlung des Menschen von seiner sozialen Umfeld (von impliziten und expliziten Spielregeln) vorgeschrieben ist, ihm andererseits jedoch eine bestimmte Anzahl an Möglichkeiten zur Verfügung steht; zwar ist keine Entscheidung für eine dieser Möglichkeiten ›natürlicher‹ als eine andere, doch konstituiert sie die gegenwärtige Realität bzw. den Spielraum. Die Wertschätzung konkreter, direkter und spontaner Akte und Handlungen scheint in diesem Kontext eine paradoxale Antwort auf diese Erkenntnis der Bedingtheit zu sein – eine Reaktion, die man sowohl als einen verzweifelten Protest gegen die Fiktionalität des Spielraumes (als einen Versuch, die Fiktionalität zu ignorieren) als auch als ein bedingungsloses Bekennen zu diesem fiktiven Raum (wohin man vollkommen einlebt) erläutern kann. In dem im Jahr 1954 erschienenen Beitrag »A Theory of Play and Fantasy« schilderte Gregory Bateson eine im Spiel entstehende Verbindung zwischen den Primär- und Sekundärprozessen des Denkens: Im Primärprozess werden ›Karte‹ und ›Territorium‹ gleichgesetzt, im Sekundärprozess können sie unterschieden werden, im Spiel werden sie sowohl gleichgesetzt als auch unterschieden.54 Auf dieses im Spiel zum Vorschein kommende Paradox hat bereits Huizinga hingewiesen (»kann man das Spiel […] eine freie Handlung nennen, die als ›nicht so gemeint‹ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann«55) und es wurde in zahlreichen 53

Ernst Strouhal, Wenn es brennt, läuft der Hund raus, das Programm rechnet weiter: Ein Gespräch von Dieter Buchhart und Mathias Fuchs. – Kunstforum International: Kunst und Spiel I. Hg. Dieter Buchhart, Mathias Fuchs. Bd. 176, Juni–August 2005, S. 86-87.

54

Gregory Bateson, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie. (1954) – Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981, S. 121.

55

Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 22.

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anderen Spieltheorien und -definitionen zum Ausdruck gebracht.56 Darüber hinaus findet man eine ähnliche Beobachtung in den Betrachtungen der PerformanceKunst: Das Ablehnen und das Annehmen der ontologischen Spaltung zwischen der Aktualität des Alltagsleben und der Aktualität der Performance, das Streben nach Annäherung an das Alltagsleben und die Entfernung davon können manchmal gleichzeitig erscheinen, ohne ein Gefühl des Widerspruchs zu erzeugen. 57 Diese Gleichzeitigkeit des Unterscheidungsvermögens und des Einlebens charakterisierte und formte viele sowohl gesellschaftliche als auch kulturelle Phänomene der 1960er Jahre und kann als eine (von Bateson anerkannte) komplexe Form des Spiels beschrieben werden: als Spiel, welches nicht auf die Prämisse »Dies ist ein Spiel« gegründet ist, sondern die sich eher um die Frage »Ist das Spiel?« dreht.58 Das Erproben und der Verzicht der vorgegebenen Normen und Grenzen erzeugten einerseits eine ständige Unwissenheit und Unbestimmtheit, haben aber jedoch die Ernsthaftigkeit der jeweiligen konkreten Akte und Ansprüche nicht entkräftet, sondern verstärkt – unter anderem ausgehend vom widersprüchlichen Gefühl, dass es möglich ist, »die ontologische Authentizität« im Fluss, im Zustand der Suche und des Strebens zu schaffen.59 In diesem Zusammenhang ist eine weitere – vielleicht sogar die bedeutendste – Funktion des Spiels in der Kultur der 1960er Jahre hervorzuheben, die auf dessen sog. liminalem/liminoidem60 bzw. antistrukturellem Potential basiert. Die Destabilisierung des normativen Systems, die Situation, in der die alten Regeln nicht mehr und die neuen noch nicht gelten, kann sowohl subversiv als auch produktiv wirken, als ein vorübergehender Zwischenzustand, nach dem man zu den alten Regeln zurückkehrt oder als ein »protokulturelles System«, wodurch man neue Regeln

56

Gleichermaßen wörtlich wie Bateson hat es z.B. auch Juri Lotman formuliert: »Das Wesen des spielerischen Verhaltens besteht in der Gleichzeitigkeit des Wissens und der Unwissenheit, im Merken der Fiktionalität der Situation und auch deren Vergessen«. – Юрий Лотман, Семиотика сцены. Театр 1, 1980. Zitiert nach: Juri Lotman, Lavasemiootika. – Kultuurisemiootika, Tallinn: Olion, 1990, S. 185.

57

Herbert Blau, Universals of Performance; or Amortizing Play. – By Means of Performance: Intercultural Studies of Theatre and Ritual. Hrg. Richard Schechner, Willa Appel. Cambridge: Cambridge University Press, 1990, S. 251.

58

Gregory Bateson, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, S. 118.

59

Thomas McEvilley, Anti-Art as Ethics: Themes and Strategies, S. 230.

60

Das Konzept der »liminalen« Phase des Rituals stammt von Arnold van Gennep (»Rites de passage«, 1908), der Begriff »liminoid« und die Gegenüberstellung des »Liminalen« und »Liminoiden« von Victor Turner (Essay »Liminal to Liminoid, in Play, Flow and Ritual« in »The Ritual Process«, 1969). S. auch Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction, S. 15-20.

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schafft.61 Darüber hinaus kann diese Liminalität bzw. Destabilisierung aber auch als ein unvollendeter, immer wieder in Gang kommender Prozess verstanden werden – als ein Phänomen, das nicht zu etwas Anderem führt, sondern sich ständig selbst neu generiert, das keine Kraft (oder auch keinen Willen) hat, das normative System umzukehren, aber als eine störende Parallelbewegung präsent bleibt und sporadisch in das Normative interveniert. Auf diese Weise hat Victor Turner das Spiel als »kategorisch unkategorisierbare«62 Erscheinung gefasst, die überall und nirgendwo sein mag und, alles imitieren kann, ohne sich mit irgendwas zu identifizieren: »Play is neither ritual action nor meditation, nor it is merely vegetative, nor it is just ›having fun‹; it also has a good deal of ergotropic and agnostic aggressivity in its oddjobbing, bricolage style. As Roger Abrahams has remarked, it makes fun of people, things, ideas, ideologies, institutions, and structures; it is partly a mocker as well as a mimic and a tease, arousing hope, desire, or curiosity without always giving satisfaction. […] It has the powers of the weak, an infantine audacity in the face of the strong«.63 Diese Feststellung, nach der das Spiel keine Alternative für die vorhandene Struktur bietet und auch nicht als eine destabilisierende Zwischenphase (nach und vor der Bestätigung der Struktur) gilt, sondern ohne eigene Grenzen innerhalb des Systems (und vom System) lebt und mit der »Kraft des Schwachen« seine Wirkung ausführt, ähnelt der von Michel de Certeau definierten, sich in den alltäglichen Handlungen herausbildenden Taktik (als Gegensatz zur Strategie), die »nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt«, die nur »den Ort des Anderen« hat und andauernd mit den Ereignissen spielen muss, um »günstige Gelegenheiten« daraus zu machen.64 Im Kontext der 1960er Jahre lässt sich an Turner’s »play« und Certeau’s »Taktik« noch eine Begrifflichkeit koppeln, und zwar die von Tom Moylan beschriebene »kritische Utopie«, die man als aus den aktuellen Widersprüchen im politischen Unbewussten entstehende metaphorische Verschiebung verstehen kann, die nicht auf ein vorhersehbares alternatives Paradigma hinweist, sondern sich (als selbstkritischer utopischer Diskurs) als ein Prozess identifiziert, der das dominierende ideologische Netzwerk auseinanderreißen kann: »Here, then, critical utopian discourse becomes a seditious expression of social change and popular sovereignity carried 61

Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction, S. 19. Hinweis auf: Brian Sutton-Smith, Games of Order and Disorder. – Vortrag im Symposium »Forms of Symbolic Inversion«, American Anthropological Association, 1972.

62

Richard Schechner, Victor Turner’s Last Adventure. (Vorwort.) – Victor Turner,

63

Victor Turner, Body, Brain, and Culture. – The Anthropology of Performance, S. 168-

64

Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns. Berlin: Merve, 1988, S. 23.

The Anthropology of Performance. New York: PAJ Publications, 1987, S. 17. 169.

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on in a permanently open process of envisioning what is not yet«.65 Bei allen drei kommt ein ähnliches Wirkungsmuster zum Vorschein, das die am Anfang des Kapitels beschriebene Dynamik des Imaginären/Utopischen und des Konkreten/Alltäglichen – deren Konfrontation in einem performativen Akt eine Auflösung sucht – zu erhellen vermag. Sowohl die Kraft als auch die Schwäche des Imaginären bestand in dessen Unvollendetheit, Flexibilität und Grenzenlosigkeit; die Bewegungen, die sowohl in der Gesellschaft als auch in den Künsten vom Impuls des Imaginären ausgingen, basierten unter anderem auf der Verzögerung ihrer Bestimmung, auf den ständigen Abschweifungen und auf der Vermeidung von Abgeschlossenheit. Herausgebildet im Prozess der Gegenüberstellung mit fixierten Strukturen und Definitionen, charakterisiert vor allem dadurch, was man nicht ist und was man nicht will, und motiviert von der ständigen Suche nach dem NichtExistierenden, hatten diese Bewegungen die einzige Möglichkeit, sich zu ›realisieren‹, in einem konkreten – je undefinierteren, desto intensiveren – Akt, der ohne eigenes Territorium und ohne ein eigenes Deutungsfeld immer am ›Ort des Anderen‹ stattfindet. Entsprechend hatten die spezifischen Entstehungsbedingungen dieses Aktes einen ambivalenten Charakter: Es ging einerseits um eine eigentliche, unmittelbare Handlung, andererseits – gleichermaßen oder gar mehr – um die Darstellung der Intervention in bestimmte soziale oder kulturelle Strukturen, um eine Performance, die mit der ›Kraft des Schwachen‹ ihre Wirkung nur indirekt und ohne Gewähr ausführen kann. Carol Simpson Stern und Bruce Henderson haben bei der am Ende der 1950er Jahre entstandenen Performance-Kunst unter anderem das Interesse für Spieltheorien bzw. für das Spielphänomen hervorgehoben, das vor allem in der Parodie, im Witz, im Brechen der Regeln und in der »wunderlichen und schrillen Zerreißung der Oberflächen« seinen Ausdruck fand.66 Dieses Interesse manifestierte sich sowohl in einzelnen Werken oder Aktionen, die ihre eigenen Rahmen und Wahrnehmungsbedingungen relativierten, als auch in den weiter gefassten Strömungen, in denen die verschiedenen kulturellen Normen, unter anderem die Rolle des Künstlers und die Ziele und Wirkungsmechanismen der Kunst spielerisch hinterfragt wurden. Einerseits waren die beiden oben genannten Strategien – das Erzeugen der vom Außen (von den Grenzen) und vom Innen (von dem Zustand) bestimmten Spiele – hinsichtlich des gegenwärtigen (modernistischen) Kunstparadigmas subversiv: Mit dem Bekennen der Spielregeln wurde ausdrücklich die Freiheit und die ›Genialität‹ des Künstlers abgelehnt (sogar wenn das Verhältnis mit den Regeln

65

Tom Moylan, Demand the Impossible: Science Fiction and the Utopian Imagination.

66

Carol Simpson Stern, Bruce Henderson, Performance: Texts and Contexts. New York:

London: Methuen, 1986, S. 213. Longman, 1993, S. 383.

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flexibel war und sie jederzeit geändert werden könnten);67 im Rausch, wo sich alle Grenzen und Bestimmungen auflösten, hat man sich während der Suche nach Quellen oft vom Kunstbegriff entfernt. Andererseits hatten die beiden Strategien auch eine produktive Funktion: Die spielerischen Aktivitäten konnten – oder wollten – sich zumeist dem Rahmen der Kunstwelt nicht vollständig widersetzen und strebten unter anderem danach, sie mit neuer Energie zu füllen. Darüber hinaus verhielten sich Regeln und Rausch nicht nur dialektisch zueinander, sondern waren eng miteinander verbunden: Die nicht-absolute, aktbezogene Freiheit konnte (oder sollte) eben innerhalb der Regeln gefunden werden. Marshall McLuhan hat sich im Jahr 1964 wie folgt über Spiele (games) in der gegenwärtigen westlichen Kultur geäußert: »For individualist Western man, much of his ›adjustment‹ to society has the character of a personal surrender to the collective demands. Our games help both to teach us this kind of adjustment and also to provide a release from it«.68 Im Kontext der Künste kann man ein ähnliches Paradox beobachten: Mit der Unterwerfung unter Regeln (beispielsweise in den Fluxus-Spielen) und durch das Ersetzen der individuellen künstlerischen Tätigkeit mit kollektiv geschaffenen Ereignissen hat man einerseits die Freiheit des einzelnen Künstlers preisgegeben, andererseits hat man sich aber auch von dieser ›Freiheit‹ – von der bestimmten Position des Künstlers mit den bestimmten Erwartungen und Erfordernissen – befreit. Die Aktualisierung des Spiels in der Kultur der 1960er Jahre hat teils im Rahmen und anlässlich der Performativierung der Künste stattgefunden, teils war es einer der Impulse für diese Performativierung und hat im Allgemeinen – ähnlich wie es Kristin Stiles für die Performance-Kunst festgestellt hat – den schon schwer zu umfassenden Inhalt der spätmodernistischen sozialen und politischen Erfahrungen wiedergegeben und zu gleicher Zeit die neue, noch unbestimmte postmodernistische kulturelle Situation angekündigt.69 In den verschiedenen Betrachtungen des Spielphänomens hat man auf die eine oder andere Weise die zwei gegensätzlichen 67

Das Verhältnis zu Regeln ähnelte unter den Künstlern der 1960er Jahre oft dem Spielverfahren Duchamps und war davon beeinflusst: »Wie viele Avantgardisten nutzte er die Mechanik des Spiels, als eine Waffe gegen einen überkommenen Genie- und Kunstbegriff, als Instrument gegen die »Gefühlsgeschwätzigkeit« (Nietzsche) und vielleicht als ein Refugium der Privatheit, aber gespielt wurde natürlich nach seinen eigenen, sehr elastischen, ironisch-pataphysischen Regeln«. Ernst Strouhal, Wenn es brennt, läuft der Hund raus, das Programm rechnet weiter: Ein Gespräch von Dieter Buchhart und Mathias Fuchs, S. 88.

68

Marshall McLuhan, Games. – Understanding Media: The Extensions of Man (1964).

69

Kristin Stiles, Performance Art. – Theories and Documents of Contemporary Art: A

Cambridge und London: MIT Press, 1994, S. 238. Sourcebook of Artists’ Writings. Hg. Kristine Stiles, Peter Selz. Berkeley: University of California Press, 1996, S. 694.

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Spielebenen bzw. Spielweisen unterschieden, dessen Wirkungskraft man aber nicht einmütig einschätzen kann: Laut Clifford Geertz kann nur der Zustand des tiefen Spiels (deep play) die eigentlichen Inhalte der fundamentalen kulturellen Ideen und Codes vorbringen,70 Bruce Kapferer zufolge kann ein unreflektiertes tiefes Spiel paradoxerweise eine mehr distanzierte Erfahrung schaffen als das oberflächliche Spiel (shallow play), wo die kulturelle Selbstreflexion klarer zum Vorschein kommt.71 Vor dem Hintergrund des Überganges vom Modernismus zum Postmodernismus lässt sich sagen, dass das ernste und tiefe Spiel (als der erhoffte direkte Weg zur ›Wirklichkeit‹) eher von modernistischen Positionen, und das oberflächliche, selbstbewusste und flexible Spiel von postmodernistischen Positionen ausgegangen ist, obwohl sie zeitlich parallel und teils auch miteinander verknüpft sein konnten. Der wichtigste Unterschied zwischen diesen zwei Konzepten besteht in der Frage nach dem Grund und Ziel des Spiels: Der modernistische Glaube, dass durch das Spiel etwas erreicht werden muss (eine Umstellung in den sozialen oder kulturellen Strukturen, ein Zustand eines authentischeren Daseins, o.a.), dass das Spiel irgendwo hinführt und nach der liminalen/antistrukturellen Phase eine Reintegration stattfinden wird, kontrastiert mit dem postmodernistischen Zweifel und der Erkenntnis der Unvermeidlichkeit der sozialen und kulturellen Grenzen, die das Spiel nicht auflösen kann, aber immer zu untergraben und zu hinterfragen vermag.

1.2 D ER B EGRIFF ›S PIEL ‹ IN

DEN

K ÜNSTEN

Im Begleittext für die Ausstellung »Games without Rules« in der Fischbach Gallery, New York im Jahr 1966 heißt es: »Die breite Anwendung von Spieltheorien auf eine Vielfalt menschlicher Bemühungen findet in einer Zeit statt, in der das Interesse an einer Auffassung von Kunst als Spiel nicht modern ist. Für die Schirmherren des Action Painting ist das Konzept Kunst als Spiel inakzeptabel, da sie den Malakt als eine hingebungsvolle Handlung sehen. Liebhaber der Netzhaut-Kunst sind aufgrund ihrer grundsätzlichen Bindung an die Wissenschaft desinteressiert an dieser Idee. Der Wirklichkeit verpflichtet, lehnen die Pop-art-Künstler die Beschäftigung mit theoretischen Problemen ab. Anhänger der Farbfeldmalerei sind allgemein ge-

70

Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction, S. 20. Hinweis auf: Clifford Geertz, Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight. Daedalus 1 (101), Winter 1972, S. 1-37.

71

Ebd. Hinweis auf: Bruce Kapferer, The Ritual Process and the Problem of Reflexivity in Sinhalese Demon Excorcism. – Rite, Drama, Festival, Spectacle. Hg. John MacAloon, Ithaka: Cornell University Press, 1984, S. 179-207.

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gen die Betonung von Widerspruch, da dies von der Kontemplation ablenkt«. 72 Obwohl diese Feststellung nicht aktuelle Happenings, die Performance-Kunst oder die Fluxus-Bewegung berücksichtigt, in der der Spielbegriff doch sporadisch vorkam, scheint sie eine grundsätzlich adäquate Beschreibung zu bieten: Wie sich die Spielpraktiken eher an einem ›Ort des Anderen‹, im Zusammenhang mit den anderen dominierenden Bewegungen und Phänomenen und zwischen ihnen realisierten, diente auch der Spielbegriff oft nur als ein Parallelbegriff für kraftvollere Schlagwörter (Happening, Event, Performance, Ritual), dem selten die Aufgabe zugesprochen wurde, die verschiedenen künstlerischen Erscheinungen und Verwandlungen im Ganzen zu definieren. In diesem Sinne benannte der Slogan ›Kunst als Spiel‹ tatsächlich kein modernes Konzept und fand keine breite Verwendung. Im Prozess der zahlreichen Neudefinitionen in der Kultur der 1960er Jahre reduzierte sich das Spielphänomen eher auf ein Mittel des Denkens und Handelns, das nicht zu festen Bestimmungen führte, sondern immer wieder neue Widersprüche generierte. Gleichzeitig war der Begriff jedoch so verführerisch, dass er nicht ignoriert werden konnte. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass sowohl im Action Painting als auch in der Pop Art und Op Art einige bedeutende Momente des Spiels aufkamen: Im Action Painting wurde der spontane Akt des Malens, das Ereignis, zu einem gleichermaßen wichtigen Teil des Werkes wie das fertige Gemälde, in der Pop und Op Art spielte man mit entweder zufälligen oder nach strikten Regeln konstruierten visuellen Elementen, die unter anderem die Wahrnehmungsreaktionen des Betrachters auf den Prüfstand stellten. So waren die Erscheinungen des Spielerischen und die Verwendungen des Spielbegriffs nur teilweise miteinander verknüpft und können nicht wechselseitig auseinander erläutert werden. Die interessantesten Spielpraktiken haben sich nicht unbedingt durch eine Reflexion auf den Spielbegriff ausgezeichnet, umgekehrt haben die interessantesten Spieldefinitionen nicht zwangsläufig zu ihrer Realisierung geführt. Doch sind diese Verschiebungen, die indirekten, verzögerten und zurückgewiesenen Zusammenhänge zwischen dem Phänomen und dem Begriff ›Spiel‹ ebenso bemerkenswert wie deren tatsächliche Berührungspunkte und sollten bei der Untersuchung der Dynamik von Phänomenund Begriffsgeschichte des Spiels nicht unbeachtet bleiben. Im Allgemeinen wurde der Spielbegriff innerhalb der künstlerischen Praktiken der 1960er Jahre in zweifacher Form verwendet, auf moderne und postmoderne Weise, obwohl beinahe nie eine klare und eindeutige Grenze zwischen diesen Verwendungsweisen gezogen werden kann und sich meistens nur die dominierende ideologische Rahmung beobachten lässt. Die modernen und postmodernen Denk72

»Games without Rules«, Fischbach Gallery, 29.03.–16.04.1966, New York. Zitiert nach: Ina Conzen, Die Schachteln der Fluxuskünstler. – Art Games – Die Schachteln der Fluxuskünstler (Sohm Dossier 1). Hg. Ina Conzen, Staatsgalerie Stuttgart. Köln: Oktagon, 1997, S. 37.

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modelle waren stets im jeweils anderen sichtbar, und das Charakteristische der Spieldefinitionen – besonders im Hintergrund der begrifflichen Vielfalt der 1960er Jahre – bestand in ihrer Breite und Flexibilität. Die Definitionen beinhalteten oft einen Spielraum, auf den man hingewiesen hat, deren exakte Begrenzung man aber eher vermied. Der Unterschied zwischen den modernen und postmodernen Definitionen lag hauptsächlich im Umfang dieses Spielraumes und im Grad an Flexibilität. Im ersten Fall wurde das Spiel als eine in sich abgeschlossene Aktivität (entweder räumlich und zeitlich, bezüglich des Zustandes der Spieler, o.a.) betrachtet, die zwar ohne äußeren Zweck ist, zumindest aber während ihrer Ausführung eine konkrete Wirkung hat und eine nachvollziehbare Veränderung schafft. Im zweiten Fall wurde das Spiel als eine grenzenlose, überall beginnen und enden könnende Tätigkeit ohne jede feste Spur wahrgenommen, als ein immer ungreifbar bleibendes Phänomen, ähnlich dem Derridaschen Spiel von Abwesenheit und Präsenz.73 Daneben gilt es zu beachten, von welchen allgemeinen Voraussetzungen die Verwendungsweisen des Spielbegriffs ausgegangen sind, in welchem Verhältnis sie zu der (nur im Englischen klar ausdrückbaren) Unterscheidung zwischen ›play‹ und ›game‹ standen, von denen der erste durch Intensität, Expressivität sowie durch die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Spielenden bestimmt ist, der zweite hingegen durch die institutionalisierte Struktur des Spiels (in der sich ›play‹ entfalten kann, aber nicht muss).74 Obwohl ›play‹ ein umfangreicher Begriff ist und in den Künsten der 1960er Jahre als ein zwar nicht häufig vorkommendes doch bedeutendes Konzept galt, das die Ambiguität der derzeitigen kulturellen Wandlungen komplexer wiederzugeben vermag, waren die beiden Begriffe/Konzepte auch miteinander verknüpft und wurden mitunter vermischt benutzt und rezipiert. So wurden in der Fluxus-Bewegung die ›Flux Games‹ geschaffen, wobei ›game‹ die Strukturierung und den Prozess der Tätigkeit beschrieb, obwohl es sich bei diesen ›games‹ eigentlich eher um ›plays‹ handelte, um das Schaffen eines dynamischen, spannungsvollen und nicht fixierbaren Spielzustandes.

73

»Das Spiel ist immerfort ein Spiel von Abwesenheit und Präsenz, doch will man es radikal denken, so muss es der Alternative von Präsenz und Abwesenheit vorausgehend gedacht werden«. Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. – Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 440.

74

Natascha Adamowsky, Spiel und Wissenschaftskultur: Eine Anleitung. – »Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet«: Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis. Hg. N. Adamowsky. Bielefeld: transcript, 2005, S. 10. Vgl. dazu auch die Beschreibung der drei hauptsächlichen performativen Aktivitäten – »play«, »game« und »ritual« – in: Richard Schechner, Performance Theory. New York und London: Routledge, 2002, S. 13.

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Michael Lüthy hat die zentrale Bedeutung der Spielkategorie für die Kunst der Moderne als die Enthüllung des Janusgesichtes der ästhetischen Autonomie erläutert, als eine Verschiebung, in der die Kunst die Freiheit erwirbt, alles in die Perspektive ihres Spieles hineinzuziehen. 75 In diesem Zusammenhang und vor dem Hintergrund der Betrachtung der historischen Avantgarde, die Peter Bürger vorgenommen hat, lässt sich sagen, dass die Aktualisierung des Spiels in der modernen Kunst in den meisten Fällen von der Entgegensetzung des Ästhetischen und von dem Eintreten in »das Stadium der Selbstkritik«76 des Modernismus ausging. Während der 1960er Jahre war diese Aktualisierung zusätzlich von den noch ›unbestimmten Inhalten‹ der postmodernen kulturellen Situation, von der Erkenntnis der sozialen Bedingtheit und Relativierung jeder universalen Wahrheit mitgeprägt. So ist der Spielbegriff in der Kultur der 1960er Jahre häufig in Bezug auf die Destabilisierung des Kunstbegriffs und dessen teilweiser Ablehnung in Erscheinung getreten. Besonders deutlich sind die konzeptuellen Verschiebungen und die Unzufriedenheit mit den etablierten Begrifflichkeiten, zugleich aber auch die Vermeidung neuer fester Bestimmungen bei Allan Kaprow nachzuvollziehen – bei einem der ersten und überzeugtesten Ideologen und Vertreter der Happenings in New York. Aufgrund seines schmerzhaften Verhältnisses mit der institutionalisierten Kunst und Kultur bestand die moderne Kunstpraxis für Kaprow nicht im Erzeugen von Kunstwerken, sondern in der Beobachtung und Interpretation der Lebensvollzüge (die für ihn sinnvoller schienen als die meisten Kunstwerke und sich auf gemeinsamer Erfahrung gründen sollten). 77 Das Spiel (play) war für ihn erfinderisch und lehrreich, und damit ein Heilmittel gegen das ›gaming‹ (d.h. die wettbewerbsmäßige und arbeitsethische Regulation des Spiels) und die festgefahrene Bildungsroutine des industriellen Amerikas.78 Seiner Vorstellung von der sozialen Rolle des neuen (Nicht-)Künstlers (un-artist) als Erzieher folgend sollten die Künstler einfach spielen wie sie es einmal (auch unter dem Banner der Kunst) getan haben, jedoch zusammen mit denjenigen, denen ›die Kunst‹ nicht wichtig ist: »Gradually, the pedigree ›art‹ will recede into irrelevance«.79 Das Spiel dient laut Kaprow einer Handlung, die die etablierten und korrumpierten Normen der Kunst und der Kunstwelt auflösen sollte und einen Weg zum Ursprung der kreativen Tätigkeit bedeuten könnte. Doch war das Wort ›Spiel‹ in den Texten von Kaprow – vermutlich wegen 75

Michael Lüthy, Der Einsatz der Autonomie: Spieldimensionen in der Kunst der Moderne. – Kunst und Spiel seit Dada: Faites vos yeux! Hg. Nike Bätzner, Kunstmuseum Lichtenstein, Vaduz. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2005, S. 45.

76

Peter Bürger, Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, S. 28.

77

Jeff Kelley, Introduction. – Allan Kaprow, Essays on Blurring Art and Life. Hg. J. Kel-

78

Ebd., S. xxii.

79

Ebd.

ley. Berkeley, Los Angeles: University of California Press, 2003, S. xii.

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dessen kultureller Belastetheit – ein Nebenbegriff im Vergleich zu dem neutralen, fast undefinierbaren und bedeutungslosen Begriff ›Happening‹, der es eher ermöglichte, der Bedrängnis der Sprache und der Kultur auszuweichen.80 Entsprechend den dynamischen Begriffen dieser Zeit wurde das Wort ›Spiel‹ mitunter auch von anderer Happening-Künstlern benutzt; so hat beispielsweise Red Grooms eine von seinen ersten Aktionen »The Burning Building« (1959, New York) als »ein Spiel« (a play) bezeichnet. Auch für die Künstlergruppe ›Situationistische Internationale‹ war ›das Spiel‹ neben ihren Schlüsselwörtern – Situation, Spektakel, détournement, dérive – eher ein sekundärer Begriff, obwohl das Hauptziel der Situationisten – die Konstruktion von Situationen, der konkreten kurzfristigen Lebensumgebungen und ihre Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft81 – mit dem Spielphänomen in engem Zusammenhang zu stehen scheint. Als Gegensatz zu der gesellschaftlichen Entfremdung sollte das situationistische Spiel die Charakterzüge des Wettkampfes und der Trennung vom gewöhnlichen Leben radikal verneinen und sich gegenüber einer moralischen Wahl nicht abheben – die Wahl, die eigentlich »eine Parteinahme für das ist, was das zukünftige Reich der Freiheit und des Spiels sichert«.82 Die gleichzeitig mit der Gründung der SI (1957) entstandenen ersten Happenings hatten ihrer Ansicht nach diese Aufgaben nicht erfüllt und bestanden nur in einem ästhetisch belasteten Versuch, eine gewöhnliche Überraschungsfeier oder eine klassische Orgie zu erneuern im Gegensatz zu einer ›Situation‹, deren Konstruieren die Arbeit/das Spiel der revolutionären Avantgarde sein sollte und in der die politisch passiven oder metaphysisch verzweifelten Menschen ohne Kreativität sich nicht beteiligen können.83 Für die deutschen Situationisten, für die in München gegründete Gruppe ›Spur‹ besaß der Spielbegriff eine wesentlich zentralere Position, wobei 80

»The Happening is conceived as an art, certainly, but this is for lack of a better word, or one that would not cause an endless discussion. I, personally, would not care if it were called a sport. But if it is going to be thought of in the context of art and artists, then let it be a distinct art which finds its way into the art category by realizing its species outside of »culture«. A United States Marine Corps manual on jungle-fighting tactics, a tour of a laboratory where a polyethylene kidneys are made, the daily traffic jams on the Long Island Expressway, are more useful than Beethoven, Racine, or Michelangelo«. Allan Kaprow, Untitled Guidelines for Happenings (ca 1965). – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 709.

81

Guy Debord, Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisationsund Aktionsbedingungen der Internationalen Situationistischen Tendenz. (1957) – www.medienkunstnetz.de/quellentext/53/ (24.08.2014).

82

Ebd.

83

Guy Debord, The Avant-Garde of the Presence. (1963) – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 704.

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der Inhalt des Konzeptes etwas umgedeutet wurde. Neben den Anforderungen an direkten politischen Interventionen der SI betonte die Gruppe ›Spur‹ die Rückkehr zu den ›Quellen‹: Zusammen mit ›Fest‹, ›Gabe‹ und ›Potlatsch‹ betrachtete man das Spiel als Gegengewicht zu produktionsorientierten Strukturen.84 Das Spiel bezeichnete hier das »frei aufgebaute Leben«, wobei die Ausübung der spielerischen Schöpfung »die Garantie für die Freiheit des Einzelnen und aller« ist.85 Im Vergleich zu den Happenings, in deren Ideologie und Praxis der Hauptwert auf das Ereignis, auf die Erfahrung und das Konkrete gelegt wurde und deren theoretische Begründungen immer in Auseinandersetzung mit der Sprache und gegen die Interpretation entstanden sind, hatte die Ausprägung der Theorie bei den Situationisten stets eine bedeutendere Rolle als die künstlerischen Realisierungen, obwohl diese beispielsweise einen wichtigen Einfluss auf die Ereignisse des Pariser Mai hatten. Die Spieldefinitionen der SI waren vor allem von der aktivistischen Haltung und von der angestrebten ›Freiheit‹ bestimmt, die im Prozess des Spiels erreicht werden sollte und suggestiv beansprucht wurde, letztlich aber ein abstrakteres Konzept blieb als die tatbezogene, in den Ausführungen (Spielen) getestete Befreiung der Happenings, die eher konkret, individuell, erfahrungsgemäß beschrieben wurde. Im Gegensatz zur produktorientierten, kommerzialisierten und institutionalisierten Kunstwelt und zu der Ernsthaftigkeit und dem Elitarismus des Hochmodernismus waren die spielerischen Praktiken der Fluxus-Künstler daraufhin orientiert, »das Spiel der Kunst durch Kunst-Spiele aufrichtig zu verlachen und damit nachhaltig zu unterminieren«.86 Angesichts des Anspruchs auf nicht-professionelle, unterhaltende, kollektiv geschaffene, einfache und alltagsbezogene »art-amusement« hat man sowohl bei den allgemeinen Beschreibung als auch bei den konkreten Aktivitäten zumeist den Begriff ›game‹ verwendet – als einen Hinweis auf eine spaßvolle, unprätentiöse Tätigkeit: »Therefore, art-amusement must be simple, amusing, unpretentious, concerned with insignificances, require no skill or countless rehearsals, have no commodity or institutional value. […] It strives for the monostructural and nontheatrical qualities of simple natural event a game or a gag«. 87 In den einzelnen Flux-Games, die entweder als interaktive Objekte oder Aktionen realisiert wurden und oft von der Struktur der traditionellen Spiele – 84

Vgl. dazu Hans M. Bachmayer, Die »SPUR« – zur Kunst, Gaudi und Politik. – Aufbrüche, Manifeste, Manifestationen: Positionen in der bildenden Kunst zu Beginn der 60er Jahre in Berlin, Düsseldorf und München. Hg. Klaus Schrenk. Köln: DuMont, 1984, S. 134-154.

85

Manifest in der Zeitschrift »Spur 1« (München 1960), zitiert nach: Rainer Fuchs, Kunst

86

Ina Conzen, Die Schachteln der Fluxuskünstler, S. 37.

87

George Maciunas, Fluxus Broadside Manifest (Manifesto on Art/Fluxus Art-

– Sprache – Spiele: Dreieckbeziehungen in der Kunst der 60er und 70er Jahre, S. 40.

Amusement). New York: Fluxus, 1965 (unpaginiert).

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Schach, Kartenspiel, Puzzle – ausgegangen sind, handelte es sich gleichermaßen um die Aktivierung des Betrachters, um dessen Einladung zum Spiel und auch um eine befreiende Verschiebung, um ein Brechen oder Ignorieren der vorgegebenen Spielregeln und um das Abschaffen des Wettkampfes zugunsten des vergnüglichen und erfinderischen Prozesses des Spiels; unter anderem als Entgegensetzung zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handlungsmustern: »Fluxus artists displayed an interest in fashioning the art-game as a complex intersubjective situation or interaction that went beyond – or rejected – the zero-sum scenario of most games of agôn and alea and its conclusions, that is, where players have diametrically opposed interests and either win or lose. […] Fluxus games also implicitly reject the instrumental logic of loss and gain which characterizes the capitalist economy in the late twentieth century«.88 Somit wurde die Situation in den herkömmlichen Unterhaltungsspielen einerseits als ein produktiver Ausgangspunkt wahrgenommen, andererseits aber auch deren Tendenz zur ›Korruption‹ des Spiels,89 wobei eine spielerische und kreative Tätigkeit sich zu einem ernsthaften, bedrängenden Wettkampf entwickelt. Als eine Reaktion auf diese ›Korruption‹ hat man im Spielverlauf dessen Rahmung verschoben, die Regeln aufgelöst und ›play‹ in ›game‹ zurückversetzt. Damit schuf man einen Zustand, in dem die Regeln erst erfunden werden und noch nicht festgestellt sind, in dem das Verhältnis zwischen den Teilnehmenden noch spielerisch und nicht kämpferisch sind. Eine andere, wesentlich von den Ideen und Arbeiten von John Cage beeinflusste Interpretation des Spiels der Fluxus-Künstler konzentrierte sich auf die einfachen und alltäglichen Situationen, durch deren intensivierte und geklärte Wahrnehmung die spielerischen Impulse gefunden und nachvollzogen werden konnten. In diesem Fall bedeutete das Spiel nicht eine bewusst generierte und geregelte Tätigkeit, sondern die Entdeckung und Eröffnung des schon überall existierenden Spielraumes und des spielerischen Zustandes, in den man eintreten kann. Für einen der aktivsten und bedeutendsten Vertreter des sogenannten Fluxus East, Milan Knížák, war das Spielen etwas, das wir schon immer betreiben, ohne dass es uns bewusst wäre – etwas, das dem Zerbrechen der ›abtötenden Regularität‹ dient und zwischen dem Alltäglichen und Außerordentlichen entsteht: »One is most influenced by those things that are neither everyday nor too exceptional. Exceptional things are immediately considered rarities. And every-day things are lost in the flow of the commonplace. And so things that are only A LITTLE BIT DIFFERENT, that are 88

Claudia Mesch, Cold War Games and Postwar Art. – Reconstruction: Studies on Contemporary Culture 6.1 (Winter 2006), http://reconstruction.eserver.org/Issues/061/mesch.shtml (24.08.2014). Agôn und alea sind zwei von vier Spielformen, die Roger Caillois geschildert hat, vgl. dazu: Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch. Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein Materialien, 1982, S. 19-27.

89

Vgl. dazu: Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen, S. 65.

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impossible to include in recognized categories, possess the greatest ability to influence and effect«.90 Wie bei den vielen anderen Fällen war der Wert des Spiels für Knížák unmittelbar mit der Ablehnung einer bestimmten und klaren Definition des Phänomens verbunden und der Spielbegriff eher ein Hinweis auf die Möglichkeiten zwischen den etablierten und konventionellen Formen des Handels und des Denkens, ein offenes und prozessuales Konzept: »If we do not give it a name, if it acts merely in itself and through its unclassifiability, then it evokes in us many different associations that lead in all directions, because we are obstinately seeking a place for it in our notion of the world. And precisely this seeking is the most important of all, for through it we discover«.91 Das Spiel war seiner Ansicht nach somit eine Tätigkeit, die man nicht planen kann; eine Tätigkeit, in der man erkennt, was unbenannt bleiben muss, aber im Prozess der Suche nach Bestimmung und dem ständigen Scheitern daran wahrnehmbar wird. Die Idee eines (Nicht-)Spiels, das nicht nur die Absage der Definition und des absichtlich konstruierten Handlungsmusters, sondern auch die Absage der fast jeweiligen theoretischen oder praktischen Aktivität/Intervention verlangt und somit beinahe ein nicht-ansprechbares, ›unmögliches‹ Phänomen wird, hat der sowohl mit Fluxus assoziierte als auch vom Zen-Buddhismus beeinflusste französische Künstler Robert Filliou entwickelt, insbesondere in seinen konzeptuellen »No-Play #1« und »No-Play #2« (beide vermutlich 1964). Erstaunlicherweise steht in seinen beiden Konzepten der Zuschauer (der im ersten Fall jedoch ein ›Nicht-Zuschauer‹ sein muss) im Mittelpunkt – im Gegensatz zu den meisten Fluxus-Events, bei denen vor allem auf die Teilnahme und die Auflösung der Grenze zwischen den Künstlern/dem Geschehen und den Betrachtern gezielt wurde. In »No-Play #1« besteht das Paradox des Spiels in der Rolle des Zuschauers, in seiner gleichzeitig erforderten Anwesenheit und Abwesenheit: »This is a play nobody must come and see. That is, the not-coming of anyone makes the play. […] No one must be told not to come. No one should be told that he really shouldn’t come. No one must be prevented from coming in any way whatsoever!!! But nobody must come, or there is no play. That is, if the spectators come, there is no play. And if no spectators come, there is no play either … I mean, one way or the other there is a play, but it is a No-Play«.92 In »No-Play #2« geht es darum, was mit dem Zuschauer während des Spiels passieren sollte, obwohl es nie passieren kann: »In this No-Play, time/space is of the essence. It consists of a performance during which no spectator becomes older. If the spectators become older from the time they come to the performance to the time 90

Ebd.

91

Ebd.

92

Robert Filliou, No-Play #1. (1964?) – A Filliou Sampler. Ubuclassics, 2004, www.ubu.com/historical/gb/filliou_sampler.pdf, S. 17 (24.08.2014). Erstveröffentlichung: New York: Something Else Press, 1967.

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they leave it, then there is no play. That is to say, there is a play, but it is a NoPlay«.93 In der Widersprüchlichkeit dieser beiden Konzepte, in deren Unerklärlichkeit, Unausführbarkeit und Intensität, kommt eine der dominierenden Wahrnehmungsweisen des Spielphänomens in den kulturellen Prozessen der 1960er Jahre zum Vorschein: Das Spiel ist eine Tätigkeit, die von dem Drang nach Unmöglichem ausgelöst wird – eine Tätigkeit, die einerseits von den Impulsen zu handeln und zu intervenieren angetrieben ist, andererseits in den Fluss der umgebenden Ereignisse eingehen will, die irgendwo zwischen Aktivität und Passivität ihre Realisierungsmodi sucht; eine Tätigkeit, deren klare Bestimmung immer wieder absichtlich getrübt wird und sich ständig in Paradoxa bewegt, die gleichzeitig von dem Protest und von der Erkenntnis der Begrenztheit ihrer Mittel und Möglichkeiten geprägt ist, aber jedoch (oder deshalb) von einem sehr hohen, teils selbstgenerierenden Energieeinsatz gelenkt wird. Neben den Spielimpulsen und dem Spielbegriff in der Performance- und Aktionskunst oder konzeptuellen künstlerischen Praktiken wurde das Spielmoment ab dem Ende der 1950er Jahre auch in den Bild- und Objektkünsten – im Gegensatz zu der ernsten und kontemplativen Hochmoderne – wiederentdeckt; zunächst und insbesondere im Nouveau Réalisme, im Neodada und in der Pop Art. Deutlich ist dieses neue Interesse für Spiel bei dem schwedischen (in New York tätigen) Künstler Öyvind Fahlström zu finden, in seinen sowohl vom Surrealismus als auch von Cage beeinflussten und in Bezug auf den Spielbegriff (game) erörterten »variable [transformable] paintings«.94 Das Spiel war für Fahlström sowohl eine Technik des Schaffens und Betrachtens der Bilder als auch eine allgemeine Haltung, »a simple, fundamental outlook of life«.95 Die Dynamik seiner Collagen bildete sich zwischen den zwei zentralen, im Widerstreit stehenden Faktoren heraus: Einerseits war das Spiel laut Fahlström von Regeln und vom unveränderlichen Aspekt der (Bild)Elemente (deren Erscheinen, Konstruktion und Substanz) bestimmt, andererseits wurde der Betrachter dazu aufgefordert, diese ›Bildmaschine‹ durch freie Manipulation und ›bisociation‹ der Elemente selbst in Bewegung zu setzen; die Spannung entstand hier zwischen der Freiheit der Betrachter und dem (von allgemeinen Konventionen, Übereinstimmungen u.a. hervorgerufenen) Widerstand der Bildelemente und deren vorherbestimmter Unbeugsamkeit.96 Ungeachtet der verschiedenen Ausdrucksformen besteht eine große Ähnlichkeit zwischen der Betrachtung des Bildes von Fahlström und der Ideologie der frühen Happenings: Bei beiden hat man durch 93

Robert Filliou, No-Play #2 (1964?); ebd.

94

Vgl. dazu Claudia Mesch, Öyvind Fahlström: Painting and Cold War Metaphors. –

95

Ebd. Hinweis auf: Öyvind Fahlström, Games (from ›Sausages and Tweezers – A Run-

96

Ebd.

Cold War Games and Postwar Art. ning Commentary‹). (1966) – Öyvind Fahlström. New York: Guggenheim, 1982, S. 58.

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die spielerischen Handlungen und durch die Ablehnung aller symbolischen und metaphysischen Ansprüche auf einen unmittelbaren Kontakt mit der Umgebung gezielt. Dieser Kontakt wurde als subjektiv, teilweise zufällig, nur vorübergehend und als nicht-allumfassend wahrgenommen, als eine tat- und materialbezogene Erfahrung, die in der radikalen Auseinandersetzung (»radical juxtaposition« 97 ) mit dem Konkreten – mit dem Raum, mit dem Objekt, mit dem Bild, mit dem Körper – entsteht und zum Durchspielen ihrer möglichen Verhältnismuster, der möglichen »Weltmodelle« anleitet.98 Die Aktualisierung des Spielbegriffs in den Künsten der 1960er Jahre hatte hauptsächlich drei Ausgangspunkte. Erstens interessierte man sich für das Potential des Spielphänomens selbst, für dessen Komplexität und Ambiguität, für das Schaffen der Möglichkeitsräume und der liminalen Zustände, aber auch für den Umgang mit geregelten Situationen. Zweitens war ›das Spiel‹ ein kraftvolles und vielversprechendes Gegengewicht zur ›korrumpierten‹ Kunst und Kultur, das deren konventionelle Beziehungen und Normen unterminieren sollte. Drittens wurde das Spiel in den Künsten, aber auch im breiteren Kontext als ein möglicher Zugang zur ›Wirklichkeit‹ oder ›Freiheit‹ wahrgenommen, als ein Weg zum Unbestimmten, das in einem konkreten, totalen, von der Fantasie geführten Akt aufscheinen sollte. Mit den meisten herkömmlichen Spieldefinitionen und -formen – Unterhaltungsspiel, Theaterspiel, Kinderspiel – hatten diese Neuentdeckungen des Spiels vielfältige Berührungspunkte. Wie oben geschildert, hat man die geregelten Unterhaltungsspiele einerseits als bedrängend, andererseits aber auch als fruchtbar angesehen. Das Theaterspiel als Mimikry/Maskerade und als Darstellung der Lebenssituationen wurde sowohl in den Happenings und Performances als auch im AvantgardeTheater oft abgelehnt und diesem gegenübergestellt, doch blieb das Theater bzw. einige Theaterpraktiken ein Ort, wo dieses jedoch neu entdeckte Spiel entstehen konnte. Das Kinderspiel im Freud’schen Sinne – als Adaptionsmechanismus zur Gesellschaft oder von der Wirklichkeit klar getrennte Ersatzrealität99 – war in den künstlerischen Ansprüchen während der 1960er Jahre zumeist nicht aktuell, die 97

Vgl. dazu: Susan Sontag, Happenings: An Art of Radical Juxtaposition. (1962) –

98

Für Fahlström bedeuteten seine Gemälde »creating and relating models of the world;

Against Interpretation and Other Essays. London: Vintage, 1994, S. 263-274. not symbols – anyone may put in whatever he finds – only he sees (some of) the relations: what is like, unlike, repeated, juxtaposed etc. etc.« – Claudia Mesch, Öyvind Fahlström: Painting and Cold War Metaphors. – Cold War Games and Postwar Art. Hinweis auf: Öyvind Fahlström, Notes on ›ADE-LEDIC-NANDER II‹ (1955–57) & some later developments‹. – Öyvind Fahlström, S. 32. 99

Vgl. dazu Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren. (1908 [1907]) – S. F. Studienausgabe, Band X. Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt a.M.: Fischer, 1989, S. 171-172.

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Spontaneität, Flexibilität des Kinderspiels und dessen ›Unwissenheit‹ von den sozialen Konventionen hingegen durchaus; so beschrieb beispielsweise Viola Spolin in Bezug auf das Open Theatre (New York) das Theaterspiel als etwas, das sich zwar von der Stufe (degree), aber nicht vom Wesen her vom Kinderspiel unterscheidet.100 Obwohl der Spielbegriff in vielen Fällen hinsichtlich des etablierten Kunstbegriffs subversiv war und das Spielphänomen als Gegensatz zur konventionellen Kultur wahrgenommen wurde, kann man dessen Position und Rolle nicht von anderen neuen Begrifflichkeiten und den mit ihnen verbundenen Prozessen in den Künsten trennen; das Spiel, das sich aus dem traditionellen Rahmen der Kultur zu befreien versuchte, blieb stets gerade wegen dieses Versuchs von diesem Rahmen abhängig. Allan Kaprow, der in der Mitte der 1960er Jahre zu der Entscheidung kam, dass das Schaffen jeder Art der Kunst zu vermeiden ist,101 hat später doch festgestellt: »Leaving art is the art. But you must have it to leave it«.102 Somit wurde der Spielbegriff einerseits in Bezug auf das Spielphänomen definiert – d.h. auf die allgemeinen Vorstellungen oder spezifischen Kennzeichen hin, wodurch man das Spiel verstanden hat –, andererseits in engem Zusammenhang mit anderen aktuellen Ideen in den Künsten betrachtet: das Konzept des »offenen Kunstwerkes« von Umberto Eco,103 die Erkenntnis der Kontextualität der Kunst und der unvermeidlichen Aktivität des Zuschauers, die Neuentdeckung der Strategien von Duchamp und die Arbeit von John Cage und seinen jungen Nachfolgern, die Wertlegung auf das Ereignis und auf den Fluss im Gegensatz zu den fixierten Objekten u.a. Die Funktion der spielerischen Handlungen könnte sowohl in Verbindung mit dem sozialen und politischen Engagement festgestellt als auch in Bezug auf die ›existentiellen‹ Akte oder auf das Erreichen des kontemplativen Zustandes hin betrachtet werden, es könnte entweder als eine auf den Alltag oder auf die Fantasie hin orientierte Tätigkeit bewertet werden, doch charakterisiert fast alle Spielpraktiken (und auch die anderen neuen Erscheinungen in den Künsten der 1960er Jahre) eine Gemeinsamkeit: die Suche nach einer intensiven – durch intellektuelle, anti-intellektuelle, körperliche o.a. Strategien erreichte – Präsenzerfahrung, die unmittelbare Verbindung mit dem ›Hier und Jetzt‹. Das Spiel sollte einerseits eine gewisse Energie für die sozialen, künstlerischen, individuellen Verwandlungen freisetzen, andererseits als 100 Marvin Carlson, Theories of the Theatre: A Historical and Critical Survey, from Greeks to the Present. Ithaka, NY: Cornell University Press, 1993, S. 421. Hinweis auf: Viola Spolin, Improvisations for the Theatre. Chicago: Northwestern University Press, 1963, S. 392, 394. 101 Jeff Kelley, Introduction. – Allan Kaprow, Essays on Blurring Art and Life, S. xxi. 102 Allan Kaprow, On the Way to Un-Art. (2001) – Essays on Blurring Art and Life, S. xxix. 103 Umberto Eco, Opera aperta. Milano: Bompiani, 1962.

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ein Mittel für die kritische Beobachtung dieser Verwandlungen dienen. Durch den Spielbegriff (und durch die zahlreichen anderen Faktoren) destabilisierte und wandelte sich die Rolle der künstlerischen Tätigkeit und ähnelte sich teilweise der – von Huizinga festgestellten – Funktion des ›ursprünglichen‹ Spiels an, dem Schaffen einer »sinnvollen Form«, die eine soziale Funktion erfüllt und die ein Grundmoment jeder Kultur darstellt.104 Andererseits wurde das Spielverständnis der Künstler stark von dem (an der Grenze der modernen und postmodernen kulturellen Situation entstandenen) erhöhten Selbstbewusstsein, vom kritischen Denken und von aktivistischen Haltungen geprägt. Da viele mit den beiden Richtungen verbundene Erscheinungen in den Künsten nicht unbedingt mit dem Spielbegriff verknüpft waren, sondern eher in Bezug auf dessen Parallelbegriffe – Happening, Performance, Ritual, Event u.a. – oder auf die breiteren Prozesse (Performativierung der Künste) in Erscheinung traten, sollte man in diesem Kontext auch einige Kennzeichen des Spiels in der Kultur der 1960er Jahre für sich näher betrachten.

1.3 K ENNZEICHEN

DES

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IN DEN

K ÜNSTEN

Im Mittelpunkt der vielen künstlerischen Praktiken der 1960er Jahre und besonders der verschiedenen performativen und/oder spielbezogenen Aktivitäten stand die Beziehung zwischen Kunst und Alltagsleben bzw. die Frage, auf welche Weise, in welcher Form und durch welche Mittel die Kunst eine unmittelbare Verbindung mit dem Alltag schaffen kann, wobei es relativ unterschiedlich und widersprüchlich verstanden wurde, was diese Verbindung bedeutet, wie sie wahrgenommen werden sollte, inwieweit es das Phänomen ›Kunst‹ auflösen oder – im Gegenteil – dessen Position stärken wird. Im Folgenden wird das Erscheinen einiger Spielcharakteristika (insbesondere der Kennzeichen der sog. antistrukturellen Spielformen) in den Künsten der 1960er Jahre untersucht, vor allem im Hinblick auf die in diesen Erscheinungen auftretenden unterschiedlichen Relationen zwischen ›lebensgebundenen‹ und ›kunstgebundenen‹ Kategorien (Alltag, Wirklichkeit, Ernsthaftigkeit, Fantasie u.a.) und in Bezug auf die Begriffe, die in diesem Kontext möglicherweise als Parallel- oder Komplementärbegriffe des ›Spiels‹ dienen könnten. In Betracht kommende Spielcharakteristika sind vor allem Zufall, Präsenz und Rausch. Darüber hinaus wird das Verhältnis zwischen Individualität und Kollektivität in den spielerischen Praktiken geschildert und die Beziehung zwischen (im Sinne von Caillois) paidia und ludus – vom Lustprinzip geführtes improvisatorisches Spiel und strukturiertes, anstrengendes Spiel 105 – erläutert. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Performativierung der Künste ist man davon ausgegangen, dass das Performative

104 Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 57. 105 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, S. 36-46.

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und das Spiel nicht identisch sind und sich auch nicht einfach komplementär zueinander verhalten: »Sie weisen vielmehr eine Fülle von Affinitäten auf, die es ratsam erscheinen lassen, das eine im Zusammenhang mit dem anderen zu betrachten, da beide Konzepte sich gegenseitig zu erhellen vermögen«.106 In den vier von Roger Caillois analysierten Spielkategorien sind generell zwei gegensätzliche Strömungen zu beobachten: der Wille, das Spiel und dessen Wirkung streng zu kontrollieren (agōn, Mimikry) und der Wunsch, im Spiel alle einschränkenden Kontrollmechanismen zu überwinden (alea, ilinx).107 Dabei wird im agōn – im wettkämpferischen Spiel – die Kontrolle durch die physische Kraft und in der Mimikry – im Maskenspiel – durch die Darstellungskraft ausgeführt. Die Befreiung von der Kontrolle erreicht man in der alea – in dem vom Zufall geführten Spiel – durch das Unterwerfen unter die äußeren Bedingungen, in ilinx – im Spiel als Rausch – durch das Verfolgen der ›inneren Bedingungen‹. Der Zufall hat somit – obgleich in einem anderen Sinn – eine wichtige Rolle in den beiden letztgenannten Spielkategorien. Im Allgemeinen kann man die Reaktionen auf die äußeren und inneren Impulse getrennt voneinander betrachten, in der Praxis – und besonders in den künstlerischen Aktivitäten der 1960er Jahre – waren sie jedoch eng miteinander verbunden und oft (obwohl nicht zwangsläufig) auch unmittelbar an die angestrebte Präsenz- und/oder Rauscherfahrung gekoppelt. Die Wiederentdeckung des Zufallsprinzips und das Interesse für das ›Unbestimmte‹ und ›Unerwartete‹ war eines der grundlegenden Elemente in beinahe allen Aktionskunstformen der späten 1950er und der 1960er Jahre; dies hatte verschiedene Gründe und Ausgangspunkte, von denen die Aktualisierung des DuchampDiskurses und die künstlerische Arbeit von John Cage als die wichtigsten gelten. Obwohl man bei den Happenings deren Zusammenhang mit der surrealistischen Tradition bzw. mit der surrealistischen Sensibilität (surrealist sensibility) betont hat,108 ging es bei Cage und bei seinen Nachfolgern im Gegensatz zur historischen Avantgarde (Dadaisten, Surrealisten), in der der Zufall oft durch spontane Handlungen ›hervorgerufen‹ wurde, eher um das Minimieren der jeweiligen Aktivität und um die Schaffung eines leeren Raumes, wo sich der Zufall ereignen und wahrgenommen werden kann. Im Vergleich zu der von Caillois beschriebenen alea, bei der der Spieler zwar auch passiv ist (beispielsweise im Glücksspiel), sein Zustand aber nicht berücksichtigt wird bzw. keinen Einfluss auf die Spieldynamik hat, waren für Cage die Wahrnehmungsreaktionen und Erfahrungen der Spieler bzw. der 106 Erika Fischer-Lichte, Gertrud Lehnert. Einleitung. – [(v)er]SPIEL[en]: Felder – Figuren – Regeln. Hg. Erika Fischer-Lichte, Gertrud Lehnert unter Mitarbeit von Maren Leidenberger. Paragrana: Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 11 (1), 2002, S. 9. 107 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, S. 19-36. 108 Susan Sontag, Happenings: An Art of Radical Juxtaposition, S. 269-270.

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Beteiligten die zentralen und bestimmenden Faktoren des Ereignisses. In diesem Sinn kann man das Zufallskonzept von Cage mit der ilinx von Caillois vergleichen, hier jedoch nicht als ein physischer, sondern als ein psychischer Rauschzustand. Darüber hinaus war das auf der Phänomenologie und dem Zen-Buddhismus basierende Konzept des Zufalles für Cage ein Mittel zur Distanzierung vom westlichen Individualismus109 und ein Weg zur Prozessualität und Totalität der künstlerischen Tätigkeit; in der Cailloischen alea hingegen ist der Zufall eher konkret, funktional, seine Wirkung zeitlich begrenzt und ergebnisgebunden (ähnlich den Techniken der Dadaisten und Surrealisten, bei denen die zufälligen Elemente später doch oft in einem stabilen Kunstwerk fixiert wurden). In den frühen Happenings der 1950er und 1960er Jahre wurden die beiden antistrukturellen Spielkategorien fast gleichwertig in den Mittelpunkt gestellt: alea bzw. das erweiterte Zufallskonzept, bei dem nicht nur der Zufall als Einzelerscheinung, sondern auch die Vielfalt, Komplexität und Gleichzeitigkeit der Zufälle berücksichtigt wurde, und ilinx bzw. die Wahrnehmungsreaktionen, die sich durch die Konfrontation zwischen äußeren Einflüssen und inneren Impulse herausbildeten. Im Jahr 1965 hat Richard Schechner zwei auf den ersten Blick unterschiedliche Interessen der Happenings beschrieben: »1) an attempt to bring into a celebratory space the full ›message-complexity‹ of a downtown street and 2) a playing with modes of perception«.110 Als Ergebnis ihres Zusammentreffens und der mehrfach fokussierte (multifocus) Ansprüche der Happenings wird laut Schechner »an unsere Ästhetik gerüttelt«: »The thing-done is no longer any more important than those who do it and those who witness it«.111 Im Kontext des kulturellen Wandels der 1960er Jahre ist diese Verschiebung als Performativierung der Künste beschrieben worden,112 in Bezug auf das Verhältnis zwischen Kunst und Spiel kann man es als einen Wendepunkt betrachten, bei dem sich der von Caillois gemachte Unterschied zwischen (werkorientierter) Kunst und (prozessualem) Spiel verschleifte bzw. sich verringerte.113 Im Rahmen der Spieltheorien ermöglicht insbesondere die phänomenologische Perspektive eine breitere Analogie zwischen den Happenings – deren ›Botschafts-Komplexität‹ und dem ›Spielen mit Wahrnehmungsmodi‹ – und dem 109 Kristin Stiles, Performance Art. – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 682. 110 Richard Schechner, Happenings. – Happenings and Other Acts, S. 217. 111 Ebd. 112 Als die grundlegenden Charakteristika dieser Performativierung gelten die Neubestimmung der Relationen sowohl zwischen Subjekt und Objekt als auch zwischen Körperbzw. Materialhaftigkeit und Zeichenhaftigkeit der Elemente; s. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 19. 113 Michael Lüthy, Der Einsatz der Autonomie: Spieldimensionen in der Kunst der Moderne, S. 45.

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Spielphänomen nachzuzeichnen und es beispielsweise mit der Gadamerschen Spieldefinition in Verbindung zu bringen. Laut Gadamer erfüllt Spielen nur dann seinen »Zweck«, »wenn der Spielende im Spielen aufgeht« und sich nicht »zu dem Spiel wie zu einem Gegenstande verhält«; dabei muss das Spiel als solches ernst genommen werden (»sondern nur der Ernst beim Spiel läßt das Spiel ganz Spiel sein«), obwohl es dem Spielenden bewusst ist, dass er spielt: »Der Spielende weiß wohl, was Spiel ist, und daß, was er tut, ›nur ein Spiel ist‹, aber er weiß nicht, was er da ›weiß‹«.114 Diese produktiv betrachtete und bewusst aufgehobene Unwissenheit wird unter anderem auch in den Begriffen deutlich, mit denen man die frühen Aktionskunstformen beschrieben hat. Das Wort ›Happening‹ wurde ausdrücklich als zufällig und unbedeutend verstanden,115 das ›Event‹ von George Brecht konnte grundsätzlich jede allumfassende Umwelterfahrung bezeichnen, 116 ›Performance‹ jede Aufführung verweisen. Auch die ersten Betrachtungen der Happenings gingen eher davon aus, was sie nicht sind,117 nämlich von der Gegenüberstellung zu den schon existierenden und etablierten Formen der Künste,118 wobei das Ergebnis dieser Gegenüberstellung relativ unbestimmt blieb. Doch charakterisiert fast alle frühen Auseinandersetzungen mit der Aktionskunst die Annahme, dass dieses Ergebnis sich nur in einem konkreten Ereignis herausstellen kann und – neben der Offenheit gegenüber Zufällen – vor allem die Präsenz der Beteiligten verlangt, das Eingehen in das Spiel und das ›Aufgehen‹ im Spiel. Die angestrebte Präsenzerfahrung konnte sowohl in den Happenings und den Performances als auch im Avantgarde-Theater der 1960er Jahre einen je unterschiedlichen Schwerpunkt besitzen und in verschiedenen Wirkungsmustern Ausdruck finden. Teils richtete man die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmungen der Schauspieler oder der Ausführenden einer Aktion, teils auf das Gemeinschaftsgefühl mit dem Publikum bzw. auf die Auflösung der Grenze zwischen dem Betrachtetem und dem Betrachter. Manchmal ist man davon ausgegangen, dass die Präsenz durch das Ablehnen der Repräsentation/Darstellung und des Symbolischen und in Verbindung mit dem Alltäglichen/Konkreten erreicht werden kann, dann wiederum 114 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960). Gesammelte Werke, Band 1. Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, S. 107108. 115 »Because nothing better has been coined to replace it, I will use the term ›Happening‹«. – Michael Kirby, The New Theatre. – Happenings and Other Acts, S. 34. 116 »The word ›event‹ seemed closer to describing the total, multi-sensory experience I was interested in than any other«. George Brecht, The Origin of Events, August 1970. Archiv Sohm, Staatsgalerie Stuttgart. 117 Susan Sontag, Happenings: An Art of Radical Juxtaposition, S. 263. 118 Michael Kirby beschreibt die Happenings erstmals ausgehend vom Theater, s. Michael Kirby, Happenings: An Introduction. – Happenings and Other Acts, S. 3-11.

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wurde gerade das Unterwerfen unter bestimmten nicht-alltäglichen (›rituellen‹) Handlungsweisen als ein Weg zur Authentizität bewertet. Einer der interessantesten Punkte bezüglich der Präsenz war die Beziehung zwischen den physischen und psychischen Faktoren, sowohl das Verhältnis zwischen der physischen und psychischen Aktivität (wird die Präsenz eher durch den körperlichen Rausch oder vielmehr durch den kontemplativen Zustand erreicht?) als auch zwischen dem physischen und psychischen Raum (wird man wirklich präsent eher in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen in einem konkreten Raum oder in der Auseinandersetzung mit den innerlichen Prozessen im geistigen bzw. emotionalen Raum?). In den vielen frühen Happenings entstand das Ereignis in engem Zusammenhang mit den Objekten und mit dem physischen Raum (John Cage, Allan Kaprow) und wurde durch die (mehr oder weniger vorgeschriebenen) konkreten Handlungen realisiert, die aber auf der »Alogik der Träume« basierten, ein asymmetrisches Netzwerk der Überraschungen schufen 119 und somit auch auf die Wahrnehmungsverschiebungen zielten. Viele Performances gingen vor allem von der körperlichen »Befreiung« aus (Jean-Jaçques Lebel), um die »radikale Identität« der 1960er zu manifestierten, »sklerotische Intellektualität« zu enthüllen, »kollektive Opposition« zu den staatlichen und kirchlichen Institutionen zu bilden und zur Kunst als »Akt der Aufhebung und Befreiung« zurückzukehren.120 In den gemeinschaftsorientierten, auf die eine oder andere Weise rituellen Aktionen intensivierte man die Präsenz der Beteiligten entweder durch das Schaffen eines strukturierten und begrenzten Ritualraumes (wobei das Folgen des bestimmten Ablaufs der Handlungen zur Befreiung der herunterdrückten Impulse und zur verbindenden, totalen Erfahrung führt, beispielsweise beim Wiener Aktionismus121) oder auch durch die Provokation der Zuschauer, deren Aktivierung innerhalb der Aufführungssituation im Nachhinein auch im Alltag eine Fortsetzung finden sollte. Bei der Suche nach Präsenz ging es somit meistens um das Streben nach Grenzerfahrungen, wobei die äußerlichen und innerlichen Bedingungen sowie die physischen und psychischen Faktoren sich ständig gegenseitig widerspiegelten und beeinflussten – die Erfahrung selbst sollte aber eine gewisse Befreiung von beiden ermöglichen und als ein offener, wacher, liminaler Zustand wahrgenommen werden. Die Bedeutung des Rituals in der Präsenzerfahrung und die Beziehung zwischen Ritual und Spiel kann in diesem Rahmen auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden. Richard Schechner hat innerhalb der unterschiedlichen Richtungen der Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts unter anderem »die nach der Tradition suchende 119 Susan Sontag, Happenings: An Art of Radical Juxtaposition, S. 266. 120 Kristin Stiles, Performance Art. – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 683. 121 Vgl. dazu Thomas Dreher, Performance Art nach 1945: Aktionstheater und Intermedia. München: Fink, 2001, S. 177-179.

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Avantgarde«122 hervorgehoben, die auch einen breiteren Hintergrund in den kulturellen Bewegungen hatte, die zu den ›Quellen‹ zurückzukehren versuchten, oft durch die Abwendung von der modernen Technologie und der Zuwendung zur ›Weisheit der Zeiten‹, die man in den nicht-westlichen Kulturen zu finden glaubte.123 Das Interesse für das Ritual in den Künsten hatte verschiedene Ausgangspunkte und Ausdrucksformen. Oft war dieses Interesse eher allgemein und ›transreligiös‹, man zielte auf das Erzeugen einer rituellen Atmosphäre und auf die psychische Stimulation der Beteiligten, auf die Suggestivität des Ereignisses – ungeachtet der konkreten Funktionen der ursprünglichen Rituale. Eugenio Barba beschrieb die Tätigkeit von Jerzy Grotowski als das Streben nach einer »rituellen Reinheit« des Theaters, nach einem »modernen säkularen Ritual«, bei dem die verlorenen religiösen Elemente durch »archetypische« Bilder und Handlungen ersetzt sind. 124 Die expressiven Rituale des Wiener Aktionismus haben Motive von verschiedenen Religionen und Traditionen aufgegriffen und sie in Bezug auf »die Metaphysik der Aggression« 125 komponiert. Die meisten der ritualgebundenen Erscheinungen in den Künsten waren stark durch die Texte von Antonin Artaud beeinflusst, mitunter wurde dieser Einfluss auch mit anderen, scheinbar gegensätzlichen Impulsen (beispielsweise mit den Ideen von Cage) gekoppelt.126 Im Jahr 1961 hat Julian Beck (Living Theatre) das Theater als ein Ort der intensiven Erfahrung geschildert: Es ist zum einen ein Ritual und zum anderen ein Traum, bei dem Zuschauern ermöglicht wird, zu den Quellen der Erkenntnis über das Wesen der Dinge und des Selbst zu kommen, durch den Weg vom Bewussten ins Unbewusste.127 Mithilfe dieser Feststellung kann man eine der wichtigsten Grundlagen der rituellen künstlerischen Praxis der 1960er Jahre verdeutlichen: Die feste Struktur des Rituals wurde mit der fließenden, unkontrollierbaren Fantasie (und dem Traum) in Verbindung gesetzt; die vorgeschriebenen Handlungsmuster sollten die Fantasie anregen, sie aber auch gleichzeitig ausgleichen und beruhigen. Die Wahrnehmung der Zuschauer und die Gemeinschaftserfahrung wurde dabei ausdrücklich in den Mittelpunkt gestellt – das 122 Richard Schechner, The Five Avant Gardes Or … Or None? (1993) – The TwentiethCentury Performance Reader. Hg. Michael Huxley, Noel Witts. London, New York: Routledge, 2002, S. 342. 123 Ebd., S. 347. 124 Eugenio Barba, Theatre Laboratory 13 Rzedow. – Tulane Drama Review 3 (9), Spring 1965, S. 154. 125 Thomas Dreher, Performance Art nach 1945: Aktionstheater und Intermedia, S. 177179. 126 Z. B. war das Living Theatre sowohl vom Wunsch beeinflußt, den schöpferischen Prozess zu ›öffnen‹ (Cage) als auch vom Bestreben, die tieferen Impulse zu befreien (Artaud). Vgl. dazu Marvin Carlson, Theories of the Theatre, S. 420. 127 William Glover, The Living Theatre. – Theatre Arts 12 (45), December 1961, S. 63.

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Ziel des Ereignisses war ein psychischer Zustand, der sich bei jedem Beteiligten zwar individuell ausbildete, aber durch die kollektiven Aktivitäten hervorgerufen wurde. Darüber hinaus wurde dieser Zustand einerseits nicht als etwas Stabiles, andererseits aber auch nicht nur als eine Zwischenphase (die zu etwas anderem führt) betrachtet, sondern als ein Weg dahin, wohin man eigentlich nie kommen kann: Die rituelle Verwandlung in der künstlerischen Praxis bedeutete somit nicht den Übergang von einem fixierten Status zu einem anderen, sondern die Negation jedes fixierten Status, wobei die Liminalität als Dauerzustand proklamiert wurde.128 Je nachdem, welche Perspektive man einnimmt, gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen dem Ritual und dem Spiel (bezüglich der Offenheit und der Geschlossenheit u.a.) zu erörtern, 129 doch haben beide zumindest zwei grundlegende Gemeinsamkeiten: Die Bedeutung und der Daseinsmodus von beiden entstehen und bestehen in einer Ausführung (in einem konkreten Akt des Rituals oder des Spiels) und in dieser verknüpfen sich die Welt der Fakten und die Welt der Möglichkeiten und bilden eine – wie Clifford Geertz es für das Ritual festgestellt hat – »fusion of the dreamed-of and lived-in orders of reality«.130 Die Aktualisierung der beiden Phänomene war einerseits eine im weiteren Sinn indirekte Reaktion auf die soziale Krisenerfahrung,131 ein Versuch, durch die konkreten Handlungen eine neue Umgangsform mit der intensivierten Spannung zwischen aktuellen politischen/sozialen Ereignissen und kritischen/utopischen Denkmodellen zu finden – andererseits und im Zusammenhang mit den spezifischen Konstellationen innerhalb der Künste wurde sowohl das Spiel als auch das Ritual – deren Form und Wirkungsmechanismen – durch diese Aktualisierung mehrfach reflektiert, getestet und uminterpretiert. Teils in Verbindung mit den strukturierten und ritualisierten Aktivitäten, teils als deren Gegensatz wurde der unkontrollierte, unzensierte, von den innerlichen Impulsen hervorgebrachte Zustand des Rausches als ein anderer Weg zur Präsenz wahrgenommen; er sollte entweder als eine Kulmination der rituellen Handlungen 128 Erika Fischer-Lichte, Verwandlung als ästhetische Kategorie: Zur Entwicklung einer neuen Ästhetik des Performativen. – Theater seit den 60er Jahren: Grenzgänge der NeoAvantgarde. Hg. Erika Fischer-Lichte, Friedemann Kreuder, Isabel Pflug. Tübingen und Basel: A. Francke, 1998, S. 47-48. 129 Vgl. dazu Martina Lenhardt, GrenzFall: Zum Verhältnis von Performance und Spiel. Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft, Bd. 16. Hg. Peter Marx, Kati Röttger, Friedemann Kreuder. Marburg: Tectum, 2008, S. 28-29. 130 Clifford Geertz, Religion as a culture system. – Anthropological Approaches to the Study of Religion. Hg. M. Banton. ASA monograph 3. London: Tavistock Publications, 1966, S. 28. 131 Erika Fischer-Lichte, Grenzgänge und Tauschhandel: Auf dem Wege zu einer performativen Kultur. – Theater seit den 60er Jahren: Grenzgänge der Neo-Avantgarde, S. 24.

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erreicht werden oder als ein unvermittelter, unvorbereiteter ›existentieller‹ Akt. Jill Sigman hat die New Yorker Tanz-Szene der 1960er Jahre diesbezüglich wie folgt beschrieben: »The people of the New York dance world in the 1960’s were captivated by a kind of Sartrean feeling that dance had been living in ›bad faith‹ and accepting assumptions about what it could or couldn’t be, and the plethora of works that came out of that period came from a dizzying vertigo, the terrifying, yet intoxicating feeling that ›I can really just do anything‹«.132 Das Gefühl, alles tun zu können, was man will, und der Glaube, dass in dem unkontrollierten, intensiven Rausch sich etwas ansonsten Unerkennbares und Wertvolles zeigen wird, kann sowohl mit einigen Praxisformen in den Künsten als auch generell mit der kontrakulturellen Suche nach den sogenannten nicht-normativen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden. Laut Caillois wird bei ilinx absichtlich ein Zustand hervorgerufen, bei dem man ›außer sich ist‹, aus der Realität heraustritt, eine gewisse Form von Trance erreicht.133 Jean-François Lyotard hat bei den kulturellen Praktiken der 1960er Jahre ein ähnliches Phänomen als Streben nach ›Exteriorität‹ geschildert: »Considering not only the discourses, but also the praxes of the sixties, it can be said, very briefly, that the general attempt was to stay outside the magisterial injunction and to produce, under extremely varied names, some sort of an exteriority: spontaneity, libido, drive, energy, savagery, madness, and perhaps schizo«.134 Die Komplexität und Ambivalenz dieser Tendenzen besteht zum einen in der generellen Dynamik der Ausgangspunkte und Ziele (man geht von sich selbst, von den innerlichen Impulsen aus, um aus sich selbst herauszukommen, um dadurch wiederum eine echtere Selbsterkenntnis zu erreichen), zum anderen aber im Verhältnis zwischen der Authentizität und der Performativität: Besonders in den (immer selbstreflektierten) künstlerischen Praxen ist es vermutlich unmöglich, eine Grenze zwischen ›authentischen Handlungen‹ und deren Darstellung, dem reflektierten Durchspielen derselben zu ziehen. Genau diese nicht fixierbaren, dynamischen Übergänge zwischen Rausch und Reflexion, zwischen dem Glauben an das Spiel und dem Wissen um das Spiel scheinen den Kern dieser Ereignisse auszumachen. Das weitere Ziel dieser neuen Strategien – neben der Offenheit für Zufälle und dem Streben nach Rausch bzw. nach dadurch erreichter Präsenzerfahrung – war oftmals die ›Totalität‹ einer künstlerischen Tätigkeit, die Verschmelzung mit dem Alltagsleben. Neben den Ansprüchen auf direkte, konkrete Interventionen in den Alltag, wobei entweder die Kunst anschließend verschwindet und aufgehoben wird

132 Jill Sigman, How Dances Signify: Trio A and the Myth of Ordinary Movement, 2000, S. 6. – www.thinkdance.org/page6/page24/page24.html (24.08.2014). 133 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, S. 32. 134 Jean-François Lyotard, On the Strenght of the Weak. – Semiotexte (Schizo-Culture) 2 (III), 1978, S. 206.

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(wie bei George Maciunas135) oder schlichtweg alles als Kunst bezeichnet werden kann (wie bei Joseph Beuys), ist man in einigen künstlerischen Praktiken implizit oder explizit auch von den komplexeren Denkmodellen ausgegangen und man hat sowohl die Unauflösbarkeit aller Grenzen und Rahmen (deren Unvermeidlichkeit in unserem Denken) als auch die Möglichkeit für einen spielerischen Umgang mit ihnen erkannt. In diesen Fällen wurden die Unterschiede zwischen den Rahmungen/Diskursen – die Kunst, das Alltagsleben und deren mögliche Übergangsformen, zum Beispiel das Spiel – wahrgenommen und ihnen eine gewisse Souveränität zugesprochen. Zugleich wurden sie aber auch spielerisch einander gegenübergestellt und entweder die zerstörenden oder die produktiven Prozesse innerhalb dieser Konfrontation fokussiert, vergleichbar mit Duchamps Feststellung: »Kunst ist Leben, Leben ist Spiel, Spiel ist Kunst«.136 Das Verfahren und das Ergebnis eines solchen spielerischen Umganges mit den verschiedenen Handlungsebenen waren vielfältig. Der Fluxus-Künstler Ben Vautier hat in seiner Beschreibung der Happenings das Spektakel bzw. das Spektakuläre des alltäglichen Lebens als einen Schnitt- und Übergangspunkt zwischen Kunst und Nicht-Kunst verstanden: »It [happening] is the communication of the awareness that all the details of reality are spectacle. It is not […] a passionate transformation of life, but the representation and the communication of LIFE by attitudes, simple and real […], a state of being that one could summarize by saying: EVERYTHING IS ART and ART IS LIFE«. 137 Eine der wichtigsten Figuren der osteuropäischen Neo-Avantgarde, Tadeusz Kantor, hat in seinem intensiven und in gewissem Sinn kryptischen Begleittext zum »Panoramiczny happening morski« (Panorama-Happening am Meer, 1967) die Inkongruenz der verschiedenen Realitätsebenen und die in ihrer Konfrontation entstehende Traumhaftigkeit und ›Unmöglichkeit‹ zum Ausdruck gebracht; eine produktive Form des Umgangs mit dieser Erkenntnis wäre laut Kantor eine Auseinandersetzung mit dem ›Unmöglichen‹, mit dem ›Überschuss‹, der zwischen den Konventionen entsteht.138 Die Totalität und die Verbindung zwischen Kunst und All135 Vgl. dazu George Maciunas, Letter to Tomas Schmit. (1964) – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 726. 136 Petra Maria Meyer, Als das Theater aus dem Rahmen fiel. – Theater seit den 60er Jahren: Grenzgänge der Neo-Avantgarde, S. 155. 137 Ben Vautier, The Happening of BEN. (1966) – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 730. 138 »… any sort of perceiving or comprehending the something we are facing is bordering with a dream. […] Try to bring anything from this reality into other circumstances, and you will inevitably appear ridiculous, derided, even censured. […] In the so called creative process we always act in accordance with some commonly accepted convention […]. However, there always remains some overhang, ridiculous and unruly. […] We now need just one more element – the disinterested, the ›free‹, the ›impossible‹«.

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tagsleben wurden in diesen Fällen nicht als deren direkte und eindeutige Verschmelzung oder als Ersetzung des einen durch das andere verstanden, als das Zerstören des einen (meistens Kunst) zugunsten des anderen (Alltagsleben), sondern es wurde eine dynamische, immer flexibel bleibende, immer sich selbst regenerierende Beziehung der verschiedenen Ebenen angestrebt. In Bezug auf die Rolle des Spiels in diesem Prozess kann man sagen, dass dies ein Vorgehen bzw. ein verknüpfendes Mittel darstellte, das nicht versuchte, alles in sich aufzunehmen und zu okkupieren, sondern das durch die Konstellationen der ›lebensgebundenen‹ und ›kunstgebundenen‹ Faktoren motiviert war und dazu beitrug, liminale Phasen zu erzeugen und zu bewältigen. Das Verhältnis zwischen Individualität und Kollektivität in den auf Zufall, Präsenz, Rausch orientierten künstlerischen/spielerischen Praktiken war ebenso komplex wie die Unterordnung unter die äußeren und inneren Bedingungen derselben. Für Huizinga stellte das Spiel vor allem eine kollektive Tätigkeit dar. Seiner Ansicht nach wird das Spiel, »das der einzelne nur für sich allein spielt«, für die Kultur »nur in beschränktem Maße fruchtbar«. 139 Für Caillois war die Bewertung des Spiels nicht so eindeutig, obwohl auch er überwiegend die kollektiven Spiele analysiert hat. Die späteren, insbesondere vom Poststrukturalismus beeinflussten Spieltheorien haben solche festen Gegenüberstellungen eher vermieden, die verschiedenen Spieldynamiken detaillierter erläutert und mehr Aufmerksamkeit auf die psychischen Prozesse und den Spielzustand gerichtet; somit ist der Aspekt der Individualität/Kollektivität ein mögliches, aber nicht unbedingt grundlegendes Kriterium der Spieltheorie geworden. In der Kultur der 1960er Jahre waren die beiden Handlungsmodi und Ideen vielfältig und teils auch widersprüchlich verbunden, oft existierten der Anspruch auf die bedingungslose Kollektivität und der Anspruch auf die absolute individuelle Freiheit nebeneinander. Jeff Kelley hat bezüglich der westlichen Kultur und Gesellschaft der 1960er Jahre das Bedürfnis nach einem allumfassenden kollektiven Raum beschrieben als »a counter-cultural need for a new (or perhaps ancient) communal, youthful performative space, what began as works of avant-garde art had become, by 1966, everything for anti-war protest and Bobby Kennedy to ›life‹ itself«.140 In diesem Raum wurden zwar alle konventionellen gesellschaftlichen Rituale hinterfragt, als korrumpiert und bedrängend entlarvt, doch hat beispielsweise die dezentralisierte, an Spontaneität und Intuition glaubende New

Tadeusz Kantor, Begleittext zu »Panoramiczny happening morski/Panoramic Sea Happening«, 1967 (Polnisch/Englisch). Archiv Cricoteka, Kraków. 139 Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 57. 140 Jeff Kelley, Acknowledgements. – Allan Kaprow, Essays on the Blurring of Art and Life, S. ix.

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Left auch ihre eigenen Protestrituale hervorgebracht;141 offenbar ging es bei diesen um eine sporadische, selbstgenerierende und unkontrollierte Kollektivität, die zwar gemeinsame Handlungen ermöglicht, jedoch nicht individuelle Wünsche unterdrückt. Auch in den Künsten tendierte man zu kollektiven Aktionen, doch das wichtigste Ziel war die Intensivierung der individuellen Erfahrungen. Im Kontrast zur modernistischen Vorstellung eines unikalen, rein individuumsbezogenen künstlerischen Selbstausdrucks wurden diese Erfahrungen eher als die zwischen dem Ich und seiner Umwelt entstehenden Zustände wahrgenommen, bei denen man – ähnlich wie im Spiel – ›außer sich‹ ist, gleichzeitig aber auch zu einer Selbsterkenntnis kommen kann. Am stärksten war die Frage der Kollektivität und der Individualität mit den Diskussionen über das gesellschaftliche Engagement und/oder die ›Freiheit‹ der Künste142 verbunden und mit den beispielsweise in der Aktionskunst der 1960er Jahre etwa gleichzeitig erschienenen zwei Richtungen verknüpft: einerseits mit dem (kollektiven) sozialen und politischen Aktivismus, andererseits mit der Performancekunst, die sich mit den (individuellen) innerlichen Erfahrungen, mit dem metaphysischen Aspekt des Seins und mit den phänomenologischen Zuständen des Körpers beschäftigte.143 Einige allgemeine Charakteristika dieser zwei Richtungen ähneln einander, da beide sowohl von der Vorstellungskraft als auch vom Streben nach Totalität geprägt waren. Darüber hinaus gab es bei beiden ein (direktes oder indirektes) Interesse für das Spiel/Spielerische; im ersten Fall bedeutete es eher das Hervorbringen der Spieldynamik als Mittel zur Analyse und Dekonstruktion der sozialen Strukturen, im zweiten Fall bedeutete es den Eintritt ins Spiel, die Untersuchung der Spielerfahrungen und -zustände. Während die meisten der vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen und postmodernistischen Theorien entstandenen Spielbetrachtungen von der grundlegenden Ambivalenz und Paradoxie des Spiels ausgehen, machen einige innere Widersprüche sich schon in der Spielbeschreibung von Huizinga sichtbar – ausdrücklich wurden sie (bzw. der Dualismus des Spiels) von Caillois geäußert.144 Jede von Caillois geschilderte Spielkategorie kann mehr oder weniger auch mit den drei anderen Kategorien im Zusammenhang stehen bzw. deren Elemente beinhalten. Daneben sind auch zwei Cailloische Spielweisen – spontanes und improvisatorisches 141 L. H. Gann, Peter Duignan, The New Left and the Cultural Revolution of the 1960s: A Reevaluation, S. 12/15. 142 Zu diesen Diskussionen im Theater s. Marvin Carlson, Theories of the Theatre, S. 454 ff. 143 Vgl. Kristin Stiles, Performance Art, S. 690. 144 Laut Caillois bekanntem Beispiel vom ersten Schritt im Schachspiel müssen agōn und alea immer zusammen gedacht werden; der Zufall besitzt auch in diesen Spielen eine wichtige Rolle, die die strengsten Regeln folgen. Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen, S. 26.

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paidia und strukturierendes, zielbewusstes ludus – komplexer miteinander verknüpft als es im ersten Moment scheint. Paidia war offenbar sowohl in den FluxGames145 als auch in anderen Aktionskunstformen dominierend, ludus in den konzeptuellen künstlerischen Praktiken, 146 obwohl es hier auch einige interessante Überschneidungen gegeben hat. Im weiteren Sinn kann man das Verhältnis zwischen ludus und paidia auch als eine Beziehung zwischen der stabilisierenden und destabilisierenden Tendenz betrachten, unter anderem in Bezug auf die zweifache Orientierung in den Künsten dieser Zeit: die Suche nach den ursprünglichen, ›authentischen‹ spielerischen Impulsen und der selbstbewusste, reflektierte Konzeptualismus mit seinen sorgfältig ausgearbeiteten Spieltaktiken. Bei beiden wurde die Huizingasche Ansicht auf das Verhältnis zwischen Freiheit und Regelhaftigkeit im Spiel zum Teil umgekehrt, zum Teil relativiert. Für Huizinga bedeutete die Freiheit des Spiels vor allem die freiwillige Aufnahme des Spiels und die freiwillige Unterordnung unter die Regeln, die bereits nach dem Eintritt ins Spiel verbindlich sind. Die verschiedenen künstlerischen Praktiken der 1960er Jahre basierten dagegen oft auf der Annahme, dass die Freiheit des Spiels entweder aus den Regeln erwächst oder in der Auseinandersetzung mit den Regeln entsteht – entweder dadurch, dass man eine universale Regel feststellen kann bzw. dass es eine essentielle und allumfassende rituelle Form gibt, die von sich aus auch zur Befreiung führt,147 oder weil die intensivierte Wahrnehmung der Regel (im Gegensatz zu dem passiven Verfolgen) es ermöglicht, sich von ihr zu befreien, sie zu unterminieren oder zu brechen. Der Begriff ›Performance‹, der während der 1960er Jahre in den Künsten (neben ›Happening‹ und ›Ritual‹, aber als auch deren Oberbegriff) aktuell wurde, lässt sich mehrfach mit dem Spiel in Verbindung setzten, unter anderem (oder vielleicht vor allem) durch dessen »consciousness of doubleness«.148 Wie das Spiel auf der Gleichzeitigkeit von Wissen und Glauben basiert, ist auch bei der ›Performance‹ das Bewusstsein, das trotz des Einlebens immer wieder aktiviert wird, als grundlegend anzusehen, wie dies beispielsweise Herbert Blau festgestellt hat: »What is universal in performance – aside from the ambiguity as to which comes first – are 145 Vgl. dazu Claudia Mesch, Fluxgames and Fluxchess. – Cold War Games and Postwar Art. 146 Vgl. dazu z.B. Sol LeWitt, Paragraphs on Conceptual Art. – Artforum 5 (10), June 1967, S. 79-83. 147 Beispielsweise bei den Aktionen von Hermann Nitsch und Wiener Aktionismus, vgl. dazu Thomas Dreher, Performance Art nach 1945, S. 183-184. 148 Vgl. dazu Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction, S. 5. »Conscious of doubleness« wurde von dem Ethnolinguist Richard Bauman als ein zentraler Faktor in der Performance erörtert, s. Richard Bauman, Performance. – International Encyclopedia of Communications. Hg. Erik Barnouw. Oxford: Oxford University Press, 1989, S. 262-266.

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the marks of punctuation which are inflections (or economic indices) of conciousness … […] There is nothing more illusory in performance than the illusion of unmediated«.149 Somit ist das, was im Prozess des Spiels und während einer Performance passiert, die sogenannte »willing suspension of disbelief«,150 die Anwesenheit beider Rahmen gleichzeitig, die nur (oder hauptsächlich) aufgrund der Vorstellungskraft nebeneinander bestehen können. Vor diesem Hintergrund kann man in den Künsten der 1960er Jahre unterschiedliche Relationen zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion beobachten. Im Streben nach absoluter Spontaneität versuchte man die Reflexion zugunsten der Authentizität abzuschaffen. In der Suche nach Archetypischem und nach Kontakt mit dem kollektiven Unbewussten151 sollte ein Zustand erreicht werden, in dem die Dialektik des Authentischen/Reflexiven nicht besteht – in den kontemplativen Aktivitäten hingegen zielte man auf eine allumfassende Erkenntnis, durch die diese Gegenüberstellungen verschwinden; im »nonmatrixed performing« der Happenings sollte eine Auflösung der Gegensätze durch die anspruchsfreie Offenheit und die einfache Verkörperung einer Idee 152 gefunden werden. Wie oben geschildert, bestand eines der Kernprobleme in den Künsten der 1960er Jahre im Verhältnis zwischen der künstlerischen Tätigkeit und dem Alltagsleben, und in diesem Rahmen insbesondere in der Frage, ob die ›Wirklichkeit‹ sich eher im Alltäglichen oder in der Fantasie finden lässt, ob diese Wirklichkeit von sich aus erscheinen kann oder gesucht und geformt werden muss, ob man sie mithilfe eines erhöhten Bewusstseins findet oder eher durch das Ausschalten der Reflexion. Das Spiel wurde in diesem Kontext als eine Verknüpfung von Kunst und Alltag verstanden, das sich dafür aus verschiedenen Gründen eignete: entweder wegen seiner Ernsthaftigkeit oder wegen der Leichtigkeit, entweder als ein Weg zu den affektiven (authentischen) psychischen Zuständen oder zum spontanen (echten) Kinderspiel, entweder wegen der Möglichkeit, innerhalb des begrenzten Spielraumes eine andere Wirklichkeit herauszubilden, oder wegen der potentiellen Verschmelzung der unterschiedlichen Realitätsebenen. Vor dem Hintergrund der Spieldefinitionen von Huizinga und Caillois kann man sagen, dass in den spielerischen künstlerischen Praktiken der 1960er Jahre vor allem die Rolle der Grenzen/Regeln und die Beziehung zwischen dem Spiel und dem Alltag umgedeutet wurden. Die angebliche Freiheit des Spiels bzw. die Idee, dass im Spiel eine individuelle Befreiung entstehen kann, war einer der wichtigsten Ausgangspunkte für die spielbezogenen Aktivitäten in den Künsten. Verstanden wurde diese Freiheit zwar als etwas 149 Herbert Blau, Universals of Performance; or Amortizing Play, S. 250, 253. 150 Der Ausdruck ist aus Samuel Taylor Coleridge’s Buch »Biographia Literaria« (1817) entlehnt. 151 Z. B. bei Jerzy Grotowski, vgl. Marvin Carlson, Theories of the Theatre, S. 456. 152 Michael Kirby, Happenings: An Introduction. – Happenings and Other Acts, S. 7.

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Totales (was überall entstehen und alles umfassen kann), jedoch nicht Absolutes (was kein stabiles Wesen hat), als etwas, das von der Ablehnung alltäglicher Verhaltensweisen entspringt, aber immerhin von den Spielgrenzen bestimmt ist und durch das Zugleich der Präsenz und des Imaginären in Gang gesetzt wird.

II Verknüpfte Kontexte: Spielräume in Osteuropa

Die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen im sozialistischen Osteuropa während der 1960er Jahre können auf zwei gegensätzliche, idealisierende und kritische Weisen beschrieben werden. Es war einerseits – im Vergleich zu den 1940er und 1950er Jahren – die Zeit des größeren Optimismus, der neuen Freiheiten und der Hoffnung auf ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹, andererseits die Periode, in der man sich an das sozialistische Regime gewöhnt und die Lebens- und Denkweisen an das System angepasst hat. Die 1960er Jahre lassen sich im Rahmen der Geschichte des Ostblocks als eine besondere Phase betrachten: Die bisherigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Normen wurden während der Zeit des ›Tauwetters‹153 umgestürzt, die neuen Regeln waren aber bis zum Anfang der 1970er Jahre noch nicht vollständig herausgebildet und festgestellt. Im Folgenden wird untersucht, wie man einige kulturelle Entwicklungen dieser Phase mithilfe des Begriffs ›Spiel‹ beleuchten kann, auf welche Weise der Spielbegriff in den Künsten des östlichen Europas aktualisiert wurde und welche Zusammenhänge, Verschiebungen und Unterschiede im Vergleich zur westlichen Kultur im Prozess dieser Aktualisierung hervortreten. Die Untersuchung geht davon aus, dass der wesentliche Unterschied zwischen den vergleichbaren künstlerischen Phänomenen im Westen und in Osteuropa vor allem in deren Funktion in der jeweiligen Gesellschaft lag154 und deshalb nur im Zusammenhang mit deren Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen herausgearbeitet werden kann. Darüber hinaus muss man im Auge behalten, dass diese Bedingungen in jedem osteuropäischen Staat voneinander abwichen, nach 153 Als Tauwetter-Periode bzw. die Phase der politischen Auflockerung galt in der Sowjetunion die Regierungszeit von Nikita Chruschtschow bzw. die Zeit ab seiner sog. Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 bis zu seinem Regierungsende im Jahr 1964. 154 Vgl. dazu Boris Groys, Die Musealisierung des Ostens. – Logik der Sammlung: Am Ende des musealen Zeitalters. München: Carl Hanser 1997, S. 154-166.

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außen hin ähnliche Erscheinungen in jedem Land je unterschiedliche Bedeutungen haben konnten155 und kein homogenes Forschungsobjekt bilden.

2.1 G ESELLSCHAFTLICHE

UND KULTURELLE

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Die spezifischen Charakteristika der 1960er Jahre in Osteuropa wurden hauptsächlich von zwei Faktoren bestimmt: einerseits von der Mitte der 1950er Jahre angefangenen Periode des Tauwetters in der Sowjetunion, andererseits von den Ergebnissen des Prager Frühlings im Jahr 1968.156 Der Einfluss der politischen Ereignisse auf die Kultur setzte in beiden Fällen mit einer Zeitverschiebung ein und hatte eine nachhaltige Wirkung auch dann, wenn die politischen Bedingungen sich bereits erneut geändert hatten. So ist eine generelle Auflockerung in der Kultur mit dem Beginn der 1960er Jahre zu beobachten, die teils bis zum Anfang der 1970er Jahre andauerte;157 während der 2. Hälfte der 1960er Jahre wurden aber sowohl die allgemeine Stimmung als auch die konkreten Entwicklungen in der Kultur von der sowjetischen Regierungsänderung bzw. von dem Ende der Tauzeit und von dem Geschehen des Prager Frühlings geprägt. In vielen Ländern bildete sich am Ende der 1960er Jahre die intensivste Zeit der künstlerischen Experimente heraus, deren Eigenart man einerseits auf das Zusammenfallen der widersprüchlichen Impulse in der sozialen Umwelt zurückführen, andererseits in Bezug auf die Kommunikationsmechanismen mit der westlichen Kultur verorten kann. Die Hoffnungen auf die gesellschaftlichen Veränderungen hatte man zu dieser Zeit noch nicht aufgegeben, mit den aktuellen politischen Wandlungen erwachten aber auch schon andere – ironische, zynische, verzweifelte – Haltungen und dieser Wahrnehmungskonflikt lud alle kulturellen Prozesse mit einer erhöhten Spannung auf. Darüber hinaus waren viele Phänomene in den Künsten von den ebenso vielfältigen Strömungen in der westlichen Kultur befruchtet, die Dynamik der Kommunikation mit dem Westen 155 Vgl. Piotr Piotrowski, Introduction. – In the Shadow of Yalta: Art and the Avant-garde in Eastern Europe 1945–1989. London: Reaktion Books, 2011, S. 10. 156 Mit dem Begriff ›Prager Frühling‹ bezeichnet man das im Frühjahr 1968 unter der Leitung von Alexander Dubček in der Tschechoslowakei vorgenommene politische und wirtschaftliche Liberalisierungsprogramm, das zum ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹ führen sollte; der Versuch wurde im August 1968 mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag niederschlagen. 157 Von einer struktureller Wandlung in der Kommunikation zwischen der offiziellen und inoffiziellen Kultur spricht man ab Mitte der 1970er Jahre, vgl. dazu: Andrei Erofeev, Nonofficial Art: Soviet Artists of the 1960s. – Primary Documents: A Sourcebook for Eastern and Central European Art Since the 1950s. Hg. Laura Hoptman, Tomáš Pospiszyl. New York: The Museum of Modern Art, 2002, S. 42.

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wurde vielschichtiger, die Verarbeitung der Informationen war gründlicher als in den früheren Jahren und richtete sich nicht nur auf die Annahme der äußerlichen Impulse, sondern auch auf deren aktive Aneignung und Umdeutung. Die 1960er Jahre, als eine besondere Phase in der Kultur der osteuropäischen Staaten, sind somit in erster Linie vor dem Hintergrund der politischen Auflockerung und im Zusammenhang mit dem Auftauchen der jungen Generation der Nachkriegszeit zu betrachten. Das Selbstbewusstsein dieser Generation bildete – wie auch im Westen – die intensive Orientierung an der Gegenwart und der Wille, sich von der traumatischen sozialen und kulturellen Atmosphäre der 1940er und 1950er Jahre zu entfernen. Die Unterstützung bei der Gestaltung der neuen Handlungsräume in den Künsten hat man sowohl von innen als auch von außen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der imaginären Zukunft gesucht und gefunden: Man identifizierte sich mit dem modernisierten Lebensstil und mit der Jugendkultur der 1960er Jahre, bekundete zum Teil das Interesse für die sogenannte wissenschaftlich-technische Revolution, suchte aber auch den Kontakt mit der presozialistischen Kultur und positionierte sich als Nachfolger des westlichen historischen Modernismus; man ging oft von der Auseinandersetzung mit lokalen gesellschaftlichen Bedingungen aus, fühlte sich dabei aber gleichzeitig zugehörig zu einem anderen – imaginären oder realen – kulturellen Umfeld. Diese ambivalente Dynamik entstand im östlichen Europa zwar aus spezifischen sozialen Gründen und hatte auch spezifische Ausdrucksformen, jedoch kann man hier auf eine allgemeine Parallelität mit der westlichen Kultur hinweisen: Sowohl die gesellschaftlichen als auch die künstlerischen Aktivitäten wurden spielerischer, weil man den Mut und die Möglichkeit hatte, die verschiedenen – bisher als unvermeidlich empfundenen – Grenzen auszutesten und neue Handlungsweisen zu erproben; in beiden Kontexten bewegte man sich in diesem Prozess zwischen dem Anspruch auf die vollkommene Präsenz und dem Drang, die vorgegebene Realität zu verlassen. Darüber hinaus ermöglichen die allgemeinen Haltungen der Generation der 1960er Jahre im Westen und in Osteuropa, Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Wahrnehmung der eigenen Tätigkeit zu finden, obwohl diese deutlich unterschiedliche Grundlagen hatten. Während man im Westen den ›karnevalistischen‹ Charakter der Jugendbewegungen mit der sogenannten Gesellschaft des Spektakels (in der die sozialen Prozesse und Verhältnisse von der performativen Kraft – und nicht Wirkungskraft – der Handlungen bestimmt sind) in Verbindung gebracht hat, kann man dieselbe Neigung zu den demonstrativen, rhetorischen Gesten (ohne direkte Angriffe) in Osteuropa in Bezug auf die Komplexität der spätsozialistischen Gesellschaft und deren innere Paradoxien feststellen. In dieser Gesellschaft – während der letzten dreißig Jahre der sozialistischen Regierung und besonders ab dem Ende der 1960er Jahre – wurde das System schon überwiegend als ewig wahrgenommen; man hat kaum an die Möglichkeit der totalen Veränderung geglaubt und sich meistens eher mit konkreten Taktiken beschäftigt, die kleine Verschiebungen innerhalb

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des Systems – und im Zusammenspiel mit dem System – ermöglichten. 158 Die Angst vor direkten Repressionen, die den grenzüberschreitenden Tätigkeiten folgen konnten, hat sich (im Vergleich zu den früheren Dekaden) wesentlich verringert, parallel dazu haben sich aber auch statt der eindeutigen Entgegensetzung bzw. Trennung zwischen Konformismus und Resistance verschiedene gemischte, weitaus kompliziertere Positionen herausgebildet. Wenn man davon ausgeht, dass das Spiel immer eher eine Frage (›wie/was wäre, wenn …?‹) als eine Antwort ist, alles vorstellen, aber nur wenig feststellen kann, lassen sich viele sowohl alltägliche als auch künstlerische Aktivitäten in diesem Umfeld als spielerische Handlungen beschreiben, die in Bezug auf die eigentlichen Lebensbedingungen ausgelöst wurden und diese überschreiten wollten, aber wegen dieses Anspruchs auch immer an ihren alltäglichen Kontext gebunden blieben. Neben der spezifischen Spielhaftigkeit des Spätsozialismus kann man das Leben in einer totalitaristischen Gesellschaft auch metaphorisch als Spiel betrachten. Es war eine Gesellschaft, in der man sich nicht nur an die sozialen Rollen anpassen musste, sondern in der das Rollenmuster sehr begrenzt war und dessen Einhaltung streng kontrolliert wurde, in der fast alle individuellen und spontanen Reaktionen auf die Umwelt nur verborgen geäußert werden konnten und dadurch im sozialen Leben ein erhöhtes Spielgefühl entstand. Allerdings änderte dieses Doppelleben, in dem man öffentlich eine vorgeschriebene Rolle spielen musste und im privaten Raum sich auf die anderen Erkenntnisse bezog, auf Dauer die gesamte Realitätswahrnehmung und führte zu einer Denk- und Handlungsweise, bei der die zwei Lebensräume nicht mehr als ›echt‹ und ›falsch‹ zu unterscheiden waren, sondern zwei parallele Realitäten bildeten, in denen man sich gleichermaßen eingelebt hat. So spricht man besonders ab den 1960er Jahren vom sogenannten Doppeldenken in den sozialistischen Gesellschaften, wobei zwei gegensätzliche Denkweisen gleichwertig nebeneinander existierten 159 und wechselnd das alltägliche Verhalten bestimmten. Die allgemeinen sozialen und politischen Wandlungen in den osteuropäischen Staaten während der 1960er Jahre bildeten ein geeignetes Umfeld für dieses Doppeldenken: Die Entgegensetzung der öffentlichen und privaten Sphäre und die Unterschiede zwischen den beiden Lebensräumen waren nicht mehr so deutlich wie früher; einerseits wegen der politischen Auflockerung, die in der Öffentlichkeit mehr Freiheiten mit sich brachte, andererseits wegen der Modernisierung der Lebensweisen, die die privaten Räume umdeutete und enger (durch die modernen Kommunikationskanäle u.a.) mit dem öffentlichen Bereich verband. Somit erzeugte die gesellschaftliche Situation nicht mehr ein unvermeidliches Bedürfnis, sich auf 158 Vgl. dazu: Alexei Yurchak, Late Socialism: An Eternal State. – Everything Was Forever, Until It Was No More. Princeton University Press, 2005, S. 1-10. 159 Andrei Erofeev, Nonofficial Art: Soviet Artists of the 1960s. – Primary Documents, S. 41.

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der Achse Konformismus-Resistance eindeutig zu positionieren, sondern ermöglichte relativ fließende Übergänge je nach den konkreten Umständen.160 Natürlich charakterisiert das erhöhte Spielgefühl, die intensivierte Wahrnehmung der Spektakelhaftigkeit und Entfremdung des sozialen Lebens auch die westlichen Gesellschaften der Nachkriegszeit, in Osteuropa bildeten sich aber einige spezifische, teils paradoxe Umgangsweisen mit dieser Erkenntnis heraus. Die Bedrängnis der gegenwärtigen Gesellschaft, die sozialen Rollenspiele u.a. hat man hier meistens in Bezug auf die konkrete politische Situation und totalitaristische Regierung hin betrachtet (nicht als etwas im sozialen Leben Unvermeidliches wie laut der westlichen kritischen Theorien) und geglaubt, dass diese Bedrängnis irgendwo – in einer freien Gesellschaft, im Westen – überwindbar ist. Die Vorstellung von einer ›anderen Welt‹, die sowohl westliche als auch osteuropäische Kultur der 1960er Jahre prägte, hatte in Osteuropa eine grundsätzlich andere Bedeutung als im Westen – diese Welt wurde nicht als vollkommen imaginär, sondern als etwas schon (in der westlichen Gesellschaft) Existierendes wahrgenommen. Da die Überwindung der Bedrängnis und das Erreichen dieser ›anderen Welt‹ aber auf unbestimmte Zeit verschoben war, hatte die Vorstellung davon in den meisten kulturellen Prozessen zwar eine wichtige, aber auch relativ statische Rolle. Die andere Welt war ›echter‹, aber immer abwesend, im Vergleich zu diesem imaginären Leben wurden die alltäglichen Praktiken in der sozialistischen Gesellschaft oft als spielhaftig wahrgenommen, doch dies waren die einzigen Praktiken, die den eigentlichen Lebensraum gestalteten – bis das Mitspielen nicht mehr von direkten Handlungen zu unterscheiden war. Auf eine andere Weise hatte das Spiel bzw. die Spielformen im Sinne vom Wettkampf – vor allem die politisierten Sportspiele – eine zusätzliche Bedeutung in der Ideologiebildung der Sowjetunion und im weiteren Kontext des Kalten Krieges. Besonders die Olympischen Spiele und die Schachturniere zählten zu den wichtigsten Veranstaltungen im Propagandakrieg für die beiden Blöcke bzw. Supermächte; als Darstellung des institutionalisierten, kodierten Krieges161 brachten diese einige Grundlagen der Dynamik des Widerstandes zwischen dem Westen und Osten zum Ausdruck. Das symbolische Kapital, die verschiedenen Formen der Machtdemonstration durch scheinbar depolitisierte Kanäle waren ebenso wichtige – manchmal auch wichtigere – Faktoren in den Strategien des Kalten Krieges als die direkten politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Handlungen. Diese symbolischen 160 Beispielsweise konnten dieselben Künstler sich sowohl an der offiziellen als auch an der inoffiziellen Kunstszene beteiligen; ebd., S. 42. 161 Zum Schachspiel als »game of the state«, »institutionalized, related, coded war« vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Treatise on Nomadology. – A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1987, S. 352.

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Strategien beinhalteten auch die Bestätigung der Freundschaft und der friedlichen Koexistenz, die sowohl durch die Sportwettkämpfe als auch durch verschiedene Kulturaustauschprogramme zwischen dem West- und Ostblock seit dem Ende der 1950er Jahre ausgestellt wurde. In diesen Fällen fand das Spiel auf zwei Ebenen statt, die konkreten Spiele wurden ein Teil eines größeren Spiels und hatten eine öffentliche und eine verdeckte Bedeutung: Öffentlich bezeichneten sie die friedliche Koexistenz, die sich durch die freundschaftlichen Spiele äußert, verdeckt den ständigen Wettkampf, der in allen Bereichen und durch alle Aktivitäten stattfand. Somit spielte man auch mit dem Phänomen ›Spiel‹ und nutzte dessen besonderen Charakter aus: Als etwas Nicht-Ernstes führten die Spiele nicht zu direkten Auseinandersetzungen, wegen ihrer hohen Ausdruckskraft waren sie aber ein effektives Mittel für die symbolische Befestigung der Machtpositionen. Das Spiel, das in den Künsten der 1960er Jahre als eine wertvolle und produktive Tätigkeit hervorgehoben wurde, hat man sowohl in der westlichen Kultur als auch in Osteuropa meistens als Gegensatz zu den staatlichen und gesellschaftlichen korrumpierten Spielen verstanden. Die allgemeine spielerische Atmosphäre des Kalten Krieges hatte möglicherweise einen Einfluss für die Suche und Entdeckung des echten, ›authentischen‹ Spiels und führte vom Wettkampf (agôn) und der Verstellung (Mimikry) zu unkontrollierten, fließenden und spontanen Spielformen (alea und ilinx). Im Westen wie in Osteuropa entstand das Interesse für das freie Spiel als eine Reaktion auf die bedrängenden gesellschaftlichen Mechanismen und als ein möglicher Weg zur Befreiung von diesen. Im Rahmen dieser ähnlichen Grunddynamik stellt sich jedoch die Frage, ob wegen der Unterschiede im sozialen Umfeld, im Funktionieren der westlichen und osteuropäischen Gesellschaften auch die Befreiung von deren Normen und Rahmen unterschiedlich gedacht wurde, ob und wie das Spielverständnis in den Künsten von den sozialen Bedingungen abhängig war und wie sich vor diesem Hintergrund die Interpretationen des Spiels im Westen und in Osteuropa zueinander verhielten? Bei diesen Fragen ist natürlich zu beachten, dass viele Ausdrucksformen des Spiels in den Künsten der 1960er Jahre – die Happenings, Performances, Theaterexperimente – in Osteuropa erst im Nachhinein und überwiegend in Bezug auf die paradigmatische Änderung bzw. Performativierung und Entgrenzung der Künste im Westen beschrieben, betrachtet und bewertet wurden. Die Gemeinsamkeiten und direkten Kontakte mit dieser paradigmatischen Veränderung im Westen kann man bezüglich der Entwicklungen in den osteuropäischen Kulturen nicht beiseitelassen, allerdings muss man diesen Rahmen auch ständig hinterfragen und im Auge behalten, dass es bei der Analyse der konkreten Phänomene nicht nur produktiv, sondern manchmal auch verhindernd wirken kann. Die Kulturgeschichte der sozialistischen Länder hat man nach der Wende meistens im engen Zusammenhang mit der westlichen Kultur beschrieben und entweder die Unterdrückung der ›natürlichen‹ Entwicklungen in der totalitaristischen Gesell-

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schaft betont oder – wo möglich – die trotz der politischen Spaltung entstandene Parallelität in den Kulturen der West- und Ostblock-Staaten hervorgehoben. Besonders die 1960er Jahre ermöglichen es, viele Phänomene in den Künsten Osteuropas auf das westliche Modell zurückzuführen, sowohl aufgrund der äußeren Ähnlichkeit als auch der ideellen Orientierung der osteuropäischen Künstler. Zu dieser Zeit fand eine – zwar begrenzte und gestörte, aber immerhin befruchtende – gegenseitige Öffnung zwischen den zwei Blöcken statt, darüber hinaus waren die westlichen und osteuropäischen Gesellschaften in den 1960er Jahren noch nicht so grundsätzlich voneinander entfernt (wie am Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre), dass während der direkten oder indirekten Kommunikation vermittelte Information zumindest teilweise von beiden Seiten gleichermaßen verstanden wurde. Somit basiert eines der Grundkonzepte in der Betrachtung der osteuropäischen Kultur der 1960er Jahre auf der Vorstellung einer verstecken Zusammenhörigkeit mit dem Westen und auf der Behauptung, dass trotz der Anforderungen der offiziellen Ideologie in den Künsten in Osteuropa inoffiziell oder ›halb-offiziell‹ dieselben Richtungen verfolgt, dieselben Ideen ausgeführt wurden wie in der westlichen Kultur, und dass durch diese Verknüpfungen die osteuropäische Kultur dieser Zeit am deutlichsten zu definieren ist. Das andere, gleichermaßen einflussreiche Konzept geht allerdings von gegensätzlichen Grundlagen aus und bezieht sich auf die Annahme der ›Abwesenheit‹ und Eigenständigkeit Osteuropas, auf die Vorstellung, dass die der offiziellen Kultur entgegengesetzten Phänomene größtenteils unabhängig von westlichen Vorbildern entstanden, entweder ausgehend vom spezifischen Kontext und der Konfrontation mit der offiziellen Kultur oder aufgrund der ›universalen‹ Logik in der Entwicklung der Künste, die die totalitaristische Regierung nicht völlig unterbinden konnte. Auch wenn die beiden Konzepte meistens kombiniert oder abwechselnd verwendet werden, kommt in deren Auseinandersetzung ein sprechendes Leitmotiv in der Geschichtsschreibung der sozialistischen Zeit zum Vorschein: das während des Kalten Krieges formierte ›Regime des Wissens‹, demgemäß – ausgehend von den grundlegenden binären Oppositionen – die gesellschaftliche und kulturelle Dynamik des sowjetischen Blocks im Gegensatz zum Westen artikuliert wird. 162 Obwohl es auch im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, über diese Oppositionen vollständig hinauszukommen, lässt sich vermuten, dass sie bei einer näheren Betrachtung der konkreten kulturellen Phänomene und Ideen zumindest einigermaßen aufgelöst werden könnten. Die Besonderheit und Produktivität des Spielbegriffs in der Analyse der Kultur der 1960er Jahre besteht unter anderem in dessen nicht-zentraler, aber dynamischer Position: Es gibt keine Strömungen in den Künsten, die sich diesen Begriff fest angeeignet hätten oder die später mithilfe des Spielbegriffs konzeptualisiert worden wären. ›Das Spiel‹ tauchte in verschiedenen Kontexten und mit abwechselnden 162 Alexei Yurchak, Late Socialism: An Eternal State, S. 4-8.

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Bedeutungen auf, viele Erscheinungen in der Kultur der 1960er Jahre lassen sich mit dem Spielphänomen in Verbindung bringen, waren aber immer auch mit anderen aktuellen Ideen verknüpft, wobei die spielerischen Praktiken oft als Bindeglied funktionierten. Somit war ›das Spiel‹ in den 1960er Jahren weder im Westen noch in Osteuropa ein etablierter künstlerischer Begriff und hat auch im Nachhinein in der Kunstgeschichtsschreibung als ein Instrument der Analyse keine breite Anwendung gefunden. Dementsprechend lässt sich kein eindeutiges und dominierendes – westliches – Modell für die Betrachtung des Spielphänomens in den Künsten feststellen, das als Vorbild oder als Gegensatz in Bezug auf die sekundären – osteuropäischen – Erscheinungen fungieren könnte. In beiden Kontexten kommt ›das Spiel‹ in einer gleichermaßen fließenden und mehrdeutigen Bedeutung vor und im Allgemeinen scheint es gewinnbringender, die Knotenpunkte zwischen den konkreten Definitionen und Praktiken zu analysieren als allumfassende Deutungsfelder zu konstruieren. Trotzdem darf man einige interessante Parallelen und Wandlungen in den generellen Spielimpulsen in den westlichen und osteuropäischen Kulturen nicht unberücksichtigt lassen. Die im ersten Kapitel geschilderten allgemeinen Ansprüche der gesellschaftlichen und künstlerischen Bewegungen der 1960er Jahre im Westen kann man ebenso in den osteuropäischen Ländern verfolgen, allerdings bildeten sich hier – vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen der offiziellen, halb-offiziellen und inoffiziellen Kultur – einige besondere Realisierungsformen dieser Ansprüche heraus. Die Orientierung an einem spontanen, totalen, befreienden Akt war einer der wichtigsten Ausgangspunkte auch für die ersten Happenings und für andere performative Kunstformen in Osteuropa: Man strebte nach Präsenz, nach dem Gefühl eines authentischen Daseins und nach dem unmittelbaren Kontakt mit Räumen und Objekten, nach der Offenheit für den Fluss der Zufälle. Darüber hinaus waren die Abläufe und Rezeptionsbedingungen der Happenings von einer Auseinandersetzung mit den Grenzen der offiziellen Kultur geprägt. Da diese Grenzen in verschiedenen osteuropäischen Ländern unterschiedlich angelegt waren und nicht einheitlich funktionierten, hatten die künstlerischen Aktionen an verschiedenen Orten auch verschiedene Grundlagen und Wirkungsmechanismen, die aber im Vergleich zu den westlichen Happenings fast immer zu anderen Ergebnissen führten und spezifische Bedeutungen erzeugten. Unter den Bedingungen der strengeren staatlichen Kontrolle (vor allem in Russland) konnte man diese Aktionen meistens nur in geschützten, versteckten, privaten Räumen und im kleinen Kreis von Vertrauten ausführen. Wenn man im Westen bei den frühen Happenings die Einmischung mit dem alltäglichen Leben anstrebte, führten ähnliche Aktivitäten in Osteuropa oft zur Isolation und Entfernung von jeglichem Publikum. Paradoxerweise war der unmittelbare Kontakt mit dem ›Leben‹ – ein Ausbruch von den Grenzen der künstlerischen Tätigkeit – ein wichtiges Ziel auch für die isolierten Ereignisse der frühen osteuropäischen Aktionskunst. ›Das Leben‹ bedeutete in diesem Fall aber häufig ein imaginä-

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res ›echtes‹ Leben, das mit dem sozialistischen Alltag nichts zu tun hatte und dementsprechend auch nicht durch öffentliche Straßenaktionen erreicht werden konnte. In einigen sozialistischen Staaten, besonders in Polen und Jugoslawien, wo die offiziellen Kontrollmechanismen relativ viel Bewegungsraum erlaubten, konnte man die Happenings und Performances ohne direkte Verbote und Repressionen auch öffentlich oder halb-öffentlich ausführen, jedoch hätte die offizielle Kritik auf solche Ereignisse nur mit einer heftigen Beleidigung reagieren können. Die komplexesten sind aber die Aktionen, bei denen man am Rande der Sichtbarkeit agierte und teilweise auch die Subversivität des Systems ausnutzte; in diesen Fällen waren künstlerische Experimente nicht offiziell erlaubt, aber manchmal unter festgelegten Bedingungen toleriert (oder ignoriert), wenn sich diese nicht zu auffällig oder zu herausfordernd gestalteten. Die Grenzen dieser Aktivitäten wurden somit im Zusammenspiel mit dem System ausgehandelt, deren Ansprüche und Bedeutungen entstanden nicht in der Isolation und in Bezug auf das Imaginäre, sondern zwischen den öffentlichen und privaten Räumen, wobei man die Wahrheiten und Verhaltensnormen beider Seiten zur Kenntnis genommen und abwechselnd verfolgt hat. Dem Spiel eigene Dialektiken – die Suche nach Authentizität und das Gefühl der Entfremdung, die Einbindung des Konkreten und die Ausweitung der Fantasie – waren unter den Bedingungen des sozialistischen Regimes möglicherweise stärker ausgeprägt als in der westlichen Kultur, die Entgegensetzungen und deren Gründe einerseits klarer, andererseits auch mehrdeutiger. Besonders gegen Ende der 1960er und am Anfang der 1970er Jahre wurden viele von der Tauzeit erwachte, anfänglich von Optimismus und Offenheit begleitete kulturelle Entwicklungen ziemlich ambivalent. Man kann sagen, dass nach dem Prager Frühling die spätsozialistische gesellschaftliche Dynamik (die Wahrnehmung der Ewigkeit des Systems, die Praktiken des Doppeldenkens u.a.) befestigt wurde; man ging nicht mehr davon aus, dass der generelle Spielrahmen wesentlich zu verschieben ist, sondern konzentrierte sich auf die möglichen Umdeutungen und auf die dynamischen Positionierungen in diesem Rahmen. Neben dem Doppeldenken, in dem die zwei gegensätzlichen Denkweisen einander spielerisch ablösten, entwickelten sich in diesem Umfeld auch andere Formen des spielerischen ›consciousness of doubleness‹. Ilya Kabakov schildert in Bezug auf Künstlertexte in der Sowjetunion eine besondere Art der Selbstbeschreibung – die Herausbildung einer imaginären äußerlichen Perspektive, deren Gründe in der scheinbaren Vollkommenheit und Endgültigkeit der sowjetischen Gesellschaft lagen: »Under these conditions a unique genre of ›selfdescription‹ emerged, whereby the author would imitate, re-create that very same ›outside‹ perspective of which he was deprived in actual reality. He became simultaneously an author and an observer«.163

163 Ilya Kabakov, Foreword. – Primary Documents, S. 7-8.

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Die gedoppelte und gespaltene Wahrnehmung der eigenen Tätigkeit, der Versuch, diese einerseits mit der unmittelbaren Umgebung zu verbinden, andererseits in einem vollkommen anderen Kontext vorzustellen (in einem Kontext, der oft als wichtiger und für diese Tätigkeit geeigneter erachtet wurde, obwohl dieser immer unerreichbar blieb), scheint die osteuropäische Neo-Avantgarde auch generell zu charakterisieren und kann als einer der grundlegenden Faktoren in deren Spezifik gelten. Die meisten halb-offiziellen oder inoffiziellen künstlerischen Praktiken waren von einer besonderen Kombination der realen und imaginären Bedeutungs- und Wirkungsebenen geprägt: Sie sind von einem konkreten Kontext ausgegangen, wurden da ausgeführt und – unter größeren oder kleineren Einschränkungen – rezipiert, gleichzeitig waren sie aber auch vom Glauben der Künstler und des Publikums gelenkt, wonach diese Praktiken sich an einer ›universalen‹ (westlichen) Kulturproduktion beteiligen,164 in diesem imaginären Kontext ausdrucksfähig sein sollten und sich eben dadurch auch von deren eigentlichem Kontext befreien. Somit bildeten sich in den Künsten komplizierte und mehrschichtige Kommunikationsmechanismen heraus: Die Botschaften wurden in Bezug auf das konkrete Umfeld (oft auch zwischen den Zeilen) erzeugt und angenommen, daneben hat man aber auch in und mit einer höheren Dimension kommuniziert, die zwar relativ unbestimmt war, aber umso mehr Fantasien auslöste und vielfältige Möglichkeiten bot, über die bedrängenden gesellschaftlichen Bedingungen und den banalen sowjetischen Alltag hinauszuwachsen: »Deprived of a genuine viewer, critic, or historian, the author unwittingly became them himself, trying to guess what his works meant ›objectively‹. He attempted to »imagine« this very ›History‹ in which he was functioning and which was ›looking‹ at him«.165 Vor diesem Hintergrund lässt sich noch ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der westlichen und osteuropäischen Neo-Avantgarde beschreiben. In den Künsten des Westens entstanden viele neue Richtungen in den 1960er Jahren – besonders diverse performative Praktiken – als Gegensatz zu der institutionalisierten Kultur, mit dem Anspruch, aus deren etablierten Rahmen und Räumen auszubrechen, außerhalb ihrer neue Energie und neue Wirkungsfelder zu finden, und sich von den konventionellen Definitionen des Kunstwerkes zu befreien. In den Künsten Osteuropas kann man zum Teil eine vergleichbare Auflösung der etablierten Formen und verschiedene Grenzüberschreitungen beobachten, daneben wurde aber auch »die Belebung der Kultur« angestrebt,166 was in erster Linie bedeutete, dass man den während des Stalinismus abgebrochenen Kontakt mit der Geschichte der 164 Piotr Piotrowski, Conceptual Art between Theory of Art and Critique of the System. – In the Shadow of Yalta, S. 317. 165 Ilya Kabakov, Foreword. – Primary Documents, S. 8. 166 Vgl. dazu Andrei Erofeev, Nonofficial Art: Soviet Artists of the 1960s. – Primary Documents, S. 47.

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modernen Kunst wiederherstellte und sich daran orientierte. Somit bedeuteten ›Tradition‹ und ›(Kunst)Geschichte‹ im osteuropäischen Kontext nicht (nur) eine Beschränkung, die die künstlerische Tätigkeit von einer spontanen, unmittelbaren Auseinandersetzung mit der aktuellen Umgebung abhält, sondern auch eine Befreiung von dieser Auseinandersetzung und einen Gegensatz zu den Erfordernissen der offiziellen Ideologie, die eine direkte Beteiligung der Künstler an der kommunistischen Aufbauarbeit verlangte. Der Kontakt mit dem Alltagsleben hatte unter diesen Bedingungen zwei gegensätzliche Bedeutungen, die im neoavantgardistischen Diskurs grundsätzlich unterschiedlich eingeschätzt wurden: Die Idee von der Kunst, die inmitten des Alltagslebens entsteht und ungefiltert ihre Wirkung besitzt, wurde mitunter verfolgt, die Berührungen mit der offiziellen Ideologie aber vermieden, obwohl es fast unmöglich war, ohne Begegnung mit dieser Ideologie inmitten des Alltags zu agieren. In dieser Konfrontation der zwei entgegengesetzten Bestrebungen – die künstlerischen Aktivitäten mit dem Alltag zu vermischen und durch die künstlerischen Aktivitäten den Alltag zu verlassen – bildeten sich künstlerische Positionen heraus, die verschiedene (sowohl aus der westlichen Kultur übernommene als auch vor Ort entstandene) künstlerische Strategien zu einer Synthese brachten. Sogar wenn die Quellen und Inhalte dieser Strategien einige Widersprüche aufzeigten, wurden die im Rahmen der größeren gesellschaftlichen Konstellationen (im Hinblick auf die Ablehnung der offiziellen Kunst) als integrierbar wahrgenommen. Darüber hinaus hatten auch einige neuen Grundlagen der sowjetischen Ideologiebildung auf die Neo-Avantgarde einen bemerkenswerten Einfluss, besonders die Idee der wissenschaftlich-technischen Revolution, die ihre Wirkung nicht nur in der Industrie und in der Wirtschaft, sondern auch in den allgemeinen Denkund Handlungsweisen und in der Selbstwahrnehmung des Menschen ausübte. Somit kann man in den Künsten in diesem Kontext nebeneinander stehende, manchmal auch miteinander verbundene Ansprüche beobachten: die Flucht in das imaginäre Reich der ›Kultur‹ und Orientierung am Alltäglichen, das Interesse an den modernisierten Lebensweisen und die Suche nach universalen Quellen der kreativen Tätigkeit. Wenn auch die Prozesse in den Künsten im Westen zu dieser Zeit mehrschichtig waren, kann man bezüglich der osteuropäischen Neo-Avantgarde doch auch eine spezifische Heterogenität – sowohl in Formen, ideologischen Ansätzen als auch in den allgemeinen Haltungen – erkennen, die von dieser besonderen gesellschaftlichen und kulturellen Dynamik geprägt war. Wenn der Begriff ›Kultur‹ im osteuropäischen Kontext der 1960er Jahre verschiedene Bedeutungen hatte und neben der Entgrenzung der Künste auch die Aufbewahrung und Fortsetzung der modernistischen Tradition angestrebt wurde, kann man eine ähnliche Zwiespältigkeit auch in Bezug auf ›Politik‹ und auf deren Verhältnis zu den künstlerischen Tätigkeiten festhalten. Die Diskussionen über Autonomie und Engagement der Kunst, die Auseinandersetzungen mit den individuellen/existentiellen und kollektiven/politischen Ansprüchen, die die westliche Neo-

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Avantgarde geprägt haben, fanden auch in Osteuropa Ausdruck, allerdings hat man die neomarxistischen Ansichten der westlichen 1960er-Generation in Osteuropa mit großer Skepsis betrachtet.167 Aufgrund der gesellschaftlichen Situation wurden einige grundlegende Ideen bezüglich der Kunst und deren Funktion im Westen und in Osteuropa unterschiedlich verstanden: Die Rhetorik des Universalismus hat man im Westen während der 1960er Jahre überwiegend als repressiv, in Osteuropa als befreiend empfunden, die Idee der Autonomie der Kunst bezeichnete im Westen die Unterdrückung der politischen Kritik, in Osteuropa manifestierte sie den Widerstand der offiziell engagierten Kultur, die Ideologie des Humanismus wurde im Westen einer Verschleierung des Machtsystems beschuldigt, in Osteuropa hatte man sie als Resistance gegen den Anti-Humanismus des kommunistischen Regimes bewertet.168 Neo-Avantgarde als kritischer Diskurs hatte in diesen zwei Kontexten nicht nur einen unterschiedlichen Inhalt, sondern auch eine grundsätzlich andere Funktion. Im Westen wurde die ›Freiheit‹ des Künstlers (im Sinne von Entfernung vom Alltag) abgelehnt und das politische Potential der Kunst wiederentdeckt, in den überpolitisierten sozialistischen Gesellschaften hatte man die explizit politischen Stellungsnahmen vermieden (obwohl jede Aktivität implizit politisch war) und die anscheinend depolitisierten Konzepte der individuellen Freiheit der offiziellen Ideologie gegenübergestellt. Diese Konzepte basierten oft auf allgemeinen Einstellungen und philosophischen Hintergründen, die mit einer Zeitverschiebung aus der westlichen Kultur der Nachkriegszeit übernommen wurden – auf den existenzialistischen Impulsen und metaphysischen Ansprüchen, auf dem Nihilismus und auf dem Absurditätsgefühl. Zugleich wurden sie aber bereits mit den ambivalenten (ironischen, zynischen) Haltungen verknüpft, die die Jugendkultur und die neuen Kunstrichtungen der 1960er Jahre charakterisiert haben. Einerseits hat man an die universale Ausdrucksfähigkeit der künstlerischen Tätigkeit geglaubt, und man versuchte dadurch einen zeit- und ortsübergreifenden freien Handlungsraum – als Gegensatz zur korrumpierten Politik und zum banalen Alltag – zu schaffen. Andererseits vermied die osteuropäische Neo-Avantgarde oft ernsthafte Statements und kultivierte Selbstironie,169 besonders in den Ländern, in denen die staatliche Kontrolle strenger war und die aussichtslose Position der inoffiziellen Kunst entweder als tragisch oder als tragikomisch wahrgenommen werden konnte. Die erwünschte Beteiligung an einer universalen Kulturproduktion und der eigentlich sehr begrenzte Bewegungsraum führten dazu, dass man sich während der Herausarbeitung des imaginären Umfelds 167 Vgl. dazu Piotr Piotrowski, The Critique of Painting: Towards the Neo-avant-garde. – In the Shadow of Yalta, S. 179. 168 Ebd., S. 179, 226. 169 Andrei Erofeev, Nonofficial Art: Soviet Artists of the 1960s. – Primary Documents, S. 44.

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ständig mit den Spiegelungen der eigenen Fantasien und Vorstellungen traf: »[…] to pass from the profane environment to the spiritual sphere, to rise above everyday life, one had to make an imaginative trip in time and space and enter into a dialogue with one’s own alter ego«.170 Die künstlerischen Praktiken, bei denen man einen spontanen Akt, ein auf den unmittelbaren Kontakt mit der Umgebung orientiertes und bedingungsloses Einleben in die Situation anstrebte, hatten fast immer zwei gleichzeitig bestehende Rahmen, deren Parallelität die Ansprüche und Formen dieser Praktiken geprägt hat. Die Aktivitäten bzw. Ereignisse erwuchsen aus einer konkreten Umwelt, führten ihre Wirkung durch die konkreten Handlungen aus und besaßen ihre Bedeutung hauptsächlich in Bezug auf den konkreten Kontext. Die impliziten oder expliziten Botschaften dieser Ereignisse waren aber sowohl auf das (eventuelle) konkrete Publikum als auch auf das imaginäre Publikum gerichtet. So hatten die frühen Happenings und Performances im östlichen Europa oft eine breitere symbolische Dimension als im Westen, sogar wenn daneben die Auseinandersetzung mit der konkreten Umgebung häufig durch das Testen der Grenzen zwischen dem Erlaubten und Verbotenen intensiviert wurde. Man kann innerhalb der Taktiken und Ausdrucksweisen der performativen künstlerischen Praktiken in Osteuropa die Entwicklung einer besonderen symbolischen Sprache verfolgen, eine durch die ambivalenten gestischen Narrative und durch die verschobenen Bezeichnungen erzeugte spezifische Kommunikationsweise unter den Bedingungen der totalitaristischen Gesellschaft.171 Als Gegensatz zu der verbal orientierten offiziellen Kultur, die klare Botschaften verlangte und jede Uneindeutigkeit ausschloss, waren diese ambivalenten Akte und Ereignisse einerseits immer schon von sich aus politisch positioniert, andererseits mit mehrdeutigen rhetorischen Gesten gemischt. Den Charakter dieser Gesten kann man mindestens zweifach mit dem breiteren gesellschaftlichen Hintergrund des Spätsozialismus verbinden. Zum einen adaptierte man in dieser Zeit eine besondere Form zweischichtiger Kommunikation, bei der man in den äußerlich ideologisch korrekten Texten ›zwischen den Zeilen‹ andere Botschaften auszudrücken versuchte. Allerdings konnten diese versteckten Botschaften nur selten als konsequent generiert und rezipiert werden und hatten häufig in erster Linie eine subversive Funktion, wodurch die direkten Aussagen des Textes verborgen hinterfragt wurden. Das Etablieren dieser Kommunikationsweise führte auf Dauer zu einer Situation, in der der Raum zwischen den Zeilen so dicht mit versteckten Botschaften gefüllt war, dass sie einzeln fast unlesbar wurden, aber insgesamt eine sehr intensive Ausdruckskraft besaßen und ein Gefühl höherer Bedeutsamkeit erzeugten: »[…] there is some sort of nervousness, a desire to »break free,« to utter some long-known truth that seems 170 Ebd., S. 48. 171 Kristin Stiles, Performance Art. – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 687.

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to be brewing in them. These are texts in which the author wishes to express ›everything‹, […]«.172 Der Wunsch, ›alles‹ zum Ausdruck zu bringen bzw. auf die vielen großen Themen und Fragen hinzudeuten – aber doch relativ vorsichtig und abstrakt, so dass man das nicht direkt ideologiefeindlich interpretieren konnte –, lässt sich sowohl in den Praktiken des Schreibens (bzw. in der Literatur und in der Kritik) als auch in den künstlerischen Aktivitäten der 1960er Jahre beobachten. Paradoxerweise fand sich diese Dynamik auch da, wo man sowieso nicht die offizielle Anerkennung anstrebte und nur in einem kleinen Kreis der Beteiligten/Betrachter tätig war – so trat der generelle Habitus der offiziellen gesellschaftlichen Kommunikation auch in die (halb-)verborgenen Handlungsräume ein, in denen man eigentlich über die offiziellen Einschränkungen hinauszukommen versuchte. Zum anderen waren diese rhetorische Gesten bzw. die Demonstrativität einiger künstlerischer Ereignisse vermutlich zum Teil auch von der generellen Atmosphäre der spätsozialistischen Gesellschaft beeinflusst: Es scheint, dass die Neo-Avantgarde in diesem Kontext nicht nur die verborgenen ›authentischen‹ oder konzeptuellen Aktionen den großzügigen, aber entfremdeten sozialen Ritualen entgegengesetzt hat, sondern manchmal auch einiges von den offiziellen performativen Praktiken übernahm, deren Pathetik und ambitiöse Aufführungen auf eine ambivalente Weise in Bezug auf eigene Inhalte und Ziele umsetzte. Die Auseinandersetzung mit der Sprache und die Hinwendung zum körperlichen Dasein, die beide in der westlichen Kultur verschiedene performative und spielbezogene künstlerische Aktivitäten in Gang setzten und zum Teil eine dialektische Dynamik der Sprachlichkeit und Körperlichkeit herausbildeten, wurden im osteuropäischen Kontext von einigen zusätzlichen bzw. unterschiedlichen Faktoren geprägt. Das Misstrauen gegenüber der Sprache und die Wahrnehmung ihrer Entfremdung hatten einerseits deutliche gesellschaftliche Gründe, obwohl auch beispielsweise die Philosophie des Existenzialismus einen wichtigen Einfluss auf diese Wahrnehmung hatte. Die indirekte Kommunikation ›zwischen den Zeilen‹, die Spaltung zwischen den offiziell autorisierten und eigentlich erwünschten Aussagen machte den Umgang mit der Sprache in dieser Umwelt bereits an sich spielerisch – sowohl im Sinne einer geregelten und begrenzten Situation, in der das, was man sagt, ›nicht so gemeint ist‹, als auch im Hinblick auf die möglichen subversiven Taktiken innerhalb dieser Regeln. So war das Interesse für die Neugestaltung der Sprache bzw. für die konzeptuellen Sprachspiele in der Kunst Osteuropas im Vergleich zu denen des Westens geringer und die körperlichen – entweder auf die Präsenz oder auf die Symbolisierung orientierten – Vollzüge dienten als eine klare Entgegensetzung zur korrumpierten sprachlichen Kommunikation. Andererseits besaßen einige Texte eine sehr wichtige Rolle in Bezug auf die Entwicklung der osteuropäischen Neo-Avantgarde – vor allem diejenigen, die schwer zugängliche 172 Ilya Kabakov, Foreword. – Primary Documents, S. 7.

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Informationen aus der Außenwelt bzw. aus dem Westen beinhalteten, oder etwa die sogenannten Samizdat-Publikationen, die einen direkteren Austausch im kleinen Kreis ermöglichten. Diese Texte wurden meist ernst genommen, sorgfältig und vertrauensvoll gelesen. Hier wurde die Sprache als adäquater Vermittler der Erfahrungen und Ideen nicht hinterfragt, sondern man vertraute der ›Kraft des Wortes‹. Auf dieser Ebene hat man dementsprechend nicht die Neugestaltung oder die Dekonstruktion der Sprache, die Neubewertung der sprachlichen Kommunikation an sich als nötig empfunden und verlangt, sondern weitaus pragmatischer die Möglichkeit angestrebt, frei zu sprechen. Vor diesem Hintergrund kann man teilweise auch in den rein körperlichen Aktionen der Happenings, Performances oder der Theaterexperimente im östlichen Europa stärkere literarische Konnotationen beobachten – die Hinweise auf die Inhalte, die eigentlich verbalisierbar sind, aber unter den Umständen unausgesprochen bleiben müssten. Im Vergleich zu verschiedenen Ansichten der westlichen Neo-Avantgarde, die das Misslingen der sprachlichen Kommunikation im Ganzen als Ausgangspunkt nahmen und deswegen durch die körperliche Präsenz eine authentischere Ausdrucksmöglichkeit suchten, war es in Osteuropa oftmals eher die Behinderung sprachlicher Kommunikation, die zu den körperlichen Aktionen führte; die Körperlichkeit wurde nicht immer als Gegensatz, sondern oft auch als Ersatz der Sprachlichkeit betrachtet. Auch der Anspruch auf ›Totalität‹ der Handlungen und Erfahrungen, die die 1960er-Generation sowohl im Westen als auch in Osteuropa charakterisierten, wurde im letzten Fall mit den besonderen gesellschaftlichen Bedingungen konfrontiert. Während der Modernisierung des sozialistischen Realismus und der Ausweitung des Rahmens offizieller Kunst wurde in der Sowjetunion in den 1960er Jahren unter anderem auch die Idee der Synthese der Künste, eines sozialistischen Gesamtkunstwerks wiederbelebt und in den monumentalen architektonischen, skulpturalen u.a. Projekten umgesetzt. Das totale Kunstwerk bedeutete laut der offiziellen Ideologie die Gestaltung des neuen, modernen Lebensraumes, wobei die verschiedenen künstlerischen Disziplinen zur Synthese gebracht und die Idee der kollektiven Arbeit der Künstler fortgesetzt wurden. Die Totalität, die die neoavantgardistischen künstlerischen Praktiken beanspruchten, hatte zumeist gegensätzliche Ausgangspunkte, obwohl einige (jedoch unterschiedlich verstandene) Begriffe und Leitmotive in den beiden ideologischen Kontexten vertreten sind. In der Neo-Avantgarde wurde nicht auf die kumulative Vereinigung der verschiedenen künstlerischen Mittel gezielt, sondern man löste vielmehr die einzelnen Disziplinen auf. Die Totalität sollte nicht durch den Umfang, sondern durch die Konzentration, durch den einzelnen Vollzug entstehen und nicht statisch verankert, sondern dynamisch erlebt werden. Kollektivität verstand man nicht als Summe individueller Beiträge oder als erzwungene Unterordnung unter ein übergeordnetes Ziel, sondern als freiwilligen Verzicht der individuellen Autorschaft. Sowohl die konzeptuellen als auch körperlichen Strategien der Neo-Avantgarde waren im Gegensatz zur Synthese der Künste

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destabilisierend hinsichtlich der etablierten gesellschaftlichen Strukturen, der kulturellen Normen und Denkmodelle. Man darf hier auch nicht unberücksichtigt lassen, dass selbst dann, wenn alle aus den vorgeschriebenen Rahmen gefallenen Kommunikations- und Verhaltensweisen von den totalitaristischen Regierungen als gefährlich betrachtet wurden, die körperlichen Aktionen – die unkonventionellen Handlungen ohne verbalisierte Botschaften – in diesem Kontext eine besondere Position einnahmen. Deren Uneindeutigkeit und Flüchtigkeit machte es oft schwierig, direkte Anklagen gegen sie zu erheben und setzte den streng geregelten und rationalen Kontrollmechanismen eine sporadische Irrationalität entgegen. Vor dem Hintergrund des totalitaristischen Körperkonzeptes – der politisierten und kollektivisierten Körperlichkeit – hat man häufig gerade den Körper als den Mittelpunkt eines spezifischen Diskurses des Widerstandes in den sozialistischen Staaten betrachtet.173 Die künstlerischen Praktiken, die auf den sprachlichen Ausdruck zugunsten der körperlichen Präsenz verzichteten, stellten einerseits die Unmöglichkeit des Sprechens durch die symbolischen Gesten oder eine impulsive Irrationalität dar, andererseits erhielten sie wegen der Verschiebung der Kommunikationsebene, der Verweigerung der sprachlichen Kommunikation in dieser Umwelt schon von sich aus eine politisch subversive Position. Der ›Spieltrieb‹, der während der 1960er Jahre in den Künsten im Westen als Reaktion auf die Bedrängnis der Gesellschaft und der Kultur erschien, bildete somit im osteuropäischen Kontext spezifische Eigenschaften heraus. Die Bedrängnis der Gesellschaft hat man nicht als unvermeidlich und überall existierend, sondern zumeist in Bezug auf die totalitaristische Gesellschaft wahrgenommen, die spielerischen Praktiken (innerhalb oder außerhalb der Künste) dienten in diesem Kontext als kleine Manifestationen individueller Freiheit. Häufig waren sie aber dabei von der Erkenntnis geprägt, dass sie in der Auseinandersetzung mit den eigentlichen Machtstrukturen kraftlos sind und ›nur ein Spiel‹ bleiben. Die dekonstruktiven oder destruktiven Ansprüche hinsichtlich der konventionellen und institutionalisierten Kultur, die im Prozess der Entgrenzung der Künste im Westen Ausdruck fanden, wurden in Osteuropa zwiespältig betrachtet, in einigen Fällen aufgenommen, in anderen abgelehnt. Die spielerischen Taktiken der Künste führten teilweise zur Erschaffung eines imaginären Raumes, der die Abgrenzung von der eigentlichen Umgebung ermöglichte (zum Hereinspielen in den sog. Elfenbeinturm der Kultur), teilweise zu den Interventionen ins Alltagsleben (zum Herausspielen aus den schützenden Grenzen der künstlerischen Tätigkeit). Die Position und Identität der frühen Happenings, Performances und anderen grenzüberschreitenden und experimentellen künstlerischen Aktivitäten in Osteuropa entstand im Spannungsfeld zwischen diesen gegensätzlichen Impulsen – Stabilisierung und Destabilisierung, Abgrenzung 173 Vgl. dazu: Body and the East: From the 1960s to the Present. Hg. Zdenka Badovinac. Cambridge, MA: MIT Press, 1999.

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und Intervention –, die sich manchmal durch die fließenden/spielerischen Übergänge überlagerten.

2.2 D AS S PIEL

UND DIE KÜNSTLERISCHEN

S TRATEGIEN

In den Jahren 1967–1968 schrieb der tschechische Künstler Milan Knížák einen damals unveröffentlicht gebliebenen Text mit dem Titel »Aktual universita, 10 lekcí« (Universität Aktual, 10 Lektionen),174 in dem er poetische und fragmentarische Überlegungen und Erläuterungen zu verschiedenen Begriffen – ›Konflikt‹, ›Träume‹, ›Revolutionen‹, ›Liebe‹, ›Glaube‹, ›Kunst‹ –, unter anderem auch zum ›Spiel‹ entwickelte. Als eine der markantesten Figuren der osteuropäischen NeoAvantgarde der 1960er und 1970er Jahre repräsentiert Knížák – durch seinen Werdegang, seine Werke, Aktivitäten, Ansichten und Positionierungen – ein ganzes Panorama der Ambivalenzen der inoffiziellen Kunst in sozialistischen Ländern. Im Jahr 1964 war er einer der Gründungsmitglieder der Künstlergruppe Aktualní umění (Aktuelle Kunst; ab 1966 – nach dem Verzicht auf das Wort ›Kunst‹ – bekannt als Aktual175), die durch verschiedene Aktionen, »spontane Straßenrituale«176 und andere kollektive Tätigkeiten bzw. alternative Lebensweisen die vollkommene Vereinigung der Kunst und des Alltagslebens anstrebte. Mitte der 1960er Jahre wurde Knížák von George Maciunas als der ›Direktor des Fluxus East‹ bezeichnet, allerdings hat er die Ziele und Inhalte der Gruppe Aktual immer von denen des Fluxus distanziert und deren Unabhängigkeit von der westlichen Neo-Avantgarde betont177 – paradoxerweise mit dem Argument, dass die Aktionen des westlichen Fluxus zu befangen, geschlossen, esoterisch und ›künstlerisch‹ wären178 – im Gegensatz zu seiner eigenen Ansicht, nach der die Kunst anonym ins Leben der Menschen hineinwachsen muss.179 In 1966 wurde in Allan Kaprow’s Buch »Assembla174 Milan Knížák, Aktual Univerzity: Ten Lessons. (1967–68) – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 739-744. 175 Die anderen Gründer waren Jan Mach, Vít Mach, Sonia Švecová, Jan Trtílek und Robert Wittmann. 176 Milan Knížák, Die A-Gemeinschaft 1963–1971/A-Community 1963–1971. – Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe. Hg. Petra Stegmann. Berlin: Künstlerhaus Bethanien, 2007, S. 87. 177 Ebd., S. 89; vgl. Videointerview mit Milan Knížák in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe« (2007, Kuratorin Petra Stegmann, Produzent Künstlerhaus Bethanien). 178 Videointerview mit Milan Knížák in der Wanderausstellung »Fluxus East: FluxusNetzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 179 Milan Knížák, Die A-Gemeinschaft 1963–1971/A-Community 1963–1971. – Fluxus East, S. 91.

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ge, Environments & Happenings« 180 eine Dokumentation der Aktual-Aktivitäten publiziert, im selben Jahr organisierte Knížák Fluxus-Konzerte in Prag,181 im Jahr 1969 reiste er selbst nach New York, und so erlebte er – auch durch den Briefwechsel mit Maciunas und anderen westlichen Künstlern – einen intensiveren und vielfältigeren Austausch mit der Kunstwelt hinter dem Eisernen Vorhang als die meisten osteuropäischen Künstler. Trotzdem basiert seine spätere Selbstmythologisierung nicht auf dem Konzept der Zusammenhörigkeit mit der westlichen Kultur, sondern auf der Idee der Exklusivität seines Kreises, teilweise auch auf der Entgegensetzung zur westlichen Neo-Avantgarde, was – so Knížák – vor allem in der höheren gesellschaftlichen Sensibilität seiner Gruppe Ausdruck fand. 182 Die Aktivitäten des Aktual wiesen nach außen hin oftmals Ähnlichkeiten zu den Happenings des westlichen Fluxus auf und wurden unter anderem auch auf den Straßen in Prag ausgeführt,183 obwohl deren Bedeutung und Wirkung natürlich ebenso viel vom Kontext wie von den konkreten Abläufen der Aktionen geprägt war. Zum Teil kann man in diesen Aktivitäten auch einen vergleichsweise (vor dem Hintergrund des westlichen Fluxus) stärkeren Anspruch auf symbolische Gesten beobachten, und den Willen, die spontanen, fließenden, spielerischen Akte doch als ein bedeutungsvolles Ganzes einzuordnen. Da der Begriff ›Kunst‹ in der Beschreibung der Tätigkeiten des Aktual eher vermieden wurde, bezeichnete man diese Aktionen laut Knížák als ›Demostrationen‹ und ›Spiele‹.184 »Universität Aktual, 10 Lektionen« besteht aus zehn kleinen Lektionen, die sich beinahe alle auf einen Begriff konzentrieren und dessen Bedeutung, Position und Funktion für die Situation des gegenwärtigen Menschen beleuchten. In den anscheinend vom Zen-Buddhismus (oder von der breiteren New Age-Bewegung) beeinflussten Texten geht es um die Fähigkeit zwischenmenschlicher Kommunikation und um die Möglichkeiten, einen Kontakt mit der Umwelt zu schaffen, um das Verhältnis zwischen Traum und Realität, zwischen Glauben und Agieren, zwischen Individualität und Gesellschaft, um die Wege der Weltveränderung u.a.; insgesamt fragt Knížák teils poetisch, teils philosophisch nach den Grundlagen des menschlichen Daseins und nach den konkreten Lebensweisen und Entscheidungen, die von 180 Allan Kaprow, Assemblage, Environments & Happenings. New York: H. N. Abrams, 1966. 181 Daten und Teilnehmer s. Fluxus East, S. 200. 182 Videointerview mit Milan Knížák in der Wanderausstellung »Fluxus East: FluxusNetzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 183 Z. B. »Ein Spaziergang durch die neue Welt« und »Demonstration des Einzelnen« (beide 1964), s. Fluxus East, S. 83-86; vgl. Piotr Piotrowski, The Critique of Painting: Towards the Neo-avant-garde. – In the Shadow of Yalta, S. 231 –232. 184 Videointerview mit Milan Knížák in der Wanderausstellung »Fluxus East: FluxusNetzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«.

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diesen Grundlagen abgeleitet werden können. In der letzten Lektion behauptet er, dass die Kunst ein beständiger Outsider sei, sich nie ins Leben einfüge, heutzutage nichts mehr entdecken könne und deswegen mit der Zeit ausgelöscht würde: »The culmination of art is in its extinction. Art as a specific, separated area is ceasing to exist. There remains only one area, the area of human existence«.185 Etwas widersprüchlich schließt Knížák daraus, dass die Kunst – obwohl sie nicht mehr existiere – weiterhin einen Faktor in der Organisation des Alltagslebens darstelle: »It is present everywhere and nowhere. It is becoming fluid. It stands outside all professions. It cannot be isolated, it cannot be worshipped, it cannot be converted into money«.186 Es wird hier im weitesten Sinne eine Deinstitutionalisierung der Kunst, eine Befreiung von deren historischen Formen und deren Entwicklungsgeschichte angestrebt und vermutet, dass dadurch eine kreative Energie aus dem Rahmen der Tradition entlassen wird und (wieder) in der Gestaltung des Alltagslebens umgesetzt werden kann.187 Einer der Ausgangspunkte von Knížák ist das Argument, dass neben der Entwicklung der Kommunikationsweisen, Regierungssysteme, künstlerischen Formen u.a. der Mensch selbst sich wenig verändert hat: »For the developement of art is directly proportional to the developement of human senses. And in that brief space of human history that we know and understand, the senses have undergone no dramatic changes«.188 Die Vorstellung von einer Rückkehr zu den Quellen der künstlerischen Tätigkeit, die durch eine Befreiung von der institutionellen und begrifflichen Verengung der gegenwärtigen Kunstwelt stattfinden soll, verbindet die Position von Knížák mit vielen ähnlichen Ansichten innerhalb der westlichen Künstlergeneration der 1950er und 1960er Jahre, mit der von Allan Kaprow, George Maciunas u.a. Vor diesem Hintergrund scheint das in der achten Lektion betrachtete ›Spiel‹ einen positiven Gegenbegriff zur ›Kunst‹ zu stellen – als eine Aktivität, durch die die künstlerische Energie nach der Entlassung einen Weg in den Alltag findet. Knížák verortet das Spiel nicht als eine begrenzte und spezifische Tätigkeit, sondern eher als eine Umgangsweise mit dem Alltagsleben, wobei nicht die alltäglichen Handlungen selbst, sondern deren Wahrnehmung verändert bzw. intensiviert und so die routinehaften zeitlichen Abläufe unterbrochen werden sollten: »If we consider everything as a game, as play, if we ignore the usefulness (and sometimes even the difficulty, the strain) of what we happen to be doing, then we may make even something as boring as shopping seem just as amusing as watching cats stret185 Milan Knížák, Aktual Univerzity: Ten Lessons/Lesson Ten: On Art. – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 743. 186 Ebd., S. 744. 187 Vgl dazu Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 66-67. 188 Milan Knížák, Aktual Univerzity: Ten Lessons/Lesson Ten: On Art. – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 743.

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ching themselves. […] Divide time into unexpectedly irregular stretches that are surprising if only because they are longer or shorter than the ones before. And in this chaos, the chance appearance of regularity has a sensational effect. […] It enables us to see intimately familiar things and phenomena less initmately. It reveals other dimensions. It reveals things that are quite new«.189 Der These von Huizinga, dass die Kultur anfänglich gespielt wurde,190 dass jede künstlerische Tätigkeit ihre Quellen im Spiel hat, wird hier grundsätzlich zugestimmt, aber in Bezug auf die zeitgenössische Kultur umgekehrt: Man muss auf die Kunst, die von ihren ursprünglichen Entstehungsimpulsen entfernt ist und die unmittelbare Einbindung in den Alltag verloren hat, verzichten und wieder anfangen zu spielen; dieses Spiel bzw. diese spielerischen Handlungen könnten die soziale Funktion im menschlichen Leben erfüllen, derer die institutionalisierte Kunst nicht mehr fähig ist. Doch ist das Spiel laut Knížák nicht eine Tätigkeit, die unbedingt aktiv ins Leben eingesetzt werden sollte, um durch die kreativen Kräfte die soziale Umwelt direkt umzugestalten (wie beispielsweise bei Joseph Beuys), sondern etwas, was wir schon immer leisten, ohne es zu bemerken;191 die Produktivität des Spiels entsteht nicht durch die Aktivität selbst, sondern im Prozess, in dem man sich des Spielens bewusst wird. Der Zusammenhang mit einem Diskurs der Neo-Avantgarde, der vor allem unter dem Einfluss der Ideen von John Cage geprägt wurde, auf das Minimieren jeder Aktivität gerichtet war und die Wahrnehmung des schon Existierenden als Mittelpunkt der künstlerischen Ereignisse betrachtete, ist hier unschwer zu erkennen und wurde auch in einigen Werken von Knížák klar ausgedrückt.192 Auf der anderen Seite deutet die Bezeichnung der Aktionen von Aktual als ›Demonstrationen‹ und ›Spiele‹ deren vielfältige Ansprüche an: Man hat nicht nur den spielerischen Umgang mit dem Alltag bzw. eine neue Lebensweise angestrebt, sondern auch durch die demonstrativen Aktionen auf eine Meinungs- oder Haltungsäußerung gezielt. Im Manifest des Aktual aus dem Jahr 1965 wurden »die funktionierenden Formen«, die in der Tätigkeit der Gruppe in Gebrauch genommen werden müssen, aufgezeichnet: »naturalism, banalities, maximalism, provocation, perversion etc. to shock, to fascinate, to expose nerves, to persuade, maximally persuade, destroy the pleasant art tickling«.193 Das Wort ›Demonstration‹ hatte in 189 Milan Knížák, Aktual Univerzity: Ten Lessons/Lesson Eight: About Play. – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 742-743; vgl. Kapitel I, S. 40-41. 190 Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 57. 191 Vgl. dazu: Milan Knížák, Aktual Univerzity: Ten Lessons/Lesson Eight: About Play. – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 742. 192 Vgl. Milan Knížák, »Demonstration for Oneself«, 1964 (?), Textarbeit; Kopie im Archiv Sohm, Staatsgalerie Stuttgart. 193 Vgl. dazu Piotr Piotrowski, The Critique of Painting: Towards the Neo-avant-garde. – In the Shadow of Yalta, S. 231.

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sozialistischen Ländern natürlich eine spezifische Konnotation (als eine pseudooptimistische, gezwungene, massenhafte Darstellung der vorgeschriebenen ideologischen Narrative) und vor diesem Hintergrund galten die Aktionen von Aktual als Gegendemonstrationen – nicht nur inhaltlich, sondern auch in Bezug auf die Aufführungs- und Wirkungsweise. Sie fanden zwar oft im öffentlichen Raum in Prag statt, wurden aber von einer kleinen Gruppe oder von einem einzelnen Künstler vor zufällig anwesenden Rezipienten durchgeführt und äußerten keine klare Botschaften, was man von einer Demonstration erwarten würde, sondern erzeugten mehrdeutige Gesten »against the official (but not only) culture, against the meaninglessness of daily existence and conventions of ›normal‹ behaviour«.194 So kann man die Benutzung des Wortes ›Demonstration‹ im Zusammenhang mit dessen – im Kontext der Tätigkeit von Aktual – Parallelbegriff ›Spiel‹ betrachten: Es wies auf die offiziellen Demonstrationen hin, kehrte jedoch deren Bedeutung um; die explizit depolitisierten und ›sinnlosen‹ Aktionen stellten eine spielerische Handlung dar – wobei das, was sich vollzieht, ›nicht so gemeint ist‹ – und erwarben dadurch ihre Wirkungskraft. Auch in einigen direkten Interventionen in das Alltagsleben, die Aktual vorgenommen hat, lässt sich der Vorgang ähnlich beschreiben: Die Botschaft der Aktion erzeugte man durch Verwirrung und absurde Situationen, die von sich aus keine Botschaften vermittelten, aber in der Konfrontation mit ihrem spezifischen Kontext bedeutsam wurden. Demonstriert wurde vor allem das Spiel selbst – das irrationale, spontane, unkontrollierte Verhalten, wobei seine belebende, befreiende, subversive Wirkung durch die einfachsten alltäglichen Handlungen erfahren werden sollte: »Jede Situation zur Demonstration ausnutzen, zum Angriff auf die eigene Umwelt und sich selbst. Mittel mit der größtmöglichen Wirkungskraft anwenden. Aus vielen Lebenssituationen ein Spiel machen und ihnen damit alles Krampfhafte und Monströse nehmen. Mit jeder Geste, jedem Wort, jeder Tat, jedem Blick, jedem Anblick, mit ALLEM wirken. Eine schlichte, anonyme Tätigkeit«.195 Aufgrund der Lebenserfahrung in einem sozialistischen Staat betrachtete Knížák diese kleinen alltäglichen Spiele und Demonstrationen als Aktionen, die mit der ›Kraft des Schwachen‹ arbeiten, sich nicht mit den gesellschaftlichen Strukturen und Machtsystemen im Ganzen auseinandersetzten, sondern nur innerhalb dieser Strukturen freie Handlungsräume schaffen können. Im Vergleich zur westlichen Neo-Avantgarde, die stark von neomarxistischen Ideen geprägt war und zum Teil auch Interesse für die Lebensordnungen in der Sowjetunion zeigte, lassen sich einige interessante Unterschiede in den Ansichten bezüglich der Wirkungsmechanismen der künstlerischen Tätigkeit und deren begrifflichen Bestimmungen beobach194 Ebd., S. 232. 195 Milan Knížák, Die A-Gemeinschaft 1963–1971/A-Community 1963–1971. – Fluxus East, S. 87.

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ten. Für George Maciunas, der zumeist enthusiastisch an die künftige Vereinigung der sozialistischen Gesellschaft und an mit dem Alltag verschmolzene künstlerische Praktiken glaubte, erschien die Sowjetunion als »der beste Nährboden« für FluxusAktivitäten – aufgrund der Vermeidung der Abstraktion und der Anforderung an direktes politisches Engagement,196 die sowohl im Rahmen der Fluxus-Aktivitäten (bzw. des politisierten Teils des Fluxus, das Maciunas repräsentierte) als auch von der offiziellen Kunst in den sozialistischen Ländern verlangt wurde. Die eigentliche (von Maciunas geplante) Invasion der Fluxus-Bewegung in die Sowjetunion war offenbar nicht gelungen. 197 Das ganze Projekt geriet in eine kommunikative Zwickmühle – sowohl allgemein zwischen dem ideellen und eigentlichen Sozialismus als auch konkret zwischen den ideologischen und begrifflichen Grundlagen der westlichen und osteuropäischen Neo-Avantgarde. Die »revolutionär-realistische Kunst« und die Kollektivität der künstlerischen Tätigkeit, die Maciunas als Ziel und Verfahren des Fluxus sah, 198 hatte mit der kollektiv geschaffenen revolutionärrealistischen offiziellen Kunst in den sozialistischen Ländern nichts gemein. Für Maciunas bedeutete dies eine produktive Umdeutung und Umsetzung der künstlerischen Praktiken zum Zweck der gesellschaftlichen Veränderung, wobei die künstlerischen Praktiken nicht nur eine durchführende, sondern auch eine kreative Rolle einnehmen sollten; in den sozialistischen Ländern – sogar wenn das Ziel theoretisch dasselbe war – dienten diese Formulierungen (und die mit deren Hilfe festgesetzten Grenzen der künstlerischen Tätigkeit) als ein Mittel der ideologischen Propaganda und der Kontrolle und wurden in diesem Kontext auch dementsprechend wahrgenommen. So kam beispielsweise der Begriff ›Revolution‹, der sowohl in den Künsten als auch in den Jugendbewegungen der 1960er Jahre im Westen oft verwendet wurde, in der Ideologiebildung der osteuropäischen Neo-Avantgarde kaum vor oder wurde eher aus einer resignierten Perspektive betrachtet (wie bei Knížák199). Auch die ›Arbeit‹, durch die laut Maciunas die Ziele des Fluxus im sozialen Leben produktiv umgesetzt werden sollten200 und die von der ›Situationistischen Internationale‹ mit dem ›Spiel‹ gleichgesetzt wurde (das Konstruieren der ›Situationen‹ ist »die

196 George Maciunas, Brief an Emmett Williams, Frühjahr 1964; Kopie im Archiv Sohm, Staatsgalerie Stuttgart. Zitiert nach: Petra Stegmann, Fluxus East. – Fluxus East, S. 16. 197 Vgl. dazu: Petra Stegmann, Fluxus East. – Fluxus East, S. 12-16. 198 Vgl. George Maciunas, Brief an (wahrscheinlich) Nikita Chruschtschow; Archiv Sohm, Staatsgalerie Stuttgart. Reproduziert in: Petra Stegmann, Fluxus East. – Fluxus East, S. 15. 199 Vgl. dazu: Milan Knížák, Aktual Univerzity: Ten Lessons/Lesson Four: On Revolutions. – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 740-741. 200 Vgl. George Maciunas, Letter to Tomas Schmit. (1964) – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 726-728.

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Arbeit/das Spiel der revolutionären Avantgarde«201), wurde unter den Bedingungen der sogenannten Arbeitergesellschaft eher als Gegensatz zur künstlerischen Aktivität betrachtet. Diese begriffliche Diskrepanz stellt einerseits die Unterschiede in den sozialen und kulturellen Kontexten im Westen und in Osteuropa heraus, andererseits kann man vermuten, dass die schon (aus dem einen oder anderen Grund) verwendeten Begriffe auch einen wichtigen Einfluss zur Herausbildung und Lenkung der künstlerischen Praktiken hatten; die aktive und die reflexive Seite dieser Praktiken sind hier als komplex und nicht aufeinander folgend zu erläutern. So wie Knížák eine Rückkehr zu den Quellen der künstlerischen Tätigkeit verlangte, deren unmittelbare Einbindung ins Alltagsleben und eine dadurch geschaffene »primitive, rohe Aufklärung« 202 anstrebte, steht ein ähnlicher Anspruch auf Totalität auch in den Ansichten und Aktivitäten von Tadeusz Kantor – der anderen Schlüsselfigur der osteuropäischen Neo-Avantgarde – im Mittelpunkt, allerdings stellte sich Kantor sowohl den Weg zu dieser Totalität als auch deren Realisierungsweise anders vor. Ähnlich wie Knížák hatte Kantor direktere Kontakte zur westlichen Kultur als die meisten osteuropäischen Künstler, er war sowohl der Vermittler und Ideologe als auch derjenige, der die vielfältigen neuen Ideen und Einflüsse in seiner eigenen Tätigkeit umgesetzt hat, unter anderem in den ersten Happenings in Polen.203 Im Vergleich zu Knížák, der einen spielerischen Umgang mit dem Alltag beanspruchte und für den die Totalität seiner Tätigkeit »das totale Aufgeben«204 aller historischen Konventionen und künstlerischen Formen bedeutete, ging es bei Kantor um die Intensivierung des Alltäglichen, was nicht nur durch die maximale Wahrnehmung, sondern auch durch die aktive Auseinandersetzung mit den alltäglichen Situationen und Gegenständen erreicht werden sollte: »An artist does not change this mundane, everyday reality with the help of his intuition or imagination; he simply takes it and sets it ablaze«.205 Einer der wichtigsten Aus201 Guy Debord, The Avant-Garde of the Presence. (1963) – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 704. 202 Milan Knížák, Die A-Gemeinschaft 1963–1971/A-Community 1963–1971. – Fluxus East, S. 80. 203 Das erste war Happening »Cricotage« in der Galerie Foksal in Warschau in 1965; vgl. dazu: Wiesław Borowski, Foksal – A Gallery of Artists and Critics. – We See You: The Foksal Gallery Activities 1966–1989/Me näeme teid: Foksal Galerii tegevus 19661989/My was widzimy: Działalność Galerii Foksal w latach 1966–1989. Hg. Karolina Łabowicz-Dymanus. Warszawa: Galeria Foksal, 2009, S. 12-13. 204 Milan Knížák, Aktual Univerzity: Ten Lessons/Lesson Four: On Revolutions. – Theories and Documents of Contemporary Art, S. 741. 205 Tadeusz Kantor, Theatre Happening. (1967) – Tadeusz Kantor, A Journey Through Other Spaces: Essays and Maifestos, 1944–1990. Hg. Michal Kobialka. Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1993, S. 85.

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gangspunkte für Kantor war sein Konzept des eigenständigen Objekts – dessen Autonomie und besondere Materialität nicht zu bewältigen sei206 –, das sowohl in seinen Emballages als auch in den Theaterwerken und Happenings den Ausdruck fand.207 In seiner Idee der autonomen Präsenz des Objektes, die von Interpretationen befreit und von expressiven, metaphorischen Konnotationen getrennt betrachtet werden sollte, lässt sich eine deutliche Parallele mit ähnlichen Ansichten der westlichen Kunst verfolgen. Ausgehend von der ›Krise der Form‹ in der Kunst sprach Kantor über die neue Wahrnehmung des Objekts: »Having gone through the deformed and sputtering matter of Informel and touched on the nothingness and the zero zone, one reaches the object »from behind,« where the distinction between reality and art does not exist. […] The object simply exists. This statement has irrevocably depreciated the notions of expression, interpretation, metaphor and similar devices«.208 Eine ähnliche Haltung charakterisiert auch sein Verfahren in den Happenings, wobei die alltäglichen Lebenssituationen als ›Objekte‹ zu betrachten sind, die nicht erklärt oder interpretiert, sondern wahrgenommen, erlebt, untersucht, wiederhergestellt werden sollten: »Important and unimportant, mundane, boring, conventional events and situations constitute the heart of reality. I derail them from the track of realness (›The Zero Theatre Manifesto‹, 1963); give them autonomy, which in life is called aimlessness; and deprive them of any motivation and effects. I keep turning them around, recreating them indefinitely until they begin to have a life of their own; until they begin to fascinate us. Then such questions as ›Is this already art ?‹ or ›Is this still reality?‹ become inconsequential to me«.209 Während das Ziel von Knížák die vollkommene Vereinigung der alltäglichen und künstlerischen Aktivitäten war, basierte die Methode von Kantor auf deren Trennung: Ein alltägliches Objekt bzw. eine alltägliche Situation wurde aus dem ursprünglichen Kontext herausgehoben und als eigenständig, unabhängig von den alltäglichen Funktionen und Bedeutungen wahrgenommen. Die Überwindung der Grenzen zwischen Alltag und Kunst hat Knížák durch die Verschmelzung, Kantor durch die Gleichstellung angestrebt. Die Frage nach der Kunst war für Knížák nicht mehr relevant, da die sogenannte künstlerisch-kreative Energie seiner Ansicht nach im Alltagsleben umgesetzt werden sollte, um ein neues Ganzes zu schaffen. Für Kantor hingegen war die Frage inkonsequent, weil alles als Kunst betrachtet werden konnte. Somit repräsentieren die Beiden zwei bedeutende Diskurse in der Kultur der 1960er Jahre, die unter anderem wichtige Ausgangspunkte für die frühen Hap206 Piotr Piotrowski, The Critique of Painting: Towards the Neo-avant-garde. – In the Shadow of Yalta, S. 196. 207 Vgl. dazu ibidem, S. 197. 208 Tadeusz Kantor, Theatre Happening. (1967) – Tadeusz Kantor, A Journey Through Other Spaces, S. 85. 209 Ebd., S. 86.

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penings bildeten: Die Tätigkeit von Knížák kann man auf den Einfluss des ZenBuddhismus und der Ideen von John Cage zurückführen, die Quellen der Ideen von Kantor lassen sich im Surrealismus bzw. in der breiteren ›surrealistischen Sensibilität‹ finden. Die Unterschiede zwischen diesen Strategien kommen unter anderem im Vergleich zweier Aktionen von Knížák und von Kantor zum Vorschein. Im Mittelpunkt der beiden Happenings – »Událost pro poštu« (Ein Ereignis für das Postamt)210 von Knížák (1966 in Prag) und »Poczta« (Ein Brief) von Kantor (1967 in Warschau) – stand eine einfache alltägliche Aktivität: das Verschicken eines Briefes bzw. eines Pakets. Bei beiden ging es nicht um den Inhalt, sondern um den Akt der Sendung. Die Aktionen lassen sich als eine metaphorische Darstellung des Verfahrens der osteuropäischen Neo-Avantgarde im Ganzen betrachten – die Bedeutung der Happenings entstand durch eine symbolische Geste, die auf eine versteckte Botschaft hinwies, diese aber nicht preisgab. Der Vorgang und das Ergebnis der Aktionen unterschieden sich hingegen grundsätzlich. In »Ein Ereignis für das Postamt« wurden an die Bewohner eines Hauses in Prag anonym Briefe und Pakets geschickt bzw. diese im Flur hinterlassen; die Verwirrung unter den Empfängern und für die Polizei, die das Geschehen untersuchte, erzeugte nicht die Spezifik des Inhaltes, sondern – im Gegenteil – dessen Bedeutungslosigkeit (Bücher, Kinotickets, Kalender u.a.) und zeigte die Unmöglichkeit, die Botschaft der Aktion im Ganzen nachzuvollziehen. 211 In »Ein Brief« wurde ein riesengroßer Brief in der Nacht durch Warschau getragen und anschließend in der Galerie Foksal in einem dramatischen rituellen Ereignis zerstört – als ein autonomes Objekt »without an owner, without a place of belonging, without function, almost in a void, between the sender and the recipient«.212 Im ersten Fall wurde die Wahrnehmung des Alltäglichen durch einen Bruch in der konventionellen Logik der Handlungen verschoben, im zweiten Fall durch eine Entfremdung des alltäglichen Objekts, das in den Mittelpunkt der dramatischen Inszenierung gesetzt wurde. Trotz des Anspruchs auf Autonomie und Gleichstellung der Objekte/Situationen sowie auf deren Befreiung von den kontextuellen Interpretationen war Kantor doch immer mit dem kunsthistorischen Rahmen seiner Tätigkeit beschäftigt. Seine Happenings »Panoramiczny happening morski« (Panorama-Happening am Meer, 1967 210 Milan Knižák, zusammen mit Jan Maria Mach, »Událost pro poštu, veřejnou bezpečnost, obyvatele domu č. 26 A, pro jejich sousedy, příbuzné a přátele«, Prag 1966. 211 Vgl. dazu: A Case Study: Artists Intervene in Everyday Life. – Primary Documents, S. 120-121. 212 Tadeusz Kantor, Poczta. – Metamorfozy: Teksty o latach 1938–1974. Kraków: Cricoteka, 2000, S. 343. Zitiert nach: Paweł Polit, Can One Be Late fot the End of the History of the Foksal Gallery? – We See You: The Foksal Gallery Activities 1966– 1989, S. 23. Szenarium und Dokumentation des Happenings im Archiv Cricoteka, Kraków.

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am Strand in Łazy) und »Lekcja anatomii wg Rembrandta« (Anatomieunterricht nach Rembrandt, 1969 in Galerie Foksal) gingen von klassischen Meisterwerken der europäischen Kunstgeschichte aus und betrachteten diese als Modell für das Ereignis: »[…] Kantor reversed the conventional relationship between reality and performance. The reality did not provide a model for the image, but rather the image became a model for the real event«.213 Im Vergleich zu Knížáks modernistischen Idealen (die den Kontakt mit der früheren Kunstgeschichte zumeist ablehnten) waren Kantor die kontextuellen Grenzen jeder Aktivität – sowohl in der Kunst als auch im Leben – immer bewusst und die Auseinandersetzung mit ihnen führte ihn zu eher postmodernen Ansichten; sein Anspruch auf Gleichstellung aller Objekte und Situationen basierte vor allem auf der Annahme ihrer unvermeidlichen Relativität. 214 Auch die Begriffe, mit denen Kantor seine künstlerische Tätigkeit beschrieb, versuchten meistens nicht den Zusammenhang mit dem historischen Kontext zu vermeiden: Seine Aktionen bezeichnete er als ›Happenings‹, in Bezug auf »Ein Brief« sprach er über die ›Katharsis‹, wozu die rituelle Zerstörung des Briefes führen sollte,215 sein eigener Begriff ›Emballage‹, mit dem er seine Objekte benannte, weist auf ›Assemblage‹ hin. Allerdings gibt es bei ihm ein Schlüsselwort, das sowohl die Spannung dieser allumfassenden Relativität als auch die Ambivalenz von Kantors Positionen widerspiegelt und sich auch mit dem Spiel in Verbindung bringen lässt: der in seinen Texten immer wieder auftretende Begriff ›das Unmögliche‹ bzw. ›die Unmöglichkeit‹. Die Bedeutung des Unmöglichen ist nie klar definiert, er dient eher als ein Hinweis auf einen autonomen Raum, der durch die künstlerischen Praktiken angestrebt werden muss (»We will have to take risks, make choices, keep looking for new, unknown, and ›impossible‹ practices of artistic expression …«216), obwohl er unerreichbar bleiben mag. Manchmal wird das Unmögliche mit der Vorstellung(skraft) gleichgesetzt (»the realms of imagination and the ›impossible‹«217), manchmal als eine höhere Sphäre geschildert, in der man über jede Dialektik herauskommt (»We have to gather our thoughts and move ›beyond‹ theatre, but not simply to create ›anti-theatre‹«218). 213 Piotr Piotrowski, The Critique of Painting: Towards the Neo-avant-garde. – In the Shadow of Yalta, S. 198. 214 Vgl. dazu: Tadeusz Kantor, Begleittext zu »Panoramiczny happening morski/Panoramic Sea Happening«; Archiv Cricoteka, Kraków. 215 Das Ende des Szenariums von »Ein Brief«: »In the half ritual – folly of final destruction the formal katharsis of the happening is performed«. Text im Archiv Cricoteka, Kraków. 216 Tadeusz Kantor, The Impossible Theatre: From Happening to the Impossible 1969–73. – Tadeusz Kantor, A Journey Through Other Spaces, S. 87. 217 Ebd. 218 Ebd., S. 88.

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Kantors Suche nach der Autonomie der Objekte und Handlungen ging von der Annahme aus, dass selbst wenn alle Ideen historisch bedingt sind, sie doch eine autonome kreative Kraft besitzen, die wiederum die historischen Bedingungen prägt und die Entstehung neuer Ideen ermöglicht. 219 In seiner künstlerischen Tätigkeit führte diese Annahme zum Versuch, verschlossene, aus den kontextuellen Rahmen fallende Gegenstände und Situationen zu schaffen: »I am creating stage actions that are enclosed in themselves, escape perceptions, go »nowhere«, are »impossible«.220 Das Spiel, das Kantor im Zusammenhang mit dem neuen Theater anspricht, bedeutet seiner Ansicht nach das Erzeugen eines dynamischen Raumes zwischen Illusion und Realität und dient als ein Weg zum »Unmöglichen«: »Playing«, however, means neither reproduction nor reality itself. It means something ›inbetween‹ illusion and reality. It is a subsitute for life’s passions, conflicts, and actions; at the same time it ›purifies‹ these passions from often dire consequences. It suggest commitment, coincidence, and the ›unknown‹, autonomy, internal focus, a break with this ›other‹ reality [of passions, conflicts, and actions], thus all the components of a new theatre. […] A spectator is not an audience member but a potential player«.221 Ähnlich den anthropologischen Spieldefinitionen von Victor Turner, Clifford Geertz u.a. betont Kantor die ›Zwischenheit/Zwischensein‹ – »inbetweenness« – des Spiels. Allerdings ist der Entstehungsraum zwischen Illusion und Realität für ihn nicht die unhintergehbare Grundlage des Spiels (wie beim Turner und Geertz), sondern vielmehr ein Mittel bzw. eine Übergangsphase, in der die alltäglichen Handlungen gereinigt und von den Folgen befreit werden sollten – ein Weg zur Autonomisierung der Situationen, die vorausgesetzt wird, um mit diesen Situationen zu spielen. Seine ständige Suche nach dem Unbekannten und die Idee, dass die Überwindung der konventionellen Rahmen der Kunst nicht durch die unmittelbare Mischung mit dem Alltäglichen, sondern durch Trennung von ihm erreicht werden soll (da die Konventionen des Alltäglichen ebenso begrenzend sind) und dass die Wirkungskraft der künstlerischen Praktiken durch deren Autonomie wiederhergestellt sein kann (obwohl diese Autonomie keineswegs als eine höhere Sphäre betrachtet werden soll), unterscheidet Kantor von den dominierenden Richtungen der Kunst der 1960er Jahre, die entweder auf die Verschmelzung mit dem Alltag oder auf die Belebung ritueller Formen der Vergangenheit orientiert waren. Die letzte Strömung beschrieb Kantor einerseits mit dem Verständnis für das Bestreben, das »sterbende Theater« und seine bürokratische Organisation zu verlassen und wieder als integrierten Teil des Alltagslebens zu etablieren, er bemerkte aber auch kritisch, dass dieses Bestreben oft zum prätentiösen »Passeismus« und zu formalistischen

219 Ebd., S. 87. 220 Ebd., S. 100. 221 Ebd., S. 100-101.

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Tricks führen kann.222 Die Ansprüche und Mittel der rituellen Praktiken lehnte er jedoch nicht ab und gab zu, dass diese – mit Berücksichtigung der aktuellen Probleme der Kunst – eine »authentische Bedeutung« erzeugen können: »They have assumed and assume, however, an authentic meaning when they cease to function as an affected gesture directed into the past, where only emptied formsand façades – shells – can be found and position themselves in the actual problems of art and its avant-garde ideas«.223 Der Rückkehr zu den Quellen und zu den ursprünglichen Funktionen des künstlerischen Handelns und die Suche nach dem Ritual und dem Archetyp standen im Mittelpunkt des Interesses des polnischen Regisseurs Jerzy Grotowski, eines der bekanntesten und einflussreichsten, aber auch widersprüchlichsten und am stärksten polarisierenden Theatertheoretikers und -praktikers der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Unter den verschiedenen Phasen seiner Tätigkeit war das Ende der 1960er Jahre von der Ausarbeitung und Ausführung des Konzeptes des ›armen Theaters‹224 bestimmt. Im Vordergrund stand in diesem Theater der Schauspieler und seine Befreiung von den Masken, seine Selbstschutzmechanismen, stereotypischen Haltungen und Reaktionen – der Prozess, in dem die Persona des Schauspielers zerstört wird, um sein wahres Selbst zu erreichen. 225 Die Einheitlichkeit/Authentizität des Schauspielers und der ›totalen Akte‹ sollte es ermöglichen, auch den unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum zu schaffen. 226 Der Begriff ›Spiel‹ kommt in Grotowskis Texten relativ selten vor und wurde eher im negativen Sinne als Masken- und Rollenspiel verstanden, das die moderne Gesellschaft dem Menschen aufzwingt, als ein »Doppelspiel aus Intellekt und Instinkt, Denken und Fühlen«,227 als eine künstliche Trennung des Körpers und der Seele und das Gegenteil der Totalität, die im ›armen Theater‹ angestrebt wird: »Theater – durch die Technik des Schauspielers, seine Kunst, in der der lebende Organismus nach höheren Zielen strebt – liefert eine Gelegenheit für etwas, das man Integration nennen 222 Ebd., S. 88. 223 Ebd. 224 Essay »Ku teatrowi ubogiemu« in der Zeitschrift Odra 9, 1965, S. 21-27; auf Englisch: Jerzy Grotowski, Towards a Poor Theatre. Hg. Eugenio Barba, Vorwort von Peter Brook. New York: Simon and Shuster, 1968. 225 Vgl. Jerzy Grotowski, Aktor ogołocony. – Teatr 17, 1965, S. 8-10. Zitiert nach: Zbigniew Osiński, Grotowski maailmanägemine ja laboratoorium. – Looming 12, 1980, S. 1765 (Erstveröffentlichung: Dialog Nr. 1, 1979.) 226 Die Ziele dieser Phase bei Grotowski wurden am weitgehendsten in der Inszenierung »Apocalypsis cum figuris« umgesetzt (geschlossene Premiere 1968, öffentliche Premiere 1969 in Teatr Laboratorium, Wroclaw). 227 Jerzy Grotowski, Aufstellung der Grundprinzipien. – Für ein armes Theater. Berlin: Alexander, 1994, S. 285.

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könnte, das Ablegen von Masken, das Offenbaren der wirklichen Substanz: eine Totalität der physischen und geistigen Reaktionen. […] Zwar vollzieht der Schauspieler diesen Akt, aber er kann das nur durch eine Begegnung mit dem Zuschauer. […] Der Akt des Schauspielens – Halbheiten entlarven, sich offenbaren, sich öffnen, aus sich heraustreten im Gegensatz zum In-sich-Verschließen – ist eine Aufforderung an den Zuschauer. […] Diesen Akt, paradox und grenzgängerisch, nennen wir einen totalen Akt. […] Wir kämpfen also, um die Wahrheit über uns selbst zu entdecken, zu erfahren; um die Masken, hinter denen wir uns täglich verstecken, herunterzureißen«.228 Paradoxerweise wird hier einerseits die absolute Einheitlichkeit und Authentizität angesprochen, andererseits bringt Grotowski es mit der spezifischen theatralen Begegnung in Verbindung. Der totale Akt kann nur durch die Auseinandersetzung mit dem Zuschauer stattfinden und fungiert als Einladung des Zuschauers. Die Totalität entsteht also nicht durch die Vollkommenheit, sondern – im Gegenteil – durch die Offenheit und die grenzwertige Position dieser Handlung. In diesem Konzept des totalen Aktes kann man implizit die Charakteristika der Spielsituation und deren ›inbetweenness‹ verfolgen – einer Situation, die einerseits durch einen bewusst konstruierten Rahmen geschaffen ist, andererseits von dem Willen geleitet wird, über diesen Rahmen hinauszukommen, und bei dem durch die Konfrontation und Mischung der fiktiven und aktuellen Umwelt, der Vorstellungskraft und der physischen Präsenz eine höchste Authentizität angestrebt wird. Auch in der Beschreibung seiner Suche nach einem Ritual wies Grotowski auf diesen – teils produktiven, teils verhindernden – Widerspruch hin. Sein Interesse für das Ritual, den Archetyp und den Mythos ging einerseits von dem Bedürfnis aus, eine ursprüngliche Einheit der theatralen Praktiken, das Gemeinschaftsgefühl und die Erfahrung der unmittelbaren Beteiligung zu erreichen, andererseits entstand in den rituellen Experimenten eine Antinomie, die der polnische Kritiker Tadeusz Kudliński als »Dialektik der Verspottung und der Apotheose« bezeichnet hat. 229 Die Untersuchung und Verwendung dieser Dialektik führte zu Inszenierungen, die einerseits immer ironisch waren, andererseits wurde die Ironie mit dem Tragischen verknüpft; es war laut Grotowski eine spezifische – analysierende, zerlegende – Ironie, die aber immer von einem Anspruch auf ›Echtheit‹, Lebenswichtigkeit des theatralen Ereignisses und auf Solidarität der Zuschauer gegenüber dem Bühnencharakter begleitet war.230 Doch hat Grotowski im Nachhinein zugegeben, dass diese Dialektik der Verspottung und der Apotheose nicht vollständig ihre Absicht erfüllt hat, da 228 Ebd., S. 285-287. 229 Jerzy Grotowski, Teatr a rytuał. – Dialog 8, 1969, S. 64-74. Zitiert nach: Jerzy Grotowski, Teater ja rituaal. – Tekstid aastatest 1965–1969. Tallinn: Eesti Teatriliit, 2002, S. 81. 230 Ebd.

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nicht alle Zuschauer beide Aspekte erkannt haben: Einige haben es als Verspottung, einige als Apotheose wahrgenommen, es gab keine Einheit der Reaktion, die Grotowski suchte, und das Ganze tendierte zu einer Stilisierung, wogegen er kämpfte; so entschied er, dass ein derartiges (spielerisches) Konzept des rituellen Theaters heutzutage (wenn es keine allgemein anerkannten Wahrheiten gibt) nicht mehr möglich ist und abgelehnt werden muss.231 In Bezug auf die gesellschaftlichen Bedingungen lässt Grotowskis Tätigkeit sich aus verschiedenen Hinsichten betrachten. Durch seine Interessen und Ziele, durch die Orientierung an östlicher Philosophie und an den rituellen Quellen des Theaters entfernte er sich von der westlichen (entweder kapitalistischen oder sozialistischen) Gesellschaft und all ihren kulturellen Praktiken. Wegen der relativ liberalen Bedingungen in Polen konnte er – wie Kantor – reisen und auch seine künstlerischen Experimente im Heimatland ausführen, allerdings nicht in den kulturellen Zentren,232 ohne offizielle Anerkennung (die erst nach seiner Bekanntheit im Westen folgte) und häufig in Konfrontation mit der Zensur. Einerseits ist seine Arbeitsweise von einem philosophischen Hintergrund und von der Suche nach Ritualität, Gemeinschaftsgefühl, Befreiung des Schauspielers ausgegangen, andererseits ermöglichte die Spezifik dieser Arbeitsweise auch, den Zugriff der offiziellen Kontrollmechanismen abzuschwächen: Die lange Probephase im kleinen Kreis blieb für die Zensoren unzugänglich und auch vor der Aufführung einer Inszenierung interessierten sie sich vor allem für den fixierten Text, wichen aber davon ab, was eigentlich für Grotowski das Wichtigste war – die Umsetzung und Dekonstruierung des Textes in einem prozessualen und unfixierbaren Ereignis.233 Sogar wenn diese – entweder zufällig entstandene oder absichtlich kreierte – Inkongruenz des Interessenfeldes der künstlerischen Praxis und des Interessenfeldes der Kontrollorgane nicht den offiziellen Einschränkungen der kulturellen Produktion vollkommen entkommen ließ, galten solche strategische Verschiebungen jedoch als ein wichtiges Element, das die Entwicklung der osteuropäischen Neo-Avantgarde geprägt hat. Während Grotowskis Tätigkeit sich auf die Verschließung, Konzentration und auf die detaillierte Untersuchung der psychischen Reaktionen bezog, kann man in den Künsten der 1960er Jahre im östlichen Europa auch andere Strategien beobachten, die ebenso die spezifischen künstlerischen Ideen und kontextuellen Bedingungen zusammenbrachten bzw. von deren Verknüpfung ausgingen und sich mit den spielgebundenen Konzepten in Verbindung bringen lassen, einen ähnlichen Anspruch auf Totalität besaßen, jedoch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führten. 231 Ebd., S. 82. 232 Grotowskis Teatr Laboratorium war (unter verschiedenen Namen) in Opole und in Wroclaw tätig. 233 Vgl. dazu Richard Schechner, Preface. – The Grotowski Sourcebook. Hg. Lisa Wolford, Richard Schechner. London: Routledge, 1997, S. xxvii.

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Im Manifest von ›Happsoc‹ 234 (eine Verbindung der Wörter ›happening‹ und ›socium‹ bzw. ›society‹) aus dem Jahr 1965 entwickelten die slowakischen Künstler Stano Filko, Alex Mlynárčik und die Kunsthistorikerin Zita Kostrová eine Idee des sozialen Happenings, das nicht durch die künstlerische Intervention, sondern durch die Konzeptualisierung bzw. Betrachtung von bereits existierenden gesellschaftlichen Ereignissen als Happenings entsteht. Im Manifest hat man zwar dazu aufgerufen, die alltägliche, ›nackte‹ Realität auf eine komplexere Weise wahrzunehmen – offen, unmittelbar, ohne Stilisierung und jeglichen Zwang235 –, bei dem von der Gruppe konzipierten ersten ›Happsoc‹ ging es jedoch um eine besondere Veranstaltung – um die offizielle Maiparade in Bratislava in 1965 –, die als Happening ausgewiesen und dokumentiert wurde.236 Offenbar gelang es auch dieser künstlerischen Aktion, der Konfrontation mit den offiziellen Kontrollmechanismen zu entgehen (da es keine andere Aktivität gab als eine konzeptuelle Umdeutung), doch wurde diese Konfrontation nicht ausdrücklich vermieden (wie bei den in sich verschlossenen künstlerischen Praktiken), sondern man hat die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Lebensumfeld auf eine spielerische Ebene gebracht, die einen imaginären Wechsel der gesellschaftlichen Machtpositionen ermöglichte. Mithilfe der ›Befreiung‹ der offiziellen Parade aus dem Strom des Alltags und von der politischen Bedeutung, durch deren Betrachtung als ›gefundene Realität‹, die ohne jegliche Vorurteile angenommen werden soll, hat man die subjektive und spielerische Wahrnehmung des Ereignisses der politischen Machtdemonstration entgegengesetzt und unter anderem eine höhere Sphäre (die durch diese Wahrnehmung zu erreichen war) angesprochen: »It is an action stimulating the receptiveness and multifaceted enjoyment of reality, released from the stream of everyday existence. […] It is a process that uses objectivity to stimulate a subjective way of looking at things and elevating their perception to a higher level. It is, therefore, a generally valid way of dealing with life on the basis of an »as found« reality, thus making it possible to bring into full play its scope in its entirety«.237 Im Kontrast zum westlichen Konzeptualismus, bei dem die spielerischen Vorgänge oft an die Distanzierung von modernistischen Autorkonzepten gebunden waren und als kritisches Verfahren dienten, ging die konzeptuelle Umdeutung in den Happsocs vom Glauben an die Subjektivität und an die Kraft des Imaginären aus und schrieb der dadurch geschaffenen Bedeutungswandlung eine generelle Gültigkeit zu. Die künstlerische Positionierung ähnelt hier dem romantischen Konzeptualismus, den Boris Groys in Bezug auf den 234 Piotr Piotrowski, The Critique of Painting: Towards the Neo-avant-garde. – In the Shadow of Yalta, S. 228. 235 Ebd. 236 Ebd., S. 229. Vgl.: Stano Filko, Alex Mlynárčik, Zita Kostrová, Manifest »Happsoc«. – Primary Documents, S. 85-87. 237 Ebd., S. 87.

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Moskauer Underground geschildert hat. Die Ausweitung und Entgrenzung der künstlerischen Strategien brachte im östlichen Europa häufig nicht die Auflösung der modernistischen Idealen mit sich, sondern fungierte als ein Mittel für den Erhalt universaler Ansprüche: »It makes a conscious effort to recover and to preserve all that constitutes art as an event in the History of Spirit and which renders its own history uncompleted«. 238 Jedoch war der Konzeptualismus in Osteuropa ebenso heterogen wie im Westen, fand viele verschiedene Umsetzungen, war mit unterschiedlichen ideologischen Hintergründen verknüpft und kann als ein zentrales Phänomen der osteuropäischen Neo-Avantgarde betrachtet werden, unter anderem aufgrund seines ephemeren Charakters, der dem Blick der Zensur entkommen konnte.239 Das Wort ›Happening‹ war ab der Mitte der 1960er Jahre auf der inoffiziellen Ebene der Kultur und in den kleineren Kreisen der an der Neo-Avantgarde orientierten Künstler in den osteuropäischen Ländern bekannt und wurde relativ oft verwendet. Neben dem kontextgebundenen Begriff ›Demonstration‹,240 dem ort- und zeitübergreifenden ›Ritual‹, der neutralen ›Aktion‹ und dem ab und zu auftauchenden ›Spiel‹ wurden die neuen performativen Praktiken am häufigsten als Happenings bezeichnet. Durch die schnelle Übernahme des Begriffs hat man unter anderem eine deutliche Zugehörigkeit zur westlichen Kunst angestrebt. In Ungarn, wo die politische Überwachung der Kultur im Vergleich zum relativ liberalen Polen wesentlich strenger war, hat eine Künstlergruppe unter der Leitung von Gábor Altorjay und Tamás Szentjóby (Tamás St. Auby) im Jahr 1966 ein Ereignis veranstaltet, auf dessen Einladungskarte ausdrücklich das erste Happening in Ungarn angekündigt wurde – »Az ebéd (in memoriam Batu Kán)« (Das Mittagessen [in Memoriam Batu Kán]). Laut der Einladung handelte es sich um ein »strikt privates« Ereignis,241 das im Keller eines Einfamilienhauses stattfand. Die Strategie der Aktion stand in jeder Hinsicht im Gegensatz zu den Happsocs und bezog sich direkt auf das Vorbild einiger früherer Happenings im Westen (beispielsweise »Eat« von Allan Kaprow aus dem Jahr 1964). Statt um imaginäre Deutungsverschiebungen ging es hierbei um konkrete, simultan ausgeführte, mit verschiedenen Gegenständen und 238 Boris Groys, Moscow Romantic Conceptualism. – Primary Documents, S. 164-165. 239 Piotr Piotrowski, Conceptual Art between Theory of Art and Critique of the System. – In the Shadow of Yalta, S. 316. 240 Als ›Demonstrationen‹ bezeichnete seine Aktionen beispielsweise auch polnischer Künstler Włodzimiers Borowski, vgl. Piotr Piotrowski, The Critique of Painting: Towards the Neo-avant-garde. – In the Shadow of Yalta, S. 191-192. 241 Vgl. Einladungskarte: The Lunch (In Memoriam Batu Khan) – the first happening in Hungary. – Parallel Chronologies: How Art Becomes Public – »Other« Revolutionary Traditions: An Exhibition in Newspaper Format. Hg. Dóra Hegyi, Sándor Hornyik, Zsuzsa László. Budapest: tranzit.hu, 2011, S. 16.

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Materialien verbundene Handlungen; im Mittelpunkt des Happenings stand ein gemeinsames Mittagsessen in einem halbdunklen Raum, begleitet von sporadisch lauter Musik, Klangeffekten und teils rituellen, teils absurden Handlungen.242 Wie auch Grotowskis Theaterexperimente fand das Ereignis im kleinen Kreis von Vertrauten statt, doch diente die Geschlossenheit nicht zur Untersuchung der psychischen Reaktionen oder zur gegenseitigen Öffnung der Beteiligten, sondern es sollte ermöglichen – im Geiste von Fluxus –, einen Raum für die intensive, mit allen Sinnen spürbare Umwelt- und Präsenzerfahrung zu schaffen, in dem höhere Ansprüche und versteckte Bedeutungen zugunsten des physischen und sinnlichen Daseins abgelehnt wurden. Das Fehlen jeglicher Botschaft und die generelle Sinnlosigkeit der Aktion galt in diesem Fall einerseits als eine Herausforderung für die Behörden – derartige Irrationalität wurde im Rahmen der offiziellen Ideologie sogar als gefährlicher empfunden als ein nachvollziehbarer Widerstand, da die möglichen Folgen sowie die Verbreitung und Wirkung dieser Irrationalität unabsehbar waren. Somit wurde in einem offiziellen (von einem Geheimagent verfassten) Bericht über »Az ebéd« das Phänomen Happening im Ganzen als verachtenswert und demoralisierend betrachtet und vor dessen Popularisierung gewarnt: »A happening, as regards its philosophical aspect, is a declaration of nihilism, darkness, irrationalism and the denial of healthy human activity. Its religion is aggression and hysteria. Its practial realisation serves the purpose of scandalising the public and asserting exaggerated decadence. […] Public appearances by the organisers of happenings must be prevented. It must be made impossible for them to use public forums for spreading and popularising the happening phenomenon«.243 Die Besonderheit der neuen performativen künstlerischen Praxis in den 1960er Jahren in Osteuropa und die Spezifik der Spieldefinitionen und der spielerischen Handlungen, die im Rahmen dieser Praxis ausgeführt wurden, bildete sich vor allem in Bezug auf die gesellschaftlichen Bedingungen heraus. Jede aus der westlichen Kultur (direkt oder indirekt) übernommene künstlerische Strategie war zudem vom lokalen Kontext geprägt und wurde dementsprechend umgedeutet (bzw. ging jede Übernahme schon anfänglich von der konkreten sozialen und kulturellen Situation aus). Die Grundzüge der neuen kulturellen Phänomene in Osteuropa waren somit von der Verflechtung der äußeren Impulse und der örtlichen Bedingungen geformt. Trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen osteuropäischen Ländern kann man einige Gemeinsamkeiten in den kulturellen Entwicklungen hervorheben, unter anderem lässt sich bei einigen neuen künstlerischen Ideen eine ausdrückliche 242 The Recollection of Gábor Altorjay. – Parallel Chronologies, S. 16. Vgl. Piotr Piotrowski, The Critique of Painting: Towards the Neo-avant-garde. – In the Shadow of Yalta, S. 211. 243 Agent Report – summary report and action plan. – Parallel Chronologies, S. 17. (Originaltext: www.c3.hu/collection/tilos/docs.html#103, 24.08.2014.)

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Resonanz mit der gesellschaftlichen Dynamik beobachten. Die Aktualisierung des Spielbegriffs und die Zuwendung zu den spielerischen Handlungen in den Künsten ist eine der Erscheinungen, die die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen in diesem kulturellen Umfeld auf eine interessante Weise zum Ausdruck brachte. Die allgemeine Spielhaftigkeit der totalitaristischen Gesellschaft, die deutliche Spaltung zwischen den spontanen und vorgeschriebenen Verhaltensweisen hat die Wahrnehmung der Relativität aller Positionen, Handlungen und sozialen Rollen intensiviert und die im Rahmen der Neo-Avantgarde aufgenommenen Spielstrategien in den Künsten dienten unter anderem als eine spezifische Art der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Spielformen. Einerseits führte diese Auseinandersetzung oftmals zum Rückzug in eine kleine Gemeinschaft, wo ein separater Spielraum mit eigenen Regeln erzeugt und dem offiziellen Spielraum entgegengesetzt wurde. Allerdings konnte in diesen Fällen die Abgrenzung zur Außenwelt (trotz der expliziten Konfrontation mit der offiziellen Kultur) wegen der unvermeidlichen Verschmelzung von öffentlichen und privaten Räumen (und der versteckten Anwesenheit des Ersten im Zweiten) nie vollständig realisiert werden. Andererseits führte die Begegnung mit dem Spielcharakter der sozialen Prozesse zur Aneignung dieser spielerischen Dynamik in der künstlerischen Praxis und erzeugte – in Bezug auf die avantgardistischen Ansprüche auf die Einmischung der Kunst in den Alltag – Phänomene, die bewusst mit der ›Kraft des Schwachen‹ am ›Ort des Anderen‹ fungierten und den geregelten offiziellen Spielen ein ungeregeltes, irrationales, flüchtiges Spiel entgegenstellten. Sowohl die Suche nach Authentizität, die durch die Entfernung und Abschließung gefunden werden soll, als auch die Annahme der allumfassenden Relativität und Spielhaftigkeit, die in den Künsten zum Vorschein kamen, können gleichermaßen im Rahmen der Ideologie der Neo-Avantgarde und als verschiedene Reaktionsformen auf den gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden und waren zumeist mit den beiden Hintergründen verknüpft. Die Spezifik der spielgebundenen Prozesse in der Kultur des östlichen Europas während der 1960er Jahre wurde von der Verflechtung gegensätzlicher Impulse geprägt: Das Hinterfragen des Kunstbegriffs traf sich mit dem Ziel, die Autonomie der Kultur zu befestigen und zu schützen, die Ablehnung des objektbezogenen Kunstwerkes galt sowohl als das Verlassen des konventionellen Rahmens der künstlerischen Tätigkeit und als eine praktische Strategie, die der offiziellen Kontrolle zu entkommen ließ. Die Orientierung auf eine höhere Sphäre brachte oft die eigentliche Geschlossenheit der künstlerischen Experimente mit sich, die Zuwendung zum Spiel galt als eine Mischung aus Ausdruck von Unterdrückung, zynischem Einnehmen einer ›infantilen‹ Position in der totalitaristischen Gesellschaft und imaginärer Befreiung von allen kontextuellen Grenzen.

III Der Spielbegriff in der estnischen Kultur

Die Kultur der drei baltischen Staaten, die jüngsten Mitglieder der Sowjetunion nach dem II. Weltkrieg am westlichen Rande des Großstaates, war einerseits denselben strengen offiziellen Kontrollmechanismen unterstellt wie in den restlichen sowjetischen Ländern, andererseits behielt das Baltikum (sowohl aus historischen als auch geographischen Gründen) eine kulturelle Sonderposition bei, deren Grundzüge besonders während der Zeit des Tauwetters sichtbar wurden. Die in dieser Zeit neu gewonnenen Freiheiten und Möglichkeiten wurden ab Anfang der 1960er Jahre intensiv genutzt und zeitigten Wirkungen auch nach dem Ende der Liberalisierungspolitik. Zugleich zogen die verschiedenen künstlerischen Experimente und Grenzüberschreitungen die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich und führten zur Verstärkung der Kontrolle. Direkte Kontakte mit dem Westen waren selten,244 doch kam der Nähe zu Finnland eine bedeutende Rolle in der Etablierung Estlands als ›sowjetischer Westen‹ zu.245 Das kulturelle Umfeld der 1960er Jahre wurde hier gleichermaßen von der angestrebten Zusammenhörigkeit mit der westlichen Kultur wie auch von der praktischen Anpassung an das sowjetische System, von virtueller Offenheit einerseits und realer Isolation – sowohl von den westlichen als auch osteuropäischen Zentren – andererseits geprägt.246 Nicht zuletzt darf die geringe Größe

244 Einer der wenigen Künstler im Baltikum, der während der 1960er Jahre direkte Kontakte mit westlichen Künstlern hatte, war der Musiker (und späterer Politiker) Vytautas Landsbergis, der mit seinem Jugendfreund George Maciunas im Briefwechsel stand und Fluxus-Konzerte in Vilnius organisierte. S. Fluxus in Vilnius. Vytautas Landsbergis im Interview/An Interview with Vytautas Landsbergis. – Fluxus East, S. 63-76. 245 Mitte der 1960er Jahre wurde der Schiffsverkehr zwischen Tallinn und Helsinki eingerichtet, ab dem Ende der 1960er Jahre konnte man in Nordestland finnisches Fernsehen sehen. 246 Die persönlichen Eindrücke über die kulturellen Umwelt in Estland und deren Rolle für die Moskauer Künstler während der 1960er Jahre hat Yuri Sobolev dokumentiert,

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der Gesellschaft (mit ihrer hohen Dichte persönlicher Beziehungen und Entscheidungen) für die langfristigen Entwicklungen als ein ausschlaggebender Faktor gelten. Die estnische Kultur wäre somit in mehrfacher Hinsicht durch das Konzept des Randes/der Grenze (concept of margin) zu betrachten, das Piotr Piotrowski für die Verortung der gesamten osteuropäischen Neoavantgarde als Alternative zum Begriff der ›Peripherie‹ vorgeschlagen hat: Die kulturellen Randgebiete besitzen häufig eine größere Autonomie als es die Perspektive des Zentrums zulässt, sie können eine aktive Rolle einnehmen oder zumindest Formen kultureller Prozessen hervorbringen, die anderswo unsichtbar bleiben.247

3.1 H INTERGRÜNDE , D ISKURSE , T ERRITORIEN In der estnischen Kultur der 1960er Jahre – in der Literatur, in der Kunst, im Theater – unterscheidet man oft zwei Etappen: erstens die Periode vom Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre (die Zeit des Tauwetters) als Aufbauphase der kulturellen Neuorientierungen, zweitens die Zeit von der zweiten Hälfte der 1960er bis zum Anfang der 1970er Jahre als Realisierungsphase und Kulmination künstlerischer Experimente.248 Das Jahr 1968 und der Prager Frühling gelten dabei als eine Zäsur, im Zuge derer sich die frühere, hoffnungsvolle Stimmung und das optimistische Ausprobieren in den Künsten in eine »Rebellion der Verzweiflung«249 wandelten und die diverse Verschiebungen in der kulturellen Kommunikation mitsichbrachte. Obwohl in den letzten Jahren mehrfach auch das Weiterleben neoavantgardistischer Konzepte in den 1970er Jahren (die man häufig als die Zeit der Stagnation betrachtet) thematisiert wurde,250 geht die folgende Untersuchung davon aus, dass das Ende s. Yuri Sobolev, Virtual Estonia and No Less Virtual Moscow: An Essay on Island Mythology. – Primary Documents, S. 15-29. 247 Piotr Piotrowski, The Geography and History of Art in Eastern Europe. – In the Shadow of Yalta, S. 29. Piotrowski weist auf die weiteren terminologischen Überlegungen hin in: Andrzej Turowski, Awangardowe marginesy. Warsaw: Instytut Kultury, 1998, S. 11-22. 248 Zur Periodisierung in der Literatur: Tiit Hennoste, Hüpped modernismi poole: eesti 20. sajandi kirjandusest Euroopa modernismi taustal. 17. loeng. Kodueesti modernism I: hoojooks 60ndatel. – Vikerkaar 11, 1995, S. 87; in der Kunstgeschichte: Sirje Helme, Jaak Kangilaski, Lühike Eesti kunsti ajalugu. Tallinn: Kunst, 1999, S. 164-165. 249 Mart Velsker, Mis on kuuekümnendad eesti kirjanduses? – Taasleitud aeg: eesti ja soome kirjanduse muutumine 1950.–1960. aastatel/Kadonneen ajan arvoitus: Viron ja Suomen kirjallisuuden muuttuminen 1950- ja 1960-luvulla. Hg. Luule Epner, Pekka Lilja. Tartu: Tartu Ülikooli eesti kirjanduse õppetooli toimetised 2, 2000, S. 55. 250 Andres Kurg, Feedback Environment: Rethinking Art and Design Practices in Tallinn during the Early 1970s. – Kunstiteaduslikke Uurimusi/Studies on Art and Architec-

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der 1960er und der Anfang der 1970er Jahre als eine besondere Periode beschrieben werden kann, während der in kurzer Zeit viele gegensätzliche, noch nicht verarbeitete Impulse im kulturellen wie sozialen Kontext zusammentrafen und intensive Aktivitäten generierten, die von einer hohen Komplexität und Flexibilität gekennzeichnet waren. Im Vergleich zu den Aktivitäten vom Beginn der 1960er Jahre verstärkte sich am Ende der Dekade die reflexive Seite der künstlerischen Experimente, die kulturelle Praxis wurde vielfältiger und mehrschichtiger, die Selbstschutzmechanismen in den Künsten komplizierter. Im Vergleich zu den späten 1970er Jahren befanden sich die künstlerischen Positionen jedoch noch in einer Phase dynamischer Kreation und deren Verhältnis zur offiziellen Kultur war einerseits vielleicht rebellischer, andererseits zufälliger und beweglicher als in den späteren, mehr festgelegten Kommunikationsweisen. Der Kunsthistoriker Jaak Kangilaski hat für die estnische Kunst der Sowjetzeit drei parallele Diskurse herausgearbeitet: den Diskurs der offiziellen Kultur und zwei Gegendiskurse, von denen einer auf die konservativen nationalen Werte, d.h. auf eine Rückkehr zur vorsowjetischen Zeit, und der andere auf die internationale Neo-Avantgarde, d.h. auf die Kontaktaufnahme mit der westlichen Kultur, ausgerichtet waren.251 Dieses Modell kann in Bezug auf die kulturellen Entwicklungen ab dem Ende der 1950er Jahre angewendet werden und lässt sich auch in den anderen Künsten, z.B. in der Literatur beobachten. 252 Allerdings ist zu beachten, dass es einerseits zwischen diesen Diskursen diverse Überschneidungen gab und dieselben Künstler gleichzeitig auf verschiedenen kulturellen Ebenen aktiv sein konnten, andererseits die Diskurse in sich nicht homogen waren. Die Positionen und Konstellationen gründeten nicht immer auf gemeinsamen künstlerischen oder ideologischen Ansichten, sondern die Kooperation fungierte häufig als gemeinsame Opposition zu einem anderen (dominierenden) Diskurs. Diese pragmatische Zusammenarbeit bei gleichzeitig inhaltlicher Vielfältigkeit charakterisiert besonders die auf die NeoAvantgarde orientierten künstlerischen Bewegungen, aber auch die Rückkehr zur Tradition konnte auf verschiedene Richtungen verweisen und unterschiedlich verture 1–2 (20), 2011, S. 26-50; Mari Laanemets, Kunst kunsti vastu: kunstniku rolli ja positsiooni ümbermõtestamise katsest eesti kunstis 1970. aastatel. – Kunstiteaduslikke Uurimusi/Studies on Art and Architecture 1–2 (20), 2011, S. 59-91. 251 Jaak Kangilaski, Avangardi ja konformismi vahel. – Eesti Ekspress/Areen, 2.05.1997, S. B2; Jaak Kangilaski, Eesti kunsti kolm paradigmat Nõukogude okupatsiooni perioodil/Three Paradigms of Estonian Art during the Soviet Occupation. – Erinevad modernismid, erinevad avangardid: Kesk- ja Ida-Euroopa kunstiprobleemida pärast Teist maailmasõda/Different Modernisms, Different Avant-Gardes: Problems of Central and Eastern European Art after World War II. Hg. Sirje Helme. Tallinn: Eesti Kunstimuuseum, 2009, S. 113-122. 252 Mart Velsker, Mis on kuuekümnendad eesti kirjanduses? – Taasleitud aeg, S. 54.

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standen werden. Darüber hinaus wurden die öffentliche Rezeption und die offizielle Beurteilung der künstlerischen Aktivitäten von den komplizierten rhetorischen Strategien der Kritik geprägt. So hat man mit den offiziellen ideologischen Begriffen gearbeitet, dabei aber versucht, mit deren Hilfe auch einige unter offiziellen ideologischen Gesichtspunkt fragwürdige künstlerische Erscheinungen zu retten bzw. zu legitimieren. Im Laufe dieses Prozesses wurde der Inhalt dieser Begriffe durch die Gebrauchs- und Argumentationsweisen dermaßen destabilisiert, dass die Auseinandersetzungen zwischen der offiziellen, halboffiziellen und inoffiziellen Kultur während des Spätsozialismus häufig eher als eine performative Praxis und nicht als Kampf der ideologischen Positionen zu betrachten ist. Piotr Piotrowski hat in diesem Zusammenhang über die Ritualisierung der politischen Sprache und den pragmatischen Opportunismus geschrieben, die als Grundlagen des kulturellen Spektakels in den sozialistischen Ländern galten und von den Künstlern in Gebrauch genommen wurden, um sich Mittel und Möglichkeiten für die eigenen künstlerischen Experimente zu verschaffen. 253 Die Kunsthistorikerin Mari Laanemets hat in ihrer Analyse der inoffiziellen estnischen Kunst der Sowjetzeit jedoch auch darauf hingewiesen, dass eine Analyse, die die Übernahme der offiziellen politischen Sprache in den neoavantgardistischen künstlerischen Aktivitäten als lediglich formales und pragmatisches Verfahren begreift, die spezifischen Rahmenbedingungen unberücksichtigt lässt und die Komplexität der künstlerischen Haltungen reduziert. Denn die Künstler benutzten die offiziellen ideologischen Gattungen nicht unbedingt nur als Vorwand, sondern bezogen sie manchmal – in den späten 1960er und besonders in den 1970er Jahren – ernsthaft in ihre Überlegungen ein, unter anderem mit der Hoffnung auf eine Reform der offiziellen Strukturen.254 Die offiziellen und inoffiziellen Ebenen der Kultur waren nicht eindeutig zu unterscheiden. Bei den Kontaktaufnahmen der Neo-Avantgarde mit der offiziellen Ideologie handelte es sich aber auch nicht um einen naiven Optimismus bezüglich der sowjetischen Macht oder um einen kritiklosen Konformismus, sondern um weitaus komplexere und ambivalentere Positionierungen. Wie im zweiten Kapitel erläutert, wurde das sowjetische System während des Spätsozialismus weitestgehend als ewig wahrgenommen, die Vorstellung einer freien Außenwelt hatte in den kulturellen Entwicklungen zwar eine wichtige, aber auch zugleich statische Rolle. Die eigentlichen gesellschaftlichen und politischen Prozesse der 1960er Jahre in den osteuropäischen Ländern waren hingegen intensiv und dynamisch. Sie generierten optimistische Perspektiven, um anschließend die Diskrepanz zwischen den ideologischen 253 Piotr Piotrowski, Znaczenia modernizmu: W stronę historii sztuki polskiej po 1945 roku [Meanings of Modernism: Towards a History of Polish Art after 1945], Poznań 1999. Zitiert nach: Mari Laanemets, Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde: Inoffizielle Kunst in Estland 1969–1978. Berlin: Gebr. Mann, 2011, S. 146. 254 Mari Laanemets, Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde, S. 146.

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Versprechungen und den realen Lebensbedingungen deutlicher werden zu lassen. Unter diesen Umständen konnte die Aktualisierung, Überarbeitung und Umsetzung der Leitgedanken der kommunistischen Ideologie auf der performativen Ebene als Kritik des Systems wirken, obwohl die theoretischen Ausgangspunkte der Künstler ideologisch korrekt sein mochten. Eine der bedeutenden Neubestimmungen, die im Rahmen der von der jungen Generation initiierten kulturellen Aktivitäten in den 1960er Jahre in der estnischen Kultur herausgebildet wurde und die sich sowohl in der Theatererneuerung und in den Happenings, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, als auch in der Literatur niederschlugen, betraf die Rolle des Künstlers bzw. der Kunst in der Gesellschaft. Obwohl in den Beschreibungen des Spätsozialismus häufig die explizite Depolitisierung der Kultur und ein Rückzug der Künste in den Elfenbeinturm als Distanzierungsprozess von der offiziellen Kunst hervorgehoben wird, lässt sich daneben auch eine deutliche Gegenbewegung beobachten – ein neues Interesse für die Umwelt, eine Problematisierung der Rolle der Kunst im Alltag sowie das Aufkommen von Themen und Strategien, mit denen die Bedingungen des vorgegebenen Lebensraums (wenn auch nur indirekt) zur Diskussion gestellt wurden. Die weiteren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen gaben den künstlerischen Positionen mehrdeutige Impulse. Einerseits galt die Konsumgesellschaft, die sich in den 1960er Jahren auch in den sowjetischen Ländern herausbildete, als ein Zerrspiegel der westlichen Konsumgesellschaft (da unter den Bedingungen des ständigen Defizits der Prozess des Konsumierens permanent verhindert war), andererseits generierte es dieselben Mechanismen des Verlangens und der Besitzwünsche wie im Westen.255 Das Aufgreifen der Popkunst durch estnische Künstler bzw. der sog. Sowjetpop ging von dem Interesse an den visuellen Merkmalen der westlichen Konsumkultur und von der Begierde nach dieser unerreichbaren Welt aus, daneben aber entwickelten die Umsetzungen der Popkunst auch eine kritische Haltung gegenüber dem (sowjetischen) Kleinbürgertum, die sich im Weiteren mit der marxistischen Kritik des Konsumfetischismus in Verbindung bringen ließ.256 Das Wachstum des materiellen Wohlstandes verringerte einerseits die Unzufriedenheit mit dem System und führte zur Anpassung, andererseits weckten die neuen Lebensweisen auch das soziale Bewusstsein der Künstler. Die Privatsphäre fungierte zwar als ein alternativer Lebensraum und wurde durch – den offiziellen Ritualen entgegengesetzte – alltägliche (apolitische) Praktiken gestaltet, zugleich war diese Privatsphäre aber von ihrem Kontext untrennbar; sie wurde von Anfang von ihm 255 Sirje Helme, Popkunst Forever: Eesti popkunst 1960. ja 1970. aastate vahetusel/Estonian Pop Art at the Turn of the 1960s and 1970s. Tallinn: Eesti Kunstimuuseum, 2010, S. 6. 256 Mari Laanemets, Happening’id ja disain – visioon kunsti ja elu terviklikkusest. – Kunstiteaduslikke Uurimusi/Studies on Art and Architecture 1–2 (19), 2010, S. 22.

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geprägt und sie gehörte zur funktionellen Logik der Ideologie.257 In den Künsten wurden diese ambivalente Dynamiken explizit und bei vielen Phänomenen lassen sich zwiespältige Bestrebungen beobachten: Beispielsweise war die Theatererneuerung in Estland sowohl von dem Streben nach Rückzug und Distanzierung von der eigentlichen Umgebung als auch von unmittelbaren gesellschaftlichen Fragestellungen geprägt. Diese zwei Richtungen haben einander zum Teil hinterfragt und aufgehoben; manchmal versuchte man sie auch paradoxerweise miteinander zu verbinden. Die Umdeutungen der Rolle des Künstlers, wie sie im Rahmen der kulturellen Wandlungen und in Bezug auf einige konkrete künstlerische Praktiken am Ende 1960er Jahre in der estnischen Kultur vorgenommen wurden, waren gleichermaßen von den aktuellen politischen Prozessen, von der allgemeinen sozialen Atmosphäre und von der Entdeckung der neuen künstlerischen Medien und Strategien bzw. von der Wiederentdeckung der historischen Avantgarde beeinflusst. Auch wenn die künstlerischen Experimente von unterschiedlichen Impulsen ausgingen und zu unterschiedlichen Ergebnissen führten, bildeten sie doch einige gemeinsame Charakteristika aus: das neu definierte Verhältnis zur Umwelt, das Aufbrechen des traditionellen Kunstbegriffs, die angestrebte Erweiterung des Wirkungsfeldes künstlerischer Aktivität, die Entgrenzung und/oder die erhöhte Reflexion der verwendeten künstlerischen Medien. Der Prozess der Entstehung und die konkrete Erscheinung dieser Tendenzen in der Theatererneuerung und den Happenings werden im Weiteren näher betrachtet. Dabei lassen sich bereits vorläufig einige Grundlagen bzw. allgemeine Entwicklungsmuster festhalten. Die politische Liberalisierung und die verbesserten Lebensbedingungen weckten das Interesse für die alltägliche Umwelt und die etwas abgeschwächten Kontrollmechanismen ermöglichten die Herausbildung einer kritischen Haltungen gegenüber den aktuellen gesellschaftlichen Umständen, wobei freilich die Ausdrucksformen dieser Haltungen streng begrenzt waren. Die Impulse der westlichen Kultur unterstützten das Ausprobieren neuer künstlerischer Strategien, die häufig vom Anspruch auf unmittelbare Verbindung mit dem Alltag und/oder auf ein gesellschaftliches Engagement ausgingen. Diese Erfordernisse riefen unter den Künstler im sowjetischen Kontext ambivalente Reaktionen hervor, wurden aber nicht eindeutig abgelehnt. Die aus der zeitgenössischen westlichen Kultur oder aus der historischen Moderne übernommenen Impulse lenkten die künstlerischen Praktiken in zwei Richtungen. Zum einen versuchte man, die neu entdeckten Medien und Strategien von den gesellschaftsbezogenen Ansprüchen zu befreien und sie zu ästhetisieren. Zum anderen wurde ausgehend von diesen 257 Mari Laanemets, Kunst kunsti vastu: kunstniku rolli ja positsiooni ümbermõtestamise katsest eesti kunstis 1970. aastatel, S. 29; Hinweis auf: Slavoj Žižek, Das genießerische Gesetz. – Slavoj Žižek, Die Metastasen des Genießens: sechs erotisch-politische Versuche. Wien: Passagen Verlag, 1996, S. 152-153.

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künstlerischen Mitteln eine neue Verbindung mit der zeitgenössischen Gegenwart und mit deren Machtstrukturen hergestellt. Das letztgenannte Ziel brachte eine neue Selbstwahrnehmung des Künstlers hervor, und zwar auf verschiedenen Ebenen: Es verlangte sowohl die Aufgabe der Vorstellung der künstlerischen Tätigkeit als freien individuellen Ausdruck als auch den Verzicht auf den Schutzmechanismus, den diese Vorstellung im sowjetischen Kontext erzeugte bzw. darstellte. Allerdings wurde die Neigung zur Ästhetisierung und zu symbolischen Gesten sowie die Orientierung an universalen Werten auch in den alltags- und gesellschaftsbezogenen künstlerischen Praktiken zum Teil als ein Ausgleich oder Fluchtweg bewahrt, der die Rückkehr zum modernen Künstlerbegriff und an ihn gebundenen Positionen ermöglichte. Dieses Schwanken zwischen zwei gegensätzlichen Einstellungen formuliert ein wesentliches Dilemma der Künstler, die unter sowjetischen Bedingungen arbeiteten: Wie wäre das individuell Künstlerische, die individuelle ›Handschrift‹, die als eine der wichtigsten Insignien der Opposition galt, zu bewahren, ohne dabei den inhaltlichen Bezug zu gesellschaftlichen Realitäten zu verlieren?258 Die anderen Ostblockstaaten dienten für die sowjetischen Länder oft als Vermittler der westlichen Kultur.259 Ab Mitte der 1960er Jahre konnte man in Estland osteuropäische Presse bestellen und so galten für die Künstler als wichtigste Informationsträger die polnischen Zeitschriften »Projekt« und »Przegląd Artystyczny« sowie die Zeitschriften »Tvar«, »Výtvarné Umĕni« und »Výtvarné Prâce« aus der Tschechoslowakei. 260 Allerdings war die Rezeption der Zeitschriften einerseits durch die Sprachbarriere erschwert, andererseits wurde in ihnen überwiegend die Kunst aus den sozialistischen Ländern thematisiert. Die Auseinandersetzungen mit der westlichen Kultur waren vergleichsweise selten und beim visuellen Material handelte es sich lediglich um schwarz-weiße Reproduktionen mit geringer Druckqualität.261 Entsprechend konnte der Kontext und die Bedeutung der beschriebenen neuen Kunstgattungen nur teilweise und mithilfe der eigenen Vorstellungskraft rekonstruiert werden. Doch waren diese Zeitschriften unter den ersten und wichtigsten Quellen, mithilfe derer sich die estnischen Künstler über die zeitgenössische europäische und US-amerikanische Kunst informieren konnten. So wurden beispielsweise in diesen Zeitschriften Aktionen von Hermann Nitsch und Werke von Popkünstler, wie Robert Rauschenberg, Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg, Andy 258 Mari Laanemets, Happening’id ja disain – visioon kunsti ja elu terviklikkusest, S. 25. 259 Zu den kulturellen Verhältnissen zwischen der Sowjetunion und den anderen Ostblockstaaten vgl. David Crowley, Susan E. Reid, Style and Socialism: Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe. – Style and Socialism: Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe. Hg. Susan E. Reid, David Crowley. London und Oxford: Berg 2000, S. 4-9. 260 Sirje Helme, Popkunst Forever, S. 32. 261 Ebd.

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Warhol reproduziert. 262 Durch die persönlichen Beziehungen hatten einige junge Künstler auch begrenzten Zugang zu westlichen Kunstzeitschriften.263 Darüber hinaus konnte man in Antiquariaten einige Bücher über die Geschichte der modernen Kunst finden und von den wenigen Auslandsreisen Materialien mitbringen. Am Ende der 1960er Jahre wurden unter den jungen estnischen Künstlern insbesondere zwei Bücher über die aktuellen Erscheinungen in der westlichen Kunst bekannt: Michael Kirbys »Happenings« (1965)264 und das deutschsprachige Exemplar von Lucy Lippards »Pop Art« (1966).265 In Bezug auf die Theatererneuerung war einer der wichtigsten Vermittler westlicher Kunstentwicklungen der in Estland geborene und in den Vereinigten Staaten lebende Literaturwissenschaftler und Theaterkritiker Mardi Valgemäe, der unter anderem Texte von Antonin Artaud und Jerzy Grotowski nach Estland schickte. 266 Außerdem las man die tschechische Zeitschrift »Divadlo«267 und das polnische Journal »Dialog«.268 Darüber hinaus kamen einige Impulse für die kulturellen Neuorientierungen aus dem offiziellen Kulturaustausch zwischen der Sowjetunion und dem Westen, der in der Zeit des Tauwetters mit dem Ziel, das Bild der Sowjetunion als ein offenes und freies Land zu zeichnen, aufgenommen worden war. Allerdings konnten diese Impulse im Nachhinein wieder unterdrückt werden. So hatten beispielsweise die Arbeiten des amerikanischen Actionpainters Harry Colman, der an den 6. Weltjugendfestspielen in Moskau im Jahr 1957 teilgenommen hatte, einige estnische Künstler tief beeindruckt und inspiriert.269 Fünf Jahre später, nach der berühmten 262 Ebd., S. 32-33. 263 Bspw. konnte der Künstler Tõnis Vint mithilfe seines Vaters, der Wissenschaftler war, aus den Beständen der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften die englische Zeitschrift »Studio International« ausleihen; ebd., S. 32. 264 Laut dem Künstler Leonhard Lapin hat man das Buch im Jahr 1968 durch Theaterleute bekommen. – Videointerview mit Leonhard Lapin in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. Archiv des Estnischen Kunstmuseums: EKMa 12.1.–8/27. 265 Dieses Buch hat Leonhard Lapin von einer Studentenreise nach Ungarn im Jahr 1969 mitgebracht. Sirje Helme, Popkunst Forever, S. 32. 266 Mati Unt, Teatriuuenduse algusest Nõukogude Eestis. – Mati Unt, Theatrum mundi. Hg. Luule Epner. Tartu: Ilmamaa, 2000, S. 56. 267 Vgl. Jaan Tooming. (Interview.) – Lavakooliraamat. Hg. Kalju Orro. Tallinn: Eesti Teatriliit, 2007, S. 176. 268 Der Übersetzter Aleksander Kurtna hat von den Texten aus »Dialog« handschriftliche Übersetzungen gemacht. 269 Die Archivausstellung »Vaba kunsti töötuba Moskvas 1957/The Free Art Workshop in Moscow 1957« (Kuratorin Kädi Talvoja) über den Einfluss dieses Ereignisses fand im Jahr 2008 im Kumu Kunstmuseum in Tallinn statt.

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Manege-Ausstellung in Moskau im Jahr 1962, wurde jedoch der Abstraktionismus in der sowjetischen Kunst eindeutig verdammt. Die offiziellen Besuche von JeanPaul Sartre in der Sowjetunion und die Veröffentlichungen seiner Werke weckten und unterstützen das Interesse für die Philosophie des Existenzialismus – eine offene Äußerung dieses Interesses im Rahmen der sowjetischen Kulturproduktion galt aber als untolerierbar. 270 Somit generierten einerseits die dem System inheränten Paradoxe selbst die Anregungen, die man später wieder zu eliminieren versuchte, andererseits entstand in der sowjetischen Kultur aufgrund der wenigen, immer gebremsten, aber aufregenden Kontakte mit dem Westen ein besonderes Verhältnis zu den Informationen aus der Außenwelt, wobei auch die kleinsten Impulse hoch bewertet und gründlich bearbeitet wurden und bedeutende Prozesse auslösen konnten, selbst wenn der anfängliche Inhalt dieser Impulse während der Übersetzung und Aneignung verschoben und verkehrt wurde. Die kulturellen Bewegungen und künstlerischen Phänomene, die sich in den sowjetischen Ländern als Parallelformen zu ähnlichen Entwicklungen im Westen herausbildeten, erwarben teils schon von sich aus im totalitären Kontext eine spezifische Bedeutung, wobei sie in unterschiedlicher Weise verstanden und ausgehend davon uminterpretiert wurden. Manchmal gestaltete sich auch im Zusammenspiel mit dem System ein Raum für neue Phänomene, die sich aktuelle Interessen der offiziellen Ideologie oder zumindest einige Zugeständnisse zunutze machten. In Estland entwickelte sich dabei einerseits wegen der geringen Größe der lokalen Kunstwelt während der Sowjetzeit keine Underground-Kunstszene; andererseits gab es während der liberalen 1960er Jahre kein drängendes Bedürfnis dafür. Man ging eher davon aus, dass sich die offiziellen Strukturen ändern ließen. Statt von einer eindeutigen Trennung zwischen Offiziellem und Inoffiziellem spricht man in der estnischen Kunst manchmal vom sog. Sublimationsmechanismus.271 Das heißt, dass viele experimentelle Impulse in jenen künstlerischen Bereichen verhandelt wurden, die in der offiziellen Hierarchie der Künste nicht auf den höheren Stufen rangierten, wie etwa die Malerei und die Skulptur, und deswegen weniger kontrolliert wurden, so etwa die angewandten Künste, das Design, die Animation u.a. Entsprechend erschienen in Estland die wichtigsten Beiträge über die Geschichte der modernen Kunst und über die zeitgenössische westliche Kultur nicht in der Zeitschrift »Kunst«, sondern im Magazin »Kunst ja Kodu« (Kunst und Heim), das sich offiziell den Themen der künstlerischen Gestaltung der Lebensräume widmete, und im Jugendmagazin »Noorus« (Jugend). 270 Vgl. dazu Kapitel V, S. 226-229. 271 Vgl. dazu Andres Kurg, »Kunst ja Kodu« 1973–1980. – Kunstiteaduslikke Uurimusi/Studies on Art and Architecture 2 (13), 2004, S. 111; Andreas Trossek, Eesti popanimatsioon 1973–1979: joonisfilmist lähikunstiajaloo kontekstis. – Kunstiteaduslikke Uurimusi/Studies on Art and Architecture 1–2 (18), 2009, S. 73-74.

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Eine bedeutende institutionelle Entwicklung in Bezug auf die künstlerischen Experimente war die Gründung des Fachbereichs für industrielles Design im Staatlichen Kunstinstitut im Jahr 1966. Sie wurde im Rahmen der offiziellen Modernisierungsideologie, die auch die Gestaltung der materiellen Umwelt betraf, ermöglicht und unterstützt. Die Lehre in diesem Fachbereich gestaltete sich im Vergleich zur Lehre der bildenden Künste wesentlich freier und vielfältiger. 272 So wurden denn auch die meisten interdisziplinären künstlerischen Aktivitäten – darunter auch die Happenings – von den Studenten des industriellen Designs und der Architektur initiiert. Als Voraussetzung für die Entstehung der Theatererneuerung lassen sich dagegen die Subversivität des Systems und persönlichen Beziehungen und Entscheidungen als ausschlaggebend beobachten. Die Theatererneuerung fand im Theater »Vanemuine« in Tartu – in einem der größten und ältesten Theater in Estland – statt, das unter strenger offizieller Kontrolle stand. Unter dem Schutz des damaligen Direktors Kaarel Ird besaßen die jungen Regisseure jedoch relativ viel Gestaltungsspielraum, auch wenn Ird nicht immer ihre künstlerischen Ansichten teilte und diese mitunter zu Auseinandersetzungen mit den Behörden führten. Persönliche Entscheidungen, die Veränderlichkeit der gesellschaftlichen Bedingungen und die daraus entstandenen Konstellationen hatten auch bei den Veröffentlichungen sowohl der literarischen als auch philosophischen respektive kunsttheoretischen Texte aus dem Westen eine zentrale Bedeutung. So erschien beispielsweise im Jahr 1966 zusammen mit Franz Kafkas »Prozess« auch der Essay »Kafka« des französischen Philosophen Roger Garaudy in estnischer Sprache.273 Auch wenn Garaudy ein paar Jahre später von den sowjetischen Kulturideologen als Renegat bezeichnet wurde, so war doch sein Text publiziert und übte seine Wirkung aus. Zu einer radikalen Eliminierung von unliebsamen Büchern und Kunstwerke ist es während der 1960er Jahre üblicherweise nicht mehr gekommen, zudem war die kulturelle Situation dieser Zeit von einer sporadischen Durchlässigkeit und Flexibilität des Systems charakterisiert. Die Historiographie der estnischen Kulturgeschichte der Sowjetzeit lässt einige Grundnarrative erkennen. Erstens identifiziert man sich überwiegend mit dem Westen und die Kultur der Sowjetzeit wird auf diese Identifikation projiziert. Dementsprechend werden die 1940er und 1950er Jahre als eine erzwungene Abtrennung vom westlichen Kontext, die 1960er Jahre als erneute, dabei nur zeitweilige Kontaktaufnahme zu diesem und die 1970er Jahre und Anfang der 1980er Jahre als eine sich wieder verstärkende Isolation beschrieben. So betrachten die Kunsthistoriker 272 Mari Laanemets, Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde, S. 89-90. 273 Jüri Talvet, Eksistentsialism on humanism. – Sirp, 4.10.2002. Kafkas Erstausgabe auf Estnisch: Franz Kafka, Protsess. Übersetzung von August Sang. Loomingu Raamatukogu Nr. 40–43, Tallinn: Perioodika, 1966 (Roger Garaudy, Kafka. Übersetzung von Henno Rajandi; ebd. S. 179-232).

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Sirje Helme und Jaak Kangilaski in ihrem Buch »Lühike Eesti kunsti ajalugu« (Kurze Geschichte der estnischen Kunst, 1999)274 im Kapitel über das Ende der 1960er und den Anfang der 1970er Jahre in bedeutendem Maße die Phänomene, die im öffentlichen Kunstleben dieser Zeit fast oder vollständig unsichtbar waren, aber eine Übereinstimmungen mit der westlichen Kunst aufzeigen. Auch wenn die Autoren auf eine eindeutige Trennung von offizieller und inoffizieller Kunst verzichten, so basiert eine solche Darstellung der Kunstgeschichte doch auf der dualistischen Gegenüberstellung von Resistance und Konformismus. Diese Entgegensetzung ist jedoch in den letzten Jahren infrage gestellt worden und es wurden für die Verortung der Kunst der 1960er und 1970er Jahre komplexere Verhältnismodelle zwischen den verschiedenen Positionen auf der Achse offiziell-inoffiziell herausgearbeitet.275 Zweitens setzte sich nach der Wende in der Betrachtung der kulturellen Umbrüche der 1960er Jahre in erster Linie der Diskurs der Beteiligten durch, dessen Revision erst seit Kurzem aufgenommen wurde. Dieser dominierende Diskurs lässt sich nicht von den späteren Positionierungen der Künstler und Kritiker sowie auch von dem schmerzlichen Verhältnis zur Sowjetzeit trennen und beinhaltet sowohl Elemente der Selbstmythologisierung276 als auch der Distanzierung von der eigenen Vergangenheit. Bei den Materialien, die für die Untersuchung der Theatererneuerung zur Verfügung stehen, offenbart sich eine gewisse Sonderposition des Theaters in der estnischen Kultur, die sich während der Sowjetzeit herausbildete. Durch zahlreiche Interviews, im Nachhinein publizierten Briefwechsel und Tage-

274 Sirje Helme, Jaak Kangilaski, Lühike eesti kunsti ajalugu, S. 164-182. 275 Vgl. dazu: Mari Laanemets, Kunst kunsti vastu: kunstniku rolli ja positsiooni ümbermõtestamise katsest eesti kunstis 1970. aastatel; Mari Laanemets, Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde, S. 29-36; Andres Kurg, Feedback Environment: Rethinking Art and Design Practices in Tallinn During the Early 1970s; Andres Kurg, Boundary Disruptions: Late-Soviet Transformations in Art, Space and Subjectivity in Tallinn 1968–1979. Tallinn: Eesti Kunstiakadeemia, 2014. 276 Bspw. basiert die Verortung der frühen Happenings in Estland überwiegend auf den Texten von Künstler Leonhard Lapin, der selbst der Hauptinitiator und -ideologe dieser Ereignisse war, den ersten handschriftlichen Überblick des Phänomens schrieb (»Happening Eestimaal« [Happening in Estland], 1970) und ausgehend davon die späteren Betrachtungen veröffentlichte: Leonhard Lapin, Startinud kuuekümnendatel. Mälestusi ja mõtteid. – Kunst 1, 1986, S. 17-23; Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Teater. Muusika. Kino 5, 1987, S. 78-91; Leonhard Lapin, Avangardi kuldsed kuuekümnendad. – Avangard. Tartu Ülikooli filosoofiateaduskonna vabade kunstide professori Leonhard Lapini loengud 2001. aastal, Tartu: Tartu Ülikooli Kirjastus, 2003, S. 172197.

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bücher, Sammelbände und Monographien 277 ist die Theatererneuerung eine der meist reflektierten Erscheinungen in der estnischen Kultur der 1960er Jahre. Jedoch handelt es sich bisher eher um eine affirmative Mythologisierung des Phänomens als um eine kritische Auseinandersetzung, wobei einige, deutlich mit der offiziellen Ideologie verbundene Absichten der Inszenierungen häufig zugunsten deren universaler und existenzieller Ansprüche ausgeblendet worden sind. Drittens kennzeichnet die Reflexion über die Kultur der 1960er Jahre neben der Identifikation mit dem Westen und dem dominierenden Diskurs der Beteiligten eine weiterere Auffassung, die mit diesen beiden Tendenzen in einer teils widersprüchlichen, teils logischen Verbindung steht – die Vorstellung von einer kulturellen Eigenart, die sich ungeachtet der politischen Bedingungen geäußert habe, dabei auch in den direkt von westlichen Vorbildern inspirierten künstlerischen Praktiken zu finden sei und die geschützt und vermittelt werden müsse.278 Dieser Mechanismus der Selbsterhaltung einer kleinen Kultur erzeugt in der Geschichtsschreibung ambivalente Narrative, wobei dieselben Phänomene als Beweis der Zugehörigkeit zur westlichen Kunst als auch als lokale Eigenständigkeit erörtert werden können. Konzepte des kulturellen Grenzgebiets, in dem alle Einflüsse zu einer Synthese gebracht werden, und der kulturellen Insel, die eine wesentliche Besonderheit besitzt, wechseln sich dabei ausgleichend ab. Das Interesse am Phänomen des Spiels, das sowohl in der Aktualisierung des Spielbegriffs als auch in den spielerischen Erweiterungen der künstlerischen Praxis seinen Ausdruck fand, lässt sich in der estnischen Kultur der 1960er Jahre auf verschiedenen Ebenen verfolgen. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war die Zentralität des Spielbegriffs in der Theatererneuerung, die sowohl vor dem Hintergrund der westlichen als auch osteuropäischen Kultur als eine besondere Erscheinung bezeichnet werden kann, dabei aber auch einige Leitmotive bestimmter künstlerischer Ideologien und kontextuelle Faktoren auf eine interessante Weise zusammengebracht hat. Außerdem beeinflusste die Theatererneuerung die Konzeptualisierung der zur gleichen Zeit initiierten ersten Happenings in Estland und führte zu einer Übernahme, zugleich aber auch zu einer Umdeutung des Spielbegriffs. Darüber hinaus können die begriffsbezogenen Entwicklungen in einem weiteren Kontext der Spielhaftigkeit kultureller Prozesse in den 1960er Jahren beschrieben und möglicherweise als Kulmination dieser Prozesse betrachtet werden. Während der ersten 277 Jaak Rähesoo, Hecuba pärast: kirjutisi teatrist ja draamast 1969–1994. Tartu: Ilmamaa, 1995; Thespis: meie teatriuuendused 1972/73. Hg. Vaino Vahing. Tartu: Ilmamaa, 1997; Mati Unt, Theatrum mundi. Hg. Luule Epner. Tartu: Ilmamaa, 2000; Hermaküla. Hg. Luule Epner, Mati Unt, Vaino Vahing; Tartu: Ilmamaa, 2002; Vaino Vahing, Noor Unt. Loomingu Raamatukogu Nr. 1–3, Tallinn: Perioodika, 2004; Vaino Vahing, Päevaraamat I. Tallinn: Vagabund, 2006 u.a. 278 Vgl. Sirje Helme, Popkunst Forever, S. 34-35.

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Hälfte der 1960er Jahre äußerte sich diese Spielhaftigkeit in einer generellen Auflockerung, die in den Künsten zur Aufnahme und Verarbeitung neuer Informationen, zum Ausprobieren verschiedener Techniken und Taktiken, zu einer größeren Vielfältigkeit und Wandelbarkeit führte und die von einer hoffnungsvollen Stimmung geleitet war. In den späten 1960er Jahren, in denen die Verarbeitung der neuen Impulse einen konzentrierteren und bewussteren Ausdruck fand, geriet die künstlerische Praxis jedoch in eine neue politische Situation. Dabei kann das intensivierte Interesse am Spielerischen selbst als ein Krisenphänomen gedeutet werden – als eine Reaktion auf die Resignation, mit der die Hoffnung auf reale Änderungen aufgegeben wurde.279 Sowohl die Inszenierungen der Theatererneuerung als auch die meisten Happenings wurden kurz vor, während oder kurz nach dem Prager Frühling ausgeführt. In beiden Fällen lässt sich der Anspruch auf eine Neugestaltung des Verhältnisses zur aktuellen Lebensrealität beobachten – unter den Bedingungen, in denen die direkte Antwort auf diese Realität unmöglich oder nutzlos war. Einerseits galt das Schaffen eines eigenständigen Spielraumes als eine Schutzreaktion, andererseits hat die Lebensrealität selbst so viele Spielebenen und -strategien generiert, dass jegliche Aktivität in diesem Kontext sich kaum von dieser trennen ließ. Somit war die Intensivierung des Spielerischen in den Künsten auch eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Spielpraktiken. Ein nicht absoluter, aber doch deutlicher Unterschied zwischen den Spielwahrnehmungen in der Theatererneuerung und in den Happenings lag in der Verortung des Zwecks und in der allgemeinen Stimmung des Spiels. Wenn im Theater ein tiefes und ernsthaftes Spiel angestrebt wurde, ging es in den Happenings um ein fließendes, leichtes und teilweise narrenhaftes Spiel. Im Laufe der Zeit tendierte man im Theater immer mehr zu einer Abgrenzung von der Außenwelt und zu einem verschlossenen Spiel, einige mit den Happenings befasste Künstler wandten sich nach dieser spielerischen Phase – und ausgehend davon – erneut den Ideen allumfassender Umweltgestaltung zu.280 Wenn in der Betrachtung der spätsozialistischen Kultur oft die Verstärkung des Spielerischen – im Gegensatz zum Ernsten – hervorgehoben wird,281 so lässt der Vergleich der Theatererneuerung und der ersten Happenings in Estland eher eine Parallelität dieser zwei Einstellungen verfolgen, wobei es keinen eindeutigen Übergang vom 279 Vgl. Ernst Strouhal, Wenn es brennt, läuft der Hund raus, das Programm rechnet weiter: Ein Gespräch von Dieter Buchhart und Mathias Fuchs. – Kunstforum International: Kunst und Spiel I, S. 86-87. 280 Mari Laanemets, Happening’id ja disain – visioon kunsti ja elu terviklikkusest, S. 1534. 281 Mari Laanemets, Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde, S. 253; Hinweis auf: Georg Witte, Appell – Spiel – Ritual: Textpraktiken in der russischen Literatur der sechziger bis achtziger Jahre. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1989, S. 136137.

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einen zum anderen gibt, sondern eher das flexible Abwechseln der Beiden sichtbar wird: Höchste Ernsthaftigkeit wechselte zu einem Verlachen aller Wahrheiten und Werte, um dann wieder zur Ernsthaftigkeit zurückzukehren. Dieser strategische Zweifel und Zwischenzustand war unmittelbar mit dem praktischen Dilemma der Selbstpositionierung der Künstler verbunden und davon geprägt: Man wollte aus dem System heraustreten, hat aber auch die Unmöglichkeit dieses Schrittes begriffen; der Versuch, außerhalb und zugleich Teil des Systems zu sein, stellte den Kontext für die künstlerische Produktion und bestimmte ihre ambivalente Haltung zwischen Engagement und Verweigerung.282

3.2 T HEATERERNEUERUNG Mit dem Begriff ›Theatererneuerung‹ bezeichnet man in der estnischen Kultur die künstlerische Tätigkeit der Regisseure Evald Hermaküla und Jaan Tooming in Tartu am Ende der 1960er und Anfang der 1970 Jahre. Die Hauptinszenierungen der Theatererneuerung wurden zwischen den Jahren 1969 und 1971 auf die Bühne gebracht, doch hatten die hier entwickelten und ausgeführten Ideen sowohl eine Vorbereitungsphase als auch ein Nachleben. Im Mittelpunkt der Theatererneuerung stand das Theater »Vanemuine«; bei manchen Inszenierungen hat man aber auch die institutionellen Theaterräume verlassen. Innerhalb des Künstlerkreises, der sich um die Theatererneuerung herausbildete, hatten der Schriftsteller und Dramaturg Mati Unt, als Konzeptualisierer und Vermittler der künstlerischen Experimente, und der Schriftsteller und Psychiater Vaino Vahing mit seinem Beitrag der Ideen zur Psychoanalyse bedeutende Positionen inne. Die praktischen Voraussetzungen für die experimentelle Erneuerung mithin in einem staatlichen Theater wurden mit Hilfe des damaligen Direktors von »Vanemuine«, Kaarel Ird, geschaffen. Die Bedeutung der Theatererneuerung in Estland ist in erster Linie vor ihrem kontextuellen Hintergrund zu verorten. Die Leitmotive und Hauptziele der Inszenierungen von Hermaküla und Tooming bezogen sich auf verschiedene Wandlungen und Richtungen im Theater der 1960er Jahre und waren im Vergleich zu einigen Experimenten im westlichen oder osteuropäischen Avantgardetheater ideologisch gemischter und methodisch zufälliger. In der eigenen kulturellen Umgebung zeigten diese aber eine ziemlich weitgehende Radikalität auf, deren Spezifik unter anderem daran lag, dass sie einerseits als Reaktion auf die Erfordernisse der offiziellen Kultur entstanden, andererseits einige Narrative der offiziellen Ideologie in sich hineinzogen. Darüber hinaus lässt sich der starke Einfluss der Psychoanalyse (vor allem der Theorien von Carl Gustav Jung) sowohl auf die Interpretation des Spielbegriffs als auch auf die Annahme der Ideen von Antonin Artaud und Jerzy Grotowski in der Theatererneuerung als eine Besonderheit schildern und das Zusammenfallen der 282 Ebd.

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verschiedenen, anfänglich getrennten, sogar gegensätzlichen kulturellen Impulse im sowjetischen Kontext während der 1960er Jahre beobachten. Die Auflockerung und Erweiterung der künstlerischen Strategien und die Bearbeitung vielfältiger neuer Informationen äußerte sich im Theater später als in den anderen Künsten (unter anderem aus praktischen Gründen bzw. wegen der institutionellen Rahmenbedingungen), führte aber eben wegen der längeren Anlaufphase, die durch die allgemeinen kulturellen Entwicklungen vorbereitet wurde, zu einer intensiven und komplexen Ausführung der künstlerischen Experimente, die als ein Umbruch im estnischen Theater charakterisiert werden können.283 Als bedeutende Faktoren der Entstehung der Theatererneuerung sind sowohl die breiteren kulturellen Wandlungen als auch die persönlichen Hintergründe der Beteiligten zu betrachten. Schon seit dem Anfang der 1960er Jahre sprach man in Bezug auf die Künste (zuvor in der Literatur bzw. in der Poesie und in der visuellen Kunst) von einem neuen Verfahren der künstlerischen Praxis – von der abstrahierten Darstellungsweise und von der Bildlichkeit des künstlerischen Ausdrucks. Diese Verfahren entsprachen einerseits der Modernisierung der offiziellen Kultur und repräsentierten die Entfernung vom kanonischen sozialistischen Realismus und erzeugten andererseits, aufgrund der Unbestimmtheit der neuen Begriffe und Kriterien, einen relativ breiten Bewegungsraum in den Künsten. Diese Schlüsselwörter wurden auch für das Theater übernommen und fanden vor allem in den Verschiebungen der narrativen Struktur der Inszenierungen und im abstrahierten Bühnenbild ihren Ausdruck. Diese allgemeine Tendenz galt als der Ausgangspunkt der Theatererneuerung, wurde aber in der späteren Entwicklung – die von der Suche nach Präsenz und ›Antiliterarität‹ geleitet war – deutlich abgelehnt.284 Dem im damaligen sowjetischen Theater dominierenden psychologischen Realismus setzte man neue Erzählungsweisen und Schauspieltechniken entgegen, die erstens durch die Entfernung von der Literatur und die Annäherung an die Körperlichkeit, zweitens durch die Entfernung von der Rationalität und die Annäherung an das ›Unbewusste‹ gekennzeichnet waren.285 Für ein Verständnis der Herausbildung dieser Entgegensetzung können – besonders vor dem Hintergrund des stark ausgeprägten Gemeinschaftsgefühls (bzw. Bewusstsein einer Schulbildung) im damaligen estnischen Theater, das in der einzigen zeitgenössischen Theaterhochschule unter der Leitung des renom-

283 Vgl. dazu: Jaak Rähesoo, Hermaküla ja Tooming. (1976) – Hecuba pärast, S. 62-74 (Erstveröffentlichung in: Teatrimärkmik 1971/72. Tallinn: Eesti Raamat, 1976); Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971). – Akadeemia 11, 2006, S. 2438-2448. 284 Mati Unt, Teatriuuenduse algusest Nõukogude Eestis. – Theatrum mundi. Hg. Luule Epner. Tartu: Ilmamaa, 2000, S. 53-54. 285 Ebd., S. 54-58.

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mierten Regisseurs Voldemar Panso geformt wurde286 – die persönlichen Positionierungen und Motivationen nicht unbeachtet bleiben. Evald Hermaküla hatte Geologie an der Universität Tartu studiert und war zum Theater durch das Studio gekommen, das bei »Vanemuine« eingerichtet war. In seiner künstlerischen Tätigkeit betonte er immer die Bedeutung seiner Kenntnisse der Naturwissenschaften und versuchte diese auch den Schauspieler vermitteln.287 So bezogen sich seine Inszenierungen zum Teil – im Gegensatz zu den üblichen menschfokussierten Problemstellungen im Theater – auf erweiterte ideelle Grundlagen. Jaan Tooming hatte zwar an der Theaterschule in Tallinn studiert, seine Interessen wuchsen aber über den Rahmen des Schauspielstudiums hinaus und entwickelten sich in eine Richtung, die von dem von Panso etablierten Theaterkonzept wegführte.288 Darüber hinaus besaß das Theater während der Sowjetzeit eine besondere Position unter den Künsten. Es übte eine hohe Anziehungskraft auf die verschiedenen intellektuellen und kreativen Energien aus, fungierte – besonders in der Universitätsstadt Tartu – als ein Mittelpunkt des kulturellen Lebens und bot sich als eine optimale Plattform für die Bearbeitung neuer künstlerischer Ideen an. Die erste Inszenierung von Evald Hermaküla, »Lugusid argielust ehk Valtoniana« (Geschichten aus dem Alltagsleben oder Valtoniana) – oft bezeichnet als Vorspiel der Theatererneuerung – basierte auf den Texten des estnischen Schriftstellers Arvo Valton und kam im Frühjahr 1966 in »Vanemuine« auf die Bühne.289 Im Unterschied zur späteren Entwicklung hatte »Valtoniana« noch unterschiedliche Grundlagen und ging von Hermakülas damaligem Interesse für das Theaterkonzept Bertolt Brechts aus. Brecht war in der Sowjetunion hochgelobt,290 im estnischen Theater – besonders nach der legendären Inszenierung von Voldemar Panso in 1958291 – gut bekannt und diente, laut Mati Unt, als der erste Anhaltspunkt 286 Voldemar Panso leitete den Lehrstuhl für Bühnenkunst am Tallinner Staatlichen Konservatorium (heute Schule für Bühnenkunst an der Estnischen Musik- und Theaterakademie) in den Jahren 1957–1977. 287 Bspw. wurde in den Proben zum »Ascheputtelspiel« (1968/1969) über Quantenmechanik und Kybernetik gesprochen, vgl. Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2441. 288 Vgl. Jaan Tooming. (Interview.) – Lavakooliraamat, S. 171-177. 289 Paul-Eerik Rummos Montage und Dramatisierung der Novellen von Arvo Valton, Premiere in »Vanemuine« am 12.03.1966, Bühnenbild Sirje Peerna. 290 U.a. wurde Brecht im Jahr 1954 der Internationalen Lenin-Friedenspreis verliehen. 291 »Herr Puntila und sein Knecht Matti« im Tallinner Staatlichen Akademischen Dramatheater; in den nächsten Jahren folgten weitere Brecht-Inszenierungen in verschiedenen estnischen Theatern (»Leben des Galilei« in »Vanemuine«, »Mutter Courage und ihre Kinder« im TSA Dramatheater, beide 1961, »Die Dreigroschenoper« in »Vanemuine« in 1964 u.a.).

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der Theatererneuerung,292 der ein Abgehen vom psychologischen Realismus ermöglichte und ein gesteigertes Selbstbewusstsein in Bezug auf künstlerische Aktivität verlangte. Auch wenn in den späteren Inszenierungen der Theatererneuerung die Verfremdungseffekte immer mehr mit dem spontanen und improvisierten Spiel ersetzt wurden und man auf ›Irrationalität‹ und unmittelbare emotionalen Affekte Wert legte, blieb der Einfluss Brechts besonders für Hermaküla auch weiterhin relevant und lässt sich sowohl in seiner nächsten Arbeit – in »Tuhkatriinumäng« (Aschenputtelspiel, 1969) – als auch in seiner zeitweiligen Rückkehr zum epischen Theater (»Südasuvi 1941« [Mittsommer 1941], 1970; »Maria«, 1971) zwischen den spielerischen Experimenten nachzeichnen. Abbildung 3: »Aschenputtelspiel« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1969 (Herta Elviste, Raivo Adlas)

Foto Jüri Tenson, Estnisches Theater-und Musikmuseum

Außerdem gehörte zu Hermakülas künstlerischen Ansichten die Idee des ›demokratischen Theaters‹,293 die man auf Brecht zurückführen kann und die auch schon in »Valtoniana« ihren Ausdruck gefunden hatte. Für die Inszenierung wurden Laienschauspieler mit wenig Bühnenerfahrung aus dem Theaterstudio hinzugezogen. Das entsprach einerseits der Position Hermakülas als jungem Regisseur, andererseits deutete es sein weiterhin wachsendes Interesse an Schauspieltechniken an, die nicht auf einem professionellen Training, sondern auf der psychischen und physischen 292 Mati Unt, Teatriuuenduse algusest Nõukogude Eestis. – Theatrum mundi, S. 56. 293 »Demokratisches Theater« bestand für Hermküla vor allem in der »Freiheit des Schauspielers«, vgl. Mati Unt, Minu teatriglossaarium. (1972) – Thespis, S. 137.

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›Befreiung‹ der Schauspieler basierten. Darüber hinaus hat man im Rahmen der Theatererneuerung immer wieder auf das Brecht’sche Theater hingewiesen durch das beliebte Zitat von Peter Brook, der sein Theaterideal als Synthese von Brecht und Artaud schilderte. 294 Auch wenn einige Inszenierungen von Hermaküla und Tooming vor allem nach unmittelbarer Präsenz und Ritualität strebten, wurde die reflexive Seite neben der emotionalen Einbindung nicht nur implizit festgehalten, sondern auch – abwechselnd mit dem impulsiven Spiel – bewusst hervorgerufen und vorgeführt. Abbildung 4: »Lässt die Hand küssen« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1969 (in der Mitte Evald Aavik)

Estnisches Theater- und Musikmuseum

294 Dieses Theaterideal war laut Mati Unt das Vorbild der Inszenierung »Nur ein Lied«. Die Synthese von Artaud und Brecht bestand darin, dass man die gleichzeitige Identifizierung (mit den Bühnencharaktern) und Distanzierung des Zuschauers anstrebte (als hätte man den Mensch geschlagen und ebenda ihn das Foto von seiner Reaktion gezeigt). – Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 138.

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Nach einer Pause, die nach »Valtoniana«295 eintrat, fanden im Jahr 1969 die Premieren der drei Hauptinszenierungen der Theatererneuerung statt: Im Januar wurde »Ühte laulu tahaks laulda …« (Nur ein Lied möchte ich singen …, Montage der Gedichte von Gustav Suits, Gruppenarbeit unter Leitung von Hermaküla und Tooming), 296 im Februar Paul-Eerik Rummos »Aschenputtelspiel« (Regie Evald Hermaküla) 297 und im Dezember »Laseb käele suud anda« von August Kitzberg (Lässt die Hand küssen, Regie Jaan Tooming) aufgeführt. 298 Da das »Aschenputtelspiel« schon im Frühling 1968 fertig, aber inzwischen verboten worden war und später ohne größere Änderungen auf die Bühne gebracht wurde, kann man die Entwicklung der neuen Theaterästhetik vom »Aschenputtelspiel« über »Nur ein Lied« bis zu »Lässt die Hand küssen« verfolgen. So bezeichnete der Kritiker Jaak Rähesoo die erstgenannte Inszenierung als Entwurf der Konturen und Grundzüge, die zweite als herausragendes Manifest und die dritte als Befestigung der Theatererneuerung.299 Allerdings hatte das »Aschenputtelspiel« im Vergleich zu den anderen Stücken einen komplexeren Hintergrund und nahm eine Sonderposition unter den drei Arbeiten ein. Der Text von Paul-Eerik Rummo war einer der bedeutendsten estnischen Theatertexte gegen Ende der 1960er Jahre und auch eine der ersten Auseinandersetzungen mit dem Existenzialismus in der estnischen Kultur. 300 Die Inszenierung wurde während des Prager Frühlings vorbereitet und vermutlich im Zusammenhang mit den damaligen angespannten Stimmungen und mit dem noch nicht vorhersehbaren weiteren Verlauf der Ereignisse verboten.301 Darüber hinaus 295 In den Jahren 1966-1967 war Hermaküla im Militärdienst und arbeitete danach im Fernsehtheater der Estnischen Television. Jaan Tooming kam an das Theater »Vanemuine« im Jahr 1969. 296 Die Aufführungen fanden im Haus der Schriftsteller in Tallinn statt und gehörten zum Programm des »Literarischen Mittwochs« (Premiere am 22.01.1969, Besetzung: Evald Hermaküla, Jaan Tooming, Tõnu Tepandi, Kaarel Kilvet, Lembit Ulfsak, Raivo Trass). 297 Paul-Eerik Rummo schrieb das »Aschenputtelspiel« im Jahr 1967. Die Premiere in »Vanemuine« fand am 19.02.1969 statt. Das Bühnenbild gestaltete Liina Pihlak, in den Hauptrollen spielten Raivo Adlas (Prinz), Mare Puusepp oder Ene Rämmeld (Aschenputtel), Herta Elviste (Herrin), Kulno Süvalep (Hausherr). 298 Die Inszenierung basierte auf dem Theaterstück »Enne kukke ja koitu« (Vor Sonnenaufgang, 1919) von August Kitzberg. Die Premiere fand in »Vanemuine« am 14.12.1969 statt. Das Bühnenbild gestalteten Andres Tolts und Meeri Säre, in den Hauptrollen spielten Raine Loo, Evald Aavik, Kuno Otsus. 299 Jaak Rähesoo, Hermaküla ja Tooming. – Hecuba pärast, S. 65-67. 300 Vgl. dazu Kapitel V, S. 250-254. 301 Vgl. dazu: Sven Karja, Lossimängud. Paul-Eerik Rummo – Evald Hermaküla »Tuhkatriinumäng«, 1969. – Teatrielu 1999. Hg. Reet Neimar. Tallinn: Eesti Teatriliit, 2001, S. 359-387.

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war im »Aschenputtelspiel« das erste Mal im Rahmen der Theatererneuerung das Phänomen ›Spiel‹ angesprochen worden, auch wenn die in diesem Stück geschilderten Bedeutungen des Spiels ein ambivalentes Verhältnis zum späteren Spielverständnis des Regisseurs aufzeigten und ein Panorama der Gegensätze des wertvollen, ›echten‹ Spiels hervorgebracht haben. »Nur ein Lied« basierte auf den Texten des estnischen Dichters Gustav Suits vom Anfang des 20. Jahrhunderts.302 Die Inszenierung unterschied sich vom damaligen institutionellen Theater sowohl durch die textuelle Struktur des Stückes, die Probenmethodik und die Spielweise als auch durch den Aufführungsort (das Haus der Schriftsteller in Tallinn). Das Stück wurde in einer improvisatorischen Gruppenarbeit vorbereitet und mit assoziativer und expressiver körperlicher und stimmlicher Bewegung zur Darstellung gebracht. 303 »Lässt die Hand küssen« war die erste Inszenierung von Jaan Tooming, die die improvisierte, sich auf körperliche Impulse und Reaktionen stützende Arbeitsmethode weiterführte, aber auch Toomings Interesse am Ritual zum Ausdruck brachte. Hierfür wurde der Text von August Kitzberg, einem der ersten estnischen Dramatiker, zwar in seinem Kern nicht geändert, jedoch wurde er gekürzt und die Handlung vom Regisseur für die Bühnenaufführung ›durchritualisiert‹.304 Abbildung 5: »Du, wer die Ohrfeigen kriegt« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1971 (Jaan Kiho, Jaan Tooming)

Estnisches Theater- und Musikmuseum 302 Die Inszenierung fing mit Gedichten, die während und nach der Revolution im Jahr 1905 geschrieben wurden, an und endete mit den Texten aus der Zeit des I. Weltkriegs. 303 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2441. 304 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 138-139.

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Obwohl Hermaküla als Hauptinitiator der Theatererneuerung galt und Jaan Tooming mehrmals sich als Schauspieler an seinen Inszenierungen beteiligte, ist die Rolle Toomings in der konzeptuellen Entwicklung der Theatererneuerung nicht zu unterschätzen. Besonders durch seine Untersuchungen zu rituellen Praktiken, Folklore, Ethnographie aber auch zum orientalischen Theater305 trug er bedeutende ideologische Dimensionen zur Theatererneuerung bei und vervollständigte deren praktische Arbeitsmethodik, obwohl seine Vorbilder und Hermakülas Ziele voneinander abwichen und im Späteren auch in verschiedene Richtungen führten. Kulmination und Finale der Theatererneuerung war die Inszenierung »Sina, kes sa saad kõrvakiile« (Du, wer die Ohrfeigen kriegt, Text von Leonid Andrejew,306 1971), die noch in enger Zusammenarbeit zwischen Hermaküla und Tooming entstand307 und die verschiedenen früheren Bestrebungen zur Synthese brachte. Eines der interessantesten Kennzeichen dabei war das ambivalente Verhältnis zwischen dem Text und der Aktion bzw. der expliziten Wertschätzung des spontanen, impulsiven Spiels, das aber durch die verbalisierten Botschaften hervorgerufen und unterstützt wurde. »Ohrfeigen« basierte dabei auf einer komplizierten Textbearbeitung, die der Dramaturg Mati Unt auf Grundlage des Theaterstücks von Leonid Andrejew unter Hinzufügung von Abschnitten aus Werken Dostojewskis, aus Briefen Andrejews und aus der Bibel zusammenstellte.308 Daneben war »Ohrfeigen« aber auch die am stärksten improvisierte Inszenierung der Theatererneuerung, deren reichliche Metaphorik durch die erhöhte Emotionalität und durch das allumfassende Spiel in verschiedenen Registern aufgeführt wurde. 309 Diese Zwiespältigkeit, die Ablehnung des Verbalen zugunsten des Körperlichen, die Distanzierung von der Literatur und die Konzentration auf eine erfahrungsbezogene Improvisation, wobei man aber dennoch sporadisch auf den Text zurückgriff, charakterisierte auch die Experimente des sog. Nachttheaters,310 die Hermaküla im Jahr 1971 initiierte. Ausgangspunkt war hier das von persönlichen Impulsen getragene Spiel ohne zuvor festgelegtes 305 Vgl. Jaan Tooming. (Interview.) – Lavakooliraamat, S. 72. 306 Der Titel des Textes wurde etwas verschoben, bei Andrejew heißt es »Der, wer die Ohrfeigen kriegt« (Тот, кто получает пощёчины, 1915). 307 Dramaturg Mati Unt, Regie Evald Hermaküla, Bühnenbild Georg Sander, Premiere in »Vanemuine« am 18.11.1971; Jaan Tooming spielte die Hauptrolle (Tot), in den anderen waren Rollen Mare Puusepp, Evald Aavik, Kuno Otsus, Ants Ander. 308 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2444-2445. 309 Vgl. dazu: Jaak Rähesoo, Hermaküla ja Tooming. – Hecuba pärast, S. 67-72, Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2444-2445. 310 Zum Nachtheater vgl.: Mati Unt, Mõned märkused nn. ööteatri kohta. (1971) – Theatrum mundi, S. 42-45 (Erstveröffentlichung in: Tartu Riiklik Ülikool, 21.05.1971), Mati Unt, Öösel toas ja päeval laadal. – Hermaküla. Hg. Luule Epner, Mati Unt, Vaino Vahing. Tartu: Ilmamaa, 2002, S. 105-107.

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Rahmenthema und unter Verzicht auf jegliche Hinweise und Aufforderungen an den Schauspieler. Dabei wurden jedoch alle Aktivitäten vom Regisseur sorgfältig dokumentiert und im Nachhinein mit verschiedenen Textausschnitten311 in Verbindung gebracht. Allerdings diente diese zeitweilige Strukturierung nur als eine Zwischenphase, worauf hin – und anscheinend auf einer neuen Ebene – das freie Spiel wieder erreicht werden sollte, indem »der Text ebenso ein Spielzeug« wurde »wie der Raum, eine Trommel oder ein Rapier«.312 Kurz nach der Premiere des »Aschenputtelspiels« inszenierte Hermaküla im Frühling 1969 im Fernsehtheater bei der Estnischen Television ein Stück namens »Armastus, armastus« (Liebe, Liebe) der estnischen Autorin Irene Haak. Die öffentliche Rezeption war unterschiedlich, doch haben fast alle Kritiker einige bestimmte Szenen, die als albern und inhaltlich irrelevant bezeichnet wurden, verurteilt. 313 Laut Mati Unt hat Hermaküla – ausgehend von der Idee des demokratischen Theaters und des selbstständigen Schauspielers – die Schauspieler (Ene Rämmeld, Jaan Tooming, Tõnu Tepandi) »losgelassen« und »die haben gemacht, was die wollten«; 314 das Ergebnis sei mitreißend, etwas verrückt, zum Teil lästig, zum Teil spannend gewesen.315 Aufgrund dieser Inszenierung entstand einer der bedeutendsten Texte in Bezug auf die Theatererneuerung, eine kurze Rezension von Vaino Vahing – »Ainult mängust« (Nur über Spiel) –, die zwar unveröffentlicht blieb, aber ein verstecktes Manifest der folgenden Theaterexperimente wurde.316 Die alberne Szene in »Liebe, Liebe« beschreibt Vahing als einen Anspruch auf das echte Spiel, das zwar infantil sein mag, aber nicht mehr Schauspiel sei, sondern eine Grenzsituation, in der sich vielleicht nur Kinder frei fühlen und frei handelten, eine Situation, vor der die Erwachsenen sich fürchteten (als wäre es ein Rückschritt), da sie vergessen hätten, dass das Spiel der einzige und königliche Weg sei, um sich selbst – das eigentliche Ich und nicht die Maske – kennenzulernen.317 Bei der Erläuterung des Spiels als königlichen Weg zu sich selbst wies Vahing auf den deutschUS-amerikanischen Psychologe Erik Erikson bzw. auf sein Buch »Childhood and

311 Die Auschnitte waren aus den Texten »Rosencrantz und Güldenstern sind tot« von Tom Stoppard, »Mutter Joanna« von Jarosław Iwaszkiewicz, »Die Teufel« von John Whiting, »Marat« von Peter Weiss und »Peer Gynt« von Henrik Ibsen. Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 153. 312 Mati Unt, Mõned märkused nn ööteatri kohta. – Theatrum mundi, S. 44. 313 Vgl. Vaino Vahing, Ainult mängust. (1969) – Hermaküla, S. 11. 314 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 140. 315 Ebd. 316 Vaino Vahing, Ainult mängust. – Hermaküla, S. 11-12. Vahing hat den Text an Evald Hermaküla und an die Zeitschrift »Televisioon« geschickt. 317 Ebd., S. 11.

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Society« (1950) hin.318 Da sich die Interessen von Vahing stark auf das Werk einiger deutschsprachiger Psychoanalytiker und Philosophen bezogen (Jung, Jaspers) und er vermutlich auch die anderen Materialien aus der westlichen Psychiatrie und Philosophie eher auf Deutsch las, benutzte man den Begriff ›Spiel‹ im Rahmen der Theatererneuerung häufig auf Deutsch (manchmal auch in der Buchstabierung ›špiil‹). In dieser Form wurde der Begriff zum wichtigsten Schlüsselwort der Theaterexperimente und dabei, im Gegensatz zum mehrdeutigen ›mäng‹ (›Spiel‹ auf Estnisch), als Ausdruck für ein spezifisches psychophysisches Phänomen begriffen. In »Nur über Spiel« verortete Vahing den Zustand und Vorgang des Spiels als eine Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft, die den Erwachsenen das Spiel nicht mehr erlaube und es als hysterische Reaktion oder Geisteskrankheit betrachte. Doch sei der Drang nach Spiel dem Menschen eigen, da wir nur in der Spielsituation diejenige sind, die wir eigentlich sind und die wir im Alltagsleben nicht mehr sein können oder dürfen.319 Laut Vahing versuchten Hermaküla und Tooming in »Liebe, Liebe« die ursprünglichen Elemente des Spiels hervorzubringen und wurden verurteilt, da das echte Spiel als etwas Unästhetisches empfunden wurde.320 Auf eine interessante Weise lässt sich ausgehend vom »Aschenputtelspiel« über »Nur ein Lied« bis zu der von Vahing entwickelten Spieldefinition die Komplexität sowohl der Aktualisierung des Spielbegriffs als auch der praktischen Spieluntersuchungen auf der Bühne nachvollziehen. Im »Aschenputtelspiel« wurde eine Welt dargestellt, in der alle Wahrheiten und festen Anhaltspunkte verloren gegangen sind und alles nur ein Spiel ist; im Text kam das Wort als Bezeichnung des korrumpierten pragmatischen Zusammenspiels, des verfremdeten Rollenspiels und des chaotischen, unkontrollierbaren Spiels des Schicksals vor.321 In der Inszenierung verlangte Hermaküla allerdings neben und zwischen den Verfremdungseffekten (Exponierung der Bühnenkonstruktionen, demonstratives Austreten aus der Rolle u.a.) von den Schauspielern ein intensives, teils aggressives Spiel, das die Handlungen auf der Bühne durch jähen Registerwechsel strukturierte322 und somit die zwei Pole des Spiels – das mitreißende Spiel, in welches man sich mit höchster Emotionalität einlebt, und das verfremdete Spiel, in dem man sich vom eigentlichen Selbst getrennt fühlt – dialektisch zusammenführte. In »Nur ein Lied« hat man die expliziten Verfremdungseffekte beiseitegelassen und die Dichtungen von Suits wurden auf möglichst unterschiedlichen emotionalen Ebenen (»von der Ekstase bis zur Ver318 Erik H. Erikson, Childhood and Society. New York: W.W. Norton & Co, 1950 (deutsche Ausgabe: Zürich, Stuttgart: Pan Verlag, 1957). 319 Vaino Vahing, Ainult mängust. – Hermaküla, S. 11. 320 Ebd. 321 Vgl. Paul-Eerik Rummo, Tuhkatriinumäng (1967). Tallinn: Eesti Kirjanike Liidu Kooperatiiv »Kupar«, 1992, S. 32, 41, 72, 83, 87. 322 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2441-2442.

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zweiflung, vom Pathos bis zum Grinsen«323) durchgespielt. Dabei ging die Inszenierung von den Improvisationen der Schauspieler in den Proben aus, die festgehalten und später auf der Bühne nicht mehr geändert wurden.324 Das von Vahing in Bezug auf »Liebe, Liebe« geschilderte Spiel als eine Grenzsituation setzte schon eine erhöhte ›Unwissenheit‹ voraus und wies auf eine Aktivität hin, die vor Ort entsteht und – zumindest zum Teil – unvorhersehbar und unwiederholbar ist. Auf ein solches Spiel wurde auch in den weiteren Inszenierungen und Experimenten der Theatererneuerung gezielt. Die Ambivalenz und Paradoxalität dieser Bestrebung lag in dem Versuch, die persönliche psychische und physische Befreiung mit den Rahmenbedingungen einer Theateraufführung in Verbindung zu bringen und für das Publikum zugänglich zu machen. Abbildung 6: »Nur ein Lied …« im Haus der Schriftsteller, Tallinn, 1969 (Jaan Tooming, Evald Hermküla, Tõnu Tepandi, Kaarel Kilvet, Lembit Ulfsak)

Foto Jüri Tenson, Estnisches Theater- und Musikmuseum

In der Herausbildung der ideellen Grundlagen der Theatererneuerung wurden zusätzlich zum anfänglichen Einfluss von Brecht und zu der von Vahing vermittelten Theorie der Psychoanalyse in erster Linie die Texte von Antonin Artaud und Jerzy Grotowski in den Mittelpunkt gestellt. Daneben las man polnische und tschechische Theaterzeitschriften, erhielt von Mardi Valgemäe Berichte über das zeitgenössische 323 Jaak Rähesoo, Hermaküla ja Tooming. – Hecuba pärast, S. 66. 324 Vgl. dazu: Vastab kuus meest. (Interview mit der Truppe von »Nur ein Lied …«.) – Hermaküla, S. 53-61.

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US-amerikanische Avantgardetheater (Living Theatre, La Mama u.a.)325 und setzte sich aber auch mit Materialien über das Werk der russischen Regisseure Wsewolod Meyerhold, Alexander Tairow und Jewgeni Wachtangow auseinander.326 Allerdings waren alle diese Quellen theoretischer bzw. textueller Art, d.h. nicht mit der Kenntnis der Inszenierungen selbst, die man als Vorbilder betrachtete, verbunden. Auch das Werk von Grotowski sah Hermaküla erst im Jahr 1971.327 In dem von Mati Unt geschriebenen Artikel über das Nachttheater, der im Jahr 1971 in der Zeitung der Universität Tartu veröffentlicht wurde, findet man eine ausführliche Tabelle der Spieltypen von Richard Schechner;328 als Parallelen der Methodik des Nachttheaters erwähnte Unt die Experimente von Charles Marowitz im Jahr 1964 und Grotowskis »Apocalypsis«.329 In dem kurz nach der Kulmination und Auflösung der Theatererneuerung geschriebenen Überblick des Geschehens entwarf Unt den historischen Hintergrund des Spielbegriffs (Schiller, Huizinga, Freud) und kam danach zu den Ideen von Erikson, Schechner und Grotowski.330 Im Nachhinein stellte er jedoch fest, dass der Begriff ›Spiel‹ erstmals mithilfe von Vahing aus der Psychoanalyse entliehen worden sei und die kulturanthropologischen Bezüge als retrospektive Konstruktion entstanden seien.331 Anscheinend stark beeinflusst von Vahings »Nur über Spiel« legt Unt in der Rezension über »Nur ein Lied« und das »Aschenputtelspiel« eine ähnliche Spieldefinition vor, in der er ebenso auf das Kinderspiel – und dessen Ernsthaftigkeit – hinwies, das Spiel als einen Weg zu sich selbst betrachtete und dessen mögliche unästhetische Wirkung erwähnte.332 Doch kann man hier auch einen verstärkten Einfluss von Grotowski beobachten, dessen Ansichten mit der psychoanalytischen Spieldefinition in Verbindung gebracht wurden: Spiel sei, laut Unt, eine Handlung, die die Masken, die wir in der Gesellschaft, Gemeinschaft, Familie trügen, abreiße und einen neuen Blick auf die Welt und auf die Menschen ermöglichte; es sei eine zeitweilige Befreiung von den Fesseln der mo325 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2439-2440. 326 Vgl. Jaan Tooming. (Interview.) – Lavakooliraamat, S. 176-177. 327 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2439; laut Mati Unt ist Hermaküla genau während der ersten Aufführung des sog. Markttheaters, das im Sommer 1971 im Rahmen der Theatererneuerung initiiert wurde, nach Polen gefahren, vgl. Mati Unt, Öösel toas ja päeval laadal. – Hermaküla, S. 107. 328 Mati Unt, Mõned märkused nn. ööteatri kohta. – Theatrum mundi, S. 43. Die Tabelle stammt aus Schechners Buch »Public Domain: Essays on the Theatre« (Indianapolis: Bobbs-Merrill, 1969). 329 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 153. 330 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 140-141. 331 Mati Unt, Teatriuuenduse algusest Nõukogude Eestis. – Theatrum mundi, S. 57. 332 Mati Unt, Teater: siin ja praegu. (1972) – Theatrum mundi, S. 35. (Erstveröffentlichung in: Teatrimärkmik 1968/69. Tallinn: Eesti Raamat, 1972, S. 128-136.)

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dernen Gesellschaft und ein Ankommen in sich selbst, in der Authentizität; Spiel sei nicht immer lustig, Spiel könne sehr hart sein, aber es sei immer demokratisch.333 Die Hauptziele, auf die man sich in den Inszenierungen der Theatererneuerung konzentrierte, bezogen sich auf die Schauspieler, die eine intensive Präsenzerfahrung erreichen, über ihre psychische und physische Grenzen hinauskommen und ausgehend davon auf der Bühne teils vorher abgestimmte, teils improvisierte Handlungen ausführen sollten. Diese sollten ihrerseits eine unmittelbare Wirkung auf das Publikum ausüben, einen gemeinsamen Erlebnisraum mit diesem schaffen und in Emanzipation von der literarischen Vorlage die reine, ursprüngliche Form des Theaters wiederbeleben.334 Der Anspruch auf Intensität und auf einen allumfassenden, rituellen Raum wurde zumeist mit dem Vorbild von Artaud in Verbindung gebracht;335 die Idee der Befreiung des Schauspielers in den Grenzsituationen hingegen ging deutlich von Grotowski aus. Die Spezifik der estnischen Theaterexperimente lag einerseits in der Annahme und Aufarbeitung dieser Ziele durch den Spielbegriff, der weder bei Artaud noch bei Grotowski eine größere Bedeutsamkeit besaß oder eher im negativen Sinne benutzt wurde,336 und andererseits in dem verstärkten Rückbezug auf die Psychoanalyse. Darüber hinaus lässt sich bei der Theatererneuerung eine interessante Entwicklung bezüglich des Verhältnisses von Spontaneität und Reflexion beobachten. Wenn im »Aschenputtelspiel« noch die Brecht’sche Verfremdung dem intensiven Spiel entgegengesetzt worden war und man danach (»Nur ein Lied«, »Lässt die Hand küssen«) eher nach möglichst ›authentischen‹ Handlungen und nach der emotionalen Einbindung gestrebt hatte, charakterisierten die Experimente des Nachttheaters die ausdrückliche Suche nach einer Methode,337 deren Einfluss auch bei der komplizierten Struktur der »Ohrfeigen« sichtbar wurde. Einerseits deutete die Betonung der Reflexion, die Unt als eine Entscheidung, nicht auf eine ›Botschaft‹ zu warten, sondern eine Methode zu suchen, beschrieb,338 eine Distanzierung von der möglichen Parallelität mit religiösen Praktiken an, andererseits stellte sich in Bezug auf die persönlichen psychodramatischen Spiele unvermeidlich die Frage, ob, wie und warum diese in den mehr oder weniger konventionellen Rahmen einer Theateraufführung integriert werden könnten oder sollten. Die bedeutendsten von Hermaküla und Tooming initiierten Änderungen in der Theaterpraxis ereigneten sich im Probesaal und da lag – besonders für Herma-

333 Ebd. 334 Mati Unt, Gustav Suitsu õhtu järel. – Theatrum mundi, S. 30. 335 Mati Unt, Kiri teatri kohta. – Theatrum mundi, S. 15. 336 Vgl. Kapitel II, S. 86-88. 337 Vgl. Mati Unt, Mõned märkused nn. ööteatri kohta. – Theatrum mundi, S. 43. 338 Ebd.

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küla339 – auch der Schwerpunkt ihrer Arbeit. Schon während der Vorbereitung des »Aschenputtelspiels« wurde die neue Probenmethodik eingesetzt, die auf Improvisation und Intimproben basierte, aber auch die Vermittlung und Diskussion der verschiedenen Hintergrundmaterialien bezüglich der Inszenierung beinhaltete.340 Im Nachttheater, dessen Ergebnisse zwar ab und zu im Club der Universität für das Publikum präsentiert wurden,341 erreichte die Konzentration auf den Probeprozess, auf die persönlichen Erfahrungen der Schauspieler und die relativ geschlossene Gruppenarbeit den Höhepunkt. Allerdings entstand kurz danach ein weiteres von Hermaküla aufgenommenes Experiment – das sog. Markttheater –, in dem sich seine Beschäftigung mit der problematischen Frage des Zuschauers äußerte. Die Aufführungen des Markttheaters fanden auf den Märkten in verschiedenen Orten in Estland statt und wurden zusammen mit der Studentenband »Rajacas« vorgetragen.342 Wenn man sich im Rahmen der Theatererneuerung überwiegend – im Sinne von Peter Brook343 – mit dem ›unmittelbaren‹ und ›heiligen‹ Theater befasste und seine Tätigkeit dem ›tödlichen‹ Theater entgegenstellte,344 wurden im Markttheater das einzige Mal auch die Taktiken des ›derben‹ Theaters ausprobiert. Mithilfe der Clownerie und Karnevalästhetik wurde ein lebendiger und spontaner Kontakt mit dem Publikum angestrebt, obwohl die Zuschauer meistens zurückhaltend blieben.345 Das Verhältnis zum Publikum und die Einbindung des Zuschauers in die Aufführungen wurde implizit auch durch das häufige Zurückgreifen auf die Begriffe ›Ritual‹ (Tooming) und ›Mythos‹ (Hermaküla) – die als Komplementärbegriffe des Spiels verstanden wurden – angesprochen. Bei der genaueren Erarbeitung dieser Schlüsselworte kamen einige deutliche Unterschiede zwischen den Ansichten der beiden Regisseure zum Vorschein. Für Tooming war die gemeinsame rituelle Er339 Laut Unt betonte Hermaküla – in Anschluß an Schillers »der Mensch spielt nur …«, – gegenüber den Schauspielern, dass die Zeit der Probe die inhaltsreichste Zeit ihrer Tage sei, da sie nur während der Probe das echte Leben leben. Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 141. 340 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2441; vgl. Sven Karja, Lossimängud. Paul-Eerik Rummo – Evald Hermaküla »Tuhkatriinumäng«, 1969, S. 368-369. 341 Die Aufführungen waren dem Propagandabüro für Literatur untergeordnet, vgl. Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2443. 342 Ebd. 343 Vgl. Peter Brook, The Empty Space: A Book About the Theatre: Deadly, Holy, Rough, Immediate. London: Penguin, 1968. 344 Laut Unt fehlte dem zeitgenössischen Theater die Intensität und deshalb sei dieses Theater größtenteils tot. Mati Unt, Kiri teatri kohta. (1968) – Theatrum mundi, S. 15. (Erstveröffentlichung in: Noorus 11, l968, S. 61-62.) 345 Mati Unt, Öösel toas ja päeval laadal. – Hermaküla, S. 107.

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fahrung, die durch bestimmte Handlungen der Schauspieler und den Zuschauer hervorgerufen wird, grundlegend für das Theater. Die Quellen dieser Erfahrung und die Narrative, auf die sich diese beziehen könnte, glaubte er maßgeblich aus der konkreten, lokalen (finnougrischen) Folklore und Mythologie zu gewinnen. 346 Hermaküla dagegen betrachtete den Mythos als etwas, was man überall – in jeder Geschichte und Erzählung – finden kann; ausgehend von seiner aktiven Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Problemen interessierte er sich in erster Linie für die mythische Basis der gegenwärtigen Texte347 und versuchte auf eine ambivalente Weise die fixierte Struktur des Rituals mit der Idee des demokratischen Theaters und der Freiheit des Schauspielers zusammenzuführen.348 Beiden Regisseure waren inspiriert von den psychoanalytischen Konzepten Jungs und vom Wortschatz Grotowskis, verschmolzen diese Elemente jedoch mit anderen aktuellen Ideen und wichen dadurch von den anfänglichen Inhalten der Begriffe ab bzw. bewegten sich immer in einem Zwischenraum, in welchen viele Einflüsse einbezogen wurden, die man aber nicht immer weitergehend ausarbeitete, sondern die man in ihrem rohen Zustand und intuitiv auf die künstlerische Praxis wirken ließ. So fungierten die Schlüsselworte und Namen der Vorbilder öfters als geliehene Bezeichnungen für Prozesse und Erscheinungen, die in Gang gesetzt wurden, dabei noch nicht ganz ausgeprägt waren, aber – aus dem einen oder anderen Grund – eine Benennung brauchten oder verlangten. Laut Jaak Rähesoo kann man den Inhalt der Theatererneuerung durch diese übernommenen Begriffe und Namen – Spiel und Ritual, Artaud und Grotowski – nicht besonders präzis beschreiben, obwohl sie bestimmt daran mitwirkten; der Umbruch sei von einem deutlich umfassenderen Gefühl ausgegangen und habe sich auch später entsprechend der allgemeinen Stimmungen geändert.349 Parallel zu den ausdrücklich spielorientierten Arbeiten und Experimenten brachte Hermaküla zwei Inszenierungen auf die Bühne, die die Hinwendung zum epischen Theater charakterisierten und die Hermakülas ambivalentes Verhältnis zur offiziellen Ideologie offenbarten. »Mittsommer 1941« von Paul Kuusberg war ein Stück über die Zeitgeschichte Estlands, 350 Afanassi Salynskis »Maria« handelte

346 Vgl. Jaan Tooming. (Interview.) – Lavakooliraamat, S. 72. 347 Die Bearbeitung des Textes von Afanassi Salynski für die Inszenierung »Maria« beschrieb Hermaküla paradoxerweise als einen Prozess, bei dem man sich aus der Literatur das herausnimmt, »was nicht Literatur ist«, und so nach dem Mythos sucht. Katkendeid Evald Hermaküla kirjadest Mati Undile. (1970–1971) – Hermaküla, S. 133. 348 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 137. 349 Jaak Rähesoo, Hermaküla ja Tooming. – Hecuba pärast, S. 73. 350 Der Roman von Paul Kuusberg wurde von Hermaküla und Unt dramatisiert, Premiere in »Vanemuine« am 2.10.1970, Bühnenbild Liina Pihlak. Vgl. dazu Jaak Rähesoo,

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vom Arbeiterleben auf dem Bau eines Wasserkraftwerks in Sibirien.351 In beiden Stücken wurden dokumentarische Materialien mit einer metaphorischen Bildlichkeit in Verbindung gebracht und somit eine ähnliche Kombination des ›Authentischen‹ und der Verfremdung angestrebt352 wie im »Aschenputtelspiel«. Doch schätze man in der Kritik zum »Mittsommer« das Schauspielerensemble als ungleichmäßig ein und »Maria« wurde im Kreis der Theatererneuerung als misslungen bezeichnet.353 Allerdings erhielt Hermaküla für diese zwei Inszenierungen die staatliche Regieprämie und brachte sein Ziel, »auf das alles zu antworten, was die sowjetische Regierung uns vorlegt«,354 zum Ausdruck. Der Inhalt dieses Ziels war mehrdeutig, es schloss sowohl die Kritik des Systems als auch die Aufarbeitung der ideologischen Grundlinien ein. Kennzeichnend für »Mittsommer« und »Maria« war die Bestrebung, die konkreten historischen Ereignisse der nahen Vergangenheit oder Gegenwart mit den mythologischen Grundnarrativen zu verknüpfen, um die archetypische Struktur dieser Situationen herauszuarbeiten.355 Einerseits entfernte sich der Regisseur dadurch vom Konkreten und versuchte, der Vergangenheit und der Gegenwart mithilfe der Darstellung der universalen Grundlagen der historischen Ereignisse einen höheren, zeitübergreifenden Sinn zu geben, wobei diese Verschiebung und Erhebung es ermöglichte, das historische Geschehen anzusprechen, gleichzeitig aber deren detaillierte und problematische Betrachtung (die zur Auseinandersetzung mit der offiziellen Ideologie führen konnte) zu vermeiden. Andererseits wurde durch die dokumentarischen Materialien (Fotos, Filmausschnitte, Tonaufnahmen) ein enger Kontakt mit den konkreten Lebenssituationen angestrebt und die emotionale Einbindung des Publikums evoziert. Eine ähnliche Entgegensetzung der konzeptuellen und emotionalen Ebene und eine ähnliche Strategie, bei der die Struktur und die Hauptzüge der Inszenierung von bestimmten konzeptuellen Leitmotiven ausging, diese aber auf der Bühne hinterfragte und relativierte (bzw. bei der die Arbeitsmethode diese Relativierung generierte), lässt sich schon beim »Aschenputtelspiel« beobachten. Obwohl das Stück sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit der Philosophie des Existenzialismus auseinandersetzte, war es unter anderem die Absicht des Regisseurs, ein wissenschaftliches Weltbild Hermaküla ja Tooming. – Hecuba pärast, S. 67; Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2443-2444. 351 Premiere in »Vanemuine« am 24.05.1971, Bühnenbild Vello Tamm. Vgl. dazu Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2444. 352 Vgl. Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 24432444. 353 Vgl. ebd., S. 2444, Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 150. 354 Vaino Vahing, Noor Unt. Loomingu Raamatukogu Nr. 1–3, Tallinn: Perioodika, 2004, S. 66. 355 Ebd., S. 67.

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zu erschaffen, das sowohl die Psychologie als auch Physik einbezog.356 Wenn die Beschäftigung mit dem Existenzialismus im Rahmen der offiziellen Kultur untersagt war und als subversiv galt, zogen die wissenschaftsbezogenen Ansprüche von Hermaküla ihre Impulse offenbar aus der offiziellen Wissenschaftsbegeisterung und -propaganda. Ab und zu kam es bei den Aktivitäten der Theatererneuerung zu Konfrontationen mit den Behörden, dabei ließen sich diese Konfrontationen aufgrund der gemischten Inhalte der Inszenierungen, die manchmal auch mit Leitsprüchen der offiziellen Ideologie verknüpft waren (oder ausgehend von diesen Leitsprüchen erklärt werden konnten), relativ ruhig und ohne schädliche Folgen lösen. Im Nachhinein ist es fast unmöglich, eindeutig festzustellen, in welchem Maß diese Einbindung der offiziellen Ideologie von den Mechanismen des Selbstschutzes bzw. der Selbstzensur geleitet war oder inwieweit sie von ernsthaften Überlegungen ausging. Ebenso kann man auch in Bezug auf die subversive Funktion oder Wirkung der Theatererneuerung (hinsichtlich der offiziellen Ideologie) nicht immer genau sagen, ob diese Subversivität absichtlich und bewusst erzeugt wurde, intuitiv und zufällig entstand oder nur kontextuell zustande kam. Allerdings galten die Instabilität, Ambivalenz und Komplexität der menschlichen Zustände, Handlungen und Lebensordnungen, die alle Inszenierungen von Hermaküla und Tooming darstellten, in der totalitaristischen Gesellschaft schon an sich als gefährlich. Sie konnten unabsehbare und unkontrollierbare Reaktionen auslösen, deren Grund nicht immer einfach zu erkennen, zu bestimmen und anzuklagen war. Sowohl durch die Gedichte von Gustav Suits in »Nur ein Lied« und den daraus entstandenen emotionalen Blick auf die historischen Ereignisse während der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, durch die folklorebezogene Überarbeitung des Textes von »Lässt die Hand küssen« als auch durch die relativ offene Darstellung der jüngsten Vergangenheit in »Mittsommer« (Nationalflagge und patriotische Lieder auf der Bühne) sprach man mehrfach die Geschichte Estlands und damit – aus der Sicht der sowjetischen Macht – einige empfindliche Probleme und Ereignisse in dieser Geschichte an. Das Aufgreifen derartiger Themen war in der offiziellen Kultur nicht unbedingt verboten, doch sollten alle Probleme und Ereignisse ideologisch korrekt ausgelegt werden. Deren Auslegung in den Inszenierungen von Hermaküla und Tooming und die generelle politische Agenda der Theatererneuerung verlief immer an der Grenze, an der man noch knapp den offiziellen Kontrollmechanismen entkommen konnte, an der aber einige Publikumsreaktionen (die Hervorhebung des Verbots des »Aschenputtelspiels« in den Studentendemonstrationen im Herbst 1968,357 die allgemeine aufgeregte Stimmung der Zuschauer bei »Nur ein Lied«,358 356 Sven Karja, Lossimängud. Paul-Eerik Rummo – Evald Hermaküla »Tuhkatriinumäng«, 1969, S. 369. 357 Vgl. ebd., S. 382. 358 Vgl. Vastab kuus meest. – Hermaküla, S. 54.

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u.a.) deutlich zeigten, dass man in diese Richtung nicht viel weiter gehen konnte, ohne Auseinandersetzungen mit den Behörden zu riskieren. Andererseits hatten die politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Stimmungsänderungen am Ende der 1960er Jahre zweifellos einen bedeutenden Einfluss auf die Herausbildung und Entwicklung der Theatererneuerung, auch wenn es in den Bühnenaktivitäten kaum direkte Hinweise auf die aktuellen Umstände gab: Das Spielphänomen wurde während des Prager Frühlings im »Aschenputtelspiel« aktualisiert, die Hauptmanifestationen des freien Spiels entstanden kurz nach den Geschehnissen in Prag, die Intensivierung und Ausgrenzung des Spiels fand in den nächsten Jahren parallel mit der Verstärkung der gesellschaftlichen Kontrolle statt. In der Betrachtung und Einschätzung der Theatererneuerung in Estland muss man verschiedene – persönliche und gesellschaftliche, künstlerische und politische, theoretische und praktische – Faktoren im Auge behalten. Es lässt sich nicht übersehen, dass die Initiatoren der Theaterexperimente sehr jung – in ihren zwanziger Jahren359 – waren und zu der sog. Generation der 1960er gehörten, deren Lebenserfahrungen und allgemeine Haltungen als der Ausgangspunkt für die kulturellen Umbrüche galten. Theatererneuerung wurde in einer geschlossenen Gesellschaft, in einer kleinen Stadt, im engen Kreis der Beteiligten und Freunde durchgeführt und obwohl deren ideeller Bewegungsraum über die geographischen und kulturellen Grenzen hinauskam, war der Ablauf der konkreten künstlerischen Aktivitäten vor allem von den praktischen kontextuellen Bedingungen bestimmt. Ausgehend vom Spielphänomen, das in den Mittelpunkt der Theaterexperimente gesetzt und vielfältig untersucht wurde, formierten sich Grundzüge und Hauptziele künstlerischer Praktiken. Dasselbe Phänomen und der Anspruch, sowohl auf der Bühne wie auch im Leben möglichst vollkommen ins Spiel hereinzugehen, verursachten aber auch die Auflösung der Theatererneuerung. Durch das Spielen zielte man auf die Aufhebung der Grenzen zwischen dem Künstlerischen und dem Alltäglichen sowie auf einen Bruch mit dem institutionellen Rahmen der künstlerischen Tätigkeit. Im relativ engen Umfeld des Tartuer intellektuellen und kulturellen Lebens nahm dieses Herausbrechen eine spezifische Dynamik an. Das Spiel wurde von der Bühne ins Leben übertragen, 360 die persönlichen Beziehungen konnten nicht mehr von den professionellen Verhältnissen getrennt werden, in der irrationalen Impulsivität der »Ohrfeigen« wandelten sich die gespielten Gefühle in reale und führten auf diese Weise zu einem dramatischen Zerfall des Freundeskreises. 361 Allerdings zeigten sich einige grundlegende innere Konflikte in der Zielsetzung der Theatererneuerung 359 Im Frühling 1969 war Hermaküla 27, Tooming 23, Unt 25, Vahing 29 Jahre alt; PaulEerik Rummo schrieb »Aschenputtelspiel« als er 25 Jahre alt war. 360 Vgl. dazu: Tahan saada poliitikuks, aga ei oska. (Astrid Reinlas Interview mit Vaino Vahing.) – Vikerkaar 7, 1993, S. 82. 361 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2445.

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auf die eine oder andere Weise schon früher. Am problematischsten erschien die Rolle des Publikums bzw. die Frage, wie die freien und unkontrollierten, persönlichen und zum Teil therapeutischen Spiele, die im Probesaal stattfanden, dem Publikum näher gebracht werden sollten, wie die Zuschauer sich an diesen Spielen beteiligen könnten und ob und wie diese Spiele die angestrebte breitere gesellschaftliche Wirkung ausüben würden.362 Die Kollision zwischen dem Anspruch auf das freie Spiel und dem konventionellen Rahmen des Theaterereignisses zeigte sich unter anderem in der von Tooming angefangenen Inszenierung des Stücks »Kapsad ja kuningad« (Kohle und Könige) von Uno Laht und Boris Kõrver,363 deren Proben im Jahr 1971 abgebrochen wurden. Das ›totale Theater‹, das der Regisseur aufzubauen versuchte, zersetzte das Material in beeindruckende, aber unverbundene Fragmente, die nicht eine intensive Präsenz- und Gemeinschaftserfahrung zu kreieren versprachen, sondern eher Verwirrung verursachten.364 Ein ähnlicher Konflikt charakterisierte viele verschiedene experimentelle künstlerische Praktiken der 1960er Jahre, deren Ausgangspunkte und Entstehungsbedingungen unvermeidlich – im engeren oder weiteren Sinn – institutionsgebunden waren, die auf das Verlassen des institutionellen Rahmens zielten, auf die Paradoxalität und Unmöglichkeit dieses Verlassens stießen und in diesem Spannungsfeld zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ ihre konkreten Ausdrucksformen herausbildeten. Die Besonderheit der estnischen Theatererneuerung bestand darin, dass die Grenzüberschreitung vom Künstlerischen zum Alltäglichen sich stark auf den Spielbegriff bezog und dementsprechend eine weitere Dimension bzw. Komplexität erwarb. Der Ausbruch aus dem institutionellen Rahmen der künstlerischen Tätigkeit bedeutete nicht die fließende Auflösung im Alltäglichen, sondern das Ersetzen des institutionellen Rahmens durch den Spielrahmen, in dem wiederum ein zwiespältiges Verhältnis zum Alltag geäußert wurde und das Spielen gleichzeitig eine Annäherung an das Alltägliche aufwies als auch zu einer Distanzierung von der aktuellen Lebensumwelt und zur Abgrenzung des Spielraumes tendierte.

3.3 D IE H APPENINGS Wenn die Theatererneuerung ein relativ klar bestimmbares Phänomen war, einen Anfang, Entwicklungsgang und Ende hatte, bewusst initiiert, von den Beteiligten ausführlich reflektiert und von dem Publikum rezipiert wurde, handelte es sich bei den frühen Happenings, die damalige Kunst- und Musikstudenten ab der Mitte der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre in Tallinn und in Tartu durchführten, um Er362 Vgl. Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 141. 363 Das Stück wurde als eine realpolitische Operette bezeichnet und im selben Jahr von Kaarel Ird in »Vanemuine« auf die Bühne gebracht. 364 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 151-152.

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eignisse, die größtenteils erst im Nachhinein entdeckt wurden bzw. in die Kunstgeschichte Eingang fanden, die mithilfe weniger Fotos, einiger Texte und widersprüchlicher Erinnerungen rekonstruiert und nur mit Vorbehalt als ein Ganzes betrachtet werden können. Diese Aktivitäten mit heterogenen Absichten und Abläufen sind zumeist als ein Erproben, als eine Tätigkeit, von der man nicht ganz genau wusste, wohin sie führte und wozu sie diente, zu charakterisieren. Es gab einige strukturierte und vorbereitete Aufführungen, aber auch zufällige, spontane und irrationale Handlungen. Die Aktionen wurden manchmal, aber nicht zwingend mit dem Begriff ›Happening‹ oder mit dem Begriff ›Kunst‹ in Verbindung gebracht und ereigneten sich häufig in Räumen und an Orten, die sich an der Grenze des Öffentlichen und des Privaten befanden, an denen man Schutz finden bzw. an die man sich zurückziehen konnte, die aber auch nicht ganz abgeschlossen waren und Begegnungen mit zufälligen Zuschauern ermöglichten. Meistens blieb das Publikum der Happenings jedoch begrenzt und bestand oft aus den Leuten, die mit den Initiatoren der Ereignisse auf die eine oder andere Weise verbunden und/oder mit den experimentellen künstlerischen Praktiken mehr oder weniger vertraut waren (Kunststudenten, junge Intellektuelle u.a.). Sporadische Narrenspiele und konzeptuelle Gesten auf Straßen erregten bestimmt auch die Aufmerksamkeit zufälliger Passanten, allerdings ist schwer zu sagen, wie genau diese Spiele und Gesten in diesem Fall wahrgenommen und interpretiert wurden. Im Rahmen der offiziellen Kunst wurden Happenings und andere derartige (unerklärbare) Vorhaben keineswegs toleriert, doch wurden sie manchmal von den Zuständigen übersehen bzw. als kleineren oder größeren Unfug, aber nicht als ernstzunehmende subversive kulturelle Aktivitäten betrachtet. Trotz der Schwierigkeiten bei der Bestimmung und Rekonstruierung dieser Aktionen lässt sich vermuten, dass sie durch ihre Ephemerität – als Rohmaterialien – die diskursiven Veränderungen und versteckten kulturellen Codes, die in den ausgeprägteren Prozessen und fixierbaren Ergebnissen der künstlerischen Produktion unsichtbar blieben, wiederzugeben vermögen. Die Eigenart der frühen estnischen Happenings, die sowohl lokale Ursprünge hatten als auch sich an von außen kommenden Vorbildern orientierten, besteht – neben der Spezifik der kontextuellen Bedingungen – darin, dass sich der lokale Ausgangspunkt stärker auf das Theater bezog als es in den meisten westlichen und osteuropäischen Happenings der Fall war, die eher als Abwendung vom Theatralischen konzipiert wurden. Obwohl die Aktionen der jungen estnischen Künstler im Laufe der Zeit zu spontanen und impulsiven oder konzeptuellen und umweltbezogenen Handlungen neigten und schließlich den Rahmen einer Theateraufführung deutlich ablehnten, kann man diesen Bezug in ihrer Vorgeschichte nicht übersehen. Sowohl die Mitglieder der Künstlergruppe ANK als auch der Künstlergruppe SOUP, die Hauptinitiatoren der Happenings waren, beteiligten sich am Studenten-

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theater des Kunstinstituts und betonten wiederholt dessen inspirierenden Einfluss.365 Das Studententheater wurde von Heino Mikiver366 geleitet und war von der Mitte bis Ende der 1960er Jahre tätig. Die Aufführungen des Theaters fanden hauptsächlich vor den populären Studentenpartys des Kunstinstituts statt und basierten auf Mikivers eigenen Texten, die unter anderem als die ersten estnischen absurden Dramen bezeichnet werden, aber für die breitere Öffentlichkeit unbekannt blieben.367 Die Mitglieder der Gruppe ANK initiierten die »absurden Aufführungen« auch außerhalb des Kunstinstituts und des Studententheaters. 368 Diese Ereignisse galten einerseits als frühe Parallelformen der Happenings, wiesen andererseits jedoch – da sie zum Teil zusammen mit den Studenten der Theaterschule vorgenommen wurden – einen engen Bezug zu Theateraufführungen auf. Zeitgleich mit den ersten Inszenierungen des Studententheaters besuchten junge estnische Musiker im Jahr 1964 das Festival »Warschauer Herbst« und sahen unter anderem den Auftritt von John Cage und Merce Cunningham.369 Das erste explizite Aufeinandertreffen dieser beiden Impulse fand im Dezember 1966 in der Aula der Tallinner 21. Oberschule statt, wo ein zweiteiliger Theaterabend, den man im Rahmen der Kunstgeschichte manchmal als erstes Happening in Estland betrachtet, organisiert wurde: Im ersten Teil führten Kunst- und Theaterstudenten Samuel Becketts Pantomime »Akt ohne Worte I« auf,370 im zweiten Teil trugen junge Musiker eine kol365 Vgl. Lapin, Startinud kuuekümnendatel, S. 17-19; Krista Kodrese intervjuu Vilen Künnapuga. – Maja 3, 2001, S. 55-56. 366 Heino Mikiver studierte im Kunstinstitut seit dem Anfang der 1960er Jahre, war aber wesentlich älter (geb. 1924) als die anderen Studenten. Vgl. Leonhard Lapin, Täienduseks Mardi Valgemäe artiklile »Eksistentsialismi maskid«. – Vikerkaar 1–2, 2005, S. 191-192; Leonhard Lapin, Head tervist, Miki! – Sirp, 12.03.2004, S. 10. 367 Erste Veröffentlichung: Heino Mikiver, Röövlid. Näitemäng seitsmes vaatuses. – Akadeemia 11, 2006, S. 2543-2551; Überblick der Mikivers Texte: Leonhard Lapin, Heino Mikiver. – Ebd., S. 2551-2552. 368 Laut der Chronologie der Tätigkeit der Gruppe ANK fand ihre erste »absurde Aufführung« im Jahr 1964 im Univeristätscafé in Tartu nach einem Treffen mit Studenten des sog. Kunstkabinetts statt, ähnliche Ereignisse folgten auch später. – ANK ›64. Tallinn: Tallinna Kunstihoone, 1995, unpaginiert [S. 1]. 369 Videointerview mit dem Musiker Toomas Velmet in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 370 Laut der Einladungskarte wurde das Stück vom Künstler Jüri Arrak, dem Schriftsteller Andres Ehin, dem Übersetzter Tõnu Kõiv und dem Musiker Tarmo Lepik aufgeführt. In anderen Quellen sind als Beteiligten auch ANK-Mitglieder Enno Ootsing und Tõnis Vint, die Musikwissenschaftlerin Merike Jõulma-Vaitmaa und die damaligen Theaterstudenten Kaarel Kilvet, Tõnu Tepandi, Väino Uibo erwähnt; vgl. ANK ›64 [S. 1]; Andres Laasik, Kaks teatriutoopiat: 1960. ja 1970. aastate teatriuuendus Eestis ja

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lektive Aktion namens »Instrumentaltheater« vor. 371 Die Räumlichkeiten für die Aufführung hatte man über Bekannte der Beteiligten besorgt372 und die vom Künstler Jüri Arrak gestalteten Einladungskarten waren zuvor an ein zuverlässiges Publikum geschickt worden.373 Auf der Bühne führte man im ersten Teil ausgehend von Becketts Hinweisen verschiedene objektgebundene Handlungen durch; 374 das Instrumentaltheater bestand darin, dass man mit Musikinstrumenten Klänge und Töne erzeugte, aber nicht auf eine konventionale Weise, sondern »irgendwie anders«.375 »Akt ohne Worte I« war unter anderem die erste Beckett-Aufführung in Estland. Der Text dafür war vom Philologen und Übersetzer Tõnu Kõiv vermittelt worden und wurde erst drei Jahre später veröffentlicht.376 Somit repräsentierte der Theaterabend in der 21. Oberschule eine spezifische Verbindung neoavantgardistischer künstlerischer Strategien mit dem Theater des Absurden, die als eine der bedeutendsten Besonderheiten der frühen estnischen Happenings gelten mag. Für die nächsten fünf Jahre lassen sich relativ vielfältige performative (bzw. mit der Aktionskunst gebundene) Aktivitäten unter den Künstlern und Musikern beobachten. Die Tätigkeit des Studententheaters im Kunstinstitut wurde fortgesetzt und bildete einen wichtigen Hintergrund auch für die späteren Ereignisse. Die jungen Musiker entwickelten die Idee des Instrumentaltheaters weiter und veranstalteten ausgehend davon einige weitere Aktionen, unter anderem das Happening im Haus der Schriftsteller in Tallinn im Jahr 1968, das eine deutliche Parallelität mit den musikalischen Aktivitäten des westlichen Fluxus aufzeigte.377 Soomes – kaks paralleelset kultuuriilmingut. Magisterarbeit. Universität Tartu, Fakultät für Philosophie, Lehrstuhl für Theater, 2005, S. 12-13; Tõnu Tepandi. (Interview.) – Lavakooliraamat, S. 225. 371 Die Beteiligten waren Mart Lille, Ivalo Randalu, Lille Randma, Kuldar Sink und Toomas Velmet. 372 Interview mit dem Künstler Jüri Arrak am 31.10.2006. 373 Zusätzlich zur Nennung der Beteiligten, Ort und Zeit beinhaltete Einladungskarte eine kurze Einleitung zum Werk von Samuel Beckett. 374 Vgl. Tõnu Tepandi. (Interview.) – Lavakooliraamat, S. 225. 375 Videointerview mit dem Musiker Toomas Velmet in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 376 Samuel Beckett, Õnnelikud päevad ja teisi näidendeid. – Loomingu Raamatukogu Nr. 27, Tallinn: Perioodika, 1969, S. 10-16. 377 Vgl. Anders Härm, Tegevuskunst Eestis: Happening, Performance, Live Art 1966– 2000. Tallinn: Kaasaegse Kunsti Eesti Keskus, 2001 (Text, Fotos und Videos auf der CD); Anu Allas, Eksperimentaaletendus/instrumentaalteater: »Kremoona ringmäng« (1968). – Kunstiteaduslikke Uurimusi/Studies on Art and Architecture 1–2 (23), 2014, S. 7-31. Die Beteiligten des am 5.01.1968 stattgefundenen Happenings waren Arvo Pärt, Kuldar Sink, Toomas Velmet und Mart Lille.

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Abbildung 7: »Reigen von Cremona« im Haus der Schriftsteller, Tallinn, 1968 (Arvo Pärt, Toomas Velmet)

Foto Jüri Tenson, Archiv des Estnischen Kunstmuseums

Während in der Tätigkeit der Gruppe ANK378 viele neue Ideen sich noch unbestimmt und unbenannt in einer gemischten, embryonalen Phase befanden, nicht immer zu ausgeprägten Ergebnissen führten und manche interessante Vorhaben, bspw. das Einrichten eines Studios für Happenings im Kunstinstitut,379 unrealisiert blieben, führten die einige Jahre später gegründeten Künstlergruppen »Visarid« (am Kunstkabinett der Universität Tartu)380 und SOUP (am Kunstinstitut)381 die haupt-

378 ANK bzw. ANK 64 war vom 1964 bis 1967 im Kunstinstitut tätig, zur Gruppe gehörten die damaligen Studenten Jüri Arrak, Tõnis Vint, Enno Ootsing, Kristiina Kaasik, Malle Leis, Marju Mutsu u.a. 379 Videointerview mit Künstler Enno Ootsing in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. Archiv des Estnischen Kunstmuseums: EKMa 12.1.–8/27. 380 Gruppe »Visarid« wurde im Jahr 1967 unter der Leitung von Kaljo Põllu gegründet und war bis 1972 aktiv, Mitglieder waren Enn Tegova, Peeter Lukats, Rein Tammik, Peeter

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sächlichen (bzw. zum Teil dokumentierten und damit rekonstruierbaren) Happenings durch. In allen drei Fällen war die Herausbildung der künstlerischen Praktiken unmittelbar vom institutionellen Umfeld beeinflusst. Man setzte sich üblicherweise nicht direkt dem offiziellen Studiensystem entgegen, sondern schuf nach Möglichkeit flexiblere Handlungsräume innerhalb dieses Systems. Besonders im Kunstinstitut, das während der Sowjetzeit als ein mythologisierter Ort bekannt war (eine kleine Hochschule, die – wegen der sehr hohen Konkurrenz um die Studienplätze – schwer zugänglich war, aber wo man sich mehr Freiheiten erlauben konnte), wurde mehr toleriert als in den anderen Bildungsanstalten. Auch die institutionellen Strukturen, die für die ideologischen Zwecke eingerichtet waren, ließen sich manchmal biegen bzw. es war möglich, diese Strukturen für die Vermittlung solcher Inhalte zu nutzen, die nicht unbedingt auf die Ziele der offiziellen Ideologie abgestimmt waren. So organisierten beispielsweise die Mitglieder von ANK im Rahmen des Wissenschaftlichen Studentenvereins Vorlesungen über die Geschichte der modernen Kunst und über die gegenwärtige westliche Kultur, in denen man auch Phänomene betrachtete, die im Rahmen der offiziellen Ideologie als problematisch galten (Existenzialismus, absurdes Theater, Psychoanalyse u.a.).382 Die allgemeine Stimmung in der Universität Tartu – in der größten Universität Estlands – war hierzu verschieden und kontrollierter, jedoch ermöglichte es die Aktivität von Kaljo Põllu – der sowohl der Leiter des Kunstkabinetts als auch der Gruppe »Visarid« war – eine relativ umfangreiche Sammlung von Materialien über die Gegenwartskunst zusammenzubringen (hauptsächlich Zeitschriften aus den sozialistischen Ländern, aber auch einige westliche Journale).383 Eine Auswahl der Texte übersetzte die Gruppe »Visarid« ins Estnische und gab diese in drei Sammelbänden im Samizdat heraus. 384 Darüber hinaus wurden die Bedingungen sowohl für die Ideenentwicklung als auch für das Ausprobieren bestimmter künstlerischer PraktiUrbla, Toomas Raudam u.a. Der Name bedeutet im Dialekt von Simuna (Estland) »die Unzufriedenen«. 381 SOUP bzw. SOUP 69 war am Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre im Kunstitinstitut tätig, Mitglieder: Leonhard Lapin, Ando Keskküla, Andres Tolts u.a. Der Name weist auf Andy Warhols »Campbell’s Soup Cans« (1962) hin, das Motiv wurde auf dem Plakat der ersten Ausstellung der Gruppe benutzt (Leonhard Lapin, Soup 69, 1969, Estnisches Kunstmuseum). 382 Vgl. ANK ›64. [S. 1]. 383 Tartu ülikooli kunstikabinet ja »kuldsed kuuekümnendad«. – kunst.ee 4, 2006, S. 55; Teekonna algus ja kestmine. Intervjuu Kaljo Põlluga. – Postimees, 24.03.1994. 384 »Prantsuse kaasaegsest kunstist« (Über französische Gegenwartskunst, 1968), »Soome kaasaegsest kunstist« (Über finnische Gegenwartskunst, 1968) und »Uuemat USA kunstist« (Neueres aus der Kunst in USA, 1969); ein Exemplar aller Sammelbände befindet sich in der Bibliothek des Estnischen Kunstmuseums in Tallinn.

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ken durch einige Plattformen der informellen Kommunikation geprägt; vor allem fungierte das Sommerlager der Zeitschrift »Noorus« (Jugend), das an verschiedenen Stränden Estlands stattfand, als ein bedeutender Treffpunkt junger Intellektueller und Künstler, wo unter anderem neuartige installative Kunstwerke präsentiert und Happenings initiiert wurden. Abbildung 8: Installation der Gruppe »Visarid« am Kabli Strand, 1969

Nachlass des Künstlers Kaljo Põllu

Sowohl die ersten Aktionen der Gruppe »Visarid« als auch der Gruppe SOUP waren eng mit der Popkunst verknüpft und gingen von den – teils mit der Popkunst verbundenen, teils dazu parallelen – Neubestimmungen des Objektes und von dem Interesse an raum- und ortsbezogenen künstlerischen Aktivitäten aus; einige Mitglieder der beiden Gruppen – Kaljo Põllu aus »Visarid«, Leonhard Lapin und Andres Tolts aus SOUP – schufen unter anderem die bedeutendsten Werke des estnischen sog. Sowjetpop. Das erste vorbereitete Happening von SOUP, »Popiõhtu« (Popabend), fand im Dezember 1968 im Wohnhaus eines Mitglieds der Gruppe (Ando Keskküla) in Tallinn statt. Den Raum hatte man für das Ereignis mit einer improvisierten Ausstellung von Popkunst versehen und es wurden in dem so gestalteten Rahmen in lustiger Stimmung Lieder, avantgardistische Gedichte, Reden sowie eine »absurde Aufführung« vorgetragen.385 Obwohl es meistens ausgeschlossen 385 Am 30.12.1968 in Kuiv Str. 6a. Tallinn (Nõmme), vgl. Sirje Helme, Popkunst Forever, S. 19; Mari Laanemets, Happening’id ja disain – visioon kunsti ja elu terviklikkusest, S. 12.

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war, dass die Happenings in den öffentlichen Medien rezipiert werden konnten, erschien über diese Veranstaltung doch ein kleiner Bericht von einem der beteiligten Künstler und zugleich Hauptideologen der Happenings, Leonhard Lapin, in der Tartuer Universitätszeitung, die als eine vergleichsweise freie Plattform für die Meinungsäußerungen der jungen Generation galt.386 In der Erläuterung des Geschehens rückte Lapin ausdrücklich die neue Ästhetik der zeitgenössischen Kultur, die ausgehend von den neuen Alltagsgegenständen bzw. von der Lebensumwelt der Konsumgesellschaft entstanden war und von der Popkunst reflektiert wurde, in den Mittelpunkt und betrachtete die während des »Popabends« durchgeführten Aktivitäten in erster Linie als eine Umgangsweise mit dieser neuen materiellen Umwelt, in der die Kunst als eine »natürliche Nebenerscheinung des Lebens« und der Künstler als »Vermittler des ästhetischen Wesens der Welt« fungiere.387 Auf eine interessante Weise brachte man ein ähnliches Verständnis der Popkunst und den Anspruch auf eine dynamische Raumgestaltung im bekanntesten Happening der Gruppe »Visarid«, das im Jahr 1969 im Universitätscafé in Tartu stattfand, einerseits mit der ›Ritualität‹, andererseits mit einer politischen Botschaft in Verbindung. Dabei war die Hinwendung zur rituellen Form möglicherweise von den gleichzeitig entwickelten Ideen der Theatererneuerung inspiriert, wurde aber deutlich anders umgesetzt. Während des Happenings ›kreuzigte‹ man einen der Beteiligten an die Wand und markierte die Figur mit einer roten Kontur, dazu wurden auf der Schallplatte die Lieder aus dem Musical »Hair« gespielt und Gedichte zur Lobpreisung auf die Republik Biafra vorgetragen; die Aktion endete mit dem Ausruf »Es lebe ein freies Biafra!«.388 Die Republik Biafra war ein afrikanischer Staat, der im Jahr 1967 die Unabhängigkeit von Nigeria erklärte und für die Nationalhymne die Melodie »Finlandia« von Jean Sibelius adaptiert hatte; wegen der engen kulturellen und historischen Verbindungen zwischen Estland und Finnland galt das Musikstück in Estland als ein Symbol der nationalen Unabhängigkeit. Einerseits wurde in dem Happening der Gruppe »Visarid« die politische Situation Estlands angesprochen, andererseits löste diese emotionale Identifikation mit Biafra – besonders im Zusammenhang mit dem Gekreuzigten und mit »Hair« – vermutlich auch ein Absurditätsgefühl aus und die Stimmung der Aktion schwankte zwischen ernsthafter Äußerung politischen Protests und einem resignierenden Verlachen dieses Vorhabens. Es lässt sich nicht übersehen, dass die allgemeine Struktur der beiden Aktionen in mehrerer Hinsicht den früheren westlichen Happenings ähnelt: Man strebte eine ›multisensorische‹ Raumerfahrung an, die mithilfe von Gegenständen, Musik, des gemeinschaftlichen Zusammenseins der Beteiligten gestaltet und durch verschiede386 A. Lepalind, POP-68. – Tartu Riiklik Ülikool, 10.01.1969. 387 Ebd., zitiert nach Sirje Helme, Popkunst Forever, S. 19. 388 Am 11.04.1969; vgl. Toomas Raudam, Mina olen visarid. – Vikerkaar 7, 1994, S. 5253.

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ne simultane Handlungen intensiviert wurde. Der Unterschied zur westlichen NeoAvantgarde lag allerdings in der spezifischen Dynamik bzw. Spaltung zwischen der performativen und reflexiven Ebene: Einerseits versuchte man diesen chaotischen, irrationalen, absurden Aktivitäten einen höheren oder tieferen Sinn zu geben (die Idee des Künstlers, der eine neue Ästhetik vermittelt bzw. ein höheres Erkenntnisvermögen besitzt sowie auch der politische Hintergrund des Biafra-Happenings), andererseits wurde diese Sinngebung durch die eigentlichen Handlungen und Stimmungen widerlegt oder zumindest hinterfragt. Neben den verschiedenen zufälligen und sporadischen Aktionen der jungen Künstler, die noch im Weiteren betrachtet werden, kann man drei Happenings von SOUP hervorheben, die sowohl die Vielfältigkeit als auch die zeitliche Entwicklung der Zielsetzungen und Taktiken der performativen künstlerischen Praktiken erkennen lassen: »Trio klaveril« (Trio auf dem Klavier, 1969 im Saal des Kunstinstituts),389 »Paberid õhus« (Papiere in der Luft, 1969 am Strand von Pirita in Tallinn)390 und die Spielplatzaktion an der Ecke der Straßen Heina und Telliskivi (1971 in Tallinn).391 Sowohl die Vorgänge als auch das Verhältnis zur Umwelt in diesen drei Ereignissen bringen einige Grundzüge bzw. Grundmodelle der estnischen Happenings zum Vorschein. »Trio auf dem Klavier« fand im Kunstinstitut als improvisierter Auftritt anlässlich des Internationalen Frauentages statt: Es wurde Klavier gespielt und ein Märchen erzählt, lächelnde Lippen auf das Klavier gemalt und mit den Klavierbeinen geschmust, anschließend zerstörte man das alte Klavier des Instituts und warf die Bruchstücke ins Publikum.392 »Papiere in der Luft« bestand in einem impulsiven Spiel auf dem leeren herbstlichen Strand und auf dem Spielplatz, während dessen hunderte Zeitungen in den Wind fliegen gelassen wurden.393 An der Ecke der Straßen Heina und Telliskivi in Tallinn übermalte man während einer spontanen kollektiven Aktion Objekte auf einem Kinderspielplatz mit verschiede389 Das Happening fand am 8.03.1969 statt; die Beteiligten waren: Leonhard Lapin, Ando Keskküla, Ülevi Eljand, Vilen Künnapu, Avo Himm-Looveer; vgl. Eero Epner, Ära pane, isa! – Teatrielu 2003. Hg. Anneli Saro, Sven Karja. Tallinn: Eesti Teatriliit, 2004, S. 271. Der Name des Happenings variiert in verschiedenen Quellen und ist wahrscheinlich erst im Nachinein von Leonhard Lapin gegeben worden. 390 Das Happening fand im Herbst 1969 statt; die Beteiligten waren: Leonhard Lapin, Andres Tolts, Ando Keskküla, Vilen Künnapu, Konstantin Kuzmin, Toomas Pakri; vgl. ebd., S. 272. 391 Am 27.04.1971; Filmdokumentation: Jüri Okas, Elevant, 1971 (8-mm-Film, 15 Min.). 392 Vgl. Leonhard Lapin, Startinud kuuekümnendatel, S. 21; Leonhard Lapin, Mängides happening’i. –Kaks kunsti: valimik ettekandeid ja artikleid kunstist ning ehituskunstist 1977–1995. Tallinn: Kunst, 1997, S. 37. [Neuauflage des Artikels in: Teater. Muusika. Kino 5, 1987.] 393 Ebd.

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nen Farben und Motiven.394 Im ersten Fall handelte man im relativ sicheren Umfeld des Kunstinstituts – unter anderem wurde das alte Klavier durch Genehmigung des Rektors den Studenten zur Verfügung gestellt.395 Im zweiten Fall verließ man die institutionellen Räume und führte die Aktion am Strand des Stadtrandes aus, wo das Ereignis nicht auffällig, aber doch zugänglich war. Bei diesem Happening kam es das einzige Mal zu einer direkten Auseinandersetzung mit den Behörden – die Beteiligten wurden festgenommen und verbrachten einige Tage im Gefängnis.396 Abbildung 9: Happening »Papiere in der Luft« am Pirita Strand, Tallinn, 1969 (Toomas Pakri, Vilen Künnapu, Leonhard Lapin, Andres Tolts)

Fotos Konstantin Kuzmin, Archiv des Künstlers Leonhard Lapin

Im Vergleich zur Irrationalität der ersten beiden Aktionen ging es beim Übermalen des Kinderspielplatzes um eine gezielte Aktion, durch die man eine ästhetische Veränderung der unmittelbaren Lebensumgebung schuf und bei der auch das Ergebnis des Happenings erhalten blieb bzw. als ebenso bedeutend betrachtet werden kann wie der Prozess des Spiels selbst. Bei den Aktivitäten der Gruppe SOUP, deren Mitglieder Design- und Architekturstudenten waren,397 lässt sich am Ende der 1960er und am Anfang der 1970er Jahre eine deutliche Entwicklungslinie der Ziele und Strategien beobachten: Man ging von absurden impulsiven Aufführungen aus, bewegte sich zwischen den Taktiken des Narrenspiels und ernsthaften subversiven Ansprüchen, testete die Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen, 394 Ebd. 395 Interview mit Leonhard Lapin von Mari Laanemets, März 2003. [Transkription]. 396 Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 272. 397 Leonhard Lapin und Vilen Künnapu studierten Architektur, Andres Tolts und Ando Keskküla Design.

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wendete sich aber danach immer mehr den Ideen der Umweltgestaltung zu und bildete diesbezüglich – im Vergleich zu der spielerischen Haltung und der ›Unwissenheit‹ der Happenings – theoretisch ausgearbeitete Ansichten und Vorschläge aus.398 Diese Wendung hing zum einen mit dem Verlauf des Studiums der jungen Künstler zusammen. Zum anderen kann man diese zwei Richtungen als dekonstruktive und konstruktive Phase vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse betrachten, wobei die erste mit der angespannten Stimmung am Ende der 1960er Jahre, die zweite hingegen mit veränderten Beziehungen zwischen der Neo-Avantgarde und den offiziellen Strukturen, etwa mit dem Neuaufbau neoavantgardistischen Strategien in der Zusammenarbeit mit dem System, in Verbindung zu bringen wäre. Daneben lässt sich jedoch eine Kontinuität zwischen den zwei Phasen feststellen, die in der Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Moderne auf Rationalisierung sowohl des menschlichen Verhaltens als auch der Lebensumwelt hervortrat. Mari Laanemets hat anhand eines Vergleichs der Praxis der Happenings und der Ideologiebildung des Designs in Estland gezeigt, dass in gleicher Weise, wie die impulsiven Aktionen der jungen Künstler die Irrationalität als Teil des Lebens legitimierten, die häufig unpraktischen Vorhaben in der Umweltgestaltung auf eine menschliche Dimension zielten, die den rationalisierten modernistischen Räumen gefehlt hatte.399 Beide reagierten auf die sozialen und technologischen Änderungen, fungierten als eine Versöhnung mit der industriellen Umwelt und zugleich als eine Antwort auf das menschliche Bedürfnis nach dem Romantischen: In den Happenings äußerte es sich durch die Zerstörung der formalen Strukturen des Lebens, in den Designpraktiken im Anspruch, die Lebenswelt zu erheben und zu veredeln, in den formalen Systemen eine Harmonie zu finden.400 Während ihrer Entstehungszeit waren die Happenings der estnischen Künstler nur einem relativ kleinen Kreis der Beteiligten und Zuschauer bekannt. Sie wurden erst in der Mitte der 1980er Jahre durch zwei Artikel von Leonhard Lapin der breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und als einheitliches kulturelles Phänomen betrachtet.401 In diesen Texten skizzierte Lapin den historischen Hintergrund der Happenings, 402 legte eine zeitliche Reihenfolge und Beschreibungen der Aktionen der

398 Vgl. Mari Laanemets, Happening’id ja disain – visioon kunsti ja elu terviklikkusest, S. 15-26; Andres Kurg, Feedback Environment, S. 29-31. 399 Mari Laanemets, Happening’id ja disain – visioon kunsti ja elu terviklikkusest, S. 3031. 400 Ebd., S. 34. 401 Leonhard Lapin, Startinud kuuekümnendatel, S. 16-23; Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Kaks kunsti, S. 31-44. 402 Lapin fängt mit der historischen Avantgarde (Dadaisten, Futuristen) an, kommt danach zu den Aktivitäten von John Cage, Allan Kaprow, Wolf Vostell, Hermann Nitsch u.a.

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estnischen Künstler vor und gab einigen anfänglich unbenannten Ereignissen einen Namen. Beiden Artikel basierten auf Lapins Manuskript »Happening Eestimaal« (Happening in Estland) aus dem Jahr 1970.403 Neben der kunsthistorischen Einordnung der Happenings schlug Lapin in diesem Manuskript auch eine Übersetzung vor: Der Begriff ›Happening‹ könne estnisch mit ›mäng‹ (Spiel) ersetzt werden.404 Interessanterweise behauptete er dabei, dass ›Happening‹ »klanglich unangenehm« wäre (wie »hapu king, hunveiping«),405 obwohl man dessen klangliche Ähnlichkeit mit ›mäng‹ nicht übersehen könne und auch Lapin selbst im Nachhinein zugab, dass er zum Teil eben gerade dadurch auf die Ersetzung mit ›mäng‹ gekommen sei.406 Im Weiteren erläuterte er, dass mit diesem Spiel – das dem Happening entspräche – das alltäglichste Spiel der kleinen Mädchen und Jungen gemeint sei: »Man nehme eine Menge unbedeutender Sachen, funktionsloser ›Gegenstände‹, unwichtiger Ereignisse und Umstände, ein wenig Luft, Sonne, Wasser, alltägliche Stimmen und sonntägliche Klänge und schaffe eine neue fantastische Welt, wo die kraftlosen Bestandteile der Realität sich in eine wirkende, entwickelnde Kraft wandeln, die die Werte der realen Welt als bedeutungslos erscheinen lässt, deren absurde Koexistenz öffnet. Die Künstler spielen sich als Kinder aus der für Illusionisten und Mystifikatoren gefährlichen Realität heraus und leben ein hochwertiges, irreales Leben, wo durch die Unwichtigkeit der Werte der realen Welt die Berührung des abstumpfenden Lebens und des schöpferischen Gedankens vermieden wird«.407 Offenbar handelt es sich bei Lapins Text um eine poetische Überlegung, in der der Autor sich auf eine flexible Weise mit dem Spiel befasste und eine subjektive Vision der Ziele und Zwecke der künstlerischen Tätigkeit vorlegte, wobei ›das Spiel‹ eher als ein intuitiv in Gebrauch genommenes und dargestelltes Schlüsselwort fungierte und nicht im Hinblick auf dessen mögliche Vorgänge, Grenzen und Zustände ausgearbeitet wurde. Jedoch fallen in dieser Überlegung einige Leitmotive auf, die vor dem Hintergrund der eigentlich durchgeführten Happenings und deren Grundzüge bedeutsam scheinen. Obwohl die Absicht des Spiels laut Lapin das Verlassen der vorgegebenen Realität war, betrachtete er als Ausgangspunkt dieses Spiels die konkrete materielle bzw. sinnlich wahrnehmbare Welt (Sachen und Gegenstände, Stimmen und Klänge) und die innerhalb dieser Welt herausgebildeten und schließt die estnischen Happenings an diesen Hintergrund an; vgl. Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Kaks kunsti, S. 31-34. 403 Veröffentlicht in: Leonhard Lapin, Valimik artikleid ja ettekandeid kunstist 1967–1977. Tallinn: Ausgabe des Autors, 1977. 404 Leonhard Lapin, Happening Eestimaal, 1970. Zitiert nach: Leonhard Lapin, Avangardi kuldsed kuuekümnendad. – Avangard, S. 193. 405 Ebd.; »hapu king« bedeutet auf Estnisch »saurer Schuh«. 406 Interview mit Leonhard Lapin von Mari Laanemets, März 2003. [Transkription]. 407 Leonhard Lapin, Avangardi kuldsed kuuekümnendad. – Avangard, S. 193.

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Lebensordnungen (Ereignisse und Umstände), die aber umstrukturiert, also von den konventionellen Konstellationen und Funktionen befreit werden sollten, um deren wirkende Kraft zu entdecken. Man kann hier den breiteren Einfluss der ideologischen Ansätze der frühen westlichen Happenings bzw. der von John Cage entwickelten Konzepte nachvollziehen, die das Erreichen einer möglichst unmittelbaren – von intellektuellen Bestimmungen ungestörten – Wahrnehmung der physischen und sinnlichen Umwelt als das Ziel der künstlerischen respektive spielerischen Aktivitäten sahen. Allerdings wurde dabei jegliche fantastische Dimension und jeder höherer Anspruch zugunsten der Präsenz abgelehnt. Bei Lapin dient aber die unmittelbare bzw. kindhafte Wahrnehmung der physischen Umgebung als eine Übergangsphase zum Aufbau einer anderen – fantastischen, irrealen – Welt. Diese andere Welt wäre unter anderem auch durch psychische Prozesse (Einschätzung der Werte der realen Welt als unwichtig) und die Vorstellungskraft zu erreichen, doch blieben diese Prozesse mit dem Materiellen verbunden und würden mithilfe physischer Gegenstände und durch die sinnliche Wahrnehmung ausgelöst. Darüber hinaus unterscheidet sich Lapins Betrachtung des Spiels bzw. die Zielsetzung der Happenings von dem von Cage ausgehenden Diskurs durch moderne Grundkategorien und -begriffe, die von Lapin gefestigt, von Cage und seinen Nachfolgern hingegen verabschiedet wurden, so die Idee vom Künstler als eine Person, die mit besonderen, höheren Fähigkeiten ausgestattet sei, und das Bedürfnis nach Fortschritt (Aufbau einer neuen Welt), der durch die künstlerische Tätigkeit realisiert werden sollte. Diese Kategorien sind bei Lapin vermutlich sowohl aus kontextuellen Gründen als auch ausgehend von den historischen Quellen der Ideologiebildung der sowjetischen Neo-Avantgarde und von dem engen Bezug auf die historische Moderne verstärkt worden. Durch die Gleichstellung der Happenings und des Spiels verband er diese Kategorien mit dem Spielphänomen, das jedoch nicht ›demokratisch‹ als ein für alle Menschen zugänglicher Handlungsmodus (wie bei der Theatererneuerung) betrachtet wurde, sondern als eine exklusive, nur Kindern und Künstlern eigene Aktivität, die besondere psychische Flexibilität verlange. In den künstlerischen Aktionen lässt sich die Dynamik dieser drei Faktoren bzw. Ebenen, das Materielle und das Imaginäre, die durch die souveräne Handlung des Künstlers verknüpft werde, in verschiedenen Zusammenhängen beobachten. Die Happenings waren überwiegend an Gegenstände gebunden, das Spiel ereignete sich ausgehend von den Objekten und gerade der Zustand des Objektes (das, was mit dem Objekt passierte) und nicht der Zustand des Spielers bestimmte den Ablauf des Spiels. Die Vorgänge der Happenings führten in zwei Richtungen: Es gab fließende Aktionen, in den man sich mit dem Objekt bzw. mit dem Materiellen durch eine symbolische Geste auseinandersetzte (spontanes Spiel mit dem riesigen Luft-

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ballon,408 in den Wind geworfene Zeitungen), aber auch komplexere Vorhaben, bei denen man ausgehend vom Objekt die dramatische Struktur des Ereignisses ausarbeitete (verschiedene Aktivitäten mit der Modellpuppe – Schnitten und Färben, Begraben und Ausgraben,409 vielfältige Behandlung des Klaviers). Abbildung 10: Happening »Spiel mit dem Mannequin« im Staatlichen Kunstinstitut, Tallinn, 1968 (Ülevi Eljand, Toomas Mägi, Vilen Künnapu, Jaak Kruusmägi, Konstantin Kuzmin)

Foto Leonhard Lapin

Bei den Letztgenannten kam es öfters zur Zerstörung des Objektes, die vor dem oben entworfenen Hintergrund eine zweifache Funktion haben konnte: Sie ist sowohl als ein Verfahren zur Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung des Materiellen als auch als ein Weg zur symbolischen Sinngebung für das Geschehen zu verstehen, wobei meistens beiden Dimensionen aufgegriffen wurden. Darüber hinaus kann man für die Happenings verschiedene Muster der Interaktion zwischen dem

408 Happening »Alfabeet« (Alphabet) am Strand von Uulu im Jahr 1968, s. Leonhard Lapin, Startinud kuuekümnendatel, S. 22. 409 Happenings »Mäng mannekeeniga« (1968, Spiel mit dem Mannequin) im Kunstinstitut und »Mannekeeni matmine« (1969, Begraben des Mannequins) auf dem Kabli Strand; s. Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Kaks kunsti, S. 37.

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Objekt, den Handlungen und der Umwelt schildern, wobei sich besonders bezüglich der letzten Kategorie ein relativ klares Entwicklungsmuster feststellen lässt: Man bewegte sich aus geschlossenen Räumen und theatralischen Situationen immer mehr an (halb-)öffentliche Orte, an denen nicht mehr zeitlich und räumlich begrenzte künstlerische Aufführungen dargeboten, sondern spielerische Spaziergänge 410 oder Umgestaltungen dieser Orte411 vorgenommen wurden. Dabei bildete sich ein reflektierteres Verhältnis zur Umwelt heraus, das aber anschließend von sporadischen Aktionen und Interventionen zu konstruktiveren Positionen, Ideologien und Aktivitäten führte. Selbst wenn Lapin den Begriff des Spiels für die theoretische Reflexion der Happenings in Anspruch nahm und sich teilweise aus klanglichen Gründen dafür entschied, kann man dabei die Rolle der im Rahmen der Theatererneuerung entwickelten Spieldefinition nicht beiseitelassen. Die Künstler betonten wiederholt die Bedeutung der Theatererneuerung für das kulturelle Umfeld in Estland am Ende der 1960er Jahre,412 und auch wenn es nur selten zu einer direkten Zusammenarbeit zwischen dem Kreis der Theatererneuerung und den Initiatoren der Happenings kam, waren die Künstler meistens sowohl mit den experimentellen Theateraufführungen als auch mit deren ideellen Grundlagen vertraut413 und durch persönliche Kontakte mit den Theaterleuten verknüpft. Lapins Hinwendung zum Spielbegriff ein Jahr nach dem ersten Höhepunkt der Theatererneuerung scheint einerseits als eine affirmative Unterstützung für die Aktualisierung des Spiels im Theater, andererseits als ein Versuch der Durchsetzung der eigenen Definition, die das Phänomen mit anderen Inhalten und Absichten verband. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass, wenn die Körperlichkeit, Präsenz und psychophysische Grenzsituationen, die bei der Theatererneuerung ausgehend von Artaud und Grotowski im Mittelpunkt standen, unter den Künstler keine besondere Aufmerksamkeit erregten,414 die Ansätze der Psychoanalyse immerhin anregende Wirkung ausübten. Die Rolle von Vaino Vahing als Vermittler dieser Ansätze wurde auch von Lapin hervorgeho410 Spaziergang auf den Ruinen des Glehnschen Schloßes in Tallinn am 5.12.1969, s. Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 274. 411 Zusätzlich zum Übermalen des Spielplatzes fand bspw. im Jahr 1974 eine Aktion junger Architekten (Leonhard Lapin u.a.) und der Künstlerin Sirje Runge im verlassenen Flugfeld in Tallinn statt, wobei eine Metallkonstruktion mihilfe flatternder Toilettenpapiere zum installativen Objekt umgewandelt wurde, s. Mari Laanemets, Pilk sotsialistliku linna tühermaadele ja tagahoovidesse: happening’id, mängud ja jalutuskäigud Tallinnas 1970. aastatel. – Kunstiteaduslikke Uurimusi 4 (14), 2005, S. 146-147. 412 Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Kaks kunsti, S. 37-40; Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 262, 278. 413 Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 262. 414 Ebd.

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ben.415 Darüber hinaus waren die Künstler – als das ganze kulturelle Umfeld in Estland am Ende der 1960er Jahre – von den ersten Übersetzungen der existenzialistischen Texte und des absurden Theaters 416 beeinflusst, bildeten aber oft auch ein besonderes Interesse für Surrealismus und ›Mystizismus‹ heraus.417 Dieses Zusammentreffen der Grundnarrative der Moderne bzw. der verschiedenen neoavantgardistischen Strategien mit den Theorien und Ideologien, die sich auf die eine oder andere Weise mit psychischen Prozessen und dem menschlichen Dasein befassten, gilt als eine der Hauptzüge der künstlerischen Experimente. Auch wenn die Affinität zur Psychologisierung der künstlerischen Aktivitäten im Vergleich zum Theater einen deutlich geringeren und recht vagen Ausdruck fand, kann man vermuten, dass eben durch diese auf den Menschen bezogene Dimension das erhöhte Bedürfnis nach Symbolisierung und universaler Sinngebung in diesen Aktivitäten entstand. Dieses Bedürfnis wurde auf der anderen Seite zu künstlerischen Ideologien in Bezug gesetzt, die solche Sinngebung (zugunsten der körperlichen und räumlichen Erfahrungen) ablehnten, und auf diese Weise im Zusammenspiel eine ideelle und taktische Hybridität der konkreten Aktionen generierten. Das alltägliche sowjetische Leben beschrieb man öfters als surreal und absurd418 und die Irrationalität der Happenings diente unter anderem als Intensivierung der so wahrgenommenen Absurdität und war somit eine Bewältigungsstrategie des Alltäglichen. Daneben erschien sporadisch aber auch der Anspruch auf eine höhere Bedeutsamkeit, die eben durch diese Intensivierung und das Überspannen des Alltagsabsurden erreicht werden sollte. Die Spezifik der Happenings im Vergleich zu den Theaterexperimenten bestand darin, dass man diese Bedeutsamkeit nicht vom Innen, vom Unbewussten her suchte, sondern in Bezug auf die äußerlichen Konstellationen und deren Umdeutungen, durch physische Gegenstände und performative Handlungen hervorrufen wollte. Zusätzlich zu den oben geschilderten Impulsen und Hintergründen für die Entstehung der Happenings in Estland muss nochmal die Rolle des Philologen Tõnu Kõiv erwähnt werden, der sowohl im Kontext des Theaters als auch für die jungen Künstler und hierbei insbesondere für die Gruppe ANK als einer der wichtigsten Vermittler französischer Kultur (Existenzialismus, absurdes Theater, aber auch Artaud und das sog. Theater der Grausamkeit) wirkte,419 der im Rahmen des Wis415 Leonhard Lapin, Startinud kuuekümnendatel, S. 17. 416 Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 262. 417 Elu ruum: Kaire Nurga intervjuu Ando Keskkülaga. – kunst.ee 3, 2005, S. 36. 418 Leonhard Lapin, Avangardi taassünd. – Eesti kunstiavangard ja punane okupatsioon. Tallinn/Võllamäe, 1995, Manuskript, unpaginiert (Bibliothek des Estnischen Kunstmuseums, Tallinn). 419 Vgl. Haljand Udam, Tõnu Kõiv 31.03.1943–11.02.1989 (Nekrolog). – Looming 4, 1989, S. 562; Haljand Udam, Tõnu Kõivu lahkumised. – Looming 1, 1993, S. 80-105.

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senschaftlichen Studentenvereins im Kunstinstitut im Jahr 1965 Vorlesungen über Sartre, Ionesco, Camus, Beckett hielt,420 den Text für die Aufführung von Becketts »Akt ohne Worte I« bereitstellte, dabei als Schauspieler mitwirkte und darüber hinaus angeblich »der Apologet der Happenings«421 war. Aufgrund des professionellen Hintergrunds von Kõiv kann man vermuten, dass sein Interesse für Happenings von der Auseinandersetzung mit der Tätigkeit von Jean-Jacques Lebel ausging, obwohl es keine eindeutigen Angaben dazu gibt. Allerdings war der Begriff ›Happening‹ bereits spätestens ab Mitte der 1960er Jahre unter den jungen Künstler bekannt (auch wenn man den Begriff nicht unbedingt in der gleichen Weise verstand), wurde am Ende der Dekade auch in einigen veröffentlichten Texten erwähnt und kann auf drei Quellen zurückgeführt werden. Die letztlich unverwirklicht gebliebene Idee der Gründung eines Studios für Happenings wurde mithilfe von Tõnu Kõiv konzipiert und war dabei nicht zuletzt von Beiträgen in osteuropäischen Zeitschriften inspiriert.422 In einigen Texten über Theatererneuerung bezeichnete man die Happenings (zwar ohne gründlichere Erklärung) als Parallelform des Theaters von Artaud.423 Durch das Erscheinen von Michael Kirbys Buch »Happenings« am Ende der 1960er Jahre wurde der Begriff präzisiert und gefestigt. Doch gehörten die Happenings keineswegs zu den unhinterfragt anerkannten künstlerischen Ausdrucksformen und auch die Stellungnahmen der Künstler, die an den Happenings teilnahmen, lassen zweifelnde Positionen erkennen. Neben der retrospektiven Hervorhebung und Mythologisierung der Happenings durch Leonhard Lapin äußerten die anderen Beteiligten nur selten ähnliche affirmative Haltungen. Stattdessen wird meistens betont, dass die Aktionen zwar als rebellische Akten oder grenzüberschreitende gemeinschaftliche Aktivitäten bedeutsam waren, aber nicht mit einer ernsthaften künstlerischen Tätigkeit identifiziert wurden.424 In seinem Bericht über das Sommerlager der Zeitschrift »Noorus« aus dem Jahr 1969 stellte auch Lapin selbst die Happenings mit Unterhaltungsspielen gleich: Neben langen Besprechungen am Lagerfeuer und Schach-, Bridge- und Volleyballspielen hätten im Lager auch »Happenings am nachtblauen Meer« stattgefunden. 425 In gleicher Weise wie die Abläufe der Happenings sich zwischen ernsten Einlassungen und deren Verlachen , 420 ANK 64 [S. 1]. 421 Jüri Hain, »Visarid« – kolmkümmend aastat sünnist … – Eesti Ekspress/Areen, 12.05.1997. 422 Videointerview mit Künstler Enno Ootsing in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 423 Mati Unt, Kiri teatri kohta. (1968) – Theatrum mundi, S. 15; Mati Unt, Šokiteatrist. (1969) – Theatrum mundi, S. 23. 424 Vgl. Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 261, 264. 425 Metsa ääres, mere veeres … »Nooruse« IV laager. – Noorus 8, 1969, S. 5.

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herausbildeten, ist auch die reflektierende (die zeitgenössische wie die nachträgliche) Einschätzung der eigenen Tätigkeit unter den Künstlern häufig schwankend und unsicher geblieben – als wisse man nicht genau, was diese Aktionen bedeuteten oder bedeutet haben könnten, als wollte man sie nicht überwerten, aber auch nicht ausschließen, dass sie doch von Wichtigkeit gewesen sein könnten. Vor diesem Hintergrund hat der Spielbegriff in den Aussagen der Künstler eine zusätzliche Dimension gewonnen als Bezeichnung einer nicht ganz ernsten, nicht ganz begreifbaren, aber doch wiederholt – mithilfe der Unterstützung der allgemeinen Stimmungen – aufgegriffenen Aktivität, die sich kaum als etwas anderes als »ein Spiel« bezeichnen lässt.426 In manchen Aktionen der estnischen Künstler wurde mehr oder weniger deutlich – durch die gesamte Struktur oder durch die einzelnen Gesten – die Form des Rituals aufgenommen. In erster Linie lässt sich der Anspruch auf Ritualität im Biafra-Happening und in »Begraben des Mannequins« (1969)427 erkennen, aber auch bei der Zerstörung von Gegenständen, womit auch einige andere Ereignisse kulminierten, nachvollziehen. Das Interesse am Ritual mag sowohl von der Theatererneuerung als auch von den Berichten über die westliche Aktionskunst beeinflusst gewesen sein und diente anscheinend vor allem zur Untersuchung einer Kommunikationsweise und dem Bestreben nach Gemeinschaftserfahrung, die durch bestimmte Handlungsmodi aufgerufen wird. Im Nachhinein behauptete Lapin, dass die Happenings dem Bedürfnis nach Ritual und »neuartigen Kommunikationsformen« entsprochen hätten.428 Die kommunikative Funktion kann bei den Happenings in verschiedenen Hinsichten als grundlegend betrachtet werden. Zum einen boten diese Aktionen eine offene Form kollektiver künstlerischer Tätigkeit, wodurch man neue Informationen, innerliche und äußerliche Impulse bearbeiten, verknüpfen und probeweise umsetzen konnte. Die Produktivität dieser Praxis bestand in der unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Interaktion der Beteiligten, wobei Inhalte und Vorgänge entstanden, die bei den individuellen und werkbezogenen Zielsetzungen der Künstler nicht zustande kamen. Zum anderen kommunizierte man durch die Happenings mit dem näheren und weiteren Lebensumfeld, wobei die Handlungsweise dynamische Auseinandersetzungen ermöglichte und keine vorgeschriebenen Positionen fixierte. Im letzten Fall kann man in den künstlerischen Aktionen die Herausbildung verschiedener Ebenen der Kommunikation verfolgen. Die Happenings im 426 Eero Epners Interview mit dem Künstler Andres Tolts, August-September 2009. [Transkription]. 427 Im Sommer 1969 im Lager der Zeitschrift »Noorus«, Beteiligten: Leonhard Lapin, Ando Keskküla, Andres Tolts. Vgl. dazu Anu Allas, Tagasipöördumine ja taktika: mängu idee 1960. aastate eesti kultuuris ja happening »Mannekeeni matmine«. – Kunstiteaduslikke Uurimusi 4 (17), 2008, S. 9-30. 428 Leonhard Lapin, Startinud kuuekümnendatel, S. 21.

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Kunstinstitut, im Haus der Schriftsteller oder im Universitäts-Café forderten die offiziellen – teils schützenden, teils bedrängenden – Strukturen heraus, die Vornehmen im Stadtraum haben die breitere Öffentlichkeit irritiert; bei den Aktivitäten am leeren Strandgebieten lässt sich die Ansprache der imaginären Außenwelt erahnen, bei der Umgestaltung des Spielplatzes eine direkte und konstruktive Kontaktaufnahme mit dem Lebensraum beobachten. Wenn in der Tätigkeit der Gruppen ANK, »Visarid« und SOUP viele Strategien und Taktiken noch experimentell ausgeführt wurden, so fanden die früheren, sporadischen Bestrebungen am Anfang der 1970er Jahre in den Aktionen des Künstlers Jüri Okas am Strand von Pirita und im Tallinner Stadtraum einen konzeptualisierten, reflektierten und dokumentierten Ausdruck.429 Allerdings revitalisierte Okas (obwohl es sich zum Teil auch um kollektive Aktionen handelte) in seiner Tätigkeit den Anspruch auf Individualität des Künstlers, die in den Gruppenaktionen aufgegeben worden war. Anscheinend führte die klare Konzeptualisierung im Vergleich zum chaotischen Ausprobieren wieder zum erhöhten Bedürfnis nach einem Autorenbegriff. Innerhalb der westlichen und osteuropäischen Aktionskunst der 1960er Jahre lassen sich viele Ereignisse finden, die für die estnischen Happenings direktes oder indirektes Vorbild waren oder als deren Parallelformen bezeichnet werden können. Das Instrumentaltheater der jungen Musiker war vom Auftritt von Cage und Cunningham inspiriert, die Organisatoren des »Popabends« waren möglicherweise mit der »Wystawa Popularna« (Populäre Ausstellung, 1963) 430 von Tadeusz Kantor vertraut, »Trio auf dem Klavier« lässt sich auf die »Piano Activities« des Fluxus zurückzuführen,431 die kollektiven Spaziergänge durch die Stadt ähneln den Aktivitäten der Gruppe Aktual.432 Die kontextgebundenen und impliziten politischen Bedeutungen der estnischen Happenings bildeten sich zumeist im Zusammenspiel mit den symbolischen Gesten heraus, die verschiedene Interpretationsebenen anboten. So können beispielsweise die hundert weggeworfenen Zeitungen in »Papiere in der Luft« sowohl allgemein als ein Zeichen der romantischen Befreiung von dem gegenwärtigen mediendominierten Lebensumfeld als auch spezifisch als die Ablehnung der konkreten, kommunistischen Botschaften dieser Zeitungen betrachtet werden. Eine Besonderheit der Entwicklungsgeschichte der estnischen Happenings liegt in der engen Verknüpfung mit dem absurden Theater und dem kontextuellen Hintergrund, der während der zweiten Hälfte der 1960er Jahre stark von der Ausei429 Vgl. Mari Laanemets, Jüri Okas’ Aktionen am Rande der Stadt. – Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde, S. 134-142. 430 Vgl. Paweł Polit, Can One Be Late for the End of the History of the Foksal Gallery? – We see you: The Foksal Gallery Activities 1966-1989, S. 23. 431 »Piano Activities«, Tonwerk von Philip Corneri, Beteiligten: Emmett Williams, Wolf Vostell, Nam June Paik u.a., Wiesbaden, 1962. 432 Vgl. dazu Kapitel II, S. 75-76.

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nandersetzung mit der Philosophie des Existenzialismus geprägt war und auf diese Weise die künstlerischen Aktionen beeinflusste. Die in den Happenings entstandene Interaktion zwischen dem Künstlerischen und dem Alltäglichen übte ihre Wirkung mehrfach aus und ist als eine dynamische Auseinandersetzung der Rationalisierung und der Irrationalität zu charakterisieren. Einerseits dienten diese Aktionen als Erweiterung der künstlerischen Praxis, riefen eine erhöhte Reflexion der eigenen Tätigkeit hervor und führten im Weiteren zu konzeptuellen Taktiken. Andererseits fungierten die Happenings als ein Protest gegen die Rationalisierung des Alltags und als ein Versuch, die Fesseln der modernen Gesellschaft zu sprengen.433 Im ersten Fall wurden Zielsetzungen und Inhalte des Künstlerischen überarbeitet, im zweiten Fall verschob man die Wahrnehmung des Alltäglichen. In einigen Happenings am Anfang der 1970er Jahre kamen die ersten Ergebnisse dieser zweifachen Dynamik auf eine interessante Weise zum Vorschein, so beispielsweise in »Weekend in Vääna« aus dem Jahr 1972.434 Einerseits beinhaltete die Aktion nichts Anderes als ein spontanes, etwas verrücktes Spiel im Sommerhaus, das eher als eine gesellschaftliche Unterhaltung erschien denn eine breitere Bedeutsamkeit aufwies; andererseits wurden die Aktivitäten im Gegensatz zu den früheren, oftmals weitaus ›künstlerischeren‹ Ereignissen sorgfältig dokumentiert. Zum einen festigte man somit die Auffassung, dass der chaotische Fluss des Alltags im Grunde immer als Kunst betrachtet werden könne, zum anderen nahm man aber auch an, dass diese Betrachtung nur einer bestimmten (künstlerischen) Operation – Rahmung, Konzeptualisierung, Dokumentation – folgen könne.

3.4 V ERFLOCHTENE S PIELRÄUME Wie oben erwähnt, kam es relativ selten zu einer direkten Zusammenarbeit zwischen dem Kreis der Theatererneuerung und den Initiatoren der Happenings bzw. es entstand aus dieser Zusammenarbeit keine produktive Synthese, die neue Ansichten oder Inhalte generiert hätte. In den wichtigsten Punkten zeigten die Grundlagen der Experimente im Theater und in der Kunst Differenzen auf, die nicht einfach miteinander zu verknüpfen waren bzw. die bei dem Versuch einer Verbindung allzu weitreichende Umpositionierungen der einen oder anderen Seite vorausgesetzt hätten. Im Theater blieb die Rolle des Künstlers – neben der Befreiung des Schauspielers und der Gemeinschaftserfahrung – im Hintergrund, bei den Happenings – auch wenn diese vom absurden Theater ausgingen – wurden die Zielsetzungen überwie433 Vgl. Mari Laanemets, Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde, S. 120-123. 434 Filmdokumentationen der Happenings von Jüri Okas in: »Document«, 1970–1976, zusammengestellt 1988 (Original 8-mm-Film, insgesamt 50 Min.), Estnisches Kunstmuseum.

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gend als Gegensatz zum institutionellen Rahmen einer Theateraufführung herausgebildet. Dennoch benannte Hermaküla im Jahr 1967 als mögliche Künstler für seine künftigen Inszenierungen die ANK-Mitglieder Tõnis Vint und Jüri Arrak und sah deren Beitrag »hoffnungsvoll« entgegen, da sie im Kunstinstitut nicht Szenografie studierten. 435 Das SOUP-Mitglied Andres Tolts war, zusammen mit Meeri Säre, als Künstler an Jaan Toomings Inszenierung »Lässt die Hand küssen« beteiligt. Jedoch betonte er später, dass seine Tätigkeit kein einziges Mal über die Rolle des Bühnenbildners hinausgereicht habe. 436 Leonhard Lapin gestaltete das Bühnenbild – als »Manifestation der Pop-art« 437 – für Toomings Inszenierung »Kohle und Könige«, das aber letztlich doch nicht auf die Bühne kam. Durch persönliche Kontakte waren die Kreise der Künstler und Intellektuellen in der kleinen und geschlossenen Gesellschaft jedoch immer miteinander gebunden. ANKMitglieder kooperierten eng mit den Theaterstudenten 438 und SOUP-Mitglieder trafen sich mit den Theatererneuerern im Sommerlager der Zeitschrift »Noorus« im Jahr 1969.439 Darüber hinaus bildeten sich auch andere informelle Plattformen für die Kommunikation heraus: das Café »Pegasus« in Tallinn,440 der sog. Salon der Künstler und Intellektuellen in Tartu, 441 u.a. Somit waren die Informationsfelder und Ausgangsimpulse der verschiedenen kulturellen Entwicklungen miteinander verflochten und von persönlichen Beziehungen beeinflusst, selbst wenn nicht alle verborgenen Prozesse hinter den konkreten Erscheinungen im Nachhinein rekonstruierbar sind. Die gegenseitigen Positionierungen der Theatererneuerer und der Initiatoren der Happenings kann man in erster Linie anhand einiger Texte nachvollziehen. In Lapins Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Happenings wurde die Theatererneuerung ausdrücklich einbezogen. So stellte Lapin für deren Inszenierungen eine »Nähe zur Stimmung des Happenings« fest, wobei er diese Stimmung auf die improvisierende Arbeitsmethode zurückführte und »Nur ein Lied« als erste Erscheinung des Happenings im estnischen Theater bezeichnete. 442 Allerdings stehen in Lapins Darstellung Zwecke und Ergebnisse der Improvisation im Mittelpunkt, die 435 Katkendeid Evald Hermaküla kirjadest Kaarel Irdile. [Ausschnitte der Briefe von Evald Hermaküla an Kaarel Ird.] – Hermaküla, S. 34. 436 Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 274. 437 Leonhard Lapin, Igavikku. Vaino Vahing. – kunst.ee 2, 2008, S. 38. 438 Interview mit Künstler Jüri Arrak am 31.10.2006. 439 Leonhard Lapin, Igavikku. Vaino Vahing. – kunst.ee 2, 2008, S. 37. 440 Vgl. dazu Tõnu Tepandi. (Interview.) – Lavakooliraamat, S. 245; Mari Laanemets, Das Café als Ausstellungsort. – Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde, S. 65-72. 441 Vgl. Jaak Rähesoo, Eessõna. – Thespis, S. 15-17. 442 Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Kaks kunsti, S. 37-40.

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sich mit den Zielsetzungen der Theatererneuerung kaum in Übereinstimmung bringen lassen, aber im Rahmen der Aktivitäten der Künstler wichtig waren. Dieser Unterschied wird im Weiteren noch gründlicher betrachtet, doch lässt sich bereits vorläufig festhalten, dass Lapin den Bezug auf die Theatererneuerung nicht unbedingt ausgehend von den Hauptinteressen der Theaterexperimente aufnahm, sondern eher als Projektion seiner eigenen Interessen ausarbeitete. Mati Unt, der wiederum mehrmals im Kontext der Theatererneuerung auf die Happenings hindeutete, verortete das Phänomen – möglicherweise nach dem Vorbild von Schechner und Grotowski – an der Grenze zwischen Theater und Kunst sowie an der Grenze zwischen Kunst und Alltagsleben.443 Hier weist es, ohne dass Happenings mit den Theaterexperimenten gleichgestellt werden können, eine Parallelität und mitunter vergleichbare Ziele der beiden auf – vor allem durch den Anspruch nach einer (Artaud’schen) allumfassenden Raumerfahrung, 444 aber auch hinsichtlich Spontanität und »Anarchismus«.445 Worin genau der Unterschied zwischen den Happenings und dem Avantgardetheater läge, erläuterte Unt nicht; man kann aber vermuten, dass unter anderem die allgemeine Einstellung der Beteiligten der Theatererneuerung und der Happenings eine einfache Gleichsetzung nicht zuließ: Im Theater wurde das, was im Probesaal bzw. auf der Bühne passierte, als die intensivste Form des Lebens, die ›realer‹ als der Alltag sei, wahrgenommen; die Happenings hingegen entstanden oft als ein undefiniertes Produkt halbbewusster Bestrebungen. Auch der Schriftsteller Paul-Eerik Rummo erwähnte in seiner ausführlichen Antwort auf die Kritik des »Aschenputtelspiels« die Happenings, wobei er sich mit vielen allgemeinen Fragen befasste.446 In seiner Betrachtung der Art und Weise der Adaption von Phänomenen der zeitgenössischen westlichen Kultur in Estland behauptete Rummo, dass die Happenings – beispielsweise im Gegensatz zum absurden Drama – hier keinen richtigen Boden gefunden hätten. Er erkannte hierfür eine fehlende kontextuelle Eignung, die er mit dem historischen Hintergrund der estnischen Kultur in Verbindung brachte: Eine Kultur, die noch vor ein paar Jahrhunderten vollkommen volkstümlich war, könne dem Anspruch auf Professionalität nicht so einfach entsprechen.447 Dieser Anspruch war offenbar tatsächlich zumindest einer der Gründe, warum die Happenings auch unter den Künstlern sehr zwiespältig eingeschätzt wurden: Die Ideologie der westlichen Happenings beinhaltete einige Grundzüge bzw. Erfordernisse (Distanzierung von der Ernsthaftigkeit), deren Ausgangspunkte im estnischen Kontext nicht in der gleichen Art verstanden werden konnten und 443 Mati Unt, Šokiteatrist. – Theatrum mundi, S. 23. 444 Mati Unt, Kiri teatri kohta. – Theatrum mundi, S. 15. 445 Vgl. Mati Unt, Eyolf ja külalised. (1974) – Theatrum mundi, S. 50. 446 Paul-Eerik Rummo, Igavik ja argipäev (Vastus »Tuhkatriinumängu« kriitikale). (1969) – Thespis, S. 187-209. 447 Ebd., S. 192.

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eher als Abgeben des schützenden Reichs der Kultur wahrgenommen wurden. Bei den Theaterexperimenten wurde – auch wenn man zum Teil nichtprofessionelle Schauspieler und nicht etablierte Arbeitsmethode benutzte – dieser Rahmen der Professionalität konsequent beibehalten, sogar wenn eben dadurch die innerlichen Widersprüche dieser Experimente am deutlichsten zum Vorschein kamen. Der zitierte Text von Paul-Eerik Rummo wurde im Samizdat-Almanach der Theatererneuerung, »Thespis«448 veröffentlicht, in dem kurz danach (1973) ein Artikel von Leonhard Lapin und der Künstlerin Sirje Lapin (Runge) erschien,449 der seinerseits die Abweichung (aber immerhin auch die Anknüpfungspunkte) der Aktivitäten und Interessen im Theater und in der Kunst erkennen lässt. Anlässlich der Diskussion über den Bau des neuen Opernhauses in Tallinn legten Leonhard und Sirje Lapin ihr eigenes Theaterkonzept vor, das sich einerseits dem Projekt des neuen Hauses entgegensetzte (solange man nicht wüsste, womit dieses Gebäude gefüllt werden soll), andererseits den Raum als den wichtigsten Ausgangspunkt des Theaters betrachtete.450 In der zeitgenössischen Kultur, d.h. unter den Bedingungen der technischen Revolution und des Zeitalters der Information, könne sich das Theater nicht mehr in elitäre Räumlichkeiten einschließen, sondern müsse aus diesen heraustreten.451 Wenn ein Haus für das Theater gebaut würde, so die Argumentation, solle es ein universaler, vollkommen transformierbarer und mechanisierter Raum sein.452 Die Arbeit in diesem zukünftigen Theatergebäude müsse gleichermaßen von Regisseuren und Künstlern als auch von Ingenieuren und Psychologen geleitet werden. Die Schlüsselfigur bei der Schaffung des neuen Theaters sei aber der Architekt: Da das Äußerliche und Innerliche untrennbar seien und das Ganze dem sozialen Bedürfnis entsprechen müsse, käme es dem Architekten zu, sowohl über die Form als auch über den Inhalt des Theaters zu entscheiden.453 Die Verwandtschaft mit der gleichzeitig entwickelten Designideologie, bei der man ebenso nach der totalen künstlerischen Umweltgestaltung strebte, ist hier gleichermaßen unschwer zu erkennen wie auch das Zusammentreffen von Rationalisierung und des Romantischen. In ihrem Text zitierten Leonhard und Sirje Lapin zweimal Peter Brook, dessen Buch »Der leere Raum« im Jahr 1972 auf Estnisch veröffentlicht wurde.454 Ein

448 »Thespis« wurde in den Jahren 1972–1973 herausgegeben, zum Teil veröffentlichte man auch früher (ab 1968) geschriebene Texte, vgl. Jaak Rähesoo, Eessõna. – Thespis, S. 9-23. 449 Sirje Lapin, Leo Lapin, On sügis, lehed langevad. – Thespis, S. 288-296. 450 Ebd., S. 290-293. 451 Ebd., S. 290. 452 Ebd., S. 291-292. 453 Ebd., S. 292-293. 454 Peter Brook, Tühi ruum. Loomingu Raamatukogu Nr. 44–45. Tallinn: Perioodika, 1972.

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Zitat betraf die Streitigkeiten über die Kleinigkeiten in der Oper,455 das andere aber die von Brook geschilderte Entwicklung der Ideen und Ansichten im Theater: Man lasse sich vom Instinkt und von der Empirik leiten, man improvisiere und wechsle die Standpunkte, man zweifle immer an der Richtigkeit des ausgewählten Weges.456 Die Vorstellung einer höchst rationalisierten Theatermaschine wurde von Leonhard und Sirje Lapin somit mit menschlicher Unsicherheit und Veränderlichkeit in Verbindung gebracht; auch die ›Anstellung‹ des Psychologen neben dem Ingenieur im Theater der Zukunft verwies auf diese Zwiespältigkeit und erinnert dabei an Hermakülas Anspruch auf ein wissenschaftliches Weltbild im »Aschenputtelspiel«, das sowohl auf der Physik als auch auf der Psychologie basiere. Einerseits verwandten Leonhard und Sirje Lapin ausdrücklich die Rhetorik der historischen Avantgarde, der russischen Konstruktivisten und der Futuristen, andererseits wurde deren Radikalität durch die psychologische Dimension abgeschwächt. Im Rahmen der sowjetischen Neo-Avantgarde lässt sich hier eine hybride Mischung ideologischer Ansätze beobachten, die von Leonhard Lapin einige Jahre später im Vorschlag für die »Verwandlung des Tallinner Theaterlebens ins Tallinner Theater des Lebens« weiterentwickelt wurde. 457 Bezüglich der Verhältnisse zwischen den Künstlern und der Theatererneuerung kann man folglich sagen, dass das Theater als ein kulturelles Phänomen für die Künstler mehrfacher Hinsicht anziehend wirkte, die konkreten Anknüpfungspunkte aber zumeist in den Fragestellungen gefunden wurden, die für die Theatererneuerer zwar nicht unwichtig, aber nicht zentral waren. So schlossen sich die Künstler sowohl dem Interesse am absurden Theater als auch den Ideen der allumfassenden Raumerfahrung an, standen aber dem eigentlichen Kern der Theatererneuerung, dem körperlichen Ausdruck der aus dem Unbewussten hervorgerufenen Impulse, eher zweifelnd gegenüber. Auf der anderen Seite kann man unter den Tätigkeiten des Kreises der Theatererneuerung trotz der Konzentration auf ernste und methodische Untersuchung unbewusster psychischer Prozesse einige Aktivitäten finden, deren Stimmung und Ausführung den Strategien der künstlerischen Aktionen (die oft an das Narrenspiel grenzten) ähnelten. So ereignete sich unter Beteiligung von Mati Unt, Jaan Tooming und dem Dichter Joel Sang am Strand von Pärnu im Frühling 1969 ein spontanes Spiel, das von Unt fotografisch dokumentiert und im Nachhinein als ein Happening bezeichnet wurde.458 Das Geschehen lässt sich mit der Aktion »Papiere in der Luft« der Gruppe SOUP vergleichen. Es handelte sich um spontane, ›kindliche‹, irrationale Handlungen am leeren Strand, die zwar ohne materiellen Bezugs455 Sirje Lapin, Leo Lapin, On sügis, lehed langevad. – Thespis, S. 296. 456 Ebd., S. 289. 457 So Lapin in seinem Vortrag, den er am 28.03.1976 im Rahmen des Monats des Theaters (beim Treffen des kreativen Jugends) in Tallinn hielt; vgl. dazu Kapitel IV, S. 219-221. 458 Mati Unt, Ühest vanast happening’ist. – Teater. Muusika. Kino 2, 1992, S. 83-91.

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punkt (wie Zeitungen bei SOUP) durchgeführt wurden und ohne anschließende Festnahme endeten, aber sich in gleicher Weise an der Grenze zwischen einem demonstrativen Irritieren der Behörden auf der einen Seite und einem verborgenen bzw. ungefährlichen Unsinn auf der anderen Seite bewegten. Das Bedürfnis nach Ausdruck und Legitimation des Irrationalen in einer überkontrollierten und überrationalisierten Gesellschaft charakterisierte sicherlich nicht nur die künstlerischen Praktiken. Man kann vermuten, dass derartige ›Meinungsäußerungen‹ besonders im Rahmen der Jugendkultur auch ohne jegliche künstlerische Konnotationen zustande kamen, dementsprechend jedoch ebenso unbekannt geblieben sind. Auch das Happening in Pärnu brachten die Beteiligten keineswegs mit ihren schöpferischen Biographien in Verbindung. Somit muss man nochmals betonen, dass besonders im Fall der Happenings alle Grenzen und Bestimmungen flexibel sind und die retrospektive Konzeptualisierung bereits einen unvermeidlichen Teil des Forschungsgegenstandes bildet. Ein interessantes Phänomen, das sowohl mit den Theaterexperimenten als auch mit den Happenings verbunden war, jedoch mit keinem von beiden identifiziert werden kann, aber immerhin Einiges in der kulturellen und sozialen Dynamik der Zeit (die wiederum alle künstlerische Praktiken prägte) sichtbar zu machen vermag, war die im Jahr 1966 an der Universität Tartu gegründete Studentenband »Rajacas«.459 Die Auftritte der Band hatten viele Gemeinsamkeiten mit den Aufführungen des Studententheaters im Kunstinstitut: In den parodistischen Programmen wurden mit Liedern begleitete Sketche und »inszenierte Karikaturen« vorgetragen sowie Elemente der Pantomime und Akrobatik genutzt. Im Jahr 1968 brachte »Rajacas« das erste Mal in Estland »Tango« von Sławomir Mrożek auf die Bühne.460 Das Ziel war, laut einem der Mitglieder, dem damaligen Biologiestudent und späteren Künstler Priit Pärn, Witze zu machen, die »maximal zotig und maximal politisch wären, um zu sehen, ob man etwas sagt«.461 Am Anfang der 1970er Jahre wurde die Tätigkeit der Band schließlich verboten. Im Jahr 1968 bezeichnete Mati Unt »Rajacas« als »eine der professionellsten Truppen in Estland«, da sie »bloß wissen, was sie machen, und das gibt deren Auftritten die Kraft«;462 im Jahr 1971 machte die Band beim Hermakülas Experiment des Markttheaters mit. Das Studen459 »Rajakas« bedeutet auf Estnisch »der Lump«. An der Band beteiligten sich Biologieund Geografiestudenten, vgl. www.rajacas.eu (24.08.2014). 460 Mari Laaniste, Karikatuur ja/või kunst: valdkondade vahekorrast Eestis Priit Pärna loomingu näitel. – Kunstiteaduslikke Uurimusi 1–2 (18), 2009, S. 114-115, Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 268. 461 Interview mit Priit Pärn von Mari Laaniste am 11.05.2007, zitiert nach: Mari Laaniste, Karikatuur ja/või kunst. Valdkondade vahekorrast Eestis Priit Pärna loomingu näitel, S. 115. 462 Mati Unt, Kiri teatri kohta. – Theatrum mundi, S. 16.

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tentheater des Kunstinstituts wurde in den Texten von Unt nicht erwähnt, vermutlich haben die Ideologen der Theatererneuerung dessen Aufführungen auch nicht gesehen. Der Unterschied zwischen »Rajacas« und Aktionen der Kunststudenten lag in erster Linie im Verhältnis zum Publikum bzw. in den Ansprüchen bezüglich der breiteren Wirkung ihrer Tätigkeit: Im ersten Fall wurde die Provokation, die mehr oder weniger direkte politische Ansätze beinhaltete, ausdrücklich in den Mittelpunkt gesetzt, im zweiten Fall operierte man eher mit dem intensivierten Absurditätsgefühl, das keine eindeutige Verbindung mit der politischen Umwelt aufzeigte, sondern sich in verschiedene ›künstlerische‹ Motive umwandelte. Auch die Größe des Publikums und die Einstellung, mit der dieses der provokativen Band bzw. den zwar aufregenden, aber nicht unbedingt nachvollziehbaren künstlerischen Experimenten entgegentrat, waren unterschiedlich. Vor dem breiteren gesellschaftlichen Hintergrund repräsentierten die Aktivitäten von »Rajacas« eine – besonders für das Ende der 1960er Jahre – typische Form des gewaltlosen Widerstands, der auf die eine oder andere Weise innerhalb der Jugendkultur seinen Ausdruck fand, beispielsweise in den Studentendemonstrationen in Tallinn und Tartu während des Internationalen Studententags im Oktober 1968,463 bei denen sowohl »Rajacas« als auch die damit vergleichbare, aber weniger provokative Studentenband aus dem Kunstinstitut, »Peoleo«, auftraten. Die teils parodistischen, teils absurden Texte der Losungen, Lieder und Reden während dieser Demonstrationen bewegten sich an der Grenze, an der sie eigentlich noch relativ deutlich lesbar waren, jedoch keinen eindeutigen Grund für eine direkte Anklagen geben konnten bzw. den Strafprozess verkomplizierten hätten (z.B. wenn die Leitsprüche als ideologisch korrekt galten, gleichzeitig aber darauf hingewiesen wurde, dass eigentlich das Gegenteil gemeint war). Es scheint, als ob »Rajacas« die verschiedenen Schichten bzw. Dimensionen der kulturellen Kommunikation auf eine Weise zusammenbrachte, die sowohl die Ambivalenz des Kontextes widerspiegelte als auch eine unmittelbare Wirkung auf das Umfeld ausübte. Diese Verbindung des Bewusstseins der eigenen Tätigkeit mit einer rohen, impulsiven Energie und das Erreichen des Publikums waren anscheinend das, was Unt beeindruckte und worauf auch die Theatererneuerung zielte. Das unprätentiöse Format der Studentenband ermöglichte es, an den spezifisch künstlerischen Problemstellungen, mit denen man sich sowohl im Theater als auch bei den Happenings befasste und die einige unlösbare Konflikte erzeugten, vorbeizugehen, obwohl die Vielfältigkeit der Techniken und Inhalte, die im Rahmen dieses Formats benutzt und vermittelt wurde, der Komplexität der künstlerischen Aktivitäten nicht unbedingt nachstanden. Im Vergleichen der Definitionen des Spiels, wie sie den Äußerungen von Vahing/Unt und Lapin zu entnehmen sind, sowie der Aktivitäten, die mit der einen 463 Vgl. Marju Lauristin, Peeter Vihalemm, Tartu 1968: kolmkümmend aastat hiljem. – Looming 9, 1998, S. 1399-1400.

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oder der anderen Interpretation verbunden waren, können einige generelle Gemeinsamkeiten und manche bedeutende Unterschiede hervorgehoben werden. In beiden Fällen wurde das Spiel, wie man es in der künstlerischen Praxis anstrebte, als Befreiung von den Fesseln der modernen Gesellschaft begriffen und häufig mit dem Kinderspiel gleichgesetzt.464 Ebenso entfernte man sich sowohl im Theater als auch unter den Künstlern von den verbalisierten Inhalten, es wurde auf die ›Irrationalität‹ Wert gelegt und die spontanen innerlichen Impulse als einer der wichtigsten Ausgangspunkte des Spiels betrachtet. Allerdings wich die Wahrnehmung des Ergebnisses des Spiels im Theater und bei den Happenings voneinander ab bzw. es bildeten sich im zweiten Fall zwei Formen des Spiels heraus, die sich zwar nicht direkt dem Spiel der Theatererneuerung entgegensetzten, jedoch die Dynamik der spielerischen Handlungen verschoben. In der Beschreibung der Inszenierungen der Theatererneuerung betonte Lapin die Bildhaftigkeit der Bühnenaktivitäten: In »Nur ein Lied« sei man ausgehend vom Text und über dessen improvisierte Auslegung zum freien Spiel gelangt, wobei der Schauspieler als eine »reine Figur« erschien.465 In »Lässt die Hand küssen« habe, laut Lapin, die spontan entstandene Bildhaftigkeit dominiert, in der der Schauspieler als »aktives Material der plastischen Struktur der Aufführung« fungierte, so wie die Farbe in der abstrakten Malerei oder die Form in der kinetischen Skulptur.466 Gemäß der retrospektiven Betrachtung von Mati Unt hatte die Theatererneuerung nichts mit Bildhaftigkeit zu tun, sondern nur mit Präsenz.467 Während der Experimente des Nachttheaters sprach er zwar über die ›Objektivierung‹ des Textes,468 aber nicht des Schauspielers, obwohl einige historische Bezüge der Theatererneuerung (Meyerhold, Artaud) in diese Richtung weisen könnten. Der grundsätzliche Unterschied der Ansichten Lapins und der Theatererneuerern lag in den Schwerpunkten, Zwecken und den voraussichtlichen Folgen des spontanen Spiels. Lapin setzte Improvisation mit Bildhaftigkeit gleich: Das implizite Ziel des Spiels war das Erzeugen von gestischen, räumlichen und objektgebundenen Vorgängen, die als Bilder wahrgenommen und ggf. den Zuschauern des Spiels vermittelt werden konnten. Sogar wenn diese Bilder improvisiert und ohne rationale Kontrolle entstanden, ging Lapin davon aus, dass die körperlichen, räumlichen und materiellen Konstellationen eine eigenständige Bedeutung aufweisen. Die Methode bzw. Denkweise ähnelte hierbei Taktiken der Surrealisten: Es wird etwas unkontrolliert, irrational, ausgehend von den innerlichen (unbewussten) Im464 Neben Lapin, der in »Happening in Estland« auf das Kinderspiel hinwies, bezeichnete Mati Unt »freies Spiel« und »Kinderspiel« als Schlagwörter der Theatererneuerung, Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S 140. 465 Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Kaks kunsti, S. 40. 466 Ebd. 467 Mati Unt, Teatriuuenduse algusest Nõukogude Eestis. – Theatrum mundi, S. 54. 468 Mati Unt, Mõned märkused nn ööteatri kohta. – Theatrum mundi, S 44.

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pulsen produziert und an das Ergebnis entweder als Objekt rationaler Analyse oder ästhetischer Wahrnehmung herangegangen. Für die Theatererneuerer war diese Bildhaftigkeit, die Lapin an ihren Inszenierungen schätzte, eher ein Nebenprodukt. Es ging ihnen vielmehr um das Erleben (oder Miterleben) psychischer und physischer Prozesse, die nicht mit fixierten Anhaltspunkten – mit Bildern – verknüpft wurden, sondern die durch Kontinuität, Veränderlichkeit, Unvorhersehbarkeit und den Wechsel der emotionalen Register ihre Wirkung ausübten. Vor diesem Hintergrund können Happenings in erster Linie als objekt-, raum- oder, in einem weiteren Sinne, bildgebunden und die Theaterexperimente als prozesshaft beschrieben werden: Im ersten Fall strukturierten sich die Abläufe der Aktionen ausgehend von den Objekten und generierten bildhafte Konstellationen; im zweiten Fall wurden die Objekte in Bezug auf von psychophysischen Impulsen geleitete Prozesse des Spiels aufgenommen oder beiseite gelassen. Allerdings bildete sich neben den objektgebundenen Happenings auch eine andere Taktik der Aktionen heraus, die das Ziel der Theatererneuerung, die Verschmelzung bzw. Gleichstellung mit dem Alltagsleben, auf eine eigene Weise umsetzte. In den sog. Alltagshappenings, die, so Lapin, die jungen Künstler auf jedem Schritt begleitet hätten,469 handelte es sich um nichts anderes als Narrenspiele, um absurdes Benehmen an öffentlichen Orten, um die Verschiebung konventioneller Verhaltensnormen, um kleinere Provokationen, die manchmal mit ›künstlerischen‹ Elementen verfeinert wurden, so etwa der Spaziergang und die Straßenbahnfahrt von Lapin und Vilen Künnapu durch Tallinn, wobei bei einem der Beteiligten ein Hosenbein abgeschnitten war, der andere eine zerbrochene Trommel als Hut trug,470 das Einpacken eines Beamten in Papier während einer Ausstellungseröffnung, 471 oder die ›Intervention‹ in einen Tanzabend in Südestland,472 u.a. Die Frage, inwieweit diese Aktivitäten mit dem Künstlerischen in Verbindung gebracht werden können oder sollten, ob sie als Formen des Widerstands galten oder von dem dringenden, aber undefinierten Bedürfnis nach Selbstausdruck erzeugt wurden, muss in jedem Einzelfall geprüft werden und ist vielleicht auch nicht von besonderem Gewicht. Doch deuteten diese Aktionen die Einbeziehung und die Intensivierung der spielerischen Dimensionen im Alltag an und spiegelten dadurch ihren Kontext wieder, der einerseits diese Irrationalität hervorrief, andererseits aber auch das elementare Sicherheitsgefühl erzeugte, das die Aufführung dieser Provokationen voraussetzte. Eine vergleichbare Aufnahme des Spiels inmitten des Alltagslebens lässt sich auch im Kreis der Theatererneuerung beobachten, allerdings entwickelte sich dabei eine vollkommen andere Dynamik, die in erster Linie der Psychiater Vaino 469 Leonhard Lapin, Avangardi kuldsed kuuekümnendad. – Avangard, S 193. 470 Interview mit Leonhard Lapin von Mari Laanemets, März 2003. [Transkription]. 471 Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 268. 472 Ebd., 271.

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Vahing in Gang setzte. Auch Vahing betonte, dass das Spiel immer stattfand,473 doch war das Spiel und die dabei entstandene Provokation nicht nach außen gerichtet, sondern bezog sich auf eine kleine Runde, in der die Anwesenden sich gegenseitig in ›Grenzsituationen‹ zu bringen versuchten. Laut Vahing war es sein Ziel, den Menschen dermaßen außer sich zu bringen, dass er vergäße, was er sagt.474 Ausgehend vom Modell des Psychodramas bzw. von Behandlungsweisen psychiatrischer Patienten interessierte Vahing sich vor allem für die sprachliche Kommunikation,475 die die innerlichen, unbewussten Prozessen des Behandelnden respektive des Spielers nachvollziehen lässt. Im Vergleich zu den Bühnenaktivitäten der Theatererneuerung kann man in diesen Alltagsspielen ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zur Sprache feststellen – Sprache respektive Text war der Ausgangs- und Anhaltspunkt, es wurde nie endgültig aufgegeben, obwohl es das Ziel war, über die Sprache hinauszukommen. Einerseits vertraute man dem Text nicht und versuchte ihn zu ›objektivieren‹, andererseits kam man vom freien Spiel immerhin zur Sprache – oder zur Methode – zurück. Ein interessanter Punkt in den Alltagsspielen der Theatererneuerung ist die von einigen Beteiligten geäußerte Beobachtung, dass die von Vahing generierten Aktivitäten im Salon – trotz des Bestrebens nach höchster ›Authentizität‹ und vollkommenem Rausch – eigentlich sehr theatralisch, sogar verstellt waren.476 Eine ähnliche Ambivalenz lässt sich auch bei einigen Happenings und Alltagsspielen der Künstler erahnen: Einerseits verlangte man nach ›authentischen‹ Akten, impulsivem Verhalten und unmittelbarer Kommunikation, die aus den konventionellen Grenzen der Sprache herausbräche, andererseits wurde dieses Verlangen theatralisiert, in demonstrative Gesten verwandelt, die von innerlichen Impulsen generiert sein mochten, aber gleichzeitig von Distanzierung – Zweifel, Ironie – geprägt waren, die eine Suche nach dem Authentischen darstellten, aber nicht unbedingt völlig erlebten. Es wurde somit ein Doppelspiel erzeugt: Man spielte das kindhafte Spielen. Diese mehrschichtige Spieldynamik kann man auch mit dem allgemeinen Verhältnis zwischen dem Künstlerischen und Alltäglichen in Verbindung bringen. Die Erweiterung des Rahmens der künstlerischen Aktivität und das Ausbrechen aus deren institutionellen Grenzen waren von den neuen Zielsetzungen der künstlerischen Praxis und von dem Streben nach unmittelbarer Wirkung inmitten des Lebens geleitet, sie führten zu einer neuen, intensivierten Wahrnehmung des Alltäglichen, aber auch – besonders in diesem sozialen Umfeld – zur Erhebung und Theatralisierung des banalen Alltags. Die anfängliche Absicht des Spiels, das Erreichen des authentischen 473 Tahan saada poliitikuks, aga ei oska. (Interview mit Vaino Vahing von Astrid Reinla.) – Vikerkaar 7, 1993, S. 82. 474 Ebd. 475 Ebd. 476 Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 277.

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Daseins bzw. Handlungsmodus, verschob sich somit im Laufe des Spiels und generierte neben impulsiven Aktionen ebenso viel demonstrativ theatralische Bewegungen. Auf der anderen Seite kann man diese Neigung zur Selbstdramatisierung auch in mehreren damaligen Erklärungen und späteren Erinnerungen der Beteiligten der Theatererneuerung und der Happenings nachvollziehen, besonders in den Texten von Unt, Vahing und Lapin. In einigen Fällen sind die Texte selbst so komplex und spielerisch, dass diese eher als ein eigenständiges literarisches Phänomen gelten können, welches hauptsächlich die subjektiven Erlebnisse des jeweiligen Autors thematisiert und kaum das eigentliche Geschehen beleuchtet. In der vergleichende Betrachtungen der Theatererneuerung und der Happenings kommt eine weitere interessante Spaltung zum Vorschein: Die systematische, methodische, von den Beteiligten und vom Publikum sehr ernst genommene Theatererneuerung wurde von Unt und Vahing häufig ironisch reflektiert als wollte man betonen, dass alles ›nur ein Spiel‹ sei; die Happenings, die zufälliger entstanden und häufig gar nicht als eine künstlerische Tätigkeit wahrgenommen wurden, sind von Lapin mit höchster Ernsthaftigkeit in die Kunstgeschichte eingeschrieben worden. Das Bedürfnis nach einer Theatralisierung des Alltagslebens hatte in einer kleinen geschlossenen sowjetischen Gesellschaft besonders am Ende der 1960er Jahre auch weitere kontextuelle Gründe. Im September 1968 schrieb der Schriftsteller Ülo Tuulik in einer Anmerkung an Vahing: »Scheint es dir nicht, dass wir uns in einem Zeitalter befinden, in dem alle sich sehr langweilen? In dem viele Leute sehr kulturell sind und eine sowjetische Version des Hippietums entstanden ist – das kulturelle Hippietum. Auch ein Protest«.477 Auch wenn es sich hierbei um eine subjektive und zufällige Bemerkung handelt, kann man dieser Kombination aus Langeweile, Kulturalität und ›Hippietum‹ vielleicht doch eine größere Bedeutung zusprechen: das Erste, die Langeweile, lässt sich auf die Geschlossenheit der Gesellschaft und auf die mangelnde Kommunikation mit der Außenwelt zurückführen, das Zweite, das Phänomen der Kulturalität, mit der besonderen Position der Kultur, aber auch mit der hohen Bewertung und gründlichen Bearbeitung der Information aus dem Westen in Verbindung bringen, das Dritte, das ›Hippietum‹, sowohl konkret mit der Hippiebewegung als auch allgemein mit den gegen die kulturelle Konvention gerichteten Protestformen gleichsetzen. Das Zusammenspiel dieser drei Hintergründe prägte die Dynamik der vielfältigen kulturellen Prozesse, führte zu einer intensiven Ausarbeitung neuer Ideen und zu einer mutigen Erweiterung des bisherigen Bewegungsraumes, zog aber auch die unvermeidlichen Grenzen dieses Raumes und erzeugte Paradoxien (wie ›kulturelles Hippietum‹). Wenn die Zeit des Tauwetters vom Gefühl geprägt war, dass die ganze Welt erreichbar sei, und in der Kultur viele flexible Verflechtungen generierte, wurden einige ambitiös in Gang gesetzte Entwicklungen bis zum Anfang der 1970er Jahre – zum Teil aus inneren 477 Vaino Vahing, Päevaraamat I. Tallinn: Vagabund, 2006, S. 36.

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Gründen, zum Teil wegen äußerer Bedingungen bzw. wegen der Intensivierung der politischen Kontrolle und Abgrenzung – blockiert und zu einem schnellen Ende gebracht. Wie genau dieser Prozess sich in den Einzelfällen herausbildete und wie es mithilfe des Spielbegriffs und im Zusammenhang mit dem Phänomen ›Spiel‹ beleuchtet werden kann, soll im nächsten Kapitel analysiert werden.

IV Spielkategorien in der künstlerischen Praxis

Sowohl die Theatererneuerung als auch die Happenings in Estland gegen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre charakterisierten die Verschiebung und Erweiterung des Rahmens der künstlerischen Tätigkeit, wobei man die konventionellen Wertesysteme im Theater und in der Kunst hinterfragte, die etablierten Produktionsweisen in Bewegung setzte und neuartige Wirkungsmechanismen der künstlerischen Praxis in der Gesellschaft anstrebte. In beiden Fällen waren die künstlerischen Experimente mit dem Spielbegriff verknüpft und bildeten sowohl gemeinsame Neuorientierungen und Fragestellungen als auch disziplingebundene Spezifika heraus. Für die Analyse dieser Experimente lassen sich die verschiedenen Spieltheorien in zweifacher Weise in Anspruch nehmen; der Schwerpunkt der Betrachtung kann entweder auf die historische Rekonstruktion oder auf die theoretische Zerlegung der kulturellen Phänomene gelegt werden. Man kann ausgehend von der künstlerischen Intention auf die damaligen Spielinterpretationen zurückgreifen und beispielsweise die Dynamik zwischen Theorie und Praxis untersuchen oder ungeachtet der expliziten Absichten der Künstler deren Aktivitäten mithilfe der Spieltheorien verorten, um die neuen Herangehensweisen dieser Praktiken zu erarbeiten. Im Folgenden werden beide Wege im Auge behalten und weiter differenziert. Der Wechsel der Perspektive könnte es unter anderem ermöglichen, die mehrfachen ›Fehlschläge‹, die sich innerhalb der künstlerischen Experimente ereigneten, nicht als gescheiterte, sondern vielleicht produktive Vorfälle zu erörtern. Die fünf Spielkategorien – die Regeln, das Imaginäre, die Unwissenheit, die Antistruktur und die Totalität –, mit deren Hilfe in diesem Kapitel die Inszenierungen und Experimente der Theatererneuerung und die Happenings untersucht werden, haben sich einerseits aufgrund der Problemsetzungen und der inneren Dynamik der künstlerischen Praxis herauskristallisiert, andererseits spiegeln sie die Entwicklung der Spieltheorien im 20. Jahrhundert wider. Die ersten beiden Kategorien stehen im Mittelpunkt strukturalistischer Spielbetrachtungen, die die Trennung des Spiels vom alltäglichen Leben betonen. Die anderen beiden sind in die poststrukturalistischen Spieltheorien aufgenommen, um die Flexibilität und ›in-betweenness‹ des Phänomens zu beleuchten.

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Die fünfte Kategorie wird innerhalb der verschiedenen ideologischen Rahmungen in Bezug auf Spiel immer wieder aktualisiert, selbst wenn die Bedeutung und Verwirklichung der ›Totalität‹ am schwierigsten zu bestimmen ist. Die konkreten künstlerischen Praktiken kann man natürlich nicht von ihrem Entstehungskontext trennen, somit werden die in den ersten drei Kapiteln geschilderten allgemeinen und spezifischen kulturellen und gesellschaftlichen Hintergründe in die Betrachtung der jeweiligen Spielkategorie eingebunden.

4.1 D IE R EGELN In der zentralen Szene der Inszenierung des »Aschenputtelspiels« 478 traf der die Wahrheit und das echte Aschenputtel suchende Prinz die Herrin, die den Haushalt, aus dem Aschenputtel stammte, – und möglicherweise die ganze Welt – autoritär regierte und somit diejenige sein sollte, die die Fragen des Prinzen beantworten kann. Während seiner bisherigen Suche war der Prinz immer stärker verwirrt worden. Das Umfeld, in dem er sich bewegte, schien ohne jede feste Grundlage zu sein, und die Personen, denen er begegnete, ohne stabile Identität und konsequente Lebenseinstellung. Die Herrin diente als eine Schlüsselfigur, die hinter allen Ereignissen steht und diesem Chaos einen Sinn zu geben vermag. Vor dem Zusammentreffen im fünften Akt wurde die Bühne geleert und man hat im Arbeitslicht die Bühnenkonstruktionen und -mechanismen exponiert; während des Dialogs fuhr die Herrin im Rollstuhl auf der Bühne umher – »mit einer unlogischen, unbegründeten Marschroute, mit unerwarteten Kurven und Haltestellen«479 – und zwang den Prinzen, ihr zu folgen. Das zweite Mal (nach dem Tanz des Aschenputtels im ersten Akt) wurde während der Aufführung der Bühnenraum als Ganzer beansprucht; die meisten bisherigen Handlungen haben sich auf der engen Vorbühne vor dem Hintergrund der linear nebeneinander gestellten und demonstrativ theatralen Dekorationen abgespielt. Auf die Nachfrage des Prinzen bezüglich der Hintergedanken und Ziele ihrer Intrigen antwortete die Herrin, dass es kein Ziel gibt – ihr Mittel sei Zufall, ihr Vorgang sei Spiel, ihre Handlungen seien experimentell und was dabei herauskommt, sei gleichgültig.480 Es stellte sich heraus, dass selbst wenn die Herrin auf aktive Weise die Prozesse sowohl in ihrem Haus als auch außerhalb in Gang setzt und leitet, sie keinen Überblick über die Ergebnisse dieser Prozesse und auch kein Interesse daran hat;481 als Grund und Zweck ihres Spiels erschien das Spiel selbst (sie sei nicht alt, solange sie spiele, das Spiel sei ihre Kraft).482 Verzweifelt verlang478 Vgl. dazu Kapitel III, S. 109-111, und Kapitel V, S. 250-260. 479 Paul-Eerik Rummo, Tuhkatriinumäng, S. 82. 480 Ebd., S. 87. 481 Vgl. ebd., S. 85-88. 482 Ebd., S. 83.

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te der Prinz die Regeln – wenn das alles ein Spiel sei, dann müsse es ja Regeln geben; die Herrin warf ihm ein Paket mit Blättern hin (»etwas habe ich tatsächlich aufgeschrieben«483), die aber teils leer, teils in einer unbekannten Sprache beschrieben waren.484 Abbildung 11: »Aschenputtelspiel« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1969 (Raivo Adlas, Herta Elviste)

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Durch die textuelle Metaphorik und das inszenatorische Verfahren hat diese Szene des »Aschenputtelspiels« auf verschiedenen Ebenen ein ganzes Panorama der mit dem Spielphänomen verbundenen Grundthemen angesprochen. Der Text bezog sich auf ein Grundnarrativ der Weltliteratur – auf die Suche nach Grundlagen und Zielen des menschlichen Daseins – und erarbeitete dieses Narrativ unter dem Einfluss der existenzialistischen Philosophie: Die Suche endete mit der Feststellung, dass es keine universalen Wahrheiten und keinen vorgegebenen Sinn des menschlichen Lebens gibt, dass alles relativ ist und vom Zufall geführt wird. In diesem Rahmen diente die Metapher des Spiels als Gegensatz zum positivistisch-teleologischen Weltbild und repräsentierte allumfassendes Chaos und Relativität. Die Enthüllung der Bühnenkonstruktion während des Erscheinens der Herrin, die die Hauptbotschaft des Textes/der Inszenierung vermittelte und verkörperte, diente gleichzeitig

483 Ebd., S. 88. 484 Ebd.

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der Enthüllung des Spiels. Die bisherige Anordnung des Bühnenraumes deutete eine Illusion an – ein Spiel, das etwas darstellt, was nicht echt ist, aber diese Unechtheit zu verstecken versucht; durch das Räumen der Bühne wurde das Spielen offenbart. In beiden Fällen hat man die Rahmenbedingungen einer Theateraufführung auf eine Brecht’sche Weise entkleidet, aber durch die Verknüpfung mit dem Inhalt des Stücks dieser Entkleidung zwei unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen und unterschiedliche Wirkungsdynamiken erzeugt. Bis der Prinz an den ›falschen‹ Orten die Antwort suchte und sich an einem Spiel beteiligte, ohne das zu erkennen, blieb sein Bewegungsraum begrenzt und war von den theatralen Dekorationen bestimmt; als er zur Quelle des Spiels kam und sich des Spielens bewusst wurde, öffnete und vertiefte sich der Raum. Die Zuschauer, die man am Anfang – durch die absichtlich kindischen Dekorationen und Kostüme485 – davon überzeugte, dass das, was sie sehen, nur ein Spiel ist, wurden durch die Aufdeckung der Bühne nochmals aufgefordert, sich – zusammen mit dem Prinzen – des Spiels bewusst zu werden, diesmal jedoch auf einer neuen Ebene. Das Spiel auf der Bühne diente nicht mehr nur der kritischen Beurteilung, sondern wurde – gerade durch seine Aufdeckung – zu einer Metapher der ganzen Welt und des Lebens umgedeutet. Auf eine komplexe Weise, sowohl ausgehend vom Text als auch mithilfe der inszenatorischen Anordnungen und Schauspieltechniken hat man im Laufe der Aufführung die verschiedenen Erscheinungsformen und die möglichen Bestimmungen des Spiels dargestellt und bearbeitet (der Prinz bekam ein Angebot vom Hausherrn, mit ihm zusammen gegen die Herrin »zu spielen«,486 wurde mit der Erkenntnis konfrontiert, dass alle »nur eine Rolle spielen«,487 die Einstellung der Schauspieler wechselte zwischen dem intensiven emotionalen Einleben und der jähen Distanzierung usw.), bis sie während der Kulmination bzw. des Aufeinandertreffens des Prinzen und der Herrin zusammengebracht und in der ›Totalität‹ des Spiels aufgelöst wurden. Die vom Prinzen gestellte Frage nach den Regeln und die darauf folgende Antwort ist als der Schlüsselmoment des »Aschenputtelspiels« zu bestimmen und kann im Rahmen der Spielproblematik zweifach – in Hinsicht auf eine linguistische Umdeutung oder auf die Ablösung des Handlungsregimes – betrachtet werden. Einerseits kann die Szene als Ersetzung des Wortschatzes gelten und die Rückkehr des Prinzen zum Anfang bzw. den geschlossenen Kreis seiner Suche aufweisen – wenn das Leben mit dem Spiel gleichgestellt wird, bezeichnet man die bisher angestreb-

485 Die Dekorationen waren im Vergleich zu den Charakteren proportional etwas zu klein und märchenhaft, die Kostüme bestanden aus der Mischung zeitgenössischer Alltagskleidung und einiger theatralen Details (Krone des Prinzen u.a.). 486 Paul-Eerik Rummo, Tuhkatriinumäng, S. 41. 487 Ebd., S. 72.

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ten universalen Wahrheiten und Grundlagen des Daseins als ›Regeln‹, das Fehlen der Regeln deutet wiederum das Fehlen der Wahrheiten an. Abbildung 12: »Aschenputtelspiel« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1969 (Herta Elviste, Raivo Adlas)

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Andererseits – differenzierter betrachtet – lässt sich die Szene als Veränderung des Handlungsmodus bzw. als Bewusstwerden des Spiels erläutern: Der Prinz nimmt an, dass er in ein Spiel geraten ist, das eine andere Umgangs- und Verhaltensweise verlangt als das Nicht-Spiel; es geht nicht mehr um die Wahrheit, die vorgegeben und entdeckt werden sollte, sondern um Regeln, die von jemandem erstellt werden müssen. Die Herrin erscheint vor diesem Hintergrund nicht mehr als die Quelle des universalen Wissens, sondern als die Spielleiterin, die möglicherweise auch ersetzt werden könnte, um neue Regeln einzuführen. Das Interessante dabei ist, dass die Regeln nicht vollkommen fehlten, sondern unverständlich und dementsprechend unbrauchbar waren; dieses Motiv kann ebenso symbolisch zur Frage der Wahrheit – die existieren mag, aber unerreichbar bleibt – zurückgeführt werden.

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Hinsichtlich des Existenzialismus zeigte sowohl der Text als auch die Inszenierung des »Aschenputtelspiels« eine ambivalente Haltung. Einerseits waren die allgemeine Stimmung sowie die generelle Botschaft, die inszenatorische Metaphorik und die konkreten Aussagen der Figuren offensichtlich vom Existenzialismus beeinflusst, andererseits zielte der Autor des Textes, Paul-Eerik Rummo, nach seinen eigenen Worten mit dem »Aschenputtelspiel« auf ein Überschreiten existenzialistischer Ansichten. 488 Beispielsweise sollte der Hausherr, der am deutlichsten eine existenzialistische Lebenseinstellung äußerte, laut Rummo keineswegs eindeutig tragisch, sondern auch parodistisch dargestellt werden. 489 Der Regisseur Evald Hermaküla entwickelte im Rahmen der Inszenierung ein ›wissenschaftliches‹ Weltbild,490 wobei die Auseinandersetzung zwischen dem Prinzen und der Herrin sowohl als eine Darstellung des psychischen Zustandes und der innerlichen Konflikte des modernen Menschen als auch als eine Feststellung seiner Hilflosigkeit gegenüber der elementaren Naturkraft, die die Herrin symbolisieren könnte, diente. Darüber hinaus war die Unsicherheit bezüglich der Regeln oder die Erkenntnis des Fehlens der Wahrheit mehrmals in der Aufführung der Auslöser des freien (flexiblen oder affektiven) Spiels. Im anfänglichen Dialog mit dem vermeintlichen Aschenputtel erprobte der Prinz die verschiedenen Spielregister,491 da es nicht vorauszusehen war, welches von ihnen funktionieren bzw. zum Ziel führen würde; nach dem Treffen mit der Herrin verprügelte er Aschenputtel,492 da sie nicht diejenige war, die sie sein sollte, und bestätigte somit die Erklärung der Herrin. Die existenzialistische Erkenntnis der Ziel- und Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens, das von chaotischen Zufällen bestimmt wird und auf keinerlei Wahrheiten oder Regeln basiert, betrachtete man im »Aschenputtelspiel« somit auf eine ausdrücklich mehrdeutige Weise – sowohl als den unvermeidlichen Grund der Bedrücktheit des gegenwärtigen Menschen, einen Irrtum, worüber man hinauswachsen kann, als auch eine Annahme, die sich produktiv umsetzen – ins befreiende Spiel verwandeln – lässt. Die Aussetzung des strukturierten Weltbildes und der geregelten Vorgänge durch die spontanen, unvorhersehbaren spielerischen Handlungen war der Ausgangspunkt des »Aschenputtelspiels« und der davon abgeleiteten neuen Theaterästhetik sowie auch im Allgemeinen einer der wichtigsten Faktoren, der die Dynamik der spielgebundenen Prozesse in den Künsten der 1960er Jahre geprägt hat. 488 Paul-Eerik Rummo, Igavik ja argipäev (Vastus »Tuhkatriinumängu« kriitikale). – Thespis, S. 206. 489 Paul-Eerik Rummo, Lugemiseks Evald Hermakülale, kes lavastab »Tuhkatriinumängu«. (1968) – Thespis, S. 179-180. 490 Sven Karja, Lossimängud. Paul-Eerik Rummo – Evald Hermaküla »Tuhkatriinumäng«, 1969, S. 369. 491 Vgl. Mati Unt, Teater: siin ja praegu. – Theatrum mundi, S. 34. 492 Paul-Eerik Rummo, Tuhkatriinumäng, S. 96-97.

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Die paradoxe Verbindung der Freiheit und der Regel lag schon der Spieldefinition von Huizinga zugrunde (das Spiel sei eine »freiwillige Handlung«, die »nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird« 493 ) und wurde von Caillois übernommen (das Spiel ist als eine »freie« und »geregelte« Betätigung definiert, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann, die aber Konventionen unterworfen ist, welche für den Augenblick eine alleingültige Gesetzgebung einführen494). Die Freiheit und die Unterordnung unter die Regeln sind hier einerseits aufeinanderfolgend als zwei Phasen des Spiels zu betrachten (das Eintreten ins Spiel ist freiwillig, wenn man aber schon im Spiel ist, sind die Regeln verbindlich), andererseits wird die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit meistens auch während des Spielens behalten (man kann aus dem Spiel heraustreten, wenn auch nicht unbedingt während des Spiels wieder zurückkommen). Die Unterordnung unter die Spielregeln lässt sich im weiteren Sinn als die Trennung zwischen Spiel und Nicht-Spiel bzw. Alltagsleben beschreiben – das Eintreten ins Spiel bedeutet in erster Linie das Abgeben der im alltäglichen Leben angenommenen Werte, Ziele und Verhaltensweisen und die Zustimmung der im Spielraum gültigen konstitutiven Faktoren. Bei der Gestaltung des Spielraumes ist im Grunde alles erlaubt und möglich, sofern die Spielenden damit einverstanden sind; das Einzige, was nicht möglich ist – laut der strukturalistischen Spieltheorien –, ist die gleichzeitige Anwesenheit innerhalb und außerhalb des Spielraumes. Darüber hinaus bleibt die Spielrealität laut dieser Betrachtungen angesichts der Alltagsrealität immer sekundär, kann und muss unterbrochen werden, wenn die Bedingungen oder Entwicklungen außerhalb des Spiels es voraussetzten. In dieser Hinsicht ist die Freiheit des Spiels immer begrenzt und die Spielregeln immer schwächer als die Ordnungen des alltäglichen Lebens. Die Freiheit des Spiels ermöglicht es, sich vom Alltag zu trennen, aber nicht darüber hinauszuwachsen, die Spielregeln ermöglichen es, die Regeln des Alltags zeitweilig abzulehnen, ohne sie zu überschreiten. Im Hinblick auf verschiedene Erörterungen der Funktion und Dynamik der Spielregeln und des daraus folgenden Verhältnisses zwischen dem Spiel und dem Alltagsleben lassen sich zwei grundlegende Positionen feststellen. Zum einen mag die Regelung des Spielraumes als Erschaffen – im Freud’schen Sinne – einer Ersatzrealität dienen: Die Struktur dieser Realität entspricht der Alltagsrealität; die Konstellationen, Gesetze oder Verhältnisse des Alltagslebens werden im Spielraum imaginär umgeordnet, um etwas zu erreichen oder zu erleben, was im Alltag nicht möglich ist.495 In diesem Fall fungiert das Spiel als ein kompensatorischer Handlungsmodus, der wegen der strukturellen Ähnlichkeit des Spielraumes mit dem Alltagsleben – wegen der Widerspiegelung und des Umspielens der Regeln – wirk493 Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 37. 494 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, S. 16. 495 Vgl. Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren (1908 [1907]), S. 171-172.

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sam wird. Selbst wenn das Spiel auf die eine oder andere Weise einen Einfluss auf den Alltag auszuüben vermag, ist dessen Hauptaufgabe nicht die alltäglichen Ordnungen zu bestreiten, sondern die Anpassung an diese Ordnungen zu unterstützen und diese zu bestätigen; die Freiheit im imaginären Raum dient zur Annahme der Erfordernisse der Alltagsrealität. Zum anderen lässt sich eine Anschauung hervorheben, die von einem dynamischeren Verhältnis zwischen der Regelung des Alltags und der Regelung des Spiels ausgeht. Von diesem Standpunkt gilt das Spiel als ein Modell der gesellschaftlichen Ordnung auf verschiedenen Ebenen – der sozialen Organisation, Herausbildung der Hierarchien, Strukturierung des Denkens u.a. –, das zwar Elemente sozialer Strukturen übernimmt und sichtbar macht, diese aber auch ändert und wiederum die gesellschaftliche Ordnung beeinflusst. 496 Die Abgrenzung des Spiels und das Errichten eigenständiger Regeln sind hierbei nicht nur als kompensatorisch und reaktiv hinsichtlich des Alltags zu betrachten, sondern auch als aktiv und produktiv zu werten. Die normative Struktur wird nicht nur widergespiegelt, sondern auch destabilisiert und es wird womöglich – wie Brian Sutton-Smith gezeigt hat – ein latentes System der potenzialen Alternativen für die normative Struktur bzw. eine Quelle neuer sozialer Anordnungen erzeugt.497 Das Konzept des Spiels als antistrukturelles Testgelände (entweder mit produktivem oder subversivem Potential) – wie es Sutton-Smith und vor allem Victor Turner entwickelt haben – geht zwar von der Interaktion zwischen dem Spiel und der Alltagsrealität aus, lässt aber die Gestaltung der eigenen Regeln im Spiel nicht eindeutig (oder nicht nur) mit der Unzufriedenheit mit den existierenden Regeln im Alltag in Verbindung bringen, sondern hebt die Spezifik der Spielsituation hervor. Diese Situation stellt nicht nur den Raum für das in der Alltagsrealität Unrealisierbare zur Verfügung, sondern generiert überdies Fragen, Inhalte, Abläufe und Zustände, die im Alltag gar nicht entstehen können. Die Regelung des Spielraumes ist im ersten Fall als eine direkte Antwort auf die Alltagsrealität zu denken, im zweiten Fall eher als ein offener Dialog, wobei auch solche spielerischen Vorgänge entstehen können, die nicht unbedingt einen Mangel im Alltag kompensieren oder Alternativen für den Alltag vorschlagen, sondern eine souveräne innerliche Dynamik entwickeln – einen spielerischen Überschuss, der sich nicht in die schon existierenden normativen Strukturen einbinden lässt. Natürlich stellt sich die Frage, warum sich das Spiel, das eine Befreiung von der Kontrolle und Ordnungen, die das Alltagsleben regulieren, ermöglichten sollte, überhaupt mit den Regeln befasst, warum die Problematik der Regel fast immer zumindest implizit ins Spiel eingeschrieben ist? Laut der Derrida’schen dekon496 Gunter Gebauer, Christoph Wulf, Spiel – Ritual – Geste, S. 192. 497 Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction, S. 19. Hinweis auf: Brian Sutton-Smith, Games of Order and Disorder. – Vortrag im Symposium »Forms of Symbolic Inversion«, American Anthropological Association, 1972.

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struktivistischen Spielbetrachtung lassen sich Spiel und Struktur voneinander gar nicht trennen, das Spiel – das immer als ein Spiel der Präsenz und Abwesenheit entsteht und sich der Idee der Selbstgenügsamkeit und der Abgeschlossenheit entgegenstellt – wird durch die Struktur gedacht: »Der Begriff der zentrierten Struktur ist in der Tat der Begriff eines begründeten Spiels, das von einer begründenden Unbeweglichkeit und einer versichernden Gewissheit, die selber dem Spiel entzogen sind, ausgeht. Von dieser Gewissheit her kann die Angst gemeistert werden, die stets aus einer gewissen Art, ins Spiel verwickelt zu sein, vom Spiel gefesselt zu sein, mit Beginn des Spiels immer schon in der Weise des Im-Spiele-Seins zu sein, entsteht«.498 Während laut Huizinga die Kultur anfänglich gespielt wird und somit die Regelungen der Kultur oder Gesellschaft erstmals im Spiel bzw. spielerisch herausgearbeitet und später in der Alltagsrealität etabliert werden, bestimmt Derrida das Spielen als eine Praxis, die sowohl mit Struktur als auch mit Antistruktur verknüpft ist, aber mit keinem von beiden identifiziert werden kann: Das Spiel ist weder ein Ort, an dem aus der Antistruktur die Struktur entsteht, noch ein Ort, an dem die etablierte Struktur wieder aufgelöst wird, sondern ein Prozess, der aus den strukturierenden und antistrukturellen Bewegungen besteht und immer zwischen diesen beiden Dynamiken abläuft – eine Struktur aufbaut und diese selbst wieder zerstört. Sowohl in der historischen Avantgarde als auch in der Neo-Avantgarde können mithilfe dieser Spieldefinition mehrere künstlerische Praktiken beleuchtet werden, die ein Interesse für das Einführen von Regeln beim Schaffen eines Kunstwerkes bzw. beim Durchführen verschiedener Aktivitäten aufwiesen (unter anderem im Zusammenhang mit der Umdeutung der ›Freiheit‹ des Künstlers) und für den schöpferischen Prozess die unterschiedlichsten Vorschriften aufarbeiteten und einsetzten. Manchmal wurden die Regeln während des Spielens wiederum demonstrativ gebrochen oder aufgegeben bzw. waren sie hauptsächlich dafür erzeugt, die symbolische Befreiung von den Regeln auszuführen. Manchmal hat man die absurden Vorschriften streng, fast obsessiv eingehalten, obwohl dieses Einhalten ›sinnlos‹ war und zu keinen Ergebnissen führte; manchmal – in verschiedenen rituellen Aktionen – wurde die Befreiung im Ganzen strukturiert und geregelt. Somit gingen viele spielerische Aktivitäten der Avantgarde und Neo-Avantgarde von der Auseinandersetzung mit der Regelhaftigkeit und der Freiheit des Spiels aus und entwickelten ihre Strategien in flexiblen Interaktionen, wobei weder die Freiheit noch die Regeln als absolut wahrgenommen wurden: Man hat Regeln eingeführt, umgestaltet und gebrochen, man spielte nach Regeln, mit Regeln und letztendlich auch mit dem

498 Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. – Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 423.

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Spielphänomen selbst, das sowohl zur Strukturierung als auch zum Widerstand der festgelegten Grenzen aufforderte. In der Neo-Avantgarde der 1950er und 1960er Jahre ist die Auseinandersetzung mit den Regeln am explizitesten in den vielfältigen musikalischen Aktivitäten (die man unter den Bedingungen der Entgrenzung der Künste weder von der visuellen noch Aktionskunst trennen kann) zu beobachten – in den Konzerten von John Cage und Fluxus, in den Partituren von La Monte Young u.a. – und lassen sich häufig mit der dodekaphonischen Methode (die die Elemente der Spielkonstruktion beinhaltete) von Arnold Schönberg in Verbindung bringen: Das Regelwerk war für Schönberg in erster Linie eine Idee – nicht ein Korsett –, die unter anderem zur Emanzipation und Dissonanz führte; man hat zwar nach Regeln gespielt, diese konnten aber auch gebrochen werden.499 Das Konzert der klassischen Musik war im Rahmen der Neo-Avantgarde einer der beliebtesten Ausgangspunkte für die kreative Dekonstruktion der konventionellen Kultur. Einerseits war es ein kulturelles Ereignis mit streng festgelegten, von der Tradition geprägten Anordnungen und Richtlinien, wobei man sich relativ wenig Bewegungsraum erlauben konnte. Die Aufführung eines musikalischen Werkes verlangte höchste Professionalität, die durch einen langen und konsequenten Lernprozess erworben werden sollte, die Rolle und die Verhaltensweise des Publikums wurden vorausbestimmt, die Konzerte waren zumeist nur für eine begrenzte gesellschaftliche Schicht zugänglich und das Ganze hat man am deutlichsten mit der Hochkultur identifiziert. Andererseits stellte ein traditionelles Konzert eine Reihe der Elemente, Objekte – insbesondere eine Vielfalt der Musikinstrumente – und Vorgänge zur Verfügung, die sich auf verschiedene Weisen und unter dem Leitgedanken der Deprofessionalisierung und Demokratisierung der Kultur bearbeiten und umdeuten ließen. Diese Bearbeitung führte zu einer alternativen Tonerzeugung mit den klassischen Instrumenten oder zum Musikmachen mit alltäglichen Gegenständen, zur Behandlung der Musikinstrumente als skulpturale Objekte oder zu deren symbolischer Zerstörung. Auch in den Happenings in Estland trat die Frage der Regeln insbesondere in den Aktivitäten junger Musiker auf. In den Aufführungen des sog. Instrumentaltheaters, das von einem Auftritt von John Cage und Merce Cunningham in Warschau inspiriert wurde, hat man sowohl traditionelle Musikinstrumente als auch alternative Mittel zu Klangerzeugung (beispielsweise die Stücke eines zerstörten Militärflugzeuges500) benutzt. Die Bedingung war, dass alle möglichen Instrumente und

499 Ernst Strouhal, Wenn es brennt, läuft der Hund raus, das Programm rechnet weiter: Ein Gespräch von Dieter Buchhart und Mathias Fuchs, S. 87-88. 500 Stücke des Militärflugzeuges wurden im Konzert im Observatorium in Tõravere im Jahr 1966 benutzt; die Musiker haben sie im Wald in der Nähe des Observatoriums gefunden. – Videointerview mit dem Musiker Toomas Velmet in der Wanderausstellung

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Gegenstände in Gebrauch genommen werden können, aber man mit ihnen »irgendwie anders, unnormal« umgehen muss.501 Abbildung 13: »Reigen von Cremona« im Haus der Schriftsteller, Tallinn, 1968 (Toomas Velmet)

Foto Jüri Tenson, Archiv des Estnischen Kunstmuseums

Es wurde somit eine ›Gegenregel‹ eingesetzt – den Rahmen und die Grundstruktur einer Musikaufführung hat man übernommen, die konkreten Handlungen, die in diesem Rahmen stattfanden, wurden verschoben oder umgekehrt. Im Mittelpunkt des bekanntesten Happenings der jungen Musiker – des »Kremoona ringmäng« (Reigen von Cremona), das im Jahr 1968 im Haus der Schriftsteller in Tallinn aufgeführt wurde502 – standen eine Geige, ein Geigenspieler und alles, was mit dem

»Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 501 Ebd. 502 Das Happening fand am 5.01.1968 statt; die Beteiligten waren Arvo Pärt, Kuldar Sink, Toomas Velmet und Mart Lille. Vgl. Anu Allas, Eksperimentaaletendus/instrumentaal-

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Geigenspiel im Zusammenhang steht. Der Name des Happenings wies auf den italienischen Landstrich hin, aus dem die berühmtesten Meister der Streichinstrumente stammten; die Geige, die man in der Aktion benutzt hat, wurde aber in einer Möbelfabrik in Leningrad hergestellt503 und diente als eine Parodie auf die höchst wertvollen Musikinstrumente. Während der Aktion hat man die Geige zwar gespielt, aber nicht wie üblich, sondern wie ein Cello; außerdem wurde der Spieler gestört und in ein Magnettonband eingewickelt.504 Laut eines der Initiatoren und des Geigenspielers Toomas Velmet war »alles geplant, aber improvisiert«,505 aus dieser paradoxen Grundlage entstanden auch einige unerwartete Vorfälle und ›Missgeschicke‹. Neben der Geige fungierte als zweites zentrales Element des Happenings eine lebende weiße Maus, die – so Velmet – eine deutliche Assoziation unter den Zuschauern hervorrufen sollte und als eine Andeutung auf das Experiment mitreingebracht wurde.506 Das Verhältnis zwischen den Regeln und der Improvisation bzw. den festgelegten Grundbedingungen und den unvorhersehbaren Ergebnissen lässt sich hier tatsächlich vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Experimentes beleuchten. Die geplanten Handlungen führten teilweise zu erwartungsgemäßen Folgen (beispielsweise hat man während der Aktion 50 Luftballons in den Raum fliegen lassen – man habe vermuten können, was passiert, wenn jemand eine Nadel dabei hätte, und man habe auch wirklich ungefähr 50 Knaller gehört507), teilweise wiederum zu den überraschenden Resultaten (aus Versehen geriet die Geige am Ende – während des Spiels mit den Wunderkerzen – in Brand,508 allerdings war der Ausbruch des Feuers einer der Hauptgründe, warum das Happening im Nachhinein als ›legendär‹ bezeichnet wurde). Das Leitmotiv des »Reigens von Cremona«, der verhinderte bzw. gefesselte oder sich unkonventionell verhaltende Geigenspieler ähnelt deutlich einigen Fluxus-Konzerten (beispielsweise den Auftritten von Ben Vautier und George Brecht während des Fluxfestes im Jahr 1964 in New York509), obwohl die estnischen Musiker angeblich zu dieser Zeit von Fluxus keine Kenntnis

teater: »Kremoona ringmäng« (1968). – Kunstiteaduslikke Uurimusi/ Studies on Art and Architecture 1–2 (23), 2014, S. 7-31. 503 Videointerview mit dem Musiker Toomas Velmet in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 504 Ebd.; auf der Geige wurden »Rokoko Variationen« von Tschaikowski gespielt. 505 Ebd. 506 Videointerview mit dem Musiker Toomas Velmet in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 507 Ebd. 508 Ebd. 509 Ben Vautier, Attaché de Ben (Fluxus Street Theatre), 1964, Canal Street, NY; George Brecht, Solo for Violin, 1964, New York.

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hatten. 510 Das Zusammentreffen von Regeln bzw. fester Struktur des Ereignisses und der improvisatorischen Handlungen kann mit dem zwei Jahre später aufgeführten Manifest der Theatererneuerung – »Nur ein Lied« – verglichen werden, nur die Art der Verknüpfung war in beiden Fällen unterschiedlich. Die Musiker gingen vom vorausbestimmten Plan aus und kamen dann zur Improvisation, wenn während der Aktion etwas Unerwartetes geschah (dieses Geschehen konnte natürlich auch teilweise eingeplant werden). Bei »Nur ein Lied« fing man mit der Improvisation an und probierte verschiedene Abläufe aus, bis sich eine klare Struktur der Inszenierung herauskristallisierte, die auf der Bühne nicht mehr verändert wurde.511 Die Auseinandersetzung des geregelten und freien Spiels kann auch in den ritualbezogenen Aktivitäten in der Kunst und im Theater beobachtet werden. Im Happening »Begraben des Mannequins« der Gruppe SOUP im Lager der Zeitschrift »Noorus« auf dem Kabli Strand im Sommer 1969512 wurde eines Abends am Lagerfeuer eine Modellpuppe aus der Erde ausgegraben, während des »rituellen Auftritts«513 bzw. des »magischen Spiels«514 zerstört und anschließend vor dem miterlebenden Publikum ins Feuer geworfen. Im Kontrast zu den häufig spontan entstandenen oder fließenden Happenings von SOUP hat man hier die Aktivitäten zum einen vorbereitet (die Puppe wurde in der vorigen Nacht heimlich begraben), zum anderen eine grobe dramaturgische Struktur ausgearbeitet (Einführung, Entfaltung, Kulmination, Lösung). Mit einer Modellpuppe spielte man schon ein Jahr vorher in der von Leonhard Lapin und Vilen Künnapu initiierten Aktion im Kunstinstitut, wobei eine im Unterricht benutzte Gipspuppe aufgeschnitten, mit roter Farbe übergossen, im Institut herumgetragen und als Kunstwerk exponiert wurde;515 in diesem Fall folgte die endgültige Zerstörung des Objektes nach Besichtigungen und Besprechungen mit verärgerten Institutsbeamten, die schließlich die Puppe einpacken und im Hof des Instituts liquidieren ließen.516 Vor diesem Hintergrund scheint die absichtliche Zerstörung des Objektes während des Happenings im Sommerlager als eine Wiederholung des üblichen Verhaltensmusters der Behörden – ein Vorgang, 510 Videointerview mit dem Musiker Toomas Velmet in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 511 Vastab kuus meest. (Interview mit der Truppe von »Nur ein Lied«.) – Hermaküla, S. 55. 512 Die Beteiligten waren Leonhard Lapin, Andres Tolts und Ando Keskküla. 513 Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Kaks kunsti, S. 37. 514 Leonhard Lapin, Startinud kuuekümnendatel: mälestusi ja mõtteid, S. 21. 515 Die Aktion »Mäng mannekeeniga« [Spiel mit dem Mannequin] fand im Jahr 1968 im Kunstinstitut statt und wurde vermutlich im Nachhinein von Leonhard Lapin benannt. Die Beteiligten waren Leonhard Lapin, Vilen Künnapu, Ülevi Eljand, Toomas Mägi, Jaak Kruusimägi und Konstantin Kuzmin. Vgl. Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Kaks kunsti, S. 37. 516 Ebd.

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der als eine Mischung der Selbstzensierung und der imaginären Übernahme der Kontrolle zu bewerten ist. Besonders Leonhard Lapin hat mehrmals betont, dass die Zerstörung von Gegenständen in den Happenings immer kontextgebunden bzw. als eine Reaktion zu den gesellschaftlichen Normen aufkam – das Zerstören sei »kreativ« gewesen.517 Andererseits wurde der Ablauf von »Begraben des Mannequins« offenbar vom Interesse für die Form des Rituals oder vom Anreiz des Magischen geprägt – von einem »Bedürfnis nach Ritual, nach neuartigen Kommunikationsformen« –,518 sogar wenn es sich nicht auf fundierte Kenntnisse in rituellen Praktiken bezog, sondern eher als halb-reflektiertes Ausprobieren galt, das »irgendwie entstanden ist«.519 Ein interessantes Kennzeichen der performativen Aktivitäten der Kunststudenten war der sporadische Anspruch auf Strukturierung, wobei auf verschiedene Bezugspunkte zurückgegriffen wurde (der Rahmen einer Theateraufführung, die Form des Rituals). Einerseits dienten die Happenings als Befreiung von Normen und Konventionen, die die künstlerische Tätigkeit bestimmten, andererseits generierte man während dieser Befreiung bzw. Entgrenzung der Künste neue Regeln, die zwar nie festgeschrieben, aber vielfältig bespielt wurden. Diese Dynamik kann mithilfe der sog. dekonstruktivistischen Perspektive auf das Spiel als eine kontinuierliche Interaktion der aufbauenden und zerstörenden Tendenzen verstanden werden. Darüber hinaus kann »Begraben des Mannequins« mit dem von Gregory Bateson beschriebenen Paradox der spielerischen Handlungen in Verbindung gebracht und diese Aktion durch ihre spielerische Herangehensweise an Rituale betrachtet werden – es bezeichnete ein Ritual, aber nicht das, was ein Ritual bezeichnet.520 Mithilfe von Richard Schechner lässt sich dieses Paradox natürlich noch einmal erweitern und relativieren – eine spielerische Handlung sei laut Schechner zwar nicht identisch mit der Handlung, worauf sie verweist, doch sei es das, was mit der Handlung gemeint ist, ein spielerischer Biss sei ein Nicht-Biss, aber gleichzeitig auch nicht ein Nicht-Biss (»not not a bite«).521 Beim »Begraben des Mannequins« kommt diese ambivalente spielerische Dynamik deutlich zum Vorschein: Man hat einerseits ein Ritual angedeutet bzw. durchgespielt, man ist eher von einer Vorstellung des Rituals und nicht von der ursprünglichen Funktion und von dem eigentlichen Inhalt der rituellen Praktiken ausgegangen, während dieses Durchspielens – innerhalb des Spielraumes – wurden jedoch (zumindest zum Teil) die Ziele und Mittel, möglicherweise auch die Erfahrungen der eigentlichen rituellen Praktiken übernommen. 517 Leonhard Lapin, Avangardi kuldsed kuuekümnendad. – Avangard, S. 193. 518 Leonhard Lapin, Startinud kuuekümnendatel: mälestusi ja mõtteid, S. 21. 519 Interview mit Leonhard Lapin am 3.06.2008. 520 Vgl. Gregory Bateson, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, S. 118. 521 Vgl. Richard Schechner, Performance Studies: An Introduction. London: Routledge, 2002, S. 93.

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Spiel und Nicht-Spiel lassen sich hier nicht eindeutig trennen, sondern waren teilweise überlagert. Die Frage der Spielregeln – ob, wie und warum Regeln zum Spiel gehören? – kann vor diesem Hintergrund nochmal ausgeweitet werden: Das Spielen setzt immer die Annahme einer bestimmten Regelung voraus (ungeachtet davon, ob es in einem bestimmten Spiel explizite Richtlinien gibt oder nicht) und zwar im Sinne des Einsetzens eines Handlungsmodus, der gleichzeitig die verschiedenen Rahmungen einer Aktivität zur Kenntnis nimmt, zusammenbringt, teilweise verfolgt und durch dieses ›Zwischensein‹ – und nicht durch einen oder anderen einzelnen Rahmen – zu definieren ist. Die ›durchritualisierte‹ Inszenierung »Lässt die Hand küssen« von Jaan Tooming vertrat eine andere, im Vergleich zum »Begraben des Mannequins« ernsthaftere, vielleicht auch tiefere Herangehensweise an das Ritual und dessen strukturierende Elemente. In das einfache dramaturgische Schema des Stücks – der Konflikt zwischen dem idealistischen Rebellen und der sklavischen Dorfgemeinschaft vor dem Hintergrund der Verhältnisse der estnischen Bauern mit deutschbaltischen Gutsherren – wurden die estnischen Volkslieder eingebunden; mit deren Hilfe hat man sowohl den Text als auch die Handlungen rhythmisiert und fixiert – nach vielen Proben sei auf der Bühne nichts Zufälliges vorgekommen, obwohl man im Probeprozess von Improvisationen ausging.522 Die Ritualisierung diente in diesem Fall vor allem dem Erschaffen einer intensiven emotionalen Wirkung, einer »überfordernden Atmosphäre«,523 und bedeutete in erster Linie die Übernahme der einzelnen Vorgänge, kollektiver Bewegungen, der Konzentration und Stimmung eines Rituals (oder das Verfolgen einer imaginären rituellen Tradition), aber nicht dessen Funktion als einer versöhnenden, klärenden, erhebenden Praxis. Die Botschaft der Inszenierung war äußerst pessimistisch: Die Rebellion der Bauern – die auf der Bühne wie Hunde auf allen vieren krochen – wurde unterdrückt, der Hauptcharakter – der schließlich die Hand der Gutsherrin geküsst hat – wurde zu Tode geprügelt; an der Kasse im Theaterfoyer stand der Sarg.524 Die fixierte und geschlossene rituelle Struktur schien hier als die Metapher der Ausweglosigkeit zu fungieren – als eine Darstellung der unvermeidlichen und ewig fortdauernden Wiederholung und Affirmation der bestimmten sozialen und historischen Machtkonstellationen. Diese Erkenntnis erwuchs einerseits aus dem Text, wurde von den estnischen Volksliedern (die manchmal eine ähnliche Stimmung vermitteln) unterstützt und bezog möglicherweise auch einen breiteren Einfluss der derzeitig aktuellen existenzialistischen Haltungen mit ein (die Inszenierung kulminierte mit dem unbeweglich ge-

522 Jaan Tooming, Religioossed motiivid minu loomingus. Tallinn: Eesti Teatriliit, 2011, S. 20-24. 523 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 140. 524 Jaan Tooming, Religioossed motiivid minu loomingus, S. 24.

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sungenen Volkslied »Misse jumal meid on loonud?« – »Warum denn hat Gott uns geschaffen?«525). Abbildung 14: »Lässt die Hand küssen« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1969 (in der Mitte Raine Loo)

Estnisches Theater- und Musikmuseum

Wenn Paul-Eerik Rummo die Wiederbelebung des Rituals in der estnischen Kultur im Hinblick auf den Existenzialismus erläutert hat – unser Ritual könne nur in der aktiven Versöhnung mit dem Unbestimmten bestehen 526 –, kann Toomings Ausgangspunkt bei »Lässt die Hand küssen« als eine aktive Versöhnung mit dem Unvermeidlichen betrachtet werden. Im Gegensatz zum »Begraben des Mannequins« kommt hierbei ein deutlicher Unterschied in Wirkung und Wahrnehmung des rituellen Verfahrens zum Vorschein. Die symbolische Bedeutung, die dem »Begraben des Mannequins« – zwar hauptsächlich retrospektiv und typischerweise in Hinsicht auf die Universalität – zugesprochen wurde, basiert auf der Struktur des Ereignisses bzw. auf der Reihe der Handlungen, die insgesamt auf eine »Wiedergeburt und den Zusammenschluss mit dem neuen Kreis des Lebens«527 hinweisen sollten. Die Botschaft von Toomings Inszenierung dagegen bestand nicht in den konkreten Aktivi-

525 Ebd. 526 Paul-Eerik Rummo, Igavik ja argipäev (Vastus »Tuhkatriinumängu« kriitikale). – Thespis, S. 208. 527 Leonhard Lapin, Mängides happening’i. – Kaks kunsti, S. 37.

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täten, sondern im emotionalen Zustand – oder auch in der philosophischen Erkenntnis –, die innerhalb und mithilfe dieser Aktivitäten erreicht wurde. Die Strukturierung und Regelung des Spiels hatten hier somit zwei verschiedene (sogar wenn nicht vollkommen voneinander getrennte) Funktionen: Im ersten Fall wurde während des Spiels der von den Regeln vorgegebene Inhalt verwirklicht, im zweiten Fall im mittels der Regeln geschaffenen Spielraum ein vorher nicht festgestellter Inhalt erzeugt. Im Hinblick auf die oben betrachtete künstlerische Praxis und auf die Spieltheorien und -definitonen, die das Spiel nicht als ein vom Alltäglichen abgegrenztes Phänomen fassen, sondern von den kontinuierlichen Verflechtungen des Spiels und Nicht-Spiels ausgehen, lässt sich behaupten, dass die Spielregeln immer im Zusammenhang mit der Vielfalt der äußerlichen Regeln des gesellschaftlichen und alltäglichen Lebens erstellt werden und die implizite Zugehörigkeit der Regeln zum Spiel nicht als ein besonderes Kennzeichen der Spielsituation gilt, sondern eher den Anschluss zwischen dem Spiel und dem sozialen Kontext nachweist, in dem dieses Spiel entsteht. Auf die eine oder andere Weise beziehen sich alle Spielregeln auf die Verhaltensnormen und Handlungsmuster außerhalb des Spiels; im Spielraum können diese übernommen und wiederholt, verschoben oder verkehrt, unterminiert oder ignoriert werden. Die strukturierenden und destabilisierenden Impulse im Spiel lassen sich mit dem Verhältnis zwischen ›Wissen‹ und ›Glauben‹ bzw. mit der spezifischen Verbindung zwischen den Primär- und Sekundärprozessen des Denkens (wobei man gleichzeitig beim Spielen sich des Spielens bewusst ist und es vergisst, dass es ›nur ein Spiel‹ ist) verknüpfen.528 Einerseits fordert das Spiel die Reflexion und Anordnung der Handlungen, andererseits unterdrückt es diese Reflexion zugunsten des Einlebens ins Spiel. Die Auseinandersetzung des Prinzen und der Herrin im »Aschenputtelspiel« – das Verlangen nach Regeln und die Sichtbarmachung deren Fehlens – ist somit nicht unbedingt als eine Auflösung des einen Spielkonzeptes durch das andere zu bestimmen, sondern als das Zusammentreffen der zwei Tendenzen, die die Dynamik des Spiels herausbilden, als ein Moment, in dem das Spiel eigentlich in Gang gesetzt wird.

4.2 D AS I MAGINÄRE Das Happening »Trio auf dem Klavier« der Gruppe SOUP im Jahr 1969 während des Internationalen Frauentages im Saal des Kunstinstituts wurde laut Leonhard Lapin von dem Gerücht inspiriert, dass die Künstler zu dieser Zeit überall in Europa Klaviere zerstörten.529 Für das Institut hatte man gerade ein neues Klavier bestellt 528 Gregory Bateson, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, S. 121. 529 Videointerview mit Leonhard Lapin in der Wanderausstellung »Fluxus East: FluxusNetzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«.

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und auf die Nachfrage des Studenten Lapin hat ihm der damalige Rektor Jaan Vares das alte Klavier geschenkt.530 Das Gebäude des Kunstinstituts befand sich im Zentrum von Tallinn neben einer Kreuzung mit dichtem Verkehr, an der viele Unfälle passierten. Der anfängliche Plan der Studenten war, dass das Klavier im Anschluss an die Aktion aus dem Fenster heraus in den Tramweg geworfen werden soll, aber »die Vernunft hat gewonnen« (solche Witze hätte man nicht mehr toleriert und die Beteiligten mussten mit der Exmatrikulation rechnen) und es wurde ein anderes Szenarium überlegt.531 So hat man das Klavier während des Happenings vielfältig behandelt – gespielt, gestrichen, lächelnde Lippen darauf gemalt, mit dem Instrument geflirtet und geschmust –, dann wurde es an eine Seite gestoßen (laut Lapin »immer zärtlich«) und am Ende zerstört; die Stücke hat man ins Publikum geworfen und als »Souvenirs« aufgeteilt, der Rest des Klaviers wurde aufgeräumt und weggeworfen.532 Die Zuschauer haben das Geschehen aktiv und laut miterlebt, an das Ereignis wurde im Kunstinstitut noch viele Jahre später als an einen überraschenden Unfug erinnert, größere Probleme und ernsthafte Folgen für die Initiatoren hatten sich aber nicht ergeben.533 Die Funktionsweise der Vorstellungskraft, das Abspielen und die Verflechtung bestimmter Fantasien lassen sich beim »Trio auf dem Klavier« im Hinblick auf verschiedene Wirkungs- und Deutungsebenen beschreiben. Zum einen war der Auslöser des Happenings das Gerücht, dass in den künstlerischen Aktionen im Westen Klaviere zerstört wurden, und die Feststellung, dass in Estland so etwas noch nicht vorgenommen worden sei.534 Ungeachtet der konkreten Motivationen und Hintergründe der zum Vorbild genommenen Aktivitäten hat man durch die destruktive Behandlung eines Klaviers einerseits die Beteiligung an den Prozessen in der westlichen Kunst angestrebt (eine imaginäre Zugehörigkeit geschaffen), andererseits sich im Kontext der estnischen Kunst als Avantgarde positioniert bzw. vorgestellt. Zum anderen ergab sich ausgehend von dieser Positionierung die Idee radikaler künstlerischer Intervention in den sowjetischen Alltag – das Klavier soll aus dem Fenster an die gefährliche Kreuzung geworfen werden –, was aber schnell und ›vernünftig‹ abgelehnt wurde und eher als eine Fantasie – ›was wäre, wenn …?‹ – denn als ein ernsthaftes Vorhaben zu betrachten ist. Drittens handelte es sich um einen Auftritt anlässlich des Frauentages: Dem Klavier wurde die Rolle einer Frau zugewiesen, mit dem Instrument war man entsprechend umgegangen und rief unter anderem sexuelle Konnotationen hervor, die in der desexualisierten sowjetischen Gesellschaft und in Bezug auf den Frauentag (der vor allem die Gleichheit der 530 Ebd. 531 Ebd. 532 Ebd. 533 Ebd 534 Ebd.

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Frauen und Männer propagierte) als ein inverser Vorgang galt – sowohl vor dem Hintergrund der öffentlichen Verhaltensnormen, der offiziellen moralischen Richtlinien als auch der ideologischen Botschaft des Feiertages. Abbildung 15: Rekonstruktion des Happenings »Trio auf dem Klavier« (1969) in Tallinner Kunsthalle, 1991 (Leonhard Lapin, Ülevi Eljand, Ando Keskküla)

Archiv des Estnischen Kunstmuseums

Im Jahr 1990, als in der Retrospektivausstellung der Gruppe SOUP in der Tallinner Kunsthalle ein Remake von »Trio auf dem Klavier« ausgeführt wurde, hat man die sexuellen Konnotationen verstärkt – in erster Linie angesichts der allgemeinen Liberalisierung während der Wendezeit – und eine Stripperin in die Aktion einbezogen, die anschließend mit der Fahne der Estnischen SSR zugedeckt wurde. Die Mitglieder von SOUP waren – im Unterschied zum ursprünglichen Happening – in Anzüge gekleidet, was einerseits noch einmal die Auseinandersetzung der männlichen und weiblichen Rollenmuster betonte, andererseits die Änderung der Position der Künstler – eine Wandlung von Vorkämpfern der verborgenen Avantgarde zu den Klassikern der Resistance – andeutete. Die letztliche Zerstörung des Klaviers, die dem zärtlichen Spiel mit einer imaginären Frau folgte, ist im »Trio auf dem Klavier« in einem doppelten Sinn zu verstehen. Man kann das sexuelle Narrativ fortführen und die Kulmination der Aktion als eine willkürliche Lösung des Kampfes zwischen den männlichen und weiblichen Energien erläutern oder – was angemessener scheint – der Verschiebung der Handlungsebene am Ende des Happenings nachgehen und den destruktiven Akt im

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Anschluss an den Ausgangsimpuls beschreiben – als Verfolgen eines Szenariums, das den Einzug in einen bestimmten diskursiven Raum der westlichen NeoAvantgarde ermöglichte bzw. eine Verbindung damit darstellte. Im zweiten Fall galt das Klavier vor allem als ein Äquivalent der bedrängenden Konventionen der Hochkultur (die es auch in Fluxus-Konzerten repräsentierte) oder – wie Lapin festgestellt hat – als »das Symbol des kleinbürgerlichen Lebens«.535 Der Ablauf des Happenings lässt sowohl eine Verflechtung der verschiedenen Ideen als auch eine Abwechslung der dominanten und Hintergrundnarrativen verfolgen. Abbildung 16: Rekonstruktion des Happenings »Trio auf dem Klavier« (1969) in Tallinner Kunsthalle, 1991

Archiv des Estnischen Kunstmuseums

Es schien von Anfang an klar zu sein, dass das Klavier zerstört oder zumindest destruktiv behandelt werden muss und an diese Absicht hat man sich gehalten, sogar wenn die Entwicklung der improvisatorischen Handlungen nicht zwangsläufig zur Zerstörung des Instruments führte. Die Identifizierung des Klaviers mit einer Frau war vermutlich zu gleichen Teilen von der Form des Objekts (die an einen Frauenkörper erinnert) und vom Feiern des Frauentages inspiriert. Der Anspruch auf Widerstand gegen das ›kleinbürgerliche Leben‹ kann mit dieser Identifikation nach Wunsch auf eine oder andere Weise verknüpft werden (beispielsweise dieses Leben durch die Rollenteilung zwischen den Geschlechtern und mit dieser Teilung gebun535 Ebd.

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dene Werte charakterisieren), allerdings erzeugte »Trio auf dem Klavier« kein eindeutiges Narrativ – weder in Bezug auf den Widerstand noch auf die Frauen –, sondern war eher von einer beweglichen Mischung verschiedener Deutungen und imaginärer Räume sowie von den flexiblen Übergängen zwischen denen (die Ablehnung des radikalen interventorischen Vorhabens zugunsten der ungefährlicheren, leichtsinnigen Aktivitäten) geprägt. Es gibt kaum eine Möglichkeit das Spielphänomen zu thematisieren, ohne sich mit der Sphäre des Imaginären zu befassen, selbst wenn die theoretischen und ideologischen Grundlagen der jeweiligen Betrachtung äußerst unterschiedliche Herangehensweisen zu dieser Sphäre vorgelegt haben. In den strukturalistischen Spieltheorien, denen die klare Trennung zwischen dem Spiel und Nicht-Spiel bzw. dem Alltäglichen zugrunde liegt, gilt das Einbeziehen des Imaginären als eine der hauptsächlichen Ursachen und Merkmale dieser Trennung: Das Spiel weicht vor allem deswegen vom »gewöhnlichen« oder »eigentlichen« Leben ab536 und muss als »fiktiv«537 bezeichnet werden, weil dessen Ablauf nicht von den Bedingungen der Alltagsrealität bestimmt ist, sondern unter den Rahmen einer vorgestellten Realität untergeordnet und von dort eingesetzten Regeln geleitet wird – sogar wenn das physische Umfeld des Spiels nicht unbedingt vom Umfeld des alltäglichen Lebens getrennt ist. Sowohl bei Huizinga als auch bei Caillois steht das Imaginäre mit der Zweckfreiheit in Verbindung; diese zwei Kategorien werden durcheinander bestimmt und bestätigt, aus deren Zusammenschluss entsteht die Basis für die Spieldefinition: Die Abwendung von den mit dem Alltag verbundenen Motivationen zu den Gesetzen des imaginären Raumes gilt als Beweis für das Aufgeben des Zwecks und Nutzens, infolge dieses Aufgebens wird das Ziel des Spiels »in sich selber«538 gesetzt und das Spielen als »unproduktiv« 539 betrachtet. Aufgrund dieser beiden Kennzeichen lässt sich die größere Freiheit des Spiels (im Vergleich zu den alltäglichen Handlungen) festhalten, diese Freiheit wiederum schließt sich unmittelbar an das Imaginäre an – sei es dann Freiheit, den imaginären Raum zu schaffen, oder Freiheit, sich im imaginären Raum frei zu bewegen. Die feste Verknüpfung der Fantasie und Zweckfreiheit, die fließende Ableitung der einen Kategorie von der anderen, wodurch Huizinga und Caillois ihr Spielverständnis konstituieren, kann allerdings von mehreren Standpunkten hinterfragt werden. Zum einen muss man die Ansichten beachten, die sich der Abgeschiedenheit des Spiels von Zwecken entgegensetzen und dem Spielen eine immer anwesende Funktion zusprechen, ungeachtet davon, welche befreienden Zustände und Erfah536 Vgl. Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 16, 21-22, 37. 537 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, S. 16. 538 Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 37. 539 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, S. 16.

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rungen im Prozess des Spiels vorkommen mögen. Mit Unterstützung von Karl Groos beschrieb Freud das Spiel als einen der »Triebe«, der das Kind zur Entwicklung seiner Fähigkeiten auffordert, der aber zusammen mit der Verstärkung der »Kritik« als unvernünftige Beschäftigung abgelehnt wird.540 Der Freud’schen Definition des Spiels als Ersatzrealität folgend, dient auch dieses Vorspiel des eigentlichen Lebens als eine Anpassungstechnik mit bestimmten Aufgaben und Grenzen. Einer ähnlichen Argumentationslinie folgt Adorno in seinen skeptischen Überlegungen über die Zweckfreiheit des Spiels. Diese sei, wenn überhaupt, dann nur in einem abwertenden Sinn zu verstehen als Zurückbleiben hinter der Zweckrationalität, nicht als Befreiung von ihr, da das Spiel insgesamt den Status eines Mittels habe: Sein Zweck bestehe darin, das Subjekt an die Praxis heranzuführen, ihm die Erfordernisse derselben nahezubringen und sie ihm durch »relative Umfunktionierung physischer Unlust in sekundäre Lust« erst schmackhaft zu machen.541 Die dem Spiel zugeschriebene Irrationalität, die häufig als eine positiv konnotierte, entgrenzende Eigenschaft hervorgehoben worden ist, betrachtet Adorno als etwas, das am praktischen Charakter der Tätigkeit nichts ändert und wenn, dann nicht im Sinne einer (wie auch immer verstandener) Freiheit. 542 Vor diesem Hintergrund wäre das Spiel immer als die Unterordnung unter die Alltagsrealität zu verstehen, wobei auch die Orientierung auf das Imaginäre von den Erfordernissen und Bedingungen dieser Realität ausgeht – sogar wenn es so scheint, dass innerhalb des Spielraumes ein souveränes Handlungsfeld herausgebildet wird. Zum anderen kann das Verhältnis des fiktiven bzw. imaginären Raumes und der Zweckfreiheit des Spiels in Bezug auf das ›Lustprinzip‹ – das das Spiel in Gang zu setzen vermag – problematisiert werden. Richard Schechner hat in seiner Betrachtung der Typen der performativen Aktivitäten das individualistische Spiel (play), das soziale Spiel (game) und das Ritual unterschieden, die drei verschiedenen Dynamiken zwischen dem Lustprinzip und sog. Realitätsprinzip aufweisen: Das Erste sei auf sich gerichtet, vom Spieler bestimmt und vom Lustprinzip geleitet, das Zweite vom Kontext bestimmt und vom Ausgleichen des Lustprinzips und Realitätsprinzips geprägt, das Dritte von einer Autorität bestimmt und gemäß dem Ein-

540 Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. (1905) – http://gutenberg.spiegel.de/buch/933/3 (24.08.2014). Hinweis auf das Buch »Die Spiele der Menschen« von Karl Groos (Jena: Fischer, 1899). 541 Theodor Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973, S. 469-471. Zitiert nach: Alexander Wachter, Das Spiel in der Ästhetik: Systematische Überlegungen zu Kants Kritik der Urteilskraft. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2006, S. 123. 542 Ebd.

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halten des Realitätsprinzips geregelt.543 Das Interessante hierbei ist vor allem das Verhältnis zwischen dem individualistischen und dem sozialen Spiel bzw. die Frage, ob und unter welchen Umständen das Spiel ›desozialisiert‹ wird, bedingungslos das Lustprinzip bzw. das Imaginäre verfolgen kann und ob diese – sogar wenn theoretische – Möglichkeit die eigentliche Abweichung von jeglichen Zwecken bedeuten würde? Anhand dieser Fragestellung kann man sich sowohl mit den innerlichen als auch äußerlichen Bedingungen des Spiels befassen. Einerseits lässt sich bezweifeln, dass man ein vom einzelnen Spieler bestimmtes und seinen persönlichen Fantasien nachgehendes Spiel als etwas rein Individuelles betrachten kann bzw. dass seine Individualität von der Sozialisierung zu trennen ist, andererseits muss man beachten, dass physisches Alleinsein bzw. allein gespieltes Spiel keineswegs von der Berücksichtigung der sozialen Verhältnisse und Normen befreit. Caillois hat innerhalb der verschiedenen Spielformen zwei Grundbewegungen bzw. Spielweisen unterschieden – vom Lustprinzip geführtes paidia und strukturiertes ludus544 – und den vielen spielerischen Praktiken geeignete Zuneigung zur Selbststrukturierung angedeutet: Ludus sei eine Bestrebung im Spiel, die sich dem unberechenbaren und anarchischen Drang entgegensetzt und die Handlungen im Spielraum unter ein Ziel unterordnet, das Anstrengung und Geduld verlangt, sogar wenn das Erreichen dieses Ziels nicht (gemäß den Kriterien des Alltaglebens) von Nutzen ist.545 Man kann behaupten, dass zur Komplexität der Spieldynamik neben dem Anspruch auf Befreiung von den funktionalen Vorgängen ebenso der Impuls auf Strukturierung und zu Zielsetzungen gehört, die zwar im imaginären Spielraum Ausdruck finden, aber auf die eine oder andere Weise mit der Organisation der Alltagsrealität verknüpft sind. Die Ableitung von der Vorstellungskraft und das Schaffen einer Fantasiewelt im Spiel bringt nicht Zweckfreiheit mit sich, erzeugt aber auch kein dualistisches Modell der expliziten Absichten bzw. der Absichtslosigkeit und der impliziten Funktion, sondern vermischt die spielerischen Bewegungen mit den alltäglichen und bildet einen verflochtenen Motivationskomplex fiktiver und realer Ziele des Spiels heraus. Eine interessante Perspektive auf den Bezug zwischen dem Spiel und dem Imaginären bzw. Fiktiven bietet das von Wolfgang Iser ausgearbeitete Textkonzept bzw. seine Betrachtung literarischer Texte, in der der Spielbegriff im Mittelpunkt steht. Dieses Konzept ermöglicht es, von statischen Denkmodellen in Hinsicht auf Grenzen und/oder Freiheit des imaginären Spielraumes zur mehr detaillierten Beobachtung der Kooperation des Spielerischen und des Imaginären/Fiktiven zu kommen. Anschließend an Gadamers Definition des Spiels als »Bewegung des Hin 543 Richard Schechner, Performance Theory. New York and London: Routledge, 2002, S. 13. 544 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, S. 20. 545 Ebd.

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und Her« – »Vollzug der Bewegung als solcher« –, die ohne Substrat ist und bei dem kein Subjekt (das spielt) festgehalten wird,546 verortet Iser das Spiel als eine »Struktur, die das Ineinander von Fiktivem und Imaginärem reguliert«.547 Das Spiel wird hier als ein Prozess gedacht, durch den man die aus verschiedenen Kontexten stammenden Elemente des literarischen Textes neu organisiert und rekontextualisiert; dabei entsteht laut Iser »eine Koexistenz verschiedener Diskurse, die ihre jeweiligen Kontexte als ein Spiel wechselseitigen Auf- und Abblendens entfalten«.548 Jedoch kann man das Fiktive und das Imaginäre nicht vom Vorgang des Spiels trennen, im Gegenteil: Deren Herausbildung und Zusammensein werden von diesem Vorgang konstituiert, »durch das Eröffnen von Spielräumen stellt das Fiktive Imaginäres unter Formzwang«.549 Das ›Gerüst‹ des Fiktiven wird im Spiel mit dem Imaginären erfüllt, zu gleicher Zeit wird aber das Spiel selbst davon, was es in Bewegung gesetzt hat, verändert; durch all diese Prozesse wird die Infrastruktur der Repräsentation geformt. Dieses literarische Konzept könnte auch für die Betrachtung der performativen spielerischen Ereignisse eine produktive Perspektive darstellen, vor allem im Hinblick auf die präzise Verortung des Spiels – auf die Frage, auf welchen Handlungs- oder Wahrnehmungsebenen eines Ereignisses, das insgesamt als ein Spiel bezeichnet wird, das Spielerische eigentlich zu finden ist, welche Faktoren, Eigenschaften, Abläufe dieses Spiel bestimmen oder bestimmen mögen. Im Gegensatz zur theoretischen Ansicht, die von der kontinuierlichen Überlagerung des Spiels mit dem Fiktiven/Imaginären ausgeht, legt Iser eine dynamische, prozesshafte Beschreibung vor: Das Spiel ereignet sich zwischen dem Imaginären und dem Fiktiven, lässt sich von den beiden nicht trennen, aber ist auch nicht mit ihnen identisch; das Spiel kann nicht durch spezifische Charakteristika des Phänomens oder durch dessen (fiktiven, imaginären) Inhalt definiert, sondern nur als eine Bewegung, die etwas in seinem Umfeld zusammenbringt und neu konstituiert, erfasst werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, wie sich die Dimension des Imaginären und die Dynamik des Spiels in den kulturellen Prozessen und künstlerischen Ereignissen begegnen und gegenseitig in Gang setzen, auf welcher Ebene, zu welchem Zeitpunkt und auf welche Weise das Vorstellungsvermögen den Ablauf des Spiels herausbildet, ändert, in eine oder andere Richtung lenkt. Zunächst muss festgestellt werden, dass es in einem Spiel fast nie um das Aktivieren und Verfolgen nur eines imaginären Raumes geht, sondern dass das Werk des Imaginären immer 546 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960). Gesammelte Werke, Band 1. Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, S. 109. 547 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 15. 548 Ebd., S. 389. 549 Ebd., S. 393.

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auf verschiedenen Ebenen und Weisen ins Spiel hereintritt und durch die diskursive Komplexität des Spielphänomens zu betrachten ist. Erstens muss sowohl bei der Theatererneuerung als auch bei den Happenings in Estland als Auslöser des Spiels der allgemeine soziale Kontext berücksichtigt werden, der von der in den 1960er Jahren erwachten Vorstellung einer neuen, reformierten und liberalisierten Gesellschaft geprägt war, ebenso wie vom Scheitern und dem Zusammenbruch dieser Vorstellung am Ende der Dekade. In den künstlerischen Aktivitäten kann man während dieses Zusammenbruchs eine interessante Wendung beobachten – das kurze Weiterleben der idealistischen Ansprüche, aber auch deren zunehmende Trennung vom Alltagsleben. Die Hoffnung auf eine neue Gesellschaft wurde anscheinend nicht gleich aufgegeben, sondern für eine Weile sogar noch intensiviert, dabei aber immer mehr als eine Fantasie weiterentwickelt und nicht mehr direkt mit den eigentlichen Lebensbedingungen in Verbindung gebracht. Zweitens wurden die Experimente der Theatererneuerung und die Happenings gleicherweise von bestimmten neuen Vorstellungen bezüglich der künstlerischen Praxis geprägt. Diese Vorstellungen sind nicht nur als Rekonzeptualisierung der eigenen Tätigkeit in Auseinandersetzung mit der Tradition und mit den Konventionen oder den breiteren kulturellen Umbrüchen zu verstehen, sondern schlossen sich stark an das Imaginäre an – an das hauptsächlich durch Texte und Gerüchte geschaffene imaginäre Umfeld, das dieser Tätigkeit ihre eigentliche und vollkommene Bedeutung zuzusprechen vermochte. Drittens kann man der Entwicklung und Wirkung der an die eine oder andere imaginäre Welt gebundene Narrative in den künstlerischen Ereignissen nachgehen. Diese Narrative sind sowohl als Ausgangspunkt des Spiels als auch etwas, was während des Spiels generiert oder durch das Spiel hervorgerufen wird, zu betrachten und durch ihre Flexibilität zu charakterisieren. Die Entfaltung einer Fantasie lässt sich selten auf eine bestimmte Wahrnehmungsebene begrenzen, sondern bringt häufig den Drang, aus dem Spielraum herauszubrechen, zum Ausdruck, bewegt sich zwischen verschiedenen Realitäten, sogar wenn dadurch die Vollkommenheit der Fantasie immer scheitert. Mati Unt hat eine Probe des Nachttheaters, dessen Methode auf dem »freien persönlichen Spiel«550 basierte, wie folgt beschrieben: In einer Nacht habe der Regisseur Hermaküla das Foto des Sohnes von Unt und der Schauspielerin Mare Puusepp an die Decke des Proberaums projiziert und davon inspirierte Handlungen angeregt; die Improvisationen wurden aufgenommen und vorgeführt, bis man einen Fußball ins Spiel gebracht hat, herumwarf und ihn als den Kopf von Indrek – des Sohnes – bezeichnete; Mare Puusepp habe das Spiel daraufhin abgebrochen und sich auf einen Stuhl gesetzt, infolge dessen die Anderen »hysterisch« um ihre Rückkehr flehten, was letztlich auch passierte und dies ermöglichte, das Ganze mit

550 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 152.

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einem »erleichterten« Lied abzuschließen.551 Das Verhältnis zwischen Alltag und Spielrealität sowie auch die Zusammenkunft des Persönlichen mit dem Imaginären kann hier mehrfach beobachtet werden. Einerseits zielte das Spiel auf eine unmittelbare Verbindung mit dem Alltagsleben der Beteiligten und wurde nicht als eine Flucht in die Fantasiewelt, sondern als ein Weg zum »echten Leben«552 verstanden; das Foto des Kindes sollte diesen Bezug zum Realen fest in Erinnerung behalten. Andererseits wurde im Spiel das Imaginäre aktiviert, um sich von den konventionellen Denk- und Verhaltensweisen des Alltags zu befreien und dahinter das ›echte‹ Leben zu entdecken. Ausgehend von dem psychoanalytischen Hintergrund ähnelte der Prozess dieser Befreiung dem therapeutischen Verfahren, das das Unterdrückte bzw. Unbewusste aufzudecken vermag. Die weitere Absicht dabei war aber nicht nur die Verarbeitung der hervorgerufenen Impulse und Visionen (bzw. die ›Heilung‹ des Spielenden), sondern auch deren produktive – künstlerische oder spielerische – Umsetzung. Die Hemmung in der Probe und deren Überwindung brachte einen innerlichen Konflikt bzw. eine Verflechtung der verschiedenen Spielkonzepte, die die Experimente der Theatererneuerung geprägt hat, zum Vorschein. Die Funktion des Spiels war zum einen, die Spielenden in eine Grenzsituation zu bringen, um den Kontakt mit dem ›authentischen‹ Selbst aufzunehmen, zum anderen die künstlerische Produktivität mithilfe des kreativen Potentials des Spiels. Die Grenzsituation generierte unter anderem aber Zustände und Zwänge, die das Spiel abzubrechen vermochten – womit man ›nicht spielen konnte‹ – und verlangte entweder das vollkommene Abgeben der künstlerischen Ansprüche oder eine Verschiebung der Spielebene, die Rückkehr zum ›nur ein Spiel‹. Im Ablauf der Probe des Nachttheaters lässt sich diese Auseinandersetzung des destabilisierenden (tiefen, therapeutischen) Spiels mit dem kreativen (leichten, fantasiebezogenen) Spiel bzw. der holprige Übergang von einem zum anderen verfolgen. Die Inszenierung von »Nur ein Lied« bietet ein anderes Beispiel, an dem die Entstehungs- und Entwicklungsmechanismen einer Fantasie im Spiel erläutert werden können und zwar in Hinblick auf die Zuschauer, die sog. sekundären Teilnehmer des Spiels. Einer der Beteiligten der Gruppenarbeit, der Schauspieler Lembit Ulfsak, hat an die höchst emotionalen Publikumsreaktionen erinnert – an das exaltierte Miterleben, an die Frauen mit verweinten Gesichtern, an ein Mädchen, das nach der Aufführung »wie hypnotisiert« zu den Schauspielern gekommen ist und schrie, dass man jetzt »anfangen [solle] zu schießen«.553 Laut Ulfsak waren diese Reaktionen eine absolute Überraschung, er selbst habe die Inszenierung nicht mit dem Freiheitskampf Estlands oder mit der Dissidenz in Verbindung gebracht. 554 551 Ebd., S. 153. 552 Ebd., S. 149. 553 Vastab kuus meest. (Interview mit der Truppe von »Nur ein Lied«.) – Hermaküla, S. 54. 554 Ebd.

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Sogar wenn den Initiatoren Hermaküla und Tooming, aber auch einigen anderen Mitgliedern der Truppe die soziale Bedeutsamkeit der Gedichte von Gustav Suits bestimmt bewusst war, können jedoch die Gründe und Absichten des Spiels mit dem textuellen Inhalt des Stücks nicht vollkommen gleichgesetzt werden. Es ging ebenso viel – oder sogar mehr – um den Aufstand gegen das »graue und langweilige«, »psychologische« Theater,555 um ein »alle Komponenten umfassendes Ritual«,556 wozu der Text – unter anderem wegen der gesellschaftlichen und politischen Ansprüche – als ein angemessener Ausgangspunkt diente. Die »Euphorie« des Publikums557 rief wiederum (vermutlich) die emotionale patriotische Botschaft der Gedichte – und nicht der Bruch in der Theaterästhetik – hervor, selbst wenn die spezifische Vermittlungsweise dieser Botschaft natürlich nicht vom Inhalt zu trennen ist. Man kann hier eine ziemlich komplexe, von den leichten Verschiebungen geprägte kommunikative Dynamik verfolgen. Abbildung 17: »Nur ein Lied …« im Haus der Schriftsteller, Tallinn, 1969 (Jaan Tooming, Lembit Ulfsak, Raivo Trass, Tõnu Tepandi)

Foto E. Köster, Estnisches Theater- und Musikmuseum 555 Ebd., S. 53, 57. 556 Ebd., S. 53. 557 Ebd., S. 55.

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Einerseits galten die Gedichte als Auslöser des Spiels, das aber zum Teil eine Eigenständigkeit entwickelte, die nicht mehr unbedingt an den Text gebunden war.558 Andererseits galt das Spiel als eine Ausweitung des textuellen Inhalts und als Auslöser der Publikumsreaktionen, die sich zwar auf die Botschaft der Gedichte bezogen, das imaginäre Handlungsmuster jedoch – man solle ›anfangen zu schießen‹ – eher ausgehend von der Sphäre des Spiels aufarbeiteten. Die Komplikationen, die die spezifische Kombination dieser zwei Elemente – der ideologisch fraglichen Gedichte von Suits und des nicht ganz kontrollierbaren Spiels – verursachen konnte, blieb auch von den Behörden nicht unbemerkt; die Inszenierung sollte verschiedenen Beamten vorgespielt werden, Hermaküla und Tooming hatten immer wieder an verschiedenen Orten »beim Kaffee« vorgesprochen, bis das Stück auf die Bühne kam.559 Der einflussreiche Kritiker Nigol Andresen habe die Truppe mithilfe der ›heiß-kalt‹-Methode unterstützt, einerseits – inoffiziell – ermutigt, andererseits – offiziell – zurechtgewiesen, was eine weitere spielerische Dimension der Produktion beifügte.560 Sowohl die abgebrochene Probe des Nachttheaters als auch der Aufbau und die Wirkung der Inszenierung von »Nur ein Lied« kann einerseits mithilfe des Iser’schen Spielbegriffs analysiert werden: In beiden Fällen wurde das bewegliche, weitschweifige Imaginäre vom ›Formzwang‹ des fiktiven Spielraumes geprägt. Das Spiel ist hier nicht als eine in der (im Voraus geschaffenen) imaginären Realität ablaufende Aktivität zu verorten, sondern eher als eine dynamische Auseinandersetzung zwischen fiktiven Rahmenbedingungen und imaginären Inhalten – die immer wieder regeneriert und in verschiedene Richtungen gerückt werden – zu denken. Andererseits – da es sich hier um körperliche Handlungen im physischen Raum und nicht um textuelle Performativität handelt – muss die Funktion des Imaginären in Bezug auf die körperliche/physische Präsenz betrachtet werden. Die Parallelität und die zum Teil paradoxe Verbindung des Anspruchs auf einen spontanen Akt und der Orientierung auf die Macht der Vorstellungskraft ist eines der interessantesten Kennzeichen der vielen neuen künstlerischen Praktiken – und des Prozesses der Entgrenzung der Künste – in den 1960er Jahren. Diese manchmal auch im Rahmen einzelner Ereignisse zu verfolgende Zwiespältigkeit kann innerhalb der estnischen Kultur vielleicht am deutlichsten am Beispiel des Happenings »Papiere in der Luft« beleuchtet werden. Einerseits ging es in der Aktion um die Manifestation der unmittelbaren Raumerfahrung, um die Suche nach der unverhinderten Spontaneität, die jeder Rationalisierung zuvorkommt, die Unterstützung der Vorstellungskraft ablehnt und mithilfe des Caillois’schen Begriffs ilinx – Rausch – beschrieben werden kann. Ausgehend von der Caillois’schen Zerlegung wäre ilinx 558 Vgl. ebd., S. 56. 559 Ebd., S. 54. 560 Ebd.

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als Gegenteil zur Mimikry zu verstehen (auch wenn Caillois diese nicht direkt einander gegenüberstellt) und als physisches Äquivalent für alea – Zufall – zu fassen, im Hinblick auf die subversive Funktion bezüglich der Strukturierung und Kontrolle, die die beiden ausüben.561 Andererseits wurde neben dem freien Spiel in »Papiere in der Luft« eine überlegte, nicht vollkommen spontane Geste vorgenommen – das Werfen der Zeitungen in den Wind. Auch wenn diese Geste nicht unbedingt auf die präzis herausgearbeitete Symbolik zurückgeführt werden muss und bestimmt einen Anteil an Impulsivität beinhaltete, kam es jedoch auf einer anderen Handlungsebene zustande, setzte die Vorbereitung und koordinierte Aktivitäten voraus und lässt sich unter anderem als eine Inszenierung für das imaginäre Publikum bzw. als eine Botschaft an den imaginären Rezipienten betrachten. Im Anschluss an diese Beobachtung stellt sich unvermeidlich die Frage, inwieweit das spontane, irrationale Spiel auf dem Strand diese Kommunikation mit dem Imaginären vorantrieb bzw. wie das Streben nach der Präsenz bzw. dem Rausch und die Darstellung des freien Spiels sich zueinander verhielten? Offenbar kann man in einem solchen fließenden Ereignis die verschiedenen gemischten Impulse voneinander sondern und den unfixierbaren Wahrnehmungsverschiebungen nachgehen, doch lässt sich vermuten, dass man den Anspruch auf die Präsenz von der Sphäre des Imaginären nicht eindeutig trennen kann. Die symbolische Geste bzw. das Ansprechen des Imaginären in »Papiere in der Luft« könnte als Auslöser des freien Spiels verstanden werden, um das implizite Bedürfnis nach Sinngebung des Irrationalen und nach Rahmung des Impulsiven zu analysieren; zwischen den zwei Handlungsebenen der Aktion wären in dieser Hinsicht mehrfache Verknüpfungen, aber auch deutliche Unterschiede festzustellen. Allerdings führen der Ablauf und die innerliche Anordnung der Aktion vielmehr zur Nachfrage bezüglich der gegenseitigen Bedingtheit der Präsenzerfahrung und der Entfaltung des Imaginären. Ausgehend von Caillois wären die beiden auf die zwei unterschiedlichen Spielmodi zurückzuführen, die man nicht gleichzeitig verfolgen kann, sondern die einander wechselseitig ausschließen: Der subversive Rausch setzt die Ablehnung der Herausbildung jeglicher illusorischer Realität voraus und wird bestimmt vom Sturz in die Unwissenheit. Die Mimikry wiederum basiert auf dem Aufbau und dem Schutz des Imaginären – vor allem gegen die unvorhersehbaren Impulse, die die Grundbedingungen der illusorischen Realität bedrohen. Die beiden Spielmodi entwickeln anscheinend eine Vollkommenheit, die andere Handlungsregime kaum zulässt. Im Hinblick auf die Erkenntnis, die viele performative künstlerische Praktiken während der 1960er Jahre in Gang setzte und die Jill Sigman als das Gefühl, dass »ich wirklich einfach alles machen kann« (»I

561 Vgl. dazu Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction. London, New York: Routledge, 2004, S. 21-22.

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can really do just anything«562) beschrieben hat, lässt die Auseinandersetzung der Präsenz und des Imaginären sich jedoch dynamisieren. Zum einen kann man natürlich die Suche nach Präsenz im Ganzen als ein mithilfe der Vorstellungskraft generiertes Streben betrachten, das nicht in Bezug auf die Realisierung, sondern auf die Ideologiebildung und auf die Ausprägung bestimmter Fantasien in der Kultur der 1960 Jahre zu verstehen wäre. Zum anderen könnte man ausgehend von den Darstellungsstrategien dieser Suche vermuten, dass das Imaginäre häufig in die Selbstwahrnehmung im Zustand der Präsenz eingebunden war. Drittens – von der Seite des Imaginären aus – stellt sich die Frage, ob die Annahme der Bedingungen der vorgestellten Realität sich der Präsenzerfahrung entgegenstellen lässt oder diese Erfahrung eben dadurch intensiviert wird (sogar wenn die Kategorien des ›Unmittelbaren‹ und ›Authentischen‹ in dieser Konstellation möglicherweise destabilisiert sind)? Abbildung 18: Happening »Papiere in der Luft« am Pirita Strand, Tallinn, 1969 (Andres Tolts, Leonhard Lapin, Toomas Pakri)

Fotos Konstantin Kuzmin, Archiv des Künstlers Leonhard Lapin

Im osteuropäischen Kontext muss man bei den künstlerischen Aktivitäten, die vor dem Hintergrund der Verflechtungen der Präsenz und des Imaginären zu verorten sind, noch eine weitere Dimension beachten. Das Streben nach Rausch und das Gefühl, dass man »einfach alles machen kann«, wurden entweder aus der westlichen Kultur übersetzt oder aufgrund der lokalen kulturellen Entwicklungen herausgebildet. Die Ausführungen dieses Strebens und das Ausdrücken dieses Gefühls fanden aber immer unter Umständen statt, unter denen man wusste, dass man ei562 Jill Sigman, How Dances Signify: Trio A and the Myth of Ordinary Movement, 2000, S. 6. Vgl. Kapitel I, S. 52.

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gentlich nicht alles machen kann, dass man sich in einem sehr begrenzten Raum bewegt, wo die Äußerung jeglicher Spontaneität häufig in die Verborgenheit gerückt und deren Unabhängigkeit mithilfe der Vorstellungskraft unterstützt werden sollte. In diesem Rahmen kam die ambivalente Dynamik der Präsenz und des Imaginären auf eine besondere Weise zum Vorschein und lässt sich auch in »Papiere in der Luft« beobachten, wo das gegenseitige Hervorrufen der rhetorischen, auf das imaginäre Publikum gerichteten Gesten und der impulsiven, irrationalen, vom Symbolischen befreiten Handlungen sich als ein komplexer (kompensatorischer) Mechanismus erwies, der im Hinblick auf das soziale Umfeld interpretiert werden kann, aber möglicherweise auch weitgehender als der den spielerischen Praktiken geeignete innere Dialog zu betrachten ist. So wie Einsatz und Ablauf des Imaginären in den spielerischen künstlerischen Praktiken mit verschiedenen Wirkungs- und Deutungsebenen verknüpft waren, müssen auch die Funktionen, den das Imaginäre diente, und mögliche Freiheiten, wozu es führen mochte, in Bezug auf diese Ebenen unterschieden werden. Am Beispiel von »Trio auf dem Klavier« kann man die konkreten – zweckgebundenen – Motivationen des Imaginären und befreiende bzw. entgrenzende Dimension (die nicht eindeutig zu einem Zweck zurückzuführen ist) im Spiel mehrfach auseinanderfalten. Erstens fungierte die Aktion im Rahmen des breiteren kulturellen Umfelds als eine der Aktivitäten, die zur Überwindung bzw. Verarbeitung der Abgrenzung von der restlichen (westlichen) Welt beitrug; das Durchführen des Happenings unterstützte die Vorstellung der Zugehörigkeit zu einem anderen – vom eigentlichen unterschiedlichen – kulturellen Raum. Zweitens setzte das Vorhaben einige Ideen in Bezug auf künstlerische Intervention in den Alltag in Bewegung, generierte aber zugleich den Mechanismus der Selbstzensierung und diente durch das imaginäre Abspielen und anschließende Ablehnung dieser Ideen als eine Technik der innerlichen sozialen Kontrolle, die besonders im Spätsozialismus auf eine komplexe Weise herausgebildet war. Drittens induzierte die Form des Happenings eine neue Herangehensweise an die künstlerische Tätigkeit, die es ermöglichte, sich von den Konventionen der Produktion eines Kunstwerkes zu distanzieren, den Ausgangspunkt und die Absichten dieser Produktion zu verschieben und sich auf einen flexiblen Prozess einzulassen, der sowohl Elemente vom Aufbau des kongruenten fiktiven Raumes (wo das Klavier als eine Frau betrachtet und behandelt wird) als auch vom eventuellen Abbau und der Umdeutung dieses Raumes (durch das Zerstören des Klaviers) aufwies. Es scheint, dass eben dieser Prozess, in dem die verschiedenen Narrative des Imaginären auseinandergesetzt werden, sich gegenseitig ändern, ablösen und die Konstellationen bilden, in den sie von ihrem anfänglichen Zweck zugunsten des Zusammenspiels mit anderen Narrativen abgelenkt werden, es ermöglicht, über aufgrund des Imaginären geschaffene Freiheit des Spiels zu sprechen.

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4.3 D IE U NWISSENHEIT Im Mai 1971 erschien in der Tartuer Universitätszeitung eine Rezension über eine Theateraufführung im Club der Universität, die die Ergebnisse der Experimente des von Hermaküla geleiteten sog. Nachttheaters vor das Publikum brachte.563 Die Inszenierung hat man lakonisch als »Theater« bezeichnet, sie basierte auf Texten von Ibsen, Shakespeare, Stoppard, Whiting, Weiss und wurde im Rahmen der Tätigkeit des Büros der literarischen Propaganda vorgeführt.564 Der Autor der Rezension, der damalige Student und späterer Kritiker, Regisseur und Politiker Jaak Allik, beschrieb das Ereignis als ein Kinderspiel, wobei jemand, der hinter der Tür ist, seinen Fuß zeigt, und die Anderen raten müssen, wem er gehört.565 Dieses Spiel habe Allik nicht zu den Überlegungen über den ›Besitzer des Fußes‹, sondern über den Prozess der Entscheidung geführt; 566 ausgehend von Hermakülas Spielkonzept (bzw. der von ihm oft geäußerten Behauptung, dass das Theater ›ein Spiel‹ sei) und von der Aufführung im Universitätsclub legte er eine Beobachtung der Ziele und Ergebnisse der Theatererneuerung vor. Das Spiel als modus vivendi der Schauspieler sei laut Allik in Hermakülas Experimenten relativ erfolgreich realisiert geworden, Probleme seien allerdings beim »System Spielende–Publikum« aufgetaucht, da trotz der Aufforderung zum Mitspielen die vierte Wand zwischen den Schauspielern und den Zuschauern immer stehen geblieben sei.567 Als einzigen Ausweg aus dieser Trennung sah Allik die Einheit der Spielenden und des Publikums aufgrund der gemeinsamen Sinngebung – die subjektive Vorstellung davon, dass die Zuschauer ›nicht verstehen, sondern mitkommen müssen‹, könne diese Spaltung nicht abschaffen.568 Im Grunde ginge es im Theater um das Beeinflussen des Publikums, das durch eine Kongruenz der Gedanken, der Emotionen und der Handlungen zu erreichen sei; dieser Kongruenz liege laut Allik die Verständlichkeit bzw. eine intellektuell begreifbare Motivation zugrunde, die das Spiel zusammenbindet.569 Die Proben des Nachttheaters wurden im Frühling 1971 im Gebäude des Theaters »Vanemuine« durchgeführt.570 Die am Spätabend bzw. in der Nacht im dämm563 Jaak Allik, Etendus kestab. (1971) – Hermaküla, S. 108-111. Erstveröffentlichung: Tartu Riiklik Ülikool 14.05.1971. Regisseur der Inszenierung war Evald Hermaküla, Dramaturg Mati Unt, Schauspieler Jaan Kiho, Tõnu Oks, Mare Puusepp, Tõnu Tepandi; Erstaufführung am 4.05.1971. 564 Ebd., S. 108. 565 Ebd. 566 Ebd. 567 Ebd., S. 109. 568 Ebd, S. 110. 569 Ebd.. 570 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 152.

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rigen Nebenraum stattfindenden und an das Psychodrama angeschlossenen Improvisationen fingen »von Null« an – mit dem »gelassenen Liegen«,571 mit der Stille und Konzentration,572 bis jemand, der einen entsprechenden Impuls fühlte, mit einem Spiel – meistens auf Basis des Privatlebens bzw. persönlicher Fantasien – anfing und die Anderen (wenn das Spiel für sie etwas bedeutete) den Impuls aufgriffen und mitspielten; wenn das Spiel zum Ende kam oder »unterging«, hat jemand Anderer etwas Neues angeboten.573 Es hätten sich Hysterie und Narrenspiel, aber auch »lebendige Theatermomente« ergeben, die fortlaufenden Improvisationen dauerten manchmal ein paar Stunden und wurden vom Regisseur nicht unterbrochen, 574 doch hat Hermaküla alles detailliert aufgeschrieben und ausgehend von dieser Dokumentation die sog. Grundspiele herausselektiert.575 Da diese Grundspiele eine gewisse Ähnlichkeit mit einigen der »literarisch-kulturellen Archetypen« aufwiesen, wurden sie in die Texte der oben genannten Autoren integriert, während der Aufführungen hat man weitere literarische Anspielungen hinzugefügt.576 Laut Mati Unt hat das Nachttheater am meisten theoretisch genutzt577 und war möglicherweise der grundlegendste Teil der Theaterexperimente; dieselbe Arbeitsmethode wurde auch in der Vorbereitung der Inszenierung »Du, wer die Ohrfeigen kriegt« – die als Kulmination und Finale der Theatererneuerung galt – eingeführt.578 Eine Woche nach der Veröffentlichung der Rezension von Jaak Allik erschien in derselben Universitätszeitung die Antwort von Mati Unt, der zuständig für das Büro der literarischen Propaganda sowie als der bedeutendste Vermittler und Konzeptualisierer der Theatererneuerung fungierte. In seiner Antwort setzte sich Unt skeptisch mit Alliks Anspruch auf eine einheitliche Sinngebung innerhalb einer Theateraufführung (die aus dem ›Zauberkreis‹ der Unverständlichkeit hinausführen solle und den Einfluss auf das Publikum ausüben ließe) auseinander und stellte fest, dass seiner Ansicht nach ein weit problematischerer Zauberkreis aufgrund der fraglichen und unbestimmten Funktion des Theaters in der gegenwärtigen Welt entsteht, die durch das Erzeugen klarer Botschaften für die Zuschauer nicht zu lösen ist 571 Mati Unt, Öösel toas ja päeval laadal. – Hermaküla, S. 105. 572 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 152. 573 Ebd. 574 Ebd., S. 152-153. 575 Mati Unt, Öösel toas ja päeval laadal. – Hermaküla, S. 105. 576 Ebd., S. 105-106. Die Grundmotiven wurden aus »Rosencrantz und Güldenstern sind tot« von Tom Stoppard, »Mutter Joanna« von Jarosław Iwaszkiewicz, »Die Teufel« von John Whiting, »Marat« von Peter Weiss und »Peer Gynt« von Henrik Ibsen geliehen, später hinzugefügte Textausschnitte stammten aus der Bearbeitung von Afanassi Salynskis »Maria«, aus »Hamlet« und Friedrich Dürrenmatts »Romulus der Große«. 577 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 153. 578 Mati Unt, Öösel toas ja päeval laadal. – Hermaküla, S. 105.

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– die Theatererneuerung sei eben der Möglichkeit nachgegangen, die Botschaft zu vermeiden und stattdessen eine »Methode« zu suchen. 579 Jedoch deutete die Beschreibung dieser Methode einen interessanten Widerspruch an: Sogar wenn Unt es mit verschiedenen Quellen, Vorbildern und Techniken verknüpfte (die Experimente von Charles Marowitz, Grotowskis »Apokalypsis«,580 die Zerlegung der Spieltypen von Schechner, die Interaktion mit den Texten aus der Weltliteratur) und ein relativ präzises Verfahren aufarbeitete, blieb offen, wozu genau diese Methode dient und wie sie funktionieren soll. Die Verarbeitung und zeitweilige Strukturierung der von Improvisationen ausgegangenen spontanen Impulse solle laut Unt nach dieser Zwischenphase wieder zum »freien Spiel« – oder zu »etwas Anderem« – führen.581 Das Hauptmaterial des Nachttheaters sei der Schauspieler und man plädiere dafür, dass dieser Schauspieler ebenso »Respekt vor dem Leben« zu wecken vermag wie die Texte von Henrik Ibsen, sogar wenn diese interessanter und raffinierter sein können.582 Man verneine nichts, man sei nicht gegen eine oder andere Form des Theaters, man wolle nicht die Zuschauer angreifen, aber man warte und glaube, dass dieser mitspielen will und eines Tages mitspielen wird.583 Jede – auch eine schlechte – Aufführung gebe etwas weiter, was in uns steckt; beispielsweise sei der erste Auftritt im Universitätsclub misslungen und hysterisch gewesen, man habe entdeckt, dass man sehr hysterisch ist – nicht Rosencrantz oder Mutter Joanna, sondern die vier Schauspieler auf der Bühne seien hysterisch, und sogar wenn es eine sehr kleine Entdeckung ist, sei man froh, wenn es gelingt, auch etwas Größeres aufzudecken.584 In der Erläuterung der Methodik des Nachttheaters findet ein ziemlich komplexer Problemkreis Ausdruck – vor allem in Hinsicht auf die Dynamik der ›Unwissenheit‹ und der ›Bewusstheit‹ im Spiel –, dessen Grundzüge sich in der emotionalen Darlegung von Unt verfolgen lassen. Seine hauptsächliche Argumentationslinie bezog sich auf die ›Befreiung‹ des Schauspielers und schloss an die produktive Unwissenheit an: Das Hervorrufen der spielerischen Impulse diene zur Offenlegung des Unbekannten; diesem Prozess der Offenlegung und/oder dessen Ergebnis wurde schon im Voraus eine Produktivität bzw. Bedeutsamkeit zugesprochen, sogar wenn es unvorhersehbar blieb, in welcher Form das Unbekannte erscheint und welche Inhalte es sichtbar zu machen vermochte. Der Schauspieler wurde hierbei nicht als Repräsentant des Theaters als einer spezifischen kulturellen Praxis betrachtet, sondern als ein Träger des ›menschlichen Wesens‹, der nicht aufgrund seiner Begabung 579 Mati Unt, Mõned märkused nn. ööteatri kohta. – Theatrum mundi, S. 42-43. 580 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 153. 581 Mati Unt, Mõned märkused nn. ööteatri kohta. – Theatrum mundi, S. 44. 582 Ebd. 583 Ebd. 584 Ebd., S. 44-45.

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oder Ausbildung, sondern aufgrund der Bereitschaft, ins Spiel einzutreten, diese Befreiung erlebt – durch den Prozess etwas über sich erfährt, ›zu sich selbst‹ kommt. Im Rahmen dieser Zielsetzung kann man die Methode der Theatererneuerung mit der psychologischen Therapie vergleichen, den spielbezogenen Wortschatz mit dem psychoanalytischen ersetzen und die Unwissenheit des Spiels den Ausgangsbedingungen des therapeutischen Prozesses gegenüberstellen – man weiß nicht, was in diesem Prozess auftaucht, aber eben dieses Auftauchen definiert das Vorhaben und gibt diesem einen Sinn, der wiederum nur post factum zu verstehen ist. Sogar wenn dieses Verfahren als eine der wichtigsten Grundlagen der Theatererneuerung galt und besonders in der letzten Phase im Vordergrund stand, war die Herausbildung und innerliche Anordnung der Methode jedoch komplizierter, da es auch andere Ansprüche – und andere Unwissenheiten – einbezog, die sich in die Aufnahme und Ausführung des Spiels einmischten. Zum einen ging das Spiel erstmals nicht vom Bedürfnis des Schauspielers – bzw. von der Absicht, ihn zu ›heilen‹ – aus, sondern entstand aus der Frage nach der Funktion des Theaters in der gegenwärtigen Welt. Sogar wenn man während der Suche nach möglichen Antworten auch die Frage selbst auf verschiedene Weisen umformuliert hat und manchmal zur Ablehnung der künstlerischen Rahmung tendierte, wurde der Bezug auf das Theater nie vollkommen aufgegeben. Zum anderen traf infolge dieser künstlerischen Rahmung die persönliche Befreiung des Schauspielers im Spiel auf das Publikum, dessen Rolle in diesem Prozess einerseits als entscheidend erschien (eben das Mitspielen des Publikums hätte das individuelle Spiel des Schauspielers und den Rahmen einer Theateraufführung zusammenbinden können), andererseits immer etwas vage blieb. Durch die Verschmelzung und Interaktion dieser verschiedenen Fragestellungen und durch den Einbezug verschiedener strategischer Vorgänge (Strukturierung, textuelle Verarbeitung der Improvisationen u.a.) hat man das Spiel, das immer als der Kern der Theaterexperimente gesehen wurde, mit vielfältigen Erwartungen und Aufforderungen aufgeladen: Zusätzlich zur persönlichen Befreiung des Schauspielers – und mithilfe dieser Befreiung – sollte das Spiel sich auch inmitten der Zuschauer ausbreiten und dadurch möglicherweise die Funktion des Theaters in der gegenwärtigen Welt aufklären. Die Reflexion und Organisation der spontanen Impulse diente letztlich als Rückkehr zum »freien Spiel« – oder zum Fortschreiten zu »etwas Anderem«, dessen Inhalt und Ausdrucksform jedoch unbestimmt blieben. So hoffte man, dass das Spiel mit allen drei ›Unwissenheiten‹, die die Theatererneuerung in Gang gesetzt und formiert hat – in Betreff der Tätigkeit des Schauspielers, der Rolle des Publikums und der Funktion des Theaters –, seine Wirkung auf verschiedenen Ebenen ausübt bzw. diese Ebenen zusammenbindet und nicht nur das schon Existierende (das Unterdrückte im Schauspieler oder eventuell im Zuschauer) aufdeckt, sondern auch etwas Neues generiert – ein neues Wissen vom Theater oder vom Menschen, eine neue Form der künstlerischen Praxis oder des gemeinschaftlichen Zusammenseins. Interessanter-

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weise wurde dieses in alle Richtungen offene und in jeder Hinsicht destabilisierende Vorhaben mit einem deklarativen moralischen Anspruch unterstützt – das Spiel solle »Respekt vor dem Leben« wecken bzw. ausdrücken. Wie weit man diese Äußerungen auch auslegt, scheint es jedoch, dass das Spiel selbst – sowohl auf der theoretischen als auf der praktischen Ebene – sich bestimmte Grenzen gesetzt hat, einen innerlichen Zensurmechanismus erzeugte: Das, was Unt in der Erläuterung der ideellen Grundlagen der Theatererneuerung als Respekt bezeichnete, nannte er in der Beschreibung der Proben des Nachttheaters »Einigkeitsgefühl« und »Erhaltungsinstinkt«, die den extremen Individualismus immer abgeschwächt haben.585 Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, warum man diese mehrfach aufklärende und verbindende Fähigkeiten dem Spiel zugesprochen hat, wie genau man diese Fähigkeiten aktivieren und in der künstlerischen Praxis umzusetzen versuchte und welche Dynamik zwischen dem Spiel und der ›Unwissenheit‹ in diesem Prozess sichtbar wurde. Einerseits können diese Fragestellungen mit den kontextuellen Bedingungen in Verbindung gebracht werden und ausgehend von der Entwicklung der theoretischen – zwar erweiterten, aber immerhin disziplingebundenen – Ansichten bezüglich des Theaters erläutert werden. Die allgemeinen Wandlungen in der Kultur der 1960er Jahre, die westlichen Vorbilder und die lokale Liberalisierungspolitik bereiteten den Boden für die Reflexion und Überarbeitung der ideellen Grundlagen der künstlerischen Tätigkeit, die sich im Fall der Theatererneuerung aus verschiedenen Gründen besonders stark auf einen der Schüsselbegriffe des Theaters, auf das ›Spiel‹, bezog. In dieser Hinsicht äußerte sich die Unwissenheit erstmals ausgehend von der begrifflichen Bestimmung des Theaters, durch das Hinterfragen seiner eigentlichen – oder möglichen – Inhalte: Man wusste, dass das Theater ›gespielt‹ wird, wusste jedoch nicht, was dieses Spielen bedeutet; man wusste zwar noch immer, dass man Theater macht, aber nicht mehr genau, wozu es dient oder wie es funktioniert. Diese Grundbegriffe wurden somit während des Scheiterns der bisherigen Kenntnisse und Wahrheiten nicht abgelehnt, sondern man hat mithilfe dieser Begriffe ein neues Wissen angestrebt. Unter den verschiedenen Spieldefinitionen hat sich das psychoanalytische Spielkonzept als besonders vielversprechend angeboten, die Aufnahme dieses Konzeptes und dessen Adaption in den künstlerischen Aktivitäten brachte aber unvermeidlich weitere Ungewissheiten mit sich und führte wiederum zur Suche nach einer Methode. Andererseits kann man dieselbe Entwicklungslinie in Bezug auf die Praxis beobachten und den Schwerpunkt nicht auf die aus der intellektuellen Reflexion erwachsenen Umorientierungen, sondern auf die prozess- und erfahrungsbezogenen Entdeckungen legen. Wenn es im »Aschenputtelspiel« und in »Nur ein Lied« noch um ein einstudiertes und fixiertes Spiel ging, brachte vermutlich gerade Hermakülas Fernsehinszenierung »Liebe, Liebe« – wobei der Regisseur die Schauspieler »losgelassen« hat und diese 585 Mati Unt, Öösel toas ja päeval laadal. – Hermaküla, S. 105.

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»gemacht [haben], was sie wollten«586 – etwas zum Vorschein, was überraschend und nicht einfach zu definieren war, etwas, das nicht vorgeschrieben, sondern während des Spiels generiert wurde, als »albern« und »inhaltlich irrelevant« bezeichnet587 oder auch als etwas Produktives und Wertvolles – als ein »echtes Spiel«588 – bestimmt werden konnte, sogar wenn es nicht ganz klar war, was dieses Spiel bedeutet bzw. eben deswegen, dass es geheimnisvoll blieb, aber auf jeden Fall das Ausbrechen aus dem Rahmen der bedrängenden ›Normalität‹ aufwies. Während in »Liebe, Liebe« das spontane irrationale Spiel noch probeweise, halb-bewusst und zufällig erzeugt wurde, setzte das Nachttheater das mutmaßlich tiefste und reinste, ›von Null‹ an entstehende Spiel in den Mittelpunkt und versuchte diesem mithilfe der verschiedenen Techniken (dämmriger Raum, Stille, Liegen auf dem Boden, Konzentration) den Weg zu bahnen. Da sich das Ergebnis nicht im Voraus theoretisieren ließ, wurde im Rahmen der Suche nach einer Methode die Unvorhersehbarkeit selbst ausgelegt und legitimiert – der Sinn des Spiels ergebe sich gerade aus der absoluten Offenheit für alles, was das Spiel hervorbringt. Man kann vermuten, dass die Aufarbeitung der theoretischen Ansichten und die erfahrungsbezogenen Entdeckungen sich in der Herausbildung der Theatererneuerung gegenseitig beeinflussten und widerspiegelten. Darüber hinaus lassen sich aber auch einige Widersprüche bzw. innerliche Dispute zwischen den verschiedenen theorie- und praxisbezogenen Positionen feststellen, von denen hierbei besonders die in Bezug auf die ›Unwissenheit‹ von Interesse sind. Einerseits (in Vahings Überlegungen zur »Liebe, Liebe«) hat man das Spiel als einen Gegensatz zur gesellschaftlichen Kontrolle und als einen befreienden Zustand verstanden, der in der Unwissenheit besteht, sich dadurch manifestiert und weder zu etwas Anderem führen noch rationalisiert werden muss. Das Spiel und die Unwissenheit wären hiermit als überlagernde Kategorien zu betrachten: Das Spielen bedeutet, dass man sich auf die Unwissenheit einlässt, die Unwissenheit wiederum führt zum Spiel bzw. aktiviert die spielerischen Impulse. Andererseits (in der Methodik des Nachttheaters) galt das Spiel eher als ein Prozess, in dem man sich zwar auf die Unwissenheit einlässt, aber durch den diese Unwissenheit auch verringert werden muss, wenn man mithilfe des Spiels etwas über sich erfährt, kleinere oder größere Entdeckungen macht. In dieser Hinsicht wäre das Verhältnis zwischen dem Spiel und der Unwissenheit als eine dynamische Interaktion zu beschreiben: Je mehr man spielt, desto mehr erfährt man. Jedoch handelt es hierbei nicht um einen kongruenten, von Fragen und Antworten bestimmten Prozess, sondern die Unwissenheit selbst wird erstmals im Spiel aufgedeckt und man weiß nie genau, was das Spiel zum Vorschein bringt. 586 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 140. 587 Vgl. Vaino Vahing, Ainult mängust. (1969) – Hermaküla, S 11. 588 Ebd.

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Wenn Huizinga dem Spiel »das Spannungselement« und »Ungewissheit« zusprach589 und Caillois das »ungewisse Ende« als ein charakteristisches Merkmal des Spiels sah,590 waren damit vorübergehende Zustände und Situationen gemeint, die innerhalb der Spielrealität entstehen, von deren Bedingungen bestimmt sind, ein komplexes Verhältnis zwischen der Ernsthaftigkeit und Fiktionalität im Spiel aufweisen (die Spannung ist ›echt‹, sogar wenn deren Gründe fiktional sind), aber nicht die Spielrealität definieren bzw. nicht zu den konstitutiven Faktoren, sondern zu den sekundären Kennzeichen des Spiels gehören. Diese Kategorien bzw. Ausdrucksformen der Unwissenheit begleiten und gestalten den Vorgang des Spiels, die innerliche Dynamik dieses Vorgangs (so wie Huizinga und Caillois es darstellen) setzt aber auch eine eventuelle Auflösung dieser Kategorien voraus, die wiederum das Ende des Spiels bedeutet; diese Auflösung findet an der Grenze des Spielraumes statt und leitet den Weg aus dem Spiel heraus. In dieser Hinsicht wäre die an das Spiel gebundene Unwissenheit als eine Mischung von fiktionaler und eigentlicher Unwissenheit zu betrachten. Einerseits weiß man im Spiel immer, dass dies ›nur ein Spiel‹ ist, in dem alle Positionierungen und Kenntnisse den Spielenden von einer imaginären Realität zugewiesen sind – das Bewusstsein des Spiels liegt somit allen Unwissenheiten zugrunde. Andererseits bringt dieses generelle Unterscheidungsvermögen nicht unbedingt die Fähigkeit mit sich, den Ablauf des Spiels vorauszubestimmen und zu kontrollieren, mit sich und man weiß häufig nicht, was im Spiel passieren wird, wozu es führt und wie es endet. Auf eine andere Weise kann die Dynamik des Spiels und der Unwissenheit mithilfe Gadamers hermeneutischer Überlegungen zum Spiel beleuchtet werden. Ausgehend von diesen Erläuterungen äußert sich die Kategorie der Unwissenheit – als einer der bedeutenden Faktoren im Spiel – nicht in erster Linie dadurch, dass man nicht weiß, was passieren wird, sondern dadurch, dass man – sogar wenn man sich des Spielens bewusst ist – zugleich nicht wirklich weiß, was dieses Bewusstsein beinhaltet und bedeutet: »Der Spielende weiß wohl, was Spiel ist, und daß [das], was er tut, ›nur ein Spiel ist‹, aber er weiß nicht, was er da ›weiß‹«.591 Die Unwissenheit betrifft somit den Prozess des Spiels im Ganzen und kann nicht aufgelöst werden, sondern bestimmt diesen Prozess. In diesem Rahmen wäre das Spiel nicht vor allem als eine Handlung, sondern als ein beweglicher Zustand zu denken (der zwar einen Dialog mit dem Bewusstsein führt, aber nicht vom Bewusstsein ›umschlossen‹ und festgehalten werden kann), wobei der Gegensatz zwischen dem spielendem Subjekt und gespieltem Objekt bzw. des Spiels verwischt wird und »die

589 Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 19. 590 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, S. 16. 591 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, S. 107-108.

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Seinweise des Spieles« nicht zulässt, dass »sich der Spielende zu dem Spiel wie zu einem Gegenstande verhält«.592 In der Betrachtung der frühen Happenings estnischer Künstler kann man diese zwei Herangehensweisen an die Unwissenheit im Spiel bzw. die Auslegungen der Seinweise dieser Unwissenheit vergleichen und die dadurch entstandene Perspektive der Analyse miteinander verbinden. Einerseits wusste man in den Happenings nicht ganz genau, was passieren wird. Zum Teil hat man sich bewusst auf diese Unwissenheit eingelassen und war offen gegenüber allen möglichen Verläufen, zum Teil wurde auf ein bestimmtes Ergebnis gezielt, dessen Erreichen aber misslungen ist und dieses Scheitern zu einem anderen Resultat führte; manchmal entstand während des Happenings auch etwas, womit man nicht im Voraus rechnen konnte. Andererseits lässt sich die Dynamik einiger künstlerischer Aktionen mithilfe der grundlegenden Unwissenheit beschreiben, wobei man zwar weiß, was man macht, aber nicht das, was man eigentlich dabei weiß. Die unerwarteten Wendungen oder Abweichungen von geplanten Szenarien kamen in den Happenings mehrmals vor, sowohl aus technischen Gründen 593 als auch wegen irrtümlicher Einschätzungen oder durch Unvorsichtigkeit. Beispielsweise war in »Reigen von Cremona« vorgesehen, dass zwei Gruppen von Musikern nacheinander dasselbe Musikstück (eine Trisonate von Georg Telemann) spielen – eine Gruppe war sehr gut vorbereitet, der anderen wurden die Noten vor Ort vorgelegt.594 Die Idee war, dass diese Gegenüberstellung der höchsten Perfektion und der äußersten Unbeholfenheit »sehr witzig sein wird«, aber die unvorbereitete Gruppe habe unerwartet gut gespielt, das Publikum habe »nichts verstanden« und verwirrt nach der Bedeutung dieses Doppelspiels gesucht.595 Auch dass die Geige am Ende des Happenings in Brand geraten ist, sei keineswegs geplant gewesen, sondern völlig aus Versehen passiert, als man verschiedene Objekte – darunter auch die Geige und die Wunderkerzen, die angezündet wurden – auf eine Wäscheleine aufgehängt hat; immerhin erlangte das Ereignis durch diesen Unfall ein gänzlich neues Finale, wobei die Geige ins Wasch592 Ebd., S. 107. 593 Enno Ootsing hat ein Happening beschrieben, in dem man ein Hocker in die Mitte des Raumes gestellt wurde und Klebestreifen diesen Mittelpunkt mit dem Publikum verbinden sollte – die Streifen sollten einerseits zum Hocker, andererseits zum Boden unter den Fußen der Zuschauer befestigt werden, so dass ein »strahlender Hocker, wie die Sonne« entsteht. Der Boden sei aber schmutzig gewesen, der Klebestreifen hielt nicht und das Vorhaben sei misslungen. Videointerview mit dem Künstler Enno Ootsing in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 594 Videointerview mit dem Musiker Toomas Velmet in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 595 Ebd.

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becken versenkt werden musste.596 Bei der Festnahme der Beteiligten von »Papiere in der Luft« lässt sich natürlich fragen, inwieweit ein derartiger Ausgang völlig unvorhersehbar war und in welchem Maße es sich um eine (halb-)bewusste Provokation handelte; laut Leonhard Lapin hatte man damit jedoch nicht gerechnet597 und häufig konnte man das Verhalten der Behörden nicht genau vorhersehen. Sowohl in »Papiere in der Luft« als auch in den vielen sog. Alltagshappenings kann man auch eine andere Art der Unwissenheit annehmen, wobei alle Grundlagen, Rahmungen, Ziele und Bedeutungen jeglicher Aktivität sehr beweglich, fast unbestimmbar waren. Laut der retrospektiven Betrachtungen der Künstler habe man für einige Jahre (am Ende der 1960er) »innerhalb des Happenings gelebt«598 und »absurde Elemente« in der alltäglichen Kommunikation benutzt.599 Laut Lapin sind die verschiedenen Aktionen am Anfang vollkommen spontan entstanden und wurden später bewusst initiiert, allerdings sei es häufig so gewesen, dass die Happenings »geplant waren und auch nicht [geplant]«.600 Die Zusammenkunft und die Verflechtung des Künstlerischen mit dem Alltäglichen (das Leben ›innerhalb des Happenings‹), eine Mischung der im Rahmen der künstlerischen Zielsetzungen vorgenommenen Aktivitäten und der aus den kontextuellen Bedingungen entstandenen Verhaltensformen, die in den einzelnen Ereignissen voneinander kaum trennbar waren, brachte wahrscheinlich auch ein Scheitern des Bewusstseins mit sich, wobei sich kein ›Wissen‹ bezüglich des Geschehens festhalten ließ; möglicherweise wäre eben dadurch der spielerische Charakter der künstlerischen Prozesse und Erscheinungen am ausdrücklichsten zu beleuchten. In der Betrachtung der Unwissenheit im Spiel oder bezüglich des Spiels muss man natürlich verschiedene Ebenen und Ausdrucksweisen – im Hinblick auf den Inhalt und auf das Subjekt dieser Unwissenheit – detaillierter unterscheiden; sowohl die Unvorhersehbarkeit des Geschehens (man weiß nicht, was passiert) als auch die Unbestimmtheit der Tätigkeiten (man weiß nicht, was man macht) können in mehrfacher Hinsicht präziser untergliedert und mithilfe der konkreten Aktivitäten erläutert werden. Vor dem Hintergrund der kontextuellen Bedingungen kann diese Unwissenheit mit den Versuchen, die Grenzen zwischen dem Erlaubten und Verbotenen auszutesten, in Verbindung gebracht werden. Einige Happenings waren anscheinend vom neugierigen Ausprobieren zwischen Irritieren und Vorsichtigkeit geprägt: Es ging nicht so sehr darum, was genau man macht und was das bedeuten mag, sondern eher darum, wie die offiziellen Kontrollorgane darauf reagieren (oder nicht reagieren). Für eine gewisse Zeit während der 2. Hälfte der 1960er Jahre war 596 Ebd. 597 Interview mit Leonhard Lapin von Mari Laanemets, März 2003. [Transkription]. 598 Ebd. 599 Krista Kodrese intervjuu Vilen Künnapuga. – Maja 3, 2001, S. 55-56. 600 Interview mit Leonhard Lapin von Mari Laanemets, März 2003. [Transkription].

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das System relativ flexibel und diese Flexibilität (man weiß nicht genau, was zu erwarten ist) hat mitunter verschiedene spielerische Praktiken hervorgerufen. Die Unwissenheit betraf in diesem Fall das Äußerliche, das die Spielenden angesprochen haben, aber nicht direkt beeinflussen konnten. Bei den Experimenten des Nachttheaters handelte es sich, im Gegenteil, um die Unwissenheit bezüglich des Spielenden selbst und um die Erkenntnis, dass man sich selbst nicht kennt – dass man im alltäglichen Leben nicht ›selbst‹ ist. Dies war der Hauptfaktor, der das Spiel in Gang gesetzt hat, um zu untersuchen, welche Impulse und Visionen im Prozess der Befreiung von vorgeschriebenen Verhaltensweisen aufgedeckt werden könnten. Jedoch wurden die im Spiel zum Vorschein kommenden Inhalte immer sowohl mithilfe der Selbstzensur kontrolliert als auch durch die künstlerische Strukturierung in einen Rahmen gesetzt. Neben diesen zwei dialektischen Auffassungen der Unwissenheit – bezüglich des Äußerlichen und des Innerlichen – kann diese Kategorie im Zusammenhang mit dem Spiel in den Happenings und in der Theatererneuerung auch in anderen Hinsichten analysiert werden. Bei den Happenings war es häufig im Allgemeinen nicht ganz klar, wozu diese Form des künstlerischen Ausdrucks führt oder wozu sie dienen sollte, die Theatererneuerung wurde vom Zweifel sowohl an der Funktion des Theaters im Ganzen als auch an den konkreten Arbeitsweisen und deren Ergebnissen geprägt. Darüber hinaus trafen die künstlerischen Aktivitäten auf die Unwissenheit der Zuschauer bzw. der zufälligen Besichtiger, die das, was sie gesehen haben, oft nicht einordnen konnten und deren Reaktion dementsprechend nicht immer vorhersehbar war. Insbesondere öffentliche Aufführungen der Experimente des Nachttheaters lassen die Komplexität und Interaktionen der Unwissenheit – auf verschiedenen Ebenen und in Verbindung mit verschiedenen Subjekten – erkennen. Zunächst wussten weder die Schauspieler noch der Regisseur, was genau in den Proben passiert und entsteht, ob und wie das Ergebnis dem Publikum präsentiert werden kann und welche Inhalte es vermitteln wird. Nach der Strukturierung und Anordnung der Improvisationen in der letzten Phase der Proben erreichte man einen mehr oder weniger fixierten Zwischenstand, der als Ausgangspunkt der öffentlichen Aufführung galt; das Ziel der Aufführung war aber wiederum das Scheitern dieser Fixierung, wobei möglicherweise in Bezug auf die neue Situation bzw. die Anwesenheit der Zuschauer etwas Neues entstehen konnte. So wie die Schauspieler nicht wussten, wie das Publikum reagieren wird, wusste auch das Publikum nicht, was ihm durch diesen ungewohnten und nicht ganz verständlichen Auftritt vermittelt werden sollte und was man von ihm diesbezüglich erwartete. Zum Schluss wurde auch nicht klar, ob man das ganze Geschehen optimistisch (wie Unt) als einen bedeutenden Anfang der Neupositionierung des Theaters in der gegenwärtigen Gesellschaft einschätzen sollte oder pessimistisch (wie Allik) als einen misslungenen Versuch der Erneuerung, der eigentlich nur zur Verwirrung und in eine kommunikativen Sackgasse führte.

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Im Hinblick auf den spielerischen Charakter der verschiedenen Konstellationen, die man im Laufe des oben beschriebenen Prozesses beobachten kann, lässt sich ein spiralförmiges Bewegungsmuster verfolgen, das von einem Rhythmus der wiederholten Aufnahme, der sporadischen Entfaltung und des anschließenden Auslaufens des Spiels bestimmt war. Der Mittelpunkt des Spiels kann hierbei mindestens zweifach verstanden werden. Man kann annehmen, dass das Spiel – der befreiende, aufklärende, produktive Handlungsmodus, den man angestrebt hat – sich in einigen Momenten während der Proben oder auf der Bühne ereignete und diejenigen, die daran unmittelbar teilhatten, zu den persönlichen oder gemeinschaftlich bedeutenden Erlebnissen oder Erkenntnissen führte. Andererseits kann man vermuten, dass das Spiel eben da anfing, wo sich in den Zustand der Befreiung bzw. des Rausches des Schauspielers die rationalisierenden, kontrollierenden Impulse einmischten und aus diesem Zusammenstoß eine spielerische Interaktion entsprang. Sowohl die Theatererneuerung als auch die Happenings wurden wesentlich von der Suche nach den Umgangsweisen mit der Unwissenheit geprägt. Diese Suche äußerte sich am deutlichsten im Prozess der retrospektiven Verarbeitung der im Spiel entstandenen Vorgänge, die entweder unmittelbar dem Spiel folgte (Nachttheater) oder später (Happenings) vorgenommen wurde und als eine Zwischenphase an das eventuelle Fortführen des Spiels strebte oder zur generellen Konzeptualisierung des Geschehens diente. Neben dem Anspruch auf eine retrospektive Sinngebung kann man besonders vor dem Hintergrund der zeitlichen Entwicklung der Theatererneuerung und der künstlerischen Aktionen auch eine zunehmende, paradoxe Tendenz zur Verkopplung der Unwissenheit und Rationalisierung feststellen, wobei diese nicht mehr als nacheinander folgende Etappen zu unterscheiden waren. Einerseits hat man im Laufe der Zeit immer mehr das freie Spiel in den Vordergrund gerückt und im Voraus gesetzten Rahmen der Handlungen abgelehnt, andererseits wurde man sich während dieser Orientierung immer mehr des Spielens und dessen möglicherweise produktiven Potentials bewusst; sowohl im Nachttheater als auch in einigen Happenings (»Papiere in der Luft«, »Week-end in Vääna«) wurde das Spiel dokumentiert und festgehalten. Sogar wenn der Dokumentar sich außerhalb des Spiels befand, waren die Spielenden sich seiner Anwesenheit bewusst und es handelte sich unvermeidlich auch um die Darstellung der Impulsivität und der Befreiung im Spiel, die aber von möglichen Momenten des Rausches oder von zufälligen Ereignissen nicht deutlich zu trennen waren, sondern im fließenden Wechsel von spontanen und kontrollierten, reflexiven Zuständen – der Unwissenheit und der Bewusstheit – die Dynamik des Spiels ausprägten. Als Mati Unt vom Spiel das Erwachen des Respektes vor dem Leben forderte, jedem Schauspieler – jedem Spieler – die Fähigkeit zusprach, diesen Respekt hervorzurufen, und die Bedeutsamkeit des spielenden Menschen mit den raffinierten textuellen (literarischen) Ergebnissen der kulturellen Produktion gleichstellte, schloss er sowohl an eine instinktive, prä-verbale Ebene des menschlichen Daseins

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als auch an das Unbewusste des jeweiligen Spielers an. Der Respekt vor dem Leben solle somit nicht nur dadurch geweckt werden, was man über das Leben bzw. über den Menschen weiß, sondern ebenso dadurch, dass es vieles gibt, was man nicht weiß, was aber nicht weniger wichtig, nicht weniger grundlegend ist (möglicherweise im Gegenteil) und womit man mithilfe des Spiels in Kontakt treten kann. Zum einen wurde das Spiel als ein Prozess der Öffnung und als Erweiterung des Feldes des Wissens wahrgenommen. Jedoch konnte das Spiel im Ganzen nicht zur Aufdeckung zurückgeführt werden, sondern brachte neben den kleineren oder größeren Entdeckungen immerhin auch die Inhalte zum Ausdruck, die sich nicht unbedingt in ein neues Wissen übersetzten ließen, sondern sich vor der Rationalisierung verschlossen. Zum anderen war das Spiel somit eine Auseinandersetzung mit dem Unbekannten bzw. eine Bewältigungsform der Unwissenheit, mit der man sich konfrontierte, der sich spielerisch begegnen ließ, die aber nicht aufzulösen war. Neben diesen funktionalen Betrachtungen und Umsetzungen des Spiels – in Hinsicht auf die Aufklärung, als ein Weg zur Befreiung oder als eine Quelle der neuen kreativen Impulse – wurden die künstlerischen Praktiken (besonders die Theatererneuerung) ausgehend von der Unwissenheit bezüglich des Spielphänomens in Gang gesetzt, das eben wegen seiner Rätselhaftigkeit eine hohe Anziehungskraft aufwies. Der Kern der Theatererneuerung war laut Hermaküla der »Wille zum Spiel«601 – nicht der Wille, die Rolle des Theaters in der gegenwärtigen Gesellschaft herauszuarbeiten, oder der Wunsch, die Mitglieder der Truppe zu heilen, sondern einerseits der Wille, dem Spieldrang nachzugehen und sich darauf vollkommen einzulassen, andererseits die Absicht, den Prozess des Spielens zu untersuchen, zu zerlegen, dessen tiefste Schichten zu öffnen, sogar wenn jedes mithilfe dieser Untersuchung erreichte Wissen sich als relativ und begrenzt erwies. In den künstlerischen Aktionen kann man eine ähnliche Verknüpfung des Willens zum Spiel und Willens zum Verstehen des Spiels in einer rohen, weniger integrierten und weniger reflektierten Form beobachten. In diesem Fall war es anscheinend die Spaltung zwischen diesen zwei Motivationen – zwischen dem Drang, das Spiel zu erleben, und dem Anspruch auf Konzeptualisierung –, die die Unsicherheit bezüglich der ganzen Tätigkeit mit sich brachte, da diese Konzeptualisierung aus den disziplinbezogenen (mit visuellen und räumlichen Künsten gebundenen) Gründen häufig von Diskursen ausging, in denen die Kategorien des ›freien‹ Spiels – im Sinne der körperlichen Handlungen und psychischen Zustände – sich nicht ganz fließend einbinden ließen. Jedoch kann man sowohl bei der Theatererneuerung als auch bei den Happenings sagen, dass innerhalb der vorgenommenen Aktivitäten die konkreten Unwissenheiten bezüglich des Ablaufs des Ereignisses (man weiß nicht, was passiert) und bezüglich dessen spezifischer kultureller Bedeutung (man weiß nicht, wie genau diese Tätigkeit sich zur 601 Vaino Vahing, Noor Unt. Loomingu Raamatukogu Nr. 1–3, Tallinn: Perioodika, 2004, S. 69.

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künstlerischen Praxis verhält) sich immer in einer Interaktion mit der grundlegenden Unwissenheit bezüglich des Spielphänomens befanden und dass eben diese Interaktion einer der bedeutendsten und interessantesten Faktoren in der Herausbildung der spielerischen künstlerischen Phänomene war.

4.4 D IE ANTISTRUKTUR Die einzige Dokumentation des zweiteiligen Theaterabends, der im Dezember 1966 in der Aula der Tallinner 21. Oberschule stattfand, ist die vom damaligen Kunststudenten (und Mitglied der Gruppe ANK) Jüri Arrak gestaltete Einladungskarte. Die abstrakte Darstellung auf der in Linolschnitt-Technik geschaffenen schwarz-weißen Karte ähnelt teilweise einem biomorphen Organismus, teilweise entwickelt sich auf der Bildfläche eine ornamentartige Struktur. Die Abbildung bedeckt die Vorderseite der Karte, dehnt sich auf die Rückseite aus und ist vom Papierrand ›abgeschnitten‹ – offensichtlich handelt es sich um ein Objekt, dessen größter Teil sich außerhalb des Bildes befindet. Auf der Innenseite der Einladungskarte ist mit dem Bleistift Ort und Zeit der Aufführung notiert (in der Raua-Schule602 am 1. Dezember 1966 um 23 Uhr). Der Titel und die Beteiligten der beiden Teile des Ereignisses – Samuel Becketts »Sõnadeta tegevus« (Akt ohne Worte)603 und »Instrumentaalteater« (Instrumentaltheater)604 – sind ebenfalls abgedruckt, daran ist eine kurze Einführung zu Beckett angeschlossen, die nach der Angabe der biographischen Daten und der Nennung einiger Romane und Theaterstücke mit der Feststellung endet, dass Becketts Dramatik »zur Avantgarde oder zum Antitheater zugeordnet wird«.605 Die Initiative für den gemeinsamen Theaterabend der Kunst- und Musikstudenten sei von dem Musiker Arbo Valdma ausgegangen,606 die Räumlichkeiten hat man mithilfe Bekannter der Beteiligten organisiert.607 Trotz der festgestellten Anzahl der Beteiligten auf der Einladungskarte waren laut verschiedener Aussagen bei den beiden Teilen des Theaterabends sowohl auf als auch hinter der Bühne viele andere Musik-, Theater- und Kunststudenten beschäftigt. Offiziell fand die Aufführung im Rahmen der Tätigkeit des Wissenschaftlichen Studentenvereins des Kunstinstituts 602 Die 21. Oberschule befindet sich in der Raua Strasse. 603 Die Beteiligten waren die Künstler Jüri Arrak, Dichter Andres Ehin, Übersetzer Tõnu Kõiv, Musiker Tarmo Lepik. 604 Die Beteiligten waren die Musiker Mart Lille, Ivalo Randalu, Lille Randma, Kuldar Sink und Toomas Velmet. 605 Einladungskarte zum Theaterabend in der 21. Oberschule am 1.12.1966, im Besitz des Künstlers Jüri Arrak. 606 Videointerview mit dem Künstler Enno Ootsing in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 607 Interview mit dem Künstler Jüri Arrak am 31.10.2006. [Transkription].

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statt und wurde dementsprechend mit der Rede von der damaligen Lehrkraft für Philosophie, Rudolf Sarap, eingeleitet. In der etwas vorsichtigen Ansprache habe Sarap die Studenten zur »Vernunft« aufgerufen und zur Reflexion auf die Rolle und Aktivitäten des Wissenschaftlichen Studentenvereins aufgefordert.608 Der genaue Ablauf des Ereignisses lässt sich sowohl wegen der verschwommenen Erinnerungen als auch wegen der ziemlich chaotischen Aktivitäten nicht ganz präzise rekonstruieren, jedoch kann man die Grundzüge der beiden Teile angeben. Im »Akt ohne Worte« ging es um eine Improvisation auf der Grundlage des Textes von Beckett, der Hauptdarsteller sei der Übersetzter Tõnu Kõiv gewesen, die Anderen waren »Strippenzieher« hinter der Bühne, haben »Dinge aufgehängt« und waren am Ende des Abends auch selbst aufgetreten.609 Laut dem damaligen Theaterstudenten Tõnu Tepandi (der einige Jahre später bei der Inszenierung »Nur ein Lied« mitmachte) sei das Ganze eine Art Happening oder Performance gewesen, als Theater könne man es nicht bezeichnen; die Gesichter und Schuhe der Beteiligten seien weiß gefärbt, alle Handlungen zeitlich genau abgestimmt gewesen (wie es Beckett gefordert habe) und man habe mit leidenschaftsloser Stimme den Text vermittelt610 – der Text des Schauspielers ist bei Becketts Stück (das nur aus Hinweisen zur Handlung besteht) allerdings nicht vorhanden. Die Handlungen des »Instrumentaltheaters« ähnelten sich vermutlich dem ›Experimentalkonzert‹, das in der Zusammenarbeit von Musik- und Kunststudenten im Jahr 1965 organisiert wurde611 sowie dem Happening »Reigen von Cremona«. Das Experimentalkonzert war als eine vierteilige Aufführung aufgebaut. Als Ausgangspunkt galt – wie häufig bei den Aktivitäten der jungen Musiker – ein klassisches Musikstück, das man aber im Laufe der Aktion verarbeitet, zerlegt und verkehrt hat; diesmal ging es um ein Stück von Bach, das im ersten Teil vorwärts und rückwärts vorgespielt wurde.612 Im zweiten Teil habe man unter Begleitung des mehrstimmigen, »etwas atonalen« Gesangs und einer aus verschiedenen Klängen bestehenden 608 Videointerview mit dem Künstler Enno Ootsing in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. 609 Die Schnurzieher waren laut Schauspieler (damals Student) Kaarel Kilvet Theaterstudent Väino Uibo, Kunststudent Jüri Arrak und er selbst. Andres Laasik, Kaks teatriutoopiat: 1960. ja 1970. aastate teatriuuendus Eestis ja Soomes – kaks paralleelset kultuuriilmingut, S. 12-13. 610 Tõnu Tepandi. (Interview.) – Lavakooliraamat, S. 225. 611 Laut dem Programmblatt fand das Ereignis am 31.10.1965 im Rahmen der Tätigkeit des Wissenschaftlichen Studentenvereins statt; Programmblatt des Experimentalkonzertes im Besitz des Künstlers Jüri Arrak. 612 Videointerview mit dem Künstler Enno Ootsing in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«. Vgl. Enno Ootsing, Peegelpilt. Tallinn: Ausgabe des Autors, 2010, S. 71-73.

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Stimmenkulisse (die vorher aufgenommen waren) einige Handlungen durchgeführt, beispielsweise habe eine junge Frau den abgenommenen Vorhang auf die Bühne gebracht, ihn zunächst aufgerollt und dann wieder zusammengefaltet.613 Im dritten – ruhigen, etwas »irrealen« – Teil ging es um eine minimalistische Bewegungskomposition, die zwei »surrealistisch« kostümierte Frauen vor dem musikalischen Hintergrund vorgetragen haben, im vierten Teil haben die jungen Musiker im Rang der Aula die Töne und Klänge erzeugt und die jungen Künstler die »Abstraktionen« auf die Wände neben der Bühne projiziert.614 Einer der Zuschauer des Theaterabends in der 21. Oberschule, Boris Bernstein – Kunstwissenschaftler und damalige Lehrkraft im Kunstinstitut – hat sich an das Ereignis als »eine erschütternde Aufführung« erinnert: Die Absurdität der wortlosen plastischen Handlungen habe ein Geheimnis verborgen und die Aufführung sei möglicherweise die erste Proto-Performance in Estland – oder in der ganzen Sowjetunion – gewesen.615 Auf eine komplexe und interessante Weise bringt der Theaterabend die verschiedenen antistrukturellen Tendenzen in den Künsten der 1960er Jahre, deren Hintergründe und Ausgangspunkte zum Vorschein und lässt diese unter anderem im Zusammenhang mit den kontextuellen Bedingungen diskutierbar werden. Diese antistrukturellen Tendenzen werden hierbei als Phänomene gedacht, die den verschiedenen gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen, kulturellen Strukturen und Normen gegenüberstehen, aber keinen direkten Gegensatz zu ihnen bilden, sondern sich in einem flexiblen Zwischengebiet entfalten, in dem alles auseinandergenommen und in Bewegung gesetzt, aber nichts festgestellt wird. Erstens kann man diese Erschütterung der vorgegebenen Rahmungen und Grundlagen in institutions- und disziplinbezogner Hinsicht erläutern. Die Studenten der verschiedenen künstlerischen Fachrichtungen sind auf Eigeninitiative und außerhalb der offiziellen Studienräume zusammengekommen und haben eine Veranstaltung organisiert, die die Kenntnisse und Erfahrungen aus verschiedenen Disziplinen gekoppelt hat, aber zu gleicher Zeit – und durch diese Koppelung – die in jeder einzelnen Disziplin geltenden Bestimmungen und Konventionen hinterfragte. Das Ereignis kann sowohl als eine Theateraufführung, als ein Konzert oder auch als eine künstlerische Aktion bezeichnet werden, jedoch entsprach es offenbar keinen offiziell festgelegten Richtlinien des jeweiligen künstlerischen Fachbereichs. Dabei erfolgte die Auseinandersetzung mit den allgemeinen kulturellen Konventionen und konkreten ideologischen Erfordernissen, die im Rahmen des Theaterabends vorgenommen wurde, in Bezug auf jede einzelne künstlerische Disziplin unterschiedlich und brachte deren Spezifika, deren Grenzen und Entwicklungsmuster in diesem Kontext zum Ausdruck. Im Hinblick auf das Theater lehnte »Akt ohne Worte« na613 Ebd. 614 Ebd. 615 Boris Bernstein, Vana kaev. Tartu: Atlex, 2009, S. 263.

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türlich den im offiziellen Theater dominierenden psychologischen Realismus ab, wies aber keineswegs die Verwandtschaft mit der ein paar Jahre später begonnenen Theatererneuerung auf, sondern kann mit den Aufführungen des Studententheaters im Kunstinstitut verglichen werden. Die strukturelle Abrissarbeit ging in beiden Fällen einerseits von dem Text bzw. von Aufbau, Dynamik, Inhalt des absurden Dramas aus und wurde somit mithilfe der Entwicklungen innerhalb des Theaters hervorgerufen. Andererseits war der Umgang mit dem Text hierbei gleichermaßen bedeutsam; die Herangehensweise an den Text unterscheidet diese frühen und nicht-professionellen Auslegungen des absurden Dramas von späteren Inszenierungen im professionellen Theater. Sowohl bei »Akt ohne Worte« als auch bei den Aufführungen des Studententheaters handelte es sich nicht um eine möglichst präzise Vermittlung der Inhalte und der Atmosphäre des Textes, sondern man hat die einzelnen Haltungen des Textes, dessen Stimmungen und Rhythmen übernommen und diese anschließend auch gegen den Text selbst verwendet. Gerade der lockere – unverantwortliche – Umgang mit dem Text-Material (und dessen eventuelle Ablehnung), sowie auch das generelle Verfahren, bei dem man einen fast konventionellen Rahmen für eine Theateraufführung schuf, aber die Aufführung selbst durch ein Narrenspiel ersetzte, könnte hierbei als ein antistruktureller Vorgang in Hinsicht auf den institutionellen Theaterbegriff bezeichnet werden. Bei den Aktivitäten der jungen Musiker lässt sich ein ähnliches Schema feststellen – man hat alles, was zu einem konventionellen Konzert der klassischen Musik gehört, in Anspruch genommen, jedoch jedes Element dekonstruiert, sodass sie insgesamt kein Ganzes mehr bildeten, sondern sich als eine Reihe entfremdeter und mutierter Einzelteile einer verlorenen Einheit abspielten. Im Hinblick auf die visuelle Kunst brachte der Theaterabend die Subversivität bezüglich des strukturell Normativen allerdings auf eine andere Weise zum Ausdruck – er ging nicht von der Dekonstruktion vorgegebener Mittel und Formen aus, sondern basierte auf der Abwendung von disziplingebundenen Techniken, auf der Ablösung der angestrebten, mitunter schon erworbenen Professionalität in einem bestimmten Bereich (was den Musikern und Schauspielern bei den Bühnenaktivitäten immerhin zur Verfügung stand, sogar wenn die professionellen Kenntnisse demonstrativ ›vergessen‹ wurden), auf der grundlegenden Erweiterung des Handlungsfeldes des Künstlers. Somit kann man die antistrukturellen Zwischengebiete, die während des Theaterabends in der 21. Oberschule und in anderen gemeinsamen und interdisziplinären Aktivitäten der Studenten aus verschiedenen künstlerischen Fachrichtungen geschaffen wurden, nicht durch die eindeutigen Gegenüberstellungen oder durch eine dominierende, homogene und gezielte Herangehensweise an die institutionellen Strukturen charakterisieren, sondern diese müssten eher in Bezug auf die sporadischen, teils instinktiven und zufälligen Bewegungen beschrieben werden. Man spielte innerhalb der Strukturen, an der Grenze der Strukturen, mit den Strukturen und um die Strukturen, ohne dass jegli-

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che in diesen Auseinandersetzungen entstandene Positionierung den Anspruch auf eine endgültige Feststellung hatte. Neben den institution- und disziplingebundenen antistrukturellen Tendenzen lässt sich beim oben betrachteten Theaterabend der subversive Drang auch in anderen Hinsichten und auf anderen Ebenen beobachten und ermöglicht es, sowohl spezifischere und detailliertere als auch breitere, kontextgebundene Erläuterungen auszuarbeiten. Im Vergleich der beiden Teile des Theaterabends – und vor dem Hintergrund der anderen Experimente in der Kunst und im Theater – kommen zum einen bedeutende strategische Grundzüge des Aufbaus und Ablaufs des Ereignisses zum Ausdruck. Beim »Akt ohne Worte« wurde dieser Ablauf vom Text vorgegeben, das Instrumentaltheater wurde zwar von anderen Vorbildern bzw. vom Auftritt von John Cage und Merce Cunningham inspiriert, entwickelte aber einen relativ ähnlichen Rhythmus wie die Beckett-Aufführung bzw. wiesen das absurde Drama und die frühen Happenings in mancher Hinsicht Parallelen auf.616 In beiden Fällen ging es um eine Reihe mechanisch aufeinander folgender, wiederholter, abgebrochener, zu nichts führender Handlungen, die kein Narrativ und keinen sinngebenden Endpunkt erzeugten und sowohl von den Beteiligten als auch von den Zuschauern den Verzicht auf bisher strukturierte Kenntnisse bezüglich der Absichten und Wirkungsmechanismen der künstlerischen Praxis verlangten, ohne eine konsequente Alternative anzubieten. Zum anderen äußerte sich die Subversivität hinsichtlich der etablierten Formen des künstlerischen Ausdrucks in Bezug auf die einzelnen Elemente der Aufführung – auf die Verbalität und die Stimme, auf die Materialität und Objekthaftigkeit. Der allgemeine Umgang mit der Sprache – die Ablehnung oder demonstrative Entleerung der Worte – in den Happenings und im Studententheater lässt sich mit der ausdrücklichen ›Antiliterarität‹ der Theatererneuerung vergleichen und sowohl vor dem Hintergrund des Einflusses des Existenzialismus als auch des sowjetischen Kontextes als eine Manifestation des Misstrauens gegenüber der Sprache fassen – als Entgegensetzung zur Rationalisierung der modernen Gesellschaft, als Streben nach prä-verbalen Zuständen, denen eine größere Authentizität zugemutet wurde. Die Behauptung, dass im »Akt ohne Worte« dennoch der Text vermittelt würde, deutet jedoch eine gewisse Ambivalenz an und kann möglicherweise mit den Einstellungen der jungen Künstler (oder der sowjetischen Intellektuellen) in Verbindung gebracht werden – mit der Annahme der Irrationalität war häufig eine paradoxe Neigung zur Sinngebung verbunden (wie indirekt und vage dieser Sinn sich auch offenbaren mochte), eine Suche nach dem ›verborgenen Geheimnis‹. Das Verfahren im »Instrumentaltheater«, in dem die festen musikalischen Strukturen zerstört und durch sporadische, chaotische Stimmen und Klängen ersetzt wurden, kann einerseits als eine parallele Erscheinung der ›Antiliterarität‹ beschrieben werden, andererseits ging es in diesem Fall nicht in erster Linie um das Scheitern der 616 Vgl. dazu Richard Schechner, Performance Theory, S. 21-23.

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Rationalität, sondern um eine Verschiebung und ›Belästigung‹ der sinnlichen Wahrnehmung. Das Stück von Beckett und die neoavantgardistischen künstlerischen Strategien bildeten einerseits ein Zusammenspiel heraus und wurden in diesem Kontext vermutlich als ähnliche Phänomene empfunden, andererseits können sie auch als zwei aufeinander folgende Schritte betrachtet werden, wobei der erste sich mit den Konventionen der kongruenten Inhaltsvermittlung und der zweite mit den Erwartungen bezüglich einer einheitlichen sinnlichen Wirkung des künstlerischen Ereignisses auseinandersetzte. Die materiellen Gegenstände hatten sowohl beim »Akt ohne Worte« als auch in den Aufführungen des Instrumentaltheaters eine wichtige Rolle, deren Behandlung lässt sich als ein verbindendes Element der verschiedenen Aktivitäten betrachten und brachte möglicherweise die Quintessenz des Ganzen am deutlichsten zum Ausdruck. Im »Akt ohne Worte« wurde eine Reihe von Gegenständen in die Szenerie herabgelassen (laut dem Text ein Bäumchen, eine Schere, eine Karaffe und ein Würfel), mit einigen Handlungen verbunden und wieder abgeräumt; die Handlungen wurden von einer gewissen Logik geleitet bzw. die Objekte riefen eine bestimmte Handlungsweise hervor, allerdings entwickelte sich dadurch keine zweckhafte oder sinnvolle Kontinuität. In vergleichbarer Weise hat man während des Experimentalkonzerts im Jahr 1965 den Vorhang vor das Publikum gebracht, aufgerollt und zusammengefaltet, jemand hat die Teile eines Barrens über die Bühne getragen usw.617 Die Objekte erschienen gleichermaßen anziehend und befremdend, riefen eine Zugehörigkeit zu den festen und kongruenten Handlungsstrukturen in Erinnerung, zeigten aber auch den Verlust des sinngebenden Kontextes; die Auseinandersetzung mit der Materialität erfolgte in einem Regime der auflösenden Strukturierung, das einen Prozess darstellte, in dem die Gegenstände von einer festgestellten Funktion getrennt wurden und immer mehr ›Selbstständigkeit‹ erwarben. Vermutlich war die Entscheidung, dass eben dieses Stück von Beckett im Rahmen des Theaterabends vorgetragen werden soll, neben der Kürze und relativen Anspruchslosigkeit der Aufführung von der zentralen Rolle der Gegenstände für die Bühnenaktivitäten beeinflusst, das mit dem unter den jungen Künstlern erwachenden Interesse für die Neudefinitionen der Objekthaftigkeit übereinstimmte und eine Verknüpfung mit den Taktiken des »Instrumentaltheaters« kreierte. Das Interessante bei dieser Überblendung des absurden Dramas und der Neo-Avantgarde war vor allem die Zusammenkunft der zwei Diskurse, deren Äußerungen in der künstlerischen Praxis manchmal ähnlich sein mochten, die ideologisch aber allerdings voneinander maßgeblich abwichen. Die Ablösung der Objekte und Handlungen von einer strukturellen Einheit diente im absurden Drama zur Darstellung der unüberwindbaren Befremdung, die das menschliche Dasein in der modernen Gesellschaft 617 Videointerview mit dem Künstler Enno Ootsing in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe«.

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definiert, im neo-avantgardistischen bzw. Cage’schen Diskurs wurde das Abschaffen der strukturellen Bestimmungen als eine Befreiung und ein Weg zur unmittelbaren Wahrnehmung der materiellen Welt gedacht. Die Verflechtung dieser beiden Ideologien ist in erster Linie aus kontextuellen Gründen entstanden bzw. wurde in einem Adaptionsprozess erreicht; die gleichzeitige Übernahme und Bearbeitung der verschiedenen neuen Ideen in den Künsten brachte sowohl die Tendenz der Synonymisierung (die die kulturellen Prozesse der 1960er Jahre in Estland häufig charakterisierte 618 ) als auch die kontextgebundene Umdeutung dieser Ideen zum Ausdruck. Offensichtlich wurde durch die Verkoppelung der neoavantgardistischen Happenings und des absurden Dramas ein dominierendes, kennzeichnendes Verfahren der performativen künstlerischen Aktivitäten herausgearbeitet, wobei die Ersten als taktisches Vorbild, das Zweite als Basis für Konzeptualisierung in Anspruch genommen wurde: Beim Aufbau und bei der Ausführung der Aktionen orientierte man sich eher an den Happenings, bei der Wahrnehmung und Reflexion der Ereignisse stellte man häufig das Absurde in den Vordergrund. In dieser Symbiose wurden die beiden Ideologien modifiziert – in die kritischen neoavantgardistischen Strategien hat man humanistische Ansichten gemischt, das Absurde diente nicht (nur) als Darstellung der Bedrängnis, sondern auch als Äußerung der Befreiung. Darüber hinaus galten die Beiden gleichermaßen als eine deutliche Ablehnung des Aufrufs zur ›Vernunft‹ und wurden in größeren kulturellen Konstellationen und als Gegensatz zu den offiziellen Erfordernissen als mehr oder weniger identisch wahrgenommen, ungeachtet dessen, wie unterschiedlich die neuen Positionierungen, die aus dieser Ablehnung erwuchsen, auch sein mochten. Mithilfe des Begriffs ›Antistruktur‹, der in den Theorien der Performance vor allem durch die Ritualforschung von Victor Turner etabliert worden ist und in erster Linie in anthropologischen Spielbetrachtungen Verwendung findet, beschreibt man meistens eine Zwischenphase im Übergang von einer strukturellen Ordnung zur anderen – er kann sowohl die sozialen als auch individuellen Wandlungen, die konkreten Ereignisse als auch die breiteren gesellschaftlichen Prozesse bezeichnen.619 Diese Zwischenphase wird nicht als eine vom vorherigen und zukünftigen Zustand getrennte Situation betrachtet, sondern – worauf auch Turners Begriffe der ›inbetweenness‹ und ›set-apartness‹ hinweisen – durch das ›Innensein‹ verstanden; sie koppelt die Inhalte der beiden – der verlassenen und der aufgebauten – Strukturen, befreit diese Inhalte jedoch von festen Zusammenhängen und Deutungsmustern. Auch wenn das antistrukturelle Potential des Spiels in den letzten Jahrzehnten unter dem wesentlichen Einfluss der von Turner geschilderten liminalen und liminoiden Aktivitäten betrachtet und die Erläuterungen dieses Potentials im Rahmen der kritischen Theorie vorgenommen worden sind, deuten auch die früheren Spieltheorien 618 Vgl. dazu Mart Velsker, Mis on kuuekümnendad eesti kirjanduses?, S. 51. 619 Vgl. dazu Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction, S. 15-20.

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zumindest implizit eine Dialektik der beiden Tendenzen – der strukturierenden und zersetzenden bzw. subversiven Bewegungen – im Spiel an. Diese Dialektik ergibt sich aus den bestimmten Konstellationen der Grundfaktoren, mit denen das Spiel auf die eine oder andere Weise in Verbindung gebracht worden ist, insbesondere von der Kombination der Fiktionalität und Ernsthaftigkeit, die die paradoxe Dynamik des Spiels generiert. Einerseits streben beide nach gegenseitiger Auflösung – die Behauptung, dass das Spiel »nicht so gemeint« ist,620 schließt die vollkommene Ernsthaftigkeit aus, die Tatsache, dass das Spiel »den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann«,621 setzt wiederum die Ablehnung aktiver Reflexion voraus. Andererseits besteht die Besonderheit des Spielphänomens darin, dass die beiden Wahrnehmungsmodi zu einer gewissen Übereinkunft gelangen und ein Regime des Zusammenseins entwickeln. Jedoch ist dieses Zusammensein nicht durch Konzession und Verschmelzung, sondern eher durch Kollisionen zu charakterisieren, die eine flexible, aber nicht aufhebbare Auseinandersetzung der strukturierenden und subversiven Bewegungen herausbildet, die jedem Vorgang des Spiels zugrunde liegt. Interessanterweise lässt sich weder die Fiktionalität noch die Ernsthaftigkeit eindeutig mit der Neigung zur Strukturierung oder Zersetzung identifizieren, sondern man kann bei beiden sowohl die aufbauenden als auch die antistrukturellen Tendenzen beobachten, die in den konkreten Spielmustern interagieren. Das Bewusstsein von der Fiktionalität des Spiels ist einerseits die Basis für das Einsetzen von Spielregeln, für die klare Trennung des Spiels vom Alltagsleben und für die Einrichtung und Ordnung des imaginären Raumes, in dem das Spiel sich entfaltet. Andererseits kann die Annahme der Fiktionalität die subversiven Impulse hervorrufen und legitimieren, da alles, was im Spiel passiert, ›nicht so gemeint‹ ist und eine Befreiung von jeglichen Regeln ermöglicht. Die Ernsthaftigkeit des Spiels kann wiederum einerseits zur Verstärkung der Kontrolle bzw. der strukturierenden Ansprüche führen und eine Widerspiegelung des Alltagslebens darbieten, wobei die äußerlichen Bedingungen zwar fiktional sein mögen, die innerliche Ordnung des Alltags dabei jedoch übernommen wird, andererseits bezieht sich auch das antistrukturelle Potential des Spiels auf die Ernsthaftigkeit bzw. auf das Einleben in den fiktionalen Spielraum, da dadurch die Normen der Alltagsrealität widerlegt werden können. Als eine Parallele des Spielkonzeptes, das das im Spiel geschaffene antistrukturelle Zwischengebiet in den Vordergrund setzt, bietet sich die Karnevaltheorie von Michail Bachtin an, die möglicherweise am pointiertesten die Ambivalenz und Komplexität der Koppelung des Strukturellen und des Antistrukturellen in den spielerischen Situationen beleuchtet. Ausgehend von der Volkskultur des Mittelalters und der Renaissance beschrieb Bachtin eine während des Karnevals entstehende »ideal-reale« Situation, in der die Barrieren und hierarchischen Unterschiede zwi620 Johan Huizinga, Homo ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. .22. 621 Ebd.

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schen den Menschen, die Normen und Verbote des Alltagslebens vorübergehend abgeschafft werden und das Bewusstsein von der Kontrolle der offiziellen Weltanschauung befreit ist, wodurch eine neue Weltsicht möglich wird – ohne Angst und Frömmigkeit, kritisch, aber auch ohne Nihilismus, eher affirmativ.622 Die karnevalistische bzw. spielerische Erkenntnis erscheint hierbei durch das Lachen und weist ein ambivalentes Verhältnis zur Alltagsrealität auf – der Karneval ist »halb-echt« und »halb-spielerisch«, man wird sich dadurch nicht von der sich herausbildenden Ganzheit der Welt getrennt, sondern das Lachen betrifft auch die Lachenden selbst. 623 Im Grunde ähnelt diese Definition dem Turner’schen Konzept der liminalen Aktivitäten, wobei ein antistruktureller Raum geschaffen wird, in den die kulturellen Codes einbezogen sind und miteinander konfrontiert werden, man sich diesen jedoch nicht unterordnet. Die antistrukturellen Tendenzen sowohl in den gesellschaftlichen als auch in den künstlerischen Praktiken lassen sich somit keineswegs von den etablierten strukturellen Anordnungen trennen, sondern bilden innerhalb dieser Anordnungen ihr Wirkungsfeld aus. Die Gruppe der Inszenierung »Nur ein Lied« hatte laut Schauspieler Tõnu Tepandi eine »Theorie« für den Umgang mit dem Publikum, die darin ihren Ausdruck fand, dass die Beteiligten die ankommenden Zuschauer im Saal vor der Aufführung erwarteten, aber demonstrativ ignorierten, sich weiterhin »ungestört« miteinander unterhielten und den Anfang solange hinauszögerten, bis das Publikum sich verunsichert fühlte.624 Vor dem Hintergrund der verschiedenen Verfremdungsstrategien des Theaters des 20. Jahrhunderts handelte es sich um ein relativ etabliertes Verfahren, das in diesem Kontext jedoch unerwartet wirkte und eine gewisse Verwirrung verursachte; einmal habe jemand von den Zuschauern gefragt, wie lange man sich hier noch über das Publikum lustig mache und sei damit »ins Spiel eingetreten«. 625 Laut der Rezension von Mati Unt habe die Truppe während des Eintreffens der Zuschauer im Saal gesessen, geraucht und Kaffee getrunken, die Begrüßungen und Bemerkungen von Bekannten erwidert, ohne besondere »Authentizität« vorzutäuschen, immerhin ließ sich in ihren Handlungen eine ernste, sogar »heilige« Haltung bemerken; schließlich seien alle aufgestanden, hätten »streng«

622 Михаил Бахтин, Творчество Франсуа Рабле и народная культура средневековья и Ренессанса. Москва, 1965; zitiert nach: Mihhail Bahtin, François Rabelais’ looming ja keskaja ning renessansi rahvakultuur (Väljavõtteid). – Valitud töid. Tallinn: Eesti Raamat, 1987, S. 190, 205. 623 Ebd., S. 187. 624 Vastab kuus meest. (Interview mit der Truppe von »Nur ein Lied«.) – Hermaküla, S. 54. 625 Ebd.

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ins Publikum geschaut und mit den Versen von Gustav Suits – »fühlt ihr, die Erde bebt« – begonnen.626 Ausgehend von den oben genannten Ansichten, laut denen das Spielerische mit einem antistrukturellen Zwischengebiet identifiziert wird, wäre bei der Aufführung von »Nur ein Lied« eben der Anfang als die deutlichste Erscheinung des Spiels zu betrachten – als eine Übergangsphase von einer Struktur (Alltagsrealität) zur anderen (einer vorbereiteten, geübten, fixierten Inszenierung), in der beide vermischt und durcheinander gebracht wurden. Einerseits bewegten sich sowohl die Schauspieler als auch die Zuschauer noch im Rahmen des alltäglichen Verhaltenskodex und schufen so einen gemeinsamen Raum (durch gegenseitige Begrüßungen, Bemerkungen), andererseits hatte der Übergang zu einer anderen Realität bereits angefangen: Die Schauspieler warteten auf das Publikum, das Publikum wartete auf die Schauspieler. Die Schauspieler befanden sich an einer Grenze, an der man einerseits deutlich machte, dass das Spiel bzw. die Theateraufführung, zu der man zusammengekommen ist, noch nicht begonnen hat, andererseits gehörte dieses Deutlichmachen bereits zum Spiel bzw. kann als eine Schwelle des Spiels verstanden werden – man spielte, dass man noch nicht spielt. Wenn die Zuschauer laut Tõnu Tepandi ›ignoriert‹ wurden, handelte es dabei nicht um eine komplette Ablehnung, sondern um das Erwarten ihrer Reaktionen – man gewährte dem Publikum nicht den Eintritt in seine gewohnheitsmäßige Rolle, sondern zwang die Zuschauer in eine unbequeme und verwirrende Position. Aufgrund der Bemerkung von Mati Unt bezüglich der ernsten und ›heiligen‹ Haltung der Schauspieler kann man vermuten, dass diese Vorbereitung nicht nur zur Verfremdung oder Entäußerung des Spiels diente, sondern bereits die Atmosphäre der kommenden Aufführung einbezog, ein gewisses Vorgefühl erzeugte, das eben durch die Inkongruenz der alltäglichen, unbedeutenden Handlungen und der sich entwickelnden Stimmung seine ambivalente Wirkung ausübte, die mithilfe der Verzögerung sukzessive intensiviert wurde. Eine ähnliche Öffnung des antistrukturellen Zwischengebiets, in dem sich die Alltagsrealität und die künstlerische Realität in einer dynamischen Interaktion befanden, lassen auch die Beschreibungen der Proben von »Nur ein Lied« vermuten – mehrmals habe man die zufälligen Handlungen, die die Schauspieler vor der Probe bzw. während der Pause aus Langeweile oder aus Energieüberschuss nebenbei und halbbewusst vollzogen, in die Inszenierung eingebracht.627 Doch war es die Anwesenheit – und die Verwirrung – des Publikums am Anfang der eigentlichen Aufführung, die es ermöglichte, die ›Antistrukturalität‹ in ihrer Komplexität zu betrachten, sowohl die Alltagsrealität als auch die künstlerische Realität in verschiedenen Hinsichten und in Bezug auf die verschiedenen Absichten und Erwartungen zu verste626 Mati Unt, Apoloogiad Hermakülast. – Kuradid ja kuningad: teatri- ja filmikirjutisi aastaist 1965–1980. Tallinn: Eesti Raamat, 1989, S. 68-69. 627 Vastab kuus meest. (Interview mit der Truppe von »Nur ein Lied«.) – Hermaküla, S. 56.

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hen und den Zerfall und die Dekonstruktion der vorgegebenen Strukturen zu beschreiben. Sowohl die Positionen der Schauspieler als auch des Publikums lässt sich dabei als ›halb-echt‹ und ›halb-spielerisch‹ verstehen und dadurch definieren, dass das ›Nicht-Spiel‹ aus dem Spiel nicht ausgeschlossen ist, sondern darin einbezogen wurde. Als Paraphrase von Bachtin kann man sagen, dass das Spiel auch den Spielenden selbst betraf – die Schauspieler spielten mit ihrem ›Nicht-Spiel‹, der Protest des Zuschauers ist sowohl als das Eintreten in dieses Spiel als auch als dessen Ablehnung und als Forderung nach einem anderen Spiel zu charakterisieren. Die Inszenierung »Du, wer die Ohrfeigen kriegt«, die laut Regisseur Hermaküla für die Theatererneuerung von grundsätzlicher Bedeutung war – als ein Programm, Manifest, aber auch ein neuer Anfang628 – begann mit dem Aufruf »Nieder mit der Literatur!«. 629 Die Bearbeitung und Ergänzung des Theaterstücks von Leonid Andrejew hat einerseits die Quintessenz des Quellentextes hervorgehoben,630 andererseits in einigen Punkten auch die Absichten des Autors verändert – insbesondere hinsichtlich der Einschätzung und Darstellung der Zirkuswelt, die bei Andrejew als eine sentimentale Zauberwelt galt, in der Inszenierung aber kommerzielle Kunst symbolisierte, mit der auch die ›Literatur‹ auf eine inverse Weise gleichgestellt wurde.631 Die ausdrückliche ›Antiliterarität‹ hatte bei der Theatererneuerung verschiedene Hintergründe und Bedeutungen.632 Zum einen entstand es ausgehend von den einigen ideellen Quellen und Vorbildern (Artaud, Grotowski u.a.) im Zusammenhang mit der psychoanalytischen Spielforschung und zielte auf eine Befreiung von der bedrängenden Sprache und Rationalität – auf eine ›Präsenz‹, die zu den authentischen Erfahrungen führen sollte. Zum anderen war es eine direkte Entgegensetzung zur verbal orientierten sowjetischen Kultur und Ideologie, die jede Improvisation und Mehrdeutigkeit auszuschließen versuchte.633 Darüber hinaus war die estnische Kultur der 1960er Jahre überwiegend an Literatur orientiert (und wies damit einen deutlichen Unterschied zur westlichen Kultur auf), auch alle von den offiziellen Forderungen abweichenden Neuorientierungen und Umbrüche fanden erstmals in der Literatur den Ausdruck und beeinflussten die anderen Disziplinen.634 Mit der Ablehnung der Priorität des Textes bildete die Theatererneuerung somit

628 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2444; Hinweis auf das Protokoll der Sitzung des Kollegiums des Theaters »Vanemuine« am 13.11.1971 (Bibliothek des Theaters »Vanemuine«: n. 2, s. 519). 629 Mati Unt, Teatriuuenduse algusest Nõukogude Eestis. – Theatrum mundi, S. 56. 630 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2445. 631 Jaak Rähesoo, Hermaküla ja Tooming.– Hecuba pärast, S. 70. 632 Vgl. Mati Unt, Teatriuuenduse algusest Nõukogude Eestis. – Theatrum mundi, S. 54. 633 Vgl. ebd., S. 55. 634 Mart Velsker, Mis on kuuekümnendad eesti kirjanduses?, S. 51.

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eine Selbstständigkeit bzw. Gegenbewegung auch innerhalb der experimentellen künstlerischen Praktiken heraus. Auf eine paradoxe Weise fand diese Konfrontation mit der Dominanz der Verbalität im Theater unter der Beteiligung vieler Literaten statt; zusätzlich zur Mitwirkung von Schriftstellern wie Mati Unt und Vaino Vahing hatte im Frühling 1971 – während der Experimente des Nachttheaters – ein Zusammenkommen der Literaten um den Kreis der Theatererneuerung stattgefunden; neben dem informellen Einfluss haben einige von ihnen auch die Vorlesungen für die Truppe gehalten, unter anderem über östliche Philosophie.635 Die antistrukturellen Tendenzen innerhalb der ›Antiliterarität‹ lassen sich auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Zusammenhängen mit der ›Literarität‹ bzw. mit textuellen/verbalen Strukturen beobachten. Auf der Suche nach Präsenz hat man entweder den Text vollkommen weggelassen und sich ausschließlich auf körperliche Improvisationen konzentriert oder – im Gegenteil – es wurde die Vermittlung des Textes auf der Bühne derart intensiviert und überladen, dass sich dieser selbst entleerte. Die Monolog-Passagen des Hausherren im »Aschenputtelspiel« wurden mitunter in einem solchen Tempo vorgetragen, dass sie fast unverständlich waren, in Jaan Toomings Inszenierung »Külvikuu« (Saatmonat, 1972)636 gab es eine Szene, wo ein Mann so lange und intensiv sprach, bis der Inhalt seiner Worte unbedeutend wurde bzw. gar nicht mehr ankam, sondern das Publikum jemanden sah, der »von seinem Sprechen verrückt wurde«.637 Den Text hat man hier in ähnlicher Weise verfremdet wie die Objekte im »Akt ohne Worte«, wobei diese Verfremdung nicht die Schwächung oder das Vergehen des Textes/Objektes mit sich brachte, sondern ihm eine besondere entleerte Stärke bzw. eine ›unberechtigte‹ Präsenz verlieh. Vor dem Hintergrund der verbalisierten offiziellen Kultur setzte die ›Antiliterarität‹ den ideologischen bzw. demagogischen Argumentationslinien das Fehlen der eindeutigen Botschaften, eine Affektivität und Veränderbarkeit der Positionen entgegen. Im Vergleich zur experimentellen Kultur, die sich auf textuelle Mittel bezog, wurde mit dem Aufgeben der Sprache das Handlungs- bzw. Diskussionsfeld verschoben, sodass die Kommunikation mit der offiziellen Ideologie (ohne gemeinsame Grundlagen) scheiterte – zu keiner direkten Konfrontation führte, aber offenbar auch kein Übereinkommen ermöglichte. Die Rolle des Objektes in den Happenings bzw. die Weisen, wie die Handlungen und die Gegenstände innerhalb einer Aktion in Verbindung gebracht wurden, war in verschiedenen Aktivitäten der jungen Künstler immer zwiespältig; möglicherweise verweist diese Zwiespältigkeit auch auf eine breitere Dialektik in den 635 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 153-154. 636 Text von Osvald Tooming, Regisseur Jaan Tooming, Bühnenbild Georg Sander, Premiere im Theater »Vanemuine« am 20.02.1972. 637 Mati Unt, Teatriuuenduse algusest Nõukogude Eestis. – Theatrum mundi, S. 55.

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Ausgangspunkten der experimentellen künstlerischen Praxis. Laut dem Leiter der Gruppe »Visarid«, Kaljo Põllu, hatten die Handlungen an sich keinen Wert – während des Happenings sollte in erster Linie ein Objekt bzw. ein Kunstwerk aufgebaut werden.638 Laut dem Ideologen der Gruppe SOUP, Leonhard Lapin, war gerade das Zerstören des Objektes innerhalb einer Aktion das Schlüsselmoment – die Zerstörung sei (insbesondere in diesem Kontext) »kreativ« gewesen.639 Sogar wenn die Strategien der beiden Gruppen vermischt waren und keine eindeutigen Gegensätze ausbildeten, lassen die zwei parallelen Vorhaben im Lager der Zeitschrift »Noorus« im Jahr 1969 doch die unterschiedlichen Ansätze deren Tätigkeiten feststellen. »Visarid« hat während einer Aktion am Strand eine Installation aus Drehflügeln und Luftballons gebaut, SOUP führte am Lagerfeuer das Happening »Begraben des Mannequins« durch, das mit dem Zerbrechen und Verbrennen der Modellpuppe endete. Einerseits kann man diese Vorgänge als ›konstruktiv‹ und ›destruktiv‹ einander gegenüberstellen, andererseits wiesen sie einen gemeinsamen Kreislauf auf. Bei der Installation von »Visarid« handelte es sich um eine ortsbezogene, vorübergehend zustande gekommene, nicht eindeutig begrenzbare Struktur, die trotz der aufbauenden Ansprüche keineswegs als ein stabiles Objekt zu betrachten ist; im »Begraben des Mannequins« wurde wiederum der Ablauf des Happenings klar strukturiert, sogar wenn diese Strukturierung während der Kulmination des Ereignisses auf die Entfesselung der zerstörerischen Impulse zielte. Die antistrukturellen Tendenzen sowohl in den künstlerischen Aktionen als auch in der Theatererneuerung bewegten sich somit immer sporadisch zwischen den verschiedenen Handlungs-, Bedeutungs- und Wahrnehmungsebenen, verknüpften sich mit den künstlerischen Diskursen und gesellschaftlichen Bedingungen und bildeten häufig flexible Positionen heraus, die vielleicht am deutlichsten durch eine immer veränderliche und nie auflösbare Auseinandersetzung der Affirmativität und Subversivität zu verorten sind.

4.5 D IE T OTALITÄT Im März 1971 hatten die beiden Regisseure der Theatererneuerung mit den Proben einer neuen Inszenierung begonnen – Evald Hermaküla mit »Ohrfeigen« und Jaan Tooming mit »Kohle und Könige«. Während die erste Inszenierung als legendäre Kulmination der Theatererneuerung betrachtet wird, wurden die Proben von »Kohle und Könige« abgebrochen. Es handelte sich um eine auf dem Roman von O. Henry basierende »alltäglich-politische Operette«640 von Uno Laht und Boris Kõrver, deren Vorbereitungsprozess laut dem Regisseur Tooming alle seine Fantasien ausge638 Interview mit Kaljo Põllu am 3.06.2008. 639 Leonhard Lapin, Avangardi kuldsed kuuekümnendad. – Avangard, S. 193. 640 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 151.

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löst hat,641 unter anderem ausgehend vom Bühnenbild von Leonhard Lapin, das der Künstler selbst als »Manifestation der Pop-art«642 bezeichnete. Im ersten Akt sei ein riesengroßer Stiefel auf die Bühne gestellt worden, auf den man klettern und in den man hineingehen konnte, im zweiten Akt füllte ein kolossales Ehebett den ganzen Spielraum, im dritten Akt eine riesige Treppe.643 Bei der Inszenierung waren sowohl die Mitglieder des Theaterstudios als auch professionelle Schauspieler und ein Chor beschäftigt, man habe viel gesungen und getanzt, im Laufe der Proben habe man immer mehr neue Details zur Aufführung hinzugefügt und diese sei somit immer länger geworden – während der Kontrollaufführung vor der Premiere habe man bis 16 Uhr nur das erste Drittel des ersten Aktes durchgespielt und die Kontrolle musste unterbrochen worden, da die Dekorationen für eine andere Aufführung im Theater am selben Abend aufgebaut werden sollten.644 In den Proben ist man – wie auch bei Toomings Inszenierung »Lässt die Hand küssen« – von Improvisationen ausgegangen, das Ergebnis war allerdings nicht ein präzise rhythmisiertes und fixiertes Ganzes, bei dem das Zufällige ausgeschlossen wurde (wie in »Lässt die Hand küssen«645) sondern eine verwirrende Reihe zwar beeindruckender, aber zusammenhangsloser Fragmente; laut Mati Unt habe »das totale Theater«, auf das der Regisseur zielte, die Operette zersplittert und der Rest des Sujets auf der imaginären Bühnenwelt habe nur Missverständnisse verursacht.646 Der Autor Boris Kõrver sei von der Verzerrung seines Stücks schockiert gewesen, der Theaterdirektor Kaarel Ird hat das Projekt übernommen und im selben Jahr auf die Bühne gebracht, allerdings ohne anfängliche Dekorationen.647 Auch wenn die Inszenierung von »Ohrfeigen« offiziell unter der Leitung von Evald Hermaküla vorbereitet wurde, war sie eigentlich – wie auch »Nur ein Lied« – die Zusammenarbeit von Hermaküla und Tooming,648 der im Stück die Hauptrolle spielte. Ebenso wie bei »Kohle und Könige« wurde hierbei das ›totale Theater‹, das alle Untersuchungen und Entdeckungen der Theatererneuerung zusammenbringen sollte, beansprucht, jedoch auf eine mehr systematische und kontrollierte Weise, sodass es sich auch im Rahmen der Grenzen und Erfordernisse des Programmtheaters aufführen ließ. Während bei »Kohle und Könige« der Schwerpunkt der Arbeit im Probesaal lag, fing man bei »Ohrfeigen« mit einer komplexen und gründlichen

641 Jaan Tooming, Religioossed motiivid minu loomingus, S. 24. 642 Leonhard Lapin, Igavikku. Vaino Vahing, S. 38. 643 Jaan Tooming, Religioossed motiivid minu loomingus, S. 24. 644 Ebd., S. 24-25. 645 Ebd., S. 23-24. 646 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 151-152. 647 Jaan Tooming, Religioossed motiivid minu loomingus, S. 25. 648 Jaak Rähesoo, Hermaküla ja Tooming. – Hecuba pärast, S. 67-68.

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Textbearbeitung an649 und kam danach zum – im Nachttheater entwickelten – improvisatorischen Probeprozess. Im Gegensatz zu den meisten früheren Inszenierungen der Theatererneuerung, die bis zum Ende der Proben größtenteils fixiert wurden, hat man in »Ohrfeigen« einen Freiraum für die auf der Bühne entstehenden Improvisationen geschaffen – die Aufführungen seien deutlich verschiedene Variationen einer Grundstruktur gewesen. 650 Sowohl die ›Antiliteratität‹ (selbst in der paradoxen Koppelung mit der Textbearbeitung) als auch eine gewisse Affektivität, die die Experimente der Theatererneuerung charakterisierten, haben in »Ohrfeigen« ihren Höhepunkt erreicht – man benutzte verschiedene ›nonverbale‹ Ausdrucksmittel (plastische Duette, choreographische Bewegungen, Spiele mit SymbolGegenständen, musikalisch intoniertes Sprechen u.a.), die mit der intensivsten Emotionalität vorgeführt wurden.651 Abbildung 19: »Du, wer die Ohrfeigen kriegt« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1971 (Mare Puusepp, Jaan Tooming)

Estnisches Theater- und Musikmuseum 649 Vgl dazu ebd., S. 68-70. 650 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2445. 651 Ebd.

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Neben den methodischen Ansätzen fasste die Inszenierung auch auf der Metaebene die Hauptprobleme und Absichten der Theatererneuerung zusammen, brachte aber auch einige unvermeidliche Konflikte in deren innerlicher Dynamik zum Vorschein. Das Rahmenthema des Stücks war die Entgegensetzung des leichtsinnigen Maskenspiels und des »aus dem Innersten stammenden« Spiels, jedoch sei die Gegenüberstellung eher deklarativ und »unvertieft« geblieben.652 Laut Mati Unt habe die Inszenierung über die unbestimmten, zum Teil echten, zum Teil künstlich gesteigerten Gefühle gesprochen, wobei das emotionale Wirrwarr den Gedanken dahinter ausgeblendet hat bzw. einen derart vagen Weltschmerz diente, dass auch die Gefühle selbst entfielen, sogar wenn die anfängliche Wirkung auf das vegetative Nervensystem stark gewesen sei.653 In dieser Stellungnahme von Unt spiegelt sich allerdings bereits jener Konflikt, der zwischen den Beteiligten der Theatererneuerung während der Vorbereitung von »Ohrfeigen« kulminierte, möglicherweise auch eine gewisse Beleidigung des Dramaturgen, dessen Arbeit anscheinend nicht auf der Bühne so umgesetzt wurde, wie er es erwartet hat. Laut dem Kritiker Jaak Rähesoo war gerade die Komplexität und Dichte des Stücks sowohl auf der textuellen als auch auf der emotionalen Ebene der Faktor, der ein Hindernis im Rezeptionsprozess erzeugte – im Gegensatz zum »Aschenputtelspiel«, »Nur ein Lied« und »Lässt die Hand küssen« handelte es sich um ein fremdes und eklektisches textuelles Material, das in Verbindung mit dem neuen inszenatorischen Verfahren vom Publikum vielleicht zu viel verlangte.654 Mati Unt hat die Szene, in der Clowns auf der Bühne mit dem Publikum den Kontakt aufzunehmen versuchten, als Begegnung mit dem »eisernen Blick« des Zuschauers beschrieben.655 Ebenso wie bei »Kohle und Könige« brachte der Anspruch auf ›Totalität‹ anscheinend einen Zerfall mit sich, auch wenn er bei »Ohrfeigen« zum Teil aus den anderen Gründen entstand und sich als weniger ausdrücklich erwies – »Kohle und Könige« ist wegen der Häufung der immer neuen Elemente, wegen einer ungebremsten Ausdehnung gescheitert, »Ohrfeigen« wegen der überfordernden Verdichtung und dem inneren Druck zerplatzt. Auf eine interessante Weise hängt die Frage nach dem ›totalen Theater‹ in den Biographien der beiden Regisseurs mit dem Einfluss von Jerzy Grotowski zusammen. Während des Studiums in der Theaterschule habe Tooming erstmals aus der tschechischen Zeitschrift »Divadlo« über Grotowski gelesen, unter anderem die Übungen für die Schauspieler gefunden – die Stimmübungen aus dem japanischen, chinesischen, indischen Theater – und diese auch selbst ausprobiert; es sei interessant gewesen, da sich diese gänzlich von den Kenntnissen unterschieden, die ihm 652 Jaak Rähesoo, Hermaküla ja Tooming. – Hecuba pärast, S. 70. 653 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 157. 654 Jaak Rähesoo, Hermaküla ja Tooming. – Hecuba pärast, S. 71-72. 655 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 149.

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im Studium beigebracht wurden.656 Während der weiteren Suche nach Alternativen zum damals konventionellen Schauspielunterricht seien ihm neben dem Werk von Meyerhold, Tairow, Wachtangow u.a. auch andere Texte von Grotowski begegnet.657 Mithilfe eines Bekannten habe Tooming an Grotowski einen Brief auf Französisch geschickt, um nachzufragen, ob er bei ihm lernen könnte; Grotowski habe auf Französisch geantwortet, dass Tooming zu ihm kommen müsse, wenn er lernen wolle; diese Reise war aber offenbar nicht möglich.658 Im Nachhinein hat Tooming allerdings festgestellt, dass er es nicht bedauerte – sogar wenn die Übungen ihm viel gebracht haben, sei sein Weg doch »totales Theater« gewesen und nicht minimalistisches wie bei Grotowski.659 Hermaküla wiederum reiste im Sommer 1971 – während der Vorbereitungen zu »Ohrfeigen« und der Aufführungen des sog. Markttheaters – nach Polen, um (als erster der Beteiligten der Theaterneuerung) Grotowskis Werk zu sehen, 660 und tendierte bei seinen späteren Inszenierungen zur geschlossenen Gruppenarbeit während der langen Probeperioden, deren Ergebnisse einerseits auf eine eher minimalistische Weise dem Publikum präsentiert wurden, andererseits hat man dabei den Anspruch auf ›Totalität‹ – auf das Theater, das nicht als eine Ausdrucksform der künstlerischen Produktion, sondern als eine bestimmte Lebensweise betrachtet wurde – fortgesetzt und verstärkt. Der Vergleich von »Kohle und Könige« und »Ohrfeigen« ermöglicht es, die Herausbildung der zwei Positionen zu beobachten, die einen gemeinsamen Grund hatten, aber in die verschiedenen Richtungen tendierten – auch wenn der Grund nie besonders fest oder klar umrissen war und auch sich die neuen Richtungen als heterogen erwiesen. »Kohle und Könige« bezeichnete Toomings deutliche Abwendung von der psychoanalytischen Methode, auch eine vorübergehende Abkehr von seinem Interesse für rituelle Praktiken und kann als ein Versuch gesehen werden, bei dem man das Spiel fast unkontrolliert und ›kindlich‹ entfalten lässt, ohne dessen Bedeutungen und tieferen Quellen nachzugehen, sondern eher mit der Absicht, eine gewisse Eigenbewegung des Spiels zu verfolgen. Dieser Prozess sollte nicht unbedingt weder im Voraus noch im Nachhinein unter eine intensive Reflexion untergeordnet werden, sondern war in erster Linie als eine vor Ort entstandene und nicht vollkommen konzeptualisierbare Erfahrung gedacht. Zum Ritual und zur Folklore ist Tooming später zurückgekehrt und hat seine Suche nach ›Totalität‹ des Theaters mit der wachsenden Religiosität verknüpft; vor diesem Hintergrund scheint »Kohle und Könige« als ein erster, noch säkularer Schritt auf dem Weg, bei dem man die Rationalisierung immer stärker ablehnt und sich auf die performative Wirkung des 656 Jaan Tooming. (Interview.) – Lavakooliraamat, S. 176. 657 Ebd., S. 177. 658 Jaan Tooming, Religioossed motiivid minu loomingus, S. 12. 659 Ebd. 660 Mati Unt, Öösel toas ja päeval laadal. – Hermaküla, S. 107.

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Ereignisses konzentriert. »Ohrfeigen« führte zwar alle Absichten und Mittel der Theatererneuerung zusammen, sowohl Zuneigung zur Impulsivität als auch zur Strukturierung, bei der Komplexität der Inszenierung dominierte jedoch Hermakülas Anspruch auf eine intellektualisierte und methodische Auseinandersetzung mit dem Spielphänomen. Sogar wenn das Ziel die Auslösung des ›von innen‹ kommenden Spiels war, weigerte Hermaküla sich anscheinend, es mit mystischen oder religiösen Erlebnissen gleichzustellen; das Streben nach dem Spiel wurde bei ihm immer von der Reflexion und von verschiedenen gesellschaftlichen Fragestellungen begleitet. Für ihn diente »Ohrfeigen« – vermutlich auch unter dem Einfluss von der Reise zu Grotowski – als eine Zusammenfassung und Verabschiedung von pluralistischen, mitunter intuitiven, in der intensiven Gruppenarbeit entstandenen Experimenten und als eine Zuwendung zu einer neuen Etappe, in der die Grundlinien seiner künstlerischen Tätigkeit präziser, aber auch autoritärer ausgearbeitet wurden, und statt früheren vielfältigen und dynamischen Verfahren eine methodische, ausdrücklich ernsthafte, etwas sektiererische Herangehensweise ans Spiel und ans Theater herausgebildet wurde. Bei der letzten Phase der Theatererneuerung und bei der Betrachtung der verschiedenen Ansprüche auf ›Totalität‹ in dieser Phase muss man natürlich zunächst die beiden Grundkonzepte hinter diesen Ansprüchen unterscheiden: die Idee des totalen Theaters und die Idee der Totalität des Spiels, wobei besonders die Letzte hierbei von Interesse ist. Jedoch ist hier zu beachten, dass viele historisch unterschiedliche Begriffe und Konzepte von den Beteiligten der Theatererneuerung sehr vermischt und unterschiedlich benutzt, ausgelegt und umgesetzt wurden; sowohl die Ausgangspunkte der Experimente als auch die künstlerischen Ergebnisse entsprangen einer beweglichen Koppelung der kontextgebundenen Faktoren und breiteren kulturellen Hintergründe. Bei dieser Koppelung kamen auch einige ambivalente Berührungspunkte mit dem Modernisierungsprojekt der offiziellen Kunst während der 1960er Jahre zum Vorschein, insbesondere mit der Wiederbelebung der Idee von der Synthese der Künste. Diese Synthese wurde in der offiziellen Kultur vor allem bezüglich der Monumentalkunst und nicht in Hinsicht auf das Theater aktualisiert und zielte auf die Gestaltung des modernen Lebensraumes, in dem man die ideologischen Botschaften nicht mithilfe eindeutiger Darstellungen, sondern in einer abstrahierten Form wiederzugeben versuchte, wobei die Vermittlungsweise selbst als Botschaft (der Modernisierung der Gesellschaft) diente. Auch wenn im Theater immerhin der Text ausdrücklich im Vordergrund stand, lässt sich beobachten, wie in Bezug auf die visuelle Kunst aktualisierte raumbezogene Fragestellungen und die (mit Vorbehalt) tolerierte Tendenz zur Abstrahierung auch auf der Bühne Ausdruck fanden und auf eine spezifische Weise weiterentwickelt wurden. Zunächst kann man diesen Einfluss in den abstrakt gestalteten Bühnenbildern im estnischen Theater der 1960er Jahre bemerken; in der Theatererneuerung wurde das Verhältnis zum Raum allerdings Schritt für Schritt neu bearbeitet. Im

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»Aschenputtelspiel« wurde die Theatralität der Dekorationen betont und anschließend die Bühne ›entblößt‹, in weiteren Inszenierungen blieb das Bühnenbild neben dem Spiel und/oder Ritualität immer mehr im Hintergrund, der Kontext der Handlungen wurde mithilfe einzelner Objekte gestaltet bzw. markiert. Sowohl »Ohrfeigen« als auch »Kohle und Könige« lassen eine neue Herangehensweise an den Raum feststellen, wobei das verfremdete Umfeld des »Aschenputtelspiels« überschritten und die entleerte minimalistische Bühne der anderen Inszenierungen beiseitegelassen wurde, um eine neue Synthese zwischen dem physischen Raum, körperlichen Handlungen und psychischen Zuständen zu erreichen. In »Ohrfeigen« erfolgte dies durch das Schaffen einer besonderen Atmosphäre, die mithilfe der Beleuchtung, sehr lauten Musik und einer äußerst emotionalen Spielweise intensiviert wurde.661 In »Kohle und Könige« erschien die Gestaltung des Bühnenraumes zum ersten Mal in der Theatererneuerung als zentral und wies sogar mehr Bedeutsamkeit auf als die visuelle und räumliche Metaphorik im »Aschenputtelspiel«, unter anderem dadurch, dass es nicht mehr um eine Abstrahierung ging, sondern um die ›Manifestation der Pop-art‹, die in diesem Kontext eine neue, noch nicht ganz adaptierte und bearbeitete Bild- und Objekthaftigkeit auf die Bühne brachte. Das ›totale Theater‹, das Tooming in »Kohle und Könige« beanspruchte, entsprang somit aus der Zusammenkunft der historischen Vorbilder, der gegenwärtigen kulturellen Entwicklungen und der persönlichen Interessen des Regisseurs und hat im Rahmen der Theatererneuerung ausnahmsweise eine Strategie entfaltet, bei der das Spiel deutlich vom Raum und von den Gegenständen ausging und eine Verbindung mit der ›Spielhaftigkeit‹ der Pop-Art erzeugte – mit einem Diskurs, der für die jungen Künstler als einer der wichtigsten Anknüpfungspunkte diente, in der Theatererneuerung aber kaum angesprochen wurde. Aufgrund des Raumes hat man in »Kohle und Könige« auch die Stimmung und den Ablauf des Spiels umgedeutet, die ernsthafte Einstellung und nach Ritualität oder nach der Tiefe des Unbewussten strebende Handlungen wurden durch leichtsinniges – zweckloses, aber spaßiges – Singen und Tanzen ersetzt. »Kohle und Könige« deutete vielleicht am deutlichsten ein Kennzeichen an, das das Interesse für das Spiel im Rahmen der Theatererneuerung charakterisieren vermag – auch wenn der Begriff ›Spiel‹ beibehalten, häufig benutzt und mit den theoretischen sowie historischen Beiträgen unterstützt wurde, ging es nicht (nur) um den Anreiz und die Auslegung des Phänomens selbst, sondern das Spiel diente immer auch als eine Vermittlung, wodurch man etwas aus dem näheren oder breiteren Umfeld zum Ausdruck brachte und bearbeitete. Die Hinwendung zum Spiel und dessen zentrale Rolle in den Theaterexperimenten sind jedoch keineswegs als zufällig zu betrachten. Zum einen ermöglichte die Besonderheit des Spielphänomens eine besondere Auseinandersetzung mit der Umwelt und mit sich – dem Spielenden – selbst, einen 661 Vgl. Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 156.

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flexiblen und dynamischen Umgang mit allen nur erdenklichen Fragestellungen, die die vorgegebenen Wahrheiten und Normen in Bewegung setzten. Zum anderen entstand auch der Anspruch auf Totalität (mindestens zum Teil) gerade in Bezug auf die Spielforschung, auf deren Umsetzungen und daraus resultierenden Erfahrungen, wobei die historischen Vorbilder und Theorien des ›totalen Theaters‹ sowie auch die kontextuellen Entwicklungen bezüglich der Synthese der Künste als unterstützende Faktoren dienten. Wenn Tooming bei »Kohle und Könige« das Spiel nach außen kehrte – an den Raum anschloss und zeitlich ausdehnte –, um ein allumfassendes theatrales Ereignis zu schaffen, ging es bei Hermaküla um die Totalität des Spiels im Sinne eines totalen Aktes, der zwar einen äußerlichen Ausdruck finden und im Rahmen einer Theateraufführung kommunikativ sein sollte, in erster Linie aber vom Spielenden bzw. Schauspieler erlebt werden muss. In beiden Fällen war das Spiel als ein aus sich heraus entfaltender Prozess gedacht, dessen Schwerpunkt bei Tooming auf der gemeinsamen Erfahrung lag, bei der man sich in eine größere Einheit erspielte und sich davon mitreißen ließ, bei Hermaküla auf den Momenten einer bestimmten ›Authentizität‹, die der Spieler mithilfe der kollektiven Aktivitäten erreichen vermochte, bei denen jedoch eine individuelle Erkenntnis im Vordergrund stand, die nicht unbedingt oder vollständig vom gemeinschaftlichen Zusammensein abzuleiten und diesem unterzuordnen war. Das Ego des Spielenden wurde im ersten Fall geschwächt, im zweiten Fall verstärkt, obwohl die beiden Spielmodi auf die eine oder andere ambivalente Weise auch gegensätzlich wirken konnten – die Zugehörigkeit zum Spiel als Entgegensetzung zum Äußerlichen (zu den Nicht-Spielenden) konnte ein verstärktes Identifikationsmuster mit sich zu bringen, das Streben nach Authentizität setzte wiederum das Loslassen des gewohnten Selbstbildnisses voraus. Die Verwirrung des Zuschauers wurde bei beiden Versuchen, diese zwei Spielformen vor das Publikum zu bringen, aus äußerlich ähnlichen, innerlich unterschiedlichen Gründen verursacht. Bei »Kohle und Könige« wurde das Sujet dermaßen ausgebreitet und ›überspielt‹, dass es kein kongruentes und nachvollziehbares Ganzes mehr bildete, bei »Ohrfeigen« hat man das Grundnarrativ mit dem so intensiven, zum Teil von der Eigendynamik geführten Spiel überladen, dass es als ein Angriff auf die Zuschauer wirkte und sich nicht mehr feststellen ließ, was eigentlich auf der Bühne vorgegangen war. Zentral bei den beiden Inszenierungen sowie auch in der ganzen Theatererneuerung war das paradoxe Verhältnis zwischen dem Theater (bzw. einer Form des Theaters) und dem Spiel (bzw. den bestimmten Vorstellungen und Erwartungen bezüglich des Spiels). Man ging vom Theater aus, konzentrierte sich auf das Schlüsselwort ›Spiel‹, um dadurch neue Kenntnisse und Erfahrungen innerhalb einer künstlerischen Disziplin zu erweisen; der Spielbegriff führte zwar zu vielen neuen Erkenntnissen, aber auch zur Entfernung vom Theater – in erster Linie von dessen in diesem Kontext etablierter Form, zum Teil aber von einer Aufführungssituation, wobei die Darsteller und Zuschauer gleichermaßen berücksich-

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tigt werden, im Ganzen. Das Ziel und der Prozess der Spielforschung waren jedoch unmittelbar ans Theater gebunden und trotz der relativ weitgehenden, von den Schauspielern durchgeführten Spielexperimente hat man die anderen Faktoren und Bedingungen einer Theateraufführung nur vorsichtig hinterfragt oder verschoben – man begegnete immer wieder dem Bedürfnis, die experimentbezogenen Entdeckungen in den Rahmen des konventionellen Theaters zu ›implantieren‹, was stets kompliziert, manchmal unmöglich war. Die womöglich bedeutendste verbindende Charakteristik, die alle Spieltheorien durchzieht, ist die unvermeidliche Auseinandersetzung mit der Komplexität des Phänomens, die derart hoch ist, dass es nicht nur Schwierigkeiten bei der präzisen Definition bereitet, sondern stets unumfassend bleibt und entweder zu einer begrenzten Schilderung, die nur einen Teil der Grundzüge und Erscheinungsformen des Spiels berücksichtigt, oder zu einer weitschweifigen, nie ganz klaren und ausreichenden Bestimmung führt. Die Gründe dieser Komplexität und Unumfassbarkeit werden zumeist durch die grundlegende Funktion des Spielens im menschlichen Leben erklärt – da das Spiel für den Menschen von fundamentaler, existenzieller Bedeutung ist, muss es ebenso komplex wie der Mensch oder die Gesellschaft im Ganzen beschrieben werden.662 Besonders mithilfe des phänomenologischen Wortschatzes entwickelte Spieltheorien tendieren zu einer allumfassenden Definition des Spiels als Adaptionsweise bzw. das »Aufeinander-Einspielen von Subjekt und Welt« (F. J. J. Buytendijk), als »Urphänomen« (Huizinga), als »Bewegungsphänomen« (Hans Scheuerl) oder »Weltsymbol« (Eugen Fink).663 Caillois, dessen Augenmerk zwar mehr auf der strukturellen und organisatorischen denn auf der phänomenologischen Bestimmung des Spiels lag, hat es jedoch ebenso als »Totalphänomen« bezeichnet664 und einer Gleichstellung des Spiels mit dem Leben zugestimmt. Das Interessante bei dieser Gleichstellung ist eine besondere Kombination der Inklusivität und des Unterscheidungsvermögens – man könne nicht sagen, dass »alles ein Spiel ist«, jedoch wäre es plausibel zu behaupten, dass alles auf »spielerischen Elementen« basiert. 665 Die ›Totalität‹ des Spiels wäre vor diesem Hintergrund als eine Seinweise zu denken, wobei das Spielerische einerseits überall und in Verbindung mit allen Aktivitäten zu erscheinen vermag, aber immer die gewöhnlichen Muster des Alltagshandelns in Bewegung setzt, modifiziert, erneuert und somit in einer Entgegensetzung zum ›Nicht-Spiel‹ steht. Diese Entgegenset662 Silvia Gregarek, Bärbel Homann, Was ist Spiel? – Symposion Spieltheorie. Hg. HansWolfgang Nickel, Christian Schneegass. Berlin: LAG-Materialien, 1998, S. 256. 663 Michael Kolb, Spiel als Phänomen – Das Phänomen Spiel: Studien zu phänomenologisch-anthropologischen Spieltheorien. Sankt Augustin: Academia Verlag Richarz, 1990, S. 356-357. 664 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, S. 202. 665 Silvia Gregarek, Bärbel Homann, Was ist Spiel? – Symposion Spieltheorie, S. 258.

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zung ist jedoch weder stabil noch genau begrenzbar, die spielerischen Elemente können dynamisch zum Vorschein kommen und voneinander abweichen. Wenn man will, lässt sich eben diese Flexibilität und Entfaltung inmitten des alltäglichen Lebens als grundlegend für die ›Totalität‹ des Spiels betrachten, das somit nicht als eine Spiegelung oder Alternative zum Alltag, sondern als ein unmittelbarer Teil davon, als ein spezifischer Handlungsmodus zu bestimmen wäre. Auf der anderen Seite kann die Begriffsgeschichte des Spiels keineswegs von deren historischen Bedingungen getrennt werden und das Kennzeichnende für viele, vielleicht für die meisten Spieldefinitionen ist eben eine Interaktion der beiden Standpunkte, von denen weder der eine noch der andere unbeachtet bleiben kann. Einerseits wird das Spiel in vielen Ansätzen als »emphatischer Totalitätsbegriff« gebrandmarkt und in eine Art übergeschichtliche Entität erhoben, die nicht für die »wissenschaftliche Objektivität« zur Verfügung steht, 666 andererseits entsteht jede Spielbetrachtung offenbar in einer bestimmten historischen und gesellschaftlichen Situation, in der nicht zuletzt auch die dem Spiel zugesprochene Totalität immer wieder unterschiedlich verstanden wird. Wenn in den Künsten und in den gesellschaftlichen Bewegungen der 1960er Jahre häufig der Anspruch auf Totalität Ausdruck fand – im Sinne der Entgrenzung der Disziplinen, der Gleichsetzung des Persönlichen und des Politischen u.a. – kann man dabei eine Entfaltung der romantischen Visionen bezüglich der individuellen Authentizität, die zur neuen gesellschaftlichen Ordnung zu führen vermag, von der Zuwendung zur sozialen Utopie, deren Ausführung die persönliche Befreiung ermöglichen könnte, unterscheiden, auch wenn beide häufig in einer gemischten Form erschienen. Auf eine bemerkenswerte Weise kann man diese Tendenzen in zwei Texten von Leonhard Lapin nachvollziehen; die Texte stammen zwar erst aus den 1970er Jahren und stellen unter anderem eine zeitliche Entwicklung der ideellen Richtungen in der (sowjetischen) Neo-Avantgarde dar, lassen sich jedoch auch in Bezug auf die kulturellen Erscheinungen der vorausgegangenen Dekade auslegen. In »Happening in Estland« (1970), in dem Lapin vorgeschlagen hat, dass der Begriff ›Happening‹ als ›Spiel‹ (mäng) übersetzt werden könnte, ging es um eine poetische Reflexion auf das Schaffen einer (persönlichen) ›anderen Welt‹, zu dem das Happening bzw. das Spiel geeignet ist.667 Einige Jahre später, in einem Vortrag im Rahmen des ›Monats des Theaters‹ im Jahr 1976 legte er aber einen äußerst gesellschaftsorientierten Plan zur »Verwandlung des Tallinner Theaterlebens ins Tallinner Theater des Lebens« vor. Natürlich ist hierbei sowohl der Anlass des Vor666 Martina Lenhardt, GrenzFall: Zum Verhältnis von Performance und Spiel, S. 19. Hinweis auf: Rudolf Heinz, Artikel »Spiel« in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. III. Hg. Hermann Krings, Hans-Michael Baumgartner, Christoph Wild. München: Kösel, 1974, S. 1376-1378. 667 Vgl dazu Kapitel III, S. 135-136.

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trags als auch der humoristische Ton des Textes zu beachten, doch kann man sowohl die begrifflichen als auch die ideologischen Ersetzungen und Wendungen nicht übersehen. In »Verwandlung …« wird eine Vision über die Aufhebung »aller Grenzen zwischen dem Leben und dem Theater« ausgearbeitet, wobei sich das Theater in Leben und das Leben in ein Theater wandeln soll.668 Der Ausgangspunkt dieser Wandlung war laut Lapin jedoch nicht mehr die Vorstellungskraft wie in »Happening in Estland«, sondern eine sowohl stadtgestalterische als auch strukturelle und administrative Reform, wobei alle Theater in Tallinn in die verschiedenen Industriegebäude umziehen und die Bestände der Theater umgeschult werden sollten, sodass alle Künstler auch eine zweite Qualifikation haben, um in einem Produktionsbetrieb mitzuarbeiten und die anderen Arbeiter wiederum in die theatralen Aktivitäten zu integrieren.669 Darüber hinaus sollten die Schauspieler die Aufführungen für das Massenpublikum an öffentlichen Orten veranstalten, die Inszenierungen sollten »rationalisiert« und allzu komplizierte Meinungsäußerungen durch einfachere, alltagsgebundene Botschaften ersetzt werden.670 Der Vortrag stellte eine ambivalente Mischung der künstlerischen/ideologischen Ansätze und der breiteren kontextbezogenen Haltungen in der Sowjetunion in den 1970er Jahren dar, wobei die Ironie sich zu einer fast allumfassenden Strategie der künstlerischen und gesellschaftlichen Kommunikation entwickelt hat.671 Sowohl die ernst genommenen als auch die ironisierten Ideen wurden häufig auf derselben rhetorischen Ebene weitergegeben und ließen sich nicht eindeutig unterscheiden; sogar wenn diese Verschmelzung maßgeblich durch die Ausdrucksweise generiert wurde, beeinflusste diese offenbar auch die inhaltliche Wahrnehmung der Aussagen. Sowohl die Behauptung, dass sich das Theater zusammen mit der Architektur in die führende Kunstgattung verwandelt (wie es während der Jahrhundertwende gewesen sei)672 als auch die Gleichsetzung von Künstlern und Arbeitern, die Lapin in »Verwandlung …« skizzierte, zeigen eine Hinwendung zu den Visionen der historischen Avantgarde, wobei sowohl die verschiedenen Ideen bezüglich des Gesamtkunstwerks (die einen Bezug auf den Jugendstil aufweisen)673 als auch das gesellschaftliche Engagement des Künstlers (das mit dem Einfluss des russischen Konstrukti668 Leonhard Lapin, Ettepanek Tallinna teatrielu muutmiseks Tallinna eluteatriks. Vortrag am 28.03.1976 beim Treffen der kreativen Jugend im Rahmen des Monats des Theaters; handschriftliches Dokument im Besitz des Künstlers Leonhard Lapin. 669 Ebd. 670 Ebd. 671 Vgl. dazu Mari Laanemets, Zwischen westlicher Moderne und sowjetischer Avantgarde, S. 253-255. 672 Leonhard Lapin, Ettepanek Tallinna teatrielu muutmiseks Tallinna eluteatriks, 1976. 673 Vgl. dazu Mari Laanemets, Happening’id ja disain – visioon kunsti ja elu terviklikkusest, S. 28-31.

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vismus in Verbindung gesetzt werden kann) angesprochen wurde; besonders vor dem Hintergrund von Lapins Texten über Architektur in dieser Zeit lässt sich sagen, dass diese historischen Vorbilder für ihn als die wichtigsten Anhaltspunkte galten.674 Sein Industrialisierungs- und Totalisierungsprojekt des Theaters ist vor allem in dessen Zwiespältigkeit zu reflektieren – einerseits diente es als eine ironisch übertriebene Darlegung der Modernisierung der sowjetischen Gesellschaft, andererseits wurden dabei die Hintergedanken sowohl bezüglich der Umweltgestaltung als auch der gesellschaftlichen Relevanz der künstlerischen Praktiken von Lapin ernst genommen. Darüber hinaus wies er mehrmals auf die Körperlichkeit hin – ausgehend von der Abschaffung der Grenzen zwischen der Elitär- und Massenkultur sollten die Ballettaufführungen mit einem Striptease abgeschlossen werden und in die rationalisierten Inszenierungen sollte generell mehr das »Spiel mit dem Körper« eingebracht werden. 675 Bei diesen Vorschlägen kann man wiederum eine Ironie hinsichtlich der Theatererneuerung spüren, deren körperbezogene Strategien unter den Künstlern keine besondere Begeisterung weckten, selbst wenn man sich in den größeren kulturellen und ideologischen Konstellationen keineswegs gegen die Theaterexperimente stellte. Lapins Vortrag bietet somit ein ausdrückliches Beispiel der typischen Rhetorik der halb- oder inoffiziellen Kultur in der Sowjetunion am Ende der 1960er und insbesondere während der 1970er Jahre, die die verschiedensten Ideen koppelt und durch diese Koppelung auch in Bewegung setzt. Mithilfe allgegenwärtiger Ironie wurden jegliche Ansprüche auf stabile und feste Positionen suspendiert, jedoch war die Ironie zur selben Zeit auch ein Schutzmechanismus und ein strategisches Mittel, um bestimmte Ideen überhaupt ausdrücken zu können. Die innere Logik des einen oder anderen derartigen Textes muss immer in Verbindung mit kontextuellen Faktoren und praktischen Aktivitäten betrachtet werden, um die Bedeutung einzelner Aussagen detaillierter zu fassen. Vor dem Hintergrund der Erörterung der Totalität des Spiels bzw. des Theaters und im Hinblick auf die Verknüpfungen der Theaterexperimente und der künstlerischen Aktivitäten in Estland in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren scheint Lapins Hinwendung von der Herausstellung des Spiels in »Happening in Estland« zur Lobpreisung des Theaters in »Verwandlung …« in mehrfacher Hinsicht interessant. In beiden Fällen wurde eine kulturelle bzw. künstlerische Praxis hervorgehoben, der – im Vergleich zu den anderen alltäglichen oder künstlerischen Handlungsformen – ein besonderes Potential zugesprochen wurde, das vor allem in höchster Integrität und allumfassender Wirkung bestand: Das Spiel vermöge eine alternative Realität herzustellen, die von der eigentlichen Lebensumwelt befreit und eine an674 Vgl. dazu Epp Lankots, History Appropriating Contemporary Concerns: Leonhard Lapin’s Architectural History and Mythical Thinking. – Kunstiteaduslikke Uurimusi/Studies on Art and Architecture 3–4 (19), 2010, S. 121-130. 675 Leonhard Lapin, Ettepanek Tallinna teatrielu muutmiseks Tallinna eluteatriks, 1976.

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dersartige Existenz ermöglicht,676 das Theater könne wiederum die Bestandteile der sowohl alltäglichen Aktivitäten als auch künstlerischen Disziplinen auf eine Weise zusammenbringen, die die Grenzen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen auflöst und eine neue Kongruenz erzeugt. Die Totalität, die in beiden Visionen beansprucht wurde, wäre im ersten Fall durch die totale Ersetzung, im zweiten Fall durch totale Integration zu erreichen. In diesem Rahmen lassen sich zwei deutlich unterschiedliche Herangehensweisen an das Spiel beobachten, auch wenn der Begriff selbst in »Happening in Estland« explizit im Vordergrund stand, in »Verwandlung …« hingegen eher implizit vorliegt. Laut Lapins poetischer Überlegung zum ›Herausspielen‹ aus der Alltagsrealität und zur Schaffung eines ›irrealen Lebens‹677 besteht das Spiel in einem totalen Akt – in einer Wahrnehmungsverschiebung, die alles umfasst und alles ändert. Bei der Vision über das Theater des Lebens handelt es sich um eine Synthese, bei der das Spiel im Prozess der totalen Umstrukturierung erscheint und als Bindemittel funktioniert, in jeder Handlung, in jeder Auseinandersetzung zu finden ist, ein neues Ganzes schaffen kann bzw. dazu beiträgt, aber in keiner Hinsicht als ein Ganzes an sich fungiert. Die Grundzüge dieser beiden Ansätze kamen auch in den verschiedenen praktischen Aktivitäten der jungen Künstler zum Ausdruck, sogar wenn eine derartige Dialektik offenbar nur mit Vorbehalt ausgearbeitet werden kann und die Vorgänge der Happenings eine fließende Mischung der Taktiken aufwiesen. Jedoch kann man einerseits in einigen Aktionen eine synthetische Orientierung feststellen, wobei entweder das Schaffen eines integrierten räumlichen Umfeldes (»Popabend«, Biafra-Happening) oder ein komplexes Handlungsmuster (»Trio auf dem Klavier«, »Begraben des Mannequins«) als Ausgangspunkt diente und sich durch die Aufnahme möglichst vieler Elemente entfaltete, andererseits basierten manche Aktivitäten in erster Linie auf der Veränderung der Wahrnehmung, was auf den Ablauf aller Tätigkeiten zurückzuführen war (»Papiere in der Luft«, »Weekend in Vääna«). Das explizite Verlangen oder implizite Streben nach Totalität entstand in den Künsten der 1960er Jahre gleichermaßen aus dem Protest gegen Differenzierung der modernen Gesellschaft und aus dem Bedürfnis, die etablierten künstlerischen Disziplinen zu entgrenzen, deren konventionelle Formen und lebensfremde Entwicklungslinien zu zerlegen, um (wieder) eine Verbindung zwischen der künstlerischen Tätigkeit und dem Alltag herzustellen. In der Kultur der sozialistischen Länder gewann der Anspruch auf Totalität einige kontextgebundene Besonderheiten, die sowohl eine Zuneigung zur Suche nach universalen Werten als auch ein ambivalentes Verhältnis zur Vermischung der Kunst und des Alltagslebens aufwiesen, nicht eine eindeutige Gleichsetzung des Persönlichen und des Politischen oder eine kompromisslose Orientierung auf die Gegenwart ermöglichten (wie häufig in der 676 Leonhard Lapin, Avangardi kuldsed kuuekümnendad. – Avangard, S. 193. 677 Ebd.

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westlichen Kultur), sondern stark von den zeit- und raumübergreifenden Fragestellungen, darunter von der Auseinandersetzung mit der Philosophie des Existenzialismus geprägt waren. Wenn Letztere für die Aktivitäten der jungen Künstler einen breiteren und relativ vagen Hintergrund erzeugte und in erster Linie im Interesse für die Absurdität ihren Ausdruck fand, kann man bei der Theatererneuerung – sowohl in der Auslegung des Spielbegriffs als auch in der Totalisierung der künstlerischen Praxis – den Einfluss des Existenzialismus keineswegs unterschätzen, auch wenn er zum Teil von anderen Ideen und Theorien überblendet wurde. Am Anfang der Theatererneuerung lag mit dem »Aschenputtelspiel« eine metaphorische Darstellung der Welt und des Lebens vor, bei der das totale Spiel, in dem sich alle beteiligten, aus dem man nicht heraustreten konnte und das vor allem die Entfremdung der gegenwärtigen Gesellschaft offenbarte, als ein grundlegendes Element erschien. Während der Kulmination der Theaterexperimente – in »Ohrfeigen« – waren die existenzialistischen Ansätze versteckter und mit anderen Ideologien gemischt; auch da wurde ein totales Spiel beansprucht, aber nicht mehr (nur) als ein Äquivalent der Entfremdung betrachtet, sondern (ausgehend von inzwischen aufgerichteten Zielsetzungen und Methoden) auch als ein Weg zur ›Authentizität‹. Immerhin kann man den Existenzialismus weder im Hinblick auf die Produktion noch auf die Rezeption von »Ohrfeigen« beiseitelassen; besonders eine kurz nach der Premiere veröffentlichte Rezension des Kritikers Valdeko Tobro mag dazu eine interessante Perspektive eröffnen. In seinem kritischen Überblick griff Tobro die beiden Grundlagen der Inszenierung an: die Bearbeitung des Textes von Leonid Andrejew und das inszenatorische Verfahren. Die Popularität von Andrejew im Westen basiere laut Tobro darauf, dass sein Konzept des Menschen einen Bezug auf den Existenzialismus aufweise, jedoch sei es die Aufgabe des sowjetischen Theaters, diesen Bezug zu widerlegen und den progressiven Kern der Texte zu öffnen – als ein Teil des ideologischen Kampfes mit der existenzialistischen Philosophie.678 Hermaküla habe aber eben die irrationalen Elemente von Andrejew hervorgehoben, in ihnen »Rettung und Rechtfertigung« gesucht und die ganze Inszenierung in ein zum Teil absurdes Narrenspiel verwandelt – bei Andrejew diene die Groteske zur Betonung des Konfliktes zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, Hermaküla habe es auf die Hauptperson des Dramas übertragen und für die Irrationalität und Sinnlosigkeit der Menschlichkeit argumentiert. 679 Die dabei nachgeahmte Methode von Grotowski habe laut Tobro zum Scheitern geführt, da Hermakülas Schauspieler keine angemessene Vorbereitung dafür gehabt hatten – das Ergebnis sei nicht eine lebendige und spontane Selbstöffnung, sondern eine Gruppenhysterie gewesen, die Stereotypen der psychischen und physischen Zustände, chaotische und unklare Bilder aus678 Valdeko Tobro, Õigus eksperimendile võrdub kohustusega kontrollida tulemust. – Thespis, S. 63-64. Erstveröffentlichung: Sirp ja Vasar, 10.12.1971. 679 Ebd., S. 67-68.

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drückte und anschließend eine vollkommene Entropie erzeugte. 680 Die künstlerischen und ideologischen Fehlschüsse seien unter anderem daraus entstanden, dass das absurde Theater und Grotowskis Methode sich nicht gleichsetzen lässt.681 Der der Theatererneuerung nahstehende Kritiker Jaak Rähesoo hat in seiner ausführlichen Antwort auf Tobros Rezension bzw. in einer Verteidigungsrede für »Ohrfeigen« allerdings die Frage des Existenzialismus vollkommen abgelehnt – es sei ihm nicht klar gewesen, was Tobro mit dem Existenzialismus und dem Absurden meint, anscheinend sei es für ihn ein Synonym für jegliche Verzweiflung und jegliche Groteske.682 Da Rähesoo selbst am Ende der 1960er Jahre einige bedeutende Texte über die existenzialistischen Bezüge im gegenwärtigen estnischen Drama sowie auch über westliches absurdes Drama geschrieben hat,683 scheint diese Ablehnung eine bewusste Vermeidung der Diskussion über Existenzialismus zu sein, die genau zwei Jahre zuvor – vor der Premiere von »Aschenputtelspiel« – in einer öffentlichen Polemik kulminierte und schließlich administrativ beendet wurde.684 Die Frage nach den Zusammenhängen zwischen den Auslegungen des Spielbegriffs bzw. dem Streben nach totalem Spiel und der Bearbeitung des Existenzialismus wurde im Rahmen der Theatererneuerung sowie auch in Bezug auf die künstlerischen Aktionen nur am Rande reflektiert und ist auch im Nachhinein nicht gründlicher betrachtet worden, jedoch verlangt es mit Sicherheit eine hohe Aufmerksamkeit. Genau diesem Zusammenhang widmet sich das nächste Kapitel dieser Arbeit.

680 Ebd., S. 67. 681 Ebd., S. 68. 682 Jaak Rähesoo, »Sina, kes sa saad kõrvakiile« puhul. (1971) – Thespis, S. 75. 683 Vgl. Jaak Rähesoo, See maailm ja teised. (1969) – Hecuba pärast, S. 15-53; Jaak Rähesoo, Aupärjaga kroonitud Samuel Becketti puhul näiteks absurdistki rääkides. (1969) – Hecuba pärast, S. 54-61. 684 Vgl. dazu Kapitel V, S. 237-239.

V Das absurde Spiel

Einer der bedeutendsten Faktoren, der die kulturellen Entwicklungen in den sozialistischen Ländern ab Ende der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre geprägt hat, war die durch die Liberalisierungspolitik begünstigte Zusammenkunft, gleichzeitige Bearbeitung und Verknüpfung der verschiedenen neuen Impulse, die im Rahmen der aktuellen politischen Situation angenommen und umgedeutet wurden. Die Adaption des Existenzialismus lässt sich vor diesem Hintergrund als eines der problematischsten, aber auch interessantesten Phänomene betrachten. Die Verbreitung und der Einfluss der existenzialistischen Texte und Ansichten konnte unter den Bedingungen der demonstrativen Offenheit des Ostblocks während der TauwetterPeriode nicht vermieden werden und diese fanden in den totalitaristischen Gesellschaften eine besonders starke Resonanz, standen jedoch im grundsätzlichen Widerspruch mit der offiziellen Ideologie und verlangten einen achtsamen Umgang mit den möglichen Auslegungen dieser Ansichten. Ziel dieses Kapitels ist es, zu beschreiben und zu analysieren, wie die mit dem Spielbegriff verbundenen künstlerischen Praktiken in der estnischen Kultur der 1960er Jahre einen Bezug zum Existenzialismus aufwiesen, wie sich beide zueinander verhielten und füreinander einen Interpretationskontext gestalteten – wie das Spiel existenzialistisch und der Existenzialismus spielerisch wahrgenommen wurde. Dabei muss man mehrere Zeit- und Deutungsverschiebungen und daraus entstandene ideelle Kooperationen und Verflechtungen beachten: sowohl das Übersetzen des existenzialistischen Absurditätsgefühls ausgehend vom sozialen und alltäglichen Absurden als auch – im Gegensatz dazu – das Lächerlichmachen des Existenzialismus mit Hinblick auf die gesellschaftliche Absurdität, das Zusammenfallen der Annahme des Existenzialismus mit der Entdeckung der Psychoanalyse oder wiederum mit dem Bewusstwerden der neuen künstlerischen Ideologien der 1960er Jahre u.a. Eine der Hauptthesen dieser Arbeit lautet, dass sich durch die enge Verknüpfung mit der Bearbeitung des Existenzialismus eine Besonderheit der Spieldefinitionen innerhalb der betrachteten künstlerischen Praktiken in Estland (im Vergleich zur westlichen Neo-Avantgarde) herausbildete. Darüber hinaus vermag die Analyse des ambivalenten Verhältnisses

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zwischen dem Spiel und dem Absurden auch eine interessante und produktive Perspektive für die Spielforschung bereitzustellen.

5.1 Ü BERNAHME

DES E XISTENZIALISMUS IM SOZIALISTISCHEN U MFELD

Im Sommer 1964 – im letzten Jahr der Zeit des Tauwetters in der Sowjetunion – besuchten Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir Estland.685 Es war eine der zehn Visiten Sartres in die Sowjetunion zwischen 1954 und 1966;686 als den Kommunisten nahestehender Freiheitskämpfer wurde er immer gern empfangen, unter anderem dienten die Besuche dazu, die Offenheit der sowjetischen Länder zu demonstrieren. Die offizielle Ansicht bezüglich des Existenzialismus, der noch knapp zehn Jahre zuvor als ein zumeist sowjetfeindliches Phänomen bezeichnet wurde, hatte sich während der Liberalisierungspolitik am Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre abgeschwächt. So übersetzte man eine kleine Auswahl der Werke von Sartre, Camus und anderen mit dem Existenzialismus verbundenen Autoren; in Estland wurden 1963 »Die Pest« und 1966 »Der Fremde« von Camus,687 1965 »Die Wörter« von Sartre688 und 1966 Kafkas »Der Prozess«689 veröffentlicht. Allerdings sollten die philosophischen Überlegungen der Autoren vor allem die Funktion haben, den hoffnungslosen Zustand des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen. Während Sartres Besuch war die offizielle Einschätzung des Zusammenhangs seiner philosophischen Ansichten und politischen Tätigkeiten jedoch nicht ganz zu vermeiden. Im offiziellen Bericht über den Besuch in Estland hieß es zwar einerseits, dass die Werke von Sartre und Beauvoir widersprüchlich seien, andererseits wurde auch behauptet, dass ihre frühere Texte mit den späteren eigentlich nicht viel zu tun hätten und deren Teilnahme an der Widerstandsbewegung während des Krieges als eine Bruchstelle gelte, die sie zur Überzeugung gebracht habe, dass die Erkenntnis der Sinnlosigkeit der Existenz nicht zur absoluten Freiheit führt, sondern – im Gegenteil – zur aktiven Stellungnahme bezüglich der schreckli-

685 Vgl. dazu Marek Tamm, Sartre ja de Beauvoir Nõukogude Eestis. – Vikerkaar 10–11, 1998, S. 148-156. 686 Ebd., S. 153. 687 Albert Camus, Katk. Übersetzung von Henno Rajandi. Loomingu Raamatukogu Nr. 43–46. Tallinn: Perioodika, 1963; Albert Camus, Võõras. Übersetzung von Henno Rajandi. Loomingu Raamatukogu Nr. 45. Tallinn: Perioodika, 1966. 688 Jean-Paul Sartre, Sõnad. Übersetzung von Leili-Maria Kask. Loomingu Raamatukogu Nr. 25–26. Tallinn: Perioodika, 1965. 689 Franz Kafka, Protsess. Übersetzung von August Sang. Loomingu Raamatukogu Nr. 40– 43. Tallinn: Perioodika, 1966.

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chen Realität verpflichtet.690 Insgesamt blieb der Bericht jedoch vorsichtig, setzte sich weder mit Sartres Suche nach einem dritten Weg zwischen Imperialismus und Kommunismus noch mit seiner Revidierung des Marxismus auseinander und konzentrierte sich hauptsächlich auf die Beschreibung seiner politischen Aktivität. Im Interview mit Sartre wurden seine philosophischen Hauptwerke nicht erwähnt, die Fragen betrafen die politischen Texte, deren spezifische Bedeutungen und die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft; die Antworten waren ideologisch korrekt.691 Aus seinen Besuchen in die Sowjetunion kehrte Sartre mit überwiegend begeisterten Berichten zurück, bis er sich während der Prozesse über die russischen Dissidenten im Jahr 1966 in Moskau und besonders nach dem Prager Frühling im Jahr 1968 von der sowjetischen Macht und auch von seiner früheren Begeisterung distanzierte.692 Natürlich fanden alle Aufenthalte unter strenger Kontrolle statt; auch in Estland bedauerte Sartre, dass er sich in Tartu nicht mit den Studenten treffen konnte, weil diese angeblich wegen der Semesterferien die Stadt verlassen hätten, 693 obwohl der Grund auch an der damals schon relativ agitierten Stimmung der Studenten und deren unabsehbaren Aussagen liegen konnte. Simone de Beauvoir beschrieb in ihren Erinnerungen den Besuch in Estland auf eine sehr freundliche Weise, nur das Erfordernis, dass alles – nicht nur während der Stadtrundgänge, sondern auch bei der Landschaftsbesichtigung – von den Erklärungen eines Fachmannes bzw. einer Fachfrau begleitet war, sei etwas belästigend gewesen.694 Obwohl die offizielle Beurteilung des Existenzialismus als dekadente Philosophie des kapitalistischen Westens im Grunde unverändert blieb, eröffnete sich in der estnischen Kultur – zum Teil mithilfe von Sartres ambivalenter Position, vor allem aber aufgrund der Übersetzungen von Camus, Sartre, Kafka sowie der absurden Dramen von Mrożek (»Tango«, 1967),695 Ionesco (»Die Nashörner«, 1967),696 Havel (»Die Nachricht«, 1968) 697 und Beckett (»Glückliche Tage«, 1969) 698 ein 690 Simone de Beauvoir ja Jean-Paul Sartre Eestis. – Looming 7, 1964, S. 1116. 691 Jean-Paul Sartre’iga vestlemas. – Vikerkaar 10–11, 1998, S. 145-148. Erstveröffentlichung: Kodumaa, 1.07.1964. 692 Marek Tamm, Sartre ja de Beauvoir Nõukogude Eestis, S. 151. 693 Jean-Paul Sartre’iga vestlemas, S. 147-148. 694 Simone de Beauvoir [Külaskäik Nõukogude Eestisse]. – Vikerkaar 10–11, 1998, S. 159; Übersetzung von Marek Tamm aus dem Buch: Simone de Beauvoir, Tout compte fait. Paris: Gallimard, 1995 (1972), S. 427. 695 Sławomir

Mrożek,

Tango.

Übersetzung

von Aleksander

Kurtna.

Loomingu

Raamatukogu Nr. 17. Tallinn: Perioodika, 1967. 696 Eugene Ionesco, Ninasarvik. Übersetzung von Aleksander Kurtna. Tallinn: Eesti Raamat, 1967. 697 Vaclav Havel, Teade. Übersetzung von Leo Metsar. Loomingu Raamatukogu Nr. 19. Tallinn: Perioodika, 1968.

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Diskussionsfeld, in dem die einfache Ablehnung dieses dekadenten Phänomens nicht mehr ausreichte bzw. funktionierte – besonders dann, wenn ähnliche Ansprüche während der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auch in den Texten einiger junger estnischer Schriftsteller auftauchten. Die in kleineren Kreisen der Künstler und Intellektuellen begonnene Diskussion kulminierte in der öffentlichen Polemik über den Existenzialismus und das Absurde in der Zeitung »Sirp ja Vasar« Ende der 1968er und Anfang der 1969 Jahre, die schließlich administrativ beendet wurde.699 Die vielfältigen und flexiblen Positionen und Strategien in dieser Polemik sind vor dem breiten Hintergrund der spätsozialistischen Diskussionskultur zu betrachten: Man operierte oft mit ideologischen Begriffen und Argumenten, bewies mit ihrer Hilfe zugleich aber auch etwas, das im Rahmen der offiziellen Ideologie eigentlich nicht toleriert werden konnte, sodass Begriffe und Argumente keinen adäquaten Inhalt mehr hatten. 700 Man wusste, dass man – um die jungen Schriftsteller zu schützen – festhalten muss, dass es in deren Texten nicht um Existenzialismus geht – dass derjenige, der sich mit Fragen der Existenz beschäftigt, noch lange nicht ein Existenzialist sein muss, dass das Absurde auch als Sozialsatire umgedeutet werden kann, dass man überhaupt nicht vom Existenzialismus als von einem einheitlichen philosophischen oder literarischen Phänomen reden kann usw.701 Es gab auch einige ernste und gründliche Versuche, Existenzialismus und Marxismus in Verbindung zu bringen und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu finden; im Mittelpunkt dieser Versuche stand der Begriff ›Entfremdung‹ und die Frage, ob diese in der sozialistischen Gesellschaft vorkommen kann. Die ideologisch korrekte Antwort gab zu, dass die Entfremdung unter den Bedingungen des Sozialismus nicht undenkbar ist, behauptete aber, dass sie eine vollkommen andere Bedeutung als in der kapitalistischen Gesellschaft habe – im letzten Fall ist die Entfremdung unmittelbar und unvermeidlich mit den Grundlagen der sozialen Struktur verbunden und vertieft sich, in der sozialistischen Gesellschaft ist dies ein Rudiment, das im Laufe der weiteren Entwicklung verschwinden wird.702 698 Samuel Beckett, Õnnelikud päevad. Übersetzung von Ott Ojamaa und Valdek Kruuspere. Loomingu Raamatukogu Nr. 27. Tallinn: Perioodika, 1969; beinhaltet Theaterstücke »Akt ohne Worte I« (Sõnadeta vaatemäng I), »Das letzte Band« (Krappi viimane lint) und »Glückliche Tage« (Õnnelikud päevad). 699 Vgl. dazu Aare Pilv, Olemasolu-Eesti: eksistentsiaalse Eesti kontseptsioonist. – Looming 6, 2011, S. 845; Mart Velsker, Stalinismi võidud ja kaotused kuuekümnendatel aastatel. – Vikerkaar 10–11, 1998, S. 124-126. 700 Mart Velsker, Stalinismi võidud ja kaotused kuuekümnendatel aastatel, S. 126. 701 Vgl. ebd., S. 125-126. 702 Eduard Päll, Eksistentsialismi sugemetest eesti nõukogude proosakirjanduses. – Eesti nõukogude kirjanduse noorusmailt. Tallinn: Eesti Raamat, 1973, S. 137-139. Eine kürzere Version des Aufsatzes erschien in der Zeitung »Sirp ja Vasar« am 5.12 und

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Der während der Zeit des Tauwetters angefangene Modernisierungsprozess der offiziellen Kultur hat für derartige Diskussionen auch einen größeren Rahmen erzeugt. Am Anfang der 1960er Jahre stellte sich heraus, dass der kanonische sozialistische Realismus nicht mehr dem neuen Selbstbildnis der Sowjetunion als einem offenen, modernen, von der wissenschaftlich-industriellen Revolution geprägten Staat entspricht und dessen Ansprüche nicht wiedergeben kann. Die Reform sollte hauptsächlich die modernisierten bzw. abstrahierten Formen und nicht die ideologischen Botschaften der Kunstwerke betreffen, brachte aber natürlich viele inhaltliche Verschiebungen mit sich und ermöglichte es, in der Kritik mehrschichtige rhetorische Verfahrensweisen zu generieren. Ob ein Buch veröffentlicht, eine Inszenierung aufgeführt, ein Gemälde ausgestellt werden konnte, hing immer mehr von der Überzeugungskraft der Interpretation ab. Es wurde offiziell angenommen, dass die Kunst philosophisch sein kann bzw. sich nicht nur mit den aktuellen Problemen der sozialistischen Aufbauarbeit, sondern auch mit generellen Fragen des menschlichen Daseins beschäftigen darf; auch die Darstellungen des Menschen wurden vielfältiger und neben entweder rein positiven oder rein negativen Charakterisierungen wurden nun auch komplexere Betrachtungen toleriert. Die Grenze, die nicht überschritten werden durfte, betraf die Eindeutigkeit der allgemeinen Botschaft des Kunstwerkes: Als gefährlich empfand man nicht nur die falsche Botschaft – welche einfach widerlegt und eliminiert werden konnte –, sondern auch die Uneindeutigkeit, die unabsehbare Interpretationen auszulösen vermochte. Die Soziologen Marju Lauristin und Peeter Vihalemm haben in der Analyse der Studentenbewegung in Estland bzw. der Herausbildung der politischen Opposition im Rahmen der Komsomolorganisationen die Überlagerung der verschiedenen politischen, sozialen und kulturellen Verschiebungen am Ende der 1960er Jahre beobachtet: die Liberalisierung des Systems und die Milderung der Angstatmosphäre der vorherigen Dekade, das Auftreten der neuen, nach dem Krieg geborenen Generation, der Einfluss der neuen Medien bzw. des Radios und des Fernsehens auf das Weltbild dieser Generation, der optimistische Anfang des Prager Frühlings und die Wahrnehmung der Möglichkeit, innerhalb der kommunistischen Regierung Reformen durchzuführen, das Bewusstwerden der Studentenschaft als politisches Subjekt (nach dem Vorbild der westlichen Studentenbewegungen), die persönlichen Kontakte mit der russischen oppositionellen Intelligenz, die allgemeine kulturelle Belebung und die Rezeption der neuen philosophischen Diskurse (sowohl des Existenzialismus als auch beispielsweise der Ideen der Kybernetik und Inforevolution) sowie künstlerischer Neuorientierungen.703 Es bildete sich somit ein hybrider sozialer und 13.12.1968 unter dem Titel »Eksistentsialismist, absurdismist ja meie kirjanduskriitika mõttepinge tsentrumist«. 703 Marju Lauristin, Peeter Vihalemm, Tartu 1968: kolmkümmend aastat hiljem. – Looming 9, 1998, S. 1389.

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kultureller Hintergrund heraus, wobei jeder der genannten Faktoren im Zusammenhang mit den anderen betrachtet werden muss. In Bezug auf die Adaption der existenzialistischen Philosophie in diesem Kontext lassen sich einige interessante Verknüpfungen feststellen. Einerseits hat man den Existenzialismus nicht nur mit Blick auf das Trauma des II. Weltkriegs angenommen, sondern es wurde auch in den Prozess der Heilung eingemischt, im Rahmen der Linderung des sowjetischen Regimes als eine neue Freiheit betrachtet – als Freiheit, die Fragen nach dem menschlichen Dasein zu stellen, persönliche Wahrnehmungen und existenzielles Zweifeln zu legitimieren, ein komplexeres Menschenbild zu gestalten im Gegensatz zum eindimensionalen und rein sozialen Menschenkonzept der offiziellen Ideologie. Andererseits traf die Aktualisierung der existenzialistischen Ansichten bald mit der Resignation am Ende der 1960er Jahre zusammen, als sich herausstellte, dass die optimistisch begonnene Heilung nur zur Anpassung und nicht zum grundsätzlichen Neuaufbau der Gesellschaft führen kann, dass das komplexere Menschenbild und die sozialen Bedingungen nicht zur Übereinstimmung kommen werden und die Freiheit, sich mit den existenziellen Fragestellungen zu beschäftigen, zumeist den Rückzug von der Öffentlichkeit voraussetzt. Darüber hinaus entwickelte sich in der estnischen Kultur am Ende der 1960er Jahre eine Parallelität bzw. eine paradoxe Koppelung zwischen der Annahme des Existenzialismus und dem Interesse für Kybernetik und Informationstheorien bzw. für neue Technologien und deren sozialen Rollen. Das Letztgenannte äußerte sich in den verschiedenen gesellschaftlichen und künstlerischen Diskursen, stand einerseits mit dem Modernisierungsprojekt der offiziellen Kultur in Verbindung, fand aber auch in den experimentellen künstlerischen Praktiken den Ausdruck,704 lenkte diese wiederum zum Anspruch auf eine direkte soziale Relevanz und galt als ein bewusster Gegensatz zur existenzialistischen Abwendung bzw. der Entsagung von dem Gesellschaftlichen. Mithilfe der verschiedenen neuen Ideologien bildete sich eine kulturelle Dynamik heraus, in der die zwei Grundzüge – das Bedürfnis nach Individualität und die Suche nach gesellschaftlichen Neuorientierungen – einander hinterfragten und ausglichen oder auch auf die eine oder andere Weise kooperierten. Existenzialistische Ansichten konnten in diesen Konstellationen sowohl optimistische als auch pessimistische Töne bedeuten: Die Tatsache, dass diese Ansichten überhaupt Ausdruck fanden, sprach über die größere Offenheit der Gesellschaft und erzeugte Hoffnungen für die Änderung, in der Auseinandersetzung mit der offiziellen Ideologie wurden die Grundlagen und Botschaften dieser Ansichten jedoch eindeutig abgelehnt. Die existenzialistische Feststellung, dass jede Gesellschaft ungeachtet des politischen Regimes verdrängend wirkt, konnte zur Resignation bzw. zum Rückzug führen (da durch die gesellschaftlichen Entwicklungen kein Unterschied im menschlichen Dasein entsteht). Die Frage nach individueller Frei704 Vgl. dazu Andres Kurg, Feedback Environment, S. 26-50.

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heit bzw. dem Zustand des Individuums, die im Existenzialismus im Mittelpunkt stand, generierte im totalitaristischen Umfeld aber auch die Aufforderung zur gesellschaftlichen Aktivität – zum Teil wurden die philosophischen Ansichten auf den sozialen Kontext projiziert und damit in Verbindung gebracht (in einer anderen Gesellschaft könnte das Leben möglicherweise doch Sinn machen), zum Teil wurde die Annahme der tieferen Bedeutung dieser Ansichten verschoben (man kann sich nicht mit den Fragen der Existenz beschäftigen, wenn die elementare Freiheit für diese Beschäftigung fehlt). Die Rolle der Studenten kann in sozialen und kulturellen Prozessen am Ende der 1960er Jahre nicht unterschätzt werden, weder im Hinblick auf die politische Opposition, die von den Komsomolorganisationen ausging, noch auf die künstlerischen Neuorientierungen. Fast alle experimentellen Entwicklungen in den visuellen Künsten in dieser Zeit wurden von den Studenten des Kunstinstituts initiiert, die Theatererneuerung in Tartu war sowohl durch die persönlichen Hintergründe als auch durch die kontextuelle Unterstützung (das intellektuelle Umfeld, Aufführungsorte, Rezeptionsbedingungen) mit der Universität mehrfach verbunden. In Bezug auf den Existenzialismus und die oben geschilderten gesellschaftlichen Verhältnisse muss ein spezifisches Phänomen hervorgehoben werden, das die Komplexität der Ausdrucksformen der ideologischen Verschiebungen und Verknüpfungen in diesem Kontext zu beleuchten vermag: die Studentendemonstrationen in Tartu und Tallinn im Jahr 1968. Wenn die direkte Kontaktaufnahme mit dem Existenzialismus bzw. dem Absurden sich in den Künsten – in der Literatur, im Theater, in der visuellen Kunst – nachvollziehen lässt, können die alltäglichen Praktiken und Kommunikationsweisen die Ambivalenz dieser Kontaktaufnahme vielleicht sogar deutlicher weitergeben und auch ein Rezeptionsregime für die künstlerischen Aktivitäten darbieten; unter anderem wurde in den Studentendemonstrationen eine Verbindung zwischen dem Alltäglichen, Politischen und Künstlerischen geschaffen, die häufig implizit oder explizit auch den neuen Erscheinungen in den Künsten zugrunde lag. Die Demonstrationen fanden im Oktober 1968 (bereits nach dem Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag) anlässlich des 50. Jubiläums des Leninistisch-Kommunistischen Jugendverbandes und des internationalen Studententags statt705 und lassen sich sowohl im Rahmen der spätsozialistischen gesellschaftlichen Dynamik als auch als eine Reaktion auf die Ergebnisse des Prager Frühlings beschreiben. Die Veranstaltungen – einschließlich Fackelzüge, Konzerte 705 Vgl. dazu der offizielle Geheimbericht über die Demonstrationen in Tallinn und Tartu (verfasst vom Vorsitzender des Staatlichen Sicherheitskomitees, August Pork am 31.10.1968): August Pork, Eestimaa Kommunistliku Partei Keskkomitee esimesele sekretärile seltsimees I. G. Käbinile: eriinformatsioon. (1968) – Looming 9, 1998, S. 1399-1400.

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der Studentenbands u.a. – wurden offiziell geplant und geleitet, äußerlich handelte es sich somit nicht um den Ausdruck des Widerstandes, sondern man agierte im vorgegebenen politisch korrekten Rahmen. Jedoch haben die Studenten die Losungen, Reden und Lieder, die während der Demonstrationen vorgetragen wurden, auf eine Weise gestaltet, die die Botschaften äußerst mehrdeutig präsentierten – in der späteren Untersuchung des Geschehens war es eben diese Mehrdeutigkeit (oder auch Sinnlosigkeit) der Aussagen, die es den Behörden erschwerte, konkrete Anklagen zu erheben. 706 Es gab einige deutlich ideologiekritische Losungen (›Der Glaube an den Kommunismus ist das Opium des Volkes‹), einige fragliche Leitsprüche, wobei nicht ganz klar war, was sie bedeuten sollten (›Leute, seid vorsichtig‹, ›Bruderschaft ist in Gefahr‹, ›Es lebe Sozialismus und Aphorismus‹), aber auch solche, die zwar systemkonform klangen (›Es lebe die raffinierte Außenpolitik unserer Regierung‹),707 bei denen jedoch alle wussten, das damit eigentlich das Gegenteil gemeint war. Während der Studentendemonstrationen in Tartu hat man unter anderem das Verbot der Inszenierung des »Aschenputtelspiels«708 angesprochen – man hat den Titel des Theaterstücks skandiert und einige relevante Losungen vorgetragen – ›Prinz Albert, wo hast Du Aschenputtel versteckt?‹ und daneben ›Es lebe der kompromisslose Marxist Leonid Lentsman!‹.709 In den strategischen und rhetorischen Vorgängen der Demonstrationen kann man verschiedene Deutungsschichten unterscheiden und möglicherweise auch einen Übergang von einem Handlungs- und Denkmodus zum anderen beobachten, wobei die allgemeinen Haltungen und Einstellungen noch in heterogener Form erschienen. In großen Zügen ging es um eine Anpassungstechnik, bei der man nicht mehr an eine grundsätzliche Änderung glaubte, sondern innerhalb des Systems kleinere Verschiebungen und Redefreiheiten anstrebte und aushandelte; der Prager Frühling galt allerdings als eine Bruchstelle, nach der die frühere hoffnungsvolle Stimmung der 1960er Jahre sich in eine Atmosphäre zynischer und verzweifelter Leichtfertigkeit verwandelte. Als eine Reaktion auf die Niederschlagung der Reformbemühungen des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei können die Studentendemonstrationen in Estland im Hinblick auf das Einsetzen der Resignation betrachtet werden, wobei zu diesem Zeitpunkt die früheren optimistischen Haltungen dennoch nicht vollkommen verschwunden waren. Den allgemeinen 706 Vgl. ebd. 707 Ebd. 708 Die Inszenierung war im Mai 1968 fertig, wurde inzwischen verboten und im Februar 1969 auf die Bühne gebracht; vgl. Sven Karja, Lossimängud. Paul-Eerik Rummo – Evald Hermaküla »Tuhkatriinumäng«, 1969. S. 361ff. 709 Ebd., S. 382. Albert Laus war damaliger Kultusminister, Leonid Lentsman der Ideologiesekretär; die beiden haben sich im Prozess des Verbots beteiligt bzw. waren dafür am meisten verantwortlich.

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Überlegungen der Demonstrationen lag das Lächerlichmachen des ganzen Vorhabens zugrunde, die Studenten haben auf jede nur erdenkliche Weise angedeutet, dass das, was sie hier machen oder offiziell machen sollten, keineswegs ernst genommen und nur mithilfe der allumfassenden Ironie ausgeführt werden kann. Jedoch waren einige Witze gespitzt, provokativ und verbreiteten eine versteckte, jedoch ziemlich eindeutige Botschaft (Paraphrasen, umgedrehte Leitsprüche), bei den anderen ging es bereits zumeist um Narrenspiel, das die Bedeutungslosigkeit der Worte (es macht keinen Unterschied, was man sagt) und die Absurdität des Ganzen manifestierte. Die Dynamik des Narrenspiels in der öffentlichen Kommunikation des Spätsozialismus ist vielleicht am deutlichsten durch den Begriff ›Schwejking‹ (nach der literarischen Figur Josef Schwejk710) beschrieben worden als eine Taktik, die äußerst naive und übertriebene Zustimmung der offiziellen Ideologie und deren Erfordernisse in Unsinn zu überführen bzw. den vorgegebenen Unsinn zum Ausdruck zu bringen und dadurch das System zu entblößen. Allerdings hat man mehrmals darauf hingewiesen, dass das sog. Doppeldenken (wobei man je nach Situation zwei gegensätzliche Denk- und Verhaltensmodi verfolgt), soziale Schizophrenie und ›Schwejking‹ sich nicht immer trennscharf unterscheiden lassen – um das System ›von innen‹ zu untergraben, sollte man eigentlich innerhalb dessen fungieren, die Grenze zwischen dem vorgetäuschten und eigentlichen Konformismus blieb immer relativ vage.711 Die performativen Praktiken wie die Studentendemonstrationen brachten das ganze Panorama der inneren Logik der Kommunikation mit dem System zum Vorschein – das Hinterfragen und Provozieren des Systems wurde entweder durch das resignierte Lächerlichmachen aufgehoben oder vermischte sich mit einem Narrenspiel, das sich von sich aus zu entfalten schien und nicht mehr unbedingt auf etwas anderes als die Manifestation der Irrationalität zielte. Das Zitieren des »Aschenputtelspiels« bzw. das Verlangen nach der Veröffentlichung der im Stück geäußerten existenzialistischen Ansichten kann unter anderem als ein »politischer Kurzschluss«712 bezeichnet werden – die Demonstrationen hat man einerseits in Resonanz mit der westlichen Studentenbewegung und mit den Ereignissen in Prag initiiert, in denen die konkreten sozialen Reformen gefordert wurden, andererseits 710 Die Figur kommt in verschiedenen Texten des tschechischen Schriftstelles Jaroslav Hašek vor, der bekannteste unter denen ist der Roman »Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk« (Prag 1921–1923). Den Begriff ›Schwejking‹ (auf Estnisch ›švejkimine‹) benutzen beispielsweise Marju Lauristin und Peeter Vihalemm (Tartu 1968: kolmkümmend aastat hiljem, S. 1394) und es ist auch in der anderen Betrachtungen des Spätsozialismus in Gebrauch genommen worden. 711 Marju Lauristin, Peeter Vihalemm, Tartu 1968: kolmkümmend aastat hiljem, S. 1394. 712 Rein Veidemann, Isetekkeline eksitentsialism – eesti kultuuri ideoloogiline kood? – Akadeemia 6, 2006, S. 1195.

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brachten diese die Botschaften zum Ausdruck, die jegliche gesellschaftliche Änderung als mehr oder weniger hoffnungslos ansah; nach dem ›Weltbild‹ des »Aschenputtelspiels« gab es aus diesem Spiel keinen Ausweg. Das Verhältnis zur westlichen Studentenbewegung und dem Prager Frühling muss hierbei natürlich detaillierter gefasst werden: Während die Generation der 1960er Jahre im Westen eher durch die Ablehnung des Existenzialismus bzw. der humanistischen Universalisierung – wodurch die gesellschaftlichen Änderungen verhindert und die Machtpositionen befestigt werden könnten – zu charakterisieren ist, lag den Reformversuchen im Ostblock eine ausdrücklich humanistische Dimension zugrunde, das Streben nach einem Sozialismus mit ›menschlichem Antlitz‹. Der strategische Einbezug des Absurden, den die Demonstrationen in Estland aufwiesen, scheint jedoch in jeglichem Vergleich dazu als einzigartig zu gelten. Diese Singularität wurde sowohl aufgrund der politischen Situation, des spezifischen historischen Hintergrundes als auch der kontextuellen kulturellen Entwicklungen in den 1960er Jahren ausgeprägt. Es kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich die Kontaktaufnahme mit dem Existenzialismus in der estnischen Kultur auf die literarischen Werke, darunter besonders stark auf das absurde Drama bezog; der erste philosophische Basistext des Existenzialismus – »Der Mythos des Sisyphos« von Camus – erschien auf Estnisch erst im Jahr 1972.713 Der studentischen Aufführung von Becketts »Akt ohne Worte I« (1966)714 folgten in kurzer Zeit drei Inszenierungen der Stücke von Sławomir Mrożek im Estnischen Fernsehen (»Eine wundersame Nacht«,715 1966; »Striptease«716 und »Auf hoher See«,717 beide 1967) und die Veröffentlichungen der Texte von Mrożek, Havel, Ionesco und Beckett in den Jahren 1967-1969. In der ersten systematischen Betrachtung der Entwicklung des absurden Theaters hat Martin Esslin den Unterschied zwischen dem existenzialistischen und dem absurden Drama ausgehend von der Form bzw. von der Darstellungsweise der Irrationalität des menschlichen Zustandes erläutert: Während die existenzialistischen Texte diesen Zustand in einer logisch konstruierten (›alten‹) Form beleuchteten, beanspruchte das Theater des Absurden eine Einheit zwischen Inhalt und Ausdrucksweise mittels des Aufgebens der Rationalität und des diskursiven Denkens. 718 Das Erste wäre 713 Albert Camus, Sisyphose müüt. Übersetzung von Henno Rajandi. Loomingu Raamatukogu Nr. 51–52. Tallinn: Perioodika, 1972. 714 Vgl. dazu Kapitel IV, S. 198-204. 715 »Viirastuslik öö«, Regisseurin Virve Aruoja, Bühnenbild Silva Mere, im Estnischen Fernsehen am 26.12.1966. 716 »Strip-tease«, Regisseur Vello Rummo, Bühnenbild Malle Leis, im Estnischen Fernsehen am 29.05.1967. 717 »Ulgumerel«, Regisseur Vello Rummo, Bühnenbild Linda Andreste, im Estnischen Fernsehen am 29.06.1967. 718 Martin Esslin, The Theatre of the Absurd. New York: Anchor Books, 1969, S. 6.

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somit als Reflexion, das Zweite als Manifestation des Absurden zu betrachten. Wenn im estnischen Kulturraum die Manifestation zunächst stärkere Resonanz fand, lässt sich vermuten, dass der Grund neben den praktischen oder zufälligen Faktoren (Veröffentlichungsbedingungen u.a.) auch daran lag, dass das manifestierte Absurde in diesem Kontext nicht nur die existenzialistischen Ansichten repräsentierte, sondern auch mit anderen Inhalten gekoppelt werden konnte. In der Beschreibung des osteuropäischen absurden Dramas hat Esslin festgestellt, dass es in diesem Umfeld nicht von der Krise des ganzen traditionellen Wertsystems entsprang, sondern von der Seichtheit und den Widersprüchen des aufgezwungenen Rationalismus generiert wurde719 und somit unmittelbar mit dem politischen und alltäglichen Milieu verbunden war. Dieser Zerrspiegel der Lebensumwelt musste nicht unbedingt auf der rein existenzialistischen Weltanschauung basieren, selbst wenn es die Parallelität mit dem westlichen absurden Drama aufwies bzw. davon die Form verlieh. Sowohl als Kommunikationsstrategie (bzw. die Ablehnung der etablierten Kommunikationsweisen) als auch als Legitimierung der Irrationalität in einer überrationalisierten Gesellschaft mochte die Hervorhebung des Absurden sich auch auf die gegensätzlichen Ansichten beziehen, die nicht von der Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins, sondern von der Verdrängung eines bestimmten politischen Systems ausgingen, wobei der Glaube an die Möglichkeit der Freiheit (unter anderen Umständen) und an die Bedeutsamkeit der Existenz sogar verstärkt werden konnte. Jedoch wurden im ›sozialistischen Existenzialismus‹ zumeist auch die Grundlagen des ursprünglichen bzw. westlichen Existenzialismus eingebunden; das Interessante dabei war die Verknüpfung des sozialen (überwindbaren) und des existenziellen (unüberwindbaren) Absurditätsgefühls, die einander zum Teil hinterfragten und widerlegten. Der Kritiker Mardi Valgemäe hat beim Text des »Aschenputtelspiels« auf eine Ähnlichkeit zu Becketts »Endspiel« hingewiesen, wobei der Existenzialismus durch das Absurde parodiert wird: 720 »Aschenputtelspiel« war einer der ersten Texte, der in seinem Entstehungskontext explizit existenzialistische Ansichten zum Ausdruck brachte, diese aber gleichzeitig unterminierte und die häufig zwiespältigen intellektuellen Positionierungen in diesem Umfeld darstellte. Die ersten für die breitere Öffentlichkeit zugänglichen Inszenierungen des absurden Dramas in Estland waren die oben genannten drei Stücke von Mrożek im Fernsehtheater, jedoch handelte es sich eher um die Einführung des neuen osteuropäischen Dramas (im Rahmen der Vorgabe, dass ein Drittel der in den Theatern aufgeführten Texte von estnischen, ein Drittel von russischen oder sozialistischen, ein Drittel von westlichen Autoren stammen sollte) und nicht um bedeutende Theaterereignisse; die Regisseure aller drei Inszenierungen waren ›Traditionalisten‹ der 719 Ebd., S. 307. 720 Mardi Valgemäe, Eksitentsialismi maskid. – Vikerkaar 10–11, 2004, S. 171.

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älteren Generation.721 Im Dezember 1967 hat der Regisseur Mikk Mikiver im Fernsehtheater (wo paradoxerweise die Kontrollmechanismen flexibler waren als in den anderen Theatern) Becketts »Das letzte Band« inszeniert – dieses Ereignis galt schon als ›kleines Wunder‹ und wurde vermutlich hauptsächlich wegen des Prestiges und der Initiative des Schauspielers Jüri Järvet, der Mr. Krapp spielen wollte, ermöglicht.722 Immerhin wurde sowohl in Järvets Darstellung als auch in den Rezensionen der Text von Beckett psychologisiert und ausgehend von den schon bekannten Wahrnehmungsmustern ausgelegt; die Kritiker haben zumeist die Leistung des Schauspielers gelobt, den Inhalt des Theaters des Absurden jedoch kaum thematisiert.723 Das rege Interesse für das neue Drama innerhalb der jungen Generation des zeitgenössischen Theaters lässt sich mithilfe verschiedener Quellen feststellen, obwohl der Ausdruck dieses Interesses während der 1960er Jahre noch oftmals verhindert war und die meisten Inszenierungen erst ab den 1970er Jahren auf die Bühne gebracht wurden.724 In den Briefen, die der junge Regisseur Hermaküla im Jahr 1967 aus der Armee an Kaarel Ird (den Direktor des Theaters »Vanemuine«) sendete, findet man mehrere Überlegungen zum absurden Drama, unter anderem in Bezug auf Hermakülas Inszenierungspläne nach der Rückkehr; in einem Brief gibt es eine Liste der Autoren, deren Texte seiner Ansicht nach dringend aufgeführt sollten: Beckett, Ionesco, Mrożek, Pirandello, Lunacharski, Valton, Hermaküla.725 Die Möglichkeit, Mrożeks Stück »Tango« zu inszenieren, was Ird ihm offenbar vorgeschlagen hat, lehnte Hermaküla im nächsten Brief ab, da es für den Anfang ›zu groß‹ sei. Obwohl die Stücke von Mrożek, Ionesco und Beckett ohne Zweifel auf die Bühne gebracht werden sollten, sei die ganze neue Dramaturgie ›zu viel‹ für das gegenwärtige estnische Theater; entsprechend bevorzuge er, eher mit der Kurzprosa der genannten Autoren anzufangen. 726 Das im nächsten Jahr inszenierte »Aschenputtelspiel« blieb immerhin das einzige Werk von Hermaküla, das direkt mit dem Existenzialismus verbunden war; anscheinend änderten sich während die721 Luule Epner, Absurditeatri tulek eesti kultuuriruumi. – Vortrag im Seminar »Kuuekümnendad tõlkes« im Kumu Kunstmuseum (Tallinn) am 26.09.2008. 722 Ebd. Die Theaterversion der Inszenierung kam am 26.05.1973 im Estnischen Dramatheater auf die Bühne und wurde zusammen mit »Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen« von Nikolai Gogol aufgeführt. 723 Luule Epner, Absurditeatri tulek eesti kultuuriruumi. 724 Drei Jahre nach »Das letzte Band« wurde im Estnischen Jugendtheater das erste Mal in der Sowjetunion Becketts »Warten auf Godot« inszeniert (Regisseur Lembit Peterson, Premiere am 14.10.1976); Luule Epner, Absurditeatri tulek eesti kultuuriruumi. 725 Katkendeid Evald Hermaküla kirjadest Kaarel Irdile. [Ausschnitte der Briefe von Evald Hermaküla an Kaarel Ird.] – Hermaküla, S. 34. 726 Ebd., S. 35-36.

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ser Zeit (und aufgrund des in den Vordergrund gerückten Spielbegriffs) auch seine Interessen. Doch hat er nach der Rückkehr aus der Armee und vor der Inszenierung des »Aschenputtelspiels« mit den Studenten der Theaterschule in Tallinn mit den Proben von Ionescos Stück »Die Nashörner« begonnen, das aber nicht zur öffentlichen Aufführung kam.727 Im Jahr 1968 hat auch der damalige Student der Theaterschule, der Regisseur Kalju Komissarov »Die Kartothek« von Tadeusz Różewicz als seine Abschlussarbeit vorbereitet, die Inszenierung wurde aber von Voldemar Panso, dem Leiter der Theaterschule, abgelehnt, weil niemand so etwas sehen wolle.728 Mrożeks »Tango« wurde im selben Jahr im Rahmen des Auftritts der Tartuer Studentenband »Rajacas« aufgeführt.729 Die öffentliche Polemik zum Existenzialismus in den Jahren 1968–1969 ging von den Novellen des Schriftstellers Arvo Valton aus und konzentrierte sich auf die Frage, ob diese als existenzialistisch zu definieren wären. 730 In der kurz danach veröffentlichten Analyse der neuen estnischen Dramaturgie brachte Jaak Rähesoo sowohl Rummos »Aschenputtelspiel« als auch den Theatertext »Phaeton, päikese poeg« (Phaeton, der Sohn der Sonne, 1968) von Mati Unt mit dem Existenzialismus und dem Absurditätsgefühl in Verbindung,731 ähnliche Atmosphäre und Inhalte weisen auch die anderen Werke von Rummo und Unt in dieser Zeit sowie auch die Kurzromane von Enn Vetemaa auf. Diese Texte lassen zum Teil direkte Zusammenhänge mit dem westlichen Existenzialismus oder mit einigen seiner Grundbehauptungen nachvollziehen. Jedoch scheint hierbei nicht die Rekonstruktion der direkten oder indirekten Übernahmen bzw. die genaue Bestimmung des Einflussbereichs am gewinnbringendsten, sondern eher die Frage, welche Verschiebungen vor dem breiteren kulturellen Hintergrund die Kontaktaufnahme mit dem Existenzialismus zum Vorschein brachte und auf welche Weise der Existenzialismus zu diesen Verschiebungen – sowohl in den Künsten als auch bezüglich des öffentlich anerkannten Menschenbildes – beitrug. Der Literaturwissenschaftler Mart Velsker hat festgestellt, dass es sich in Estland zu dieser Zeit um eine »total übersetzende 727 Luule Epner, Absurditeatri tulek eesti kultuuriruumi; die Proben haben in der Nacht stattgefunden. 728 Ebd. 729 Mari Laaniste, Karikatuur ja/või kunst, S. 114-115, Eero Epner, Ära pane, isa!, S. 268; vgl. dazu Kapitel III, S. 148-149. 730 Zur Diskussion vgl. Aare Pilv, Olemasolu-Eesti: eksistentsiaalse Eesti kontseptsioonist, S. 845; Mart Velsker, Stalinismi võidud ja kaotused kuuekümnendatel aastatel, S. 124126; der Begriff wurde in Bezug auf Valton das erste Mal im Jahr 1966 erwähnt; der Ausgangspunkt der Diskussion war sein im Jahr 1968 erschienenes Buch (Novellensammlung) »Kaheksa jaapanlannat« (Acht Japanerinnen; Loomingu Raamatukogu Nr. 1, Tallinn: Perioodika, 1968). 731 Vgl. Jaak Rähesoo, See maailm ja teised. – Hecuba pärast, S. 34-53.

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Kultur« handelte, wobei Camus als Pseudonym von Sartre gelesen werden könne;732 ein ähnliches Muster der Gleichsetzung kann man auch in vielfältigen oppositionellen Kooperationen verfolgen, in denen äußerliche Vorbilder stets im Rahmen des inneren Handlungsraumes umgedeutet wurden. In der estnischen Literatur der 1960er Jahre fanden zwei bedeutende Diskussionen statt, die grundsätzliche Änderungen im kulturellen Kontext (im Vergleich zu den 1940er und 1950er Jahren) beleuchteten: am Anfang der Dekade die Polemik über die neue Poesie, wodurch man sowohl die Darstellung der subjektiven Wahrnehmungen als auch die Form der freien Verse zu legitimieren versuchte, am Ende der Dekade die Auseinandersetzung mit dem Existenzialismus.733 In den visuellen Künsten führte man zur selben Zeit die Konzepte der ›philosophischen‹ Dimension der Kunst und der ›Bildhaftigkeit‹ ein, die eventuell auch an das erweiterte – nicht nur optimistische und positive, sondern komplexe und auch widersprüchliche – Menschenbild, das die Kunst wiedergeben mag, angeschlossen wurden.734 Obwohl alle diese Neuorientierungen spezifische und disziplinbezogene Hintergründe aufwiesen, lassen sie sich als vorbereitende bzw. parallele Entwicklungen zur Annahme der existenzialistischen Philosophie betrachten; die Diskussion über den Existenzialismus verband wiederum viele schon früher angesprochene Fragen auf eine disziplinübergreifende Weise. Als ein hoch problematisches Phänomen (im Vergleich zu den anderen neuen Erscheinungen) in diesem ideologischen Kontext stellte die Adaption des Existenzialismus ein Lackmuspapier dar, das die strategische und taktische Dynamik in den Aushandlungen der Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen am deutlichsten sichtbar machte. Wegen des zeitlichen Zusammenfallens mit den politischen Ereignissen konnte sich diese Dynamik nicht ausführlich entfalten, sondern konfrontierte sich mit einer Verstärkung der Kontrolle – die Diskussion über den Existenzialismus galt auch als ein Abschluss des Ausprobierens der Durchlässigkeit des Systems, wonach klar geworden war, wie man vorzugehen hat.735 Dabei darf nicht übersehen werden, dass sowohl die Theatererneuerung als auch andere experimentelle künstlerische Aktivitäten genau während dieser neuen Festsetzung der Grenzen initiiert wurden, sich in einer Übergangsphase herausbildeten und wesentlich von der Spannung zwischen dem flüchtigen Freiheitsgefühl und den neuen Druckmechanismen beeinflusst waren. Eines der interessantesten Kennzeichen der Annahme des Existenzialismus im sozialistischen Kontext war das Zusammenspiel mit der offiziellen Ideologie, die 732 Mart Velsker, Mis on kuuekümnendad eesti kirjanduses?, S. 56. 733 Mart Velsker, Stalinismi võidud ja kaotused kuuekümnendatel aastatel, S. 120. 734 Vgl. dazu Anu Allas, Nõukogude absurd: 1960. aastate eesti kunst eksistentsialismi taustal. – Kunstiteaduslikke Uurimusi/Studies on Art and Architecture 1–2 (19), 2010, S. 41-67. 735 Mart Velsker, Stalinismi võidud ja kaotused kuuekümnendatel aastatel, S. 124.

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selbst ein Paradox generierte und sich später mit dessen Ergebnissen konfrontieren musste bzw. diese Ergebnisse wieder abzuschaffen versuchte. Die Besuche von Sartre und die Kontakte mit den linken Intellektuellen aus dem Westen dienten als ein wichtiges Mittel im ideologischen Kampf des Kalten Krieges und sollten beweisen, dass der progressivste Teil der westlichen Gesellschaften den Ostblock unterstützte. Jedoch waren die Folgen dieser Kontakte nicht immer kontrollierbar, weder im Hinblick auf die möglichen Umpositionierungen der westlichen Intellektuellen nach den eigentlichen Erfahrungen aus der Sowjetunion noch bezüglich des Einflusses, den diese Kontakte innerhalb des sozialistischen Blocks auszulösen vermochten. Zur Freundschaft mit Sartre gehörte das Publizieren seiner Werke in großer Auflagenhöhe736 – auch wenn die Auswahl der Texte von den ideologischen Richtlinien ausging, konnten weder in ihnen verhandelte philosophische Fragestellungen noch das generelle Bewusstsein des Existenzialismus vermieden werden. Das neue Selbstbildnis des Ostblocks setzte neben der Rhetorik der Offenheit auch eine Flexibilisierung voraus, die in den Zensurmechanismen zeitweilig Löcher erzeugte und die Einführung vieler Phänomene und Denkweisen, die nicht unbedingt im vollkommenen Einklang mit der offiziellen Ideologie waren, ermöglichte. Der Existenzialismus und das absurde Drama hatten innerhalb der neuen Weltanschauungen und künstlerischen Formen, die mithilfe dieser Prozesse adaptiert wurden, eine besondere Position bzw. fanden eine besonders starke Resonanz, weil sie die verschiedenen Ebenen der Gesellschaft und der Kultur ansprachen, mit dem kontextuell entstandenen Bedürfnis nach Vertiefung des Menschenbildes übereinstimmten und auf die verschiedenen Weisen umgesetzt werden konnten. Zum einen dienten der Existenzialismus und das Absurde zur Legitimierung der ›Irrationalität‹, als ein Modell der Wahrnehmung des menschlichen Zustandes, das – sogar wenn dem die Feststellung der unüberwindbaren Bedrängnis des sozialen Lebens zugrunde lag – in diesem Kontext einen Weg zur Individualisierung bzw. zur individuellen Befreiung bot im Gegensatz zu den kollektivistischen Ansprüche der offiziellen Ideologie. Zum anderen galt das Absurde als eine Form der Sozialkritik und entwickelte sich zu einem inoffiziellen Kommunikationsmodus, der zwar Konflikte mit den Behörden hervorrief, aber – eben wegen der Unverständlichkeit – nicht vollkommen kontrollierbar und unterdrückbar war. Darüber hinaus fanden existenzialistische Ansichten und ein (existenzielles oder soziales) Absurditätsgefühl mehrfach in der Herausbildung der neuen Ästhetik in den Künsten Ausdruck, prägten eine breite Basis für die künstlerischen Positionierungen aus und fungierten manchmal als ein Bindemittel, mithilfe dessen die verschiedenen neuen Strategien und Taktiken gekoppelt und versöhnt wurden.

736 Marek Tamm, Sartre ja de Beauvoir Nõukogude Eestis, S. 153.

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5.2 ›S OWJETISCHER E XISTENZIALISMUS ‹ UND › SOWJETISCHES ABSURDE ‹ IN DEN K ÜNSTEN Während der direkte Einfluss des Existenzialismus in der estnischen Kultur sich in erster Linie anhand der Texte feststellen lässt – die neuen Ideen wurden durch die Veröffentlichungen der westlichen Autoren angenommen und in der Literatur bzw. in den Theaterstücken umgesetzt –, war das Wirkungsfeld der existenzialistischen Ansichten wesentlich größer, obwohl es in den anderen Ausdrucksformen der künstlerischen (oder auch sozialen) Aktivitäten nur sporadisch nachvollziehbar und selten eindeutig zu bestimmen ist. Diese Grenzverwischung, die sowohl von der kontextuellen kulturellen Dynamik als auch von der Ausdehnbarkeit der Inhalte des Existenzialismus entsprang, kann manchmal in Versuchung führen, diese Inhalte auch auf Phänomene zu projizieren, bei denen sie eigentlich nicht unbedingt vorhanden waren. Darüber hinaus hat sich in der estnischen Kultur eine besondere Sensibilität bezüglich des Existenzialismus herausgebildet, die offensichtlich von der intensiven ersten Kontaktaufnahme während der 1960er Jahre ausgelöst und später mehrfach weiterentwickelt wurde; 737 der Literaturkritiker Rein Veidemann hat unter anderem das Konzept des »selbsttätigen Existenzialismus« als »den ideologischen Code der estnischen Kultur« entwickelt.738 Die Frage, ob die estnische Kultur eine besondere Zuneigung zum Existenzialismus aufweist, wird hierbei beiseitegelassen – an der Behauptung, dass bei der Betrachtung der Kultur der Sowjetzeit viele versteckte Schichten und nicht eindeutig begrenzbare Beweggründe im Auge behalten werden müssen, jedoch festgehalten. Vor allem ist es im Folgenden von Interesse, wie der Existenzialismus zur Ausprägung der neuen Ästhetik in den verschiedenen künstlerischen Disziplinen während der 1960er Jahre beitrug und womöglich auch in der Koppelung dieser Disziplinen bzw. in der Entgrenzung der Künste eine unterstützende Rolle hatte. Visuelle Kunst ist relativ selten direkt mit dem Existenzialismus in Verbindung gebracht worden; am stärksten wird dieser Bezug bei der abstrakten Kunst der Nachkriegszeit angedeutet, die entweder durch »rohe Materialität und Ästhetik der Formlosigkeit«739 des Informalismus oder durch den Anspruch auf einen befreien-

737 Vgl. dazu Jaan Undusk, Eksistentsiaalne Kreutzwald. – Vikerkaar 10–11, 2004, S. 133152; Rein Veidemann, Isetekkeline eksistentsialism – eesti kultuuri ideoloogiline kood?, S. 1191-1201; Aare Pilv, Olemasolu-Eesti: eksistentsiaalse Eesti kontseptsioonist, S. 843-855. 738 Rein Veidemann, Isetekkeline eksistentsialism – eesti kultuuri ideoloogiline kood?, S. 1197-1199. 739 Vgl. David Hopkins, After Modern Art 1945–2000. Oxford: Oxford University Press, 2000, S. 18.

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den Akt (der im Prozess des Malens zustande kommen mag) bei Action Painting740 die Atmosphäre der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft zum Ausdruck brachte. Im sowjetischen Kontext galt der Abstraktionismus (der mit wenigen Ausnahmen nicht öffentlich ausgestellt werden konnte) immerhin nicht als Manifestation des Traumas oder als Hinweis auf Unausdrückbares, sondern eher als eine Bestätigung der individuellen Freiheit und als Ablehnung geforderter Aussagen; nicht zuletzt auch deswegen, weil während der 1940er und 1950er Jahre die Künstler sich nur selten eine abstrakte Darstellungsweise zutrauten und diese erst Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre wieder aufgenommen wurde, wobei es sich nicht mehr auf die Verarbeitung der Kriegserfahrungen bezog, sondern als eine Positionierung im aktuellen Lebensumfeld zu betrachten ist. Natürlich konnte die abstrakte Kunst mit verschiedenen philosophischen Ideen verknüpft sein; in derzeitigen estnischen Kunst ist es jedoch weit interessanter – und auch deutlich klarer nachvollziehbar –, wie die existenzialistischen Stimmungen mitunter den Zugang zur offiziell anerkannten figurativen Kunst fanden und auf einen komplizierten Rezeptionsmechanismus trafen, was das folgende Beispiel zu beleuchten vermag. Das Gemälde »Raudbetoon« (Eisenbeton, 1965) von dem damals jungen Künstler Nikolai Kormaschow entstand im Anschluss an seine zahlreichen Werke, die – wie es im Rahmen der offiziellen Kunst angemessen war – Industrielandschaften, Ansichten moderner Stadtmilieus, kraftvolle Arbeiter, Fischer u.a. darstellten. Als Vertreter des sog. rauen Stils 741 gehörte Kormaschow zur neuen Generation der Künstler, denen das Ausführen des Modernisierungsprojekts der offiziellen Kunst zugewiesen wurde. Dabei konnte man sich einige neue Freiheiten erlauben, der ideologische Inhalt der Werke sollte aber beibehalten werden. Die Freiheiten betrafen hauptsächlich die Form des künstlerischen Ausdrucks. In der Malerei bzw. beim rauen Stil wurde das Dargestellte abstrahiert, mit starken Konturen betont und etwas eckig wiedergegeben; das Verfahren diente zum monumentalen und modernen Eindruck, den die ideologische Botschaft des Werkes (Fortschritte in der sozialistischen Aufbauarbeit) auf eine für die gegenwärtige Industriegesellschaft angebrachte Weise vermitteln bzw. formulieren musste. »Eisenbeton« ähnelt zwar der Form nach den früheren Gemälden von Kormaschow, jedoch ist hier nicht mehr klar erkennbar, was auf dem Bild vorgeht: Vor dem Hintergrund eines hellblauen Himmels steht eine Plattform mit riesigen Betonsäulen, dazwischen stehen und sitzen einige graue 740 Vgl. Harold Rosenberg, The American Action Painters. (1952) – Art in Theory 1900– 1990: An Anthology of Changing Ideas. Hg. Charles Harrison, Paul Wood. Oxford, Cambridge: Blackwell, 1993, S. 590-591. 741 Mit den Begriffen ›rauer Stil‹ und ›zeitgenössischer Stil‹ bezeichnet man am Ende der 1950er Jahre entstandene modernisierte Version des sozialistischen Realismus, vgl. dazu: Susan E. Reid, The Soviet ›Contemporary Style‹: A Socialist Modernism. – Different Modernisms, Different Avant-gardes, S. 89-106.

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und braune Männerfiguren, alle haben dem Zuschauer den Rücken zugekehrt. Man kann zwar nachvollziehen, dass sie Bauarbeiter sind, doch erscheint ihre Beschäftigung etwas befremdlich: Alle haben sich an einzelne Säulen geklammert und wirken eher betend, auch die helle, wie aus dem Nichts sich erhebende Baukonstruktion erinnert mehr an einen Tempel denn als ein Industriegebäude. In dem im Jahr 1970 erschienenen zweiten Band der »Geschichte der estnischen Kunst« beschrieb die Kunsthistorikerin Evi Pihlak das Oeuvre von Kormaschow durch seinen Verzicht der Reportagehaftigkeit und Beschönigung, wobei eine ausdrucksvollere künstlerische Darstellung gesucht wird; die Baugelände in den dreckigen Industriegebieten auf seinen Bildern seien schön, weil hier »das schnell fortschreitende Leben« spürbar sei – eines der besten Beispiele dafür sei auch »Eisenbeton«.742 Die Beschreibung mag auf viele Gemälde von Kormaschow zutreffen, bei »Eisenbeton« allerdings lässt sich das schnell fortschreitende Leben nur mit großen Schwierigkeiten vorstellen – die Männer wirken einsam und zurückgezogen, die einem Tempel ähnelnde Baukonstruktion verleiht dem Bild zwar eine erhabene, fast religiöse Dimension (die sich in den weiteren Werken von Kormaschow noch verstärkt hat), dadurch wird die ganze Szene aber auch von der eigentlichen sozialistischen Umwelt und deren Ansprüchen distanziert. Bei Pihlaks Kommentar handelt es sich anscheinend um eine ähnliche Strategie, die die Verteidiger der Novellen von Arvo Valton einsetzten – um diese Texte zu schützen, musste man konsequent behaupten, dass diese nicht vom Existenzialismus handeln.743 Unter den Bedingungen der offiziell geförderten formbezogenen Modernisierung war es besonders in der visuellen Kunst möglich, auf behutsame Weise auch mehrere neue Inhalte in die Kunstwerke einzubringen, ohne dass diese eine direkte Konfrontation mit der offiziellen Ideologie hervorriefen. Der Begriff ›Existenzialismus‹ kam in den Diskussionen über visuelle Kunst nicht vor, das vom jungen Künstler Enn Põldroos eingeführtes Wort »Formphilosophie«, 744 die vom Kunstwissenschaftler Boris Bernstein erläuterte »Bildhaftigkeit«745 und andere ähnliche Denkkonstruktionen und verbale Waffen trugen effektiv dazu bei, dass sich der Bewegungsraum der Künstler während der 1960er Jahre wesentlich verbreiterte. 742 Evi Pihlak, Maal. – Eesti kunsti ajalugu II: Nõukogude Eesti kunst 1940–1965. Hg. Irina Solomõkova u.a. Tallinn: Kunst, 1970, S. 98. 743 Rein Veidemann, Isetekkeline eksistentsialism – eesti kultuuri ideoloogiline kood?, S. 1196. 744 Vgl. Enn Põldroos, Pilk eilsesse ja homsesse. – Kunst 3, 1967, S. 1. 745 Vgl. Boris Bernstein, Peeter Ulase loomingust. – Kunst 2, 1970, S. 34. Mit der Unterstützung aus der russischen Kunstwissenschaft etablierte Begriffe ›Bildhaftigkeit‹ und ›künstlerisches Bild‹ wurden auch von den jüngeren Künstlern breit benutzt, vgl. Olav Maran, Leida ennast vaadeldavas objektis. – Noorus 4, 1966, S. 64, Enn Põldroos, Pilk eilsesse ja homsesse, S. 10.

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Natürlich muss man hierbei die Spezifik der visuellen Kunst beachten und festhalten, dass es in den Bildern immer nur um die Darstellung eines Zustandes (der Mensch ist einsam, hilflos, verzweifelt u.a.) und nicht um die Erläuterung von dessen Ursachen und den möglichen Auswegen (oder Ausweglosigkeit) gehen konnte. Somit lassen sich derartige Erscheinungen in der Kunst nur mit einer existenzialistischen Erkenntnis im weiteren Sinne und nicht mit dem Existenzialismus als einem (sogar weitschweifigen) philosophischen System in Verbindung bringen; jedoch war auch der Ausdruck solcher Erkenntnisse in diesem Kontext gleichermaßen bedeutend und problematisch. Mit Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Existenzialismus und dem Absurden kann man einerseits in der visuellen Kunst bzw. in deren Entgrenzung eine ähnliche Entwicklungslinie (oder zwei parallele Handlungsmodi) zeichnen wie Martin Esslin es bei der Literatur geleistet hat – zunächst ›beschrieb‹ und reflektierte man einen verdrängten Zustand des Menschen durch Bilder, danach manifestierte man die Absurdität dieses Zustandes durch das Narrenspiel in sog. Alltagshappenings (oder auch durch die alltägliche Kommunikationsweise der Kunststudenten, die angeblich stark das Absurde einbezog 746 ). Es handelt sich offenbar um ein sehr vereinfachtes Modell (auch hinsichtlich der literarischen Texte), und parallel zum Initiieren der ›absurden‹ Happenings lassen sich auch graduelle Verschiebungen in der Bildästhetik beobachten, bei denen zum Teil auch eine Verwandlung von der Beschreibung zur Manifestation des Absurden zum Ausdruck kam, sogar wenn diese Manifestation wegen den vielfältigen anderen beteiligten Faktoren mehrfach ausgelegt werden kann. Immerhin ermöglichen die zwei bedeutenden neuen Erscheinungen in der estnischen jungen Kunst der 1960er Jahre – Zurückgreifen auf den Surrealismus und die Adaption der Pop Art – einen interessanten Anschluss an die existenzialistischen Stimmungen zu verfolgen. Die Aufnahme des Surrealismus war einerseits mit dem Interesse an der Psychoanalyse verknüpft, andererseits bezog sie sich auf das Streben nach einer Ausdehnung der Ästhetik der Bildkünste (und wurde nicht unbedingt mit dem Aufdecken der Inhalte des Unbewussten in Verbindung gebracht), darüber hinaus diente sie auch der Erwiderung auf den ›surrealistischen‹ Alltag bzw. auf die Alltagsabsurdität. 747 Die Coolness der Pop Art wurde wiederum zum Teil ausgehend von den humanistischen Ansichten umgesetzt (und wich dadurch deutlich von der westlichen Popkunst ab), die kühle Darstellungsweise demonstrierte nicht nur eine affirmative Gegenwärtigkeit und moderne Blasiertheit, sondern in das bekundete Interesse für die Jugendkultur wurde auch das Bedrängnis- und Entfremdungsgefühl eingemischt, das in den Bildkünsten beispielsweise in den äußerst ernsthaften und ver-

746 Krista Kodrese intervjuu Vilen Künnapuga. – Maja 3, 2001, S. 55-56. 747 Leonhard Lapin, Avangardi taassünd. – Eesti kunstiavangard ja punane okupatsioon.

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krampften Figuren Ausdruck fand.748 Dabei – besonders beim surrealistischen Verfahren – ging es nicht mehr um die Beschreibung eines Zustandes, sondern um die Manifestation der absoluten Relativität bzw. um die Konfrontation verschiedenster Lebenseinstellungen und künstlerischer Positionierungen, die keinen stabilen Standpunkt herauskristallisieren ließen. Im Hinblick auf die oben geschilderten Rezeptionsmechanismen und Koppelungsstrategien stellt sich die Frage, wie diese praktischen Adaptionsweisen die Wahrnehmung der existenzialistischen Ansichten im Ganzen beeinflussten – zum einen die Taktik, bei der man durchgehend bestätigte, dass das, was man macht, nicht das ist, was man macht; zum anderen der Habitus, alle neuen ideellen, ästhetischen u.a. Impulse unablässig aufeinander zu projizieren und miteinander gleichzusetzen. Die Künstlerin Marju Mutsu hat im Jahr 1966 in der Zeitung »Noorte Hääl« (Stimme der Jugend) begeistert über die Vorlesungen des französischen Philologen Tõnu Kõiv im Kunstinstitut berichtet, die den Studenten die Literatur und das Theater in seiner ganzen Vielfältigkeit – deren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in verschiedenen Betrachtungen, Strömungen, Richtungen – präsentiert haben, wobei sich »das Land der unendlichen Möglichkeiten« öffnete und das Gefühl entstand, das die Welt erreichbar sei. 749 Ein vergleichbares disziplinübergreifendes Wirkungsfeld neuer (oder wiederentdeckter) Ideen, das infolge der allgemeinen Öffnung generiert wurde, lässt sich auch an anderen kulturellen Erscheinungen wahrnehmen (studentische Kooperationen, die Rolle der Literaten in der Theatererneuerung u.a.). Es musste nicht unbedingt in den interdisziplinären künstlerischen Aktivitäten realisiert werden, fungierte aber als ein wichtiger Faktor in der Neuorientierungen innerhalb jeder einzelnen Kunstgattung und kam sowohl aus den inhaltlichen (die neuen Ideen brachten häufig eine Entgrenzung der Künste mit sich) als auch kontextuellen Gründen (wegen den immer verflochtenen persönlichen und professionellen Beziehungen und dem Kommunikationsmangel in einem kleinen und geschlossenen Kulturraum) zustande. Der Literaturwissenschaftler Tiit Hennoste hat in Bezug auf die junge estnische Literatur während der 1960er Jahre ein häufig auftretendes Veränderungsprinzip beobachtet, wobei sich im Laufe der Zeit die allgemeine Einstellung von der optimistischen Weltverbesserung in Pessimismus, Resignation und ein Bedrängnisgefühl verwandelte, die Poetisierung der einfachen Wahrheiten und der Glaube an Harmonie mit den Darstellungen einer komplizierten, ambivalenten Welt ersetzt wurde, die die Widersprüche, Unbestimmtheit, Unsicherheit und Tragik charakteri-

748 Z. B. die Gemälden »Lauljad« (Sänger, 1965, Öl, Estnisches Kunstmuseum) von Enn Põldroos und »Noored inimesed« (Junge Leute, 1969, Öl, Estnisches Kunstmuseum) von Malle Leis. 749 Marju Mutsu, Maailm on käeulatuses … – Noorte Hääl, 7.06.1966, S. 2.

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sierten und die sich nicht mehr eindeutig erklären ließ.750 Eine ähnliche Entwicklung kann man auch in den anderen Künsten verfolgen und daraus – in Bezug auf die Aufregung, die das neu entdeckte ›Land der unendlichen Möglichkeiten‹ erzeugte – ein allgemeines Muster der kulturellen Dynamik ableiten. Die schnelle und intensive Öffnung der Gesellschaft, die gleichzeitige Annahme und Umsetzung der vielfältigen neuen Informationen führte zu einer etwas verwirrenden Überforderung. Die Resignation, die dem anfänglichen Optimismus folgte, wurde vor allem von den politischen Wandlungen am Ende der 1960er Jahre verursacht, aber auch von der Wahrnehmung der generellen Ambivalenz, die man während der vorherigen Jahren ausgeprägt hat, unterstützt – jegliches Ereignis in diesem Kontext rief nur selten eindeutige Reaktionen hervor bzw. man hat diese Reaktionen nur selten eindeutig ausgedrückt. In den Künsten äußerte sich diese Dynamik zum einen dadurch, dass die künstlerischen Positionierungen sehr flexibel waren und oft gewechselt wurden, zum anderen dadurch, dass man alle Ideen und Strategien ständig miteinander in Verbindung brachte – gleichsetzte oder wiederum voneinander ablöste. Existenzialismus bereitete für diese Prozesse einerseits einen breiteren philosophischen Hintergrund (der die andauernde Suche und die allgemeine Unsicherheit legitimierte), andererseits wurden existenzialistische Ansichten selbst in diesen Prozessen umgedeutet. Paul-Eerik Rummos Antwort auf die Kritik des »Aschenputtelspiels« 751 mag dazu ein eindrucksvolles Beispiel darbieten. Sogar mehr als im Text des Theaterstücks wurde hier Existenzialismus gleichzeitig bestätigt und unterminiert, im Dialog mit den veröffentlichten Rezensionen zur Inszenierung schilderte Rummo das ganze Panorama der ideellen Einflüsse in der damaligen estnischen Kultur, wobei die verschiedenen Phänomene auf die eine oder andere Weise mit dem »Aschenputtelspiel« verknüpft wurden oder diesbezüglich relevant erschienen (zusätzlich zur Erläuterungen zum Existenzialismus und Absurde erwähnte Rummo die Entwicklungen in der visuellen Kunst – Abstraktionismus und Happenings –, sprach die vielfältigen Wirkungsmechanismen der künstlerischen Tätigkeit an, unter anderem die Frage der Ritualität u.a.).752 Der Eindeutigkeit verlangenden offiziellen Kritik setzte er eine allumfassende Mehrdeutigkeit entgegen, in deren Rahmen auch gegen den Existenzialismus polemisiert wurde. Die zentrale Fragestellung, die man bereits im Titel des Textes – »Igavik ja argipäev« (Ewigkeit und Alltag) – nachvollziehen kann, betraf das ambivalente Verhältnis zwischen den philosophischen Erkenntnissen und den alltäglichen Praktiken. Da es sich nicht um eine öf750 Tiit Hennoste, Hüpped modernismi poole: eesti 20. sajandi kirjandusest Euroopa modernismi taustal. 17. loeng. Kodueesti modernism I: hoojooks 60ndatel, S. 89. 751 Paul-Eerik Rummo, Igavik ja argipäev (Vastus »Tuhkatriinumängu« kriitikale). (1969) – Thespis, S. 187-209. 752 Ebd.

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fentliche Antwort handelte (der Text wurde im Jahr 1969 geschrieben, aber nur im Samizdat-Almanach »Thespis« veröffentlicht), lässt sich vermuten, dass die gleichzeitige Verteidigung und Ablehnung des Existenzialismus – sowie auch die hybriden und zum Teil widersprüchlichen ideologischen Kooperationen in den Künsten – nicht nur als eine Strategie in den öffentlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen galten, sondern als eine vielmehr komplexere – tiefer verwurzelte – Denkund Handlungsweise betrachtet werden muss. Zu diesem Zeitpunkt und in diesem Kontext fungierten der Existenzialismus und das Absurde grundsätzlich anders als in der westlichen Gesellschaft der Nachkriegszeit, durch die Zeitverschiebung wurde schon in die erste Rezeption die Kritik bzw. das Hinauswachsen über den Existenzialismus hineingenommen und ausgehend von den gesellschaftlichen Bedingungen einerseits eine starke Empfänglichkeit für das Absurditätsgefühl, andererseits eine Zuneigung zur allumfassenden Relativierung ausgeprägt. Der vorsichtige Einklang der Diskussion über den Existenzialismus in der gegenwärtigen estnischen Literatur aufgrund der Novellen von Arvo Valton war eine vom Schriftsteller Ülo Tuulik im Jahr 1966 vorgelegte Beobachtung, dass in der Stimmung und in der philosophischen Grundstruktur von Valtons letzten Texten etwas sichtbar wird, das den Begriff ›Existenzialismus‹ als ferner Widerhall in Erinnerung ruft.753 Sichtbar wurde in diesen Novellen vor allem die Hoffnungs- und Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins; wie der Kritiker Eduard Päll es einige Jahre später – während des Höhepunkts der Diskussion – beschrieb, waren die Personen in Valtons Geschichten zumeist kleine bzw. einfache Leute, die existieren, obwohl es keinen Sinn ergibt und ihr Leben kein Ziel hat; alle sind hilf- und schutzlos in einer großen Gesellschaftsmaschine, die Welt ist grau, feindlich und keine Revolutionen, keine Reformen können dies ändern.754 Die Fragen, die in der öffentlichen Diskussion bezüglich einer solchen Lebensdarstellung auftauchten, waren erstens, ob es in diesen Texten um Existenzialismus geht, und zweitens, wie dieser ausgehend von offiziellen Richtlinien der kulturellen Produktion in einer sozialistischen Gesellschaft zu beurteilen wäre. Die Antwort auf die zweite Frage lag eigentlich schon vor; sie ermöglichte zwar einige interessante Überlegungen über das Verhältnis der existenzialistischen und marxistischen Weltanschauung,755 die aber zu keinem anderen Ergebnis führen konnten als der Feststellung, dass der Existenzialismus als dekadente Philosophie des kapitalistischen Westens keineswegs das Selbstbewusstsein des sozialistischen Menschen mitprägen darf. Weit problemati753 Ülo Tuulik, Noored mehed kirjanduses.– Looming 1, 1966, S. 147; zitiert nach: Eduard Päll, Eksistentsialismi sugemetest eesti nõukogude proosakirjanduses. – Eesti nõukogude kirjanduse noorusmailt, S. 122. 754 Eduard Päll, Eksistentsialismi sugemetest eesti nõukogude proosakirjanduses. – Eesti nõukogude kirjanduse noorusmailt, S. 127-128. 755 Ebd., S. 132-139.

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scher erschien hierbei die erste Frage – ob es sich bei Valton überhaupt um Existenzialismus handelt? Die subtilen Verschiebungen in seiner Schreibweise (vor dem Hintergrund der sog. sozialistisch-realistischen Literatur) ermöglichten nicht immer, zu einer sicheren Schlussfolgerung zu kommen: Einerseits wirkte die Welt in Valtons Novellen oft sehr realistisch, andererseits wurden einige Personen etwas zu infantil dargestellt756 oder man konnte in der Position des Autors eine gewisse Ironie erahnen,757 darüber hinaus blieben die Geschichten häufig ›ungelöst‹ und vermittelten keine klare Botschaften, was zur Vermutung Anlass gab, dass mit dem Ganzen doch etwas anderes gemeint ist als das, was auf dem ersten Blick zum Vorschein kommt – dass die Lebensphilosophie des Autors nicht mit derjenigen der hilflosen Charaktere identisch ist.758 Die Schwierigkeiten bei der Beurteilung entstanden vor allem daraus, dass Valton fast immer die subjektive Welt des Einzelnen beschrieb, die nicht vollkommen abgelehnt werden konnte (da vom jeden Einzelnen die gesellschaftlichen Fortschritte abhingen), auf eine oder andere Weise eine Wiedererkennung hervorrief, aber in der Auseinandersetzung mit den größeren sozialen Systemen und Ideologien immer Konflikte erzeugte und sich nie widerspruchslos daran anschließen ließ. 759 Eine der wichtigsten Veränderungen in der estnischen Literatur (aber auch in den anderen Künsten) der 1960er Jahre war die Legitimierung des Subjektiven, die am Anfang der Dekade mit den Erneuerungen in der Poesie in Gang gesetzt und mit den existenzialistischen Ansprüchen weitergeführt wurde – unter den Bedingungen der allgemeinen Liberalisierung war diese Legitimierung einerseits nicht ganz zu vermeiden, andererseits verlangte sie die Aufmerksamkeit der Behörden und ggf. neue Grenzsetzungen. Während die Novellen von Valton trotz ihrer ideologischen Fragwürdigkeit jedoch in den Kontrollmechanismen durchgelassen wurden (wozu die schützenden Stimmen in der Kritik beitrugen), entstanden zur selben Zeit bzw. schon einige Jahre vorher die Theaterstücke von Heino Mikiver, die man als die ersten absurden Dramen in Estland bezeichnet,760 die aber im Gegensatz zum Werk von Valton und 756 Vgl. ebd., S. 129-130. 757 Vgl. ebd., S. 141. 758 Vgl. ebd., S. 145-146; bei den Erläuterungen zum möglichen Unterschied zwischen der Position des Autors und der Position der Charakter verweist Päll auch die anderen Rezensionen, die das gleiche Thema behandlen: Lembit Remmelgas, Satiirist ja dialektikast ehk elusad inimesed ja surnud normid. – Keel ja Kirjandus 6, 1968; Endel Nirk, Inimesed »süsteemis« ja valtonlik inimene. – Sirp ja Vasar, 2.02.1968. 759 Vgl. ebd., S. 143-144; hierbei schließt Päll an den Artikel von Schriftsteller Ülo Tuulik an: Ülo Tuulik, Rataste vahel. – Sirp ja Vasar, Nr. 16, 1966. 760 Leonhard Lapin, Täienduseks Mardi Valgemäe artiklile »Eksistentsialismi maskid«, S. 191-192; laut Lapin sind insgesamt 12 handschriftliche Texte von Mikiver aus den Jahren 1961–1984 (die meisten aus den 1960er Jahren) erhalten geblieben. Vgl. dazu:

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anderen Existenzialisten in der Literatur nicht in der breiteren Öffentlichkeit rezipiert, sondern nur während geschlossener Studentenpartys im Kunstinstitut vorgetragen wurden (die Stücke waren häufig auch für das Programm der jeweiligen Party bzw. in Bezug auf deren Anlass geschrieben). Mit dem westlichen (oder auch osteuropäischen) kanonisierten absurden Drama haben diese Texte nicht viel gemein, sie sind eher vor dem Hintergrund der damaligen studentischen Atmosphäre des Kunstinstituts zu charakterisieren. Im Vergleich zu anderen Bildungs- und Kulturanstalten tolerierte man in diesem Umfeld mehr und diese Toleranz wurde von Studenten durch verschiedene Witze, Narrenspiele und Experimente genutzt und getestet. Viele Aktivitäten beinhalteten gleichermaßen Ironie und den Wunsch, sich ›frei auszuleben‹, und dienten somit auf verschiedenen Ebenen als eine Reaktion auf die bedrängenden offiziellen Regeln, die lächerlich gemacht oder ignoriert wurden; immerhin blieben zumeist auch die Selbstzensurmechanismen aktiv und das System wurde eher indirekt angegriffen. Darüber hinaus hat man in diese Witze und Narrenspiele auch einige künstlerische Ansprüche eingemischt, die verschiedenen Schichten der jeweiligen Aktivität ließen sich kaum voneinander unterscheiden. Die Theaterstücke von Heino Mikiver wurden im Rahmen des Studententheaters vorbereitet, es ging somit einerseits um eine absichtlich künstlerische Aktivität (die innerhalb des Kunstinstituts zwar als eine Nebenbeschäftigung diente, aber im Hinblick auf die weitläufige Tradition des Laientheaters bzw. Studententheaters in der estnischen Kultur dieser Zeit keineswegs unterschätzt werden musste), andererseits weisen Mikivers Texte die höchste Leichtigkeit auf – anscheinend handelte es sich bei deren Aufführungen nicht um detailliert bearbeitete Inszenierungen, sondern um ziemlich chaotische (und auch relativ kurze) Ausbrüche auf der Bühne, bei denen das Szenarium und der Dialog vor allem eine Haltung suggerierten, dass das, was man macht, nicht wirklich ernst genommen werden soll. Interessanterweise greifen Mikivers Texte oft auf eine klassische Dramaturgie (Shakespeare, Schiller),761 auf Märchen (Rotkäppchen u.a.)762 oder auf andere bekannte Narrative zurück; deren Absurdität bestand in erster Linie darin, dass sie große bzw. etablierte Geschichten nieder rissen, willkürlich verkürzten, umdrehten und lächerlich machten; in einigen Fällen hat Mikiver in das Narrativ auch Hinweise auf die sozialistische Gegenwart eingebunden, die aber jedoch recht ungefährlich wirkten. Durch Heino Mikiver, Miki – eesti absurdi isa. Hg. Leonhard Lapin. Tallinn: Penikoorem, 2011. 761 Z. B. »Othello ehk Veneetsia maur« (Othello oder der Mohr von Venedig, 1962), »Johann Christoph Friedrich von Schiller – röövlid« (Johann Christoph Friedrich von Schiller – die Räuber, 1963), »Shakespeare 400« (1963/1964); Leonhard Lapin, Täienduseks Mardi Valgemäe artiklile »Eksistentsialismi maskid«, S. 191. 762 »Punamütsike, seitse venda, kaks hunti ja kolm roosat põrsakest« (Rotkäppchen, sieben Brüder, zwei Wölfe und drei rosa Ferkelchen, 1965); ebd.

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diese kulturhistorischen Ausgangspunkte weichen Mikivers Stücke deutlich von der existenzialistischen Literatur in Estland – die überwiegend gegenwartsbezogen war – ab. Die Umdrehung der klassischen Texte kann man hier zwar als einen Protest gegen die etablierte Kultur ansehen, darüber hinaus wurden die Geschichten als ein Schutz genutzt, um die direkten Zusammenhänge mit der aktuellen Umwelt zu vermeiden – sowie auch bei Paul-Eerik Rummos »Aschenputtelspiel«. Im Gegensatz zur eindeutigen Allegorie im »Aschenputtelspiel« vermittelten Mikivers Texte aber keine konsequenten Gedankenlinien, sondern setzten den Erfordernissen der offiziellen Kulturproduktion ein komisches und sinnloses Chaos entgegen. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei neue, während der 1960er Jahre herausgebildete Diskurse in der estnischen Kultur und ihre kontextgebundenen Besonderheiten skizzieren: Der Diskurs des Existenzialismus, der sich in der Darstellungen der Bedrängnis des menschlichen Daseins entfaltete, die aber in der sowjetischen Umwelt immer (explizit oder implizit) mit den spezifischen sozialen Bedingungen in Verbindung gebracht oder davon abgeleitet wurde, und der Diskurs des Absurden, der in diesem Kontext nicht unbedingt in die passive Resignation mündete, sondern häufig eine besonders aktive, überfließende, fast ekstatische Demonstration der Absurdität hervorrief. Einer der Beteiligten im Studententheater, der Künstler Leonhard Lapin hat sich daran erinnert, dass Mikiver als Jazzmusiker763 in seine Theaterstücke einen großen Freiraum für Improvisationen einbaute (somit können die erhalten gebliebenen Texte die eigentlichen Vorgänge und Stimmungen auf der Bühne nur teilweise wiedergeben), der mit »kreativer Aktivität« – deren Sinn nur in dieser Aktivität bestand – gefüllt wurde.764 Durch seine Inszenierungen habe Mikiver zur Entstehung der Aktionskunst in Estland beigetragen – die »Freiheit« der absurden Aufführungen habe man in die Happenings und in die »freien Aktionen« der Gruppe SOUP übertragen. 765 Die Abläufe der Happenings lassen tatsächlich erkennen bzw. zumindest vermuten, dass selbst wenn die Aktionen zum Teil von künstlerischen Vorbildern ausgingen, dabei auch andere bedeutende Faktoren mitwirkten, die wiederum die künstlerischen Ansprüche – oder alle konsequenten Ansprüche – aufgehoben haben. Häufig ging es in erster Linie um die Demonstration der gleichermaßen intensiven und irrationalen Aktivität, die – im Gegensatz zu den verborgenen Mitteilungen der existenzialistischen Literatur oder Kunst – das Leere der Aussagen und Handlungen entblößte und dadurch als eine Herausforderung nicht nur für das politische System, 763 Laut Künstler Jüri Arrak hat Mikiver sich mit vielen Kunstgattungen beschäftigt – mit der bildenden Kunst, mit dem Theater, mit der Musik – und hat durch diese Vielfältigkeit bzw. durch Synthese der Künste die anderen Studenten beeinflußt. Interview mit dem Künstler Jüri Arrak am 31.10.2006. 764 Leonhard Lapin, Head tervist, Miki! – Sirp 12.03.2012, S. 10. 765 Ebd.

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sondern auch für die künstlerischen Konventionen galt. Das Zusammentreffen der Entdeckung der Aktionskunst und der Annahme des Existenzialismus bzw. des Absurden bildeten eine interessante Dynamik aus: Einerseits dienten die Happenings als eine Äußerung des Absurditätsgefühls bzw. wurden davon in Gang gesetzt, andererseits hat dasselbe Absurditätsgefühl die Wahrnehmung der eigenen Tätigkeit beeinflusst und die sorgfältige Herausbildung und ernsthafte Durchführung der Aktionen verhindert. Jedoch erzeugte das Bewusstwerden des Absurden in diesem Kontext auch eine gewisse Lockerheit, die es ermöglichte, die bisherigen Normen und Grenzen in den Künsten aufzugeben und zu überdenken – das Absurditätsgefühl war somit einer der grundlegenden und paradoxen Ausgangsimpulse für die disziplinübergreifenden künstlerischen Praktiken. Wie in früheren Kapiteln mehrmals angedeutet, galten der Text und die Inszenierung des »Aschenputtelspiels« zugleich als eine der ersten Auseinandersetzungen mit dem Existenzialismus im estnischen Theater,766 als der Anfang der Tartuer Theatererneuerung und als erste ausdrückliche Aktualisierung des Spielbegriffs in diesem Rahmen; darüber hinaus fiel die Entstehungsgeschichte der Inszenierung mit den umwälzenden politischen Ereignissen am Ende der 1960er Jahre zusammen. Das »Aschenputtelspiel« bietet sich somit als eines der besten Beispiele für die Erläuterung der Komplexität der kulturellen und politischen Situation in Estland an – sowie auch für die Beobachtung der Übernahme des Existenzialismus in den Künsten – und muss hierbei nochmal thematisiert werden. Im Jahr 1967 legte der damals 26-jährige Paul-Eerik Rummo eine Bearbeitung des Aschenputtel-Märchens vor: Neun Jahre, nachdem der Prinz Aschenputtel geheiratet hat, fängt er an zu zweifeln, ob es überhaupt das richtige Aschenputtel ist und kommt zurück in ihr Elternhaus um herauszufinden, was eigentlich vor neun Jahren geschah; er trifft auf das neue Aschenputtel, die aber von nichts weiß und nichts versteht, zwei Töchter des Hauses, die beide gern selbst das echte Aschenputtel sein würden, den resignierten Hausherrn, der verzweifelt von den guten alten Zeiten und der Rebellion fantasiert, und die machtvolle Herrin, die den ganzen Haushalt autoritär regiert.767 Dem Prinzen gelingt es nicht, das richtige Aschenputtel zu finden, im Gegenteil: Während seiner Suche wird alles immer noch verwirrender; niemand weiß, wer er selbst ist und wer die anderen sind; es stellt sich heraus, dass es viele Aschenputtel gibt, die alle als Geheimagenten der Herrin mit ver766 Die früheren Inszenierungen, die eine Verknüpfung mit Existenzialismus aufwiesen, waren »Antigone« von Jean Anouilh (Regisseur Mikk Mikiver) im Estnischen Staatlichen Jugendtheater im Jahr 1967 sowie auch »Phaeton, der Sohn der Sonne« von Mati Unt (Regisseur Kaarel Ird) im Theater »Vanemuine« im Jahr 1968. 767 Paul-Eerik Rummo, Tuhkatriinumäng. Tallinn: Eesti Kirjanike Liidu Kooperatiiv »Kupar«, 1992; Erstveröffentlichung: Paul-Eerik Rummo, Tuhkatriinumäng. Loomingu Raamatukogu Nr. 7. Tallinn: Perioodika, 1969.

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schiedenen Prinzen verheiratet sind und in verschiedene Schlösser geschickt wurden, allerdings hat die Herrin keinen klaren Überblick darüber und auch kein Interesse dafür, wo ihre Agenten sind und was die machen.768 Abbildung 20: »Aschenputtelspiel« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1969 (Raivo Adlas)

Estnisches Theater- und Musikmuseum

Die existenzialistischen Ansichten fanden hier sowohl in der Feststellung der Relativität aller Wahrheiten, der Zufälligkeit des menschlichen Lebens als auch des Konfliktes zwischen der Eigendynamik des Systems und des Drangs und der Wünsche des einzelnen Menschen (sowie der daraus entstehenden Entfremdung) Ausdruck, wurden zur gleichen Zeit aber auch durch die parodistische Darstellung des Hausherren, bei dem der Existenzialismus als eine Entschuldigung für Anpassung diente, in Frage gestellt. Der der Theatererneuerung nahstehende Kritiker Jaak Rähesoo beschrieb das Verhältnis zwischen dem Hausherrn und dem Prinzen auf eine dialektische Weise: Der Prinz repräsentiere den tragischen Zusammenbruch des teleologischen Optimismus, der Hausherr verkörpere den komischen Zusam-

768 Ebd.

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menbruch des existenzialistischen Pessimismus.769 Vor dem Hintergrund des offiziell Normativen in den Künsten erschien das alles jedoch zu ambivalent, um problemlos durch die Kontrollmechanismen zu kommen.770 Der Regisseur Evald Hermaküla begann mit den Proben des »Aschenputtelspiels« zu Beginn des Jahres 1968, im Mai war die Inszenierung fertig, wurde aber kurz vor der geplanten Premiere aufgrund der Entscheidung der Kommission des Kultusministeriums verboten bzw. auf unbestimmte Zeit verschoben.771 Abbildung 21: »Aschenputtelspiel« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1969 (Kais Adlas, Miralda Laagus, Raivo Adlas)

Estnisches Theater- und Musikmuseum

Der Vorwurf lautete, dass einige Szenen problematisch seien (eine erotische Szene mit dem Prinzen und einer der Töchter, eine Gewaltszene, in der der Prinz das Aschenputtel verprügelt und peinigt), dass das Wort ›Macht‹ zu oft vorkomme, dass

769 Jaak Rähesoo, See maailm ja teised. – Hecuba pärast, S. 44. Erstveröffentlichung: Looming 7, 1969. 770 Zur Erscheinungsgeschichte des Textes vgl. Sven Karja, Lossimängud. Paul-Eerik Rummo – Evald Hermaküla »Tuhkatriinumäng«, 1969, S. 376-377; Lembe Hiedel, Loomingu Raamatukogu alaeast (II). – Vikerkaar 7, 1995, S. 80-85. 771 Vgl.

Sven

Karja,

Lossimängud.

»Tuhkatriinumäng«, 1969, S. 377-378.

Paul-Eerik

Rummo



Evald

Hermaküla

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die allgemeine Stimmung zu pessimistisch sei und vor allem, dass man nicht verstehen könne, was mit dem Ganzen gemeint sei.772 Der Theaterdirektor Ird hat zwar erklärt, dass das Stück aus marxistischer Sicht nicht inakzeptabel sei, weil es auch laut Marx keine ewige Wahrheit gebe und der gesellschaftliche Kampf nicht in erster Linie optimistisch, sondern aktiv sein müsse; diese Argumente reichten aber nicht aus.773 Die zur gleichen Zeit stattfindenden Hauptereignisse des Prager Frühlings bildeten einen bedeutenden Rahmen sowohl für die Ansprüche der Inszenierung als auch für die Anspannung der Behörden – die Verschiebung (aber nicht die direkte Ablehnung) der Aufführung lässt vermuten, dass es in diesem Zeitpunkt schwierig war, jegliche endgültige Entscheidungen zu treffen. Die Premiere des »Aschenputtelspiels« fand im Februar 1969 statt – der Prager Frühling war vorbei, die Polemik über den Existenzialismus beendet und die gesellschaftlichen Regeln wieder befestigt; um weitere Aufregung zu vermeiden, war es wahrscheinlich vernünftiger, die Inszenierung auf die Bühne zu bringen, allerdings mit der (strenger als üblich) kontrollierten Rezeption in den öffentlichen Medien.774 Das Publikum war polarisiert, die jüngeren Zuschauer begeistert, die älteren eher verwirrt;775 paradoxerweise empfand das ältere Publikum die sog. neuen Formen in den Künsten oft als etwas Sowjetisches, zum Teil weil diese ebenso fremd und unverständlich waren, zum Teil wegen der nicht ganz eindeutigen Einstellung der jungen Generation gegenüber der offiziellen Kultur. Die mit dem Spielbegriff verbundene Rezeption des »Aschenputtelspiels« und der Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Spiel wird im nächsten Unterkapitel näher betrachtet, jedoch kann man sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Existenzialismus (auch unabhängig von den folgenden Spielforschungen) als ein wichtiger Faktor im »Bruch der Theaterästhetik« 776 (den die Theatererneuerung generierte) in Estland diente. Sowohl der Text als auch die Inszenierung des »Aschenputtelspiels« manifestierten die Mehrdeutigkeit, das erste Mal sprach man in der estnischen Theaterkritik darüber, dass das Publikum aktiv werden müsse, mitspielen darf und alle Interpretationen richtig sein können.777 Die Verteidiger des »Aschenputtelspiels« be-

772 Ebd., S. 378-383; Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969– 1971), S. 2442. 773 Sven Karja, Lossimängud. Paul-Eerik Rummo – Evald Hermaküla »Tuhkatriinumäng«, 1969, S. 379. 774 Ebd., S. 372. 775 Ebd., S. 369. 776 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2446-2447. 777 Ülo Matjus, Maskita näod. Ikka »Tuhkatriinumängust« lähtudes. (1969) – Hermaküla, S. 74-78. (Erstveröffentlichung: Looming 5, 1969, S. 789-792); vgl. Paul-Eerik

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tonten auch, dass das Stück keine Allegorie sei, dass es hier keine versteckten Botschaften gibt,778 dass es überhaupt nichts anderes sei, als das, was es sei – interessanterweise hat dieses Argument, das zumindest teilweise als rhetorischer Schutz gemeint war, auch die künstlerischen Ziele der Theatererneuerung widergespiegelt und auch weiterhin geprägt. Als der Regisseur beschuldigt wurde, dass er zu frei mit dem Text umgegangen sei und ihn verdreht habe, antwortete der Autor des Textes, dass er sich nicht betroffen fühle – es sei nicht sein Text, sondern der Text der Figuren auf der Bühne, ein verbales Äquivalent der veränderlichen Lebenseinstellungen, ein Geräusch.779 Das Maximum, was im Theater erreicht werden könne, sei etwas anderes als das Maximum der Literatur: Eine Theateraufführung sollte als Ganzes auf uns wirken, uns im Ganzen ändern.780 Die Rolle des Theaters im sowjetischen Kontext und dessen Sonderposition im Vergleich zu anderen Künsten bildete sich vor allem durch die Ereignishaftigkeit heraus – dadurch, dass es möglich war, dass im Theater etwas nicht nur Unkontrollierbares, sondern auch nicht Fixierbares passierte und es eine für die offiziellen Kontrollmechanismen nicht erreichbare Kommunikation ermöglichen konnte. Die Inszenierung des »Aschenputtelspiels« lässt erkennen, wie die Annahme des Existenzialismus zur Fokussierung dieser Ereignishaftigkeit innerhalb der Theatererneuerung beitrug: Wenn alles als relativ empfunden wurde, konnte man womöglich nur durch einen ›freien Akt‹ und durch die ›Präsenz‹ das Gefühl des authentischen Daseins erreichen. Ein ähnliches Streben kann man auch bei den Happenings bemerken – selbst wenn die künstlerischen Aktionen nicht eindeutig und direkt an den Existenzialismus anzuschließen sind, hatte auch hier das Scheitern der vorgegebenen – sowohl künstlerischen als auch existenziellen – Wahrheiten eine ausschlaggebende Rolle inne; in diesem Fall unterstützte die allgemeine Relativierung auch die Entgrenzung der Künste bzw. die Befreiung der künstlerischen Aktivitäten von den etablierten Formen. Natürlich fand die Ablehnung der bisherigen Normen überall in der Kultur der 1960er Jahre statt und kam aus äußerst unterschiedlichen Gründen zustande, doch kann man behaupten, dass im sowjetischen Kontext die Kontaktaufnahme mit dem Existenzialismus als einer der wichtigsten Impulse für die Neuorientierungen und Grenzüberschreitungen galt und somit eine spezifische Position in diesem Umfeld – abweichend von der westlichen Kultur – markierte. Darüber hinaus kreierte man in diesem Kontext einige interessante Verknüpfungen Rummo, Igavik ja argipäev (Vastus »Tuhkatriinumängu« kriitikale). (1969) – Thespis, S. 192-193. 778 Ülo Matjus, Maskita näod. Ikka »Tuhkatriinumängust« lähtudes. (1969) – Hermaküla, S. 75. 779 Paul-Eerik Rummo, Igavik ja argipäev (Vastus »Tuhkatriinumängu« kriitikale). (1969) – Thespis, S. 202. 780 Ebd., S. 205.

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zwischen dem Absurden und dem Spielphänomen, die im Folgenden ausführlicher erläutert werden.

5.3 D AS ABSURDE

UND DAS

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Eine der interessantesten Auslegungen unter den vielfältigen Betrachtungen von Arvo Valtons Novellen und deren möglichem Zusammenhang mit dem Existenzialismus legte der Literaturwissenschaftler Endel Nirk vor, der – wie auch einige andere Kritiker – den Standpunkt vertrat, dass Valton durch die Beschreibung der hoffnungslosen Bedrängnis des menschlichen Daseins nicht den existenzialistischen Ansichten zustimme, sondern eine bestimmte Lebenseinstellung, die diese Ansichten zu erwecken und zu unterstützen vermag, beobachte bzw. kritisiere. Nirk behauptete, dass Valton keineswegs über die Sinnlosigkeit des Lebens spreche, im Gegenteil: sein Ziel sei es, diejenigen, die dies tun, als »unernste Individuen« und Sonderlinge darzustellen, die solche Meinungsäußerungen nur als eine Pose herausbilden.781 Ihr existenzialistisches »Repertoire« (die Feststellung der Scheinhaftigkeit des Daseins und der Unmöglichkeit der Kommunikation, der Verlassenheit des Menschen in einer gleichgültigen Welt, wo der Gedanke an den Tod ihn verfolgt) sei formal zusammengesetzt, ihre Tragik sei aber nicht wirklich erlebt, sondern nur ein Spiel.782 Wenn man keinen eigenen Kern habe, müsse man für sich selbst und für die Anderen eine Rolle spielen und zwar durch die Spiegelung dieses traurigen Vortäuschens distanziere Valton sich deutlich vom Existenzialismus.783 Es lässt sich bezweifeln, dass diese ziemlich eigenmächtige Interpretation auf die Ziele und Positionierungen des Schriftstellers zutrifft (obwohl auch Valtons Texte sicherlich eine gewisse Ambivalenz enthalten), jedoch kann hierbei die Aufnahme des Spielbegriffs in Bezug auf den Existenzialismus nicht unberücksichtigt bleiben. Laut Nirks Erläuterung entsteht der ›Existenzialismus‹ dadurch, dass die Menschen, die sich selbst und ihre Verantwortung für bzw. Handlungsmöglichkeiten in der Gesellschaft nicht erkennen, ihre innerliche Leere nach außen projizieren, persönliche Hemmung unversalisieren und dadurch in ein Spiel geraten. Auf der breiten Skala der Spielkonzepte, die im »Aschenputtelspiel« entwickelt wurden, kann man unter anderem eine ähnliche Ansicht finden und zwar bei der Darstellung des Hausherren, für den der ›Existenzialismus‹ als eine Anpassungstechnik und eine Begründung für das Mitspielen diente. Jedoch wurde im »Aschenputtelspiel« auch ein umgekehrtes Schema beleuchtet, das im Charakter des Prinzen und in seinem Verhältnis zur 781 Endel Nirk, Inimesed »süsteemis« ja valtonlik inimene. – Sirp ja Vasar, 2.02.1968; zitiert nach: Eduard Päll, Eksistentsialismi sugemetest eesti nõukogude proosakirjanduses. – Eesti nõukogude kirjanduse noorusmailt, S. 149. 782 Ebd. 783 Ebd.

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Hausherrin Ausdruck fand – der Prinz erkannte, dass alle in dieser Welt nur eine Rolle spielen, sein Treffen mit der Hausherrin bestätigte diese Erkenntnis und führte zur existenzialistischen Schlussfolgerung, dass die Relativität (bzw. Spielhaftigkeit) des Lebens unvermeidlich und unveränderbar ist. Im ersten Fall wurde festgestellt, dass der feige ›Existenzialismus‹ das leere oder konforme Spiel (im Sinne der Vortäuschung) in Gang setzen mag, im zweiten Fall hat man beobachtet, wie die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rollenmustern zur existenzialistischen Weltanschauung beiträgt. Im allumfassenden Spiel der Hausherrin wurde dieser Weltanschauung zwar zugestimmt, aber deren Tragik aufgelöst, und selbst wenn die Herrin dabei als ein ›negativer‹ bzw. bedrohlicher Charakter vorgestellt wurde, war »Aschenputtelspiel« der Ausgangspunkt der weiteren Spielforschung im Rahmen der Theatererneuerung. Paradoxerweise lag dem Interesse am Spiel dieselbe existenzialistische Erkenntnis der Entfremdung und der gesellschaftlichen Rollenspiele zugrunde,784 dieser wurde aber nicht die Ablehnung des Spiels zugunsten der ›Authentizität‹, sondern die Intensivierung des Spiels entgegengesetzt. Existenzialismus und das Spielphänomen lassen sich vor diesem kulturellen Hintergrund mehrfach in Verbindung bringen; von besonderem Interesse sind im Folgenden allerdings nicht die Erscheinungen, die den Spielbegriff reflexiv in die Beschreibungen der Absurdität des menschlichen Daseins eingebunden und das Leben als ein entfremdetes ›Spiel‹ dargestellt haben, sondern diejenigen, in denen die verschiedenen Manifestationen des Absurden mit der Manifestation des Spiels zusammentrafen. Unter den Rezensionen zum »Aschenputtelspiel«, die das Leitmotiv des Textes und der Inszenierung – das Spiel – und den philosophischen Hintergrund des Stücks – den Existenzialismus – angesprochen und in Verbindung gebracht haben, fallen einige im Frühling und im Sommer 1969 erschienene Artikel auf, die die unterschiedlichen Schwerpunkte, Wahrnehmungsweisen und Auswirkungen dieser Verbindung zum Ausdruck brachten. Der Philosoph und Literat, damaliger Aspirant der Ästhetik an der Universität Tartu, Ülo Matjus beschrieb das »Aschenputtelspiel« als ein leserfeindliches und zuschauerfeindliches Stück, da es keine passive Rezeption ermöglicht, sondern zum aktiven Mitschaffen auffordert; der Sinn des Ganzen vermöge sich nur durch dieses Mitschaffen – und nicht durch die Suche nach dem vorgegebenen Hintergedanken – herausstellen.785 Matjus schilderte eine Reihe an Interpretationen, die sich alle als relevant für das »Aschenputtelspiel« erwiesen: Es lasse sich als eine Geschichte über die Suche nach Wahrheit (und über Hoffnungslosigkeit dieser Suche) oder über die Unbestimmtheit und die ewige Veränderlichkeit des Lebens betrachten, es könne vor dem Hintergrund der Rollenkonzepte oder 784 Vaino Vahing, Ainult mängust. (1969) – Hermaküla, S. 11. 785 Ülo Matjus, Maskita näod. Ikka »Tuhkatriinumängust« lähtudes. (1969) – Hermaküla, S. 74-75.

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der Psychoanalyse ausgelegt werden, es mag als ein Theaterstück über den Mechanismus der Macht oder über die Entfremdung gelten oder als eine Darstellung der verschiedenen philosophischen Lebensdoktrinen dienen.786 Keine dieser Interpretationen könne man allerdings als die einzig richtige hervorheben – ein Kunstwerk sei kein Bildrätsel, das sich eindeutig löst, sondern sei durch eine gewisse Unbestimmtheit zu charakterisieren. 787 Die Argumentationslinie von Matjus basierte anscheinend auf dem breiteren Konzept des sog. offenen Kunstwerkes, das im Rezeptionsprozess immer wieder neu entsteht, von subjektiven Ansätzen bestimmt ist und sich weder im Voraus oder im Nachhinein fixieren lässt. Die Geschichte des »Aschenputtelspiels« wies eine interessante Resonanz zu diesem Konzept auf bzw. ermöglichte es, eine Verflechtung des Philosophischen und des Ästhetischen zu erläutern – sowohl der Text als auch die Inszenierung beschrieben die allumfassende Relativität, aber manifestierten ebenso die Relativität der Wahrnehmung bzw. die Einschätzung dieser Relativität. Neben der Beleuchtung der philosophischen und ästhetischen Kriterien im »Aschenputtelspiel« blieb der Spielbegriff bei Matjus jedoch im Hintergrund, am Ende des Artikels deutete er zwar die Produktivität des ›Spiels‹ an – es suggeriere verführerische Möglichkeiten für das Mitschaffen –,788 leitete aber davon keine weiteren Zusammenhänge zwischen dem Spielphänomen und dem offenen Kunstwerk ab. In zwei in der Tartuer Universitätszeitung veröffentlichten Rezensionen von damaligen Studenten, dem späteren Dichter Joel Sang und der Regisseurin Merle Karusoo, stand der Spielbegriff ausdrücklich im Mittelpunkt. In beiden Fällen handelte es sich um eine emotionale Verteidigungsrede für das »Aschenputtelspiel«, wobei die Autoren – im Gegensatz zu Matjus oder auch Jaak Rähesoo, der ebenso eine gründliche Textanalyse vorlag 789 – fast alle intellektuelle Erklärungen, Begründungen und Überlegungen ablehnten und nur die äußerste Notwendigkeit des Spiels bestätigten. Bei Sang hieß es, dass »das Spiel nur das Abspielen verlangt« – das Kunstwerk ›an sich‹ habe keinen Wert, es gebe nur »Gebrauchswert« und das müsse nicht für jeden Rezipient gleich sein, jeder könne sich entscheiden, ob er bleibt oder geht, ohne Mitspielen könne man aber nichts vom »Aschenputtelspiel« mitbekommen. 790 Karusoo schilderte in ihrer poetischen Betrachtung – die mehr Fragen aufwarf als auf eine Antwort zielte – alle Bühnencharaktere des »Aschenputtelspiels« und fand bei jedem einen Bezug auf sich selbst – sie sei so786 Ebd., S. 77-78. 787 Ebd., S. 76. 788 Ebd., S. 78. 789 Jaak Rähesoo, See maailm ja teised. (1969) – Hecuba pärast, S. 40-53. (Erstveröffentlichung: Looming 7, 1969.) 790 Joel Sang, »Tuhkatriinumängu« toetuseks. (1969) – Hermaküla, S. 69-70. (Erstveröffentlichung: Tartu Riiklik Ülikool, 14.03.1969.)

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wohl das Aschenputtel als auch der Prinz, sowohl der Hausherr als seine Töchter und vielleicht sogar die Herrin.791 Sie habe dieses Spiel schon lange gespielt, sie habe gewusst, dass es tragikomisch und grotesk ist, aber es immerhin nicht erkannt, sie sei nicht fähig gewesen, über ihr eigenes Spiel zu lachen oder sich davor unheimlich zu fühlen.792 Die Erkenntnis, dass jeder in einer Gesellschaft verschiedene Rollen spielt, die je nach der Situation gewechselt werden können, lässt hierbei den Einfluss psychoanalytischer Ansätze auf die Theatererneuerung bzw. des vom Psychiater Vaino Vahing vermittelten Wissens erahnen, jedoch rief Karusoo nicht zur Ablehnung der Rollen bzw. der Masken auf wie Vahing (um durch das ›echte Spiel‹ zu sich selbst zu kommen), sondern stellte nur fest, dass das Ganze »ihr Spiel« sei.793 Daneben stimmte sie – wie auch Sang – der Offenheit des Kunstwerkes zu: Die Kunst entstehe im Menschen, der sie annimmt – egal auf welche Weise oder wie ›falsch‹ dies geschehe.794 Mit der Betonung des Subjektiven und des Prozesshaften vertraten die Beiden dieselbe Position bezüglich der Wirkungsmechanismen der künstlerischen Praktiken wie Matjus, jedoch kamen sie dadurch zu einem anderen Ergebnis bzw. leiteten davon nicht ein intellektuelles, sondern ein aktivistisches Rezeptionsregime ab. Wenn Matjus viele mögliche Bedeutungen des »Aschenputtelspiels« schilderte und jedem Leser bzw. jedem Zuschauer die Freiheit zutraute, eine von ihnen auszuwählen, weiterzuentwickeln oder die verschiedenen Auslegungen miteinander zu koppeln, fragten Sang und Karusoo kaum nach der Bedeutung des Spiels, sondern verlangten erstmals dessen bedingungslose An- und Aufnahme (wodurch sich auch der Sinn des Spiels ergeben könne, dessen Aufklärung aber beim Eintreten ins Spiel nicht die erste explizite Bestrebung ist). Wenn Matjus der Kunst ›eine gewisse Unbestimmtheit‹ zuschrieb, war damit wahrscheinlich die Mitwirkung des subjektiven Erfahrungsraumes jedes Einzelnen gemeint; Sang und Karusoo setzten diesen subjektiven Erfahrungsraum ausdrücklich in den Mittelpunkt und sahen die künstlerischen Praktiken in erster Linie als Anregung für die Untersuchung dieses Raumes ›von innen‹: Das Spiel auf der Bühne solle die Zuschauer dazu anleiten, sich einerseits des eigenen Spiels bewusst zu werden und es sich andererseits zu erlauben, ›frei‹ zu spielen – sich auf die Dynamik des Spiels auf der Bühne einlassen und es aus dem Theatersaal herauszubringen. Man darf natürlich nicht übersehen, dass die Rezension von Matjus überwiegend vom Text des »Aschenputtelspiels« ausging (obwohl er auch auf die Inszenierung hinwies), Sang und Karusoo hingegen deutlich auf die Inszenierung reagierten, was vermuten lässt, dass sogar wenn auch der Text alleine ziemlich ambivalent 791 Merle Karusoo, Ikka veel mängides. (1969) – Hermaküla, S. 71-73. (Erstveröffentlichung: Tartu Riiklik Ülikool, 20.06.1969.) 792 Ebd., S. 73. 793 Ebd. 794 Ebd.

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erschien, die Inszenierung doch eine wesentlich höhere Komplexität aufwies, wobei das inszenatorische Verfahren den Text zum Teil auflöste – die ernsthafte, sogar romantische Annahme des Spiels, die die Rezensionen von Sang und Karusoo äußern, entstand voraussichtlich nicht aufgrund der entfremdeten und zynischen Macht- und Rollenspiele, die auf der Bühne zu sehen waren, sondern wurde von etwas motiviert, das nicht im Text stand, sondern zwischen und innerhalb dieser trügerischen Spiele nur während der Aufführung zustande kam. Mati Unt hat – als Ergänzung zu den literarischen Analysen von Matjus und Rähesoo – in seiner Betrachtung des »Aschenputtelspiels« dieses über den Text hinausweisende, sich nur auf der Bühne ereignende Spiel angesprochen: Es sei kein einfaches Spiel gewesen, man habe sich zwar geeinigt, dass es eine Bühne gibt und auf der Bühne der Schauspieler steht, der Schauspieler aber verstelle sich nicht, sondern »gehe aus sich heraus«, und jemandem, der »außer sich« – in eine Grenzsituation geraten – ist, glauben wir, ob wir ihn hassen oder lieben, aber sein Spiel wird uns mitreißen.795 Abbildung 22: »Aschenputtelspiel« im Theater »Vanemuine«, Tartu, 1969 (Miralda Laagus, Raivo Adlas, Kais Adlas)

Estnisches Theater- und Musikmuseum

Die zwei Hauptimpulse, die in der Inszenierung des »Aschenputtelspiels« zusammentrafen – die existenzialistische Grundlage des Textes und die sich in einer Übergangsphase befindlichen Interessen des Regisseurs – bildeten eine spezifische 795 Mati Unt, Apoloogiad Hermakülast. – Kuradid ja kuningad, S. 73.

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und paradoxe Mischung. Einerseits wurde die Inszenierung im Ganzen mithilfe einiger Brecht’scher Verfremdungseffekte strukturiert, andererseits sprach man in den Proben über Peter Brook und Jerzy Grotowski und verlangte von den Schauspielern selbständige Improvisation, in einigen Szenen ein sehr intensives, teils aggressives Spiel an der Grenze ihrer physischen und psychischen Fähigkeiten.796 Die existenzialistischen Botschaften des Stücks hat man zum Teil durch das ›Erwachen‹ des Publikums deutlich gemacht, zum Teil wiederum durch das ›Mitreißen‹ der Zuschauer ausgeblendet. Es lässt sich natürlich fragen, inwieweit in dieser zwiespältigen Atmosphäre die ›Entblößung‹ des Schauspielers stattfand; einige Beteiligte haben berichtet, dass sie eher ein Schema spielen sollten797 (diese Wahrnehmung entstand vermutlich vor dem Hintergrund des sog. psychologischen Realismus), jedoch entstand auf der Bühne etwas, was nicht nur zu verschiedenen intellektuellen Überlegungen Anlass gab, sondern auch die oben geschilderten starken emotionalen Reaktionen evozierte. Der ambivalente Umgang mit dem Spiel bzw. die Zusammenführung seiner zwei dialektischen Pole mochte dieser komplexen Wirkung der Inszenierung zugrunde liegen: Man ging vom verfremdeten bzw. befremdenden Spiel aus und setzte es in das tiefe, ernsthafte Spiel um; von der Erkenntnis, dass alles nur ein Spiel ist – dass man nichts ernst nehmen kann, die Rollen immer gewechselt werden – kam man dazu, dass man sich nicht distanzieren und aus dem Spiel heraustreten sollte, sondern mehr spielen muss. Das Verhältnis zwischen dem Spiel und dem Existenzialismus bzw. dem Absurden kann hierbei mehrfach beleuchtet werden. Zum einen entsprang das Spiel von der Auseinandersetzung mit der existenzialistischen Weltanschauung und galt als Ausdruck der Annahme des Absurden, wobei man von der reflexiven Betrachtung der Unsicherheit des menschlichen Lebens einen Schritt weiterging und diese Unsicherheit durch das Spielen explizit fokussierte, intensivierte, ausweitete und untersuchte. Zum anderen diente das Spiel als eine Umgangsweise mit den existenzialistischen Erkenntnissen, wobei man der Feststellung der Unsicherheit und der Unbestimmtheit einen Handlungsmodus entgegensetzte, der schon von sich aus jegliche Stabilität ausschloss und dadurch ein Verarbeitungsregime der Absurdität anbot, das durch die Verschiebung der Ausgangsbedingungen den vom Existenzialismus zum Vorschein gebrachten tragischen Konflikt des Lebens auflöste. Darüber hinaus öffnete diese Umschaltung von der intellektuellen Reflexion zur aktiven Manifestation des Absurden einen neuen – spielerischen – Denk- und Bewegungsraum, der nicht nur den existenzialistischen Konflikt vermeiden ließ, sondern 796 Vgl. Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 24412442. 797 Sven Karja, Lossimängud. Paul-Eerik Rummo – Evald Hermaküla »Tuhkatriinumäng«, 1969, S. 368; zitiert ist die Schauspielerin Miralda Laagus-Kangilaski (Interview des Autors, Frühling 2000).

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auch eine Suche nach neuen Anhaltspunkten, die im Spiel zu finden sein mochten, einleitete. Den Anspruch auf die vorgegebenen universalen Wahrheiten hat man mit dem Erfordernis der subjektiven innerlichen Wahrheit bzw. der ›Authentizität‹ ersetzt und das Spiel wurde als ein möglicher Weg, über den Existenzialismus hinauszukommen, wahrgenommen. Innerhalb des Theaters war dieser Prozess einerseits immer von einer Doppelrahmung bestimmt und die Suche nach subjektiver Authentizität bildete die ambivalenten Koppelungen sowohl mit dem theatralen Rollenspiel als auch mit dem Verhältnis zwischen dem Spielenden und den Zuschauern aus. Andererseits entstand aus diesen Koppelungen und aus der Interaktion zwischen dem Drang nach ungehemmter Erweiterung des Spiels und dem Bedürfnis bzw. der Forderung, es in bestimmte Grenzen zurückzubringen und auszustellen, der Bruch in der Theaterästhetik, wobei die Bearbeitung des Existenzialismus durch das Spiel als einer der zentralen Ausgangspunkte zu betrachten ist. Die vom Existenzialismus vorgelegten Ansätze wurden im Spiel performativ umgesetzt auf eine Weise, die das Publikum nicht nur zum intellektuellen Mitschaffen aufforderte (explizit die Möglichkeit der verschiedenen Interpretationen darbot), sondern auch ein Scheitern bzw. Erweiterung auf der Erfahrungsebene mitbrachte und die Wirkungsmechanismen eines theatralen Ereignisses in diesem Kontext grundsätzlich umdeutete. Neben der Theatererneuerung kann man die Verflechtung der Manifestation des Absurden und der Manifestation des Spiels ebenso – manchmal auch ausdrücklicher – in den Aktivitäten der Kunststudenten verfolgen; dabei lassen sich einige interessante Unterschiede im Hinblick auf die Einsätze und Ergebnisse dieser Verflechtung (im Vergleich zum Theater) beobachten. Das Theaterstück »Shakespeare 400« (geschrieben in den Jahren 1963–1964, vorgetragen im Kunstinstitut im Jahr 1964) wurde von Heino Mikiver anlässlich des 50. Jubiläums des Kunstinstituts und des 400. Geburtstags von Shakespeare vorbereitet. Der Text beginnt mit der Einführung des »Lektors«, der ankündigt, dass im Folgenden einige Ausschnitte der Stücke von Shakespeare aufgeführt werden (da die vollständigen Texte nicht gefunden werden konnten), allerdings habe dieses ›Geflecht‹ keinen Inhalt, kein Sujet, keine Intrige, es ergebe sich keine Spannung und auch keine befreiende Lösung – man werde nur diejenigen Fragmente vortragen, die den Beteiligten in Erinnerung geblieben sind.798 Darauf folgen die Bearbeitungen der fünf Shakespeares Stücke – »Verlorene Liebesmüh«, »Die lustigen Weiber von Windsor«, »Heinrich IV«, »Antonius und Cleopatra« und »Hamlet«.799 Es handelt sich um willkürliche Kurzversionen, wobei nicht die inhaltlichen Schlüsselszenen, die den Ablauf der Geschichte andeuten, hervorgehoben, sondern sporadische Ausschnitte durcheinandergebracht wer798 Heino Mikiver, Shakespeare 400, 1963/1964; Manuskript im Besitz von Künstler Leonhard Lapin. 799 Ebd.

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den. Manchmal entwickelt sich für eine Weile eine mehr oder weniger konsequente Sujetlinie, die aber von Shakespeares Narrativ abweicht und zumeist abrupt abgebrochen wird. Am Anfang des ersten Aktes erläutert der Lektor, dass die Hinweise und Witze im Folgenden für die Zeitgenossen des Autors noch verständlich waren, aber heute häufig sogar den gelehrten Kommentatoren unklar bleiben, weshalb es auch schwerfiele, den Zuschauern den »spontanen Genuss« – den man von einer Theateraufführung erwarten könnte – zu bieten. 800 Der Lektor mischt sich noch einige Male – meistens mit den Erklärungen zum historischen Hintergrund oder mit parodistischen Anweisungen zur ideologisch korrekten Interpretation – in den Vorgang des Stücks ein, wird aber schließlich zum Schweigen gezwungen und durch die (von Hamlet gerufenen) Wachsoldaten von der Bühne gebracht.801 Am Ende gelingt es ihm, noch einmal aufzutreten, um verzweifelt die Schauspieler zu ermahnen, dass sie schon lange nicht mehr Shakespeares Text sprechen, wonach das Stück mit einer Bearbeitung des Liedes aus dem Musical »Küss mich, Kätchen!« abgeschlossen wird.802 In Mikivers Version von Schillers »Die Räuber« (1963) – die anscheinend anlässlich des Frauentages geschrieben wurde – kann man eine ähnliche Herangehensweise wie in »Shakespeare 400« beobachten; die Geschichte ist zwar konsequenter aufgebaut, die inhaltliche Logik wird aber ständig durch plötzliche Wendungen und Abbrüche unterminiert. Interessanterweise basiert Mikivers Bearbeitung vermutlich auf Verdis »I Masnadieri«. Die Mitglieder der Räuberbande sind als ein Chor zusammengefasst, der durch das Stück ähnlich wie ein Opernchor in das Sujet eingebunden ist, am Ende aber eine ›rebellische‹ Unabhängigkeit einsetzt: An der Stelle, an der Moor (Karl) Amalia töten muss, sagt der Chor, dass dies nicht gut sei, da ja Frauentag sei und Frauen leben sollten; nach kurzem Überlegen stimmt Moor diesem Einwand zu.803 Möglicherweise inspiriert von »Die Räuber« benutzte Mikiver eine ähnliche Technik auch im Stück »Rotkäppchen, sieben Brüder, zwei Wölfe und drei rosa Ferkelchen« (1965), wo sowohl sieben Brüder als auch drei Ferkelchen zum Teil als ein Chor sprachen.804 In diesem Text findet man die meist deutlichen und zum Teil provokativen Hinweise auf das aktuelle Lebensumfeld, denn es werden sowohl die Besonderheiten der sowjetischen Konsumkultur als auch die korruptiven Strategien und mehrschichtigen Verhältnisse, die die Beziehungen zwischen Charakteren und den Ablauf der Geschichte bestimmen, dargestellt; der große Wolf telefoniert mit Gott und ruft Allah zur 800 Ebd. 801 Ebd. 802 Ebd. 803 Heino Mikiver, Johann Christoph Friedrich von Schiller – röövlid, 1963; Manuskript im Besitz von Künstler Leonhard Lapin. 804 Heino Mikiver, Punamütsike, seitse venda, kaks hunti ja kolm roosat põrsakest, 1965; Manuskript im Besitz von Künstler Leonhard Lapin.

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Hilfe, es kommen mehrere sexistische Witze vor, daneben benutzen die Charaktere sporadisch die offizielle Rhetorik.805 Die Hauptlinie des Sujets parodiert das klassische Narrativ des Kampfes um Liebe bzw. ein Liebesdreieck, die die aus den Märchen herausgerissenen, zum Teil verdoppelten (es gibt den großen und den kleinen Wolf), zum Teil zusammengebundenen (sieben Brüder) Figuren vor dem Hintergrund der sowjetischen Gegenwart zum Absurden führen – sowohl die beiden Wölfe als auch alle sieben Brüder versuchen das Rotkäppchen zu verführen, die vielfältigen Auseinandersetzungen, verborgene Kooperationen und komplizierte Konflikte werden am Ende aber durch eine Deus Ex Machina-Lösung aufgehoben: Der große Wolf wird neu identifiziert, findet sich als der Küster wieder und verheiratet das Rotkäppchen mit einem von sieben Brüdern, der allerdings vollkommen zufällig ausgewählt wird.806 Mikivers Texte weisen einerseits das Interesse sowohl an der klassischen Dramaturgie – an deren Elementen und Strukturen – als auch an neueren Inszenierungstechniken (dem sog. Verfremdungseffekt) auf, seine Aktivitäten bezogen sich immer auf die historischen Konventionen oder gegenwärtigen Entwicklungen innerhalb des Theaters bzw. wurden in einem disziplingebundenen Rahmen gestaltet. Andererseits ermöglichte der Kontext des Studententheaters (dessen Aufführungen außerdem als Einleitung der Studentenpartys dienten) den demonstrativen Verzicht auf jegliche Ansprüche auf Professionalität. Die ›Dekonstruktion‹ des dramaturgischen Materials und des inszenatorischen Verfahrens zielte nicht auf eine seriöse und durchgearbeitete Auseinandersetzung mit den Traditionen oder Perspektiven des Theaters, es wurde keine klar formulierte Positionierung oder ein eigenes Theaterkonzept angeboten. Alle verwendeten Elemente bzw. aus ihnen entstandene Bedeutungen – allgemein bekannte Narrative, erkennbare dramaturgische Strukturen, allgemeine historische Hintergründe und deutliche gegenwärtige Bezüge – wurden gleichermaßen ausgenutzt und unterminiert: Der Wiedererkennungswert stellte schnell einen Kontakt zum Publikum her (die Stücke waren kurz und die Zuschauer vermutlich auch ziemlich ungeduldig), die klassischen Sujets lenkten die Aufmerksamkeit der möglichen Kontrollorgane ab, die strategischen Vorgänge schwankten zwischen der Parodie bzw. lesbaren Umdeutungen und dem anarchischen ›Überspielen‹ jeglicher Botschaften, das zumeist in der unlogischen und raschen Auflösung des anfänglichen Narratives kulminierte. Es handelte sich um eine spielerische Dekonstruktion, die keine fixierbare Entgegensetzungen oder Ergebnisse erzeugte, sondern sich nur im Prozess entfaltete, in einem konkreten Raum und Zeitpunkt wahrnehmbar wurde und schließlich auslief. Dabei lässt sich ein flexibles Verhältnis zwischen dem Spiel, dem Absurden und den kontextuellen Bedingungen beobachten: Das Absurde entstand durch ein allumfassendes Spiel, das jegliche feste 805 Ebd. 806 Ebd.

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Struktur auseinanderriss und mit dem Anspruch auf eine konsequente Sinnerzeugung brach, dieses Spiel wurde aber wiederum (mindestens zum Teil) von einem von außen gekommenen, kontextgebundenen Absurditätsgefühl in Gang gesetzt. Die Dynamik des Spiels ist hierbei durch die Abwechslung von Übertreibung und ›Entleerung‹ zu charakterisieren, die beide zu einer Bedeutungsverschiebung bzw. zum Bedeutungsverlust beitrugen und in deren Interaktion das Absurde zum Vorschein kam und sich entfaltete. Die zufällig in den Mittelpunkt gerückten und ausgespielten Szenen deuteten eine Zugehörigkeit zu einer narrativen Einheit an und fungierten als ein Versprechen, dass sich bis zum Ende des Stücks aus den Einzelteilen ein mehr oder weniger sinnvolles Ganze herausbildet, dieses Versprechen wurde aber im Folgenden durch irrationale Wendungen und irrelevante Vorgänge immer wieder aufgehoben – als würde man sagen, dass es ›nur ein Spiel‹ ist, das man nicht auf den Sinn, sondern auf das Spielen zielt und dass man nicht einem logischen, vorhersehbaren Weg folgt, sondern eine Eigenbewegung des Spiels entwickelt. Der plötzliche Abschluss der Aufführungen diente nicht als eine Zusammenfassung oder als das Ankommen an einem Punkt, wo alle Aussagen vermittelt sind, sondern erschien eher als eine praktische Entscheidung, dass das Spiel irgendwann beendet bzw. unterbrochen werden muss. Demonstrativer Leichtsinn, der den Aktivitäten des Studententheaters zugrunde lag, lässt das Spiel und das Absurde, wenn nicht als direkt gleichsetzbare, so zumindest als mitunter überlagernde Phänomene erscheinen: Durch das Spielen wurde das Absurde hervorgehoben, sichtbar gemacht, intensiviert, zur gleichen Zeit wurde aber auch das Spielen selbst als etwas Absurdes wahrgenommen – als eine Tätigkeit, die eigentlich nicht in diesem Kontext zustande kamen durfte, obwohl es zu keinen Ergebnissen, zu klaren Positionierungen oder direkten Konfrontationen führte, keine eindeutig nachvollziehbare Änderung im Lebensumfeld verursachte und deren Gefährlichkeit und Anziehungskraft eben in der Absurdität lag. Im Vergleich zur Theatererneuerung kann man hierbei einen interessanten Unterschied im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Spiel und dem Absurden konstatieren. Die Auseinandersetzung mit dem Spiel und dem Absurden war in beiden Fällen eng miteinander verknüpft und erzeugte spezifische Ausdrucksformen dieser Zusammenkunft; in beiden Fällen ging das Spiel vom – sowohl existenziellen als auch sozialen – Absurditätsgefühl aus und generierte die verflochtenen Manifestationen der beiden. Im Prozess des Spiels bildeten sich aber in der Theatererneuerung und bei den Aktivitäten der Kunststudenten zwei verschiedene Handlungsmodi heraus, deren Zielsetzungen und Wirkungsmechanismen deutlich voneinander abwichen (obwohl das mehr oder weniger bewusst formulierte Endziel ja dasselbe sein mochte). In den Experimenten der Theatererneuerung wurde dem Spiel die Fähigkeit zugesprochen, einen Ausweg aus dem Absurden zu bereiten, wenn man nur selbst in der Lage ist, vollkommen ins Spiel und in die daraus entstandenen tiefsten und gefährlichsten Zustände einzugehen; sowohl existenzielle als

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auch soziale Absurdität könne man dieser Ansicht nach durch die Umstellung des Wahrnehmungsregimes überwinden. Im Studententheater des Kunstinstituts und in einigen Happenings diente das Spiel eher zur Ausweitung des Absurden – die schon vorhandene Absurdität wurde mit dem absichtlichen Abriss jeglicher Ansprüche auf Sinnerzeugung überspielt, wobei sich der Ausgangspunkt bzw. das Absurditätsgefühl zwar vielleicht nicht ganz auflöste, aber doch eine zeitweilige Befreiung davon – oder Überlegenheit – ermöglichte. Wenn sich das sowohl existenzielle als auch soziale Absurde als eine aus dem Konflikt zwischen dem Menschen und der Gesellschaft entsprungene Erkenntnis bestimmen lässt, kann man hier zwei Umgangsweisen mit dieser Erkenntnis – oder zwei Versuche für einen Ausweg aus diesem Konflikt – verfolgen. Bei der Theatererneuerung hat man das Außen in sich selbst gekehrt, um das Äußere mit Selbst zu füllen und das vorgegebene Spiel als eigenes Spiel umzudeuten. In den künstlerischen Aktionen wurde das Selbst wiederum aufgegeben, um sich von dem schon in Gang gesetzten Spiel mitreißen zu lassen. Die beiden Szenarien galten als eine Abschwächung des Konfliktzustandes zwischen dem Selbst und der Umwelt, das Spiel erwarb jedoch in beiden Fällen ein unterschiedliches Gewicht – Spiel als Entgegensetzung zum Absurden wurde mit der höchsten Ernsthaftigkeit untersucht, bewertet und angestrebt, Spiel als Erweiterung des Absurden mit flexiblen, leichtsinnigen und ausdrücklich unernsten Einstellung ausgeführt. Abbildung 23: Happening »Papiere in der Luft« am Pirita Strand, Tallinn, 1969 (Andres Tolts, Toomas Pakri, Leonhard Lapin, Vilen Künnapu)

Fotos Konstantin Kuzmin, Archiv des Künstlers Leonhard Lapin

Im Rückblick auf die Entstehungsbedingungen der Happenings in Estland hat der Künstler Leonhard Lapin darauf hingewiesen, dass zusätzlich zu Mikivers Inszenierungen im Studententheater (die für Gruppe SOUP als Ausgangspunkt für die wei-

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teren Aktionen galten) und innerhalb des allgemeinen Flusses der neuen Informationen auch das existenzialistische »Konzept des freien Aktes« nicht unwichtig war – dieses Konzept habe das Unerwartete und Unerklärbare im menschlichen Leben beleuchtet807 und wurde anscheinend in einer Kompilation mit der – von Lapin nebenbei erwähnten – kurz zuvor entdeckten Psychoanalyse wahrgenommen und ausgelegt. Bei einigen künstlerischen Aktionen (»Papiere in der Luft«, »Weekend in Vääna«, die sog. Alltagshappenings u.a.) scheint es plausibel, sie in erster Linie als Umsetzungen des ›freien Aktes‹ zu betrachten, wobei der Anspruch auf Sinnerzeugung zugunsten des irrationalen Auslebens der tiefsten innerlichen Impulse aufgelöst wurden. Das Interessante hierbei ist die Übernahme und Aneignung des Diskurses des modernen Menschen, der sich in der westlichen Gesellschaft der Nachkriegszeit herausbildete, sich auf der existenzialistischen Feststellung des unvermeidlichen Entfremdungsgefühls in der gegenwärtigen Welt sowie auch der Irrationalität des Menschen basierte und die Psychoanalyse für die Erläuterung dieser Entfremdung und Irrationalität in Gebrauch nahm, um dadurch das Trauma des Krieges zu verarbeiten.808 Während der 1960er Jahre machte dieser Diskurs einige bedeutende Veränderungen durch, wurde zum Teil als Universalisierungsversuch, der die etablierten Machtpositionen unterstützte, mithilfe der kritischen Theorie abgelehnt, fand aber auch ein Nachleben in Bezug auf die neuen, gegenwartsorientierten kulturellen Entwicklungen. Im letzten Fall hat man die Bestrebung nach der ›ontologischen Authentizität‹ in einem augenblicklichen Akt, im Fluss, im Zustand der Suche (die beispielsweise die Fluxus-Bewegung zum Ausdruck brachte) festgehalten, aber nicht mehr zwangsläufig mit den traumatischen existenzialistischen Inhalten gleichgesetzt – die Auseinandersetzung mit dem Irrationalen wurde produktiv umgedeutet und nicht als eine beängstigende Begegnung mit dem dämmrigen Unbewussten, sondern als eine entfesselnde Erfahrung betrachtet. Im sowjetischen bzw. im spätsozialistischen Kontext gewann diese Umdeutung noch eine zusätzliche Dimension – die Affinität zum Irrationalen entsprang einerseits den breiteren kulturellen Wandlungen der 1960er Jahre (Befreiung von den etablierten gesellschaftlichen Normen und künstlerischen Formen), wurde von den spezifischen sozialen Bedingungen verstärkt (als Entgegensetzung zu den totalitaristischen Kontrollmechanismen), verkoppelte sich aber auch mit den Anpassungstechniken und mit der Resignation des Spätsozialismus, wobei man der Entfaltung der Irrationalität und dem Verfolgen der unerklärbaren innersten Impulse nicht die weltverändernden oder tatkräftigen Fähigkeiten zugeschrieben hat. Diese wurden eher als eine Taktik der hoffnungslosen bzw. sinnlosen Rebellion wahrgenommen – als ein Spiel, das nichts anderes als Spielen erzielt, das die Durchlässigkeit des Systems

807 Leonhard Lapin, Startinud kuuekümnendatel, S. 17. 808 Vgl. dazu David Hopkins, After Modern Art 1945–2000, S. 11.

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ausnutzt, einen begrenzten Freiraum kreieren vermag, aber nicht das System umschalten kann. Es lässt sich natürlich eine gewisse Spektakelhaftigkeit bzw. Spielhaftigkeit beim Aufdecken des Irrationalen auch in der westlichen Kultur beobachten, im sowjetischen Raum wurde es aber von den kontextuellen Bedingungen intensiviert und in der Auseinandersetzung mit den offiziellen Strukturen – die einen großen Anteil der vorhandenen Absurdität enthielten – ausgeprägt. Diese vorhandene Absurdität bestand in der gleichzeitigen Entleerung und Befestigung der offiziellen Ideologie und deren Wirkungsmechanismen: Einerseits wurden die ideologischen Argumente immer mehr funktionalisiert, sie gaben häufig keinen konsequenten Inhalt wieder, sondern wurden je nach den Bedürfnissen und ausgehend von praktischen Umständen ausgelegt, andererseits – und gerade wegen der Flexibilität der Ideologie – ließen sich diese Argumente auch nicht mehr rational widerlegen, um auf diesem Wege die gesellschaftlichen Veränderungen anzustreben. Die offene Rhetorik und die verborgenen Spielregeln, die den eigentlichen gesellschaftlichen Prozessen zugrunde lagen, bildeten eine spezifische Dynamik der sozialen Entfremdung heraus, an die man sich während des Spätsozialismus schon überwiegend angepasst hatte und die das sog. Doppeldenken erzeugte, bei dem man gegensätzlichen Weltanschauungen je nach der individuellen Situation folgte, ohne dass die eine sich eindeutig als echte und die andere als vorgetäuschte bestimmen ließ. Man hat sich einerseits an die Absurdität des Regimes angepasst, andererseits benötigte man dafür bestimmte strategische Mittel, die womöglich am deutlichsten durch deren erhöhte Spielhaftigkeit zu beschreiben sind – durch die Erkenntnis, dass alle Wahrheiten und Positionierungen sich auf eine fiktive Rahmung beziehen und im Grunde jederzeit geändert werden können, wobei die Fiktionalität nicht nur implizit vorhanden war (wie in jeder Gesellschaft), sondern den Beteiligten bzw. den Mitgliedern des Sociums immer wieder ausdrücklich bewusst wurde. Das Streben nach Grenzsituationen, in denen man sich entweder in die Tiefe des Selbst zu versenken oder wiederum aus sich herauszuschlüpfen versuchte, die freien – irrationalen, unkontrollierbaren – Akte in den Happenings und das Narrenspiel in den Alltagspraktiken lassen sich kaum von dieser allgemeinen gesellschaftlichen Dynamik trennen und müssen vor dem Hintergrund der allgemeinen sozialen Kommunikations- und Handlungsmodi betrachtet werden. In den künstlerischen Praktiken kann man verschiedene Begegnungsmodelle des Spiels und des Absurden beobachten – spielerische Auseinandersetzung mit dem Absurden, Spiel als Entgegensetzung zum Absurden oder Spiel, das ins Absurde geführt wurde –, jedoch charakterisierte alle diese Verkoppelungen eine Flexibilität, bei der sich beide Beteiligten (das Absurde bzw. das Absurditätsgefühl und das Spiel bzw. die spielerische Einstellung) gegenseitig relativierten: Die Bedrängnis des Absurden wurde im Spiel aufgelöst oder umgedeutet, die innerliche Logik des Spiels wiederum durch das Absurditätsgefühl ständig hinterfragt und durcheinandergebracht. Im Hinblick auf das Absurde bzw.

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auf den Existenzialismus erschien das Spiel als eine Bewältigungsstrategie der Sinn- und Ziellosigkeit des menschlichen Lebens, wobei die Erkenntnis der Absurdität nicht (nur) als eine Schlussfolgerung, sondern als ein freiwillig angenommener Ausgangspunkt galt und somit ihre Bedrohlichkeit verlor. Im Hinblick auf das Spiel mag das explizite Zusammentreffen mit dem Absurden aber vielleicht auch eine schon im Spielphänomen vorhandene – grundlegende und auf sich selbst gerichtete – Subversivität sichtbar machen, deren Erörterung anhand der konkreten Beispiele und deren kontextuellen Rahmung anschließend vorgenommen wird.

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Im IV. Band des Samizdat-Almanachs »Thespis«, den der Kreis der Theatererneuerung herausgegeben hat, wurde ein undatierter Brief aus dem Jahr 1972 vom Dramaturgen und Schriftsteller Mati Unt an den Psychiater und Schriftsteller Vaino Vahing veröffentlicht.809 Die Beiden fungierten im Rahmen der Theatererneuerung – neben den Regisseurs Hermaküla und Tooming – als Theoretiker und Konzeptualisierer, wobei Unt als angestellter Dramaturg im Theater »Vanemuine« sich direkt an den Vorbereitungsprozessen der Inszenierungen beteiligte und in seinen Artikeln die Ziele und Methoden der Theaterexperimente in einem breiteren kulturellen Kontext beleuchtete, Vahing zwar nicht in die praktische Arbeit eingebunden war, aber durch die Vermittlung der Ideen der Psychoanalyse darauf einen bedeutenden Einfluss hatte, auch selbst Theaterstücke schrieb und ein reges Interesse am Theater aufwies.810 Der Brief besteht aus zwei deutschsprachigen Zitaten – aus einer Überlegung von Harold Pinter, in der er die Grundlagen der Bühnendarstellung und die Wirkungsweisen einer Theateraufführung betrachtet, und aus dem Kommentar der Theaterwissenschaftlerin Marianne Kesting zu Pinter. Bei Pinter heißt es: »Eine Person auf der Bühne, die keine überzeugenden Argumente oder Information über ihre Erfahrungen, ihr augenblickliches Verhalten oder ihre künftigen Chance[n] zu geben vermag, noch dazu imstande ist, eine zusammenhängende Analyse ihrer Motive zu geben, hat für mich genau soviel Daseinberechtigung und ist im gleichen Maße der Aufmerksamkeit wert wie eine Person, die, beunruhigenderweise, all dieses im nämlichen Augenblick und auf Anhieb vermag. Je unmittelbarer die Erfahrung, desto weniger artikuliert der Ausdruck. […]«. 811 Dazu folgt von Marianne Kesting: »Handlungen sind nicht, wie die des absurden Theaters, bewusst AKAUSAL, sie sind UNMOTIVIERT. Der Naturalismus der 809 Kirju: M. Unt V. Vahingule. – Thespis, S. 327-328. 810 Vahings Theaterstücke, Artikel und Interviews sind veröffentlicht in: Vaino Vahing, Mängud ja kõnelused. Tallinn: Eesti Keele Sihtasutus, 2002. 811 Kirju: M. Unt V. Vahingule. – Thespis, S. 327; der letzte Satz ist von Unt hervorgehoben.

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Darstellung lediglich gibt der Handlung für den Zuschauer etwas Einleuchtendes«.812 Von Unt gibt es zu den Zitaten keine weiteren Erläuterungen, jedoch ermöglichen es diese Textausschnitte, vor dem Hintergrund der Entwicklung der Theatererneuerung (die zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Kulmination und ihr Finale erreicht hatte) einige interessante ideelle Verschiebungen in Bezug auf das Theaterbzw. Spielkonzept zu beobachten, vielleicht auch schon im Laufe dieser Entwicklung immer anwesende innerliche Widersprüche und Ambivalenzen sowie auch die Unterschiede in den persönlichen Positionierungen der Beteiligten zu beleuchten. Sogar wenn Unt keine eigene Meinung zu Pinters Standpunkt äußerte, erscheinen die Zitate als eine bedeutende Botschaft, besonders durch den von ihm hervorgehobenen Satz »Je unmittelbarer die Erfahrung, desto weniger artikuliert der Ausdruck«, der sich deutlich mit den Spielexperimenten der beiden Regisseure der Theatererneuerung konfrontierte sowie angesichts der von Vahing introduzierten Techniken der Psychoanalyse herausfordernd klang. Vom »Aschenputtelspiel« bis zu »Ohrfeigen« zeigten die Inszenierungen der Theatererneuerung eine stetig wachsende Tendenz zur Ausweitung des Spiels, die mithilfe der aktiven Handlungen, der emotionalen Entblößung des Schauspielers, der unkontrollierten Improvisationen und der aufgeladenen Atmosphäre angestrebt wurde, wobei man dieser Methode der Extravertierung eine Fähigkeit zusprach, authentische Erfahrungen hervorzurufen. Die in den Mittelpunkt gestellte Irrationalität – als Gewähr der Authentizität – wurde überwiegend mit dem Ausleben und Ausführen des Irrationalen in Verbindung gebracht. Sowohl Vahings »Nur über Spiel«813 und seine psychiatrischen Versuche im Salon814 als auch die früheren Texte von Unt, die sich auf Artaud und Grotowski bezogen, lassen nachvollziehen, dass das Abreißen der von der Gesellschaft aufgezwungenen Masken als ein aktiver Protestakt verstanden wurde, wobei man sich (bzw. die Schauspieler) »loslässt«815 und für alle innerlichen Bedürfnisse ein physisches Äquivalent findet, was den Kritikern den Anlass gab, die daraus entstandenen künstlerischen Ergebnisse als »infantil« oder als eine »Entropie«816 zu beschreiben. Unts Zuwendung zu Pinter und zur Ansicht, dass die unmittelbare Erfahrung nicht mit mehr, sondern mit weniger Ausdruck gleichzusetzen sein mag, ist vor diesem Hintergrund unterschiedlich einzuschätzen. Einerseits erwies sich die Kulmination der Theatererneuerung – die Inszenierung von »Ohrfeigen« – (wie Unt selbst festgestellt hat) gleichzeitig als der Höhe- und Wendepunkt der bisherigen Experimente, als eine vollkommene Realisierung sowie auch Erschöpfung der Me812 Ebd.; die Phrase »der Naturalismus der Darstellung« ist von Unt hervorgehoben. 813 Vaino Vahing, Ainult mängust. (1969) – Hermaküla, S. 11-12. 814 Vgl. Tahan saada poliitikuks, aga ei oska, S. 82. 815 Vgl. Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 140. 816 Vgl. Vaino Vahing, Ainult mängust. (1969) – Hermaküla, S. 11; Valdeko Tobro, Õigus eksperimendile võrdub kohustusega kontrollida tulemust. – Thespis, S. 67.

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thode817 und führte unvermeidlich zur Suche nach neuen Anhaltspunkten sowohl auf der praktischen als auch der theoretischen Ebene. Andererseits kann man die persönlichen Positionen innerhalb des Kreises der Theatererneuerung und den zu dieser Zeit sich entfaltenden Streit zwischen den Beteiligten nicht unberücksichtigt lassen. In dieser Hinsicht wirkt die Neuorientierung als ein raffiniertes – vielleicht sogar spielerisches – Manöver, mit dem Unt (der für die Öffentlichkeit als Begründer und Erklärer der Theaterexperimente galt, aber zumeist der Praxis nachging und nicht die weiteren Schritte vorschlug) das expressive und exaltierte Spiel plötzlich ablehnte, seine Unterstützung und damit auch den von ihm selbst geschaffenen konzeptuellen Rahmen entzog. Selbst wenn es sich um einen eher zufälligen Textausschnitt handelt, legt das Interesse an Pinter – in Bezug auf die vorher geschilderte Rolle des Existenzialismus und des Absurden in den künstlerischen Praktiken – immerhin eine (zumindest implizite) neue Umgangsweise mit der Erkenntnis der Absurdität vor. Die Auseinandersetzung mit dem Existenzialismus am Anfang der Theatererneuerung galt als wichtiger Ausgangspunkt des Spiels, das sowohl als eine Bewältigungsstrategie des Absurden als auch als ein Überwindungsversuch des existenzialistischen Konfliktes diente – die erwarteten authentischen Erfahrungen, die durch die Intensivierung des Irrationalen im Spiel zustande kommen sollten, wurden als Aufhebung der Tragik des Absurden betrachtet. In Bezug auf Pinters Theatertexte lässt seine Bemerkung einen gegensätzlichen Standpunkt formulieren: Die unmittelbare Erfahrung, die unter anderem die Erkenntnis des Absurden annimmt, entsteht nicht durch eine Reaktion (Ausleben, Ausdrücken, Überwinden) auf das Absurde, sondern ist im widerstandslosen Innensein in der Absurdität zu finden und sollte somit nicht zum Spielen (Überspielen), sondern – im Gegenteil – zum ›Nicht-Spiel‹ führen, wobei die vorhandene Irrationalität keineswegs analysiert oder untersucht, sondern nur ausgeführt wird. Vor dem Hintergrund der Praktiken der Theatererneuerung wirkt diese Ansicht äußerst subversiv – sogar wenn die direkten existenzialistischen Bezüge im Laufe der Entwicklung der ›Methode‹ mitunter ihre Aktualität verloren, blieb das Spiel im Mittelpunkt der Experimente, die zwar unterschiedlich ablaufen mochten, aber nie auf Verminderung, sondern immer auf Steigerung des (auf die eine oder andere Weise verstandenen) Spiels zielten. Die sporadischen Widersprüche zwischen den verschiedenen Spielkonzepte, die zumeist nicht klar formuliert wurden, aber sich in den Meinungsäußerungen und Aktivitäten der Beteiligten der Theatererneuerung nachvollziehen lassen, schufen einen Denkraum, in dem die Ablehnung des – ›falschen‹, unechten – Spiels schon immer implizit vorhanden war sowie auch die Frage nach der Grenzen des Spiels: Inwieweit kann ein im Probesaal angefangenes und sich auf der Bühne entfaltendes Spiel über diese Aufführungsorte hinauswachsen, ob und wie wäre in dem Fall das 817 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 157.

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›Nicht-Spiel‹ zu definieren, ob es mit dem Alltagsleben gleichzusetzten ist oder, im Gegenteil: soll das Spiel vor allem in alltäglichen Praktiken seine Wirkungskraft ausüben? Insbesondere der Konflikt zwischen der Bestrebung nach der Grenzenlosigkeit des Spiels und den daraus folgenden Komplikationen im Alltagsleben sowie auch der Zusammenstoß der individuellen künstlerischen Ambitionen, die nach der anfänglich engen Gruppenarbeit immer mehr auseinandergingen, lagen dem Zerfall der Theatererneuerung zugrunde; die Quellen dieses Scheiterns lassen sich aber schon in der früheren Phase der Experimente – vielleicht sogar in den Ausgangsbedingungen – beobachten. In seinem Tagebuch aus den Jahren 1968–1973 beschrieb Vaino Vahing ein Treffen mit Unt und dem Kunsthistoriker Jaak Kangilaski, bei dem über den Almanach »Thespis« gesprochen wurde, anscheinend über die erste Ausgabe im Jahr 1972, in der Vahings Einführung in die Konzepte des Selbstseins bei Kierkegaard und Jung veröffentlicht wurde. 818 Der Schwerpunkt des Artikels lag auf der Jungschen Psychoanalyse bzw. der analytischen Psychologie, wobei Vahing einleitend das »philosophische Credo« von Jung – ein Zitat aus »Seelenprobleme der Gegenwart« (1932) 819 – vorstellte: Es sei nicht nötig, die Wahrheit zu ›wissen‹, sondern sie zu erfahren; man benötige keine intellektuellen Auseinandersetzungen, sondern die Frage sei, wie man einen Weg zu sich selbst findet, zur vielleicht wortlosen, irrationalen Erfahrung. 820 Im erwähnten Gespräch habe Kangilaski gesagt, dass die Hypothese von Jung an sich nicht schlecht sei, Vahing habe es aber zu pragmatisch, zu primitiv mit Kierkegaard, Lenin und Hegel in Verbindung gebracht.821 Jedoch habe Kangilaski (mithilfe von Vahings Erläuterungen zu den philosophischen und psychologischen Hintergründen) endlich den Spielbegriff in der »Affäre« in »Vanemuine« verstanden – ihr Spiel sei nicht »das echte«, es beinhalte etwas im schlechten Sinne Infantiles, ihre Spontaneität sei noch nicht Spiel, es gebe einen Unterschied zwischen der (Hermakülas und Toomings) Bestrebung nach Spontaneität und dem Spiel.822 In Kangilaskis Stellungnahme spiegelt sich womöglich ein grundlegendes Problem wider, das die praktischen Aktivitäten und theoretischen Beiträge der Theatererneuerung kennzeichnete (auch wenn es selten direkt angesprochen wurde) – die Frage, ob das Abreißen der Masken, der Abstieg in die Tiefe des Unbewussten, das mögliche Erreichen des wahren Selbst und das Folgen jeglicher irrationaler Impulse zwangsläufig zum Spielen führt, mit dem Spiel gleichgestellt werden könnte oder 818 Vaino Vahing, Päevaraamat I, S. 263, vgl. Vaino Vahing, Søren Kierkegaard ja Carl Gustav Jung iseolemisest. – Thespis, S. 38-62. 819 Carl Gustav Jung, Seelenprobleme der Gegenwart (1932). Olten: Walter, 1973. 820 Vaino Vahing, Søren Kierkegaard ja Carl Gustav Jung iseolemisest. – Thespis, S. 49. 821 Vaino Vahing, Päevaraamat I, S. 263. 822 Ebd.

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nur als ein Teil des Spiels zu betrachten wäre, der nicht allein das Phänomen zu definieren vermag. Einerseits ging man in der Praxis überwiegend von einem bestimmten (psychoanalytischen) Spielkonzept aus, andererseits wurden die Komplexität des Spielbegriffs und auch andere Auslegungsmöglichkeiten im Auge behalten – die hohe Anziehungskraft des Spiels bestand vor allem in dessen Unabgeschlossenheit. Trotz der grundlegenden Bestrebung nach der Entblößung des Schauspielers blieben die praktischen Experimente immer heterogen und setzten die Suche nach psychophysischen Grenzsituationen immerhin auch mit anderen Handlungsdynamiken (Strukturierung mithilfe der Grundnarrative aus der Weltliteratur, ›Ritualisierung‹ u.a.) in Verbindung. Man kann vermuten, dass diese Erweiterung und Verschiebung der Spielebenen sowohl wegen den äußerlichen Bedingungen (die Rahmung einer Theateraufführung) vorgenommen wurde als auch aus den internen Gründen bzw. aus dem Zweifel entstand – aus der nie eindeutig beantworteten Frage, wie das Spiel eigentlich zu bestimmen und zu erkennen wäre. Vahings Herangehensweise an Jung deutet in der estnischen Kultur dieser Zeit eine symptomatische Übersetzungsstrategie an, 823 wobei die verschiedenen philosophischen und künstlerischen Konzepte zusammengebracht, übereinander gelesen und verschmolzen wurden, und sie macht die theoretische Ableitung vom Existenzialismus über die Psychoanalyse zum Spiel am deutlichsten sichtbar. In Bezug auf das Spielphänomen und die konkreten Auslegungen des Spiels in diesem Kontext erscheint diese Taktik zweifach bedeutend. Zum einen galt die ideelle Verschmelzung, wodurch die angewandten Konzepte ausgehend von aktuellen Bedürfnissen und Umständen adaptiert (teils vereinfacht, teils verschoben) wurden, als ein spielerischer Vorgang – als eine »praktische Interpretation« der Welt, die als Spiel bezeichnet werden kann.824 Zum anderen folgte aus dieser Koppelung mit dem Existenzialismus für die Betrachtung des Spiels ein weltanschaulicher Hintergrund, der auf der Erkenntnis der allgemeinen – existenziellen, sozialen – Unsicherheit basierte und das Spielphänomen in diese Erkenntnis einbezog. Einerseits wurden die spielerischen Praktiken im Hinblick auf die Relativität aller Aktivitäten wahrgenommen, andererseits besaßen sie eine Spezifik – eine eigene und explizite Unsicherheit bzw. Fiktionalität –, die vermuten ließ, dass es in der Auseinandersetzung mit der existenziellen Unsicherheit eine besondere Dynamik zu entwickeln vermag und für diese Auseinandersetzung geeignet ist. Die oben erwähnte Frage nach den Grenzen oder nach der Grenzlosigkeit des Spiels, die Überlagerungen und Kollisionen zwischen der künstlerischen oder spielerischen und alltäglichen Sphäre sowie das Auseinandergehen der individuellen Ambitionen in der letzten Phase der Theatererneuerung lassen sich am Beispiel von Mati Unts Kurzroman »Via Regia« und darauf folgenden Reaktionen – die als ein 823 Vgl. Mart Velsker, Mis on kuuekümnendad eesti kirjanduses?, S. 56. 824 Vgl. Gunter Gebauer, Christoph Wulf. Spiel – Ritual – Geste, S. 207.

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Nachspiel der Theatererneuerung galten – beleuchten. Nach dem Finale der Theatererneuerung und dem Abschied vom Theater »Vanemuine« verfasste Unt eine subjektive Dokumentation der vorausgegangenen Theaterexperimente, die unter dem Titel »Mein Theaterglossarium« im Jahr 1972 in »Thespis« veröffentlicht wurde825 und als Ausgangspunkt für die weitere literarische Verarbeitung des Geschehens diente, die Unt in »Via Regia« vornahm.826 Die erste Version des in den Jahren 1972–1973 geschriebenen Romans blieb allerdings wegen der Proteste der beiden Regisseure unveröffentlicht.827 Die im Jahr 1975 erschienene Version von »Via Regia« 828 ist bereits stark fiktionalisiert, jedoch sind in die literarische Geschichte auch einige theoretische Überlegungen und Betrachtungen der kulturellen Hintergründe eingebunden, die womöglich direkt aus der ersten Version des Buches übernommen sind. Es wird die Idee des ›demokratischen Theaters‹ (die Hermaküla vertrat)829 und die kulturhistorische Entwicklung des Spielbegriffs830 erläutert, das Theaterkonzept, wonach Artaud und Brecht zusammengeführt werden sollten, erwähnt,831 auf die Schlüsselworte ›Mythos‹ und ›Ritual‹ hingewiesen 832 sowie die Grundlagen der Jungschen Psychoanalyse beleuchtet,833 sowohl die Pariser Studentendemonstrationen834 als auch die Happenings835 angedeutet. Unter anderem findet man im Buch ein Gespräch zwischen dem Ich-Charakter Heinrich Holla (der sich als Philologe vorstellt) und dem Regisseur Illimar Koonen, das trotz der Fiktionalität (und vor dem Hintergrund der anderen, nicht-fiktiven Texte und Meinungsäußerungen) möglicherweise die eigentlichen Diskussionen im Rahmen der Theatererneuerung recht direkt wiederzugeben vermag. Nach einer Theaterprobe fragt der Philologe den Regisseur, was das Konzept der Inszenierung sei (obwohl er verstehe, dass das Kunstwerk sich nicht erklären lässt); der Regisseur weigert sich vom Text des Stücks zu sprechen, weil es nicht besonders wichtig

825 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. (Frühling 1972). – Thespis, S. 117-158. 826 Mati Unt, »Via Regia« finaal. – Thespis, S. 383. Über die Theatererneuerung in Tartu am Ende der 1960er Jahre erschienen im Nachhinein auch zwei weitere Romane: Mihkel Mutt, Hiired tuules, Tallinn: Eesti Raamat, 1982; Madis Kõiv und Vaino Vahing, Endspiel. Laskumine orgu. Tallinn: Eesti Raamat, 1988. 827 Ebd., S. 384. 828 Mati Unt, Via Regia. Loomingu Raamatukogu Nr. 9. Tallinn: Perioodika, 1975. 829 Ebd., S. 33. 830 Ebd., S. 38. 831 Ebd. 832 Ebd., S. 43. 833 Ebd., S. 44. 834 Ebd., S. 50. 835 Ebd., S. 59.

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sei und nur die Möglichkeit fürs Spielen biete.836 Der Regisseur und der Literat seien – so Koonen – Diener des Schauspielers, die alles machen sollten, damit er sich frei öffnen kann; die Selbstverwirklichung des Schauspielers fände in den zwischenmenschlichen Beziehungen den Ausdruck – diese zwischenmenschlichen Beziehungen zusammen mit Mythos und Spiel bildeten das Wesen des Theaters, so dass das Theaterleben eigentlich das reale Leben sei; auf der Bühne mache man nicht Kunst, sondern man lebe (wobei manchmal Kunst entstehen kann, manchmal aber auch nicht).837 Unts Schreibweise bewegt sich genau an der Grenze, an der die Darstellung ab und zu leicht ironisch wird, aber doch nicht die Charaktere lächerlich macht; es mag sein, dass die Ironie nach dem Streit mit den Regisseuren zunahm, jedoch kennzeichnet eine derartige Ausdrucksart die meisten literarischen Texte von Unt. Die Reaktionen der beiden Regisseure auf die erste Version des Romans, in der noch die richtigen Namen benutzt und die Authentizität der Situationen angestrebt wurde,838 waren vernichtend – Hermaküla hatte eine Reihe konkreter Widersprüche, warf Unt die willkürliche Verdrehung des Geschehens vor und empfahl, dass das Manuskript verbrannt werden sollte;839 Tooming fand zwar wenig Fehler840 und verbot die Veröffentlichung nicht, jedoch wies er auf die mögliche Gerichtsverhandlung hin.841 In seinem zusammenfassenden Kommentar zum Konflikt stellte Unt fest, dass er beim Schreiben vom Gedanken ermutigt war, dass alle Charaktere seines Romans (bzw. die Beteiligten der Theatererneuerung) vorurteilsfreie Künstler ohne Angst vor dem Risiko sind, sich nicht um kleinbürgerliche Moral kümmern und kompromisslos dem inneren Bedürfnis folgen.842 In dieser Feststellung klingt ein provokativer und ironischer Vorwurf wider, dass die Regisseure trotz der Forderung absoluter Bereitschaft für ein allumfassendes Spiel eigentlich davon abgeschreckt waren – wenn man den literarischen Beitrag von Unt als eine weitere Form des Spiels betrachtet –, sobald sie die Kontrolle über die Regeln verloren. Unts eigene künstlerische Ambitionen kann man hierbei natürlich nicht beiseitelassen – nach den Jahren als Hintergrundfigur in der Theatererneuerung galt der Roman offenbar als seine ausdrückliche Selbstbehauptung. Jedoch brachte der Fall von »Via Regia« einige grundlegende Konflikte in der Ideologie und Praxis der Theatererneuerung zum Vorschein, insbesondere im Hinblick auf das immer problematisch gebliebenes Verhältnis zwischen dem Spielen und dem Alltagsleben. Der 836 Ebd., S. 48. 837 Ebd. 838 Mati Unt, »Via Regia« finaal. – Thespis, S. 383. 839 Kirju: E. Hermaküla M. Undile. – Thespis, S. 385– 387. 840 Kirju: J. Tooming »Via Regia« autorile. – Thespis, S. 387-388. 841 Mati Unt, »Via Regia« finaal. – Thespis, S. 383. 842 Ebd.

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explizite Anspruch auf Verschmelzung der beiden begegnete immer wieder den unvermeidlichen Einschränkungen sowohl in den theoretischen Konstruktionen als auch in den praktischen Aktivitäten. Wenn Hermaküla behauptete bzw. verlangte, dass man während der Probezeit – im freien Spiel – das echteste Leben lebt,843 stellte sich mindestens implizit die Frage, wie dann das, was außerhalb des Theaters vorgeht, zu bezeichnen und zu behandeln wäre – als das Warten auf das Spiel, als Weiterspielen oder etwas Anderes. Wenn die zwischenmenschlichen Beziehungen – die das Wesen des Theaters bestimmen sollten – im Spiel und im Alltagsleben während der Vorbereitung und Aufführung von »Ohrfeigen« durcheinandergingen,844 stellte sich heraus, dass der vorausgesetzte spielerische Umgang mit dieser Situation dennoch schwer fiel. Vahings Bemerkung, dass man vom stumpfen Alltagsleben das Spiel formen kann,845 brachte wiederum die Notwendigkeit des Spiels im (sowjetischen) Alltag zum Ausdruck und die Auseinandersetzung mit diesem Alltag war sicherlich ein wichtiger Faktor, der das Interesse für das Spiel erregte. In dieser Hinsicht erwies sich aber die künstlerische Verarbeitung des Spiels als eher verhindernd, da es die erstmals abgelehnten sozialen und kulturellen Strukturierungen auf die eine oder andere Weise wieder annahm. Im Hinblick auf die verschiedenen Konstellationen, die diese drei Handlungsmodi – spielerische, alltägliche und künstlerische Praxis – ausbildeten, muss man natürlich die Mehrschichtigkeit der einzelnen Ebenen im Auge behalten und deren Verflechtungen oder Konflikte detaillierter betrachten. Beim Spiel in der Theatererneuerung lässt sich zum einen eine bestimmte Vorstellung des Spiels beobachten, zum anderen die davon abgeleiteten Aktivitäten, die immer Verschiebungen im Vergleich zur Theorie mit sich brachten. Es mag auch sein, dass einige strategische und taktische Vorgänge, die sich in Bezug auf die künstlerischen Experimente zutrugen (der Dialog mit der offiziellen Kultur, die innerliche Gruppendynamik der Theatererneuerung u.a.) nicht bewusst als ein Spiel wahrgenommen wurden, jedoch als spielerisch beschrieben werden können. Das Alltagsleben ist offenbar keineswegs begrenzt und einheitlich zu definieren, vor allem muss man hierbei die zwei (zwar unvermeidlich gebundenen) Handlungsräume unterscheiden: das breitere sowjetische Umfeld und die besonders unter Künstlern und Intellektuellen formierten kleinen Freundschaftskreise (wie bei Theatererneuerung), in denen die persönlichen und professionellen Beziehungen sowie auch die Orientierung auf die aktuelle und imaginäre Lebensumwelt kaum voneinander zu unterscheiden sind. Bei den experimentellen künstlerischen Praktiken muss man berücksichtigen, dass die eigentlichen Aktivitäten immer zwischen zwei Diskursen zustande kamen – zwischen den neoavantgardistischen Ansprüchen, die alle etablierten Kriterien in den Künsten 843 Mati Unt, Minu teatriglossaarium. – Thespis, S. 141. 844 Luule Epner, Murrang teatriesteetikas ja Evald Hermaküla (1969–1971), S. 2445. 845 Vaino Vahing, Päevaraamat I, S. 134.

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in Bewegung setzten, und den offiziellen kulturellen Regelungen –, wobei das idealistische Verfolgen des ersten und die praktische Anpassung an den zweiten Diskurs häufig zu paradoxen Kopplungen führten. Die Verflechtung des Spielerischen, Alltäglichen und Künstlerischen ist somit überwiegend als dynamisches und prozesshaftes Zusammentreffen zu charakterisieren, in dem das Spiel oft als eine praktische Umgangsweise mit den vom aktuellen Lebensumfeld generierten Paradoxien galt, als eine performative Verarbeitungsstrategie der in der ›übersetzenden Kultur‹ entstandenen ambivalenten Denkmodelle diente, immer wieder aber auch ihren Gegensatz – die Ablehnung des Spiels – hervorrief. Beim Zerfall der Theatererneuerung stellte sich heraus, dass es jedoch einiges gibt, womit man ›nicht spielen darf‹.846 In den Aktionen der Kunststudenten wiederum lässt sich zumeist eine Einstellung beobachten, dass das Spielen zwar spannend, vielleicht sogar notwendig sein mochte, aber nie die künstlerische Tätigkeit, die nicht ›nur ein Spiel‹ sein sollte, vollkommen übernehmen konnte. Im Vergleich zu den Theaterexperimenten ermöglichen die Happenings der jungen Künstler die Flexibilität und Instabilität des Spiels bzw. dessen verschiedenen Ebenen und Ausdrucksformen auf einer anderen Seite zu erleuchten. Wenn die Theatererneuerung vom ausdrücklichen Willen zum Spiel ausging und einen komplexen Bewegungsraum in Bezug auf den Spielbegriff schuf, erwuchs die Erkenntnis, dass das, was man macht, als Spiel bezeichnet werden kann, bei den künstlerischen Aktionen eher im Prozess und im Nachhinein; diese Erkenntnis wurde auch nie gleichermaßen befestigt und untersucht wie im Theater. Ausgehend von der künstlerischen Intention kann man hier nicht von einem Streben, Erreichen oder Misslingen des Spiels sprechen, sondern eher über eine zufällige Begegnung, die neugierig wahrgenommen wurde, sogar wenn die Bedeutung und die Folgen dieser Begegnung sich nicht ganz eindeutig einschätzen ließen. Neben der von Leonhard Lapin vorgenommenen direkten Gleichstellung des Happenings und des Spiels847 ist die spielerische Dimension bzw. die spielerischen Elemente in den künstlerischen Aktionen vor allem mit Hinblick auf die ›Unwissenheit‹ (wobei man nicht ganz genau weiß, was man macht) und das Ausprobieren (wobei man die Handlungsszenarien in einem imaginären bzw. fiktionalen Raum aufbaut und testet) zu beschreiben. Die Schwierigkeiten bei der Einschätzung dieser Tätigkeit entstanden in erster Linie vor dem Hintergrund des kulturellen Kontextes, in dem die verschiedenen stabilisierenden und destabilisierenden Tendenzen eine spezifische Dynamik her846 Neben dem konzeptuellen Auseinandergehen der Theatererneuerer war einer der Hauptgründe des Streits während der Vorbereitung und Aufführung von »Ohrfeigen« die Beziehung zwischen Jaan Tooming und der Schauspielerin Mare Puusepp – der damaligen Frau von Mati Unt –, die auch auf der Bühne ein Liebespaar spielten. 847 Leonhard Lapin, Avangardi kuldsed kuuekümnendad. – Avangard, S. 193; Hinweis auf Manuskript: Leonhard Lapin, Happening Eestimaal, 1970. Vgl. dazu III Kapitel, S. 135.

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ausbildeten. Die Auseinandersetzung mit den Richtlinien der offiziellen Kultur erfolgte durch eine heterogene Praxis, in deren Rahmen man sowohl die Entgrenzung der Künste und Destabilisierung des Kunstbegriffs als zugleich auch eine Spezifizierung, die Verstärkung der disziplingebundenen Orientation und/oder die Befestigung des (zwar vom offiziellen abweichenden) Kunstbegriffs stattfand. Die einzelnen Taktiken, die aus dieser Konfrontation und während der diskursiven Pluralisierung in der Kunst der 1960er Jahre entstanden, wurden häufig auf die eine oder andere Weise in Verbindung gesetzt oder parallel ausgeführt, so dass sie einander teils hinterfragten, teils umdeuteten oder ausglichen. Sowohl aus praktischen als auch ideellen Gründen generierte jede Grenzüberschreitung einen Stabilisierungsversuch, der sowohl als Schutzmechanismus galt als auch ausgehend von den ideologischen Grundlagen der sowjetischen Neo-Avantgarde zu erörtern ist. Einerseits wurden die Happenings mit einer demonstrativen Unernsthaftigkeit ausgeführt, da diese Herangehensweise es manchmal ermöglichte, der offiziellen Kontrolle der künstlerischen Tätigkeit zu entkommen – die Aktionen ließen sich als ein kindischer Unfug, aber nicht als gefährliche und subversive kulturelle Erscheinungen präsentieren. Andererseits nahm man diese spielerische Aktivitäten oft auch selbst nicht so ernst wie die anderen, gleichzeitig vertretenen künstlerischen Ansprüche, da der modernistische Werkbegriff der ideologischen Mischung der sowjetischen Neo-Avantgarde zugrunde lag – sowie auch die Orientierung auf das Universale und auf das ›imaginäre Museum‹ der Zukunft, für das man Spuren hinterlassen wollte. Somit war jeder spielerische Akt von einem zweifachen Zweifel begleitet – zum einen von der Frage, inwieweit man mit derartigen Aktivitäten unter Umständen gehen kann bzw. ob daraus eine kommunikative künstlerische Positionierung entspringen kann, zum anderen von der Unsicherheit, wie diese Praktiken sich zu den anderen – werkbezogenen, universalisierenden – Ansätzen der eigenen Tätigkeit verhalten. Dieser Zweifel äußerte sich in der Einstellung, die beim Ausführen der Happenings als eine Mischung aus Gelassenheit (man kann machen, was man will) und Selbstironie (das, was man macht, kann nicht ernst genommen werden) Ausdruck fand, zum heterogenen Registerwechsel während der Handlungen oder zu derem plötzlichen Abbrechen führte und sich – als die Unentschlossenheit zwischen dem Einleben und der Distanzierung – hinsichtlich des Spiels als sporadisch subversiv erwies. Auf der anderen Seite generierte dieser Zweifel eine weitere spielerische Dimension bzw. galt selbst als ein Bestandteil des Spiels, erzeugte einen Prozess, der alle Kriterien, die die Bedeutung des Geschehens bestimmen könnten, in Bewegung setzte. In dieser Hinsicht lässt sich ein deutlicher Unterschied zum Spiel der Theatererneuerung feststellen. Die Theaterexperimente basierten auf dem Glauben, dass durch das Spiel ein bestimmtes Ziel zu erreichen ist – selbst wenn die Wege dazu variabel und flexibel sein mochten, wurde das Endziel (›Authentizität‹, das Ankommen zum Selbst) als etwas Stabiles oder mindestens Erkennbares wahrgenom-

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men. In den Happenings hatten die spielerischen Vorgänge keine vorausbestimmte Funktion, sondern wurden nur wegen ihrer performativen Wirkungskraft aufgenommen, um die möglichen Resultate zu erleben und zu untersuchen. Die in die spielerischen Praktiken eingebundene Reflexion bezog sich im Theater auf die Frage, ob und wie die jeweilige Technik dem Erlangen des ›wahren‹ Spiels und des ›wahren‹ Selbst beitragen kann, bei den künstlerischen Aktionen auf die Beobachtung, was im Prozess des Spiels vorgeht, ob und wie man sich darauf einlassen sollte und was daraus entstehen mag. Der Zerfall der Theatererneuerung wurde unter anderem dadurch verursacht, dass die Bestrebung, die Methode und der Kontext einige unauflösbare Konflikte generierten und eine sowohl konzeptuelle als auch methodische Umstellung verlangten. Die Ablehnung der Happenings von den jungen Künstlern am Anfang der 1970er Jahre erfolgte einerseits wegen der Verstärkung der offiziellen Kontrolle, andererseits war diese Ablehnung vom Anfang an in diese Aktivitäten eingeschrieben. Es handelte sich nicht um eine gezielte Entwicklung, die zu einem bestimmten Ergebnis führte (wie im Theater), sondern um ein hektisches Ausprobieren, dessen Grunddynamik schon immer von der Auseinandersetzung zwischen den affirmativen (man will spielen) und subversiven (man will nicht nur spielen) Gesten geprägt war. Wenn im Theater das Spiel als eine Umgangsweise mit dem Existenzialismus und mit dem Absurden (bzw. mit den verschiedenen Ebenen der Absurdität im breiteren und aktuellen Lebensumfeld) galt, von dem auch eine eventuelle Auflösung des existenzialistischen Konfliktes erwartet wurde, dienten die Happenings eher als eine Praxis, die die Absurdität durch deren Intensivierung zum Vorschein brachte, teils durch die Spektakelhaftigkeit verlachte (und somit auch als eine Überwindungsstrategie bezeichnet werden kann), die dabei aber auch selbst teilweise als eine absurde Aktivität wahrgenommen wurde – als etwas, woraus sich kein Sinn ergibt, sogar wenn es aus dem einen oder anderen Grund immer wieder vorgeführt wird. Vor diesem Hintergrund kann man die Theatererneuerung und die Happenings auf der Achse Modernismus-Postmodernismus (und mit Hinblick auf die Entstehungsbedingungen des sowjetischen Postmodernismus) auf verschiedene Weisen positionieren. Einerseits lässt der der Theatererneuerung zugrunde liegende Glaube an eine gezielte Bewegung, die innerhalb der künstlerischen Praxis vorgenommen wird und sowohl die Kunst als auch dadurch entstandenes Wissen oder Erkenntnisse auf eine neue Ebene bringt, das Phänomen als modernistisch erscheinen. Die ungezielten, heterogenen, flexibel mit dem Alltagsleben verflochtenen und von der Selbstironie geprägten Happenings zeigen in diesem Vergleich eher postmodernistische Charakteristika. Andererseits deutete die Aufnahme des Spiels (in dessen Ambivalenz und verschiedenen Erscheinungsformen) in den Theaterexperimenten eine Dekonstruktion der stabilen Grundlagen und Kriterien der künstlerischen Tätigkeit an. Die Umdeutung und Weiterentwicklung der vom Existenzialismus abgeleiteten Erkenntnis der allumfassenden Relativität im »Aschenputtelspiel« und insbesondere

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die in Bezug auf Theatererneuerung entstandenen (halb-)literarische Texte von Mati Unt weisen eine deutliche Hinwendung zum Postmodernismus auf. Sogar wenn die beiden Regisseure diese Hinwendung nicht unbedingt ausdrücklich vertraten, kann man die methodische Pluralität und den Anspruch auf grenzenlose Erweiterung des Spiels damit in Verbindung bringen. Die Happenings wiederum wurden unter anderem deswegen nicht ganz ernst genommen und schließlich abgelehnt, weil sie sich nicht in ein bestimmtes (modernistisches) Kunstkonzept einbinden ließen; trotz der experimentellen Entgrenzung und Erweiterung des Handlungsfeldes hielt man an einigen Grundideen der modernistischen Kunst (der Vorstellung von einem souveränen Künstler sowie auch der eines autonomen Kunstwerks) – als Entgegensetzung zur offiziellen Kulturideologie (die Kollektivität und Engagement der künstlerischen Aktivität verlangte) – fest. Die Auseinandersetzung mit dem Spiel spiegelt somit unter anderem den Anfang eines langen (bis zur Wendezeit dauernden) Übergangs von modernistischen zu postmodernistischen Positionen in der Kultur der Sowjetzeit wider – eine aus den weiteren und konkreteren kontextuellen Gründen entstandene Flexibilisierung und Pluralisierung, die die Affinität zum Spiel sowohl zum Vorschein brachte als auch zum Teil in Gang setzte. Das explizite oder implizite Interesse für das Spielphänomen und für die Spielhaftigkeit in der künstlerischen Praxis im sowjetischen Kontext am Ende der 1960er Jahre hatte verschiedene Ausgangspunkte, jedoch bezogen sich alle spielgebundenen Prozesse auf eine Zusammenkunft und gegenseitige Einflussnahme der bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren und auf die Besonderheit des sozialen Umfeldes sowie auf die damals stattgefundene heterogene Umstellung der künstlerischen Diskurse. Die Komplexität des Handlungsraumes – seine konstituierenden Bestandteile und eine Reihe von raschen Wandlungen – generierte eine spezifische Einstellung und einen Modus des Agierens, die sich als eine – gleichzeitig produktive und verhindernde – Unsicherheit beschreiben lassen. Einerseits handelte es sich um eine praktische Unsicherheit unter den gesellschaftlichen Bedingungen, wo die bisherigen Normen und Grenzen sporadisch verschoben und dann wieder gefestigt wurden, so dass man für eine Weile nicht genau wusste, inwieweit man in den sozialen oder künstlerischen Aktivitäten gehen kann, was erlaubt und was verboten ist. Das praktische Ausprobieren bot fast die einzige Möglichkeit, diese neuen Kriterien herauszufinden. Andererseits ging es um eine ideelle Unsicherheit, die sowohl in politischen als auch künstlerischen Positionierungen zum Vorschein kam. Im ersten Fall bildete dieses ideelle Schwanken die komplizierten Denkmodelle aus, die abwechselnd die Bereitschaft für die Kooperation mit den Behörden und eine Konfrontation zur offiziellen Ideologie aufwiesen. Im zweiten Fall bzw. in den Künsten äußerte sich diese Unsicherheit in den Bewegungen zwischen verschiedenen Anhaltspunkten, Zielsetzungen und Taktiken. Einerseits hat man die künstlerischen Taktiken mit Hinblick auf deren mögliche Wirkungskraft, praktische Ausführbarkeit und erwartete kontextuelle oder zeit- und raumübergreifende Bedeut-

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samkeit getestet, abgelehnt oder verfolgt, andererseits wurden die gegensätzlichste Ideen häufig miteinander in Verbindung gebracht und ausgehend von diesen Koppelungen interpretiert. Diese Verarbeitungsweise bezog sich gleichermaßen auf die gesellschaftliche Situation (in der Auseinandersetzung mit der offiziellen Ideologie befanden sich alle davon abweichenden Zielsetzungen mehr oder weniger auf derselben Position und stellten sich in der praktischen Zusammenarbeit auf) und – als Entgegensetzung zum sozialistischen Engagement – auf eine Bestrebung nach Universalität (die auf verschiedenen Weisen erreicht sein mochte, die jedoch gleichwertige oder mindestens als schließlich zusammentreffende Wege betrachtet wurden). Unter den Faktoren, die dieser kulturellen Dynamik zugrunde lagen, hatte die Annahme des Existenzialismus eine besondere Rolle, da er einerseits die schon vorgegebene Wahrnehmung der Relativität (der gesellschaftlichen Beziehungen, der persönlichen Entscheidungen u.a.) intensivierte, andererseits einen philosophischen Rahmen darbot, der sowohl zur Adaption des spezifischen sozialen Kontextes (wenn jede Gesellschaft bedrängend ist, macht es womöglich keinen Unterschied, unter welchem politischen Regime man lebt bzw. die individuelle Befreiung hängt nicht davon ab) als auch den Glauben an Universalität und humanistische Werte unterstützte. Jedoch wurden auch die existenzialistischen Ansichten bzw. deren Auslegung und Einschätzung von den kontextuellen Bedingungen beeinflusst und wiederum relativiert, hinterfragt und manchmal abgelehnt. In der Betrachtung dieser Prozesse lassen sich die spielerischen Charakteristika kaum übersehen – nicht im Sinne eines begrenzten Spielraumes, in dem ausgehend von den Regeln der fiktiven Realität eine Parallelwelt aufgebaut und erfüllt wird, sondern im Hinblick auf die auf den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Ebenen manifestierten Spielmuster, die nicht vom Alltagsleben oder vom eventuellen Nicht-Spiel getrennt sind, sondern sich sporadisch in die unterschiedlichsten Handlungen und Konstellationen einmischen. Die Affinität zum Spiel in den künstlerischen Praktiken in Estland am Ende der 1960er Jahre war grundlegend von der kontextuellen Spezifik geprägt und wies eine besondere Disposition für sowohl theoretische Kontaktaufnahme als auch praktische Erarbeitung des Spielphänomens auf, die in Bezug auf konkrete historische Stützpunkte und gegenwärtige kulturelle Diskurse umgesetzt wurde, wobei insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Existenzialismus bzw. mit dem Konzept des Absurden zum Ablauf der innerhalb und zwischen den künstlerischen Disziplinen stattgefundenen Spielexperimente auf eine bedeutsame und interessante Weise beitrug. Einerseits lag dem Fokussieren des Spiels die intensivierte und mehrfache gesellschaftliche Unsicherheit zugrunde, die eine Resonanz in dem spielerischen Handlungsmodus fand und diesen als eine Umgangsweise mit einer spezifischen Lebensumwelt in Gebrauch nahm. In diesem Zusammenhang lässt sich die Hinwendung zum Spiel als ein Krisenphänomen – als eine Demaskierungs- und

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Entpathetisierungsstrategie848 – erörtern, das von einem im historischen und kulturellen Kontext entstandenen Zweifel an den universellen Wahrheiten, an den fixierbaren Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens und des individuellen Daseins hervorgerufen wird. Auf der anderen Seite ist die Betrachtung des Spiels als Symptom der Gesellschaft keineswegs ausreichend, insbesondere im Hinblick auf eine hin und wieder auftauchende Dissonanz zwischen den anfänglichen Impulsen und dem Ablauf des Spiels in künstlerischen (oder auch gesellschaftlichen) Praktiken. Trotz der vielfältigen Bezüge auf die kontextuellen Faktoren ergab sich während der Ausführung des Spiels in den künstlerischen Experimenten häufig ein ›Überschuss‹, der eine Eigenbewegung entwickelte: Der Ablauf des Spiels war nicht unbedingt von der expliziten Intention und von den Ausgangspunkten der Aktivität bestimmt, das eventuelle Ergebnis des Spiels ließ sich nicht immer aus den vorausgegangenen Handlungen ableiten. Dieser Überschuss entstand im Rahmen eines mehr oder weniger strukturierten und geplanten spielerischen Ereignisses, ging von dessen Rhythmus aus, entfaltete sich aber unabhängig von jeglichen Regeln und Inhalten, auf denen das Rahmenereignis basierte. In manchen Fällen kann man diesen unanschliessbaren – zufällig generierten, unreflektierten – Anteil des Spiels mit der performativen Verarbeitung der existenzialistischen Ansichten in Verbindung setzten: Das Ausdrücken des vorhandenen Absurditätsgefühls brachte die Wahrnehmung der Absurdität der eigenen Tätigkeit (des Anspruchs auf das Ausdrücken) mit sich und diese Konstellation verursachte äußerst instabile, mehrschichtige, offene Vorgänge. Darüber hinaus vermag diese spezifische Verknüpfung mit dem Absurden eine – womöglich schon immer implizit anwesende – innerliche Dynamik des Spiels sichtbar zu machen. Diese Dynamik lässt sich nicht auf das Schaffen einer fiktiven Realität – als Gegensatz zur vorgegebenen Lebensumwelt – zurückführen und auch nicht nur durch die Verflechtungen zwischen dieser Realität und dem ›Nicht-Spiel‹ erörtern, sondern erzeugt eine weitere Dimension bzw. Handlungsebene, auf der das anfängliche Spiel ›überspielt‹ wird. Dieses Überspielen ist nicht als Ablehnung des alten oder als Anfang des neuen Spiels zu charakterisieren, es bildet keine konsequenten Bewegungen heraus, sondern offenbart sich in den fragmentarischen – im Rahmen des Ausgangspiels irrelevanten, unerwarteten, sinnlosen – Ausbrüchen und Abweichungen. Der dadurch entstandene Überschuss ist gleichermaßen an das anfängliche Spiel unmittelbar gebunden (es könnte nicht ohne dieses zustande kommen) und davon unabhängig (es ignoriert dessen konstitutive Bestimmungen), weitet das Spiel aus und untergräbt es zugleich. Sowohl die Entstehungsimpulse als auch die Eigenbewegung dieses Überschusses bringen eine spezifische Koexistenz, die dem Spiel zugrunde liegen mag, zum Vorschein – eine 848 Vgl. Ernst Strouhal, Wenn es brennt, läuft der Hund raus, das Programm rechnet weiter: Ein Gespräch von Dieter Buchhart und Mathias Fuchs. – Kunstforum International: Kunst und Spiel I, S. 86-87.

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Koppelung der Tendenz zur Totalisierung (im Spiel generierter Drang, über die Grenzen des Spiels hinauszukommen, das Spielfeld auszubreiten) und des auf sich gerichteten subversiven Potentials (der Wunsch, das Spiel abzulehnen oder zu entblößen). Es lässt sich vermuten, dass die Interaktion zwischen dieser dem Spiel eigenen grundlegenden Ambivalenz und den kontextuellen Bedingungen des jeweiligen Ereignisses die Hauptzüge der spielerischen Praktiken ausprägt, in verschiedene Handlungsmuster umsetzt, einen Kontakt mit den unterschiedlichen Wirkungsfeldern und -ebenen herstellt und somit als einer der wichtigsten Faktoren für die Betrachtung des Spielphänomens gelten mag.

Schlussbetrachtungen

Der erste Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Beobachtung, dass in der sog. Theatererneuerung in Estland am Ende der 1960er und Anfang 1970er Jahre der Spielbegriff auf eine komplexe und explizite Weise im Mittelpunkt stand. Sogar wenn die praktischen Theaterexperimente in Estland eine Ähnlichkeit den Entwicklungen im westlichen und osteuropäischen Theater zu dieser Zeit aufwiesen, stellte diese begriffliche Zuwendung eine interessante Besonderheit dar, deren Gründe sich unter anderem in der kontextuellen kulturellen Dynamik suchen ließen. Darüber hinaus bot ein anderes Phänomen in der Kultur der 1960er Jahre – die frühe Aktionskunst bzw. deren Aufarbeitung im sowjetischen Kontext – sich als eine Parallelerscheinung der Theaterexperimente an, die in Estland aus dem Studententheater herauswuchs, ebenso von der kontextuellen Spezifik geprägt und gleichfalls mit dem Spielbegriff verknüpft war. Aus dieser Parallelität entstand mein Interesse sowohl am Spielphänomen als auch an der kulturellen Umwelt des Spätsozialismus und führte zur Fragestellung, auf welche Weisen und auf welchen Ebenen diese zwei Untersuchungsfelder in Verbindung gebracht werden und gegenseitig erhellend sein könnten. Die Betrachtung der künstlerischen Entwicklungen vor dem Hintergrund der Praxis des Spielens erwies sich als ein vielversprechender Weg, um sowohl die Anregungen in den Künsten, die in disziplinbezogener Hinsicht unbemerkt bleiben mögen, aufzudecken als auch um die unmittelbaren Bezüge zwischen der künstlerischen Tätigkeit und der gesellschaftlichen Dynamik zu untersuchen. Die Erörterung des Spiels ausgehend von einer bestimmten historischen Situation ermöglichte einen Blick auf die Komplexität des Phänomens, das sich in verschiedenen Vorgängen und Konstellationen offenbart, jedoch sich kaum eindeutig definieren lässt bzw. durch jedes Erscheinen die früheren Feststellungen zu unterminieren vermag. Ein wichtiger Punkt in der Analyse der Koppelungen zwischen den künstlerischen Aktivitäten und dem Spiel war die Unterscheidung der Funktion des Spielbegriffs in diesen Aktivitäten und der Praxis, die als spielerisch bezeichnet werden kann. Diese zwei Pole – die theoretische und praktische Ebene – kamen nicht unbedingt zur Übereinstimmung: Im Rahmen der allgemeinen Wandlungen in den Küns-

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ten der 1960er Jahre entstanden Überlegungen zum Spiel, die man nicht direkt in der künstlerischen Tätigkeit umgesetzt hat, sowie auch verschiedene neue Strategien, die eine erhöhte Spielhaftigkeit aufwiesen, aber nicht mithilfe des Spielbegriffs konzeptualisiert wurden. Offenbar ermöglicht jegliche künstlerische Aktivität eine Auslegung mit Blick auf deren spielerische Elemente; einer der Ausgangspunkte dieser Arbeit war die These, dass diese Elemente sich vor dem Hintergrund der kulturellen Umbrüche der 1960er Jahre wesentlich verstärkt haben und viele Phänomene in den Künsten dieser Zeit für die Betrachtung mithilfe der Spieltheorien besonders geeignet sind. Die Frage nach der Funktion des Spielbegriffs innerhalb der künstlerischen Wandlungen – und besonders im Rahmen des Spätsozialismus – erscheint hierbei allerdings weit komplexer. Selbst wenn die Aussagen und Texte der Künstler fast immer eine besondere Herangehensweise verlangen und häufig intuitive, poetische o.a. Verbalisierungen ein sehr flexibles Verhältnis zur künstlerischen Praxis zeigen, muss man im sowjetischen Kontext mindestens zwei besondere Faktoren beachten, die die gesellschaftlichen und kulturellen Kommunikationsweisen geformt haben. Zum einen bildete sich unter den Bedingungen des totalitaristischen Regimes ein spezifischer Diskussionshabitus heraus, der nicht mehr auf den konsequenten ideologischen Argumentierungen basierte, sondern eher durch seine Performativität zu beschreiben ist. In der Aushandlung der Machtpositionen und Grenzen zwischen Erlaubten und Verbotenen spielten demagogische Gewandtheit und Überzeugungskraft der Aufführung eine größere Rolle als inhaltliche Beweisführung. Der entleerte ideologische Wortschatz konnte für jegliche Zwecke in Gebrauch genommen werden bzw. musste in alle Aussagen eingebunden sein, wenn man sich an den öffentlichen Diskussionen beteiligen wollte. Dieser Habitus änderte offenbar den Umgang mit dem sprachlichen Ausdruck im Ganzen und fand eine Widerspiegelung auch auf diesen Ebenen in der Gesellschaft, auf denen man sich mehr oder weniger direkt der offiziellen Ideologie entgegensetzte. Die Wahrnehmung der Spaltung zwischen expliziten Bedeutungen und verborgenen Botschaften der Begriffe und Texte blieb dabei häufig erhalten und erzeugte eine spezifische Weise des Sprechens und Schreibens, die von einem versteckten Potential der Sprache ausging: Man äußerte sich oft bewusst uneindeutig, um einen möglichst weiten Raum der potentiellen Bedeutungen des Textes zu kreieren. Zum anderen wurden viele kulturellen Entwicklungen in einer geschlossenen Gesellschaft von einem komplizierten Verhältnis zur Außenwelt geprägt. Einerseits war eine der wichtigsten Bestrebungen der jungen Künstler, den Kontakt mit der westlichen Kultur herzustellen, andererseits blieb die Außenwelt immer unerreichbar. Jede Information aus dem Westen wurde einerseits – als höchst wertvoll – überinterpretiert, andererseits – wegen des Fehlens der gemeinsamen Grundlagen der Gesellschaften – unvermeidlich umgedeutet. So spricht man in Estland – wo diese Charakteristika wegen der geringen Größe und der geographischen ›Abwe-

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senheit‹ des Landes womöglich besonders stark ausgebildet waren – über die Kultur der 1960er Jahre als über eine ›total übersetzende Kultur‹, die sich auf die Information aus der Außenwelt orientierte, alle möglichen Begriffe und Konzepte aneignete, jedoch deren Bedeutungen und Funktionen ausgehend von den kontextuellen Bedingungen verschob. Man muss im Auge behalten, dass in gleicher Weise, wie der ideologische Wortschatz sehr unterschiedliche Zwecke dienen konnte, auch der Wortschatz der ›Resistance‹ mehrschichtig war bzw. nicht nur in Bezug auf dessen explizite Botschaften oder Andeutungen aufgearbeitet wurde, sondern oftmals als ein Reservoir der möglichen versteckten Agenden fungierte, die je nach den Bedürfnissen abwechselnd aktiviert wurden. Vor diesem Hintergrund ist es unmöglich, eine feste Bedeutung und Funktion des Spielbegriffs in der künstlerischen Praxis zu finden bzw. herauszuarbeiten. Die begrifflichen Bestimmungen und praktische Aktivitäten entwickelten ein dynamisches Verhältnis: Einerseits regte das Interesse am Spielphänomen vielfältige Experimente in den Künsten an (und diente als Ausgangspunkt der Neuorientierungen), andererseits führte die Anziehungskraft des Spielbegriffs dazu, dass dieser laufend mit den verschiedenen künstlerischen Praktiken – ungeachtet deren anfänglicher Motivationen – verknüpft wurde (und als ein Mittel der retrospektiven Konzeptualisierung fungierte). In der estnischen Kultur der 1960er Jahre lassen sich zwei allgemeine Richtungen in der Verwendung des Spielbegriffs in den Künsten feststellen, die der Vergleich der Auslegungen dieses Begriffes im Rahmen der Theatererneuerung und in Bezug auf die Happenings erläutert. Von den Initiatoren der Theaterexperimente (von Regisseuren Evald Hermaküla und Jaan Tooming sowie von Literaten Mati Unt und Vaino Vahing) wurde das Wort ›Spiel‹ häufig auf Deutsch benutzt (in den Texten in der Schreibweise ›špiil‹), um eine Spezifik des Phänomens festzulegen – es war damit nicht das Spiel in allen seinen vielfältigen Ausdrucksformen gemeint, sondern ein besonderer Handlungsmodus bzw. ein besonderer Zustand, den man durch die künstlerische Tätigkeit angestrebt hat. Selbst wenn dieser Zustand sich nicht eindeutig beschreiben ließ und es immer unklar bzw. umstritten blieb, wie genau er erreicht werden sollte, ging man davon aus, dass das Erreichen des ›wahren‹ Spiels möglich und auch (mindestens für den Spielenden selbst) erkennbar ist – dass dieser Spielzustand auf eine bestimmte Weise erfahren wird, und dass es auf dessen höchster (oder tiefster) Ebene keinen Zweifel mehr gibt, was das Spiel ist oder warum es benötigt wird. Einerseits handelte es sich somit um ein sehr spezifisches Spielkonzept, das einen großen Anteil der Ambivalenzen des Phänomens ausschloss – die Fragen, ob ›Authentizität‹ des Handelns überhaupt möglich ist oder ob insbesondere das Spiel diese Kategorie deutlich zu relativieren vermag, wurden beiseitegelassen, und man hat das Spiel als einen Weg zu unmittelbaren Erfahrungen betrachtet. Andererseits erscheint die Tatsache, dass das ›echte‹ Spiel auf Deutsch bezeichnet wurde, hierbei mehrfach bedeutend. Zum einen hatte es einen klaren Grund – der Spielbegriff wurde anlässlich der Tex-

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te deutschsprachiger Psychoanalytiker und Philosophen aktualisiert, wobei insbesondere das Spielverständnis von Jung eine ausschlaggebende Rolle innehatte. Zum anderen hat man aber ausgehend von dem auf Deutsch etablierten Spielbegriff einen breiteren kulturhistorischen Rahmen für die eigene Tätigkeit konstruiert (wobei unter anderem auf Schiller zurückgegriffen wurde) und einen sowohl universalisierenden als auch ›kulturalisierenden‹ Anspruch zu den Spielexperimenten hinzugefügt. Das Spiel wurde einerseits als Rückkehr zu den Quellen der künstlerischen Tätigkeit und zur verlorenen Authentizität des menschlichen Handelns gedacht, andererseits mit dem entsprechenden Diskurs in der westlichen Kulturgeschichte – der als Gewähr dieses Konzeptes galt – in Verbindung gebracht. Dieses Spielverständnis fungierte somit auf zwei Ebenen – es diente zum einen als Gegensatz zu den korrumpierten gesellschaftlichen Spielen und diente dem Entkommen von den Fesseln der ›Kultur‹, zum anderen als eine Bestätigung der Zugehörigkeit zu einer anderen kulturellen Umwelt, die es ermöglichte, die Hinwendung zum mutmaßlichen authentischen Spiel zu konzeptualisieren und legitimieren. Auf der anderen Seite kann man die zwei Richtungen in der Verwendung des Spielbegriffs – die spezifizierende und universalisierende Herangehensweise – mithilfe des Übersetzungsvorschlags des Künstlers Leonhard Lapin erläutern; der Vorschlag bestand darin, dass man das neue Phänomen ›Happening‹ in der westlichen Kunst auf Estnisch als ›Spiel‹ (mäng) bezeichnen könnte. Ebenso wie bei ›špiil‹ bei der Theatererneuerung lässt sich hier sowohl ein Anspruch auf Zugehörigkeit als auch auf Universalisierung beobachten: Die neue künstlerische Erscheinung ›Happening‹ wurde angenommen, aber von seinen konkreten Hintergründen und von der Entwicklungsgeschichte in der westlichen Kunst befreit – im Grunde handelt es sich in den Happenings laut Lapin um ein Kinderspiel, das keine besondere Fähigkeiten oder Anstrengungen verlangt und nur die Offenheit gegenüber dem physischen Umfeld und der sinnlichen Wahrnehmungen voraussetzt. Das Verhältnis zwischen der Kulturalisierung und der Entfesselung des Spiels ist bei der Theatererneuerung und in der Ideologiebildung der Happenings unterschiedlich zu verorten. Im Theater, wo das Spiel als ein oft schmerzhafter und harter Weg zu sich selbst verstanden wurde, diente der Aufbau des kulturgeschichtlichen Hintergrundes als eine Rechtfertigung und Befestigung des gewählten Weges. In den künstlerischen Aktionen, die von der Anspruchslosigkeit und Leichtigkeit des Spiels ausgingen, wurde das Vorbild der westlichen Happenings als eine Legitimierung der Ablehnung von bisherigen Normen und Konventionen der künstlerischen Tätigkeit betrachtet, wobei der Prozess dieser Ablehnung einen sehr breiten Freiraum für die neuen Orientierungen kreierte. Auf eine interessante Weise hat man sich einerseits im Rahmen der Theatererneuerung wesentlich mehr mit den theoretischen Begründungen und historischen Stützpunkten der eigenen Aktivitäten befasst und eine disziplinbezogene Sinngebung beansprucht als bei den fließenden, zufälligen, fast unbestimmbaren Hap-

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penings, andererseits wurden einige konventionelle Grundkonzepte der künstlerischen Tätigkeit im Theater deutlich radikaler unterminiert als in den Aktionen der Künstler. In den Inszenierungen der Theatererneuerung traten sowohl professionelle als auch nicht-professionelle Schauspieler auf, jedoch hatten die ersten dabei die im Laufe der Schauspiellehre erworbenen Kenntnisse zurückzustellen. Die meist weitgehenden Experimente basierten auf der Feststellung, dass das erzielte echte Spiel grundsätzlich für jeden Mensch zugänglich ist und ausgehend von dieser Voraussetzung angestrebt werden muss; das künstlerische Ergebnis bzw. Nebenprodukt dieses Anstrebens wurde als nicht unwichtig, aber immerhin als sekundär betrachtet. Bei den Happenings kann man eher eine Haltung vermuten, dass das Spiel, das sich in den künstlerischen Aktionen entfaltete, nur dann von Bedeutung sein kann, wenn es von den Künstlern – mit deren spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten – durchgeführt wurde. Die Möglichkeit zum ›Herausspielen‹ aus dem banalen Alltag und zum Erreichen einer ›irrealen‹ Existenz, die Lapin dem Spiel zusprach, leitete er deutlich von der Besonderheit des Spielenden ab – nur Kinder und Künstler seien dazu geeignet. Das Scheitern des Kunst- bzw. Künstlerbegriffs, das sowohl in der Theatererneuerung als auch in den Happenings ausgehend vom Spielbegriff stattfand, erwarb in beiden Fällen eine unterschiedliche Dynamik. Im Theater näherte man sich Schritt für Schritt dem Standpunkt, dass das Spiel die Kunst schließlich vollkommen ersetzen mag. In der Aktionskunst fungierte die spielerische Praxis eher als eine Erweiterung des Handlungsfeldes der Künstler: Die modernistische Idee des souveränen Genies, das als eine unikale Quelle der Bedeutungen des Kunstwerkes gilt, wurde abgelehnt, eine Vorstellung vom priviligierten Künstler, der die Bedingungen für jegliche Bedeutungen schaffen mag, immerhin festgehalten und weiterentwickelt. Die gesellschaftlichen Bedingungen in sozialistischen Staaten in Osteuropa wichen besonders während und nach der Liberalisierungszeit der 1960er Jahre mehrfach voneinander ab und wiesen deutliche Unterschiede sowohl in Bezug auf die Stärke der ideologischen Kontrolle als auch auf die vielfältigen spezifischen Faktoren in der sozialen und kulturellen Umwelt auf; unter anderem hatte geographische Lage und kulturhistorischer Hintergrund des jeweiligen Landes einen bedeutenden Einfluss auf die gegenwärtigen Prozesse. Die in dieser Arbeit betrachteten künstlerischen Neuorientierungen und deren Zusammenhänge mit den gesellschaftlichen Wandlungen in Estland können somit nicht als exemplarisch, sondern nur als eine Version von verschiedenen, mehr oder weniger ähnlichen Entwicklungsmustern verstanden werden. Jedoch ermöglicht die Position Estlands innerhalb der sozialistischen Länder die hier stattgefundenen kulturellen Entwicklungen als ein ausdrucksvolles Beispiel zu erörtern, das sowohl einige allgemeine Grundzüge der Auseinandersetzung zwischen dem totalitaristischen Regime und der neoavantgardistischen künstlerischen Praxis zum Vorschein bringt als auch eine hohe Ambivalenz des kulturellen Umfeldes beleuchtet. Als eines der liberalsten Länder in der

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Sowjetunion galt Estland als ein Zwischengebiet, wo sich während der 1960er Jahre abwechselnd sowohl die Unbeugsamkeit als auch die Durchlässigkeit des Systems offenbarten, wo die Geschlossenheit des totalitaristischen Staates und die geographische Lage des Landes eine besonders deutliche Abgeschnittenheit von der restlichen Welt erzeugte, die eindeutige Identifizierung mit der westlichen Kultur wiederum eine intensive Bestrebung nach der Kontaktaufnahme mit der Außenwelt hervorrief. Anhand des Beispiels der estnischen Kultur lässt sich ein womöglich breiteres Modell für die Betrachtung der künstlerischen Entwicklungen unter den Bedingungen des Spätsozialismus und der Relevanz des Spielphänomens in diesen Entwicklungen herausarbeiten. Dieses Modell wird hierbei nicht als eine streng fixierte Einheit gedacht, sondern als ein Komplex der Charakteristika, der sich in allen sozialistischen Ländern in verschiedenen Variationen zeigte. Als miteinander unmittelbar gebundene Hauptfaktoren in diesem Komplex galten erstens die totalitaristische offizielle Ideologie und deren Umsetzung im gesellschaftlichen Leben, zweitens der Umgang mit dieser Ideologie in den alltäglichen Praktiken und davon abgeleiteten Handlungsweisen, drittens das Verhältnis der künstlerischen Aktivität zu den kontextuellen Bedingungen und aus dieser Interaktion entstandene konkrete Positionierungen. Im Hinblick auf den Spätsozialismus lassen sich alle drei Faktoren durch spezifische Merkmale beschreiben. Die vom konsequenten Inhalt entleerte offizielle Ideologie wurde immer mehr als formal wahrgenommen, erwies sich aber jedoch als eine unvermeidliche Rahmung für jede Stellungnahme und jedes Agieren. Im alltäglichen Leben bildeten sich verschiedene Strategien – von der praktischen Anpassung bis zum herausfordenden Irritieren – für die Auseinandersetzung mit dieser Ideologie heraus. In den Künsten hat man die neuen (in Bezug auf konventionellen Kunstbegriff) ›dekonstruktiven‹ Einstellungen angenommen, immerhin aber auch beachtet, dass diese Dekonstruktion in diesem Kontext relativ freieren und geschützten Bereich der Kultur nicht vollkommen auseinanderreißt. Darüber hinaus beeinflussten die allgemeinen Denk- und Handlungsweisen in dieser Gesellschaft auch die künstlerische Tätigkeit auf der ideellen und praktischen Ebene und erzeugten bei jeder Aktivität ein Zusammenspiel verschiedener Blickwinkel, wobei keiner von ihnen als unerschütterlich galt. Die idealistischen künstlerischen Ansprüche wurden zumeist im Hinblick auf deren praktische Ausführbarkeit und mögliche Folgen überarbeitet oder mindestens wurde auch in die grenzüberschreitenden Experimente die Bewusstheit von deren kontextuellen Wirkung eingebunden, die wiederum die experimentelle Praxis formte. Diese Überarbeitung und Einbindung ist nicht unbedingt als eine zynische oder resignierte Zustimmung dem Machtsystem, sondern eher als die grundsätzliche Unmöglichkeit zu betrachten, von dem eigenen sozialen Kontext herauszutreten. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine mehrfach erhöhte und komplexe Spielhaftigkeit der ganzen Situation beobachten. Erstens erschien das Einsetzen der offi-

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ziellen Ideologie und das generelle Funktionieren des totalitaristischen Regimes häufig als ein Spiel, das eine grundlegende Spaltung mit den eigentlichen Motivationen der Beteiligten erwies, aber auch nicht abgebrochen werden konnte. Zweitens entfaltete sich im Umgang mit diesem aufgezwungenen Spektakel ein anderes Spiel, in dessen Rahmen die vielfältigen Versuche unternommen wurden, die das System auszunutzen, innerlich zu untergraben und zu irritieren ermöglichten, ohne dass diese Tätigkeit zu ernsten Repressionen führte. Drittens wurden in den Künsten die verschiedenen neoavantgardistischen Ideen und Strategien übernommen, die oft als spielerisch bezeichnet werden können – man spielte mit dem Kunstbegriff, mit den Grenzen der künstlerischen Disziplinen, mit den Wahrnehmungen der Zuschauer u.a. Die Implantation dieser spielerischen Strategien im spätsozialistischen Kontext stieß auf die spezifische Spielhaftigkeit des Umfeldes und löste eine Reihe ambivalenter Prozesse aus. Das Kennzeichnende für diese Prozesse war vor allem die Mehrschichtigkeit der spielerischen Praxis bzw. ein Zusammentreffen und eine Verflechtung der spielerischen Vorgänge auf unterschiedlichen Ebenen, wobei das eine Spiel vom anderen unterstützt, überspielt oder wiederum entblößt werden konnte. Alle diese Spielebenen übten aufeinander gegenseitig Wirkung aus, relativierten einander und generierten eine breitere Einstellung bzw. einen bestimmten Wahrnehmungsmodus, der sowohl die künstlerischen Aktivitäten (aber auch gesellschaftlichen Bewegungen) im spätsozialistischen Kontext als auch das Spielphänomen zu charakterisieren vermochte und eine Verbindung zwischen den beiden sichtbar machte. Diese Einstellung war gleichermaßen vom erhöhten Bewusstsein der Relativität (bzw. Fiktionalität) jeder Positionierung und Handlung und von einer ständigen Bestrebung nach Authentizität (bzw. vom Glauben an die Möglichkeit des Authentischen) geprägt und wurde in den künstlerischen und alltäglichen Praktiken umgesetzt. Die Zwiespältigkeit der Wahrnehmung des eigenen Umfeldes und der eigenen Tätigkeit verlieh den vielfältigen performativen Aktivitäten in diesem Kontext eine besondere Intensität und Ausdruckskraft – als wäre eben in der Ausführung bzw. im Ausleben dieser Wahrnehmung auch die Auflösung deren innerlicher Spaltung zu finden. Ein Kapitel dieser Dissertation widmete sich der Übernahme des Existenzialismus im sowjetischen Kontext und den Verknüpfungen zwischen dem Konzept des Absurden und dem Spiel. Aus diesen Beobachtungen entstand die Hauptthese der Arbeit: Die Besonderheit der Funktion des Spielbegriffs in der estnischen Kultur der späten 1960er Jahre lässt sich vor allem durch die Koppelung mit dem Existenzialismus und dem Absurden erörtern, diese Koppelung wiederum vermochte anderswo unsichtbar gebliebene Charakteristika des Spielphänomens zu beleuchten. Die Spezifika der Aktualisierung des Existenzialismus in den sozialistischen Ländern in den 1960er Jahren bildete sich durch die Zeitverschiebung (im Vergleich zur Entstehung der existenzialistischen Philosophie in der westlichen Kultur) und durch dessen Zusammentreffen mit den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen

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heraus. Die existenzialistischen Ansichten dienten in diesem Kontext nicht nur zur Verarbeitung des Traumas des II. Weltkriegs, sondern wurden sowohl in die Anpassungsstrategien an das totalitaristischen Regime eingebunden als auch mithilfe der neuen kulturellen Orientierungen und Ideologien der 1960er Jahre überarbeitet. Die Feststellung der Absurdität des Daseins hat man vor diesem Hintergrund nicht nur als eine tragische Erkenntnis, sondern auch als eine befreiende Entdeckung angenommen. Diese Entdeckung bzw. Wahrnehmungsverschiebung ermöglichte es, sowohl in den alltäglichen als auch künstlerischen Praktiken vielfältige neue Handlungsmodi einzusetzen, die ein flexibles Verhältnis bzw. Zugleich der Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit (allumfassende Ironie, Verspottung u.a.) aufwiesen. Die Tatsache, dass die öffentlichen Fragestellungen bezüglich der existenziellen Grundlagen (und nicht nur der sozialen Funktion) des menschlichen Daseins überhaupt – mit Vorbehalt – legitimiert wurden, lenkte zu den komplexeren Positionierungen in der aktuellen Lebensumwelt und zu einem mehr ›philosophischen‹ Umgang mit deren Grundbedingungen; die Beschäftigung mit den Fragen der Existenz fungierte unter anderem als eine Taktik der Ausblendung des repressiven gesellschaftlichen Machtsystems. Auf der anderen Seite führte das Hauptmittel dieser Beschäftigung – die existenzialistische Philosophie – zur Erkenntnis, dass die grundlegende Bedrängnis des Menschen womöglich auf keiner Ebene des Lebens (weder auf alltäglicher noch philosophischer) aufzulösen ist und auch die Zuwendung zu den tieferen Schichten des Daseins keine endgültige Befreiung davon anbietet. Diese Erkenntnis mochte wiederum die Rückkehr zum Alltäglichen bzw. das Interesse für Mitwirkung in gesellschaftlichen Prozessen zu unterstützen (wenn das Leben im Ganzen relativ und unsicher ist, macht es keinen Unterschied, auf welcher Ebene man sich mit dieser Feststellung befasst), jedoch mit wesentlich geänderten Einstellungen und Handlungsweisen, die die Relativität und Unsicherheit jeglicher Aktivität nicht zu unterdrücken oder abzuschaffen versuchten, sondern demonstrativ sichtbar machten. Diese allgemeine Dynamik lässt sich sowohl in der alltäglichen als auch künstlerischen Praxis beobachten und ist in diesem Kontext als ein Knotenpunkt des Alltäglichen und Künstlerischen sowie als der Ausgangspunkt der Wandlungen in beiden Bereichen zu verorten. In den Künsten entstanden verschiedene Ansprüche auf eine Annäherung an das alltägliche Leben, die alltäglichen Praktiken wurden wiederum ausgehend von deren entblößter Fiktionalität häufig theatralisiert. In beiden Fällen galt das Bewusstwerden der allumfassenden Relativität auch als einer der Hauptimpulse für die – mehr oder weniger reflektierte – Hinwendung zu den spielerischen Vorgängen. Die existenzialistische Feststellung fand eine Resonanz zu der Fiktionalität des Spiels (bzw. der Fiktionalität der konstitutiven Faktoren der aktuellen Lebensumwelt), beide haben sich gegenseitig intensiviert, aber auch sporadisch unterminiert. Das allumfassende Spiel mochte den tragischen Konflikt, der dem Existenzialismus zugrunde lag, (und somit auch den eigenen Ausgangspunkt) auflö-

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sen, die Wahrnehmung der Absurdität jeglicher Bestrebung konnte wiederum das Spiel (und das in ihm entstandene Verlangen nach Einleben) abbrechen. Die Besonderheit des am Existenzialismus verknüpften Spiels in der alltäglichen und künstlerischen Praxis im sowjetischen Kontext der 1960er Jahre bildete sich – im Vergleich zum Ausdrücken des Absurden in den Künsten im Westen während der 1940er und 1950er Jahre – durch das allgemeine Regime des Handelns heraus. Wenn beispielsweise im absurden Theater im Westen die Bedeutungslosigkeit des Lebens üblicherweise durch die Offenbarung des langsamen, verfremdeten Ablaufs des Alltags (ohne sinngebende Kulminationen oder Umbrüche) geäußert wurde, entstand in der estnischen Kultur (sowohl im Studententheater als auch in den Happenings) eine Taktik des intensiven und expressiven Ausdrückens des Absurditätsgefühls. Hinter dieser Taktik lässt sich unter anderem eine aktivistische Haltung ahnen: Das Aufdecken der Absurdität diente nicht nur zur Feststellung der Sinnlosigkeit des Daseins, sondern wurde häufig als auch ein Weg, über diese Sinnlosigkeit hinauszukommen (oder dieser auszuweichen), wahrgenommen. Die Erkenntnis der Absurdität fungierte in diesem Kontext nicht (nur) als Schlussfolgerung, sondern auch als ein Ausgangspunkt des neuartigen Umgangs mit der Lebensumwelt, der nicht (nur) zur Resignation, sondern auch zum aktiven Handeln, zur performativen Untersuchung dieser Absurdität – zum Spielen – führte. Das Bedürfnis nach dem expressiven, unbehinderten Ausdrücken der chaotischen innerlichen Impulse des Menschen, nach dem Zerbrechen der Illusion der kontrollierten und geregelten Welt, nach der Entblößung der grundlegenden Irrationalität des Lebens – nach einem freien Spiel im Sinne von Rausch – war ein bedeutendes Kennzeichen in vielen kulturellen Bewegungen der 1960er Jahre, wurde aber in sozialistischen Ländern bzw. in den totalitaristischen Gesellschaften aus kontextuellen Gründen einerseits intensiviert, andererseits unterdrückt. Die Spannung zwischen dem angestrebten Ausleben des ›Irrationalen‹ und den unvermeidlichen Grenzen, auf die dieses Vorhaben in diesem Umfeld stieß, verlieh vielen experimentellen künstlerischen Praktiken besondere Charakteristika, die womöglich auch die Dynamik des Spiels (bzw. eines bestimmten Modus des Spielens) beleuchten kann. Die anfängliche Motivation für das freie Spiel war der Widerstand gegen die strengen Kontrollmechanismen, die auf fast jeder Ebene des gesellschaftlichen Lebens eingesetzt waren. Das Spiel entstand als eine Reaktion auf die äußerlichen Bedingungen, kreierte für sich am ›Ort des Anderen‹ bzw. im Rahmen des Machtsystems kleinere oder größere Handlungsräume, in denen das Einführen der anderen – eigenen – Regeln bzw. Regellosigkeit erzielt wurde. Wenn die Handlungsräume geschaffen waren und das Spiel sich unter Umständen entfalten konnte, erzeugte diese Entfaltung einen weiteren (zum anfänglichen gegensätzlichen) Anspruch – eine Tendenz zur Strukturierung der Aktivitäten im fiktiven Spielraum sowie auch zur Sinngebung des Ganzen. Jedoch wurden die Versuche der Strukturierung und Sinngebung innerhalb (oder an der Grenze) des Spiels und in Bezug auf

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dessen Verlauf vorgenommen (und nicht von außen vorgeschrieben) und waren somit unmittelbar von der Eigenbewegung des Spiels beeinflusst – jede Festlegung konnte im weiteren Prozess des Spiels hinterfragt und abgelehnt werden, um wieder zur ursprünglichen ›Unwissenheit‹ zurückzukehren. Durch dieses Schwanken zwischen den subversiven und konstituierenden, reflexiven Impulsen – oder der dekonstruktiven und konstruktiven Tendenz – bildete sich die Grunddynamik des Spielens heraus. Sowohl die konkrete gesellschaftliche und kulturelle Situation als auch das Zusammentreffen der Aktualisierung des Spiels mit dem Interesse für das Konzept des Absurden haben bestimmte Merkmale dieser Dynamik in den im Rahmen der vorliegenden Arbeit analysierten Beispiele verschärft sichtbar gemacht sowie auch die Unmöglichkeit festgestellt, jegliches Spiel – oder ein anderes Ereignis – außerhalb seines Entstehungskontextes zu betrachten. Darüber hinaus beleuchteten diese Beispiele aber auch die Besonderheit und Komplexität der Spielpraxis, die zwar immer in Verbindung mit dem konkreten sozialen Umfeld entsteht, sich aber nie nur in Hinblick auf die äußerlichen Bedingungen definieren bzw. dialektisch verstehen lässt, sondern eher als ein überall hervortretendes und zugleich flüchtiges Phänomen gilt, dessen Erscheinungsformen und Wirkungsmechanismen noch im Mittelpunkt in vielen weiteren Forschungen stehen werden. Die Besonderheit der in dieser Arbeit betrachteten Periode der estnischen Kultur bestand unter anderem darin, dass innerhalb eines Zeitfensters entstandene künstlerische und gesellschaftliche Phänomene im Vergleich zu früheren und späteren Entwicklungen eine ausdrückliche Eigenständigkeit aufwiesen. Der Wandel in den Künsten und gesellschaftlichen Kommunikationsformen wurde zwar durch die Liberalisierungspolitik vorbereitet, fand aber am Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in einem relativ begrenzten Zeitraum einen intensiven und spezifischen Ausdruck. Spätestens ab Mitte der 1970er Jahre kann man eine deutliche strukturelle Umstellung der kulturellen Praxis und ihres Verhältnisses zum Machtsystem beobachten. Ebenso plötzlich wie der Spielbegriff in den späten 1960er Jahren im Theater und in der Kunst in Estland auftauchte, verschwand er wieder – sowie die meisten damit verbundenen künstlerischen Strategien und Ansprüche – in den frühen 1970er Jahren. Alle Beteiligten der Theatererneuerung waren auch nach dem Zerfall des Tartuer Kreises aktiv und galten als bedeutende Figuren im kulturellen Leben, jedoch hat sich keiner von ihnen in den späteren Tätigkeiten auf praktischer noch theoretischer Ebene mit dem Spielphänomen befasst. Die Künstlergruppen, die die ersten Happenings durchführten, fielen in den ersten Jahren der 1970er auseinander und die individuellen Interessen der Beteiligten wandten sich von der Aktionskunst ab. Die Form des Happenings wurde für eine Weile von estnischen Künstlern kaum aufgenommen; nach einigen Aktivitäten am Anfang der 1980er Jahre erschien sie erst während der Wendezeit wieder. Diese Umorientierungen hatten sowohl persönliche als auch politische Gründe – nach der Verstärkung der gesellschaftlichen Kontrolle am Anfang der 1970er Jahre wurde der Raum

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für künstlerische Experimente deutlich eingeschränkt. Jedoch scheint es, dass auch die spielerischen Experimente selbst bzw. das Zusammenspiel der künstlerischen Praxis und spätsozialistischen kulturellen Dynamik eine ideelle und taktische Wende generierten. Während einige Kennzeichen der früheren Spielexperimente in den Künsten der 1970er Jahre noch stärker ausgeprägt wurden (insbesondere die Ironie und Selbstreflexion, zum Teil auch der Anspruch auf ›Totalität‹), verringerten sich andere spielerische Charakteristika, die den Experimenten in den 1960er Jahren zugrunde lagen, in späteren künstlerischen Aktivitäten deutlich – sowohl die idealistischen Einstellungen bezüglich der gesellschaftlichen und individuellen Umbrüche als auch die produktive ›Unwissenheit‹, Flexibilität und Bereitschaft, jede Grundlagen der künstlerischen Praxis zu unterminieren. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen lassen sich der Spielbegriff und die davon ausgegangenen künstlerischen Aktivitäten in der estnischen Kultur am Ende der 1960er Jahre somit in zweifacher Weise – als Reaktion und als ein aktives Element – erörtern. Sie entsprangen einerseits dem kulturellen Kontext und galten als Symptom der eigenen Umwelt, definierten diese Umwelt aber auf eine konkrete Weise und arbeiteten einen dafür geeigneten Handlungsmodi heraus, der wiederum eine Erwiderung aus der Umwelt bzw. von deren Kontrollmechanismen hervorrief.

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I NTERVIEWS Interview mit dem Künstler Jüri Arrak am 31.10.2006. [Transkription]. Videointerview mit dem Künstler Milan Knížák in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe« (2007, Kuratorin Petra Stegmann, Produzent Künstlerhaus Bethanien). [Transkription]. Interview mit dem Künstler Leonhard Lapin von Mari Laanemets, März 2003. [Transkription]. Videointerview mit dem Künstler Leonhard Lapin in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe« (2007, Kuratorin Petra Stegmann, Produzent Künstlerhaus Bethanien); Archiv des Estnischen Kunstmuseums: EKMa 12.1.–8/27. Interview mit dem Künstler Leonhard Lapin am 3.06.2008. [Transkription]. Videointerview mit dem Künstler Enno Ootsing in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East Europe« (2007, Kuratorin Petra Stegmann, Produzent Künstlerhaus Bethanien); Archiv des Estnischen Kunstmuseums: EKMa 12.1.–8/27. Interview mit dem Künstler Kaljo Põllu am 3.06.2008. [Transkription]. Interview mit dem Künstler Andres Tolts von Eero Epner, August-September 2009. [Transkription]. Videointerview mit dem Musiker Toomas Velmet in der Wanderausstellung »Fluxus East: Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuropa/Fluxus Networks in Central East

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Europe« (2007, Kuratorin Petra Stegmann, Produzent Künstlerhaus Bethanien); Archiv des Estnischen Kunstmuseums: EKMa 12.1.–8/27.

ARCHIVMATERIALIEN Arrak, Jüri, Einladungskarte zum Theaterabend in der 21. Oberschule am 1.12.1966; im Besitz des Künstlers. Brecht, George, The Origin of Events, August 1970. Archiv Sohm, Staatsgalerie Stuttgart. Kantor, Tadeusz, Begleittext zu »Panoramiczny happening morski/Panoramic Sea Happening«, 1967 (Polnisch/Englisch). Archiv Cricoteka, Kraków. Kantor, Tadeusz, Szenarium und Dokumentation des Happenings »Poczta«, 1967 (Polnisch/Englisch). Archiv Cricoteka, Kraków. Knížák, Milan, »Demonstration for Oneself«, 1964 (?), Textarbeit. Kopie im Archiv Sohm, Staatsgalerie Stuttgart. Lapin, Leonhard, Ettepanek Tallinna teatrielu muutmiseks Tallinna eluteatriks. Vortrag am 28.03.1976 beim Treffen der kreativen Jugend im Rahmen des Monats des Theaters; handschriftliches Dokument im Besitz des Künstlers. Lapin, Leonhard, Avangardi taassünd. – Eesti kunstiavangard ja punane okupatsioon. Tallinn/Võllamäe, 1995, Manuskript. Bibliothek des Estnischen Kunstmuseums, Tallinn. Mikiver, Heino, Johann Christoph Friedrich von Schiller – röövlid, 1963; Manuskript im Besitz des Künstlers Leonhard Lapin. Mikiver, Heino, Shakespeare 400, 1963/1964; Manuskript im Besitz des Künstlers Leonhard Lapin. Mikiver, Heino, Punamütsike, seitse venda, kaks hunti ja kolm roosat põrsakest, 1965; Manuskript im Besitz des Künstlers Leonhard Lapin. Pärt, Arvo, Sink Kuldar, An den Vorstand des Estnischen Komponistenverbandes: Erläuterungsschreiben, 16.01.1968. Archiv des Estnischen Komponistenverbandes. Programmblatt des Experimentalkonzertes am 31.10.1965; im Besitz des Künstlers Jüri Arrak. Protokoll der Sitzung des Kollegiums des Theaters »Vanemuine« am 13.11.1971. Bibliothek des Theaters »Vanemuine«: n. 2, s. 519.

Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste April 2015, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute April 2015, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Fu Li Hofmann Theaterpädagogisches Schauspieltraining Ein Versuch 2014, 202 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3009-1

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3) ANZ2966.p 388756327446

Theater Céline Kaiser (Hg.) SzenoTest Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie 2014, 256 Seiten, kart., durchgängig farbig,, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3016-9

Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien April 2015, 238 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2392-5

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen 2014, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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