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German Pages [320] Year 2021
Bernd Irlenborn Michael Seewald (Hg.)
Relativismus und christlicher Wahrheitsanspruch Philosophische und theologische Perspektiven
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495823583
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Bernd Irlenborn/Michael Seewald (Hg.) Relativismus und christlicher Wahrheitsanspruch
VERLAG KARL ALBER
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Bernd Irlenborn Michael Seewald (Hg.)
Relativismus und christlicher Wahrheitsanspruch Philosophische und theologische Perspektiven
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Bernd Irlenborn/Michael Seewald (eds.) Relativism and Christian truth claims Philosophical and theological perspectives What challenge does relativism pose to Christian truth claims? Do religious beliefs only apply relatively to a specific religious community or are they universally oriented? Is relativism a threat to Christian faith or a precondition for religious tolerance and the affirmation of plurality? In dialogue between philosophy and theology, this volume examines the relationship between Christian beliefs and relativistic views.
The editors: Bernd Irlenborn is Professor of Philosophy at the Faculty of Theology in Paderborn. Michael Seewald is Professor for Dogmatic Theology and the History of Dogma at the University of Münster.
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Bernd Irlenborn/Michael Seewald (Hg.) Relativismus und christlicher Wahrheitsanspruch Philosophische und theologische Perspektiven Welche Herausforderung stellt der Relativismus für den christlichen Wahrheitsanspruch dar? Gelten Glaubensüberzeugungen bloß relativ für eine bestimmte religiöse Gemeinschaft oder sind sie universal ausgerichtet? Ist der Relativismus eine Bedrohung für die christliche Botschaft oder ist er ein Indiz für religiöse Toleranz und die Bejahung von Pluralität? Der Band verfolgt das Ziel einer Verhältnisbestimmung zwischen christlichen Überzeugungen und relativistischen Auffassungen im Dialog zwischen Philosophie und Theologie.
Die Herausgeber: Bernd Irlenborn ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Theologischen Fakultät Paderborn. Michael Seewald ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49135-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82358-3
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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9
Bernd Irlenborn/Michael Seewald
Teil I: Philosophische Konturen und Implikationen des Relativismus-Begriffs Relativismus: Aktuelle philosophische Debatten und theologische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . .
13
Bernd Irlenborn Das Spektrum des epistemischen Relativismus . . . . . . . . .
36
Martin Kusch Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus. Selbstaufhebung und verwandte antirelativistische Argumente in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Dorothee Schmitt Antirealismus und Kohärenztheorie. Der Wolf im Schafspelz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
Thomas Schärtl Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens
. . 121
Volker Gerhardt
7 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Inhaltsverzeichnis
Teil II: Herausforderungen des Relativismus für die Systematische Theologie Was heißt eigentlich »christlicher Wahrheitsanspruch«? . . . .
139
Christian Tapp Anspruch auf Wahrheit. Das kirchliche Lehramt über »Relativismus« . . . . . . . . . .
158
Thomas Marschler Theonome und autonome Relativität. Ein analytischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Karl-Heinz Menke Christliche Glaubensüberzeugungen im Kontext religiöser Pluralität. Zur dogmatisch-theologischen Auseinandersetzung mit dem alethischen Relativismus . . . . . . . . . . . . . . .
212
Michael Seewald
Teil III: Religionsethische und politische Fragestellungen Gibt es eine Wahrheit von Normen? . . . . . . . . . . . . . .
239
Christof Breitsameter Triumph der Gewalt oder Trumpf der Religion? Zur Logik des Ernstfalls bei Kierkegaard und Taylor
. . . . . . 264
Michael Kühnlein Religiöse Wahrheitsansprüche im Menschenrechtszeitalter . . .
288
Marie-Luisa Frick
Autorinnen und Autoren Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
8 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Vorwort
In den letzten Jahren haben sich zahlreiche neue Kontroversen und Debatten in der Philosophie zwischen relativistischen und antirelativistischen Positionen ergeben. Die Grundintuition relativistischer Positionen lautet, etwas (Aussagen, Überzeugungen, Sachverhalte) sei nicht in einem absoluten Sinne gültig, sondern nur relativ, in Abhängigkeit von bestimmten Parametern (Weltbildern, Erkenntnisschemata, Kulturen, Sprachen etc.). Gegner und Befürworter relativistischer Überzeugungen streiten darum, wie diese Grundintuition genauer zu explizieren ist. Auch in der Theologie und dabei vor allem in der katholischen Tradition hat sich der Streit um die Herausforderung des Relativismus für den christlichen Glauben verschärft: Ist der Relativismus in seinen verschiedenen Formen eine Bedrohung für das Selbstverständnis des Christentums, insofern er absolute Geltungsansprüche infrage stellt und dadurch in religiöser Hinsicht zu einem Glauben ohne objektive Wahrheit und mit einer Gleichgültigkeit gegenüber fremdreligiösen oder säkularen Auffassungen führt? Ist insofern die christliche Kritik an relativistischen Überzeugungen, wie sie bislang am schärfsten vom Lehramt der katholischen Kirche formuliert worden ist, nicht allzu berechtigt? Oder verhält es sich genau umgekehrt: Stellt gerade der Relativismus eine angemessene Denkform der pluralistischen Moderne dar, die nicht länger auf die in der Geschichte oft mit Zwang und Gewalt verbundene Durchsetzung absolut verstandener religiöser Wahrheitsansprüche, sondern auf epistemische und praktische Toleranz fokussiert ist, für die es eine widerspruchsfreie Koexistenz von unterschiedlichen Geltungsansprüchen geben kann? Entlarvt sich ein christlicher Antirelativismus in diesem Sinne als Indiz einer modernitäts- oder sogar demokratiefeindlichen Einstellung, die das Freiheitsbewusstsein des Menschen mit vermeintlich ›ewigen Wahrheiten‹ normieren will? Wäre es insofern nicht konsequent und Anzeichen einer epistemischen Demut, wenn sich auch das Christentum in Bezug auf den eigenen Geltungsanspruch relativistisch verstehen würde? 9 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Vorwort
Die Beiträge des vorliegenden Bandes beruhen – in erweiterter Form – auf einer Tagung zum Verhältnis zwischen Relativismus und christlichen Wahrheitsansprüchen, die im Juni 2019 in Münster stattfand. In den Beiträgen des ersten Teils geht es um die Klärung der Semantik und der philosophischen Tragweite des Relativismus-Begriffs. Dabei stehen erkenntnistheoretische und metaphysische Fragen nach der Genese, Bedeutung und Begründbarkeit relativistischer Positionen und Argumente im Mittelpunkt. Die Beiträge des zweiten Teils thematisieren verschiedene Aspekte der Herausforderung des Relativismus für Fragestellungen der Systematischen Theologie. Untersucht wird dabei, was den theistischen Wahrheitsanspruch im Kontext philosophischer Analysen des Wahrheitsbegriffs kennzeichnet, wie die den Relativismus als Gefährdung für diesen Wahrheitsanspruch erachtende Kritik durch das kirchliche Lehramt sich historisch entwickelt hat und welche Konsequenzen sich aus Konzeptionen der Relativität für das christliche Selbstverständnis und seine Beziehung zu anderen Religionen ergeben. Die Beiträge des dritten Teils analysieren ethische und politische Fragestellungen im Kontext der Debatte um das Verhältnis von christlichen Wahrheitsansprüchen und pluralistischer Gesellschaft. Dabei ist zu klären, wie die christliche Ethik zum Modell einer relativen Moral Stellung nimmt und welche Folgen sich daraus für die Wahrheit von Normen ergeben, ob Formen und Mechanismen der religiösen Gewalt unter neuzeitlich säkularen Bedingungen religionsintern nur mit einem Rekurs auf relativistische Denkfiguren verarbeitet werden können und inwiefern exklusive religiöse Wahrheitsansprüche im Zeitalter universaler Menschenrechte ohne eine pluralitätskompatible Selbstrelativierung überhaupt noch legitimierbar sind. Wir danken an erster Stelle den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre Beiträge und die damit verbundene Mühe. Ein besonderer Dank gebührt Barbara Brunnert für ihre Unterstützung bei der Edition der Texte und der Fertigstellung des Bandes. Weiterhin danken wir Johannes Elberskirch und Theresia Kamp für die kritische Lektüre der Beiträge. Nicht zuletzt danken wir Frank Meier-Hamidi und der Katholischen Akademie »Franz Hitze Haus« in Münster für die Kooperation bei der Durchführung der Tagung und Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber für die gute Zusammenarbeit. Bernd Irlenborn Michael Seewald 10 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Teil I: Philosophische Konturen und Implikationen des Relativismus-Begriffs
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Relativismus: Aktuelle philosophische Debatten und theologische Herausforderungen Bernd Irlenborn
Seit etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren ist der Relativismus wieder verstärkt Gegenstand von Kontroversen in der Philosophie geworden. Auch wenn relativistische oder relativistisch anmutende Überzeugungen philosophiegeschichtlich seit der Antike immer wieder vertreten worden sind, ist in den letzten Jahren, vor allem in der analytischen Philosophie, ein zunehmendes Interesse an der Auseinandersetzung mit relativistischen Argumenten und Intuitionen zu verzeichnen. Im Vergleich zu früheren Debatten werden dabei vermehrt relativistische Positionen vertreten, die ihre Begründung nicht mehr primär aus politischen Gerechtigkeits- oder kulturellen Gleichwertigkeitsvorstellungen ableiten, sondern vor allem an formalen – erkenntnistheoretischen oder semantisch-logischen – Problemen orientiert sind. 1 Wie ausdifferenziert die Debatten um relativistische Auffassungen inzwischen geworden sind, lässt sich exemplarisch erkennen an den Beiträgen neuerer Anthologien wie Relativism. A Contemporary Anthology (Krausz 2010), A Companion to Relativism (Hales 2011), The Many Faces of Relativism (Baghramian 2014) oder The Routledge Handbook of Philosophy of Relativism (Kusch 2020). 2 Thematisch zielen die Beiträge dieser Bände zumeist nicht mehr darauf ab, das weiträumige und kaum noch überschaubare Terrain des Relativismus als solches zu kartografieren, sondern stellen primär Sondierungen zu einzelnen relativistischen Varianten oder zu spezifischen Überlegungen, Argumenten oder Problemanzeigen in deren Kontext vor. Das lässt erkennen, dass die philosophische Relativismus-Debatte in den letzten Jahren durch eine zunehmende
Die Beiträge des sogenannten »neuen« Relativismus um Crispin Wright, John MacFarlane und Max Kölbel sind dafür ein gutes Beispiel (vgl. García-Carpintero/ Kölbel 2008). 2 Zur historischen Entwicklung des Relativismus vor allem im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Kusch/Kinzel/Steizinger/Wildschut 2019. 1
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Bernd Irlenborn
Spezialisierung gekennzeichnet ist, insofern die Argumentationen fast ausschließlich im Diskurskontext von spezifischen – semantischen, epistemologischen, metaethischen, wissenschaftstheoretischen oder logisch-mathematischen – Varianten des Relativismus geführt werden. Aber nicht nur in der Philosophie, sondern auch in anderen Wissenschaften sind Versionen und Vorstellungen des Relativismus Gegenstand von kontroversen Debatten. Drei Bereiche, die sich teilweise überschneiden, seien hier beispielhaft angeführt: erstens in der Kulturanthropologie und den Sozialwissenschaften, in denen kulturrelativistische Positionen im Zuge des Postkolonialismus und unter Einfluss von Foucaults Diskursanalyse schon etwa seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts als Absage an Ethnozentrismus und Universalismus vertreten worden sind (vgl. Brown 2008; Park 2011; Cornea 2012); zweitens in der Politischen Theorie die Debatte um die Bedeutung des Universalitätsanspruchs der Menschenrechte, in der neuere Beiträge zu klären versuchen, wie der Normativitätsanspruch dieser Rechte im Spannungsfeld zwischen relativistischen und absolutistischen Auslegungen begründet werden kann (vgl. Corradetti 2009; Frick 2013; Frick 2017); drittens in der Theologie die Auseinandersetzung um die Herausforderung des Relativismus für den christlichen Wahrheitsanspruch, die, vor allem in der katholischen Tradition, seit etwa zwanzig Jahren intensiver geführt wird (vgl. Seewald 2018). Diese Zeitspanne ist nicht nur dadurch geprägt, dass in Verlautbarungen der letzten Päpste vermehrt Kritik gegenüber dem Relativismus geäußert worden ist, die den älteren lehramtlichen Antirelativismus, der seit dem Modernismusstreit Anfang des letzten Jahrhunderts eingesetzt hatte und insgesamt eher rhapsodisch und situativ geblieben war, semantisch deutlich verschärft und verallgemeinert. Zudem setzt in diesen Jahren auch eine breite theologische und gesellschaftspolitische Rezeption der lehramtlichen Ablehnung des Relativismus ein, die in ihrer zumeist entweder kritischen oder apologetischen Dynamik bis heute anhält. In meinem Beitrag möchte ich einige zentrale begriffliche Aspekte des Relativismus ansprechen und davon ausgehend auf aktuelle philosophische und theologische Debatten des Relativismus verweisen. Im ersten Abschnitt erläutere ich einleitend den Begriff des Relativismus und zeige, warum Versuche seiner semantischen Konturierung schon von Anfang an Schwierigkeiten ausgesetzt sind. Im zweiten Abschnitt gehe ich auf aktuelle philosophische Auseinander14 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Relativismus: Philosophische Debatten und theologische Herausforderungen
setzungen mit dem Relativismus ein und skizziere exemplarisch drei einflussreiche Debatten dieses Themas im Diskurs der gegenwärtigen analytischen Philosophie. Im dritten Abschnitt umreiße ich kurz die Herausforderung des Relativismus für die christliche Theologie und stelle drei philosophisch konzeptionierte Entwürfe eines christlichen Relativismus kritisch vor. Im vierten Abschnitt werfe ich in einem knappen Ausblick die Frage auf, was folgen könnte, wenn der Relativismus, wie er in diesen Debatten verteidigt wird, wahr wäre. Mein Beitrag versteht sich als Einführung in die Thematik und weniger als kritische Auseinandersetzung mit dem Relativismus als solchem oder einer bestimmten relativistischen Position. 3
1.
»Relativismus«: Begriffliche Konturierungen
Im Hinblick auf die Rezeption relativistischer Ideen und Ansätze in den letzten Jahren lässt sich von der Tendenz her ein Szenario gegensätzlicher Einschätzungen beobachten: Entschiedene Gegner stehen entschiedenen Verteidigern des Relativismus gegenüber. Bei dem Religionssoziologen Peter L. Berger findet sich folgende Diagnose: »Contemporary culture (and by no means only in America) appears to be in the grip of two seemingly contradictory forces. One pushes the culture toward relativism, the view that there are no absolutes whatever, that moral or philosophical truth is inaccessible if not illusory. The other pushes toward a militant and uncompromising affirmation of this or that (alleged) absolute truth« (Berger 2010, 1).
Während Kritiker beispielsweise den Relativismus als so etwas wie »the main philosophical malady of our time« (Popper 2002, 485) oder generell als »verfehltes emanzipatorisches Projekt« (Gabriel 2013, 136) erachten, sehen Befürworter darin unter anderem die einzige angemessene Antwort auf das Problem »irrtumsfreier Meinungsverschiedenheit« (Kölbel 2009, 142) oder einfach ein Synonym für »serious thought« (Fish 2001). Die Auseinandersetzung zwischen Kritikern und Befürwortern des Relativismus reicht von sachlicher Auseinandersetzung, wie man sie zumeist in spezialisierten Debatten oder Foren der analytischen Philosophie findet, bis hin zu reißeriEine kritische Analyse des Relativismus habe ich in dem Band Relativismus vorgestellt (vgl. Irlenborn 2016).
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Bernd Irlenborn
schem und polarisiertem Streit mit teils wechselseitigen Diffamierungen, der in den Vereinigten Staaten, vor allem in den 1990er-Jahren, den Charakter eines Kulturkriegs angekommen hatte. 4 Ob es zwischen solchen kontrastiven Positionen noch differenziertere Einschätzungen zum Für und Wider des Relativismus gibt, soll im Rahmen der Beiträge des vorliegenden Bandes aus verschiedenen Perspektiven der Philosophie und Theologie ausgelotet werden. Der Streit um den Relativismus beginnt aber nicht erst bei der Rezeption relativistischer Konzepte, sondern schon ab initio beim Versuch, zu bestimmen, was unter diesem Begriff überhaupt zu verstehen ist. Der Begriff »Relativismus« bezieht sich nicht auf eine feststehende und genau definierbare Theorie, sondern umfasst eine Vielzahl verschiedener Problemstellungen aus allen Bereichen der Philosophie. Angesichts der unterschiedlichen relativistischen Entwürfe und ihrer internen Ausdifferenzierung dürfte der Anspruch, einen globalen Begriff des Relativismus bestimmen zu wollen, der tendenziell möglichst alle relativistischen Konzepte und Versionen umfassen soll, überzogen sein. Doch aus welchen Motiven kommen relativistische Auffassungen überhaupt zum Tragen? In vielen, wenn nicht den meisten Fällen werden sie von Relativisten als beste Lösungsstrategie für einen Konflikt von gegensätzlichen und unvereinbaren Überzeugungen angeboten. Aus relativistischer Perspektive lassen sich solche Dispute regulatorisch lösen, indem Geltungsansprüche so spezifiziert werden, dass sie normativ als rückbezogen auf oder abhängig von verschiedenen Maßstäben oder Kontexten erscheinen. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass keine der konfligierenden Überzeugungen als falsch erachtet werden und damit keiner der Urteilenden im Unrecht sein muss. Natürlich gibt es auch noch andere Arten der Konfliktlösung, etwa den Kompromiss, die Urteilsenthaltung bzw. Epoché, die Indifferenz, das Weiterdiskutieren, das Rechtgeben etc. Das Relativieren scheint im Vergleich zu diesen Strategien jedoch ein elegantes Verfahren zu sein, Dispute – zumindest vordergründig – nicht zu entschärfen und gleichzeitig so etwas wie eine legitimierende Anerkennung für beide Streitpositionen zu wahren. Einer der Auslöser für diese Auseinandersetzungen war der 1987 veröffentlichte Bestseller The Closing of the American Mind des amerikanischen Philosophen und Kulturkritikers Allan Bloom, in dem er massiv den Relativismus und Liberalismus der US-amerikanischen Universitätskultur und Gesellschaft kritisiert (vgl. Bloom 1988).
4
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Relativismus: Philosophische Debatten und theologische Herausforderungen
Was folgt daraus für die Semantik des Relativismus-Begriffs? Nicht selten lautet der Vorbehalt von Relativisten, Absolutisten könnten mit ihrer Relativismus-Definition eine von vornherein einseitige oder verzerrte Bestimmung desselben einführen, um damit relativistische Positionen umso leichter als widersprüchlich oder nicht überzeugend auszuweisen. Angesichts dieser Warnung scheint es mir sinnvoll zu sein, vorsichtig vorzugehen und zwischen eher schwachen und eher starken Ansätzen der semantischen Konturierung des Relativismus-Begriffs zu unterscheiden. Schwächere Ansätze der Begriffsbestimmung versuchen, vor allem über Abgrenzungen und die Präzisierung, was »Relativismus« (oder eine relativistische Variante) nicht bedeuten soll, eine Art Nominaldefinition oder zumindest einen minimalen Arbeitsbegriff zu umreißen. Stärkere Ansätze der Begriffsbestimmung dagegen zielen darauf ab, über die Festlegung von Relationsoptionen und Parametern affirmativ eine Art von Realdefinition zu präsentieren, die von der Tendenz her die Grundintuition relativistischer Entwürfe beschreiben soll. Als Beispiel für einen eher schwachen, zurückhaltenden Versuch der Begriffsdefinition möchte ich kurz auf den Ansatz von David Bloor verweisen, der seit mehreren Jahrzehnten ein prominenter Vertreter der relativistischen Wissenssoziologie (Sociology of Scientific Knowledge) ist. Für Bloor werden Relativisten von Absolutisten wie dumme Menschen behandelt, die sich einer dummen Sache verschrieben haben: »Anti-relativists treat relativists as foolish persons who believe foolish things or who are committed to foolish things without realizing it« (Bloor 2011, 452).
Um zu verdeutlichen, was Relativisten – für Bloor also nicht nur Anhänger der relativistischen Wissenssoziologie – in Wirklichkeit annehmen, geht er aus von der seiner Ansicht nach kürzesten und einfachsten Definition des Relativismus: Relativismus bedeute die Ablehnung des Absolutismus (vgl. Bloor 2011, 433, 436). 5 Diese Definition soll allgemein gelten und sich nicht bloß auf Bloors eigenen relativistischen Ansatz beziehen. Relativistin oder Relativist zu sein, bedeutet für Bloor demnach, abzulehnen, dass es so etwas wie absolutes Wissen oder absolute Wahrheit gibt. »Absolut« stehe dabei für Bloor übernimmt diese Definition, wie er schreibt, von dem deutschen Physiker Philipp Frank (1884–1966).
5
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Bernd Irlenborn
eine superlativische Eigenschaft: unveränderlich, perfekt, unabhängig, überzeitlich etc. In Bezug auf diese Definition stellt sich für Bloor die Frage, ob die Ablehnung des Absolutismus eine nur notwendige oder eine sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung für den Relativismus darstelle. Wenn man sich für die erste Option entscheide, bedeute »Relativismus« die Ablehnung des Absolutismus plus weitere notwendige Bedingungen. In dieser Linie würden Relativisten, so Bloor, durch verzerrte Definitionen oft falsche Zuschreibungen unterstellt, wie etwa als weitere notwendige Bedingung die Ablehnung von Objektivität bzw. objektiven Standards. Relativisten aus dem Bereich der Wissenssoziologie lehnten Objektivität aber gerade nicht ab; sie verstünden diese Eigenschaft allerdings nicht im Sinne des Absolutismus. Im Kontext seiner Wissenssoziologie sieht Bloor – im Sinne seiner zweiten Option – die Ablehnung des Absolutismus als notwendige und hinreichende Bestimmung für die Position des Relativismus an. Wenn Antirelativisten meinten, sie könnten eine Zwischenposition beziehen und sowohl Antirelativisten als auch Anti-Absolutisten sein, machten sie sich etwas vor. Tatsächlich seien sie – tertium non datur – entweder verkappte Absolutisten oder sich selbst verleugnende Relativisten: »If anti-relativists think they can be both anti-relativists and anti-absolutists then they delude themselves. In reality they are either absolutists in disguise or relativists in denial« (Bloor 2011, 451). 6
Bloors Ausführungen lassen erkennen, wie sensibel die Bestimmung des Relativismus-Begriffs ist, wenn es darum geht, Argumente für oder gegen relativistische Positionen zu formulieren. Solche minimalen Definitionen, die primär über Abgrenzungen arbeiten, mögen den Vorteil haben, dass sie spezifische relativistische Intuitionen nicht verallgemeinern oder verzerren. Im Falle von Bloors Definition haben sie aber auch den Nachteil, dass sie von ihrer Extension her nur auf wenige relativistische Entwürfe zutreffen dürften. Bloors Definition trifft beispielsweise weder für Modelle des Relativismus zu, die nicht nur den Absolutismus, sondern auch jede Form des Objektivismus ablehnen, noch für semantische Spielarten des Relativismus, für die die Relativierung eines bestimmten Wahrheitswertträgers entscheidend ist, noch für antirelativistische Ansätze, für die die Ableh6
Gegen diese These argumentiert Michael Krausz (vgl. Krausz 2011, 72).
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Relativismus: Philosophische Debatten und theologische Herausforderungen
nung absoluter Tatsachen nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine Bestimmung des Relativismus ist. Stärkere Ansätze der Bestimmung des Relativismus-Begriffs unterscheiden meist mehrere Aspekte des Relativismus und gehen damit über Bloors einziges Kriterium, die Nichtabsolutismus-These, hinaus. Dabei kann man zwei Ebenen unterscheiden: Entweder man begnügt sich mit dem Versuch, wenigstens eine lokale Version des Relativismus näher zu bestimmen und lässt die Frage offen, was »Relativismus« allgemein bedeuten könnte. In dieser Weise gehen Paul Boghossian (vgl. Boghossian 2006, 58 f., 72 f.) und Martin Kusch (vgl. Kusch 2019a, 338–344) vor. Kusch beispielsweise fokussiert sich auf den epistemischen Relativismus und listet acht Aspekte auf (beispielsweise »Abhängigkeit«, »Pluralismus«, »Non-Absolutismus« etc.), die seiner Ansicht nach für die meisten Versionen desselben zumindest partiell zutreffen. Oder man versucht, trotz der Vieldeutigkeit des Relativismus-Begriffs, weiterhin noch so etwas wie ein relativistisches Grundmodell zu umreißen, das tendenziell die Grundintuition der meisten und wichtigsten Relativismus-Versionen beschreiben soll. In dieser Linie, so scheint mir, kann man sich ein relativistisches Grundmodell vorstellen, das je nach Typus des Relativismus weiter zu spezifizieren wäre und folgende Auffassungen umfasst (vgl. Irlenborn 2016, 6): 1.
2. 3.
Überzeugungen, die das Bestehen von bestimmten Sachverhalten behaupten, sind nicht objektiv wahr oder falsch, sondern immer nur wahr oder falsch relativ zu bestimmten Deutungskontexten (oder Parametern). Eine Überzeugung kann gleichzeitig wahr sein in einem Deutungskontext und falsch in einem anderen. Es gibt keinen nicht-relativen Maßstab für die Beurteilung der Angemessenheit dieser Deutungskontexte.
Dieses Grundmodell dürfte wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt sein von Bloors Bestimmung des Relativismus, wenn man »objektiv« im Sinne von »absolut« interpretiert und die zweite und dritte These als Implikationen der ersten These versteht. Die Frage, ob dieses Grundmodell tatsächlich die Struktur der meisten relativistischen Entwürfe korrekt beschreiben würde, lasse ich hier offen. Verteidiger solcher Modelle können immerhin darauf verweisen, dass, zumindest prima facie, jede relativistische Auffassung formal 19 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Bernd Irlenborn
die asymmetrische Relation impliziert, ein x sei relativ zu einem y. Bei dieser Relation ist das Relatum x abhängig vom Relatum y und soll, gemäß der jeweiligen relativistischen Position, ohne den Rückbezug auf y entweder nicht vorhanden, erkennbar, begründet oder verständlich sein. Für x kann auch eine Aussage stehen, die als relativ zu einem bestimmten Parameter angesehen wird, wie etwa in »x ist z relativ zu p« (etwa »Folter ist verboten relativ zu einem bestimmten moralischen Kodex«). Ausgehend von dieser asymmetrischen Relation werden in der Relativismus-Debatte oft Schemata präsentiert, die eine Typologie verschiedener relativistischer Varianten vorstellen, in denen Variablen für die Relata eingesetzt werden. 7 Die derzeit meist diskutierten Varianten des Relativismus, die sich gemäß dieser und anderer Klassifikationen kombinieren lassen, sind – mit Überschneidungen – alethische, erkenntnistheoretische, semantische und moralische Ansätze des Relativismus. Allerdings sind diese Kombinationen noch wenig aussagekräftig, wenn es darum geht, den Begriff des Relativismus näher zu umreißen. Nicht jeder, der behauptet, ein x sei relativ zu einem y, ist ein Relativist. Deshalb gilt es, die Relation genauer zu untersuchen, die die beiden Relata der Grundformel verbindet. Hier ergeben sich zahlreiche Differenzierungsmöglichkeiten, von denen ich nur zwei erwähne: Zum einen ist auf die bekannte Unterscheidung zwischen einer deskriptiven und einer normativen Relativierung hinzuweisen. Vereinfacht gesagt, wird bei der deskriptiven Relativierung die Beziehung der Relata nur im Sinne einer bloßen Beschreibung angesetzt, die allein das Bestehen oder die Genese eines zumeist empirisch überprüfbaren Sachverhalts behauptet. In diesem Sinne kann die Aussage »Folter ist verboten relativ zu bestimmten Moralkodizes« bedeuten, dass es historisch-deskriptiv unterschiedliche moralische Denkformen zum Folterverbot gegeben hat. Normative Relativierungen gehen hier einen Schritt weiter und behaupten eine spezifische Grundsätzlichkeit bzw. Normativität der Relation. In dieser Hinsicht würde die Aussage »Folter ist immer nur verboten relativ zu bestimmten Moralkodizes« bedeuten, dass nicht nur ein kontingenter, sondern ein notwendiger Zusammenhang zwischen den beiden Relata beschrieben werden soll, der keine Ausnahmen kennt. Es ist umstritten und hängt vom jeweiDafür gibt es zahlreiche Beispiele. Ein äußerst differenziertes Schema findet sich beispielsweise in Baghramian/Carter 2018; für weitere Schemata vgl. Haack 1998, 149; O’Grady 2002, 4; Baghramian 2005, 8.
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Relativismus: Philosophische Debatten und theologische Herausforderungen
ligen Begriff des Relativismus ab, ob Formen der deskriptiven Relativierung überhaupt als Relativismus – und nicht bloß als Relationismus (vgl. Irlenborn 2016, 11) – gelten sollen. Ich lasse diese Frage hier offen. 8 Zum anderen gilt es, zwischen einer globalen und einer lokalen Relativierung zu unterscheiden. Bei einer globalen Relativierung wird die Abhängigkeitsbeziehung zwischen den beiden Relata auf alle Klassen von Aussagen bezogen, bei einer lokalen Relativierung nur auf eine bestimmte Klasse von Aussagen, beispielsweise aus dem Bereich der Erkenntnis, Ontologie, Moral, Religion, Wissenschaft, Ästhetik etc. Der lokale Relativismus bezüglich einer Klasse von Aussagen ist unter Umständen vereinbar mit nicht-relativistischen Einstellungen bezüglich anderer Klassen von Aussagen. Je nach Kombination von relativistischer und nicht-relativistischer Einstellung ergeben sich dabei besondere Konstellationen. Nicht alle Kombinationen sind wahrscheinlich oder plausibel. Kaum vorstellbar etwa ist, dass jemand einen moralischen Absolutismus und zugleich einen epistemischen Relativismus vertritt.
2.
Aktuelle Debatten des Relativismus
Ich möchte drei aktuelle Debatten in der analytischen Philosophie anführen, in denen Varianten des Relativismus kritisch diskutiert werden. Erstens die Debatte um den epistemischen Relativismus, die 2006 durch Paul Boghossians Buch Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism ausgelöst worden ist. 9 In Auseinandersetzung vor allem mit Rorty und Wittgenstein beschreibt Boghossian den epistemischen Relativismus in drei Aspekten: Erstens gebe es keine absoluten Tatsachen für die Berechtigung einer Meinung (»Epistemic non-absolutism«), zweitens seien Äußerungen immer nur relativ auf ein bestimmtes epistemisches System (»Epistemic relationism«), und drittens gebe es zahlreiche miteinander inkompatible epistemische Systeme (»Epistemic pluralism«) (vgl. Boghossian 2006, 73). Ein für Boghossian schlagkräftiges Argument für den episMeiner Ansicht nach – dies sei am Rande vermerkt – ist ein normativer Absolutismus durchaus mit einem deskriptiven Relativismus vereinbar. 9 Zur Diskussion von Boghossians Buch vgl. die verschiedenen Beiträge in Episteme 2007 und in Philosophical Studies 2008, 377–432. 8
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temischen Relativismus ist der Einwand aus der Normenzirkularität, demgemäß – vereinfacht ausgedrückt – es widersprüchlich ist, das eigene epistemische System vor einem anderen System als epistemologisch berechtigter zu rechtfertigen, da diese Rechtfertigung nur mit den schon als berechtigt vorausgesetzten Normen des eigenen Systems erfolgen könnte und insofern zirkulär wäre. Boghossian versucht mit verschiedenen Argumenten zu zeigen, dass der epistemische Relativismus eine nicht überzeugende Theorie ist. Dabei erscheint ihm der Einwand aus der Normenzirkularität nicht stichhaltig, da wir, seiner Ansicht nach, bei der Begegnung mit einem fundamentalen alternativen epistemischen System durchaus in der Lage sein könnten, das eigene System als berechtigter gegenüber dem anderen zu rechtfertigen, etwa wenn dieses sich als inkohärent erweise. Die sich an Boghossians Überlegungen anschließende kritische Diskussion dreht sich insbesondere um die klassische Streitfrage, ob es tatsächlich autonome, sich fundamental unterscheidende und wechselseitig inkommensurable epistemische Systeme gibt, angesichts derer – auch für epistemic peers – keine Möglichkeit besteht, das eigene System gegenüber einem konkurrierenden als absolut berechtigt zu rechtfertigen. Epistemische Relativisten verweisen mitunter darauf, dass sich diese Streitfrage auf ein kategoriales, nicht auf ein komparatives Problem bezieht: Für die epistemische Relativistin ist es kategorial nicht möglich, ein bestimmtes epistemisches System als absolut berechtigt gegenüber einem alternativen System zu rechtfertigen. Trotzdem kann sie aber auch als Relativistin behaupten, dass ein epistemisches System in komparativem Sinne berechtigter oder angemessener sei als ein anderes. Epistemische Relativisten wenden sich dabei gegen die ihnen oft unterstellte »Equal Validity«-These, nach der für Relativisten alle epistemischen Systeme notwendig »gleichwertig« seien. 10 Als zweite aktuelle Debatte zum Relativismus möchte ich den Ansatz der »neuen« oder »wahren« Relativisten um Crispin Wright, John MacFarlane und Max Kölbel anführen (vgl. García-Carpintero/ Kölbel 2008; Baghramian/Carter 2018). Diese Variante eines semantischen oder alethischen Relativismus hat sich vor etwa zwanzig Jahren entwickelt und wird von ihren Vertretern bis heute immer weiter in technisch anspruchsvollen und diffizilen Entwürfen spezifiziert, dass man fragen muss, ob es sich noch um eine homogene relativisti10
Zur »Equal Validity«-These vgl. Boghossian 2006, 1 f.; kritisch dazu Kusch 2019b.
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sche Richtung handelt. Ein Ausgangspunkt für den Ansatz der »neuen« Relativisten war ihre Kritik am relativistischen Kontextualismus als eine bloß vorläufige Version des Relativismus. Indem der Kontextualismus das Problem unvereinbarer Geltungsansprüche p und nicht-p dadurch zu lösen versucht, dass er den Gehalt der beiden Propositionen als relativ zu verschiedenen Kontexten oder Umständen versteht, kann er zwar so etwas wie Irrtumsfreiheit aufzeigen; was dem Kontextualismus aber aus der Perspektive der »neuen« Relativisten fehlt, ist die Eigenschaft, genuine Meinungsverschiedenheit und Widersprüchlichkeit in Geschmacks- und Moraldisputen zum Ausdruck zu bringen. 11 Der Ansatz des »neuen« Relativismus will dieses Defizit beheben und eine »wahre« Version des Relativismus präsentieren, die unter dem Stichwort »faultless disagreement« sowohl Irrtumsfreiheit als auch genuine Meinungsverschiedenheit abzubilden beansprucht. 12 »Disagreement« bedeutet für die »neuen« Relativisten – verkürzt gesagt –, dass ein und dieselbe Proposition je nach unterschiedlichem Parameter des Geschmacks oder der Moral relative Wahrheitswerte haben und dadurch gleichzeitig für die eine Sprecherin wahr und für die andere falsch sein kann. Dies sei aus der Semantik möglicher Welten bekannt, bei der ein und derselbe Sachverhalt in der einen Welt wahr und in der anderen falsch sein könne. Das heißt: Eine Proposition ist für den »wahren« Relativismus nicht wahr oder falsch simpliciter, sondern wahr oder falsch relativ zu einem Parameter, etwa, so in MacFarlanes Version, zu einem jeweiligen Beurteilungskontext (»context of assessment«). Die Pluralität von Wahrheitswerten ergibt sich aus der Pluralität von Parametern mit ihren jeweiligen Wahrheitsbedingungen. Vertreter des »neuen« Relativismus behaupten, ihre Version des Relativismus sei in der Lage, auf die philosophische Herausforderung, dass in Moral- und Geschmackskonflikten zwei Urteile p und nicht-p widersprüchlich sein können, ohne dass einer der Urteilenden notwendig irre, eine Antwort geben zu können. Die breite Debatte um den »neuen« Relativismus untersucht beispielsweise kritisch die Fragen, ob es mit diesem Modell tatsächlich gelingt, genuine Meinungsverschiedenheit in dem beschriebenen Sinn überzeugend zum Ausdruck zu bringen, und »The Achilles’ heel of contextualism is the problem of lost disagreement« (MacFarlane 2014, 118). 12 John MacFarlane allerdings kritisiert das Vorhaben, »faultless disagreement« bei Geschmacksdisputen aufzeigen zu wollen (vgl. MacFarlane 2014, 133–136). 11
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ob es für die moralische Relativistin mit ihren Prämissen wirklich möglich ist, den eigenen moralischen Kodex, dessen Propositionen sie für relativ wahr hält, gegenüber einem anderen Kodex vorzuziehen. 13 Die dritte aktuelle Debatte um den Relativismus, die ich anführen möchte, geht aus von dem innovativen relativistischen Ansatz, den die New Yorker Philosophin Carol Rovane in den letzten Jahren, vor allem in ihrem Buch The Metaphysics and Ethics of Relativism von 2013, entwickelt hat (dazu vgl. Ludwig 2015). Eine angemessene Theorie des Relativismus sollte für Rovane vier Desiderata berücksichtigen: Sie sollte erstens eine klare Einsicht über ihren Gehalt vermitteln, zweitens offenlegen, dass es eine metaphysische Verpflichtung für Relativisten gibt, drittens Ressourcen enthalten, um dem Vorwurf der Inkohärenz begegnen zu können, und viertens erklären, wie man in praktischer Hinsicht sinnvoll mit dieser Theorie leben kann (vgl. Rovane 2013, 1 f.). Vor allem der letzte Aspekt, auf den ich am Schluss noch kurz eingehen will, ist bemerkenswert. Aber auch der zweite Aspekt, dass der Relativismus eine metaphysische Theorie sein soll, 14 dürfte manche Relativisten überraschen und provozieren. Welche Argumente bietet Rovane für diese These an? Unaufhebbare Meinungskonflikte in Moral- oder Präferenzdiskursen, die unter epistemisch idealen Bedingungen Anlass zu relativistischen Positionen geben, sind für sie nicht deswegen unauflösbar, weil wir die relevanten Tatsachen nicht kennen, die sie entscheiden könnten, sondern weil es ihr zufolge gar keine relevanten Tatsachen in dieser Hinsicht gibt. Damit wendet sich Rovane vor allem gegen eine Auffassung des »neuen« Relativismus bei Kölbel und MacFarlane, die sie »Disagreement Intuition« nennt und bei der ihr zufolge Meinungskonflikte unter antirealistischen Vorgaben allein erkenntnistheoretisch rekonstruiert werden. Mit der Behauptung, dass es keine Tatsachen gebe, die Peer-Konflikte entscheiden könnten, formuliert Rovane dagegen eine metaphysische Theorie des Relativismus, die gerade nicht antirealistisch ausgerichtet sein soll. Aus Rovanes Sichtweise gelingt es weder Kölbel noch MacFarlane, mit ihrer Relativierung von Wahrheitswerten auf moralische Standards oder BeurteiZur Kritik vgl. etwa Cappelen/Hawthorne 2009; Lynch 2011; Boghossian 2014; Baghramian/Coliva 2020, 77–84. 14 »[R]elativism is not an epistemological doctrine. It is a metaphysical doctrine« (Rovane 2011, 32). 13
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lungskontexte die Vorstellung eines genuinen Meinungskonflikts zu ein und demselben Sachverhalt überzeugend zu rekonstruieren. Entweder gibt es de facto keinen echten Dissens, weil beide Parteien wissen, dass ihre Urteile relativ zu dem jeweiligen Beurteilungsstandard wahr sind. Oder es gibt einen echten Dissens und beide Urteile können nicht zugleich wahr sein; dann aber ist das Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch verletzt und der relativistische Ansatz dem Vorwurf der Inkohärenz ausgesetzt. Um diesem Dilemma zu entkommen, argumentiert Rovane für die metaphysische Vorstellung alternativer Welten (»Alternatives Intuition«), der gemäß es – nicht nur in evaluativen Bereichen wie der Moral, sondern auch im Bereich natürlicher Tatsachen – nicht die eine Welt mit konfligierenden Ansichten gebe (»Unimundialism«), sondern verschiedene separate Welten (»Multimundialism«), die normativ abgeschlossen seien (»normative insularity«) (vgl. Rovane 2011, 31; Rovane 2015). Gemäß dieser »Alternatives Intuition« gibt es auch nicht die eine universale Wahrheit für alle Welten. Logische Relationen gelten Rovane zufolge nicht für alle Wahrheitswertträger, 15 sodass es Wahrheiten gebe, die man über Weltgrenzen hinweg nicht zusammen für wahr halten könne. Es könne vorkommen, dass es eine für den jeweiligen Standpunkt unzugängliche alternative Welt mit anderen Wahrheitsansprüchen gebe. Rovanes zentrales Beispiel für einen »Multimundialism« ist die fiktive Begegnung zweier Frauen mit unterschiedlichen moralischen Standards. Die eine ist tief verwurzelt in einer indischen Stammeskultur und hält es ganz selbstverständlich für geboten, ihr Leben an den Maßstäben ihrer Eltern und der Familie auszurichten. Die andere stammt aus einer US-Großstadt und vertritt einen individualistisch-liberalen Standpunkt ohne familiäre Konventionen und Verpflichtungen. Der unlösbare moralische Dissens beim Austausch der beiden Frauen sei faktisch aber keiner von unlösbaren Konflikten (im Sinne der »Disagreement Intuition«), sondern habe etwas mit Differenz (»difference«) zu tun und mit der Einsicht, dass die Welten und Standards der Frauen autonom und voneinander entkoppelt seien (»disengagement«) (vgl. Rovane 2015). Insofern gebe es hier weder einen Konflikt noch eine Übereinstimmung zwischen beiden Frauen,
Für Rovane spielt es dabei keine Rolle, was als Wahrheitswertträger jeweils angeführt wird, seien es »utterances, sentences, claims, beliefs, commitments, propositions, etc.« (Rovane 2011, 35).
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da keine weltunabhängige moralische Tatsache existiere, die entscheiden könnte, ob einer der beiden moralischen Standards falsch und der andere wahr ist. Rovane behauptet, dass ihr multimundialer Relativismus fähig sei, alle vier notwendigen Desiderata für relativistische Ansätze zu berücksichtigen. Ihr Konzept eines metaphysischen Pluralismus alternativer oder disparater Welten knüpft weniger an aktuelle Relativismus-Debatten über Meinungskonflikte an als an Vorstellungen einer Pluralität von Welten und inkommensurabler Erkenntnissysteme, die in unterschiedlicher Akzentuierung und mit relativistischer Schlagseite bereits von Rudolf Carnap, Benjamin Whorf, Nelson Goodman und Thomas S. Kuhn entwickelt worden waren und in den 1970er- bis 1980er-Jahren, vor allem im Umfeld der einflussreichen Kritik Donald Davidsons, kontrovers diskutiert wurden.
3.
Christlicher Glaube und Relativismus
Wie oben angedeutet, hat sich in den letzten Jahren auch innerhalb des christlichen Denkens eine kontroverse Diskussion um die Bedeutung und Tragweite relativistischer Auffassungen und Modelle für den Glauben entwickelt. Von christlicher Seite sind traditionell immer wieder Vorbehalte gegen den Relativismus formuliert worden. Dabei ist es vor allem das Lehramt der katholischen Kirche, das sich seit der Kritik am Modernismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart ausnahmslos und dezidiert gegen verschiedene Strömungen des Relativismus geäußert hat. Dieses Thema ist bislang noch nicht umfassend erforscht worden (vgl. Accetti 2015; Wäschenbach 2016; Bugiel 2018; Irlenborn 2018 und in diesem Band den Beitrag von Thomas Marschler). Grundsätzlich wäre zwischen einer thematisch-impliziten und einer terminologisch-expliziten Relativismus-Referenz des Lehramts zu unterscheiden. Ohne den Begriff zu gebrauchen, kritisiert das Lehramt bereits Ende des 19. Jahrhunderts relativistische Einstellungen, etwa im Kontext der Freimaurerei (vgl. dazu Wäschenbach 2016, 22 f.). Kritische Auffassungen zum Relativismus finden sich aber auch in der evangelischen Tradition. Nimmt man als Ausgangspunkt Dokumente und Verlautbarungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), liegt der Schwerpunkt der Kritik – verkürzt gesagt – in einem als problematisch empfundenen Indifferentismus als Konsequenz des Relativismus (vgl. Kirchenamt 26 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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der EKD 2015, 32; Kirchenamt der EKD 2014, 55). Diese Analysen sind jedoch, im Vergleich zu den scharfen Bedenken des Lehramts der katholischen Kirche, historisch deutlich jüngeren Datums, vom Vorkommen bloß sporadisch und vom Duktus der Kritik eher moderat. Im Binnenraum des christlichen Denkens lassen sich zurzeit – verkürzt gesagt – drei markante Positionen in Bezug auf die Herausforderung des Relativismus erkennen. Erstens der lehramtliche Antirelativismus der letzten Jahre, der die Kritik früherer Verlautbarungen in verschärfter und verallgemeinerter Form fortsetzt. In dessen Zentrum steht die Überzeugung, dass der universale metaphysische und moralische Geltungsanspruch der Kirche durch einen normativ auftretenden und sich gesellschaftlich immer weiter ausbreitenden kulturellen und wissenschaftlichen Relativismus von Grund auf infrage gestellt wird. In der katholischen Kirche endet der Antirelativismus-Diskurs nicht mit dem Pontifikat Benedikt XVI., sondern setzt sich ungebrochen in den Verlautbarungen von Papst Franziskus fort. Als Tendenz lässt sich dabei beobachten, dass relativistische Ansätze immer weniger mit philosophischer Begrifflichkeit analysiert und kritisiert werden. Mittlerweile erscheint der Relativismus als Grundübel für ganz verschiedene Phänomene, die als Verfallserscheinungen angeführt werden, beispielsweise als praktische Haltung des Atheismus (vgl. Franziskus 2013, Nr. 80), als Ausdruck eines technokratischen Machbarkeitswahns (vgl. Franziskus 2015, Nr. 122) oder als generelle kulturelle »Krankheit« mit den Folgen der menschlichen Ausbeutung und des Kindesmissbrauchs (vgl. Franziskus 2015, Nr. 123). Zweitens finden sich zahlreiche theologische Positionen, die sich selbst zwar nicht als relativistisch verstehen, den lehramtlichen Antirelativismus-Diskurs jedoch mit verschiedenen Argumenten als Indiz eines konservativen Antimodernismus, einer demokratieskeptischen Haltung, eines vormodernen Wahrheitsabsolutismus oder einer zeitgeschichtlichen Rückständigkeit kirchlicher Positionen kritisieren (genauer zu diesen Positionen vgl. Irlenborn 2018, 108–110). Drittens finden sich auch einige philosophisch-theologische Ansätze aus christlicher Tradition, die sich teils als explizit relativistisch, teils als dem Relativismus nahestehend verorten und unter verschiedenen Voraussetzungen von der Vereinbarkeit von Relativismus und Christentum ausgehen. Diese Ansätze sind aufschlussreich für die vorliegende Fragestellung, insofern sie sowohl für Verteidiger des lehramtlichen Antirelativismus als auch für theo27 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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logische Kritiker desselben, die ihren eigenen Ansatz nicht als relativistisch verstehen, provokativ sein dürften. Ich möchte drei Vertreter eines christlichen Relativismus anführen. Zum einen die Position von Gianni Vattimo, der sich als Christ bezeichnet und davon ausgeht, dass Gott heute nur noch als kenotischer bzw. relativistischer Gott gedacht werden könne (vgl. Vattimo 2008, 202). In der Linie Heideggers wendet sich Vattimo gegen jeglichen christlichen Essenzialismus und die Vorstellung eines ontotheologischen Gottes als metaphysische Letztbegründung für alles Seiende. Es ist nicht klar, was Vattimo genau unter »Relativismus« versteht, da er keine »Theorie« des Relativismus formulieren möchte (vgl. Girard/Vattimo 2008, 49). Vattimo scheint darunter – in Rekurs auf seine Absage an die Idee objektiver Wahrheit und sein Plädoyer für ein »schwaches Denken« – nicht mehr als die antiautoritäre und undogmatische Zulassung und Gleichberechtigung unterschiedlicher Meinungen zu verstehen (vgl. Girard/Vattimo 2008, 49; Vattimo 2018, 24 f.). Als zweiten Vertreter eines christlichen Relativismus möchte ich den US-Religionsphilosophen Joseph Runzo anführen. Runzos explizit relativistischer Ansatz, der sich sowohl als Kritik als auch als Revision der Religionstheologie John Hicks versteht, zielt darauf ab, Probleme der Religionspluralität zu lösen. Unter idealistischen und antirealistischen Vorzeichen geht Runzo davon aus, dass verschiedene Religionen unterschiedliche und wechselseitig unvereinbare Sets von Wahrheitsansprüchen haben, von denen er sagt, »each set of truth-claims is probably adequate in itself« (Runzo 2006, 71). 16 Wahrheit sei plural und stets relativ auf ein Weltbild bezogen. Mit diesen Thesen will Runzo einerseits das Selbstverständnis religiöser Menschen stärker als in Hicks Modell betonen und andererseits dem Pluralismus der Religionen und ihrer Wahrheitsansprüche Rechnung tragen, ohne eine von ihnen exklusivistisch herauszuheben. Ob Runzos Relativismus eher als die Pluralistische Religionstheologie Hicks dem Selbstverständnis religiöser Menschen entspricht, lässt sich bezweifeln. Denn für ihn setzt die unbedingte Anerkennung der Pluralität wahrer religiöser Geltungsansprüche die Relativierung von Wahrheit auf systemimmanente Korrektheit oder Angemessenheit
Vgl. auch Runzo 1986; ausführlicher zu Runzos Entwurf vgl. Irlenborn 2016, 51– 56.
16
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voraus, was eher zu einer Marginalisierung als einer Stärkung der religiösen Wirklichkeitsorientierung führen dürfte. Der dritte Vertreter eines christlichen Relativismus ist der kanadisch-amerikanische Philosoph James K. A. Smith, der am Calvin College in Michigan lehrt und durch seine zahlreichen, oft unkonventionellen Veröffentlichungen aus evangelikaler Perspektive bekannt ist. So versucht Smith, scheinbare Schreckgespenster für das christliche Denken wie Postmoderne oder Relativismus als vereinbar mit einer konservativ-orthodoxen Auffassung des Christentums zu erweisen. Für Christen gebe es keinen Grund, Angst vor relativistischem Denken zu haben – Who’s Afraid of Relativism? lautet der Titel seines einschlägigen Buches zum Thema. Smith behauptet sogar, Christen sollten Relativisten sein, und zwar aufgrund der biblischen Aussagen zur Schöpfung und Endlichkeit des Lebens: »My thesis is that Christians should be ›relativists‹, of a sort, precisely because of the biblical understanding of creation and creaturehood« (Smith 2014, 12).
Von einem von Ludwig Wittgenstein, Richard Rorty, Charles Taylor und Robert B. Brandom beeinflussten pragmatistischen Ansatz ausgehend kritisiert Smith den konventionellen christlichen Antirelativismus und Realismus von Joseph Ratzinger bis zu Alvin Plantinga. In diesem Spektrum scheint es Smith zufolge einen »ökumenischen Konsens« zum Thema des Relativismus zu geben: »We seem to have an ecumenical consensus here: relativism is the very antithesis of the ›absolute truth‹ […] we proclaim in the gospel« (Smith 2014, 16).
Dagegen sieht Smith kritisch im christlichen Absolutismus ein Ausweichen vor der theonomen Abhängigkeit der Schöpfung. Seine Argumentation verläuft in etwa so: Der Anspruch nach Absolutheit (»absoluteness«) stehe im Zentrum des menschlichen Sündenfalls. Insofern sollten sich Menschen sowohl die Kontingenz ihrer kreatürlichen Existenz als auch die Endlichkeit und Relativität ihrer Erkenntnis deutlich machen. Relativismus bedeute, alles sei relativ, mit Ausnahme von Gott selbst, und genau das sei die zentrale Aussage der christlichen Schöpfungslehre: »So rather than misusing the word ›relativism‹ to mean nothing matters, I am arguing that relativism means everything depends – and that such a claim is a radically creational, radically Chris-
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tian claim about the status of creaturehood, including creaturely knowing« (Smith 2014, 180).
Vor diesem Hintergrund kann für Smith keine Weltsicht einen irrelativen Wahrheitsanspruch für sich beanspruchen. Auch der christliche Glaube sei wahr allein relativ auf und abhängig von Christus und dem biblischen Zeugnis, wie es in der christlichen Gemeinschaft tradiert und gelebt werde. Für Smith ist es absurd und anmaßend, zu behaupten, die Glaubensaussagen seien unabhängig von den Verständniskategorien des Christentums objektiv wahr, weil sie mit einer extramentalen Wirklichkeit übereinstimmten. Entscheidend für das christliche Selbstverständnis sei nicht primär die kognitive Bedeutung propositionaler Glaubenssätze, sondern die Praxis der Gemeinde, die sich aus der Grammatik dieser Lehren ergebe oder zeige – so Smith unter Rekurs auf George A. Lindbecks klassisches Buch The Nature of Doctrine (Lindbeck 1984; vgl. Smith 2014, 151–178). Das heißt zusammengefasst: Allein der pragmatistische Relativismus kann für Smith aus christlicher Perspektive die kreatürliche Abhängigkeit von Gott angemessen zum Ausdruck bringen. Ist der Entwurf von Smith überzeugend? Positiv zu vermerken ist, dass Smith geschickt und mit philosophisch-theologischer Rückendeckung die eingefahrene und reflexhaft verteidigte Konvention eines christlichen Antirelativismus infrage stellen oder gar entzaubern will. Der von ihm eingeforderte Perspektivenwechsel – traditionelle Christen müssten aus theologischen Gründen Relativisten sein – ist provokativ und nötigt zum kritischen Überdenken der Reichweite und Überzeugungskraft der eigenen Position. Dabei wird allerdings auch schnell deutlich, dass zahlreiche Fragen bei Smith offen bleiben oder nur oberflächlich bedacht werden. So wäre zum einen zu prüfen, ob sein Entwurf nicht den grundsätzlichen Unterschied zwischen einem Relationismus oder deskriptiven Relativismus auf der einen Seite und einem normativen Relativismus auf der anderen Seite einzieht. Dass alles von Entstehungskontexten abhängig ist, ist fraglos trivial. Trotzdem gilt es, zwischen Genese und Geltungslogik genau zu unterscheiden, wenn man den Anspruch von wahrheitsfähigen Aussagen nicht immer schon von vornherein auf ihren Entstehungskontext reduzieren will. Mir scheint insofern, dass Smith einen Relationismus im Blick hat, wenn er von Relativismus spricht. Weiterhin bleibt bei Smith offen, welche Konsequenzen sein religiöser Relativismus für die christliche Rechtfertigungspraxis nach 30 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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sich ziehen würde. Seine philosophisch angelegte Argumentation zielt offenkundig weniger auf eine natürliche Theologie zur Rechtfertigung christlicher Aussagen vor dem Forum säkularer Vernunft als auf die performative Plausibilität der Bekenntnis- bzw. Bezeugungspraxis der christlichen Gemeinde. Unklar bleibt dabei in Smiths Entwurf, wie die doktrinale Eigenlogik des Glaubenssystems mit der Präferenz praktischer Bezeugung vor dem Vorwurf fideistischer Exklusivität und Binnenorientierung gerechtfertigt werden kann. Zugespitzt könnte man von daher fragen: Versucht Smith nicht philosophisch zu begründen, warum das Christentum philosophisch nicht begründet werden kann?
4.
Ausblick
Mein Beitrag lässt die Frage offen, ob lokale oder globale Versionen des Relativismus sinnvolle oder überzeugende Strategien zur Lösung eines philosophischen Problems darstellen. Was immerhin deutlich werden sollte, ist, dass diese Frage undifferenziert und ohne die Kenntnis bestimmter Unterscheidungen und Debatten nicht angemessen beantwortet werden kann. Auf einen Punkt möchte ich am Schluss noch hinweisen: In der subtilen Debatte um die Plausibilität des Relativismus und der verschiedenen Selbstaufhebungsargumente in den letzten Jahren (vgl. Schmitt 2018) kam eine Frage zumeist gar nicht vor: Was würde für Individuen oder Kollektive in ihrer epistemischen oder existenziellen Orientierung konkret folgen, wenn der normative Relativismus in seiner jeweilig behaupteten lokalen oder globalen Variante, die diese Individuen oder Kollektive betrifft, wahr wäre? Die Frage, wie der Relativismus nicht bloß als Theorie, sondern als Regulativ für eine Lebenspraxis verstanden werden kann, ist in den Diskussionen der letzten Jahre ausgeblendet worden. Carol Rovane bildet hier eine Ausnahme mit der von ihr als Desiderat für die relativistische Theoriebildung vermerkten Frage, wie wir sinnvollerweise leben könnten, falls der metaphysische Relativismus wahr wäre. Die Antwort, die sie in Bezug auf das von ihr skizzierte Beispiel der Begegnung zweier Frauen – die eine mit liberalem nordamerikanischen Bildungshintergrund und die andere mit der Verwurzelung im traditionellen indischen Stammesdenken – gibt, ist allerdings meiner Ansicht nach ernüchternd:
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»[W]e shall have to acknowledge as well that we have nothing to teach, and nothing to learn from, other people who reside outside of those boundaries – that is the practical implication of their inhabiting a different world« (Rovane 2013, 10).
Welche Ansichten damit genau gemeint sind, erläutert Rovane an anderer Stelle wie folgt: »It follows that there may be persons whom we cannot teach and from whom we cannot learn – not on all matters, but on those matters concerning which of our beliefs are normatively insulated from theirs« (Rovane 2011, 38).
Diese praktische Folgerung, die Rovane konsequent aus ihrem Ansatz des »Multimundialism« und der »normative insularity« ableitet, dürfte, wenn man sie beherzigte, gesellschaftspolitisch eher als autistische Drohkulisse denn als pluralistischer Problemlöser erscheinen. Verstärkte Prozesse der Individualisierung und Singularisierung in den Lebenswelten westlicher Gesellschaften (vgl. etwa Reckwitz 2018) legen die ernüchternde Vermutung nahe, dass man die von Rovane vorgeschlagene Grenzziehung nicht erst in Bezug auf Angehörige fremder Kulturen, sondern schon viel früher, in Bezug auf entfremdete Mitmenschen im je eigenen Lebenskontext, ziehen müsste. Was folgte für unsere epistemische und existenzielle Orientierung, wenn wir tatsächlich davon ausgehen müssten, es gäbe in Bezug sowohl auf existenzielle Probleme unseres eigenen Lebens als auch auf die Begegnung mit Mitmenschen und Fremden eine solche radikale Inkommensurabilität von Verständnishorizonten? Diese Rückfrage gilt nicht nur für Rovanes Entwurf. Was hieße es für uns, wenn wir bei der argumentativen Austragung wichtiger moralischer Konflikte stets mit dem Diskussionsabbruch durch Fälle von »faultless disagreement« rechnen müssten? Was bedeutete es für christlich Gläubige, wenn sie in ihrer religiösen Einstellung davon auszugehen hätten, dass ihr Gott entweder – Vattimo zufolge – als merkwürdiger Relativist verstanden werden müsse oder dass ihr Glauben – Runzo und Smith zufolge – die soteriologische und transformative Ausrichtung auf die Welt aufzugeben habe, da er bloß relativ zum christlichen Sprachspiel wahr sei? Wie auch immer man diese Fragen beantwortet, es bleibt als Desiderat, dass Relativistinnen und Relativisten nicht nur zu zeigen hätten, warum der Absolutismus als Theorie aus ihrer Sichtweise falsch oder unangemessen und der Relativismus als Theorie wahr oder über32 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Relativismus: Philosophische Debatten und theologische Herausforderungen
zeugend ist, sondern auch, welche praktischen Haltungen bzw. Einstellungen sich mit der Annahme ergeben, dass der Relativismus wahr ist. Diese Forderung muss in der Debatte selbstverständlich auch für Absolutisten gelten; denn auch sie müssen zeigen – etwa angesichts des beständigen Vorwurfs, ihre Überzeugungen neigten zu epistemischem Zwang und faktischer Gewalt –, welche Haltungen bzw. Einstellungen sich mit der Annahme ergeben, dass der Relativismus falsch ist.
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Bernd Irlenborn
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Das Spektrum des epistemischen Relativismus Martin Kusch
1.
Einleitung
Es ist das typische Schicksal philosophischer ›Kampfbegriffe‹, dass ihr Inhalt nur selten detailliert analysiert wird. »Relativismus« ist ein offensichtliches Beispiel. Der Begriff wird häufig benutzt, um gegnerische Positionen zu diskreditieren; dabei wird vorausgesetzt, alle Seiten seien sich über seine Bedeutung einig. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings schnell, dass genau dies nicht der Fall ist. AutorInnen, die sich zum Relativismus bekennen, und VerfasserInnen, die ihn attackieren, gehen in der Regel von sehr verschiedenen Interpretationen des Begriffs aus. Um hier Fortschritte in der philosophischen Diskussionskultur zu ermöglichen, bedarf es einer genaueren Analyse des Begriffs des Relativismus und des Spektrums an Positionen, auf die der Begriff sinnvollerweise angewandt werden kann. Eine solche Analyse ist das Ziel der folgenden Untersuchung. Ich werde mich dabei auf den epistemischen Relativismus beschränken. Diese Studie ist ein Prolegomenon für eine Prüfung der Argumente für und gegen den epistemischen Relativismus. Hier leitet mich der Gedanke, dass es wenig Sinn macht, Überlegungen für und wider eine Position zu formulieren, bevor man nicht weiß, welche Thesen diese Position involviert.
2.
Formen des Relativismus
Verschiedene Formen des Relativismus lassen sich als unterschiedliche Instanziierungen des Schemas »x ist relativ auf y« verstehen (vgl. Haack 1998, 149):
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Das Spektrum des epistemischen Relativismus »x« steht für …
Formen des Relativismus
Gegenstände, Eigenschaften, Tatsachen, Welten
ontologisch
Wahrheit
alethisch oder semantisch
Klassifikationen, Begriffe, Bedeutungen
semantisch
moralische Werte, Normen, Rechtfertigungen
moralisch
Wissen oder epistemische Rechtfertigung
epistemisch
Geschmäcker
gustatorisch
»y« steht für …
Formen des Relativismus
Individuen
protagoräisch
Kulturen
Kulturrelativismus
wissenschaftliche Paradigmen
kuhnisch
Klassen, Religionen, Geschlechter
Standpunkt-Relativismus
Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft deskriptiven, methodischen und normativen Relativismus. Nehmen wir als Beispiel einen Relativismus bezüglich der Religion. Deskriptive RelativistInnen bezüglich der Religion vertreten die Ansicht, dass verschiedene Religionen auf fundamental verschiedenen Annahmen beruhen. Methodische RelativistInnen fordern, dass verschiedene Religionen zu untersuchen seien, als ob sie gleichwertig wären. Normative religiöse RelativistInnen behaupten, keine Religion sei absolut richtig oder wahr. Natürlich gibt es hier dann weitere Debatten um die Frage, was genau unter »absolut richtig oder wahr« zu verstehen ist. Darauf werde ich unten noch genauer eingehen. Im Folgenden wird es vor allem um den normativen epistemischen Relativismus gehen. Dieser Ausdruck steht – wie wir sehen werden – für ein Spektrum von Positionen, die sich in wichtigen Hinsichten voneinander unterscheiden. Um dieser Vielfalt Rechnung zu tragen, brauchen wir also eine Charakterisierung des normativen epistemischen Relativismus, welche in einer Reihe von Dimensionen Alternativen ausdrücklich zulässt (vgl. Kusch 2019; Kusch 2020a).
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Martin Kusch
3.
Die Abhängigkeitsthese
Eine erste Schlüsselthese des normativen epistemischen Relativismus besagt, dass Urteile, Propositionen, Überzeugungen, Handlungen und mentale Zustände einen epistemischen Status nur abhängig von epistemischen Standards haben können. »Epistemischer Status« verweist hier auf »Wissen«, »Weisheit«, »(Epistemische) Rechtfertigung«, »(Epistemische) Zuverlässigkeit«, »Wahrscheinlichkeit«, sowie deren Verneinungen. Diese Status schreiben wir verschiedenen Entitäten zu: (a) Urteile und Propositionen sind die Bedeutungen von Aussagesätzen, und damit wahr oder falsch. Ich schreibe im Folgenden Sätze in Anführungszeichen, Urteile und Propositionen kursiv. Die Proposition Die Katze ist auf dem Dach kann also bezogen auf eine bestimmte Person und ihre mentalen Zustände den Status von »Wissen« haben. (b) Überzeugungen sind das psychologische Pendant eines Urteils, einer Proposition oder eines Aussagesatzes. Die klassische Analyse des Wissens lautet bekanntlich: Wissen ist gerechtfertigte wahre Überzeugung. Hieran zeigt sich bereits, dass Überzeugungen in unserem System epistemischer Status eine wichtige Rolle zukommen. (c) Handlungen und mentale Zustände: Manche unserer Handlungen sind »epistemisch« insofern, als sie für den Erwerb von Wissen, Weisheit oder epistemischer Rechtfertigung wesentlich sind. Wir bewerten daher viele unserer Handlungen nach epistemischen Gesichtspunkten. Wir sagen zum Beispiel, dass ein bestimmtes methodischen Handeln »epistemisch zuverlässig« ist, und meinen damit, dass ein solches Handeln sehr viel mehr wahre als falsche Urteile, Propositionen oder Überzeugungen generiert. Wir sprechen auch mentalen Zuständen epistemischen Status zu. Zum einen deshalb, weil bewusste Überzeugungen Zustände unseres Geistes sind. Aber nichtbewusste Zustände können ebenfalls epistemisch besser oder schlechter sein: Zum Beispiel können nichtbewusste Zustände – also etwa abgespeicherte, bloß als Dispositionen vorliegende Überzeugungen – uns epistemisch legitimieren, bei einer bestimmten Überzeugung zu bleiben.
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Das Spektrum des epistemischen Relativismus
Auch der Begriff »Standard« verlangt nach einer weiteren Differenzierung. Manche PhilosophInnen – ich werde sie »RegularistInnen« nennen – verstehen unter »Standards« explizit formulierte Normen (vgl. Dancy 2017). Manchmal werden diese Normen dann noch genauer entweder als Propositionen (= x) oder als Imperative (= y) aufgefasst (vgl. Boghossian 2006, 87; Field 2009, 259). Ein Beispiel mag hier genügen: (x) Man sollte seine Überzeugungen über die Existenz von Mondbergen an mit Fernrohren gewonnenen Daten orientieren. (y) Orientiere deine Überzeugungen über die Existenz von Mondbergen an mit Fernrohren gewonnenen Daten! Viele ErkenntnistheoretikerInnen gehen davon aus, dass epistemische Standards im Alltag oder in der Wissenschaft nur selten explizit formuliert werden und dass sie auch nur schwer (wenn überhaupt) zu verbalisieren sind. Explizite Formulierungen von Normen sind erst das Ergebnis mühsamer philosophischer Arbeit. Sie sind Hypothesen, mittels derer philosophische BeobachterInnen eines epistemischen Subjekts dessen epistemische Urteile zu systematisieren suchen. Anders ausgedrückt, müssen die Normen, welche das Verhalten des Subjekts beschreiben, diesem nicht bewusst sein. Das epistemische Subjekt hat in diesem Fall eine bestimmte Disposition, zu urteilen und Überzeugungen zu bilden. Aber das Subjekt ›folgt‹ nicht dieser Disposition; es ›hat‹ einfach diese Disposition (vgl. die Disposition zu schwitzen, wenn die Raumtemperatur in die Höhe schießt). Nicht alle ErkenntnistheoretikerInnen sind »RegularistInnen«. Die Alternative zum Regularismus ist der »Partikularismus« (vgl. Dancy 2017; Kusch 2020c). PartikularistInnen finden die Rede von (bewussten oder unbewussten) »Normen« überhaupt irreführend. Beim Zuschreiben von epistemischem Status orientierten wir uns an »Präjudizien« oder »exemplarischen Vorläufern«. Das heißt, wir bewerteten etwa die Begründung einer astronomischen Theorie danach, inwiefern sie früheren, von der Wissenschaft als vorbildhaft eingestuften Begründungen astronomischer Aussagen ähnelte. PartikularistInnen betonen in diesem Zusammenhang die Rolle der Analogie: Die gute Begründung hier und jetzt ist diejenige Begründung, die einem relevanten Vorbild analog gebildet ist. Das Wesentliche an der Analogie ist dabei, dass sie sich von der Identität unterscheidet. Keine 39 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Martin Kusch
zwei Situationen sind je in jeder Hinsicht identisch, und daher gibt es immer auch einen gewissen Verhandlungsspielraum für Bewertungen relevanter Analogien. RegularistInnen werfen den PartikularistInnen vor, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Orientierung an Vorbildern ließe sich – so meinen sie, zumindest aus der Beobachterperspektive – immer noch als eine Norm formulieren. Wenn Galileo die Disposition habe, sich an Kopernikus’ Vorbild zu orientieren, dann könne man auch eine Norm formulieren, der diese Disposition konform gehe. PartikularistInnen versuchen hiergegen zwei Argumente stark zu machen. Einerseits betonen sie das Desideratum, an das Verständnis der epistemischen Subjekte selbst anzuknüpfen. Und epistemische Subjekte würden mehr in Kategorien von Präjudizien und Vorbildern als in Kategorien von Dispositionen und Regeln denken. Andererseits meinen PartikularistInnen, zeigen zu können, dass die Orientierung an Präjudizien von vielfältigen kontingenten Faktoren abhänge. Und die variable Rolle dieser kontingenten Faktoren ließe sich nicht durch Normen einfangen. RegularistInnen stellen sich typischerweise die Menge der Normen eines (individuellen oder kollektiven) Subjekts fundamentalistisch als ein hierarchisches »System« vor (vgl. Boghossian 2006): Manche Normen sind fundamentaler als andere, und zwar in dem doppelten Sinn, dass weniger fundamentale Normen aus fundamentaleren Normen folgen und dass weniger fundamentale Normen nur aufgrund der fundamentalen Normen verständlich und sinnvoll sind. PartikularistInnen neigen eher dazu, sich an der Kohärenztheorie der Rechtfertigung zu orientieren (vgl. Bloor 2011). Präjudizien kohärieren miteinander und mit den an ihrem Vorbild orientierten sonstigen epistemischen Leistungen. Zuletzt ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass epistemische Standards ganz verschiedene Rollen in unserem epistemischen Leben spielen können: Manchmal handeln wir in Konformität mit ihnen (auch ohne, dass sie uns bewusst sind); manchmal lassen wir uns explizit von ihnen leiten; manchmal verpflichten wir uns auf sie; und manchmal urteilen wir ihnen gemäß (vgl. Field 2009, 271).
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Das Spektrum des epistemischen Relativismus
4.
Die Pluralitätsthese
Diese zweite These lautet, dass es mehr als eine Menge von epistemischen Standards gibt, gegeben hat oder geben könnte. Zwischen epistemischen Standards ist eine Vielzahl von Beziehungen möglich: Manche Standards können zur Rechtfertigung anderer Standards verwendet werden; manche Standards sind anderen analog nachgebildet; manche Standards werden häufig gleichzeitig benutzt; manche Standards kohärieren miteinander etc. Andere Standards passen nicht zueinander: Sie schließen einander aus, widersprechen einander. Ist also Kohärenz ein Kriterium für akzeptable Mengen (möglicher und wirklicher) epistemischer Standards, muss es mehr als eine solche Menge geben. Diese verschiedenen Mengen von Standards sind dabei typischerweise auf verschiedene Individuen und Gruppen verteilt. Wir können uns das Verhältnis von Individuen und Gruppen und ihren jeweiligen Standards nach dem Vorbild von Sprachen vorstellen (vgl. Stich 1990). Jedes Individuum hat seinen eigenen Idiolekt, teilt aber mit seiner Gruppe einen Soziolekt. (Ich vernachlässige hier, dass ein Individuum zu vielen Gruppen gleichzeitig gehören kann.) Auf analoge Weise orientiert sich jede und jeder von uns an einer je eigenen Kombination verschiedenster epistemischer Normen oder Präjudizien. Gleichwohl ist die große Mehrzahl dieser Normen oder Präjudizien mit anderen geteilt. Natürlich gehören wir alle auch zu ganz verschiedenen sozialen und epistemischen Gruppen, je nachdem, ob wir etwa RichterInnen oder SchiedsrichterInnen, WissenschaftlerInnen oder KünstlerInnen sind. Jede dieser Berufsgruppen hat wenigstens einige epistemische Standards, die sie mit den anderen Berufsgruppen nicht teilt. Ich nenne eine Gruppe »epistemisch«, wenn eine ihrer wesentlichen Funktionen darin besteht, in einem für die Gruppe wichtigen Bereich zu Wissen, Weisheit oder einem anderen erstrebenswerten epistemischen Status zu gelangen. (Ich lasse hier offen, ob es überhaupt Gruppen gibt, die nicht epistemisch in diesem Sinne sind.) Das Verhältnis von epistemischer Gruppe und Mengen epistemischen Standards ist ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit: Wir können eine epistemische Gruppe über ihre Menge epistemischer Standards definieren und eine Menge epistemischer Standards über die Gruppe, welche diese Standards akzeptiert. Diese Wechselseitigkeit ist kein problematischer Zirkel, sondern markiert
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zwei mögliche Wege, zu einer Bestimmung von epistemischen Gruppen oder Mengen epistemischer Standards zu kommen. Wichtig an der Formulierung der Pluralitätsthese ist, dass sie nicht nur von tatsächlich in der Gegenwart existierenden, sondern auch von vergangenen und möglichen Standards und Mengen von Standards spricht. Der normative epistemische Relativismus ist nicht widerlegt, sollten wir zu einem bestimmten Zeitpunkt nur eine kohärente Menge epistemischer Standards identifizieren können. Zu fragen ist in einem solchen Fall, warum ein solches »monistisches« Szenarium vorliegt. Sind die Gründe hierfür kontingent, dann ist der Relativismus in seinem Anspruch auf Richtigkeit nicht beeinträchtigt. Ein Vergleich aus dem Bereich des Geschmacks mag dies verdeutlichen. Auch wenn es Coca Cola mithilfe intensiver Werbung gelungen wäre, die gesamte Menschheit zu ihrem Getränk zu bekehren, wäre damit noch nicht die Absolutheit der Geschmacksurteile erwiesen. Abschließend ist noch ausdrücklich hervorzuheben, dass die Pluralitätsthese nicht besagt, verschiedene epistemische Gruppen hätten gar keine epistemischen Standards gemeinsam. Das wäre sicherlich eine unrealistische Annahme. Die Pluralitätsthese ist damit vereinbar, dass selbst ein Großteil unserer epistemischen Standards mit anderen epistemischen Gruppen geteilt ist. Die Pluralitätsthese beinhaltet lediglich, dass es eine gewisse Anzahl von wichtigen Standards gibt, die nicht geteilt sind, und deren Verschiedenheit nicht bloß eine Frage der verbalen Formulierung ist.
5.
Die Konfliktthese
Die dritte zentrale These des normativen epistemischen Relativismus macht explizit, was am Anfang des letzten Abschnitts bereits angedeutet wurde: Die Anwendung des normativen epistemischen Relativismus auf das Verhältnis zweier Mengen von epistemischen Standards ist nur dann legitim, wenn sich die auf diesem Standards beruhenden epistemischen Beurteilungen gegenseitig ausschließen. Zwei Arten der Ausschließung müssen hierbei unterschieden werden (vgl. Williams 1981). Gemäß der ersten Art schließen sich die beiden Beurteilungen direkt aus, so wie sich zwei Propositionen p und nichtp ausschließen. Die zweite Art sind Fälle, in denen Mitgliedern der
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Das Spektrum des epistemischen Relativismus
epistemischen Gruppe G1 die epistemischen Beurteilungen von Mitgliedern der epistemischen Gruppe G2 unverständlich sind. Beispiele für die erste Art sind leicht zu finden. Nehmen wir etwa den Konflikt zwischen Galileo und seinen Gegnern. Cesare Cremonini verneinte den Satz: »Galileos Beobachtungen des Mondes mit Hilfe des Fernrohrs haben bewiesen, dass der Mond Berge hat.« Galileo und seine Verbündeten bejahten den Satz. Die beiden Seiten widersprachen sich also. Im Hintergrund von Cremoninis Verneinung stand seine Überzeugung, dass astronomische Beobachtungen mit Fernrohren unzuverlässig seien. Galileo hingegen akzeptierte den epistemischen Standard, wonach astronomische Beobachtungen mit Fernrohren möglich sind. Beispiele der zweiten Art sind vor allem durch die Arbeiten von Thomas Kuhn zur kopernikanischen Revolution und wissenschaftlichen Revolutionen augenfällig geworden (vgl. Kuhn 1957; Kuhn 1962). Kuhn behauptet, die WissenschaftlerInnen vor und nach einer wissenschaftlichen Revolution lebten »in verschiedenen Welten«, verwendeten verschiedene »inkommensurable« Taxonomien und könnten einander oftmals nicht verstehen. Kuhn zufolge hatte der Begriff »Erde« für die GeozentristInnen eine andere Bedeutung als für die HeliozentristInnen. Für Erste enthielt der Begriff die semantische Komponente »unbeweglicher Körper am Mittelpunkt der Welt«, für Letztere nicht. Daher waren Sätze wie »Die Erde ist nicht der unbewegliche Körper am Mittelpunkt der Welt.« für die GeozentristInnen nicht einfach falsch: Sie waren unsinnig – so unsinnig, als würden wir von einem »runden Quadrat« sprechen. Ob Kuhn hiermit Recht hat, braucht hier nicht entschieden zu werden. Wichtig ist hier allein, dass es – zumindest als begriffliche Möglichkeit genommen – Sinn macht, die beiden Fälle der Ausschließung zu unterscheiden. Auch im Falle der Konfliktthese sei noch einmal betont, dass die Ausschließung gewissermaßen nur die Beziehungen der epistemischen ›Summen‹ der beiden Mengen von epistemischen Standards betrifft. Einzelne ›Summanden‹ der beiden Mengen können – über die Mengengrenzen hinweg – vereinbar oder sogar identisch sein. Natürlich gab es auch zwischen Galileo und Cremonini Übereinstimmungen in ihren epistemischen Beurteilungen, und Cremonini konnte viele von Galileos astronomischen Aussagen durchaus verstehen.
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6.
Die Bekehrungsthese
Auch diese These knüpft begrifflich an Kuhns Arbeiten an. Kuhn spricht bekanntlich davon, dass der Übergang vom alten zum neuen »Paradigma« den Charakter einer »Bekehrung« habe. Leider sagt er aber zu wenig, was er sich genau unter einer »Bekehrung« vorstellt. Auch die zusätzliche Metapher des »Gestaltwechsels« ist nur begrenzt hilfreich. Es scheint mir daher sinnvoll, die Rede von Bekehrung durch den Begriff der »kontingenten Abwägung« zu präzisieren. In einer wissenschaftlichen »Krise« müssen die WissenschaftlerInnen zwei »Leistungsbilanzen« gegeneinander abwägen: Das alte Paradigma hat, über viele Jahre hinweg, sehr viele bedeutende Erfolge ermöglicht, dabei aber auch eine Menge von ungelösten Problemen – sogenannte »Anomalien« – angehäuft. Das neue Paradigma scheint einige dieser Anomalien auflösen zu können, ist aber bisher wenig mehr als ein vages Versprechen. Es hat vorerst nur einige wenige beeindruckende Leistungen erbracht. Was wiegt mehr: die vielen Erfolge des alten Paradigmas oder die wenigen, aber vielversprechenden Leistungen des neuen? Der wichtige Punkt ist, dass es für diese Entscheidung keine klaren, eindeutigen und vor allem keine »neutralen« Standards gibt. Beide Seiten können auf bestimmte ihrer Standards verweisen, welche ihr jeweiliges Paradigma favorisieren. Hier kann nur eine kontingente Abwägung der verschiedensten Gesichtspunkte eine Entscheidung herbeiführen. Das Attribut »kontingent« ist dabei wesentlich: Es soll deutlich machen, dass die Abwägung auf verschiedene Weisen erfolgen kann und dass hier vernünftige WissenschaftlerInnen zu verschiedenen Ergebnissen kommen können (vgl. Kinzel/Kusch 2018). Anders gesagt: Es gibt keinen rationalen Zwang, so und nicht anders zu entscheiden. Und weil ein solcher rationaler Zwang nicht vorliegt, muss dann auch – wie Kuhn zurecht betont – beim Übergang von einem Paradigma zum anderen oder einer Menge von Standards zu einer anderen »Überredung« eine wichtige Rolle spielen. Diese Überredung muss dabei in der Regel auf eine Vielzahl von Faktoren verweisen, auf Interessen, Werte und Emotionen. Der Verweis auf epistemische Normen oder Präjudizien allein reicht nicht aus. Man darf sich dabei den Übergang von einer Menge von Standards zu einer anderen natürlich nicht als einen völligen ›Kehraus‹ vorstellen. Nicht alle Standards sind von einem solchen Übergang betroffen: Viele epistemische Normen oder Präjudizien wurden zum 44 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Das Spektrum des epistemischen Relativismus
Beispiel von den aristotelischen Geozentristen und den kopernikanischen Heliozentristen geteilt. Was sich änderte, war also nur eine Teilmenge der Standards. Aber die Elemente dieser Teilmenge waren gewichtig genug, um von einem »fundamentalen Wandel« zu sprechen – oder, mit Kuhn, von einem »Paradigmenwechsel«.
7.
Die Symmetriethese
Die fünfte These – mit ihren verschiedenen Deutungen – ist der vielleicht schwierigste und zentralste Teil des normativen epistemischen Relativismus. Die These lautet, dass verschiedene Mengen von Standards epistemisch »symmetrisch« sind. Das ist bewusst vage gehalten, damit wichtige, aber doch recht verschiedene Ideen hierunter subsumiert werden können. Die erste Weise, die Symmetriethese zu verstehen, nenne ich die »Lokalitätsdeutung« (vgl. Barnes/Bloor 1982). Nach ihr sind alle Mengen von epistemischen Standards insofern symmetrisch, als sie alle ausschließlich auf lokalen, kontingenten und verschiedenen Ursachen der Glaubwürdigkeit beruhen. Die Lokalitätsdeutung insistiert, dass es, über derartige lokale Ursachen hinaus, keine weiteren Ursachen der Glaubwürdigkeit gibt, also keine Ursachen, wie sie AbsolutistInnen vorschweben. Die Lokalitätsdeutung wird oft mit einer »Unterbestimmtheitsthese« verbunden: Danach werden unsere epistemischen Standards weder durch die Struktur der Welt noch durch die Struktur der Rationalität (im Singular!) bestimmt. Die lokalen (psychologischen und sozialen) Umstände der jeweiligen epistemischen Gruppe sind immer ausschlaggebend. VertreterInnen der Lokalitätsdeutung schreiben dabei ihren absolutistischen GegnerInnen folgende Ansichten zu: Die einzig richtigen epistemischen Standards sind • • • •
Ideen, die jedes rationale Wesen akzeptieren solle oder immer schon akzeptiere; neutrale und höchst zuverlässige Instrumente, um die Wahrheit zu finden; in jeder rational plausiblen Menge von epistemischen Standards vorhanden; geeignet, epistemischen Subjekten das Erreichen von »ohnehin vorhandenen« Wahrheiten zu ermöglichen; und 45 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Martin Kusch
•
Ideen, die zumindest von einer idealen Wissenschaft aufgefunden und verwendet würden (vgl. Kusch 2020b).
Die Lokalitätsdeutung verbietet nicht, dass eine epistemische Gruppe G1 im Lichte ihrer epistemischen Standards die epistemischen Beurteilungen, Standards und Handlungen einer anderen epistemischen Gruppe G2 kritisiert. Anders gesagt, verlangt die Lokalitätsdeutung nicht, dass G1 die Standards von G2 toleriert oder als ›ebenso wahr‹ oder ›ebenso gültig‹ wie die Standards von G1 anerkennt. Die Lokalitätsdeutung fordert nur, dass die KritikerInnen aus G1 in dem Bewusstsein handeln, dass weder die epistemischen Standards von G1 noch die epistemischen Standards von G2 absolute Gültigkeit haben. Eine zweite Lesart der Symmetriethese ist die »Deutung der Nicht-Neutralität«. Sie lautet, dass eine Bewertung und evaluative Reihung von Mengen epistemischer Standards immer noch unter Voraussetzung einer dieser Mengen möglich ist. Es gibt also keinen punctum archimedis, von dem aus solche Mengen neutral und voraussetzungslos als besser oder schlechter eingeschätzt werden können. Manche AbsolutistInnen meinen, ein solcher punctum archimedis sei die Wahrheit: Verschiedene epistemische Standards ließen sich aufgrund ihrer Zuverlässigkeit bewerten, das heißt bezüglich der Frage, ein wie hoher Prozentsatz der von ihnen verursachten Überzeugungen wahr sei. Normativ-epistemische RelativistInnen lehnen dies ab. Nach ihrer Ansicht ist Zuverlässigkeit kein neutraler Standard. Zum Beispiel würden verschiedene epistemische Gruppen die relative Wichtigkeit von wahren Überzeugungen anders einschätzen. Die Lokalitätsdeutung beinhaltet die Deutung der Nicht-Neutralität, aber nicht umgekehrt. Wer glaubt, dass wir immer nur im Lichte von lokalen und kontingenten Kriterien entscheiden, wird natürlich auch annehmen, dass eine evaluative Reihung von Mengen von epistemischen Standards nicht absolutistisch gedacht werden kann. Die Deutung der Nicht-Neutralität impliziert hingegen nicht die Lokalitätsdeutung; die Ursachen für die Nicht-Neutralität mögen ja auch anderswo als in der Annahme von unweigerlich lokalen Ursachen der Glaubwürdigkeit liegen. Die dritte Interpretation der Symmetriethese ist die »Deutung der Nicht-Bewertbarkeit« (Williams 1981): Für bestimmte Paare von epistemischen Gruppen G1 und G2 (mit ihren je eigenen Mengen epistemischer Standards) gilt, dass die von G1 (aufgrund ihrer Standards) verwendeten evaluativen Begriffe sich auf die epistemischen 46 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Das Spektrum des epistemischen Relativismus
Standards, Handlungen und Bewertungen von G2 nicht sinnvoll anwenden lassen. Im Gegensatz zur Deutung der Nicht-Neutralität und der Lokalitätsdeutung ist hiermit also eine Kritik von G1 an G2 als illegitim ausgeschlossen. Diese Ansicht lässt sich vielleicht durch Überlegungen zur Inkommensurabilität motivieren. Kann man die andere Position nicht wirklich verstehen, dann fällt es auch schwer, sie zu bewerten. Die vierte und letzte Interpretation schließlich ist eine Idee, die zumeist KritikerInnen mit dem epistemischen Relativismus verbinden: die »Deutung der gleichen Gültigkeit« (Boghossian 2006). Demnach sind also alle Mengen epistemischer Standards oder alle Mengen epistemischer Beurteilungen und Handlungen epistemisch gleichwertig. Der folgende Gedankengang kann diese Idee ein stückweit motivieren. Die meisten epistemische Gruppen mit ihren jeweils eigenen epistemischen Standards sind in der Lage, diese ihre Standards zu rechtfertigen. Eine solche Rechtfertigung kann dabei immer nur zirkulär sein: Bei der Verteidigung der Menge epistemischer Standards M1 der Gruppe G1 kann G1 wiederum nur M1 verwenden. Zirkuläre epistemische Rechtfertigungen sind nicht per se vitiös. Wie auch immer, insofern die meisten Gruppen ihre M derart verteidigen können, sind diese M gleichwertig oder gleichermaßen gerechtfertigt – auch wenn das Verständnis davon, was genau epistemische Rechtfertigung ausmacht und verleiht, von epistemischer Gruppe zu epistemischer Gruppe verschieden ist. Ein anderer relativistischer Gedankengang, der der Deutung der gleichen Gültigkeit manchmal zugrunde liegt, ist skeptisch und betont, zirkuläre Rechtfertigungen seien gar keine Rechtfertigungen. Dann sind also keine epistemischen Gruppen in der Lage, ihre jeweiligen M zu verteidigen. Aber auch hiermit ergibt sich erneut eine Parität. Alle Mengen von epistemischen Standards sind letztendlich ohne Fundament (vgl. Sankey 2010). Die Deutung der gleichen Gültigkeit liegt auch nahe, wenn man eine bestimmte krude Interpretation von Paul Feyerabends »anything goes« annimmt (Feyerabend 1975). Wenn epistemisch ›alles geht‹, dann ist eben epistemisch alles – jeder Standard oder jede Handlung – gleichwertig. Vielleicht geht die Deutung der gleichen Gültigkeit aber auch auf eine Intuition im Umkreis des gustatorischen Relativismus zurück: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, de gustibus non est disputandum. Meiner Frau schmeckt Spinat, mir nicht. Und weil sich hierüber nicht sinnvoll argumentieren lässt, hat keiner von uns (die 47 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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allein richtigen) Gründe für ihr oder sein Urteil: Also – so die Intuition – haben wir in gewisser Weise beide gleichermaßen recht. Es ist allerdings nicht offensichtlich, dass dieser Gedankengang zwingend ist. Die bloße Tatsache, dass es mir nicht gelingt, meine Frau von meinem Geschmacksurteil zu überzeugen, muss ja noch kein Grund sein, unser beider Geschmacksurteils als gleichermaßen gültig zu betrachten. Vielleicht hat meine Frau vorschnell geurteilt, oder ihr fehlen bestimmte Geschmacksnerven. Aber selbst wenn die Deutung der gleichen Gültigkeit im Falle von Geschmacksurteilen zutreffen sollte, könnte man immer noch fragen, ob wir von den Geschmacksurteilen auf epistemische Beurteilungen verallgemeinern dürfen. Zumindest ist im letzteren Fall die Intuition des »hierüber lässt nicht streiten« viel weniger ausgeprägt. Galileo und Cremonini hatten unterschiedliche Mengen epistemischer Standards, und ihr Streit führte nicht zu einer Einigung. Aber von diesen Tatsachen ist es noch ein weiter Weg zur Plausibilität der Deutung, wonach alle epistemischen Mengen von Standards gleichermaßen gut sind. Die meisten Widerlegungen des epistemischen Relativismus setzen eben hier an. Das Selbstwiderlegungsargument gegen den Relativismus legt Letzteren auf die Deutung der gleichen Gültigkeit fest und fragt dann, wie ein solcher Relativismus damit umgehen kann, dass es genug Mengen epistemischer Standards gibt, aufgrund derer der Relativismus falsch ist. Sind diese ›absolutistischen‹ Mengen epistemischer Standards ebenso gültig wie die relativistische (das heißt, den Relativismus rechtfertigende) Menge epistemischer Standards, dann ist der Relativismus nicht gültig. Erkennen RelativistInnen hingegen diese anderen Mengen nicht als relevant an, dann haben sie die Deutung der gleichen Gültigkeit aufgegeben (vgl. zum Beispiel Boghossian 2001). Allgemein ist hier interessant, festzustellen, dass die meisten sich selbst als »RelativistInnen« bezeichnenden PhilosophInnen die Deutung der gleichen Gültigkeit nicht akzeptieren (vgl. etwa Barnes/Bloor 1982; Bloor 2011; Code 1995; Feyerabend 1975; Field 2009; Herbert 2001; Herrnstein Smith 2018; Kinzel/Kusch 2018; Kusch 2019; Stich 1990). Hier sollte die Debatte um den Relativismus mehr in die Tiefe gehen und fragen, ob sich diese AutorInnen irgendwo selbst widersprechen: Lässt sich zeigen, dass die anderen Kernthesen des Relativismus die Symmetriethese in der Deutung der gleichen Gültigkeit implizieren?
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Das Spektrum des epistemischen Relativismus
8.
Andere Elemente des Relativismus
Ich betrachte die oben angeführten Elemente als – in der einen oder anderen Deutung – wesentlich für den epistemischen Relativismus. Andere Elemente tauchen zwar häufig mit diesen Elementen gemeinsam auf, sind allerdings nicht zwingend an den Relativismus gebunden. Ich zähle sie hier nur kurz auf (vgl. Kusch 2014).
8.1. Kontingenz Welche Menge epistemischer Standards eine epistemische Gruppe akzeptiert oder welcher Menge sie konform handelt, ist eine Frage historischer Kontingenz (vgl. Kinzel/Kusch 2018). Die Kontingenzannahme tauchte oben bereits im Zusammenhang der Lokalitätsdeutung auf. Aber sie kann sich auch ganz allgemein mit relativistischen Motiven verbinden. Die Kontingenz kann dabei sehr tief reichen; auch Überzeugungen und Standards, die Mitglieder der epistemischen Gruppe als selbstevident betrachten, können sich – aufgrund von historischer oder anthropologischer Forschung – als kontingent erweisen. Die Einsicht in die Kontingenz der eigenen Überzeugungen kann die Plausibilität dieser Überzeugungen untergraben, aber sie kann auch ohne Einfluss bleiben.
8.2. Toleranz Epistemische Standards anderer epistemischer Gruppen sind zu tolerieren. Toleranz wird häufig im Zusammenhang des Relativismus diskutiert. Manchmal wird dann der Relativismus als die einzige Position präsentiert, welche die Toleranz anderer Kulturen ausreichend motivieren kann. Das ist sicher eine Übertreibung: Ein Toleranzgebot kann auch aus absolutistischen Prämissen folgen. Ferner hängt natürlich viel davon ab, was man eigentlich unter Toleranz versteht. Versteht man darunter die Interpretation gleicher Gültigkeit der Symmetriethese? Oder meint man das Dulden der Fehler der anderen?
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Martin Kusch
8.3. Metaphysische Aspekte Der epistemische Relativismus kann verschiedene metaphysische Annahmen beinhalten. Nehmen wir als Beispiel die Eigenschaft epistemisch-gerechtfertigt-zu-sein. MetaphysikerInnen werden geneigt sein, zu fragen, wie viele und welche Variablen diese Eigenschaft hat. AbsolutistInnen werden drei Variablen erlauben: (a) Überzeugungen, (b) Beweismaterial und (c) die Person, welche die Überzeugung hat. RelativistInnen werden hingegen darauf bestehen, noch eine vierte Variable einzuführen: (d) eine Leerstelle für eine relevante Gruppe und deren epistemische Standards. Der Streit zwischen AbsolutistInnen und RelativistInnen gewinnt hier also eine metaphysische Dimension. Die meisten RelativistInnen verzichten allerdings darauf, ihre Position derart metaphysisch zu untermauern.
8.4. Sprachphilosophische Aspekte Diese Aspekte sind in den Debatten um den Relativismus in den letzten zehn Jahren zuletzt sehr wichtig geworden (vgl. etwa Kölbel 2002; MacFarlane 2014). Ich kann hier nur eine grundlegende Unterscheidung beispielhaft anführen. Nehmen wir eine epistemische Beurteilung wie etwa: (*) Galileo ist epistemisch gerechtfertigt, an Mondberge zu glauben. (*) ist zunächst einmal ein deutscher Satz. Aber welche Proposition drückt er aus – wenn er denn überhaupt eine Proposition ausdrückt? Die beiden wichtigsten Vorschläge für diese Proposition sind (#) und (@):
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Das Spektrum des epistemischen Relativismus
(#) Otto ist epistemisch gerechtfertigt, an Mondberge zu glauben. (@) Gemäß der epistemischen Standards, die ich, der Sprecher, akzeptiere, ist Otto epistemisch gerechtfertigt, an Mondberge zu glauben. Beides sind Interpretationen, die RelativistInnen akzeptieren können. (@) drückt die für den normativen epistemischen Relativismus wesentliche Relativierung der Beurteilung auf epistemische Standards explizit aus. (#) tut dies nicht. RelativistInnen, die (#) akzeptieren wollen, müssen daher die Relativierung auf andere Weise als in der Proposition unterbringen. Sie schlagen daher vor, dass (#) keinen absoluten, sondern einen relativen Wahrheitswert hat. Hierbei sind die Standards, an welchen sich der Wahrheitswert entscheidet, die epistemischen Standards der jeweiligen epistemischen Gruppe.
9.
Relativismus der Haltungen
Oben habe ich den normativen epistemischen Relativismus und seinen absolutistischen Gegner als alternative Theorien dargestellt, nämlich als alternative Theorien über den epistemischen Status von Überzeugungen, epistemischen Beurteilungen oder epistemische Standards. Es gibt allerdings auch noch andere Weisen, den normativen epistemischen Relativismus zu verstehen. Die wichtigste derartige Alternative geht auf Bas van Fraassen zurück (vgl. Fraassen 2002; vgl. auch Baghramian 2019; Kusch 2019). Der zentrale Begriff dieses Ansatzes ist die »Haltung«. Eine Haltung besteht primär aus epistemischen Werten, Tugenden, Emotionen, Handlungsplänen und Präferenzen und nur sekundär aus Überzeugungen. Die Idee der Haltung lässt sich auf dreifache Weise auf den normativen epistemischen Relativismus beziehen. Die erste Option ist, den normativen epistemischen Relativismus als eine Theorie darüber zu verstehen, wie sich verschiedene epistemische Haltungen zueinander verhalten. Die Werte, Tugenden, Emotionen, Handlungspläne und Präferenzen sind dann die Standards, an denen sich epistemische Handlungen und Beurteilungen orientieren. Die zweite Option ist, den epistemischen Relativismus auch selbst als eine Haltung zu begreifen, und zwar als eine Haltung gegenüber den Mengen von epistemischen Standards. Drittens können wir die Idee der Haltung aber auch auf beiden Ebenen zugleich 51 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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einführen: Der normative epistemische Relativismus ist dann eine philosophisch-erkenntnistheoretische Haltung bezüglich des Verhältnisses von epistemischen Haltungen. Die erste Option lässt sich wie folgt illustrieren. Nehmen wir den Konflikt zwischen Galileo Galilei und Kardinal Robert Bellarmin. Zweifellos waren für den Kardinal ethische und religiöse Werte und Tugenden eng mit epistemischen Werten und Tugenden verknüpft. Dies führte ihn dazu, der epistemischen Tugend der intellektuellen Bescheidenheit und astronomischen und theologischen Angelegenheiten ein besonderes Gewicht zu verleihen. Galileo war ebenfalls ein tiefreligiöser Mensch. Gleichwohl legte er bei der Erforschung der Natur besonderen Wert auf die epistemischen Tugenden der Neugier, Freiheit von Vorurteilen oder Kühnheit. Diese Unterschiede in Werten und Tugenden gingen zweifellos mit Differenzen in Emotionen, Handlungsplänen und Präferenzen einher. Offensichtlich waren diese Unterschiede in Tugenden und Werten mit Unterschieden in Emotionen, erkenntnistheoretischen Strategien und Vorlieben verbunden. Selbstverständlich waren sich der Kardinal und Galileo auch in ihren astronomischen Überzeugungen nicht einig, aber diese Unvereinbarkeit war vielleicht das Resultat ihrer sehr verschiedenen Tugenden und Handlungspläne. Was würde es nützen, wenn wir den normativen epistemischen Relativismus selbst als eine Haltung auffassen würden? Das würde unter anderem bedeuten, dass wir ihn in erster Linie nicht als eine Theorie, sondern eher als eine Art von ›Rebellion‹ gegen absolutistische Formen der Erkenntnistheorie und Metaphysik betrachten. Verschiedene RelativistInnen widersetzen sich verschiedenen Spielformen des Absolutismus. Aber sie teilen den gleichen Animus. Die RelativistInnen teilen zumeist auch noch weitere Werte und Tugenden: Sie sind gegen Individualismus, intellektuellen Imperialismus oder ungerechtfertigte epistemische Hierarchien. Indem wir uns auf solche Gefühle und Werte konzentrieren, gelingt es uns vielleicht besser, die grundlegende Motivation für eine Vielfalt an (epistemischen) relativistischen Positionen zu verstehen. Damit ein normativer epistemischer Haltungsrelativismus weiterhin ein normativer epistemischer Relativismus ist, muss er selbstverständlich – in der einen oder anderen Form – den fünf wesentlichen Aspekten des normativen epistemischen Relativismus gerecht werden.
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Das Spektrum des epistemischen Relativismus
10. Zusammenfassung In diesem Aufsatz habe ich versucht, das Spektrum normativ epistemischer Relativismen abzustecken. Fünf Thesen sind demnach für diese Position wesentlich: die Abhängigkeitsthese, die Pluralitätsthese, die Konfliktthese, die Bekehrungsthese und die Symmetriethese. Alle fünf lassen sich wiederum verschieden interpretieren. Wichtig waren hier vor allem die verschiedenen Lesarten für die Abhängigkeitsthese, die Konfliktthese und die Symmetriethese. Im abschließenden Abschnitt wurde dann deutlich, dass sich normativer epistemischer Relativismus entweder als Theorie oder aber als Haltung auffassen lässt.
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Martin Kusch
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Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus Selbstaufhebung und verwandte antirelativistische Argumente in der Diskussion 1 Dorothee Schmitt 1.
Einleitung
Hier ist ein einfaches Argument für eine radikal relativistische Position. 2 Wahrheit ist eine Eigenschaft sprachlicher Äußerungen. Ob eine Äußerung wahr ist, hängt von der Sprache ab, der sie zuzuordnen ist. Konfligierende Äußerungen können in unterschiedlichen Sprachen wahr sein, also ist Wahrheit relativ auf Sprache. Diese triviale Form der Relativität bestreitet niemand; nichts als ein perfider historischer Zufall wäre nötig gewesen, um etwa »The sky is blue« zu einem falschen Satz der deutschen Sprache zu machen, der zum Beispiel besagen könnte, dass 2 + 2 = 5. Die (in diesem Fall nicht besonders) interessante Frage ist vielmehr, ob man hier von einem genuinen Konflikt sprechen kann (in diesem Fall natürlich nicht) oder, allgemeiner gesagt, ob es überhaupt Fälle genuinen Konflikts zwischen unterschiedlichen Sprachen gibt oder ob alle scheinbar genuinen Konfliktfälle ebenso oberflächlich sind wie unser Beispiel, wenn auch möglicherweise schwerer als oberflächliche Konfliktfälle zu erkennen. Mit einer relativistischen Auffassung haben wir es erst dann zu tun, wenn behauptet wird, dass es genuine Konfliktfälle gibt, und nur dann, wenn diese bis zu Widersprüchen reichen sollen, haben wir es mit einem alethischen Relativismus zu tun, einem Relativismus also, der Wahrheit selbst relativiert, was gemeinhin als die extremste Form von Relativismus gilt. 3 1 Viele der folgenden Überlegungen beruhen auf meiner Untersuchung Das Selbstaufhebungsargument (vgl. Schmitt 2018); detaillierte Verweise auf dortige Analysen befinden sich in den jeweiligen folgenden Abschnitten. 2 Der folgende Gedankengang beruht auf Goodman 1978, 109–120 und Putnam 1990, 96–104; vgl. auch Schmitt 2018, Kapitel 1.5.1 und 1.5.2. 3 Die Frage, was genau als ein genuiner Konflikt zählt, bzw. in welchem Verhältnis zwei Aussagen stehen müssen, damit man von einem genuinen Konflikt sprechen
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Dorothee Schmitt
Ein plausibler Kandidat für einen genuinen Konfliktfall findet sich bei Hilary Putnam (vgl. Putnam 1990, 96 f.). Der Fall ist deswegen überzeugend, weil die Unterschiede der Sprachen sehr grundlegend, nämlich auf der Ebene der Gegenstandsindividuierung angesiedelt sind. Auf einem Tisch liegen drei Würfel: x1, x2 und x3. Wie viele Gegenstände befinden sich auf dem Tisch? Die Antwort ist, laut Putnam, sprachabhängig: In Carnaps Sprache (in der ein Gegenstand ein konkretes Individuum ist) haben wir drei Gegenstände, x1, x2 und x3; in der Sprache des polnischen Logikers 4 (einer mereologischen Sprache, in der ein Gegenstand ein Individuum oder eine Summe von Individuen ist) haben wir sieben Gegenstände, nämlich zusätzlich die vier Summen x1 + x2, x1 + x3, x2 + x3 und x1 + x2 + x3. Um die Frage nach der Anzahl der Gegenstände beantworten zu können, muss bereits eine Sprache bzw. ein Symbolsystem 5 festgelegt sein. Ein typischer absolutistischer Einwand gegen die Auffassung, dass es sich hier um einen genuinen Konfliktfall handelt, besteht nun darin, den (laut dieser absolutistischen Auffassung bloß scheinbaren) Konflikt ausschließlich der Bedeutungsebene zuzuschreiben (und ihn dort aufzulösen zu suchen), um darauf bestehen zu können, dass die unterschiedlichen Versionen dieselben Tatsachen beschrieben. In diesem Sinne schlägt beispielsweise Mark Quentin Gardiner vor, die unterschiedlichen Gegenstandsbegriffe durch »smobjects« und »lobjects« zu ersetzen, um beide Beschreibungsweisen in einer Sprache miteinander vereinbaren zu können (vgl. Gardiner 2000, kann, ist umstritten und kann hier nicht behandelt werden. Unstrittig ist allerdings, dass ein Widerspruch hinreichend für einen genuinen Konflikt ist, insofern ist eine Klärung dieser Frage für eine Beschäftigung mit dem alethischen Relativismus, der im Folgenden im Zentrum der Betrachtung stehen wird, nicht nötig. Zur Frage, wie viel Konflikt für einen Relativismus nötig ist, vgl. beispielsweise Kölbel 2004. Für eine Einteilung relativistischer Theorien anhand der Frage, welche Art von Konflikt sie behaupten, vgl. Schmitt 2018, Kapitel 1.5. 4 In Anspielung auf Stanisław Leśniewski, den Begründer der Mereologie (vgl. Putnam 1990, 96). 5 Der Ausdruck »Symbolsystem« stammt aus Goodmans Symboltheorie. Er umfasst nicht-sprachliche, insbesondere künstlerische Systeme (Malerei, Musik etc.) sowie natürliche und künstliche Sprachen und Segmente derselben. Während sich die folgende Darstellung nur mit sprachlichen Systemen beschäftigt, verwendet sie Goodmans Ausdrucksweise, um daran zu erinnern, dass die Sprachen, von denen hier die Rede ist, nicht nur natürlichen Sprachen sind, sondern auch spezialisierte Ausschnitte (die Sprache der Biologie, die Sprache des Sportjournalismus, die Sprache von Reparaturanleitungen etc.) derselben und künstliche Sprachen (Carnaps Sprache, die Sprache der Schematheorie, prädikatenlogische Kalküle etc.).
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Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus
215). In der Tat lässt sich auf diese Weise der Konflikt leicht beseitigen. Beide Antworten, drei und sieben, sind korrekt je nachdem, nach welcher der neu geschaffenen Kategorien (smobjects oder lobjects) gefragt wird. Aber das ist aus relativistischer Sicht gerade der springende Punkt: Beide Antworten sind korrekt für die Frage nach einer der neu geschaffenen Kategorien, nicht für die Frage nach den Gegenständen. Diese sind aus der Betrachtung schlicht verschwunden. Das Gleiche gilt für meine obige Beschreibung des Konflikts zwischen den beiden Sprachen: Sie führt die beiden Symbolsysteme in einer Beschreibung zusammen, aber sie erreicht dies, indem sie uns Informationen über die Systeme gibt, anstatt uns zu sagen, wie viele Gegenstände auf dem Tisch liegen. 6 Nun hält uns natürlich nichts davon ab, den Ausdruck »Gegenstand« in unsere neue Sprache einzuführen, um unsere Ursprungsfrage wieder formulieren zu können. Aber dann stehen wir lediglich wieder vor derselben Entscheidung wie zu Anfang: Sollen wir Carnaps Gegenstandsbegriff verwenden oder den des polnischen Logikers? Das Problem wurde nicht gelöst, sondern auf eine Metaebene verschoben (vgl. Putnam 1990, 103). Der Versuch, den Beitrag menschlicher Sprachen zur Gegenstandskonstitution durch das Erstellen neutraler Beschreibungen auszuschalten, bis wir zu den reinen Tatsachen gelangen, ist eine Illusion, denn jeder Wechsel des Darstellungssystems ist ein Wechsel zu neuen Konventionen (vgl. Goodman 1978, 117 f.). Wir können den konventionellen Anteil unserer Darstellungen nur dann loswerden, wenn wir darauf verzichten, überhaupt darzustellen. In den Worten Nelson Goodmans: »[T]he onion is peeled down to its empty core« (Goodman 1978, 118). Überlegungen dieser Art können verwendet werden, um relativistische Positionen unterschiedlicher Stärken zu motivieren. Während sie Putnam ›lediglich‹ dazu bringen, Bedeutungsvergleiche über Systemgrenzen hinweg grundsätzlich abzulehnen, 7 entscheidet sich Darüber hinaus wirft die Möglichkeit, die beiden Beschreibungen auf (mindestens) zwei unterschiedliche Weisen zu vereinbaren, die Frage auf, welche dieser beiden neuen Beschreibungen denn nun die angemessene Repräsentation der zugrunde liegenden Tatsachen ist. 7 Putnam bezeichnet seine Position als »conceptual relativity« und charakterisiert sie folgendermaßen: »[W]hile there is an aspect of conventionality and an aspect of fact in everything we say that is true, we fall into hopeless philosophical error if we commit a ›fallacy of division‹ and conclude that there must be a part of the truth that is the ›conventional part‹ and a part that is the ›factual part‹. A corollary of my conceptual 6
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Goodman für eine Affirmation der augenscheinlichen Widersprüche als tatsächliche Widersprüche und relativiert deswegen Wahrheit auf Symbolsysteme. Goodmans Variante ist diejenige, die im Folgenden im Zentrum der Diskussion stehen wird; denn, so steht zu vermuten, wenn der Relativismus nicht kohärent denkbar sein sollte, so sollte das am deutlichsten in seinen radikalsten Formen hervortreten. Goodmans Theorie spielt hier also die Rolle eines Extremfalls, für den sich Probleme auf jeden Fall nachweisen lassen sollten, falls diese für den Relativismus im Allgemeinen bestehen. Goodmans Theorie eignet sich aus einem weiteren Grund für diese zentrale Rolle in den folgenden Ausführungen zur Kohärenz des Relativismus. Sie ist eine Theorie, an der viele der Standardeinwände gegen relativistische Theorien in recht offensichtlicher Weise abprallen. Dies hängt damit zusammen, dass Goodmans Relativismus die meines Erachtens wichtigste Bedingung an kohärente relativistische Theoriebildung schon durch ihre Rahmenwahl 8 erfüllt, nämlich ein normatives Verhältnis zwischen Rahmen und Inhalten zu ermöglichen; bei Symbolsystemen ist ein normatives Verhältnis von vornherein gegeben. Die Abwesenheit eines solchen normativen Verhältnisses wird im Folgenden als Mangel an normativer Distanz bezeichnet; ein solcher Mangel liegt dann vor, wenn eine Theorie keine Ressourcen hat, den Unterschied zwischen dem Ausgangspunkt einer Debatte oder Überlegung und deren Zielpunkt verständlich zu machen. Goodmans Auffassung hat viele weitere Stärken, zum Beispiel enthält sie eine ausgearbeitete Erkenntnis- und Bedeutungstheorie sowie zahlreiche Überlegungen zu den Verhältnissen unterschiedlicher Symbolsysteme zueinander. All diese Faktoren werden es erlauben, aufzuzeigen, dass die Standardeinwände gegen die Kohärenz des Relativismus schnell an Überzeugungskraft verlieren, wenn man sie an reifen, ausgearbeiteten Theorien und nicht an isolierten Parolen misst. relativity […] is the doctrine that two statements which are incompatible at face value can sometimes both be true (and the incompatibility cannot be explained away by saying that the statements have ›a different meaning‹ in the schemes to which they respectively belong)« (Putnam 1990, x). Sie kann meines Erachtens als eine Form von metaphysischem Relativismus klassifiziert werden, grob gesagt der These, dass es relativ (in Putnams Fall auf die Wahl einer Sprache) ist, welche Gegenstände die Welt enthält (vgl. Schmitt 2018, Kapitel 1.5.7). 8 »Rahmen« wird im Folgenden als allgemeiner Ausdruck für dasjenige verwendet, worauf relativiert wird.
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Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus
Weitere Formen von Relativismus, die im Folgenden eine Rolle spielen werden, sind der Subjektivismus, vertreten durch Platons Darstellung des Protagoras im Theaitetos, sowie der Kulturrelativismus. Beide erlangen ihre Relevanz durch historische Bedeutsamkeit einerseits und sie direkt thematisierende antirelativistische Argumente andererseits. Max Kölbel liefert eine sehr treffende schematische Darstellung der Struktur relativistischer Theorien: (R1) For any x that is an I, it is relative to P whether x is F. (R2) There is no uniquely relevant way Pi of fixing P. (R3) For some x that are I, and for some Pi, Pj, x is F in relation to Pi but not F in relation to Pj (Kölbel 2002, 118). F ist im Fall der hier zu besprechenden alethischen Relativismen »wahr«. Goodmans Relativismus, der Subjektivismus und der Kulturrelativismus unterscheiden sich in erster Linie darin, was sie für P einsetzen: Symbolsysteme, Personen (bzw. deren Überzeugungen) und Kulturen. Diese Theorieformen werden zumeist mit Einwänden konfrontiert, die in der einen oder anderen Weise die Konsistenz, Denkbarkeit oder argumentative Vertretbarkeit des Relativismus grundsätzlich infrage stellen. Bei dieser Strategie werden Argumente ins Feld geführt, die die Auseinandersetzung mit dem Relativismus zu beenden suchen, bevor sie überhaupt auf die Stufe der Abwägung von Faktoren wie Begründungen, Erklärungskraft oder anderen theoretischen Stärken und Schwächen kommt. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese Strategie des vorzeitigen Abbruchs der Diskussion kein gangbarer Weg ist. Zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit konkreten relativistischen Theorien und Argumenten gibt es keine argumentative Alternative, schnelle Widerlegungen sind nicht zu haben. Während keiner der zu diskutierenden Einwände den alethischen Relativismus als solchen widerlegen kann, zeigen sie durchaus potenzielle Fallstricke im relativistischen Theorieaufbau auf (zum Beispiel in Form des Beibehaltens absolutistischer Hintergrundannahmen), die interessante Punkte über die Form, die eine plausible und kohärente relativistische Theorie haben sollte, sichtbar werden lassen. Diese Lehren für den Relativismus zu ziehen und die spezifischen Weisen zu analysieren, in denen die zu besprechenden antirelativistischen Einwände fehlgehen, sind die Ziele der folgenden Darstellung. 59 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Dorothee Schmitt
Beginnen werden wir am Anfang der Geschichte des Selbstaufhebungsarguments, also mit Platons Auseinandersetzung mit dem Subjektivismus im Theaitetos. Platons Argument wird sich als erfolgreich erweisen, aber auch als von sehr bescheidenem Beweisanspruch sowie begrenztem Anwendungsbereich. Im dritten und vierten Abschnitt folgt eine Betrachtung zweier moderner Argumente, die sich Platons Argument zum Vorbild nehmen, aber an ihren ambitionierteren Beweiszielen scheitern. Zwei weitere Einwände beschäftigen sich mit dem epistemischen Status, den die relativistische Theorie sich zuschreibt: Mit ihnen beschäftigen sich der fünfte und sechste Abschnitt. Beide kranken an erheblichen Missverständnissen relativistischer Theoriearchitektur. Den Abschluss bildet – im siebten Abschnitt – ein Einwand von Hilary Putnam, der sich mit der Frage befasst, ob der Relativismus seine eigenen semantischen Voraussetzungen untergräbt. Dieser Einwand wirft ein interessantes Problem auf, das aber bei Weitem nicht alle Varianten des Relativismus betrifft.
2.
Platons Selbstaufhebungsargument im Theaitetos
Platons Argument gegen den Relativismus des Protagoras ist das älteste erhaltene Selbstaufhebungsargument und wird von vielen modernen Verfassern solcher Argumente als Vorbild der eigenen Überlegungen genannt. Das Argument wird üblicherweise wie folgt dargestellt: (1) Laut Protagoras sind alle Meinungen wahr. (2) Protagoras gibt zu, dass die Meinung seiner Gegner, er irre sich, wahr ist. (3) Protagoras gibt zu, dass er sich irrt. (4) Protagoras’ Gegner geben nicht zu, dass sie sich irren. (5) Protagoras gibt zu, dass seine Gegner auch damit Recht haben. (6) Protagoras muss einräumen, dass niemand ein Maß ist. 9 Sokrates’ Argumentationsgang ist hier meines Erachtens noch nicht abgeschlossen, es folgen noch zwei weitere Schritte: (7) Jeder (einschließlich Protagoras) bestreitet Protagoras’ Auffassung. (8) Protagoras’ Auffassung ist für niemanden wahr. Doch da der entscheidende argumentative Übergang derjenige zwischen (5) und (6) ist, spielt dies für die folgende Darstellung keine Rolle. – Hier eine Übersetzung der vollen Textstelle: »Sokrates: Hernach ist doch dieses das schönste bei der Sache. Er [Prota-
9
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Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus
Dieses Argument soll die berühmte homo-mensura-These von Platons Protagoras – in der Regel wiedergegeben als »der Mensch ist das Maß aller Dinge« – widerlegen. Platon interpretiert sie im Theaitetos, zumindest nach der Standardlesart, als eine Form des Relativismus, der zufolge alle Überzeugungen für denjenigen, der sie hat, wahr sind. Doch hier sollte sofort etwas auffallen: In diesem Argument fehlen die normalerweise in der Darstellung einer relativistischen Theorie zu erwartenden (und an anderen Stellen im Theaitetos auch durchaus vorhandenen) relativierenden Phrasen, die angeben, für wen etwas wahr ist, und überhaupt erst signalisieren, dass von relativer Wahrheit die Rede ist. Wenn dies die tatsächliche Form des Arguments wäre, hätten wir es schlicht mit einer ignoratio elenchi zu tun. Eine Widerlegung von Protagoras’ Relativismus, die diesen tatsächlich trifft, müsste bei einer angemessenen Formulierung seiner These ansetzen, etwa bei der Aussage, dass alle Meinungen wahr sind für den Meinenden. Setzen wir jedoch entsprechende Relativierungen in das Argument ein, erhalten wir ein ungültiges Argument: (1r) Laut Protagoras sind alle Meinungen wahr für den Meinenden. (2r) Protagoras gibt zu, dass die Meinung seiner Gegner, er irre sich, wahr für sie ist. (3r) Protagoras gibt zu, dass er etwas für seine Gegner Falsches sagt. (4) Protagoras’ Gegner geben nicht zu, dass sie sich irren.
goras] gibt gewissermaßen zu, daß die Meinung der entgegengesetzt Vorstellenden über seine Meinung, vermöge deren sie dafür halten, er irre, wahr ist, indem er ja behauptet, daß alle, was ist, vorstellen. Theodoros: Allerdings. Sokrates: So gäbe er also zu, daß seine eigene falsch ist, wenn er eingesteht, daß die Meinung derer wahr ist, die dafür halten, er irre. Theodoros: Notwendig. Sokrates: Die andern aber geben von sich nicht zu, daß sie irren? Theodoros: Ganz und gar nicht. Sokrates: Er aber gesteht auch dieser Vorstellung wiederum zu, daß sie richtig sei, zufolge dessen, was er geschrieben hat. Theodoros: So scheint es. Sokrates: Von allen also, beim Protagoras angefangen, wird bestritten werden, oder vielmehr von ihm doch zugestanden, wenn er dem, der das Gegenteil von ihm behauptet, zugibt, er stelle richtig vor, dann muß auch Protagoras selbst einräumen, daß weder ein Hund noch auch der erste beste Mensch das Maß ist, auch nicht für eine Sache, die er nicht erlernt hat. Nicht so? Theodoros: So ist es. Sokrates: Wenn dies also von allen bestritten wird, so wäre sie ja niemandem wahr, diese Wahrheit des Protagoras, weder irgendeinem andern, noch auch ihm selbst« (Platon 1990, 171a–c).
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(5r) Protagoras gibt zu, dass seine Gegner auch damit für sie Recht haben. (6r) Protagoras muss einräumen, dass für seine Gegner niemand ein Maß ist. Schritt 6 ist kein für Protagoras gefährliches Ergebnis. Es ist offensichtlich, dass seine Theorie für seine Gegner falsch ist, was er bereits in Schritt 3 eingeräumt hatte. Wir stehen also vor einer Entscheidung zwischen zwei unbrauchbaren Argumenten: Entweder wird die zu kritisierende Theorie verfehlt oder das Ergebnis ist für diese harmlos. Doch Platons Argument lässt sich tatsächlich in einer Weise lesen, in der es funktioniert, allerdings auf Kosten eines weitaus bescheideneren Beweisziels: 10 (1r) Laut Protagoras sind alle Meinungen wahr für den Meinenden. (2r) Protagoras gibt zu, dass die Meinung seiner Gegner, er irre sich, wahr für sie ist. (3r) Protagoras gibt zu, dass er etwas für seine Gegner Falsches sagt. (4c) Protagoras’ Gegner geben nicht zu, dass man etwas für sie Falsches sagen kann. (5) Protagoras gibt zu, dass seine Gegner auch damit Recht haben. (6) Protagoras muss einräumen, dass niemand ein Maß ist. Dabei ist die zentrale Frage natürlich, wie uns das modifizierte Verständnis in Schritt 4 zum nicht-relativierten Zugeständnis des Protagoras in Schritt 5 und 6 trägt. Protagoras’ Gegner greifen in dem so verstandenen Schritt 4 nicht seine Theorie, sondern seine relativistische Sprache an – sie bestreiten direkt und explizit die Legitimität der Relativierungen.
Die folgende Auslegung des Arguments baut auf derjenigen von Luca Castagnoli auf, allerdings unterscheiden sich unsere Auffassungen in der Frage, wie genau Platon es erreicht, die leidigen Relativierungen loszuwerden. Da für Fragen exegetischer Natur hier leider der Raum fehlt, verweise ich dazu auf die hervorragende Darstellung in Castagnolis Aufsatz Protagoras Refuted (vgl. Castagnoli 2004) und Buch Ancient Self-Refutation (vgl. Castagnoli 2010, 40–67). Der größte exegetische Unterschied zwischen Castagnolis Darstellung und den Standardlesarten ist die Formulierung von Schritt 4. Für meine Verteidigung der folgenden Lesart, allerdings unter dem systematischen Gesichtspunkt der Suche nach einer Interpretation, in der das Argument funktioniert, vgl. Schmitt 2018, Kapitel 2.1.
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Damit stellen die Gegner Protagoras vor eine praktische Entscheidung: Er kann seine Relativierungen nur entweder verwenden oder nicht verwenden. Er kann bewusst an seinen Gegnern vorbeireden, was meines Erachtens einem Ausstieg aus der Diskussion gleichkommen würde, oder er kann die Auseinandersetzung mit seinen Gegnern fortsetzen, indem er auf die Relativierungen verzichtet. Er kann sie nicht für sich verwenden und für seine Gegner nicht. Dies ist wohlgemerkt kein Problem auf der theoretischen, inhaltlichen Ebene. Würde Protagoras seine Gegner darüber informieren, dass seine Verwendung der Relativierungen für ihn legitim ist, aber illegitim für seine Gegner, wäre dies eine vollkommen konsistente und theoretisch akzeptable Feststellung seinerseits. Lediglich dialektisch 11 betrachtet ist dies keine gangbare Strategie: Die dialektische Forderung seiner Gegner, die umstrittene Ausdrucksweise fallenzulassen, würde von ihm schlicht ignoriert, denn er hat keine theoretischen Ressourcen, die Forderung für unberechtigt zu befinden. Protagoras’ Theorie hat die – wohlgemerkt für relativistische Theorien im Allgemeinen sehr seltene – extrem unbequeme Eigenschaft, dass er seinen Gegnern in allem Recht geben muss. Dadurch fehlt ihm ein kritisch einsetzbares Konzept der Falschheit, oder besser gesagt, ihm fehlt jegliches kritisch einsetzbare Konzept. Diese Art von Lücke nenne ich im Folgenden einen Mangel an normativer Distanz. Diese ist nicht nur verantwortlich für den Erfolg von Platons Argument, sondern auch dafür, dass viele stärkere Selbstaufhebungsargumente auf den ersten Blick gültig aussehen, auch wenn sie es nicht sind, wie in der Analyse einiger moderner Selbstaufhebungsargumente noch zu sehen sein wird. Normative Distanz ist die Unterscheidung zwischen dem Ausgangspunkt und dem Zielpunkt einer Debatte, einer Überlegung oder Ähnlichem. Sie kann durch viele Eigenschaften instanziiert werden: Wahrheit, Begründung oder sogar Nützlichkeit, wenn wir es mit einem strikten Pragmatismus zu tun haben. Der von Platon gezeichnete Subjektivismus des Protagoras hat keine dieser Ressourcen. 12 Damit hat er keine Möglichkeit, seinen Gegnern irgendetwas anzubieten, was diese dazu motivieren könnte, seine Verwendung der Dialektik ist hier im antiken Sinne als argumentativer Austausch zu verstehen. Es gibt durchaus Lesarten, in denen Protagoras eine dieser Möglichkeiten zuerkannt wird, so zum Beispiel in der pragmatistischen Interpretation von Ferdinand C. S. Schiller (vgl. Schiller 1908, vor allem Abschnitt III–V).
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Relativierungen anzuerkennen oder sogar seine Theorie zu übernehmen. Er kann keinen Zweck, überhaupt eine Debatte zu haben, artikulieren. 13 Dies ist wohlgemerkt eine theoretische Lücke und kein Konflikt innerhalb der Theorie. Die Theorie ist vollkommen konsistent und ihr könnte sogar konsistenterweise eine Instanz normativer Distanz hinzugefügt werden, um sie dialektisch vertretbar zu machen. 14 Platons Argument ist entsprechend auch kein Nachweis von Falschheit, sondern von dialektischer Unhaltbarkeit. Die Gegner können Protagoras zwingen, entweder seine Theorie zu bestreiten oder aus der Debatte auszusteigen, weil seiner Theorie ein kritisch einsetzbares Instrumentarium fehlt. Das ist die Reichweite von Platons Argument. 15 Das Ergebnis ist also durchaus bescheiden und der dialektische Kontext ist integraler Bestandteil des Arguments selbst, wie auch daran deutlich wird, dass es einen ›echten‹ Gegner des Subjektivismus benötigt. Gegenüber einem neutralen Diskussionspartner hätte Protagoras keinen Grund, die Relativierungen aufzugeben.
3.
Variationen auf Platon I: Können Relativisten ihre Theorie argumentativ verteidigen?
Wie gesagt, hat Platons Argument viele Adaptionen erfahren. Eine moderne Variante findet sich bei Maria Baghramian, die selbst einen Pluralismus – also einen eingeschränkten Relativismus – vertritt. Mit der folgenden Überlegung versucht sie, ihre Ablehnung eines globalen alethischen Relativismus zu stützen:
Darauf weist auch Sokrates hin: »Was nun gar mich betrifft und meine Kunst der Geburtshilfe, so schweige ich ganz davon, welches Gelächter wir billig erregen. Ich glaube aber, es wird auch dasselbige sein mit dem ganzen Geschäft des wissenschaftlichen Unterredens. Denn gegenseitig einer des andern Vorstellungen und Meinungen in Betrachtung ziehen, und zu widerlegen suchen, wenn sie doch alle richtig sind, ist das nicht eine langweilige und überlaute Kinderei, wenn anders die Wahrheit des Protagoras wirklich wahr ist, und nicht nur scherzend aus dem verborgenen Heiligtum des Buches herausgeredet hat?« (Platon 1990, 161e–162a). 14 Für eine ausführliche Beschäftigung mit dem Konzept der normativen Distanz vgl. Schmitt 2018, Kapitel 2.1.7. 15 Dass Platon dies vollkommen klar ist, ist meines Erachtens der Grund, warum er das Argument in Form eines Dialogs im Dialog darstellt. 13
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»The relativist’s position will become unintelligible only if he tries to convince the non-relativist of the superiority of his relativist scheme; but so long as the relativist is content to say ›in my conceptual scheme, system of belief, etc., truth is relative, while for the members of society X, or conceptual scheme Y, truth might be an absolutist notion, and I am not in a position to say which of us is right‹, his position will not be shaky. The point is, we can avoid the charge of self-refutation by embracing higherorder relativism. […] The acknowledgement of the possibility of an infinity of language levels is not in itself absurd or vicious. Such a stand would, of course, rob the relativist of the right to argue for the superiority of her position, and would also force her to accept that an absolutist has something equally good to say about truth. […] This feature of strong relativism about truth, however, does not leave much room for relativistic philosophers, since they are trying to convince their opponents of the truth or superiority of their position by arguing for it. Hence, although total relativism is not self-defeating, arguing for relativism with non-relativists is« (Baghramian 2004, 135).
Dieses Argument hat erhebliche Gemeinsamkeiten mit demjenigen Platons, aber es hat sowohl ein etwas höher gestecktes Beweisziel als auch ein breiteres Anwendungsgebiet, insofern es nicht spezifisch auf subjektivistische Theorien ausgerichtet ist, sondern auch Kulturen, Begriffsschemata etc. als Rahmen in Betracht zieht. Der Gedankengang lässt sich wie folgt darstellen: 16 (1) Absolutisten und Relativisten vertreten gegensätzliche Überzeugungen. (2) Unter Voraussetzung der Wahrheit des Relativismus bedeutet das Vertreten gegensätzlicher Überzeugungen die Benutzung unterschiedlicher Rahmen. Ohne näher auf exegetische Fragen einzugehen, sollte hier zumindest darauf hingewiesen werden, dass sich das Argument auch als erheblich stärker oder schwächer lesen lässt. Die entscheidenden Stellschrauben sind die Auslegungen von Ausdrücken wie »right to argue«, »superiority« und »self-defeating«. Eine schwächere Lesart würde zum Beispiel »self-defeating« im Sinne einer vorhersehbaren Diskussionsniederlage gegen absolutistische Gegner verstehen. Dies würde Baghramians Argument sehr nahe an dasjenige Platons rücken und seine Behandlung hier weitgehend überflüssig machen. Auf der anderen Seite würde eine stärkere Lesart beispielsweise »superiority« absolutistisch interpretieren, was Einwände gegen Baghramians Argumentation zu finden beinahe zu einfach machen würde. Hier wird deswegen ein Mittelweg gewählt.
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(3) Der Absolutist benutzt einen anderen Rahmen als der Relativist. (4) Es ist sinnlos für den Relativisten, zu versuchen, den Absolutisten zu überzeugen. (5) Tut er es dennoch, bestreitet er dadurch indirekt seine Theorie. Zunächst zum ambitionierteren Ergebnis des Arguments. Was hier unterstellt wird, lässt sich als eine Art von performativem Widerspruch ausbuchstabieren (vgl. Baghramian 2004, 34). Ein solcher bestünde in einer Verpflichtung, die dem Relativismus widerspricht. Diese Verpflichtung kann natürlich selbst nicht als eine absolutistische interpretiert werden (zum Beispiel als Verpflichtung, absolut gültige Argumente vorzulegen), ohne das Argument unmittelbar einer petitio principii zu bezichtigen. Explizit relativistische Verpflichtungen hingegen (zum Beispiel auf das Vorlegen relativ gültiger Argumente) sind keine plausiblen Kandidaten für die Herleitung eines Widerspruchs mit der relativistischen Theorie. Die Frage muss also lauten, ob zwischen diesen beiden Alternativen Raum für eine dritte ist, was meines Erachtens unwahrscheinlich ist. Auch bei verbal möglichst neutral gehaltenen Verpflichtungen (zum Beispiel zum Vorbringen von Gründen, die für den Diskussionspartner relevant sind) kommen unmittelbar Fragen nach deren Auslegung auf, die auf dieselbe Ausgangsfrage zurücklaufen (zum Beispiel ob der Absolutist ›verlangen‹ kann, dass nur absolut wahre Aussagen als Gründe zählen). Das Problem ist nicht nur dasjenige, die perfekte Formulierung zu finden, die sowohl aus relativistischer als auch aus absolutistischer Sicht akzeptabel ist. Die Schwierigkeit liegt tiefer. Tatsächlich wäre jede vorgeschlagene Verpflichtung, die tatsächlich in Konflikt mit der relativistischen Theorie steht und nicht aus dieser selbst stammt, hier unzulässig. Sie stünde schlicht dem Status des Arguments als Selbstaufhebungsargument im Wege. Es würde dann nicht etwa zeigen, dass der Relativismus nicht kohärent argumentativ vertretbar ist, sondern es würde vielmehr zum Nachweis der Unvereinbarkeit des Relativismus mit einer spezifischen Theorie argumentativer Verpflichtungen. Diese Theorie mag vollkommen korrekt sein. Aber selbst das brächte uns nicht weiter als bis zu den Feststellungen, dass relativistische Theorien erstens eine falsche Theorie argumentativer Verpflichtungen benötigen, um kohärent zu bleiben, und zweitens entweder ihre argumentativen Verpflichtungen verletzen oder absolutistisch verfasste Verpflichtungen erfüllen. Dies wären interessante 66 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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und relevante Einwände gegen eine relativistische Theorie, aber mit einer tief in dieser selbst liegenden Inkohärenz haben sie schlicht nichts mehr zu tun. An dieser Stelle wären wir dazu übergegangen, gegen den Relativismus zu argumentieren, indem wir ihn mit einer Konkurrenztheorie konfrontieren, die wir aus unabhängigen Gründen für korrekt halten. Hier ist es sinnvoll, einen Schritt zurückzutreten und zu fragen, warum diese argumentative Verschiebung stattfindet und was sie bedeutet. Alethische Relativismen lassen sich – in Anlehnung an Castagnoli – als radikal revisionistische Theorien klassifizieren. Diese sind das beliebteste Ziel von Selbstaufhebungsargumenten (deren moderne Varianten in der Regel scheitern) und bedürfen besonderer argumentativer Sorgfalt (vgl. Castagnoli 2010, 22, 353 f.). Es ist viel zu verlockend und viel zu einfach, radikal revisionistischen Ansätzen Inkonsistenzen mit der sie umgebenden (absolutistischen, nichtskeptischen etc.) Theorielandschaft nachzuweisen und diese Inkonsistenzen den Ansätzen selbst zuzuschreiben. Ein Extremfall ist beispielsweise der mitunter vorgebrachte Einwand, dass der Relativismus mit absolutem Wahrheitsanspruch vertreten werde und deswegen mit eben jenem Anspruch in Konflikt stehe. Dieser Einwand stellt offensichtlich eine petitio principii dar. Jede Zuschreibung einer konfligierenden Verpflichtung, die nicht aus der relativistischen Theorie selbst stammt, tut dies ebenfalls, lediglich in (hoffentlich) subtilerer Form. Hier könnte man versucht sein, einzuwenden, dass die Abwesenheit einer Theorie argumentativer Verpflichtungen in der relativistischen Theorie eine Anwendung der eigenen Auffassung solcher Verpflichtungen rechtfertige. Welche Maßstäbe sollen wir denn anwenden, wenn der Relativismus uns keine zur Verfügung stellt, wenn nicht unsere eigenen? Die Antwort ist, dass in diesem Fall das korrekte Vorgehen darin bestünde, direkt auf diese Lücke in der relativistischen Theoriearchitektur hinzuweisen, anstatt zu versuchen, sie als eine Inkohärenz zu verkaufen. Damit sind wir dann allerdings wieder bei einem Vorwurf eines Mangels an normativer Distanz angelangt, der aber nicht die Kohärenz der Theorie selbst betrifft. Stärkere Konklusionen können Selbstaufhebungsargumente nicht leisten. Diese Überlegung zeigt andererseits auch, dass selbst scheiternde Selbstaufhebungsargumente einen theoretischen Nutzen haben können. Die absolutistischen Annahmen werden dadurch allererst sichtbar. Vor der Beschäftigung mit solchen Argumenten gehören sie oft 67 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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zu einem unhinterfragten theoretischen Hintergrund. Erst die genaue Analyse des Selbstaufhebungsarguments versetzt uns in die Lage, explizit zu fragen, ob die Unvereinbarkeit mit der betreffenden Annahme ein guter Grund ist, den Relativismus abzulehnen. Obwohl die Konklusion von Baghramians Argument zu stark ist, deutet es also auf ein potenzielles theoretisches Defizit hin und erlaubt es, die in Bezug auf Protagoras erreichten Ergebnisse zu verallgemeinern. Formen des Relativismus, die von diesem Argument in Schwierigkeiten gebracht werden können, sind natürlich solche, die die Annahme in Schritt 2 enthalten (die Annahme also, dass das Vertreten gegensätzlicher Überzeugungen die Verwendung unterschiedlicher Rahmen impliziert). Die Verbindung zu der problemgenerierenden Eigenschaft von Protagoras’ Theorie ist klar: Protagoras musste jedem Recht geben. Auch die Zuschreibung eines anderen Rahmens aufgrund divergierender Meinungen ist ein universelles Wahrheitszugeständnis an die Diskussionspartner: Liegt der Gegner scheinbar falsch, ist die Verwendung eines anderen Rahmens verantwortlich. Zunächst ist festzuhalten, dass diese Bedingung bei Weitem nicht auf alle relativistischen Theorien zutrifft. In einem Relativismus wie demjenigen Goodmans, der auf Symbolsysteme, Sprachen oder Ähnliches relativiert, lässt sich dieser Schluss nicht motivieren. Eine andere Auffassung zu vertreten, kann ebenso gut bedeuten, dass der Gegner relativ auf den geteilten Rahmen falsch liegt. Auch die Feststellung eines tatsächlichen Rahmenunterschieds führt für diese Relativismen nicht zu einer Beendigung der Diskussion, sondern vielmehr zu dem Versuch, einen gemeinsam verwendbaren Rahmen zu finden, in dem dann wiederum einer der Diskussionspartner falsch liegen könnte. 17 Doch selbst wenn dies nicht gelingt oder zu aufwändig erscheint, bleibt die gegnerische Position kritisierbar. Denn diese kann auch schlicht relativ auf ihren eigenen Rahmen falsch sein oder in einem unangemessenen Rahmen formuliert sein. 18 Nichts Warum das vorsichtige »könnte«? Weil es sich ebenfalls herausstellen könnte, dass wir vor einer Situation wie in dem eingangs beschriebenen pro-relativistischen Argument stecken und der Rahmenwechsel dazu geführt hat, dass wir die Ausgangsfrage nicht mehr (oder nur noch in zu stark abgewandelter Form) stellen können. Ob sich ein geeigneter Rahmen finden lässt, in dem eine Diskussion entscheidbar ist, ist eine Frage, die sich nur im Einzelfall beantworten lässt. 18 Hier wird auch deutlich, dass ein Relativismus mit sprachartigen Rahmen, ganz im Gegensatz zu dem die normative Distanz einebnenden Subjektivismus des Protagoras, 17
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verhindert, diese Tatsachen aus einem anderen Rahmen heraus aufzuzeigen. Für subjektivistische Theorien ist die Bedingung trivialerweise erfüllt: Da jeder seinen eigenen Rahmen besitzt, sind gegensätzliche Überzeugungen für den Schluss auf einen anderen Rahmen überhaupt nicht nötig. Doch sogar bei diesen muss man zur Beantwortung der Frage, ob aus der Präsenz unterschiedlicher Rahmen folgt, dass es sinnlos wäre, eine Diskussion zu verfolgen, zwischen unterschiedlichen Formen von Subjektivismus differenzieren. Für Protagoras’ Theorie trifft dies natürlich zu, aber sobald irgendeine Form von normativem Verhältnis zwischen Überzeugungen und Rahmen anerkannt wird, zum Beispiel in Theorien, deren Rahmen idealisierte Überzeugungssysteme sind, wird eine fruchtbare Auseinandersetzung möglich. Dem Diskussionspartner aufzuzeigen, dass eine absolutistische Auffassung nicht mit seinem idealisierten Überzeugungssystem kohäriert, eine relativistische dies aber sehr wohl tue, ist durchaus möglich. Der entscheidende Faktor ist also weniger, ob wir es in einer Auseinandersetzung mit zwei unterschiedlichen Rahmen zu tun haben, sondern ob Überzeugungen und Rahmen in einem Verhältnis stehen, das die Möglichkeit des Irrtums ausschließt. Dies ist natürlich nichts anderes als ein Mangel an normativer Distanz, der immer dort auftritt, wo Überzeugungen und Rahmen in einem Determinationsverhältnis stehen, das es unmöglich macht, falsch zu liegen. Die Richtung der Determination ist dabei nebensächlich. Ob wir es mit dem Subjektivismus des Protagoras zu tun haben, in dem die Überzeugungen den Rahmen (und damit die Wahrheit) bestimmen, oder mit einer Form des Kulturrelativismus, in der der Rahmen seine Verwender psychologisch determiniert, das heißt, korrekte Überzeugungen in ihnen hervorruft – der springende Punkt ist der Zusammenfall von Überzeugungen und Rahmen bzw. Wahrheit relativ auf den Rahmen. 19 Neben der – inzwischen hoffentlich offensichtlichen – allgemeinen Anforderung an eine starke, vertretbare relativistische Theorie, mehr Möglichkeiten schafft, falsch zu liegen. Angemessenheit des verwendeten Rahmens, ob für den Gesprächspartner, den Gegenstandsbereich oder andere pragmatische Kriterien erfüllend, tritt als neue Forderung an korrekte Äußerungen auf den Plan. 19 Für eine Diskussion von Baghramians Argument, die es auch auf andere Formen des Relativismus anwendet, vgl. Schmitt 2018, Kapitel 3.3.5.3.
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für normative Distanz zu sorgen, sehen wir hier eine spezifischere Form, in der dies nötig ist. Ein Relativismus muss echte Uneinigkeit und echten Irrtum zulassen. Ein Relativismus, der jede Auseinandersetzung als bedingt durch unterschiedliche Rahmen wegerklärt, macht jegliche argumentative Tätigkeit unverständlich, inklusive seiner eigenen.
4.
Variationen auf Platon II: Impliziert der Relativismus seine eigene Falschheit?
Eine moderne Adaption von Platons Argument, in der sich die Problemlage der fehlenden Relativierungen eindrücklich widerspiegelt, ist Harvey Siegels antirelativistisches NSBF-Argument 20: »If [Epistemological Relativism (ER)] is true, then […] ER is itself relative to alternative, and equally legitimate, sets of background principles and standards of evaluation. Since these alternative sets will suggest differing evaluations of ER, and since there is no way neutrally to pick one evaluation over and against any others, it follows that, if ER is true, then ER’s truth will vary according to the principles and criteria by which ER is evaluated. In particular, it follows that, if according to some set of standards […] ER is judged to be false, then, if ER is true, (at least according to that set of standards […]) ER is false. […] In this way, ER is self-refuting and so incoherent« (Siegel 1987, 7 f.) [Hervorhebungen Verf.].
Dieses Argument lässt sich auf zwei 21 unterschiedliche Weisen, eine starke und eine schwache, lesen. Dabei ist die starke Variante ungültig: (1) Der Relativismus ist wahr. (2) Der Relativismus ist relativ wahr. Die Bezeichnung ist eine Abkürzung für »necessarily some beliefs are false« (Siegel 1987, 6). Für eine ausführlichere Beschäftigung mit diesem Argument vgl. Schmitt 2018, Kapitel 3.3.1. 21 Streng genommen sind es vier, da es zwei Doppeldeutigkeiten gibt (ob es tatsächlich oder bloß möglicherweise einen Rahmen gibt, in dem der Relativismus falsch ist, und ob diese Falschheit als relativ oder absolut betrachtet wird [die entsprechenden Formulierungen sind im Zitat hervorgehoben]), aber eine Betrachtung der Extremfälle ist hinreichend. 20
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(3) Der Relativismus ist relativ falsch. (4) Der Relativismus ist absolut falsch. Absolute Falschheit folgt nicht aus relativer Falschheit, also ist der Übergang von Schritt 3 zu Schritt 4 unzulässig. Darüber hinaus ist bereits der Schluss von 2 auf 3 fragwürdig. Dieser funktioniert nur, wenn eine spezifische Auffassung von Relativismus zugrunde gelegt wird, die unter Relativismus-Gegnern zwar verbreitet sein mag, aber einerseits unplausibel und andererseits in tatsächlich vertretenen relativistischen Theorien kaum anzutreffen ist. Wie diese genau aussieht, lässt sich am besten im Vergleich mit der schwachen Lesart des Arguments darstellen: (1) Der Relativismus ist wahr. (2) Der Relativismus ist relativ wahr. (3) Falls es einen Rahmen gibt, in dem der Relativismus falsch ist, ist er relativ falsch. (4) Der Relativismus könnte relativ falsch sein. Dieses Argument ist gültig, aber sein Ergebnis ist vollkommen harmlos. Die Unterschiede zur starken Variante sind, dass erstens die in der Konklusion behauptete Falschheit korrekterweise als relative gekennzeichnet ist und dass zweitens von der Selbstanwendung des Relativismus nur auf die Möglichkeit einer relativen Falschheit geschlossen wird. Aus einem alethischen Relativismus folgt nämlich nicht, dass es tatsächlich einen Rahmen gibt, in dem die relativistische Theorie falsch ist, es kann lediglich nicht ausgeschlossen werden. Es ist wichtig, hier zu betonen, dass selbst wenn die relative Falschheit des Relativismus folgen würde, dies kein Problem für den Relativismus darstellen würde. Dieses Ergebnis ist vollkommen kompatibel mit ihm, solange es sich dabei um einen anderen Rahmen und nicht denjenigen, in dem die Diskussion geführt wird, handelt. Aber es lohnt sich, einen genaueren Blick auf den fragwürdigen Schluss zu werfen, da sich hinter ihm ein weitverbreitetes Missverständnis der relativistischen Theoriearchitektur verbirgt, welches es auszuräumen gilt. Anhand von relativistischen Theorien wie derjenigen Goodmans kann dieses Missverständnis besonders deutlich gemacht werden. Rahmen sind dort Symbolsysteme und Bedeutung wird in gebrauchstheoretischer Weise aufgefasst. Also sind nur tatsächlich verwendete 71 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Systeme (und explizit durch solche definierte) auch tatsächlich existierende Rahmen. Gerade die Entwicklung neuer Rahmen wird von Goodman im Zentrum unserer epistemischen Arbeit gesehen: »Moreover, while readiness to recognize alternative worlds may be liberating, and suggestive of new avenues of exploration, a willingness to welcome all worlds builds none. Mere acknowledgement of the many available frames of reference provides us with no map of the motions of heavenly bodies; acceptance of the eligibility of alternative bases produces no scientific theory or philosophical system; awareness of varied ways of seeing paints no pictures. A broad mind is no substitute for hard work« (Goodman 1978, 21).
In vollkommenem Gegensatz dazu ist das Bild, das hinter dem Schluss von relativer Wahrheit auf relative Falschheit steht: das eines radikalen Rahmen-Platonismus 22. Eingangs sollte gleich darauf hingewiesen werden, dass dieses Bild normative Distanz unterminiert, was daran deutlich wird, dass sie Rahmennutzer in einem bestimmten Sinne unfehlbar macht. Die Rede ist von der Interpretation des Relativismus als einer These kognitiver Anarchie, der anything-goesLesart des Relativismus. Rahmen sind in dieser Lesart abstrakte Gegenstände, zu denen wir keinerlei vorgängigen epistemischen Zugang benötigen, um sie herauszugreifen und zum Wahrheitsgaranten unserer favorisierten Theorien zu machen. Für jede Aussage steht ein solcher abstrakter Rahmen zur Verfügung, relativ auf den sie wahr ist und der automatisch herausgegriffen wird, sobald die Aussage getätigt wird. Ob es sich um einen tatsächlich bei irgendjemandem in Verwendung befindlichen Rahmen, einen für bestimmte Zwecke brauchbaren Rahmen oder auch nur einen für uns erlernbaren Rahmen handelt, sind Fragen, die gar nicht erst aufkommen. Ebenso wenig wird ein relevanter Unterschied gesehen zwischen der Frage, ob etwas in einem Diese Bezeichnung hat hier nichts mit Platon selbst zu tun, der diesem Bild ganz entschieden nicht erliegt. In Platons Argument wird die Existenz eines Rahmens, in dem Protagoras’ Theorie falsch ist, durch den dialektischen Kontext sichergestellt; immerhin diskutiert Protagoras mit einem Gegner seiner Theorie und der relevante Rahmen für die subjektivistische These ist ein individuelles Überzeugungssystem. »Platonismus« ist hier im Sinne der Theoriefamilie aus der Philosophie der Mathematik zu verstehen, nach der abstrakte Gegenstände vollkommen unabhängig von unseren Erkenntnisbemühungen existieren und unsere mathematischen Theorien wahr oder falsch machen.
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gerade in Verwendung befindlichen Rahmen wahr ist oder in einem beliebigen Rahmen. Der einzige relevante Wahrheitsstatus ist in diesem Bild, in irgendeinem Rahmen wahr zu sein, und dieser Status kommt hier jeder Aussage trivialerweise zu. Wenig überraschend haben wir es hier mit der Ersetzung eines relativen Wahrheitsbegriffs – Wahrheit in einem spezifischen, gerade relevanten Rahmen – durch einen absoluten – Wahrheit in einem beliebigen Rahmen – zu tun: Die Thematisierung konkreter Rahmen (und damit natürlich auch ihrer Unterschiede, Entwicklungen, Vorzüge etc., das heißt die Kernthemen relativistischer Theorien) wird schlicht überflüssig. Dies ist keine relativistische Auffassung, sondern ein absolutistischer kognitiver Reflex, der verzweifelt versucht, absolute Wahrheit in der relativistischen Theorie zu finden.
5.
Absolutistische Annahmen I: Relative Wahrheiten als epistemisch defizitär
Eine verwandte Form häufig in antirelativistischen Vorwürfen anzutreffender absolutistischer Annahmen sind solche, denen zufolge relative Wahrheiten epistemisch defizitär seien. Diese Annahmen sind vielgestaltig: Relative Wahrheiten eigneten sich nicht als Prämissen von Argumenten und Überlegungen, oder relative Wahrheit sei für die Hauptthesen einer Theorie ein inakzeptabler Status etc. Der explizite Vorwurf gegen die relativistische Theorie nimmt dann häufig die Form an, dass diese offensichtlich einen absoluten Status für sich beanspruche, den sie allen anderen Theorien abspreche. Solche Annahmen finden sich unter anderem bei Maurice Mandelbaum, der versucht, relativistische Theorien einer »self-excepting fallacy« (Mandelbaum 1982, 34) zu überführen. 23 Ebenso Edmund Husserl,
»In any [sic] case of Dewey at least, the objective relativist’s stress on this aspect of judgments can be accounted for in terms of his acceptance of an instrumental view of mind. It is clear, however, that anyone holding such a view does so with the intention of claiming that this view is true independently of his own interests and purposes. Pushing this contention a step further, it may plausibly be argued that one reason why Dewey accepted as [sic] instrumental theory of mind was that he believed it to be demanded by evolutionary theory. […] At the same time, it was only because he regarded Darwin’s theory as true, independently of the use to which he could put it,
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der im Zuge seiner Kritik des Psychologismus versucht, aus dem Relativismus allerhand Absurditäten abzuleiten, darunter die folgende: »Man kann nicht Wahrheit relativieren und an der Objektivität des Seins festhalten. Freilich setzt die Relativierung der Wahrheit doch wieder ein objektives Sein als Beziehungspunkt voraus – darin liegt ja der relativistische Widerspruch« (Husserl 1975, 137). 24
Der Grundgedanke ist, dass es unmöglich sei, globale relativistische Theorien zu vertreten; da relative Wahrheiten eben nur Ersatzwahrheiten seien, müssten zentrale Bestandteile der Theorie als absolut wahr gedacht werden. Dieser Gedankengang lässt sich umdrehen, um eine wichtige Bedingung kohärenter relativistischer Theoriebildung aufzuzeigen. Eine kohärente relativistische Theorie kann relative Wahrheiten eben nicht als Ersatzwahrheiten betrachten – und durchdachte relativistische Theorien tun dies auch nicht. 25 Eine solche Theorie muss relative Wahrheiten ernst nehmen und darf ihnen keinen epistemisch defizitären Status zuschreiben. Sie müssen alle benötigten epistemischen Rollen – als Prämissen, Kerngedanken, Schlussprinzipien etc. – ausfüllen können. »Das ist ja nur relativ wahr!« darf nicht die Rolle eines Einwands spielen können. Warum Annahmen eines epistemisch defizitären Status bei absolutistischen Kritikern verbreitet sind, während sie in relativistischen Theorien kaum vorkommen, ist recht einfach zu sehen. Um relative Wahrheiten als unzureichende Wahrheiten zu betrachten, braucht es einen Kontrast zu echten (absoluten) Wahrheiten. Solange diese scheinbar als bessere Prämissen, bessere Schlussprinzipien etc. zur Verfügung stehen, ergibt es vielleicht Sinn, mit relativen Alternativen unzufrieden zu sein. Aber sobald Relativität zum Wesen der Wahrheit selbst gehört, ist dieser Gedanke abwegig. Eine epistemische Abwertung relativer Wahrheiten würde unter Voraussetzung that Dewey could in fact use it in this way« (Mandelbaum 1982, 38). – Für eine Darstellung und Kritik von Mandelbaums Vorwurf vgl. Schmitt 2018, Kapitel 3.3.5.2. 24 Für eine Analyse der bei Husserl mehr angedeuteten als ausgeführten Argumentation vgl. Soffer 1991, 7–11. 25 Dies gilt natürlich nur für globale Relativismen, also Theorien, die Wahrheit als solche relativieren. Ist die relativistische Theorie auf einen bestimmten Gegenstandsbereich beschränkt, zum Beispiel Moral oder Geschmacksurteile, ist eine Abwertung relativer Wahrheit durchaus kohärenter Weise möglich und gehört sogar oft zur Motivation der bereichsrelativistischen These, die ihren Gegenstandsbereich als epistemisch ›weicher‹ als andere Bereiche darstellt.
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Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus
globaler Relativität zu einer kompletten Absurdität sämtlicher kognitiver und argumentativer Bemühungen führen, schließlich gäbe es nichts, was sich als deren Ziel eignen könnte. 26 Dies ist eine Sichtweise, die den meisten relativistischen Theorien vollkommen fern liegt, sie verstehen sich vielmehr als Beschreibungen und Systematisierungen unserer bereits bestehenden Argumentations- und Denkpraxis – nicht als Verkünder von deren Sinnlosigkeit.
6.
Absolutistische Annahmen II: Relative Wahrheiten als für Absolutisten irrelevant
Dass es relativistischen Theorien in der Regel nicht um eine radikale Revision alltäglicher Diskussionspraxis geht, sondern ihre radikalen Vorschläge sich auf die Rekonzeptualisierung philosophischer Beschreibungen solcher Vorgänge beziehen, zieht eine weitere Gruppe von absolutistischen Einwänden in Zweifel, die man grob als Äquivokationseinwände charakterisieren kann. Ein solcher Einwand findet sich zum Beispiel bei Olaf Tollefsen: 27 Dies ist also wiederum ein Fall eines Mangels an normativer Distanz. Während bei Protagoras jeder immer schon seine kognitiven Ziele erreicht hat, gibt es hier keine Kandidaten für Ziele. 27 Für eine Diskussion von Tollefsens Argument als Argument gegen den epistemischen Relativismus vgl. Schmitt 2018, Kapitel 3.1.2. – Auch Husserl kann man einen solchen Vorwurf zuschreiben: »Entweder es verstehen jene Wesen die Worte wahr und falsch in unserem Sinn; dann ist keine vernünftige Rede davon, daß die Grundsätze nicht gelten: sie gehören ja zu dem bloßen Sinn dieser Worte, und zwar wie wir sie verstehen. Wir würden in aller Welt nichts wahr oder falsch nennen, was ihnen widerstritte. Oder sie gebrauchen die Worte wahr und falsch in einem anderen Sinne, und dann ist der ganze Streit ein Wortstreit. Nennen sie z. B. Bäume, was wir Sätze nennen, dann gelten die Aussagen, in die wir Grundsätze fassen, natürlich nicht; aber sie verlieren dann ja auch den Sinn, in dem wir sie behaupten. Somit kommt der Relativismus darauf hinaus, daß er den Sinn des Wortes Wahrheit total ändert, aber doch Anspruch erhebt, von Wahrheit in dem Sinne zu sprechen, der durch die logischen Grundsätze festgelegt ist, und den wir alle, wo von Wahrheit die Rede ist, ausschließlich meinen. In einem Sinne gibt es nur eine Wahrheit, in äquivokem Sinne aber natürlich so viel ›Wahrheiten‹, als man Äquivokationen zu schaffen liebt« (Husserl 1975, 125 f.). Allerdings wirft diese Passage exegetische Schwierigkeiten auf, die hier zu viel Raum einnehmen würden, um das Argument eingehender zu analysieren. Grob gesagt, kann man es entweder als einen dem von Tollefsen verwandten Äquivokationsvorwurf betrachten, in dem es Husserl um Wahrheit als Gegenstand der relativistischen Theorie geht, welcher in der relativistischen Theorie so anders konzeptualisiert wird, dass diese nicht über den korrekten Begriff bzw. Gegen26
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Dorothee Schmitt
»The relativist claims for P the property (call it p) of meeting the truth criteria of his local culture, and nothing more […]. However, the relativist’s critic does not wish to deny that P has p, or claim for his own position (call it Q) that it has p […]. The relativist’s critic holds, instead, that some property other than p (call it q) is what justifies rational assent to a proposition. Hence whether P has or lacks p, and whether Q has or lacks p is irrelevant to the relativist’s critic. Of course the relativist can claim that no proposition can have q, or more weakly, that even if some proposition has q, no one can know that it has q, but his warrant for either claim must be p, and thus either claim is irrelevant to the relativist’s critic. The relativist’s critic would be interested in either claim only if it were alleged to have q, and then would be interested in either claim only as an example of a self-refuting proposition« (Tollefsen 1987, 211 f.) [Hervorhebungen getilgt].
Das Problem ist laut Tollefsen, dass relativistische Theorien den von ihnen beanspruchten Wahrheitsstatus so anders konzeptualisierten, dass es für absolutistische Kritiker schlicht irrelevant sei, ob die relativistische Theorie diesen Status besitzt. Der relativistische Wahrheitsanspruch sei kein Anspruch auf einen absolutistisch relevanten Status. Daraus soll sich ergeben, dass Absolutisten relativistische Theorien getrost ignorieren könnten, da sie sich nur für Theorien zu interessieren bräuchten, die absolute Wahrheit beanspruchen. Diese Folgerung hat zwei erhebliche Schwachstellen. Erstens ist völlig unklar, warum sich absolutistische Kritiker für die Art des beanspruchten Wahrheitsstatus und nicht den Wahrheitswert (für Relativität oder Absolutheit und nicht für Wahrheit oder Falschheit) der relativistischen Theorie interessieren sollten. Zweitens ist Wahrheit, sei sie relativ oder absolut, keine direkt beobachtbare Eigenschaft. Sie ist eine Eigenschaft, die wir anhand verschiedener Kriterien zuschreiben, zu denen wir einen weniger indirekten epistemischen Zugang besitzen (in Bezug auf philosophische Theorien sind das in erster Linie logische Beziehungen zu anderen, bereits akzeptierten Aussagen). Diese Kriterien sind prima facie für Absolutisten und Relatistand spricht, sondern schlicht das Thema gewechselt hat. Eine solche Lesart vertritt Gail Soffer (vgl. Soffer 1991, 12–15). Eine alternative, meines Erachtens textnähere Interpretation bezieht den Äquivokationsvorwurf hingegen auf die Identifikation des Wahrheitskonzepts eines anderen Rahmens als Wahrheitskonzept. Dies würde das Argument eher in die Richtung des noch zu besprechenden Arguments von Hilary Putnam oder Donald Davidsons Überlegung zur Möglichkeit alternativer Begriffsschemata rücken (vgl. Davidson 1973).
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Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus
visten dieselben. Um es näher an Tollefsens eigener Formulierung auszudrücken: Es gibt eine dritte Eigenschaft r (in etwa: Erfüllung beiderseits akzeptierter Wahrheitskriterien), die Absolutisten und Relativisten gleichermaßen als epistemischen Zwischenschritt 28 verwenden, um ihre jeweilige Zieleigenschaft p oder q zuzuschreiben. Ob eine Theorie die Eigenschaft r hat, ist alles andere als irrelevant für Absolutisten. Damit Tollefsens Argument funktioniert, müssten die von Absolutisten und Relativisten zugeschriebenen Wahrheitskonzepte nicht nur auf der Ebene philosophischer Beschreibungen fundamental unterschiedlich sein, sondern eben auch auf der Ebene von Kriterien und Argumentationspraxis, wenn zum Beispiel sich das relativistische Wahrheitsverständnis paraphrasieren ließe als »ist in roter Schrift gedruckt und reimt sich«. Praktisch betrachtet tun Absolutisten und Relativisten aber genau dasselbe, wenn sie prüfen, ob eine philosophische Theorie wahr ist: Sie überprüfen Argumente für und gegen die Theorie auf ihre Gültigkeit, sie bewerten die Erklärungskraft der Theorie etc. Dass dabei Relativisten die fragliche Gültigkeit von Argumenten wiederum für relativ halten, spielt keine Rolle. Solange absolutistische Kritiker nicht der Meinung sind, dass ein zugrunde liegendes Schlussprinzip ungültig oder eine Prämisse falsch ist, handelt es sich auch der absolutistischen Auffassung nach um legitime Wahrheitskriterien. Die abstrakte epistemologische Beschreibung, die die relativistische Theorie diesen Kriterien zukommen lässt, ist schlicht irrelevant für ihre Legitimität als Wahrheitskriterien, da sich darüber Absolutisten und Relativisten einig sind. Dies führt zurück zur ersten Schwachstelle von Tollefsens Argument, denn diese lässt sich durch ganz ähnliche Überlegungen hervorheben. Wenn absolutistische Kritiker vor der Frage stehen, ob sie ein spezifisches Argument für den Relativismus akzeptieren sollten, ist die relevante Frage nicht, wie die relativistische Theorie den Status dieses Arguments beschreibt, sondern ob seine Prämissen wahr und seine Schlussprinzipien gültig sind (in etwa: ob die Konklusion Eigenschaft r hat). Akzeptieren absolutistische Kritiker Prämissen und Schlussprinzipien, sind sie in jedem Fall auf die Gültigkeit des Arguments festgelegt. Tun sie dies nicht, haben sie deutlich bessere GrünEs gibt relativistische Theorien, die behaupten, dass r identisch mit (relativer) Wahrheit ist; insofern wäre diese Zuschreibung hier kein Zwischenschritt. Dies ändert nichts für die folgende Argumentation.
28
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Dorothee Schmitt
de zur Ablehnung des Arguments als die Statuszuschreibung der relativistischen Theorie, die sie ohnehin für falsch halten.
7.
Eine semantische Schwierigkeit für den Relativismus
Eine letzte Quelle von Bedenken zur Denkbarkeit des Relativismus, die hier angesprochen werden sollte, ist das asymmetrische Verhältnis des eigenen Rahmens zu anderen Rahmen. Putnam nutzt diesen Punkt in seiner Argumentation gegen den Kulturrelativismus 29 mittels einer Analogie mit dem methodologischen Solipsismus. Hier zunächst ausführlich seine Charakterisierung der Schwierigkeiten des methodologischen Solipsismus, um daraufhin ausbuchstabieren zu können, inwiefern der Kulturrelativismus eine ähnliche Struktur aufweisen soll: »[H]e holds that everything he can conceive of is identical (in the ultimate logical analyses of his language) with one or another complex of his own experiences. What makes him a methodological solipsist as opposed to a real solipsist is that he kindly adds that you, dear reader, are the ›I‹ of this construction when you perform it: he says everybody is a (methodological) solipsist. The trouble, which should be obvious, is that his two stances are ludicrously incompatible. His solipsist stance implies an enormous asymmetry between persons: my body is a construction out of my experiences, in the system, but your body isn’t a construction out of your experiences. It’s a construction out of my experiences. And your experiences – viewed from within the system – are a construction out of your bodily behavior, which, as just said, is a construction out of my experiences. My experiences are different from everyone else’s (within the system) in that they are what everything is constructed from. But his transcendental stance is that it’s all symmetrical: the ›you‹ he addresses his higher-order remark to cannot be the empirical ›you‹ of the system. But if it’s really true that the ›you‹ of the system is the only ›you‹ he can understand, then the transcendental remark is unintelligible. Moral: don’t be a methodological solipsist unless you are a real solipsist!« (Putnam 1983, 236 f.).
Putnam richtet seine Kritik an einen als »R. R.« benannten Kulturrelativisten, wahrscheinlich eine Anspielung auf Richard Rorty (vgl. Putnam 1983, 236).
29
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Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus
Der Fallstrick, den Putnam für den methodologischen Solipsisten beschreibt, ist semantischer Natur. Ausdrücke erhalten im methodologischen Solipsismus ihre Bedeutung durch Reduktion auf die Sinneseindrücke des Subjekts. Alle Gegenstände sind aus diesen konstruiert, aber das Gegenüber des methodologischen Solipsisten, als anderer Konstrukteur, lässt sich nicht so konstruieren. Andere Personen sind selbst Konstruktionen aus den Sinneseindrücken des methodologischen Solipsisten, eine Rolle als Subjekte eigener Konstruktionen ist in der Bedeutungstheorie des methodologischen Solipsisten schlicht nicht verständlich zu machen. Damit kann der methodologische Solipsist das ›Zugeständnis‹, dass es auch andere logische Konstrukteure gibt, überhaupt nicht machen. Die Aussage ist schlicht sinnlos. Diese »enormous asymmetry« sieht Putnam ebenfalls am Werk im Kulturbegriff des Kulturrelativisten. Während Putnams Parallelsetzungen nicht an jeder Stelle aufgehen, 30 trifft er dennoch einen Punkt, insofern sich die Frage aufdrängt, wie genau kulturrelativistische Theorien eine Sicht auf andere Kulturen als der eigenen gleichartig in ihrer wahrheitsstiftenden Funktion artikulieren können. Das Problem ist hier nicht das Verhältnis von Kultur zu Kultur, wie es in strenger Analogie zum methodologischen Solipsismus der Fall wäre, sondern das radikal unterschiedliche Verhältnis des erkennenden Subjekts zur eigenen Kultur (dem Rahmen seiner Wahrheiten) im Gegensatz zu anderen Kulturen. Grob vereinfachend könnte man sagen, dass hier unklar ist, wie die kulturrelativistische Theorie es schaffen sollte, sich auf andere Kulturen als wahrheitsgenerierende Instanzen zu beziehen. Wie gesagt, sind einige der Details von Putnams Übertragung durchaus fragwürdig, aber die Analogie als Ganze anzugreifen ist nicht einmal notwendig, um zu sehen, dass Putnams Argumentation bei Weitem nicht auf alle relativistischen Theorien zutrifft. Nur relativistische Theorien mit sehr spezifischen Merkmalen legen überhaupt erst den Verdacht nahe, dass sie Rahmen auf eine solche Weise semantisch voneinander isolieren könnten. Vollkommen wirkungslos wäre ein solcher Einwand gegenüber Goodmans Relativismus. Hier Insbesondere vertritt Putnam eine hochgradig fragwürdige Auffassung der kulturrelativistischen These als einer Reinterpretation der gesamten Sprache, in der alle Aussagen so etwas bedeuten wie »p, wie von den Normen meiner Kultur festgelegt«, um auch den Kulturrelativismus als eine These logischer Konstruktion darstellen zu können (vgl. Putnam 1983, 237). Für eine Kritik dieser Gleichsetzung vgl. Preston 1992, 67; Schmitt 2018, 301 f.
30
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benutzt jeder viele unterschiedliche Rahmen, und zwischen diesen hin und her zu wechseln, gehört zum epistemischen Alltagsgeschäft. Das zieht nach sich, dass Rahmennutzer hier problemlos ein Konzept von Rahmen als Erfüllern einer Rolle der Wahrheitsfestlegung entwickeln können. Sie sind mit der Innensicht mehrerer Rahmen und Rahmenwechseln vertraut und auch eine Extrapolation, dass es noch mehr solcher Rahmen geben könnte, mit denen sie nicht vertraut sind, scheint problemlos möglich. Während der Fall bei Goodmans Relativismus klar ist, bieten auch andere Varianten des Relativismus schwächere Formen der Möglichkeit, sich mit mehreren Rahmen und Rahmenwechseln vertraut zu machen, also den Rahmen als etwas zu erkennen, das eine Rolle in der Festlegung von Wahrheit erfüllt, die auch von anderen gleichartigen Dingen erfüllt werden kann. Im Falle des von Putnam angesprochenen Kulturrelativismus verlangt dies von einer plausiblen relativistischen Theorie vor allem das Bereitstellen einer entsprechenden Interpretations- und Übersetzungstheorie, die zumindest einen Blick in die Innensicht anderer Rahmen ermöglicht. Probleme können sich nur dort ergeben, wo die Bindung des erkennenden Subjekts an einen ausschließlichen, allumfassenden und statischen Rahmen so stark ist, dass sich keine Möglichkeit bietet, mit anderen Rahmen in angemessenen epistemischen Kontakt zu treten. Diese eingeschränkte Reichweite seiner Argumentation würde Putnam wahrscheinlich zugestehen, immerhin vertrat er zur Zeit ihres Entstehens selbst eine relativistische Position. Das Ziel seiner Kritik sind auch explizit Formen von Relativismus, die die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Rahmen zweifelhaft erscheinen lassen: »There are two points that must be balanced, both points that have been made by philosophers of many different kinds: (1) talk of what is ›right‹ and ›wrong‹ in any area only makes sense against the background of an inherited tradition; but (2) traditions themselves can be criticized« (Putnam 1983, 234).
Diese Gefahr kommt in Goodmans Theorie definitiv nicht auf und auch kulturrelativistische Theorien können ihr durch eine Theoriearchitektur, in der das kognitive Leben einzelner nicht durch einen Rahmen vollkommen bestimmt wird, durchaus entgehen.
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Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus
8.
Schluss
Wie bei den vorausgehenden Argumenten zeigt sich also auch bei Putnam, dass selbst wenn auf ein ernst zu nehmendes potenzielles Problem hingewiesen wird, dies wenig mit der Grundstruktur relativistischer Theorien zu tun hat, sondern an spezifischen Entscheidungen bezüglich des Theorieaufbaus hängt, die viele relativistische Theorien erfolgreich vermeiden. Keines der vorgestellten Argumente kann den alethischen Relativismus als solchen widerlegen. Platons Argument scheint das einzige zu sein, welches sich seiner Beschränkungen vollkommen bewusst ist und sein selbstgestecktes Beweisziel erreicht. Allerdings hat dieses Argument auch ein sehr bescheidenes Beweisziel sowie einen sehr kleinen Anwendungsbereich und es setzt explizit einen dialektischen Kontext bzw. Hintergrund voraus. Werfen wir einen kurzen Blick zurück auf die Lehren für einen kohärenten relativistischen Theorieaufbau, die sich aus den besprochenen antirelativistischen Einwänden ziehen lassen. Vorab möchte ich betonen, dass diese Lehren nichts Neues sind in dem Sinne, dass die meisten modernen relativistischen Theorien sie bereits beachten. Dies unter anderem aus dem einfachen Grund, dass viele von ihnen plausiblere Relativismen generieren, unabhängig von Erwägungen zur Theoriearchitektur. Relativistische Theorien, die diese Bedingungen eklatant verletzen, sind tatsächlich schwer zu finden. Die erste und wichtigste Bedingung, aus der auch einige der weiteren folgen, ist die Forderung nach Bereitstellung normativer Distanz. Eine relativistische Theorie muss ein Konzept epistemischer Ziele inkorporieren können, das sie als Diskussionsbeitrag verständlich macht. Das wurde besonders in Platons Argumentation gegen Protagoras deutlich. Wie gesagt, reicht die Abwesenheit normativer Distanz trotzdem nicht hin, Inkonsistenz zu attestieren, sie ist schlicht eine theoretische Lücke. Das heißt aber nichts anderes, als dass eine Theorie relativer Wahrheit nach einer relativistischen Erkenntnistheorie verlangt und dass sich diese nicht von selbst schreibt – es genügt nicht, vor jede Instanz von Ausdrücken wie »Wahrheit«, »Begründung« etc. das Wörtchen »relativ« einzuschieben (auch wenn dies allein schon einige ambitionierte Selbstaufhebungsargumente aushebelt, wie die starke Lesart von Siegels NSBF-Argument). Dazu gehört es auch erstens, die Phänomene des Irrtums und der Uneinigkeit trotz gleichem Rahmen nicht durch einen Schluss von unterschiedlichen Überzeugungen auf unterschiedliche Rahmen wegzuer81 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Dorothee Schmitt
klären. Dies war die mögliche Schwachstelle, auf die Baghramians Argument hinwies. Zweitens sind absolutistisch eingefärbte Auffassungen relativer Wahrheit wie Siegels Rahmen-Platonismus (in der starken Lesart) zu vermeiden, die die wahr-falsch-Unterscheidung schlicht kollabieren lassen. Eine verwandte absolutistische Annahme zeigte sich in Husserls und Mandelbaums Einwänden, der zufolge relative Wahrheit defizitär sei. Auch dies ist weder eine Auffassung, die sich relativistische Theorien leisten können, noch eine, die man in ihnen anzutreffen erwarten sollte. Relative Wahrheiten müssen zumindest alle grundlegenden argumentativen Rollen (zum Beispiel als Prämissen und Konklusionen) spielen können und nach den meisten relativistischen Theorien können sie das auch. Damit zusammenhängend ist darauf zu achten, die radikalen Revisionen, die relativistische Theorien auf der Metaebene der Beschreibung epistemischer Abläufe vornehmen, nicht mit einem kompletten Bruch mit den epistemischen Regeln auf der Objektebene alltäglichen Argumentierens und Denkens zu verwechseln. So entgehen relativistische Theorien leicht Einwänden wie dem von Tollefsen, der auf der verfehlten Annahme aufbaut, relativistisches und absolutistisches Begründen hätten nichts gemeinsam. Zuletzt ist darauf zu achten, die semantischen und epistemischen Bedingungen der eigenen Theorie nicht zu untergraben. Dieser Themenbereich konnte hier leider nur im Zusammenhang mit Putnams Argument angedeutet werden. 31
Literaturverzeichnis Baghramian, Maria 2004: Relativism, London/New York. Castagnoli, Luca 2004: Protagoras Refuted. How Clever is Socrates’ »Most Clever« Argument at Theaetetus 171a–c?. In: Topoi 23, 3–32. Castagnoli, Luca 2010: Ancient Self-Refutation. The Logic and History of the Self-Refutation Argument from Democritus to Augustine, Cambridge. Davidson, Donald 1973: On the Very Idea of a Conceptual Scheme. In: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 47, 5–20.
Ein weiteres prominentes Argument, das sich mit diesem Themenbereich befasst (und für dessen Behandlung hier leider kein Raum blieb), ist Donald Davidsons Argumentation gegen die Möglichkeit von conceptual schemes (vgl. Davidson 1973). Dazu vgl. Forster 1998; Glock 2007; Schmitt 2018, Kapitel 3.2.1.
31
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Bedenken bezüglich der Denkbarkeit des Relativismus
Forster, Michael N. 1998: On the Very Idea of Denying the Existence of Radically Different Conceptual Schemes. In: Inquiry 41, 133–185. Gardiner, Mark Quentin 2000: Semantic Challenges to Realism. Dummett and Putnam, Toronto. Glock, Hans-Johann 2007: Relativism, Commensurability and Translatability. In: Ratio 20, 377–402. Goodman, Nelson 1978: Ways of Worldmaking, Indianapolis. Husserl, Edmund 1975: Logische Untersuchungen, Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, Den Haag. Kölbel, Max 2002: Truth Without Objectivity, London/New York. Kölbel, Max 2004: Indexical Relativism versus Genuine Relativism. In: International Journal of Philosophical Studies 12, 297–313. Mandelbaum, Maurice 1982: Subjective, Objective, and Conceptual Relativism. In: Michael Krausz (Hg.): Relativism. Cognitive and Moral, Notre Dame, 34–61. Platon 1990: Theaitetos. In: Plato: Werke. In 8 Bänden. Griechisch und deutsch, hg. von Gunther Eigler, Band 6: Theaitetos, Der Sophist, Der Staatsmann, Darmstadt, 1–217. Preston, John 1992: On some Objections to Relativism. In: Ratio 5, 57–73. Putnam, Hilary 1983: Why Reason Can’t be Naturalized. In: Hilary Putnam: Realism and Reason. Philosophical Papers Volume 3, Cambridge, 229– 247. Putnam, Hilary 1990: Realism with a Human Face, Cambridge. Schiller, Ferdinand C. S. 1908: Plato or Protagoras? Being a Critical Examination of the Protagoras Speech in the Theaetetus With Some Remarks Upon Error, Oxford. Schmitt, Dorothee 2018: Das Selbstaufhebungsargument. Der Relativismus in der gegenwärtigen philosophischen Debatte, Berlin/Boston. Siegel, Harvey 1987: Relativism Refuted. A Critique of Contemporary Epistemological Relativism, Dordrecht. Soffer, Gail 1991: Husserl and the Question of Relativism, Dordrecht. Tollefsen, Olaf 1987: The Equivocation Defense of Cognitive Relativism. In: Steven J. Bartlett (Hg.): Self-Reference. Reflections on Reflexivity, Dordrecht, 209–217.
83 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Antirealismus und Kohärenztheorie Der Wolf im Schafspelz? Thomas Schärtl
1.
Sollten wir nicht besser zum Realismus konvertieren?
Ist der Realismus eine unseren Erkenntnisbemühungen tief eingepflanzte Intuition, die in ihrer intuitiven Kraft dem Antirealismus von vornherein überlegen ist? Und worin besteht der eigentliche Kern dieser Intuition? Nicholas Rescher (vgl. Rescher 2000a, 93) und Michael Devitt (vgl. Devitt 1991, 14 f., 23 f.) verweisen unabhängig voneinander auf die Unabhängigkeitsthese: Es gibt eine, so sagt der Realist, von unserer kognitiven Ausstattung, von unserem Bewusstsein und vom Geist unabhängige Wirklichkeit, an der wir unser Erkenntnisbemühen orientieren: »Most current common-sense and scientific physical existence statements are objectively and mind-independently […] true« (Devitt 1991, 41). Michael Devitt erläutert die Unabhängigkeitsthese – zumindest in einem ersten Schritt – durch den Begriff der objektiven Existenz und zieht durch Differenzmarkierungen die entsprechenden Grenzen, die sozusagen jenseits der Demarkationslinie auch die möglichen Spielarten eines Antirealismus zu Gesicht bringen: »To say that an object has objective existence is not to say that it is unknowable. It is to say that it is not constituted by our knowledge, by our epistemic values, by our capacity to refer to it, by the synthesizing power of the mind, by our imposition of concepts, theories, or languages. Many worlds lack this sort of objectivity Kant’s ›phenomenal‹ world […], Dummett’s verifiable world […], the stars made by a Goodman ›version‹ […], the constructed world of Putnam’s ›internal realism‹ […], Kuhn’s world of theoretical ontologies […], and the many worlds created by the ›discourses‹ of structuralists and post-structuralists« (Devitt 1991, 15).
Der Unterton dieser Explikation ist allerdings durchaus von starken Implikationen geprägt; denn, wenn Michael Devitt Recht hätte, würden sich Antirealisten einer Zersetzung des Objektivitätsideals schul84 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Antirealismus und Kohärenztheorie
dig machen – einer Zersetzung, die in Konsequenz zulasten der Wahrheitsfähigkeit unseres Erkennens gehen könnte. Devitt räumt zwar ein, dass der Realismus nicht zwingend eine Korrespondenztheorie von Wahrheit nahelegt und dass, umgekehrt, auch ein Berkeleyanischer Idealist eine Korrespondenztheorie von Wahrheit vertreten könnte (vgl. Devitt 1991, 41–44), aber er hebt auch hervor, dass im Sinne eines Schlusses auf die beste Erklärung Realismus und Korrespondenztheorie sozusagen füreinander einstehen können (vgl. Devitt 1991, 44 f.). Devitt hält freilich an einem wichtigen Berührungspunkt zwischen Realismus und Wahrheitsbegriff fest, der für alle weiteren Überlegungen eine hartnäckige Rückfrage darstellt: »Finally, there is one straightforward link between Realism and truth. Whether truth is deflationary, correspondence, or epistemic, Realism requires that it be ›absolute‹. If truth were only relative, then we could use the equivalence thesis to derive relativistic anti-Realism: s is not true absolutely, but only relative to x; so it is not the case that p absolutely, but only p relative to x« (Devitt 1991, 46).
Damit ist nicht gesagt, dass antirealistische Positionen zwingend in ein relativistisches Wahrheitsverständnis abgleiten müssen; es ist nur angedeutet, dass sie es um einiges schwerer haben dürften, eine Vorstellung von einer absoluten Wahrheit entweder überhaupt noch zu artikulieren oder als Leitideal theorieimmanent im Blick zu behalten. Nimmt man Michael Devitts durchaus substanziellen Anfragen auf, so wird zu klären sein, wie sich die Abhängigkeitsthese, die ins Zentrum antirealistischer Ansätze gehört, genau darstellt und ob das damit einhergehende Verständnis von Wahrheit wirklich in einen Relativismus mündet. Eine mögliche Ausweichstrategie könnte für Antirealisten darin bestehen, die Rede von einer »absoluten Wahrheit« als sinnlos oder inoperabel darzustellen – oder aber eine Ersatzkonstruktion für das Gesuchte anzubieten (etwa so, wie es idealistischen Großansätzen nachgesagt wurde: dass absolute Wahrheit von s dann gegeben ist, wenn wir aus allen möglichen und wirklichen Bezugssystemen x1, x2, x3 das letztverbindliche Bezugssystem x0 herausentwickelt haben).
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Thomas Schärtl
1.1. Schlagende Argumente für den Realismus? Nicholas Rescher hat (mehrfach wiederholt) – was gerade in Hinsicht auf die Topografie von Argumenten relevant ist – eine Übersicht über die wichtigsten Gründe zusammengestellt, die eine realistische Position favorisieren und stabilisieren: i.
Die Unterscheidung zwischen Sein und Schein, die Differenz zwischen Wissen und Meinen, der Unterschied zwischen Kenntnis und Ignoranz wird erst dadurch greifbar und vollziehbar, dass wir von einer (von uns unabhängigen) Wirklichkeit ausgehen, die eben der Maßstab für Sein und Schein, Wissen oder Nichtwissen, Kenntnis und Ignoranz ist (vgl. Rescher 2010, 94– 97). ii. Kommunikativem und welt-intervenierendem Handeln geht es um etwas – nicht nur um unsere je eigenen geistigen Vollzüge, auch nicht um unsere Konzepte, sondern um die Wirklichkeit. Dass es bei Begriffen etwas zu begreifen gibt, wird nur verständlich, wenn wir hier die Wirklichkeit als den entscheidenden Bezugspunkt verstehen (vgl. Rescher 2010, 97–102). iii. Eine Kritik an Überzeugungen und Begriffsschemata ist nur dann sinnvoll, wenn wir sagen können, wer oder was – unabhängig von uns – als kritische Instanz in solch einem Ringen überhaupt auftreten kann: Auch hier ist der Rekurs auf die Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung (vgl. Rescher 2010, 102 f.). iv. Lernen und tieferes Verstehen, immer tiefer gehende Untersuchung eines Gegenstandes und die Neugier des Forschergeistes lassen sich am ehesten verstehen, wenn wir dabei herausstellen dürfen, dass es eben nicht nur um Konzepte und Überzeugungen geht, sondern um die Wirklichkeit, an der wir uns orientieren (vgl. Rescher 2010, 105–110). In diesen Bemerkungen ist die erkenntnistheoretische Fallhöhe beschrieben, an der sich auch eine antirealistische Position messen lassen muss. Gleichzeitig mutet uns Rescher aber auch die Einsicht zu, dass der metaphysische Realismus, den die genannten philosophischen Perspektiven begründend nahelegen, aus unserem epistemischen Tagesgeschäft – der Erfahrung von ›wirklichen‹ Gegenständen – gerade nicht abgeleitet werden kann, sondern im Grunde
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Antirealismus und Kohärenztheorie
als eine diese Erfahrung unterlegende Deutung verstanden werden muss: »For we do not derive the existence of reality from experience; we bring it to our experience in order to be able to construe it as such – that is, as the experience of something real. For we indispensably need that initial existential presupposition to make a start. Without a committing from the very outset to a reality that grounds our experience, its cognitive import will be lost« (Rescher 2010, 104).
Aber an genau dieser Gelenkstelle erwartet uns eine markante Dialektik: Der Realismus ist, folgt man Rescher, eine gewissermaßen unabdingbare Unterstellung, die aus pragmatischen Überlegungen, mithin aus einer Selbstreflexion, ja – so könnte man etwas übertrieben sagen – aus einer Selbstgesetzgebung der Vernunft erfolgt, sodass (wie Rescher zugibt) ein Idealismus unterhalb der Ebene des pragmatischen Realismus zu stehen kommt: »However, this sort of idealism is not substantive but methodological. It is not a denial of real objects that exist independently of mind and as such are causally responsible for our objective experience. Quite the reverse, it is designed to facilitate their acceptance, but it insists that the justif[i]c[a]tory rationale for this acceptance roots in considerations of mind-supplied purpose rather than empirical/factual discovery. For on its telling our commitment to mind-independent reality arises not from experience but for it – i. e. for the sake of our being in a position to exploit our experience to ground inquiry and communication with respect to the objectively real« (Rescher 2000a, 115 f.).
Aber trotz dieser Beteuerungen wird bei Rescher offensichtlich, dass sich die Geist- oder Subjektunabhängigkeitsthese nicht mehr geistunabhängig begründen lässt; 1 denn sie hat ein pragmatisches Postulat der Vernunft als Voraussetzung: »On this account, our commitment to realism is, at least initially, not a product of our inquiries about the world, but rather a workReschers Postulat spiegelt auf faszinierende Weise Kants Idealismuswiderlegung, die selbstbewusstseinstheoretisch eingefädelt wird (vgl. Kant 1911, 190–193 [= KrV B 274–279]). Kant greift in seiner Kritik der reinen Vernunft auf die im Bewusstsein vorfindliche Zeitbestimmung zurück, die auf ein Beharrliches außerhalb des Subjekts verweise, weil sich das Subjekt in Bewusstsein dieser Zeitbestimmung als von etwas bestimmt erfährt.
1
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Thomas Schärtl
ing presumption that undergirds our very conception of the world. The sort of realism contemplated here is accordingly one that pivots on the fact that we think of reals in a certain sort of way because doing so merits our ends and purposes. It is, accordingly, rooted (in the final instance at least) not in the world’s facts as such, but rather in the conceptual resources we employ for thinking about them – a stance which, ultimately, secures validation through the ›wisdom of hindsight‹« (Rescher 2010, 106). 2
1.2. Kohärenz – ein antirealistischer Verkaufstrick? Zu den bemerkenswerten Eigenarten in Reschers Entwurf gehört nicht nur das nicht geistunabhängig zu formulierende Postulat eines pragmatischen Realismus, sondern auch das Votum für eine Kohärenztheorie von Wahrheit, die seine realistische Option nicht zu stören scheint. Diese Wahrheitstheorie hat in der von Rescher formulierten klassischen Ausprägung die folgenden Umrisse: 1.
2.
3.
4.
2
Die Wahrheit einer Proposition wird danach beurteilt, wie sie mit anderen Propositionen zusammenhängt. Das Urteil über ihre Wahrheit hängt wesentlich von der Kompatibilität oder Inkompatibilität mit anderen Propositionen ab (vgl. Rescher 1973, 43). Die Wahrheit einer Proposition ist demzufolge kontextabhängig, das heißt, ohne die Bezugnahme auf ein zugrundliegendes System und bei nur isolierter Betrachtung kann die Wahrheit einer Proposition nicht ermittelt werden (vgl. Rescher 1973, 43). Die Wahrheit einer Proposition hängt wesentlich von einem Bezugssystem ab, innerhalb dessen die Beziehungen zwischen Propositionen in logischer Weise dargestellt werden können (vgl. Rescher 1973, 44). Wahrheiten müssen somit ein System bilden, innerhalb dessen einzelne Propositionen miteinander verbunden sind; dieses System sollte eine kohäsive Ganzheit bilden, die aufgrund ihrer inneren Verfugung alternative Möglichkeiten ausschließt (vgl. Rescher 1973, 44).
Vgl. dazu ebenso Rescher 2000a, 106 f., 115 f.
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Antirealismus und Kohärenztheorie
5.
6.
7.
8.
Das in Rede stehende System muss ausreichend groß und umfassend sein, um jenen Bereich zu umspannen, den wir als den Bereich der echten Fakten kennzeichnen würden. Konsistenz, Komprehension und Kohäsion müssen Kennzeichen dieses Systems sein (vgl. Rescher 1973, 44). Bestimmte logische Gesetzmäßigkeiten können nur in spezifisch kontextualisierter Form Anwendung finden, da Propositionen je nach Systemausschnitt ihre begründenden Rollen vertauschen können (vgl. Rescher 1973, 44). Logische Wahrheiten, die als Voraussetzung für die Bewertung von Kohärenz genommen werden müssen, sind strikt regulativ (und nicht informativ) zu deuten, weil das Wahrheitskriterium an dieser Stelle in die Gefahr einer petitio principii geriete (vgl. Rescher 1973, 45). Kohärenz darf nicht zu abstrakt, sondern muss spezifisch sein, um ihre Funktion als Wahrheitskriterium wirklich entfalten zu können. Die Kohärenz muss sich formal auf für spezifische Begründungsfragen signifikante Systemausschnitte beziehen, sich inhaltlich an starken Überzeugungen verankern, die sich zum Beispiel auf Erfahrungen beziehen etc. (vgl. Rescher 1973, 49 f.).
Reschers Votum für einen pragmatischen Realismus und für eine Kohärenztheorie von Wahrheit kann als ein herausstechendes Beispiel dafür dienen, dass Realismus und Korrespondenztheorie ein ideales Gespann bilden können, gleichwohl aber nicht müssen. Und umgekehrt ist derjenige, der für eine Kohärenzauffassung von Wahrheit eintritt, nicht in eine Zwangsehe mit dem Antirealismus gedrängt. Zu den leitenden Intuitionen, die Nicholas Rescher bewogen haben, eine Kohärenztheorie von Wahrheit zu verfechten, gehört eine anti-fundationalistische Spitze. Aus seiner Sicht kennt eine Kohärenzauffassung keine »besseren« oder »schlechteren«, keine »primären« oder »sekundären« Wahrheiten, kein Überzeugungsgebäude, das von unten nach oben in kristallklarer Gewissheitsstatik errichtet werden kann (vgl. Rescher 1973, 317 f.). Wie sich diese prinzipielle Egalität zu der oben unter (8.) beschriebenen Verankerung von Kohärenz in starken Überzeugungen und Propositionen verhält, ist allerdings nicht mehr so klar. Rescher offeriert zum Verständnis seines Anliegens immerhin ein anschauliches Gleichnis:
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»On the coherence theory, truth is not […] a tree-like structure supported by a firm-rooted trunk, but like a mass of objects (some tied to others) thrown into a liquid: some of them rise to the surface themselves or are dragged there by others, some of them sink to the bottom under their own weight or through the pull of others. For the coherentist, knowledge is not a Baconian brick wall with block supporting block upon a solid foundation, rather an item of knowledge is like a node of a spider’s web which is linked to others by thin strands of connection, each alone weak but all together adequate for its support« (Rescher 1973, 319).
Freilich muss man zurückfragen, wie sich diese Auffassung von Wahrheit nun genau zum pragmatisch eingeforderten Realismus verhält. Denn mit der anti-fundationalistischen Spitze sind all jene (ebenso nachvollziehbaren wie nachvollziehbarerweise gescheiterten) Versuche passé, die den Realitätsbezug unseres Erkennens durch ein Überzeugungsgebäude sichern wollten, das seine Fundamente – denken wir an den frühen Carnap oder Wittgenstein – auf nicht-doxastische oder vor-doxastische Erfahrungen oder Erlebnisse oder Gegenstandsbezüge gebildet hat. Diese steile Vorstellung bzw. Fundierungsforderung schien die unausweichliche Konsequenz einer radikal ausgelegten ›Unabhängigkeitsmaxime‹ zu sein, geht es dabei – auf die Spitze getrieben – doch um einen Haftpunkt unseres Erkennens, der (noch) nicht von unseren Begriffen oder Überzeugungen kontaminiert ist. Wenn und insofern Rescher ein solchermaßen gestricktes fundationalistisches Konzept ablehnt, dann stellt sich unweigerlich die Frage, was die von ihm unterstellte Orientierung an einer geistunabhängigen Wirklichkeit nun wirklichkeitsseitig begründet oder zumindest trägt. Wer ultimative Gegenstände oder unmittelbare Elementarerlebnisse als Basis ansetzt, mag – wie Carnap – ein Aufbau- und Konstitutionsproblem insofern haben, als nicht so recht klar wird, wie aus Bündeln von Elementarerlebnissen oder Elementarbeziehungen zu ultimativen Gegenständen komplexe Gegenstände und daraus wiederum komplexe Überzeugungen von komplexen Gegenständen werden sollen, aber er bzw. sie hat immerhin gezeigt, wo der sprichwörtliche Reifengummi unseres Erkenntnisapparates die Straße berührt. Wer jedoch Rescher in seiner Kohärenzauffassung folgt, hat (begründungslogisch) diesen Spielzug nicht zur Verfügung und muss pikanterweise den Blick zurückwenden: erneut in die Selbstgesetzgebung der Vernunft, die sich selbst eine realistische Deutung ihres Überzeugungsgeflechts setzt. 90 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Antirealismus und Kohärenztheorie
Nun ist Nicholas Reschers markanter und immer wieder diskutierter Entwurf nicht nur ein Beispiel dafür, wie man eine Kohärenztheorie der Wahrheit vertreten kann, ohne deswegen nicht auch Realist sein zu dürfen. Er liefert auch eine Version für das der Kohärenztheorie eigentümliche Verständnis von Wahrheit, das sich in den Worten von Ralph Walker grundsätzlich so zusammenfassen lässt: »The coherence theorist holds that for a proposition to be true is for it to cohere with a certain system of beliefs. It is not just that it is true if and only if it cohere with that system; it is that the coherence, and nothing else, is what its truth consists in. In particular, truth does not consist in the holding of some correspondence between the proposition and some reality which obtains independent of anything that may be believed about it« (Walker 1989, 2).
Walker hebt hervor, dass die Kohärenzauffassung nicht notwendig adversativ zur traditionellen Korrespondenztheorie von Wahrheit eingestellt sein muss. Sie würde lediglich betonen, dass die Rede von einer Übereinstimmung mit den Fakten eine façon de parler sei, die in der explikativen Sprache der Philosophie durch eine präzisere Diktion ersetzt werden müsse (vgl. Walker 1989, 4, 21). Der entscheidende Unterschied zur Korrespondenzvorstellung liegt darin, dass die Kohärenzauffassung darauf besteht, dass von bestimmten Annahmen abhängt, was als ›Faktum‹ gilt. 3 Genau an diesem Punkt kann sich die sozusagen natürliche Neigung der Kohärenzauffassung ergeben, sich mit einer antirealistischen Position zusammenzutun. Bestritten wird von beiden Positionen – und das wäre ein wichtiger gemeinsamer Nenner – die berühmt-berüchtigte Unabhängigkeitsthese, also die Auffassung, dass unsere Wirklichkeitserfassung von Walker deutet hier sogar ein interessantes theologisches Argument an: »For the traditional theologian God’s beliefs, unlike ours, invariably correspond with the relevant facts; these facts are independent of God’s beliefs about them (though they may not be independent of His creative will). For the coherence theorist on the other hand truth consists in coherence, and if the coherence is coherence with God’s beliefs then it is His beliefs that determine what the facts are« (Walker 1989, 4). Ein theologisches Argument zugunsten einer Kohärenztheorie wird aus dieser Gegenüberstellung dann, wenn wir uns unter theistischen Vorzeichen nicht mit der Abhängigkeit der Fakten von Gottes kreativem Willen zufrieden geben und die Aseität Gottes so interpretieren, dass auch seine Annahmen diese Signatur radikaler Unabhängigkeit bewahren müssen. Vor einem derartig starken Hintergrund müssten sich die Fakten sozusagen an (in bestimmter Weise qualifizierten) Annahmen Gottes orientieren: Was Gott als wahr anerkennt, gilt als Faktum.
3
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unseren noetischen Strukturen, Begriffen, kommunikativen Schemata, Annahmen und Überzeugungen unabhängig ist bzw. sein kann. Wenn nun aber das, was als Faktum gilt, von bestimmten Annahmen abhängt (und nicht umgekehrt), dann kann es – so Walker – keine wahren Propositionen geben, wenn es keinerlei epistemischen Subjekte gäbe, die bestimmte Annahmen haben können (vgl. Walker 1989, 30 f., 36 f.) – ein Gedanke, der einen Theisten übrigens nicht im Geringsten schrecken würde: »What is meant by ›independent‹ is just what we all normally mean by it. It may be natural to take it for granted that the facts are independent (in the ordinary sense) of any beliefs about them, but it is exactly this that coherence theorists are denying – though they are not, of course, obliged to deny that the facts are independent of my beliefs about them« (Walker 1989, 31).
Aber ist die Kohärenztheorie von Wahrheit bzw. jede damit äquivalente Kohärenzauffassung nicht inzwischen ein philosophisches Relikt, das sich als unbrauchbar erwiesen hat? Walker nennt fünf klassische Einwände gegen die Kohärenztheorie von Wahrheit; sie sollten auch nicht mit Einwänden gegen eine Kohärenztheorie des Wissens verwechselt werden: 4 (i)
Da alles mit allem kohärent sein kann, verwischt die Kohärenztheorie den eigentlichen Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit (vgl. Walker 1989, 26). (ii) Kohärenztheorien haben kein Sensorium, ja keinerlei Instrument dafür, die privilegierte Rolle von Erfahrung zu respektieren (vgl. Walker 1989, 26). (iii) Kohärenztheoretiker können die Geltung ihrer eigenen Theorie nicht mehr kohärentistisch begründen (vgl. Walker 1989, 27). (iv) Eine Kohärenzauffassung mündet unausweichlich in eine relativistische Position (vgl. Walker 1989, 27). Eine Kohärenztheorie des Wissens ist lediglich eine Theorie über die Strukturen jener Begründungen, die benötigt werden, damit aus wahren Annahmen auch Wissen wird. Sie versucht sich mit den begründungstheoretischen Einwänden der AgrippaSkepsis zu arrangieren und einen fundationalistischen Ausweg zu vermeiden (vgl. Walker 1989, 7 f.). Ob eine Kohärenztheorie des Wissens begründungspraktisch überhaupt durchführbar ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber selbst das Scheitern einer solchen Auffassung würde nicht zwingend die Ansprüche einer Kohärenztheorie von Wahrheit torpedieren, mag es zwischen beiden Positionen auch natürliche Allianzen und Überlappungen geben.
4
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(v) Das Wahrheitsverständnis der Kohärenztheorie ist kontraintuitiv (vgl. Walker 1989, 28). Gegen diese Anfragen lassen sich aber relativ rasch gute Gegenargumente formulieren: Zunächst muss eine kohärentistische Position nicht davon ausgehen, dass jedes beliebige System von Annahmen gleichermaßen als Bezugssystem herausgegriffen werden soll (vgl. Walker 1989, 26). Rationale (und außerrationale) Faktoren können dazu beitragen, dass bestimmte Bezugssysteme vor anderen zu privilegieren sind. Zweitens gibt es Kohärenzansätze, die so modelliert sind, dass sie Erfahrungssätzen eine spezifische Rolle im System zudenken können. Zudem könnte die Überprivilegierung von Erfahrungen den alten fragwürdigen ›Mythos des Gegebenen‹ wieder repristinieren, sodass erst einmal genauer über jene Intuition zu sprechen wäre, die Erfahrungen grosso modo zu privilegieren gedenkt (vgl. Walker 1989, 26). Dass die Kohärenztheorie ihr eigenes Wahrheitskriterium nicht einlösen kann, ist ein Vorwurf, der nur dann haltbar ist, wenn man insgeheim schon die Richtigkeit einer Korrespondenztheorie vorausgesetzt hat; denn auf einer meta-sprachlichen und meta-theoretischen Ebene kann durchaus gesagt werden, dass die Kohärenzauffassung mit der in der Kohärenztheorie empfohlenen Praxis der Wahrheitswertzuschreibung kohärent ist (vgl. Walker 1989, 27). Das Relativismus-Problem ergibt sich schließlich dann (und nur dann), wenn aus der Pluralität unterschiedlicher Bezugssysteme eine Art Gleichberechtigung dieser Systeme gefolgert würde. Solange eine Kohärenzauffassung noch um die Frage der Privilegierung eines Systems streitet – auch wenn es de facto nicht gelingen mag, diese Privilegiertheit auch rational unabweisbar einsichtig zu machen –, ist dieser Schritt durchaus noch nicht vollzogen (vgl. Walker 1989, 27). Und der Vorwurf der kontraintuitiven Deutung dessen, was wir mit ›wahr‹ meinen, lässt sich durch den generellen Verweis auf philosophische Theorien aushebeln, die durchaus das Recht haben, unsere CommonSense-Auffassungen in einer explikativ-revisionären Weise gegen den Strich zu bürsten (vgl. Walker 1989, 27). Nun kann dieser Hinweis auf die nicht zwingend verfangenden Standardargumente gegen die Kohärenztheorie uns zwar zeigen, dass zunächst vermutete Nachteile nicht als solche ins Gewicht fallen müssen. Aber welchen Vorteil könnte es haben, überhaupt eine Kohärenztheorie von Wahrheit zu vertreten? Ralph Walker nennt hier die verblüffende Möglichkeit, eine radikale (Cartesianische) Skepsis 93 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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als ausgesprochen entlegene, ja sinnlose Position zu brandmarken. René Descartes eröffnete mit seinem Genius malignus-Gedankenexperiment die unbequeme, ja erschreckende Denkmöglichkeit, dass wir auch in unseren ernstesten Erkenntnisbemühungen und sichersten Wahrheitszuschreibungen getäuscht werden könnten (vgl. Walker 1989, 7). Und er konnte sich dieses Horrors nur durch den Rückzug auf eine ausgesprochen schmale, als unerschütterlich geltende Wahrheitsbastion erwehren. Neben dem nicht gerade großen Geländegewinn dieses Spielzugs bleibt auf der Negativseite noch ein Verdacht zu verbuchen, der einen Korrespondenztheoretiker (genauso wie einen Realisten) durchaus umtreiben sollte: nämlich, dass auch unsere am besten begründeten, im System der Überzeugungen am solidesten verankerten Auffassungen schlussendlich doch falsch sein könnten (vgl. Walker 1989, 8). Für einen Kohärenztheoretiker dagegen gibt es diesen – wie Walker es nennt – ›logischen‹ Graben nicht, sobald wir in Betracht ziehen, dass das, was als ›echtes Faktum‹ gilt, von bestimmten Annahmen abhängt und dass es die Unabhängigkeitsthese ist, die dem Genius malignus-Gedanken die Tür öffnet: »The coherence theory promises us an answer to such extreme skepticism. It offers us instead a guarantee that our standards of rationality and justification are not just reflections of one species’s habit of thought, but reliable guides to reality. For reality is what these standards make it. This makes it clear why it would not be particularly attractive to combine the thesis that the nature of truth is coherence with the thesis that the criterion of truth is something different: it is a great advantage of the coherence theory that it offers to obliterate the potential gap between our methods of discovering about reality and reality itself« (Walker 1989, 14).
1.3. Den Realismus herausfordern Der realistischen Intuition und ihrem Insistieren auf der Unabhängigkeitsbehauptung kann eine antirealistische Position durchaus einige markante Argumente entgegenhalten. Beispielhalber seien zwei zusammenhängende Denklinien herausgegriffen; beide Argumente lassen sich verstärken, wenn man die Einsichten der transzendentalen Wende in der Philosophie in Rechnung stellt – eine Wende, die uns geistbegabte Subjektivität als den unentrinnbaren Ausgangs94 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Antirealismus und Kohärenztheorie
punkt aller Urteilsbildung vor Augen führt: das Argument aus der sortenabhängigen Identifikation und das Argument des indexikalischen Rückbezugs von Identifikation. Das erste Argument lässt sich kurz so niederschreiben: 1.
2.
3.
Die Identifikation von Entitäten ist sortenabhängig (weil Sortenangaben die Identitätskriterien der jeweiligen Dinge enthalten). [Metaphysischer Grundsatz] Die Festlegung von Sorten ist nicht unabhängig von unseren noetischen Strukturen, Begriffen, unserer sprachlichen Praxis bzw. unseren sprachlichen Etiketten (etc.), weil wir bei der Bestimmung von Sorten nicht nur auf Begriffsschemata, sondern auch auf sogenannte sekundäre Sinnesqualitäten, qualitatives Erleben und dergleichen rekurrieren müssen. [Erkenntnistheoretisch-hermeneutischer Grundsatz] Die Identifikation von Entitäten ist nicht unabhängig von unseren noetischen Strukturen, Begriffen, unserer sprachlichen Praxis (etc.). [aus 1 und 2; Hypothetischer Syllogismus]
Die erste Prämisse dieses Arguments ist aus metaphysischer Sicht eher unstrittig, sobald wir zugestanden haben, dass wir Identität unter dem Gesichtspunkt der sortalen Dependenz verhandeln müssen. Die zweite Prämisse kann vor allen Dingen Hilary Putnams Einsicht aus seiner sogenannten mittleren Phase heranziehen, in der Putnam die Fallstricke eines metaphysischen Realismus zu vermeiden sucht (und sich dabei an seiner eigenen frühen Bedeutungstheorie abarbeitet), ohne deswegen in einen Konstruktivismus zu schlittern: »Die Problemformulierung des metaphysischen Realismus läßt es wieder so erscheinen, als gäbe es zu Anfang alle diese Gegenstände an sich, und dann werfe ich ein Lasso über ein paar von diesen Gegenständen (über die Pferde, mit denen ich eine ›wirkliche‹ Verbindung habe, mittels einer ›Kausalkette der angemessenen Art‹), und dann stellt sich mir das Problem, dafür zu sorgen, daß mein Wort (›Pferd‹) nicht nur die ›eingefangenen‹ erfaßt, sondern auch die, die ich mit dem Lasso nicht fangen kann, weil sie in Raum und Zeit zu weit entfernt sind oder aus sonst einem Grund. Und die ›Lösung‹ dieses Problems, das ich für ein bloßes Scheinproblem halte, […] lautet, daß das Wort automatisch nicht nur die eingefangenen Gegenstände erfaßt, sondern auch die Gegenstände, die derselben Art angehören, d. h.
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die an sich derselben Art angehören. Doch damit wird schließlich behauptet, daß die Welt selbstidentifizierende Gegenstände enthält, denn ebendas bedeutet doch die Aussage, daß es die Welt ist – und nicht die denkenden Subjekte –, die die Dinge in Arten gruppiert. In gewissem Sinne, würde ich sagen, besteht die Welt tatsächlich aus ›selbstidentifizierenden Gegenständen‹ – aber nicht in einem Sinne, der dem Externalisten zur Verfügung steht. Wenn die ›Gegenstände‹ selbst, wie ich behaupte, ebensosehr Erzeugtes wie Entdecktes, ebensosehr Produkte unseres begrifflichen Erfindungsvermögens wie ›objektiver‹ – also willensunabhängiger – Faktor unserer Erfahrung sind, dann gehören sie natürlich intrinsisch unter bestimmte Etiketten, denn diese Etiketten waren ja Werkzeuge, mit deren Hilfe wir zunächst einmal Version der Welt konstruiert haben. Doch diese Art ›selbstidentifizierenden Gegenstands‹ ist nicht geistesunabhängig […]« (Putnam 1995, 80 f.).
Der zweite Argumentationsstrang knüpft an das mit dem Identifikationsproblem zusammenhängende Thema der Feststellung und Erfassung von Individualität an; das Argument könnte, etwas verkürzt, so lauten: 1.
2.
3. 4.
Ich bin als Ich-Subjekt qua Erster-Person-Perspektive (und nur durch sie) unmittelbar und selbst-transparent individuiert. [Subjektphilosophische These] Entweder ich bin die einzige Entität, deren Individuation ich ohne Irrtum und Ambiguität behaupten kann. Oder es gibt andere Entitäten, deren Individuation ich ohne Irrtum und Ambiguität durch Rückbezug auf meine Erste-Person-Perspektive behaupten kann. [Prämisse] Ich bin nicht die einzige Entität, deren Individuation ich ohne Irrtum und Ambiguität behaupten kann. [Anti-solipsistische These] Also gibt es andere Entitäten, deren Individuation ich durch Rückbezug auf meine Erste-Person-Perspektive behaupten kann. [aus 2 und 3; Disjunktiver Syllogismus]
Die Achillesferse dieses Arguments ist natürlich die zweite Prämisse, in die eine Behauptung gesteckt wurde: dass die Feststellung von Individuation in die Kenntnis meiner Selbst-Individuiertheit qua Selbst verschränkt und verfugt ist. Um diese Prämisse zu stabilisieren, ist eine Anleihe bei Johann Gottlieb Fichte nötig, die per se aber durchaus
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Antirealismus und Kohärenztheorie
plausibel ist: Was ein Individuum ist, erfahre ich am unmittelbarsten und mit der daraus entspringenden Fähigkeit irrtumsimmuner Referenz an mir selbst. Erst die auf dieser Basis ermöglichte Differenz von Ich und Nicht-Ich schafft überhaupt den konzeptionellen Raum für die Erfassung von Anderem als Anderem – eben auch in seiner Konkretion und Individuation. Man muss nun nicht so weit gehen wie eine überbordende Auslegung Fichtes, die den Grund aller Individuation im Ich angelegt sieht; es reicht die Einsicht in die mit der Differenz von Ich und Nicht-Ich eröffnete konzeptionelle Sphäre, die es ermöglicht, dass konkrete und individuelle Dinge sich als konkrete und individuelle Dinge erfassen lassen und so (im Raum der Gründe) einen Gegenstandsraum bilden, auf den wir rekurrieren können.
2.
Umrisse eines antirealistischen Anliegens
Eine nach wie vor nützliche Differenzierung der mit der RealismusAntirealismus-Kontroverse verbundenen Problemgemengelage bietet uns Alvin Plantinga. Er unterscheidet in einem klassischen Aufsatz zwischen einem existenzrelevanten (das heißt: auf Existenzaussagen bezogenen) und einem kreativen Antirealismus: »[O]f course there is an important use of the term ›realism‹ going back much further to the medieval dispute about universals. As this example suggests, one speaks of realism or anti-realism with respect to a given area or subject matter: universals, say, or the past, or other minds, or sets, or micro-entities in physics. And in one use of these terms, the realist is just a person who argues that there really are such things as universals, or other minds, or propositions. In this way of using the term, a realist with respect to inferred entities in science thinks there really are such things as the elementary particles-atoms, electrons, quarks and the like – endorsed by contemporary physics; he adds that they have pretty much the properties contemporary science says they have. And of course an anti-realist with respect to inferred entities denies these things. Call this sort of anti-realist an ›existential anti-realist‹. […] The Kantian anti-realist doesn’t deny the existence of an alleged range of objects; he holds instead that objects of the sort in question are not ontologically independent of persons and their ways of thinking and behaving. Kant didn’t deny, of course, that there are such things as horses, houses, planets and stars; nor did he deny that these things are material objects. Instead his
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characteristic claim is that their existence and fundamental structure have been conferred upon them by the conceptual activity of persons. According to Kant, the whole phenomenal world receives its fundamental structure from the constituting activities of mind. Such structures as those of space and time, object and property, truth and falsehood – these are not to be found in the world as such, but are constituted by our own noetic activity. […] Now we might call this Kantian kind of anti-realism ›subjective anti-realism‹ ; but perhaps that could be considered unduly pejorative. Instead, let’s call it ›creative anti-realism.‹ So there are at least two kinds of anti-realism: creative and existential« (Plantinga 1982, 48 f.).
Plantinga hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass wir den Existenz-Antirealismus und den kreativen Antirealismus sowohl global als auch regional verstehen können (wobei ein globaler ExistenzAntirealismus vermutlich eine radikale Existenzskepsis wäre): Jemand kann Existenz-Antirealist in Bezug auf artifizielle Gegenstände, Ganzheiten oder Institutionen sein (um nur ein paar Beispiele zu nennen) und trotzdem Realist in Hinsicht auf lebendige Wesen als Substanzen oder Simples als Grundlagen komplexer materieller Gebilde bleiben. Einen kreativen Antirealismus kann man ebenfalls in globaler oder regionaler Version vertreten: So ist es durchaus denkbar, realistisch die Existenz von Einzelgegenständen und Substanzen anzunehmen, aber Universalien oder andere abstrakte Gegenstände kreativ-antirealistisch zu deuten (also in einer ihre Objektivität nicht zwingend zerstörenden Abhängigkeit vom menschlichen Geist); aber es ist ebenso gut denkbar, Wirklichkeitserfassung zur Gänze in Abhängigkeit von Geist (das heißt freilich nicht: von meinem individuellen Geist) zu verstehen. Es ist wohl nicht widerspruchsfrei formulierbar, wie Plantinga ausführt, in Hinsicht auf ein und denselben Bereich sowohl Existenz- als auch kreativer Antirealist zu sein (weil ein kreativer Antirealist die Existenz der in Rede stehenden Gegenstände nicht leugnet, sondern die Absicherung, Begründung, Interpretation oder Sinnhaftigkeit der entsprechenden Existenzbehauptung mit unseren noetischen Kapazitäten verknüpft); aber es sind Fälle vorstellbar, in denen ein kreativer Antirealismus so auf die Spitze getrieben werden kann, dass er in einen Existenz-Antirealismus kippt (wie man im theologischen Kontext exemplarisch an Feuerbach studieren kann).
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Antirealismus und Kohärenztheorie
2.1. Was spricht eigentlich für den Antirealismus? Am Quellgrund der Geistabhängigkeitsthese liegt für die meisten Vertreter einer antirealistischen Position nicht eine willkürliche Konstruktionskompetenz, sondern die Aktivität eines sich vollziehenden, mit Spontaneität ausgestatteten Erkenntnissubjekts, das im Raum der Gründe die relevanten Begriffe aus sich hervorbringt (vgl. Kant 1911, 108 f., 119 f., vor allem 126 f. [= KrV B 131–134, 150–152, vor allem 163–165]). Terry Pinkard beschreibt diesen Ausgangspunkt als eine Position Kants durchaus treffend: »In some ways, the overall picture that Kant ended up with looks deceptively simple. Our consciousness of the world is the result of the combination of two very different types of ›representation,‹ Vorstellung: There are the passively received representations of objects in space and time given by sensible intuitions; and there are the discursive representations (concepts) that we combine with the intuitive representations to produce judgments. Concepts, in turn, should be thought of as rules for the combination of representations, as when we ›combine‹ a representation such as ›that thing over there‹ with another representation, ›green,‹ into the simple judgment: that thing over there is green. In all of this, we are aware of ourselves as having a viewpoint on the world and making judgments about it that may be true or false. […] The guiding question behind the ›Transcendental Deduction‹ was itself deceptively simple: what is the relation of representations to the object they represent? Following out that line of thought led him to the conclusion that the conditions under which an agent can come to be self-conscious are the conditions for the possibility of objects of experience – that is, all the relevant questions in metaphysics can be given rigorous answers if we look to the conditions under which we can be self-conscious agents, and among those conditions is that we spontaneously (that is, not as a causal effect of anything else) bring certain features of our conscious experience to experience rather than deriving them from experience. A crucial feature of our experience of ourselves and the world therefore is not a ›mirror‹ or a ›reflection‹ of any feature of a pre-existing part of the universe, but is spontaneously ›supplied‹ by us« (Pinkard 2002, 26 f.).
Diese durchaus eigentümliche Rollenverschiebung, die die formierende und strukturierende Aufgabe ganz dem Erkenntnissubjekt überantwortet, hat mit jener Grundthese Kants zu tun, die die Frage 99 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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der Objektrepräsentanz nicht als Angelegenheit kausaler (und damit im Zweifelsfall naturalistischer) Rekonstruktion versteht, sondern als Frage der Normativität eines Erkenntnisanspruchs, der nur und ausschließlich von einem epistemischen Subjekt eingelöst werden kann, wenn es für die Konstitutionsbedingungen der Normsetzung selbst aufzukommen hat. Anders gesagt: Da die Frage der Objektrepräsentanz den Raum der Naturtatsachen und der rein natürlichen Ursachenzusammenhänge verlässt und den Raum der Gründe eröffnet, muss eben jene Instanz aufgesucht werden, die für die Ansprüche aus dem Raum der Gründe empfänglich ist: das epistemische Subjekt. Diese »Aktivität des Subjekts« ist nicht im Ansatz mit der freien Wahl zwischen Optionen zu vergleichen, sondern eher mit einem gewissen Maß an kreativer Betätigung, die die Eigenart besitzt, natürliche Stimuli und Impulse eines Erkenntnisprozesses in Gründe zu verwandeln. Diese Transformation hat einen Leistungsanteil, der als Vorleistung aus der Aktivität des Erkenntnissubjektes auf das Konto eben dieses Subjektes verbucht werden muss. Drei Indizien mögen als Stärkung dieser antirealistischen These dienen: Zunächst lässt sich auch schon auf rein natural-physiologischer Seite ein nicht geringer Anteil an Verarbeitungsleistung, die unser kognitiver Apparat vollbringt, in Rechnung stellen. Eine diffuse Menge möglicher Stimuli wird durch Filterprozesse zu einem kreativ-gestaltbaren Material, das erkenntniszuträglich und damit verarbeitbar ist, geformt (vgl. Lenk 1993, 110–131). Die Formierungsraster selbst unterliegen einer gewissen Fluidität, können auch durch externe Störungsquellen beeinträchtigt sein, können aber nicht direkt willentlich beeinflusst werden. Diese Feststellung lässt sich, zweitens, erfahrungsphänomenologisch erhärten: Wahrnehmen und Erfahren ereignet sich unter Relevanzgesichtspunkten, die die Erfassung eines Phänomenbereichs dirigieren – was besonders deutlich wird, wenn wir den uns umgebenden Raum als leiblich zentrierten, sozialen Raum wahrnehmen und ihn mit eben dieser leiblich begründeten Erfassungsweise zentrieren oder ermessen (vgl. Joisten 2003, 64–75; Koch 2016, 21 f.). Eine indirekte Beeinflussung dieses Relevanzraums ist auf jeden Fall denkbar. Das dritte (und vielleicht wichtigste Indiz) ist die Sprache: Eine die Wirklichkeit eins zu eins abbildende Sprechweise müsste eine radikale Namens-Sprache sein (vgl. Wittgenstein 1984a, Nr. 3.202, 3.22), in der jeder Ausdruck als Name identifizierbar und der Name wiederum als eine gewissermaßen gefrorene Form der Zeigefunktion rekonstruierbar sein 100 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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müsste. Aber solch eine Sprache würde uns gewiss an Kommunikationsgrenzen treiben, weil wir – abgesehen von unserem Umgang mit Personen (was durchaus philosophisch signifikant ist) – in kaum anderen Bereichen eine Namens-Sprache, sondern eine Sorteneinteilungssprache, bei der die in Prädikaten ansichtigen Sorteneinteilungen zu Kennzeichnungen 5 gewoben und für Verweise verwendet werden, benutzen, ja sogar verwenden müssen (vgl. Koch 2016, 10– 23). In den Philosophischen Untersuchungen kritisiert Wittgenstein die alte Konzeption von Namen; in einer an Hegels Phänomenologie des Geistes erinnernden Weise deutet Wittgenstein an, dass diese rein abbildende Sprache am Ende sogar namenlos sein müsste, dass diejenige Stelle, die in der Sprache für die Berührung mit Gegenständen steht, letztendlich von reinen Demonstrativa ausgefüllt werden müsste, was aber zur Folge hätte, dass mit dem Akt des Nennens und Referierens keine Inhaltlichkeit mehr mitgesetzt werden kann: »Das hinweisende ›dieses‹ kann nie trägerlos werden. Man könnte sagen: ›Solange es ein Dieses gibt, solange hat das Wort ›dieses‹ auch Bedeutung, ob dieses nun einfach oder zusammengesetzt ist.‹ – Aber das macht das Wort eben nicht zu einem Namen. Im Gegenteil; denn ein Name wird nicht mit der hinweisenden Geste verwendet, sondern nur durch sie erklärt« (Wittgenstein 1984b, § 45). 6
Diese in Prädikaten ansichtigen Einteilungen sind aber unser sprachliches Werk; die in Prädikationen ansichtigen Verallgemeinerungen verweisen zurück auf Maßstäbe und Gesichtspunkte, die wir an die Dinge anlegen (und sind vermutlich nicht durch Einsichten in reine Abstrakta wie platonische Ideen diktiert), sie sind gewissermaßen unter pragmatischen Gesichtspunkten sprachlich ›errichtet‹. Hinzu kommt, dass der eigentliche ›Zement‹ dieser Namens-Sprache, wie sich an Wittgensteins den Tractatus und die Philosophischen Untersuchungen verbindendem Projekt ersehen lässt, solange ein Rätsel bleibt (vgl. Koch 2016, 99 f.), 7 als wir unsere Namen verleihende, sprachhandelnde Kraft aus der Rechnung herauszunehmen suchen:
Zur komplizierten sprachphilosophischen Einschätzung von Kennzeichnungstermen vgl. McGinn 2015, vor allem 60–63. 6 Vgl. dazu auch Hegel 1980, 71–78. Vgl. dazu auch Pinkard 1994, 26 f. 7 Zur Eigenartigkeit und Rätselhaftigkeit eines simplifizierten Konzepts von Bezugnahme vgl. auch Davidson 1994, 318 f. 5
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»Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist« (Wittgenstein 1984a, Nr. 3.221).
Damit steuert Wittgensteins frühe sprach-realistische Position (vgl. Pears 1987, 88–152) auf einen markanten Dualismus zu, der die ›eigentlichen‹ Dinge als etwas im Letzten Unausdrückbares versteht; sie entziehen sich dem Raum des Sagens, Denkens und Begründens, obwohl (in einer realistischen Sichtweise) die Sachhaltigkeit unseres Sagens und Denkens eben in den Dingen begründet liegen müsste. Wittgenstein weist aber in den Philosophischen Untersuchungen einen anderen Weg, der die umgekehrte Richtung anzeigt: »›Was die Namen der Sprache bezeichnen, muß unzerstörbar sein: denn man muß den Zustand beschreiben können, in dem alles, was zerstörbar ist, zerstört ist. Und in dieser Beschreibung wird es Wörter geben; und was ihnen entspricht, darf dann nicht zerstört sein, denn sonst hätten die Wörter keine Bedeutung.‹ Ich darf mir nicht den Ast absägen, auf welchem ich sitze. Man könnte nun freilich gleich einwenden, daß ja die Beschreibung selbst sich von der Zerstörung ausnehmen müsse. – Aber das, was den Wörtern der Beschreibung entspricht und also nicht zerstört sein darf, wenn sie wahr ist, ist, was den Wörtern ihre Bedeutung gibt, – ohne welches sie keine Bedeutung hätten. – Aber dieser Mensch ist ja doch in einem Sinne das, was seinem Namen entspricht. Er ist aber zerstörbar; und sein Name verliert seine Bedeutung nicht, wenn der Träger zerstört wird. – Das, was dem Namen entspricht, und ohne den er keine Bedeutung hätte, ist, z. B., ein Paradigma, das im Sprachspiel in Verbindung mit dem Namen gebraucht wird« (Wittgenstein 1984b, § 55). 8
Wittgenstein ironisiert in den Philosophischen Untersuchungen seine frühe sprach-realistische Auffassung, dergemäß der Gegenstand die Stabilität der Referenz zu garantieren habe: Wenn die Referenz stabil ist und auch dann noch funktioniert, wenn der Gegenstand gar nicht mehr existiert, müsste ein unzerstörbares Element im Gegenstand oder als Gegenstand eingeführt werden – und dies wäre eine neue Variante eines erkenntnis- und sprachtheoretischen Dualismus, die – wie Wittgenstein anklingen lässt – zu eigenartigen, auf jeden Fall kontraintuitiven Folgerungen Anlass gibt. Wittgenstein deutet 8
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Wittgenstein 1984b, § 11.
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an, dass man sich so eine radikal-indexikalische und präsentistische Funktion von Ausdrücken in einem Sprachspiel vorstellen kann; aber er macht uns gleichzeitig auch klar, dass eine Sprache, die nur so funktionieren würde, eine in ihrer Funktion extrem limitierte Sprache wäre; denn alle Gegenstände, auf die referiert würde, müssten wir gewissermaßen in einem unvergänglichen Apothekerschrank, zu dem alle Zugang haben, verfügbar halten. Erst die Aufhebung der Gegenstände in ihre Musterfunktion entbindet unsere Kommunikation von solchen radikal-invarianten Kontexten (vgl. Wittgenstein 1984b, § 44). An die Stelle des skizzierten Dualismus setzt Wittgenstein eine Art Gegenstrategie: Der Gegenstand wird nunmehr als Paradigma und Muster in den Bereich des Denkens und Sagens hineingenommen. Die Beziehung zwischen Gegenstand und Sprachausdruck wird durch den zum Muster gewordenen Gegenstand garantiert; aber Muster tragen sich natürlich nicht selbst, sondern werden stabilisiert von unseren sprachlich-kommunikativen Bezügen, die an letztverantwortlicher Stelle für den Bezug zwischen Ausdruck und Gegenstand aufkommen: »Was ist die Beziehung zwischen Namen und Benanntem? – Nun was ist sie? Schau auf das Sprachspiel (2) [das Platten-Bauarbeiter-Sprachspiel; Verf.], oder ein anderes! Diese Beziehung kann, unter vielem andern, auch darin bestehen, daß das Hören des Namens uns das Bild des Benannten vor die Seele ruft, und sie besteht unter anderem auch darin, daß der Name auf das Benannte geschrieben ist, oder daß er beim Zeigen auf das Benannte ausgesprochen wird« (Wittgenstein 1984b, § 37).
Wittgenstein erläutert die infrage stehende Beziehung an möglichen Verbindungen: Assoziationen von Ausdrücken mit einem mentalen Bild – einem Erlebnis bzw. einer Vorstellung – können in einigen Fällen diese Verbindung ermöglichen (aber nicht in allen, sodass damit auch eine bestimmte Konzeption von Bedeutungsverleihen kritisch befragt wird). In anderen Fällen ist es eine Muster-Situation des Zeigens oder eine etablierte, taufaktartige Identifikation. Was in § 37 der Philosophischen Untersuchungen nur zwischen den Zeilen angesprochen ist, ist der Umstand, dass unsere menschliche Sprachpraxis mit ihren etablierten Regeln die in Rede stehende Verbindung schafft. 9
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Zur weiteren Diskussion dieser Strategie Wittgensteins, die zu einer Überwindung
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2.2. Gründe und Normativität Der Raum des Denkens und Begreifens ist der Raum des Begründens und Erhebens von Geltungsansprüchen. Dass wir keine naturalistisch rekonstruierbaren Output-Maschinen sind, in denen externe Stimuli zu einer Informationsausgabe sozusagen durchgereicht werden, hat scharfsichtig Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns herausgestellt. Habermas referiert eine Position (die er zu dieser Zeit noch »phänomenologisch« nennt, die aber im Kern das Anliegen des Antirealismus trifft) und der gegenüber er auch eine gewisse Sympathie erkennen lässt: »Objektivität gewinnt die Welt erst dadurch, daß sie für eine Gemeinschaft sprach- und handlungsfähiger Subjekte als ein und dieselbe Welt gilt. Das abstrakte Weltkonzept ist eine notwendige Bedingung dafür, daß sich kommunikativ handelnde Subjekte miteinander über das verständigen, was in der Welt vorkommt oder in ihr bewirkt werden soll« (Habermas 1997, 31 f.).
An dieser Feststellung zeigen sich aber zwei Gelenkstellen, die den Antirealismus zum Kippen bringen und uns zwingen, am Ende doch einen Schritt darüber hinaus zu gehen – und zwar nicht hin zum Realismus, sondern zur Überwindung der Realismus-AntirealismusEntgegensetzung: Die erste Gelenkstelle ist mit dem Welt-Begriff angezeigt, der – obwohl philosophisch schillernd – die Gesamtheit eines Bezugsbereichs meint, im Rekurs auf den Geltungsansprüche eingelöst werden können. Diese Welt liegt nicht einfach vor, 10 sie wird durch unser kommunikatives Sprachhandeln im Raum des Sagens und Denkens ›errichtet‹ – wobei der Ausdruck »errichten« eine konstruktivistische Assoziation weckt, die Habermas sicher zu weit gehen würde –; das Errichten ist kein wildes Konstruieren, sondern ein
der Realismus-Antirealismus-Konfrontation beiträgt, vgl. Pinkard 2004, 254–294; ferner auch Diamond 1991, 39–72. 10 Habermas selbst ist wesentlich genauer als meine etwas summarische Rekonstruktion seines Kerngedankens, weil er zunächst von Welten spricht. Er übernimmt und überwindet in kreativer Weise Karl Poppers Drei-Welten-Theorie und unterscheidet (im Sinne von nicht-exklusiven Markierungspunkten) zwischen einer Welt der (physischen) Fakten, der sozialen Welt und der Welt unseres inneren Lebens (vgl. Habermas 1997, 126–140). Für alle drei ›Welten‹ ist das sozial-kommunikative Sprachhandeln der Schlüssel, um den jeweils in Rede stehenden Rekursbereich unserer Geltungsansprüche buchstäblich aufzuschließen.
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diskursives Ermitteln dessen, was die Welt ausmacht, die sich als Bezugsbereich in unserem Denken und Sagen zeigen soll. So sehr nun diese Welt der objektiven Fakten, der geltenden Normen, des geistexpressiven Handelns sich in ihrer Konstitution uns verdankt, so sehr ist sie doch der Rekursbereich unserer Geltungsansprüche – eine Berufungsinstanz, die einem arbiträr-freien Konstruieren von Fakten und Ansprüchen einen Widerstand entgegensetzen muss. Es ist eben dieser Widerstand, der die Grenze zwischen Denken und Ausdenken, Bezugnehmen und Fabulieren, Sein und Schein markiert. Aber wie und worin lässt sich diese Widerständigkeit begründen? Die zweite Gelenkstelle wird sichtbar, wenn wir uns noch einmal auf Wittgensteins Umkehrung des Denkweges besinnen und dabei berücksichtigen, dass er seine Position im Tractatus nicht widerlegen, sondern vornehmlich erweitern und ergänzen wollte; deshalb müssen wir uns noch einmal auf die Namensfunktion selbst konzentrieren: Die in einer weiteren Perspektive analysierte Namensfunktion transformiert – und diese Transformation ist in der Tat unsere Leistung als Erkenntnissubjekte – Gegenstände in Muster und Paradigmen; aber sie löscht damit natürlich nicht die Gegenständlichkeit der Gegenstände aus. Die Gegenstände müssen Verankerungspunkte unseres Sprechens bleiben. So wenig die ostensive Definition ohne die Beherrschung von Sprachregeln und das Verständnis von Mustern und Paradigmen erfolgreich sein kann, so wenig können Muster und Paradigmen sich selbst genügen, wenn sie sich nicht auch mit einem Sprachspiel des Hinweisens (auf Gegenstände) zusammenbringen lassen. Im Rückblick auf Habermas muss aber auch ein zusätzlicher Aspekt Berücksichtigung finden: Die formierende, normsetzende Kraft der (die Urteilsbildung ermöglichenden) Begriffsbildung ist keine Angelegenheit eines einsamen, autarken, abgekapselten Subjekts. Das ätherische, transzendentale Subjekt muss – wie Habermas so wunderbar formulierte – »auf die Erde« herabsteigen (Habermas 2009, 333). Kants transzendentale Subjektivität ist (in einem ersten Schritt) zumindest als generische Subjektivität zu lesen – als eine Stellvertretung einer Allgemeinheit von Subjektivität, in die der Blick auf das andere Subjekt immer schon impliziert ist. Vor diesem Hintergrund ist dann aber auch (in einem zweiten Schritt) eine Kritik transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorien mitgegeben: Die kreativ-formierende Kraft des Erkennens kann sich nicht individuell vollziehen, sondern muss sich, weil es um Geltungsansprüche geht, 105 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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dem Bereich des Intersubjektiven öffnen. 11 Hegels Analyse selbst-befangener Subjektivität (vgl. Pinkard 1994, 46–78) startet daher nachvollziehbarer Weise mit der Einsicht, dass das eigentliche adäquate Gegenüber von Selbstbewusstsein und Subjektsein, also der echte Gegen-Stand im eigentlichen Sinne, nur ein anderes Selbstbewusstsein und Subjekt sein kann: »Es ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein. Erst hiedurch ist es in der Tat; denn erst hierin wird für es die Einheit seiner selbst in seinem Anderssein; Ich, das der Gegenstand seines Begriffes, ist in der Tat nicht Gegenstand; der Gegenstand der Begierde aber ist nur selbstständig, denn er ist die allgemeine unvertilgbare Substanz, das flüssige sichselbstgleiche Wesen. Indem ein Selbstbewußtsein der Gegenstand ist, ist er ebenso wohl Ich, wie Gegenstand. – Hiemit ist schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden. Was für das Bewußtsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbstständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein, die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist. Das Bewußtsein hat erst in dem Selbstbewußtsein, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigten Scheine des sinnlichen Diesseits, und aus der Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet« (Hegel 1980, 127).
Diese tageshelle Erkenntnis, die über das Befangensein im Gewahrwerden bloßer Gegebenheiten einerseits und über die »Retroszendenz« in die Abstraktheit reiner Selbstreflexion hinauswächst, eröffnet sich erst da, wo ein Subjekt durch ein anderes Subjekt angesprochen ist. Aus dem Angesprochensein erwachsen jene Ansprüche, welche geltungstheoretisch belangvoll sind und eingelöst werden sollen – eingelöst auf dem Forum des intersubjektiven Anerkennens; aus dem transzendentalphilosophischen Fragen an die Bedingungen des Urteils wird so das geltungstheoretisch relevante Ringen um Anerkennungsverhältnisse. Hegel zwingt uns geradezu, die soziale Dimension dessen, was wir Wirklichkeitserfassung nennen, in Vgl. Habermas 2009, 325: »An die Stelle der selbstreflexiven Vergewisserung einer in foro interno tätigen Subjektivität jenseits von Raum und Zeit tritt dann die Explikation eines Wissens, das praktischer Natur ist und sprach- und handlungsfähige Subjekte dazu befähigt, an derart ausgezeichneten Praktiken teilzunehmen und entsprechende Leistungen zu erbringen.«
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das Konzept eines (Begriffe formenden) Selbstbewusstseins und Subjekts hineinzudenken: »[He] motivates our discarding the representationalist picture of our relation to the world and replacing it with a reflection on the kinds of social creatures we are. Knowledge, as Hegel understands it […], is not to be understood as a metaphysical relation between a ›subject‹ and an ›object‹ but as a way in which the peculiarly social organisms that we are establish a relation with the world and ourselves that involves both the kinds of ends we pursue and the kinds of subjects we take ourselves to be. To understand what we take to be valid claims to knowledge is to come to understand the kinds of persons we take ourselves to have become. To put it another way: We move away from a representationalist picture of knowledge to the idea of socially situated reason-giving activities; we thus move away from a picture of ourselves as ›subjects‹ representing the world to an understanding of ourselves as participants in various historically determinate social practices« (Pinkard 1994, 44).
Wittgenstein könnte auf der Basis seines Privatsprachenargumentes (vgl. Wittgenstein 1984b, § 256–265) sekundieren; zeigt er doch damit an, dass die Normativität von Regeln sich in der inter- und übersubjektiven Instanziierbarkeit des Regulativen ausdrücken lassen muss, um überhaupt als Regel erkennbar zu sein. Welterfassung, Selbsterfassung und Alteritätsbezug sind unentrinnbar ineinander verschränkt. Sehr klar formuliert dies wieder einmal Jürgen Habermas: »Der praktische wie der semantische Bezug zu Gegenständen konfrontiert uns mit ›der‹ Welt, während uns der Wahrheitsanspruch, den wir für Aussagen über Gegenstände erheben, mit dem Widerspruch ›der anderen‹ konfrontiert. Die vertikale Blickrichtung auf die objektive Welt verschränkt sich mit der horizontalen Beziehung zu den Angehörigen einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt. Objektivität der Welt und Intersubjektivität der Verständigung verweisen reziprok aufeinander. Damit ändert sich das Bild vom transzendentalen Subjekt, das den erscheinenden Objekten in einer von ihm konstituierten Welt gleichsam gegenübersteht. Die in ihre Praktiken verwickelten Subjekte beziehen sich aus dem Horizont der Lebenswelt auf etwas in der objektiven Welt, die sie, ob in Kommunikation oder Intervention, als eine unabhängig existierende und für alle identische Welt unterstellen. Diese Unterstellung bringt die Faktizität aller
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Herausforderungen und Kontingenzen zum Ausdruck, die die Routinen des Begreifens und Handelns gleichzeitig provozieren und beschränken« (Habermas 2009, 331 f.).
Regularität und Normativität sind die scharfen Kanten, die eine möglicherweise überschäumende Kreativität des Antirealisten domestizieren; die Spontaneität der Begiffsbildung vollzieht sich immer in einem intersubjektiven Raum und in einer Welt von zu Paradigmen avancierten ›Dingen‹, die als Rekursbereich unseres Urteils in den Raum der Gründe hineingehoben sind. Eine andere, scharfe Kante ist – spekulativ gesprochen – mit dem Gottesbegriff selbst markiert. Denn auch wenn wir in Rechnung stellen müssten, dass Geist und Bewusstsein immer in Vorleistung gehen, wo es um die Befassung mit ›der Wirklichkeit‹ geht, bildet die per definitionem Gott zukommende Aseität hier eine Kante, die jede denkbare Selbstreferenzialität aufbricht. Im Gottesgedanken wird eine Normativität ansichtig, ein Unbedingtes, das sich die Vernunft in letzter Instanz nicht allein nur aus-denken kann, dessen Entzogenheit und Erhabenheit sich im Raum des unbedingt zu Denkenden mit Wirklichkeit ›füllt‹, wenn und indem das Denken hier nicht mehr anders denken kann. In dieser Form markiert der Gottesgedanke zwei Eigentümlichkeiten, die wir im Zusammenhang mit der RealismusAntirealismus-Kontroverse schon kurz gestreift haben: Er ist erstens ebenfalls eine spekulative Folie, auf deren Grundlage wir eine Überwindung der Realismus-Antirealismus-Frontstellung suchen müssen, wenn es richtig ist, davon auszugehen, dass in Gott Denken und Sein, Bewusstsein und Wirklichkeit zusammenfallen. Denn wenn das so wäre, dann gäbe es zumindest eine Instanz, der gegenüber sowohl ein Realist als auch ein Antirealist einräumen müssten, dass hier eine trennende Schicht zwischen Geist und Wirklichkeit nicht mehr angenommen werden kann. Auf diese Grenzmarkierung und diesen Umkehrpunkt im Gottesgedanken hatte der schon mehrfach zitierte Alvin Plantinga ebenfalls verwiesen, wenn er das Antinomische der Realismus-Antirealismus-Gegenüberstellung beschreibt und gleichzeitig eine höhere Synthese anzuzielen versucht – obwohl er aus seinen realistischen Grundintuitionen (vgl. Plantinga 1982, 69 f.) keinen Hehl macht: »So what we really have here is a sort of antinomy. On the one hand there is a deep impulse towards anti-realism; there can’t really be truths independent of noetic activity. On the other hand
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there is the disquieting fact that anti-realism at least of the sorts we have been considering, seems incoherent and otherwise objectionable. We have here a paradox seeking resolution, a thesis and antithesis seeking synthesis. And what is by my lights the correct synthesis, was suggested long before Hegel. This synthesis was suggested by Augustine, endorsed by most of the theistic tradition, and given succinct statement by Thomas Aquinas […]. The thesis, then, is that truth cannot be independent of noetic activity on the part of persons. The antithesis is that it must be independent of our noetic activity. And the synthesis is that truth is independent of our intellectual activity but not of God’s« (Plantinga 1982, 68). 12
Diese Synthese spiegelt in Abschattungen auch den absolut-idealistischen Gedanken, dass die Unabhängigkeitsthese im Raum des absoluten (also überindividuellen und auch die Natur umgreifenden) Geistes witzlos wird (und wo die Unabhängigkeitsthese ihre Pointe verliert, wird die Abhängigkeitsthese trivial).
3.
Kohärenz: Ein Sturz in den Relativismus?
Die Kohärenztheorie der Wahrheit stand und steht – wie eingangs schon skizziert wurde – unter Beschuss; die Angriffe sind, wie angedeutet, durchaus nachvollziehbar, aber die darin angesprochenen Probleme sind vielleicht nicht vollkommen unlösbar.
3.1. Kohärenz und andere Kriterien Zum Brennpunkt der oben schon gestreiften klassischen Einwände gehört sicher, dass uns ein Kohärenzkriterium nicht sagen kann, woran wir uns halten sollen, wenn wir nach den Wahrmachern eines Satzes fragen (vgl. Khatchadourian 1961, 143–155). Anders gesagt: Was qualifiziert unsere Annahmen so, dass wir sie als Ausgangspunkt und Bemessungsgrundlage für andere Annahmen nehmen dürfen? Im Extremfall drängte sich der Verdacht auf, dass ein in sich kohärentes System sozusagen leer laufen, ja leer drehen kann, wenn es nur interne Anhaltspunkte als Kriterien hat. Wäre eine Korrespon12
Mit Bezug auf Thomas von Aquin 1964, q. 1 a. 6 resp.
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denztheorie hier nicht doch überlegen, die die in Rede stehenden Annahmen dadurch als besondere qualifizieren kann, weil sie sich eben auf Fakten beziehen? Weil einem Kohärenztheoretiker dieser Spielzug verwehrt bleibt, erscheint die besondere Qualifikation bestimmter Annahmen als etwas Mysteriöses. Diese Problematik ist auf einer rein internalistischen Geschäftsgrundlage nicht befriedigend zu lösen; die Sache erscheint aber in einem anderen Licht, wenn wir eine externalistische Perspektive gestatten: Dann ließe sich ein Bild ausgestalten, in dem unsere Fertigkeiten, Begründungs- und Wahrheitsanfragen zu beantworten, die Hintergrundfolie dafür bilden, auf der wir bestimmte Annahmen als Bemessungsgrundlage für die Einpassung anderer Annahmen und Propositionen in ein System heranziehen können: »Das Üben im Gebrauch einer Regel zeigt auch, was ein Fehler in ihrer Verwendung ist« (Wittgenstein 1984c, § 29).
Ein anderer klassischer Einwand gegen die Kohärenztheorie wurde von der formalen Epistemologie wieder aufgegriffen: Kohärenz kann als Kriterium den Gewissheitsaspekt und das Zustandekommen von Wahrheit nicht verständlich machen (vgl. Khatchadourian 1961, 100– 139) – ein Aspekt, der unter neueren Konstellationen so verstanden wird, dass bloße Kohärenz die Wahrheit einer Annahme nicht erklären kann: »This is the basic truth connection challenge. Take beliefs as the representational states that cohere with each other. It does not follow from the relationship between the beliefs, the challenge runs, that any of the beliefs are true, or, for that matter, likely to be true. So, there is no logical connection between coherence among beliefs and the truth of any of the cohering beliefs. There is no deduction from the premise of coherence to the truth of the conclusion of what is believed« (Lehrer 2005, 122).
Dieses durchaus intrikate Problem wurde unter anderem von Keith Lehrer durch einen Vergleich – ausgehend von den berüchtigten Gettier-Fällen – derartig bearbeitet, dass auch hier eine Lösung denkbar wird: So wie es Schlupflöcher im Rechtfertigungsbegriff (den wir bei der Standarddefinition unseres Wissensbegriffes nicht aufgeben wollen) gibt, sodass wir uns vorstellen können, dass schlecht, krumm oder abseitig gerechtfertigte Überzeugungen trotzdem wahr sein können, so kann – theoretisch – auch das Kohärenzkriterium löchrig
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und unbefriedigend sein, ohne dass wir es deshalb schon in Bausch und Bogen zu verwerfen hätten (vgl. Lehrer 2005, 123–128). Lehrer ergänzt es durch das Kriterium der rationalen Akzeptierbarkeit und die Verankerung einer Überzeugung im Überzeugungssystem einer epistemisch vertrauenswürdigen Person (und betritt gerade mit dem letztgenannten Punkt, wie die Antwort auf das erste Problem schon nahe legte, ein externalistisches Spielfeld). Lehrer verdeutlicht dadurch auch, dass ein Kohärenzsystem auf ein Prinzip rekurrieren darf, das als Prinzip die wahrheitssensitive Kohärenz von Überzeugungen erklären kann: »My acceptance of my trustworthiness in what I accept is defended by my trustworthiness in what I accept. The truth of my claim that I am trustworthy in what I accept is explained by my trustworthiness in what I accept. Similarly, and most fundamentally, my acceptance of the successful truth connection of what I accept is defended and explained by the successful truth connectedness of what I accept in a trustworthy way« (Lehrer 2005, 130).
Die Kohärenztheorie der Wahrheit schöpft ihre intuitive Plausibilität daraus, dass – wie Donald Davidson formulierte – Überzeugungen letztlich immer nur mit Überzeugungen begründet werden können (vgl. Davidson 2005, 51 f.), dass wir also im Spiel des Gründegebens den Raum der Gründe nie wirklich verlassen können, so sehr wir uns auch nach dem Bereich der Naturtatsachen strecken, die für das Gründespiel solange bedeutungslos bleiben, als sie eben nicht in den Raum der Gründe schon hineinragen. Ihre Kraft schöpft die Kohärenztheorie wiederum aus den erheblichen Schwierigkeiten, in denen sich die mächtige Gegenkonzeption – die Korrespondenztheorie von Wahrheit – befindet. Denn dieser natürliche Alliierte des Realisten steht unter einem erheblichen Druck, weil im Detail nicht zu bestimmen ist, worin die Korrespondenz bestehen oder wie die Korrespondenzformel kriteriell zum Einsatz gebracht werden soll. Crispin Wright macht dies an drei Beispielen deutlich 13 – alle beziehen sich Vergleichbare, aber ins noch Allgemeinere gehende Beispiele dieser Art finden sich bei Rescher 2010, 20–42; zum Fazit: »Our very conception of reality involucrates certain features as essential to it by its very nature. Specifically, it is understood to be descriptively definite and descriptively detailed. The former, definiteness, means that for any descriptive characterization, reality either has it or not. […] And the latter, detailedness, means that there is more to be said about a real thing than we can ever actually manage […]. On this basis it is clear that our statements can be true of [rationality] [sc. reality; Verf.] without being faithful to it. A true statement can be
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auf den (denkbar) einfachsten Fall einer perzeptionellen Erkenntnis (und es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, wie sich diese Probleme auf komplexeren Erkenntnisfelder aggravieren werden): (i)
Auch wenn verschiedene Subjekte denselben Inputs ausgesetzt sind, ist es denkbar, dass sie Verschiedenes sehen bzw. erfahren, wenn ihre begrifflichen Raster divergieren (vgl. Wright 1992, 160). Die Übereinstimmungs- bzw. Korrespondenzformel scheitert hier an der Divergenz der Begriffsschemata. (ii) Jede Erfahrung kann in perspektivischer und abundanter Detailreportage auf eine schier unendlich variierende Weise dargestellt werden (vgl. Wright 1992, 160). Die Übereinstimmungs- bzw. Korrespondenzformel scheitert hier an der impliziten Eindeutigkeitsforderung, die durch eine immer weiter steigerbare Darstellungsfeinporigkeit oder Darstellungsexpansion uneinlösbar wird. (iii) Jedes Urteil über Erfahrungen nährt sich offen oder unausgesprochen von Hintergrund- oder Kontextüberzeugungen, die sich ihrerseits auf ›Fakten‹ beziehen, die im Augenblick der Erfahrung weder präsent sind noch überhaupt den Status von empirisch verifizierbaren Fakten haben (weil es sich um metaphysische Hintergrundüberzeugungen handelt) (vgl. Wright 1992, 160 f.). Die Übereinstimmungs- bzw. Korrespondenzformel scheitert hier daran, dass sie nicht alle Faktoren eines wahren Erfahrungsurteils unter dieselbe Überschrift zu bringen vermag.
3.2. Relativismus aus der Pluralität von Bezugssystemen Zu dem schlagenden Einwand gegen die Kohärenztheorie (die – spiegelbildlich – ebenfalls nicht als Implikation, aber als natürliche Alliierte eines antirealistischen Einsatzpunktes gelten kann) zählt das disjunctive […] but reality must have it one way or the other. A true statement can be vague […], but reality must pick a definite shade. Talk about the real can be vague, indefinite, imprecise, approximate without sacrifice of truth. But while reality will not disagree or contradict, it certainly does not correspond to make characterization of itself. To say that truth corresponds to reality is decidedly to oversimplify matters« (Rescher 2010, 40 f.). Rescher bemüht in seiner Darstellung einen betont realismusaffinen Ausgangspunkt der Problembehandlung – und kommt von dort her dennoch auf die neuralgischen Fragen.
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oben schon kurz gestreifte Relativismus-Problem: Wenn es denkbar ist, dass es eine (unendliche) Vielzahl von Bezugssystemen geben kann, und wenn die Wahrheit einer Proposition immer nur relativ zu einem Bezugssystem zugeschrieben werden darf, bleibt uns dann – am Ende des Tages – nicht nur im Blick auf eine in Rede stehende Proposition p eine immer bloß relative Wahrheitsbewertung übrig? Würde damit nicht nur einer immer überholbaren Wahrheitsbewertung (und damit einem mit Fallibilität und nicht Gewissheit angereicherten Wissensbegriff) das Wort geredet, sondern womöglich auch einer (kultur- oder epochen- oder methodenorientierten) Regionalisierung von Wahrheit – getreu dem Motto: »Mein Bezugssystem, meine Wahrheit«? Die durchaus ernst zu nehmende Anfrage lässt sich an einer Ontologisierung des Bezugssystems-Relativismus bei Carol Rovane aufzeigen. Sie geht in ihrer Verteidigung davon aus, dass es Wahrheiten gibt, die sich zueinander weder konsistent noch inkonsistent verhalten, sodass wir jemandem, der eine Wahrheit vertritt, die mit unserem Kontext von Wahrheitszuschreibungen nicht übereinstimmt, aber eben auch nicht durch den Aufweis eines direkten Widerspruchs eliminiert werden kann, zugestehen müssen, dass er sich sozusagen in einer anderen ›Welt‹ bewegt: »But insofar as alternatives are neither inconsistent nor consistent, they fail to stand in any logical relations at all, and this means that when relativists affirm the existence (or possibility) of alternatives, they deny all of the central claims of Unimundialism – that logical relations run everywhere among all truthvalue-bearers, that there is a single, consistent, and comprehensive body of truths, that there is one world. Relativists affirm instead that some truth-value-bearers do not stand in logical relations to one another, that there are many noncomprehensive bodies of truths that cannot be conjoined, that there are many worlds rather than one« (Rovane 2013, 91).
Im Kunstwort ›Unimundialismus‹ verbirgt sich nach Rovane die (aus ihrer Sicht letztlich nicht durchhaltbare) Vorstellung, dass es lediglich eine ›Welt‹ und damit nur eine Menge von Fakten bzw. ein System gebe, auf dessen Grundlage wir die Wahrheit von Überzeugungen und Propositionen bestimmen können. Ist das Bild, das Rovane hier zeichnet und bewirbt, eine Konsequenz, die auch die Vertreter einer Kohärenztheorie von Wahrheit erwartet? Müssten Vertreter einer Kohärenztheorie nicht vergleichbare Schlüsse aus der Pluralität von 113 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Systemen ziehen? Zunächst scheint ein Kohärenztheoretiker, der einräumt, dass wir einen Satz p in eine System S nicht einpassen, in ein System S* dagegen schon einpassen können, sich in eine vergleichbare »multi-mundiale« Position zu manövrieren. Unter antirealistischen Vorzeichen und unter der Maßgabe, dass es verschiedene Rahmungen durch noetische Strukturen und konzeptionelle Schemata geben kann (eine Vorstellung, die ihrerseits durchaus umstritten ist), scheint sich das Problem zunächst zu verschärfen. Allerdings sind hier zwei Dinge doch zu beachten: Rovane selbst steuert auf ihre spektakuläre These dadurch zu, dass sie Formen der Urteilsnichtübereinstimmung bedenkt, die nicht einfach als Meinungsverschiedenheit oder Überzeugungsverschiedenheit behandelt werden können, sondern als eine Situation nicht-engagierter Urteilsdivergenz betrachtet werden müssen, weil die in Rede stehenden Positionen letztendlich so inkompatibel sind, dass es zwischen ihnen keine diskursive Vermittlung gibt (vgl. Rovane 2013, 57 f.). Obwohl solch ein Szenario denkbar ist, drängt sich jedoch die Frage auf, ob es unausweichlicher Weise durch die von ihr vorgenommene holistische Rahmung adäquat gedeutet wird. Eine lediglich partikulare disengagierte Urteilsdivergenz lässt den Schluss, dass sich die Überzeugungsträger sozusagen in verschiedenen Welten bewegen, nicht mehr zu. Partikulare Divergenzen – auch die einer disengagierten Art – können erst einmal epistemisch interpretiert werden. Damit ist ein zweiter Gedanke berührt: Die Vorstellung von verschiedenen gegeneinander isolierten Systemen, ja Welten gar, ist ausgesprochen starr. Rovanes Ontologisierung petrifiziert diese Isolationsanmutung sogar noch weiter. Ein Gegenmittel könnte hier erneut von Ludwig Wittgenstein stammen: »Alle Prüfung, alles Bekräftigen und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt all unserer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente« (Wittgenstein 1984c, § 102).
Wittgenstein räumt hier einige irreführende Vorstellungen ab: Es ist nicht so, dass wir uns das Bezugssystem oder gar die Welt aussuchen könnten. Und es ist auch nicht der Fall, dass wir ohne ein Bezugssystem – ein System begrifflicher Strukturen, argumentativer Topoi und Gewichtungen – überhaupt argumentieren könnten, weil wir in 114 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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so einem Fall buchstäblich keinen Boden unter den Füßen hätten (wie uns skeptische Strategien gerne immer wieder vor Augen führen). Schon die Feststellung einer disengagierten Urteilsdivergenz setzt – an irgendeinem Punkt – eine gemeinsame Bezugsbasis voraus, damit die Divergenz überhaupt feststellbar wird. Wichtiger noch ist aber Wittgensteins Hinweis auf die Rolle des Systems; es ist nicht so sehr eine Gesamtheit der Tatsachen als vielmehr ein Ideal, das unseren Argumenten einen Ort und einen Halt gibt. Wie das System uns die Wirklichkeit sozusagen sehen lässt, ist durchaus im Fluss, weil es seine Plausibilität nur darin hat, Argumenten entsprechende Kraft zu verleihen. Hinter verschiedenen Systemen, die wir unzweifelhaft immer wieder vor uns haben, stecken demnach nicht verschiedene Welten, sondern verschiedene Leben und Lebenselixiere, die sich in ihrer Kraft auch zu bewähren haben. Eine isolierende Abriegelung würde diese Lebenskraft gerade abtöten, weil damit eine Wand im Vollzug des Argumentierens errichtet wäre. Wittgensteins Verständnis von System verlangt geradezu, dass die Lebenskraft nicht gebremst wird. Es ist eben das Kennzeichen solcher Lebenskraft, dass wir bestimmte Bezugsrahmen hinter uns lassen und es faktisch immer nur mit einer begrenzten Zahl von sich ausschließend oder scheinbar disengagiert verhaltenden Alternativen zu tun haben. Natürlich ist es statthaft und nachvollziehbar, auf das Relativität-aus-Pluralitäts-Problem dadurch zu antworten, dass man die Kohärenztheorie am Ende des Tages doch in Bausch und Bogen verwirft. Man kann aber die Kohärenztheorie durch zwei Strategien vielleicht immerhin vor einer vorzeitigen Entsorgung schützen. Die erste Strategie stammt erneut von Keith Lehrer, der das Problem der schier unendlichen Vielzahl von Systemen selbst gesehen hat und darauf wiederum mit dem Grundsatz der rationalen Akzeptierbarkeit antwortet: »If one thinks of coherence as a feature of the system, such as consistency or even consistency with some specified axiom system, then there will, in fact, be an infinity of coherent systems, and the solution of the truth connection problem will be hopeless. If, however, one construes coherence as a relationship between a target acceptance and a background system of acceptances, the problem of infinite variety and the problem of the truth connection have the same solution. The infinite variety of possibilities is constrained by the actuality of present acceptances of a person. Actuality constrains infinite possibility in the coher-
115 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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ence theory. Moreover, the trustworthiness of what the person accepts and the successful truth connectedness of that trustworthiness provides the second constraint of actuality. There may be other possibilities of acceptance, of trustworthiness and successful truth connection, but that amounts to the mere truism that there are alternative ways of knowing. The appeal to what is actually accepted by a person depends on the actual trustworthiness thereof and the actual success of the truth connection to yield knowledge. Coherence is a nexus of actual acceptances, trustworthiness and truth connection. Actuality trumps possibility to yield knowledge within the coherence theory« (Lehrer 2005, 130).
Eine zweite Strategie könnte in einer behutsamen Adaption des prozesstheoretischen Ansatzes von Nicholas Rescher bestehen, der die Kohärenztheorie von Wahrheit (wenn auch unter pragmatisch-realistischen Vorzeichen) seinerzeit ja salonfähig gemacht hat. Hilfreich und weiterführend ist die Tatsache, dass Rescher sich auf prozessund kommunikationstheoretische Einsichten beruft, wenn er einen Ausweg aus einem parallel gelagerten Problem sucht, das mit der Frage zusammenhängt, ob wir Menschen nicht doch bloß auf historisch gewachsene und kulturell zugespielte (und damit von zeitlichen Zufällen her veränderte) Bezugssysteme festgelegt sind, sodass unsere Wahrheitszuschreibungen in einer geradezu prekären Weise relativ bleiben (vgl. Rescher 2000b, 108–116). Allerdings sind für Rescher die in dieser Hinsicht meistens vorgebrachten Optionen Extremszenarien: Sowohl der Verdacht einer radikalen Inkommensurabilität von vermeintlich unendlich vielen alternativen Bezugssystemen als auch die (hyperrationalistische) Unterstellung einer radikalen Identität von nur scheinbar verschiedenen Systemen sind die jeweiligen Endpunkte eines abgestuften vielfältigen Spektrums (vgl. Rescher 2000b, 112 f.). Denn bei Licht betrachtet, sind es komplexe kommunikative und rational-diskursive Prozesse, die diese vermeintlich verschiedenen Bezugssysteme (deren Anzahl faktisch immer schon beschränkt ist) in eine Bewährung und auch aufeinander zu schicken: »The point is that any complex concept scheme has internal resources through which the materials of another can be captured in a descriptively more rudimentary – and thereby descriptively neutral – manner so as to make communicative contact possible. Whatever is represented in the one can be represented in the other at a greater level of abstractness but yet in sufficient detail
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to make communicative contact possible. There is never an absolutely unbridgeable gap, a total disconnection of conception. Anything can be characterized at a level sufficiently rudimentary to possibilize its accessibility to another scheme at that level« (Rescher 2000b, 111).
Hinter Reschers prozesstheoretischen Vorstellungen wird ein alter idealistischer Gedanke sichtbar, der eine dialektische Vermittlung von Bezugssystemen, ihre Korrektur, Spiegelung, Überwindung und Aufhebung zu denken versucht. Auch wenn die damit einhergehenden teleologischen Fortschrittsvorstellungen naiv anmuten, lässt sich doch immerhin das Dialektische und Prozesshafte an solchen Konzeptionen unterstreichen und bewahren: Die Vorstellung von separierten Inselbezugssystemen ist ebenso verführerisch wie schief; allein die Tatsache, dass diese Inseln untereinander kommunikativ und hermeneutisch verbunden sind, lässt zwar noch keinen Sprung in den universalistischen Rahmen zu, führt aber zu Öffnungen, Integrationen, Abdunkelungen, Revisionen, neuen Bewährungsauflagen etc. für Bezugssysteme bzw. Systemausschnitte. Diese (nur in abstrakten Möglichkeitserwägungen unzählig vielen) Bezugssysteme sind nicht vollkommen gegeneinander geschlossen. Unter der Maßgabe einer kommunikativ auszuweisenden Orientierungsdienlichkeit werden sie aufeinander bezogen. Rescher selbst formuliert diesen Gedanken und die damit verbundene Lösungsstrategie programmatisch: »The idea that we can be cognitively trapped within history by a relativism that tethers us to our context of time and culture founders on fundamental considerations of process thought – and, in particular, on the role of information in the communicative process. When evolution produces an intelligent social being on the order of Homo sapiens, it thereby brings into existence a creature equipped with the intellectual resources to enter into the communicative realm in a way that enables it to transcend the historical concreteness of its particular spatiotemporal context of existence. By virtue of being the kind of thing it is, such a creature is no longer ›trapped within history.‹ Indeed, if we were so trapped in the way that doctrinaire epistemic relativism insists upon, then any and all prospects of communication across the divide of space and time would be annihilated. To take such a position would be to deny one of the most fundamental realities of the human condition – that we are living, breathing creatures rooted in the processual setting of a communicative community« (Rescher 2000b, 122).
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Was Rescher mit Blick auf den Relativismus aus realistischer Perspektive festhält, lässt sich auch aus antirealistischer Perspektive und unter Einbeziehung kohärentistischer Überlegungen unterstreichen. Und vielleicht erlaubt der antirealistische Einsatzpunkt sogar eine weitaus bessere, adäquate Wertschätzung der Unabdingbarkeit prozessualer Diskurse, durch die vermeintlich abgeschlossene Bezugssysteme aufeinander bezogen werden. Es sind eben genau diese Prozesse, durch die die Gesamtgeltung bestimmter Bezugsysteme eingeholt und eingeordnet, dadurch aber auch verständlich gemacht werden kann. In unseren dialektischen Prozeduren sind es verschiedene Strategien, die uns in den Stand versetzen, verschiedene Bezugssysteme so aufeinander zu beziehen, dass wir am Ende nicht mit einer radikal bunten Palette von unterschiedlichen Optionen, sondern mit einem wohlerwogenen Tableau verschiedener Alternativen konfrontiert sind; denken wir etwa an historische Kontextualisierung von (Teil-)Bezugssystemen, an genealogische Erklärungen, an diskursive Archäologien von Überzeugungen oder die Aufklärung von prärationalen Faktoren für die Exekution angeblich rationaler Beurteilungsmaßstäben etc. Reschers optimistische Haltung in Hinsicht auf die dialektische Überwindung bloß konstellativer Pluralität hat freilich eine metaphysische Voraussetzung, die mit dem Prozessgedanken selbst verbunden ist: »The very idea of a process involves transtemporal constancies. Water evaporates. That is to say, the evaporation of water is a generic process: it has many instances, occurring alike after rainstorms in sixteenth-century Lima and in twentieth-century Atlanta. Any and every particular process is always an instantiation of a general pattern. One simply cannot identify a process that fails to be of a (processual) type and that, in consequence, is not, at that level of abstraction, capable of repetition. And so the concreta of history, viewed in an epistemic perspective, can in fact manage to transcend their space-time settings to instantiate general patterns. Although their manifestations are inevitably temporal and concrete, those processes themselves can be atemporal and generic« (Rescher 2000b, 109).
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Thomas Schärtl
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Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens 1 Volker Gerhardt
1.
Wahrheitsfähigkeit als Ausweis der Menschlichkeit
Aus der Sicht der Philosophie ließe sich keine der heutzutage öffentlich kursierenden Thesen so schnell aus der Welt schaffen wie die Behauptung, dass es keine Wahrheit gibt. Denn jeder, der im Ernst der Ansicht ist, dass es Wahrheit nicht gibt, kann nicht anders, als die Wahrheit eben dieser seiner Auffassung zu unterstellen. Also widerspricht der Leugner der Wahrheit sich selbst und hat allein mit dem Anspruch auf die Wahrheit seiner Verneinung der Wahrheit ein Beispiel dafür gegeben, dass er, was immer alle anderen von ihr halten, zumindest selbst auf die Wahrheit nicht verzichten kann. Dieser Hinweis ist keine Spitzfindigkeit! Mit jeder sinnvollen Aussage, letztlich mit dem Wissen selbst ist notwendig der Anspruch auf Wahrheit verknüpft. Dass dies so ist, hat mit der Tatsache zu tun, dass sich der Mensch nur mithilfe von mehr oder weniger artikuliert geäußerten Begriffen über sich und seine Welt verständigen kann. Das heißt nicht, dass er notwendig immer etwas Bestimmtes sagen können muss; er kann notfalls auch nur mit dem Kopf nicken, ihn schütteln oder auf etwas zeigen. Es heißt auch nicht, dass er stets bei der Wahrheit bleibt oder dass es die Wahrheit wie einen Edelstein, eine Goldader oder als eine wie auch immer beschaffene metaphysische Wesenheit quasi gegenständlich in der Welt gibt. 2 Und es heißt schon gar nicht, dass es nur eine Wahrheit gibt! Es handelt sich bei diesem Beitrag um den Abendvortrag, den der Verfasser am 27. Juni 2019 auf der Tagung in Münster hielt, die diesem Band zugrunde liegt. 2 Das ist ein Missverständnis, das die philosophischen Wahrheitskritiker bevorzugt pflegen, weil sie sich darin den Anstrich des Neuen geben können, so als seien die Philosophen des Altertums so naiv gewesen, als hätten sie die metaphysischen Begriffe nach der Art von Gegenstandsbeschreibungen aufgefasst. An den platonischen Ideen lässt sich ebenso wie an den Kategorien des Aristoteles zeigen, dass sie nur in ihrer methodologischen Distanz zur bloßen Gegenständlichkeit zu verstehen sind. 1
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Volker Gerhardt
Wahrheit ist, wie nicht nur schon Sokrates und Platon, sondern auch der Apostel Paulus wussten (vgl. Gal 5,7), vielfältig und kann, je nach Standpunkt, sogar höchst gegensätzlich sein. Überdies gibt es viele Möglichkeiten, ihr aus dem Weg zu gehen. Aber daraus zu schließen, dass es keine Wahrheit gibt, ist gerade so klug wie der Kinderglaube, mit dem Schließen der Augen sei auch der verschwunden, den man gerade noch sah. So können auch Erwachsene verfahren: Sie können sich dumm stellen, kommentarlos über etwas hinweggehen oder von der Sache ablenken. Und vor allem: Sie können lügen. Die Lüge aber ist der sicherste Indikator dafür, dass es eine Wahrheit gibt – von der jemand nicht sprechen will. Gewiss: Es ist kein Ruhmesblatt für den Menschen, dass er wissentlich lügen kann. Gleichwohl ist homo sapiens darin einzigartig, und niemand kann bestreiten, dass die Menschheit auch daraus ihr fragwürdiges humanitäres Kapital gewinnen kann. Natürlich wissen wir, dass nicht nur der Mensch Haken schlagen, falsche Fährten legen oder etwas vortäuschen kann. Pflanzen und Tiere können darin sogar von bewundernswerter Raffinesse sein. Aber im Übertreiben, Erfinden, Phantasieren und schließlich in der Fähigkeit zur manifesten Lüge ist der Mensch, so traurig es ist, allen anderen Lebewesen überlegen. Aber das bedeutet nicht, dass er nicht wahrheitsfähig ist! Im Gegenteil: Wer bewusst lügt, hat zumindest eine Vorstellung davon, was richtig ist; meist weiß er sogar genau, warum er die Wahrheit verschweigt. Und gerade mit der verschwiegenen Wahrheit verbindet sich die Erwartung, in ihr könnte etwas liegen, was auch andere betrifft. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn jemand einen Diebstahl abstreitet, sind nicht nur er selbst, sondern auch die Bestohlenen, die Polizei, die Richter sowie vermutlich auch seine eigenen Angehörigen und Freunde tangiert. Das weiß niemand besser als der Lügner selbst. Also kennt er (der Sache nach) die soziale Reichweite der Wahrheit und ihre kommunikative Bedeutung. Folglich lässt sich schon an seinem Beispiel zeigen, dass er ein mustergültiges Exemplar des animal sociale sive rationale ist – also des Lebewesens, in dem sich Sozialität und Rationalität in singulärer Weise verbinden. Die Wahrheitsfähigkeit des Menschen ist somit ein Beleg dafür, dass die Humanität nicht zuletzt darin besteht, sich sowohl seiner Angewiesenheit auf seinesgleichen wie auch der gemeinsam erkannten Sachverhalte bewusst zu sein (vgl. Gerhardt 2019a 3). 122 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens
2.
Die zunehmende Unverzichtbarkeit der Wahrheit
Es ist keineswegs so, dass die Wahrheit unter den modernen (kurzfristig auch mal »postmodern«, gelegentlich bloß »ironisch« oder »narrativ« genannten und inzwischen einfach nur ›digital‹ gewordenen) Bedingungen allmählich an Bedeutung verliert. Es ist vielmehr im Gegenteil so, dass die Wahrheit nun auch im globalen Maßstab buchstäblich ›weltweit‹ unentbehrlich wird. Mit der Verdichtung der besiedelten Erde zum ›globalen Dorf‹ wächst der Wert der Wahrheit kontinuierlich an: Je komplexer und zugleich komprimierter die Lebensverhältnisse werden, umso wichtiger ist die verlässliche Koordination der erdumspannenden Aktivitäten. Dass Fahr- und Flugpläne unbrauchbar sind, wenn die in ihnen enthaltenen Daten nicht der Wahrheit entsprechen, ist seit langem offenkundig; dass auch Organtransplantationen auf exakte Vorerhebungen, treffende Diagnosen bei Spendern und Empfängern und schließlich auf einen exakt eingehaltenen Zeitplan angewiesen sind, wissen nicht nur die Mediziner; auch die Hubschrauberpiloten sowie das Klinikpersonal müssen es wissen, sodass sie sich danach richten können. Das Leben der Patienten hängt sowohl von der lückenlosen Wahrheitskette der Informationen wie auch von der Einhaltung der Vorschriften für exakte Leistungen ab. 4 Der zivilisatorische Handlungszusammenhang macht augenblicklich klar, wie voraussetzungsvoll es heute geworden ist, auch nur von Länge und Gewicht zu sprechen. Doch ganz gleich, ob in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, in der Statik für die Decke, die uns auf den Kopf fallen kann, oder beim Einkauf auf dem Markt: Wir brauchen die in zahllosen Varianten vorkommende Wahrheit, um gemeinschaftlich leben und verlässlich handeln zu können! 3 In der zweiten Auflage wird die Formel animal sociale sive rationale ausdrücklich gebraucht. 4 Oder: Was passiert, wenn das auf genaue Datenanalyse, korrekte Übermittlung und umgehende Beachtung angewiesene Tsunami-Warnsystem nicht beachtet wird? Die Küstenbewohner der Pazifikinsel Sulawesi haben es noch im Frühjahr 2019 erlebt. Oder, um noch ein ganz anderes Beispiel zu erwähnen: Messgrößen der Physik wie der Urmeter oder das Urkilogramm werden seit 2019 nicht mehr durch den anschaulichen physikalischen Vergleich, sondern durch atomare Messgrößen geprüft, die durch aufwändige apparative Bestimmungen ermittelt werden und angeblich ›absolut‹ konstant bleiben. Das Bemühen um Steigerung der Messgenauigkeit kann als Beleg dafür gelten, wie wichtig die Wahrheit den Ingenieuren der Gegenwart ist. Also: Wahrheit ist unverzichtbar.
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Volker Gerhardt
Daran ändert die Tatsache nichts, dass man Tatsachen und Geschichten auch erfinden kann. Denn deren Sinn beruht stets darauf, dass der Erfinder und jene, die ihm glauben, davon ausgehen, in einer gemeinsamen Welt zu leben, in der man oben und unten, früher oder später, jetzt oder nie unterscheiden kann. Und dass man dies kann, ist eine Folge der uns alle verbindenden begrifflichen Beziehung zu einer uns alle umfangenden und durchdringenden Wirklichkeit, in der es möglich ist, sich zum selben Zeitpunkt am selben Ort zu treffen, und im Augenblick nur diesen einen Vortrag zu hören, der unter dem Titel Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens angekündigt ist. So einfach ist das mit der Wahrheit, wenn es um ein bestimmtes Wissen geht, das wir brauchen, wenn wir unsere Feste so feiern wollen, wie sie fallen, einen Termin wahrzunehmen haben, der im Programm angekündigt ist, und dem Taxifahrer mindestens das zahlen wollen, was das Taxameter anzeigt.
3.
Ein philosophisches Missverständnis im Umgang mit der Wahrheit
Wer unter diesen Bedingungen die These verbreitet, auf Wahrheit komme es nicht mehr an, der hat ein Interesse daran, die Wahrheit zu verbergen oder zu verfälschen. Und umso wichtiger muss sie uns selbst sein, die sich über sie verständigen wollen! Das Interesse, von der Wahrheit abzulenken oder sie zu bestreiten, hat viele Motive, die sich über die elektronischen Medien zunehmend wirksam durchsetzen lassen. Das Marketing in Ökonomie und Politik und die sprunghaft gestiegene Kriminalität im Internet führen uns das derzeit mit niederschmetternder Effektivität vor Augen. Zum Glück ist davon gegenwärtig viel die Rede, sodass ich nur wünschen kann, dass niemand, der sich selbst ernst nimmt, nach Strich und Faden belogen werden will. Folglich sollte er in seinem Verhalten im Umgang mit den digitalen Medien und insbesondere in den sogenannten sozialen Netzwerken so wenig Anlass wie möglich bieten, zum Opfer medialer Fremdbestimmung zu werden. Mehr möchte ich zu dem Thema an dieser Stelle nicht sagen. 5 Für An anderer Stelle vgl. dazu Gerhardt 2014b; Gerhardt 2017; Gerhardt 2019b; und eine ganz andere Stimme: Gujer 2019.
5
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Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens
unser Thema reicht es, zu wissen, dass jemand, der einer Täuschung zum Opfer fällt, wissen kann, dass man ihn zum Narren gehalten hat. Die Urheber der Täuschung kennen die Wahrheit und lenken bewusst von ihr ab. Wichtiger ist mir, zu betonen, dass es durchaus ernst zu nehmende philosophische Motive geben kann, die Wahrheit zu leugnen. Dafür hat Friedrich Nietzsche ein bis in die Gegenwart nachwirkendes Beispiel gegeben. Ihm ging es allerdings nicht darum, die Geltung alltäglicher Wahrheiten zu leugnen: Er hat über Musik und Tragödie, über Sokrates, Arthur Schopenhauer und Richard Wagner geschrieben, und es wäre ihm auch nachträglich nie in den Sinn gekommen, den verwendeten Begriffen und Namen ihren Wahrheitsgehalt abzusprechen. Nietzsche hat auch nie in Abrede gestellt, dass es in der zwischenmenschlichen Verständigung wahre Aussagen gibt: So erwähnt er in einem frühen Entwurf zu seiner Wahrheitskritik (vgl. Nietzsche 1988a, 882) das Würfelspiel, bei dem sich alle Beteiligten einig sein können, dass die oben liegende Seite des Würfels eine eins, eine sechs oder eine andere Zahl dazwischen anzeigt. Es muss auch nicht in Zweifel stehen, ob das Spiel am Tag, am Abend oder in der Nacht stattfindet. Man kann es gewiss auch als eine Wahrheit bezeichnen, dass einer nicht allein, sondern mit anderen spielt. Doch alles das setzt Nietzsche voraus, ohne daraus Schlüsse für die alltägliche Geltung von Wahrheitsaussagen zu ziehen. Sein Wahrheitszweifel hat ein anderes Motiv: Ihm geht es um die Frage, ob in dem, was Menschen als »Wahrheit« bezeichnen, überhaupt etwas benannt wird, das in der Welt als solcher Bedeutung oder Bestand hat. Er fragt, ob es »die« Welt, von der wir sprechen, überhaupt gibt, und ob die »Dinge« und »Vorgänge«, die wir darin zu erkennen meinen, in dieser Welt tatsächlich als »Dinge« oder »Vorgänge« vorkommen. Seine Antwort ist entschieden negativ: Bei dem, was wir mit den Begriffen letztlich bezeichnen, gibt es keine reale Entsprechung in der »Welt« und insofern gibt es keine verbindliche Wahrheit! Damit kommt Nietzsche aber nur zu derselben Antwort, die bereits vor ihm von vielen anderen Philosophen vertreten worden ist: Es gibt keine Wahrheit im metaphysischen Sinn! Ob es in der Welt »als solcher« tatsächlich Objekte gibt, die in exakt derselben Weise auch von Außerirdischen oder von einem Gott begriffen werden, wie wir es tun, wissen wir nicht.
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Volker Gerhardt
4.
Eine verpasste Chance
Neu an Nietzsches Beweisführung ist lediglich, dass er die Unmöglichkeit der Erkenntnis von Dingen und Ereignissen »an sich« mit sprachkritischen und physiologischen Mitteln aufweist: Seiner Meinung nach haben die Menschen ursprünglich nur Bilder und Tonfolgen in ihrem Bewusstsein. In der Verständigung mit ihresgleichen machen sie daraus dann »Metaphern« und »Metonymien«, also sinnliche Vergleiche und Beispiele, die sich im Lauf der Zeit immer weiter verdichten und abkürzen, sodass sie schließlich zu bloßen »Begriffen« werden, von denen sie annehmen, dass sie genau das bezeichnen, was der Mensch im Umgang mit ihnen versteht. Doch Begriffe sind für Nietzsche wie »abgegriffene Münzen«, von denen man im alltäglichen Gebrauch nicht mehr genau sagen kann, welche Bildmotive in sie eingeprägt sind. Als Begriffe drücken sie lediglich mehrfach transformierte Empfindungen und Sinneseindrücke aus, die mehr über unsere leibliche Organisation aussagen als über die Beschaffenheit der bezeichneten Dinge und Vorgänge in einer »Welt«, die – ähnlich wie die »Wirklichkeit« oder die »Wahrheit« – zu den total abgenutzten Wortmünzen gehören. In dieser Perspektive »gibt« es für Nietzsche also keine Wahrheit – schon gar nicht über dem ursprünglichen Gehalt dessen, was wir da nach unserem Verständnis vor Augen haben und in unserem Verstand – strenggenommen nur für uns selbst – mit einer Bedeutung versehen. Damit ist über den gesuchten metaphysischen Gehalt der Wahrheit nichts gesagt. Leider zieht Nietzsche aus seiner sprachgeschichtlich höchst bemerkenswerten Reflexion 6 den Schluss, damit sei letztlich alles Sprechen von Wissen und Wahrheit entwertet. Und schon hier gerät er in Widerspruch zu seiner eigenen Kulturkritik, von der er doch hofft, dass sie einsichtig ist, begabte Anhänger findet und letztlich zu einer Selbststeigerung der menschlichen Kräfte führt. So kommt er in die missliche Lage, weitreichende Forderungen aufzustellen und sie zugleich durch den Verzicht auf die Wahrheit in ihrem Geltungsanspruch zu dementieren. Das ist leider das Schicksal, dem letztlich Nietzsches ganzes Denken unterworfen ist.
Auf die ihn ein Schüler Wilhelm von Humboldts, Gustav Gerber, aufmerksam gemacht hat (vgl. Gerber 1871).
6
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Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens
Das Beste, was man über die Folgen dieses Denkens sagen kann, ist, dass es die Künstler – und solche, die es sein wollen – stimuliert. Wer Nietzsche aber philosophisch ernst nehmen will, der muss gerade in der bewundernden Anerkennung des produktiven Scharfsinns dieses Künstlerphilosophen auf die gravierenden Missverständnisse achten, die er mit seinem Jahrhundert teilt. Nietzsche ist keineswegs so »unzeitgemäß«, wie er es sich wünscht. Vielmehr fällt er dem Positivismus, Historismus und Säkularismus seiner Zeitgenossen zum Opfer und hält seine Epoche für ein Ende, obgleich er doch besser als jeder andere hätte wissen können, dass, obgleich diese Epoche des Erkennens und der Aufklärung schon vor Jahrtausenden, spätestens mit Sokrates, einen unerhörten Anfang gemacht hat, dieser nun endlich, ungleich fundierter angelegt, zu einer hoffnungsvollen Fortsetzung führen könnte. Wer wie Nietzsche dies in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1875 gegenüber sich selbst bekennt, »Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe« (Nietzsche 1988c, 97), der hätte sich fragen müssen, warum er in dieser gefühlten Nähe zum Anfang des Philosophierens und in dieser Lust, seine Kräfte mit Sokrates zu messen, diesen ersten großen, uns von Platon in einzigartiger Erinnerung gehaltenen Denker nicht wirklich ernst genommen hat (vgl. Gerhardt 2019c). Um nur ein Beispiel zu nennen, das mich dann auch unmittelbar zu meinem Thema führt, frage ich mich, wie Nietzsche die in Die fröhliche Wissenschaft mitgeteilte Einsicht, dass es nur »geglaubte Motive« gebe (Nietzsche 1988b, 410 f.), nach Art eines modernen Psychologen für das Ende aller Aussicht auf die Wahrheit halten konnte, und nicht, wie der platonische Sokrates es getan hat, darin die Verpflichtung gesehen hat, unter der Anleitung dieser »geglaubten Motive« eines jeden Einzelnen nach einer alle Menschen verbindenden Einsicht in Erwartung eines gemeinsamen politischen Handelns, nach einem alle Menschen umfassenden Verständnis von Gerechtigkeit oder gar nach einem Guten überhaupt zu suchen, das man im Eros und Ethos dieses Strebens »göttlich« nennen kann.
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Volker Gerhardt
5.
Der Ursprung des Wissens
Für den platonischen Sokrates liegt der systematische, vielleicht aber auch der historische und biografische Ursprung des Wissens im Glauben. Das Liniengleichnis, das er zum besseren Verständnis des im Anschluss daran erzählten Höhlengleichnisses vorausschickt, setzt an die erste Stelle der Entfaltung des menschlichen Wissens die sinnliche Vorstellung (aisthesis), die vom mehr oder weniger deutlich wahrgenommenen Bild (eidos) ausgeht und das es erlaubt, eine Meinung (doxa) zu haben. Im nächsten Schritt, der ebenfalls noch in den Bereich sinnlicher Vorstellungen gehört, liegt insofern eine Steigerung, als nun ein Bezug des Bildes auf bestimmte Gegenstände hinzukommt. Es sind Gegenstände, wie sie in der Natur und im täglichen Leben von Bedeutung sind. 7 Diese zweite Stufe, auf der mithilfe der Sinne alles Leibhaftige, alles Lebendige und Geschaffene erschlossen wird, steht im Griechischen unter dem Titel pistis, den wir im Deutschen mit dem Begriff des Glaubens übersetzen. Man könnte ihn auch als Überzeugung oder gegenständliche Gewissheit verstehen. Doch da Sokrates das, worauf die Tugend der Frömmigkeit sich stützt, in der Regel auch pistis nennt, 8 machen wir, so denke ich, nichts falsch, wenn wir von »Glauben« sprechen. Pistis hat somit im Griechischen einen weiten Bedeutungsraum, wie wir ihn auch aus dem Deutschen kennen, in dem man »Glauben« sowohl für eine begründete Überzeugung als auch für den Glauben an Gott verwenden kann. Die Mehrdeutigkeit des Wortes ist kein Nachteil, sondern gerade auch mit Blick auf den religiösen Glauben ein eminenter Vorzug, der uns jederzeit klar macht, wie nahe das Göttliche den alltäglichen Dingen steht! 9 Im Liniengleichnis ist mit Meinen und Glauben aber nur die erste Hälfte des den Menschen eröffneten geistigen Selbst- und Weltverhältnisses eröffnet. In der zweiten Hälfte geht es um das, was wir als »Erkenntnis« (gnosis) bezeichnen und was hier noch einmal eigens zunächst in Verstandes- und dann in Vernunfterkenntnis unterschieden wird. 7 Zur Erläuterung wird in Platons Politeia auf Lebewesen (zōa, pan to phyteuton) und auf alles künstlich Geschaffene (skeuaston holon) verwiesen (vgl. Platon 2000, VI, 510a/b). 8 Durchgängig im Euthyphron (vgl. Platon 1986). 9 Vgl. dazu auch meine weiterführenden Überlegungen in Gerhardt 2014a; Gerhardt 2016.
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Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens
Diesen Unterschied machen wir im Anschluss an Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel noch heute. Die Verstandeserkenntnis bezieht sich, nach Platon, auf das Feld des Wissens (episteme), und zur Vernunfterkenntnis kommt es im Denken (dialegestai) – wobei Denken hier dasjenige meint, was durch argumentativ ausweisbare Schlussfolgerungen gesichert ist und sich im Dialog zu bewähren hat. Mit Platon und Kant sprechen wir auch von Dialektik, deren Sinn dann durch Hegel und Karl Marx metaphysisch verselbstständigt worden ist. Zu alledem gäbe es viel zu sagen; deshalb habe ich hier ausnahmsweise einmal mehrere Namen erwähnt: Doch in der Sache genügt es, darauf aufmerksam zu machen, dass Wissen und Denken ihre Bedeutung erst dadurch gewinnen, dass sie sich in der Mitteilung dialogisch zu bewähren haben. Während es im Meinen und Glauben um die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem von ihm oder ihr vorgestellten Gegenstand geht, rückt im Wissen und Denken die unerlässliche Beziehung auf die anderen Menschen in den Blick, die das Erkannte in genau der Weise verstehen können müssen, in der es von jedem anderen auch gedacht werden kann! Ehe ich erläutere, welche verblüffend einfache Lösung sich mit dieser Unterscheidung für die Begriffsbestimmung der Wahrheit im Glauben einerseits und der Wahrheit im Wissen andererseits ergibt, möchte ich nur hervorheben, wie elementar der Glauben nach dieser Darstellung – nicht nur für Platon – ist. Glauben ist nicht das, was man, wenn man schon manches weiß, – aus welchen Motiven auch immer – in Ergänzung, Vervollständigung oder Abrundung noch hinzufügt. Glauben ist vielmehr immer schon das, was dem Wissen vorausgeht und ihm auch weiterhin zugrunde liegt, allein schon deshalb, weil man ohne ihn, ohne die als treffend angenommene sinnliche Vorstellung nicht den geringsten Gebrauch von seinem Wissen machen kann. Und wenn man ihn macht, gelangt man an einen Punkt, an dem man nicht mehr weiter weiß – einfach, weil sicheres Wissen und das exakte Denken nicht mehr zu eindeutigen Erkenntnissen führen und wir dennoch auf weiterreichende Vorstellungen angewiesen sind – so wie das bei jeder auf die Zukunft gerichteten Orientierung der Fall ist! Dann sind wir mit unserem Wissen am Ende und es bleibt uns nur der das Wissen überschreitende Glauben! Es ist ein Glauben, der sich teils auf wohlbegründete Annahmen stützt, wie beim Wetterbericht oder bei der Katastrophenwarnung, der sich aber auch auf 129 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Volker Gerhardt
eine Vielzahl von Annahmen stützen kann, wie die Aussagen über den Klimawandel oder die Entwicklung der Weltwirtschaft. Dieser auf Orientierung zielende Glauben gewinnt augenblicklich eine ethische und (je nach Anspruch) religiöse Dimension, wenn ich mich frage, was das für den Sinn meines Handelns bedeutet. Auch hier kann es dann mich persönlich überzeugende Auffassungen geben, die mich hoffen lassen, ja, mir sogar die Gewissheit geben können, dass sogar im Leiden ein Trost liegen kann, weil es auch andere mir nahestehende Menschen gibt, die mir mit ihrem Selbst- und Weltvertrauen ein Beispiel gegeben haben. Das kann ethisch wie auch religiös von Bedeutung für mich sein. So geht der Glauben dem Wissen voraus, trägt es, soweit es verlässlich ist, und verhindert, dass wir rat- und mutlos in uns zusammensinken, weil das bloße Wissen uns keine Sicherheit mehr gibt. Also ist es der Glauben, der uns über die Grenzen des Wissens hinaus Selbstvertrauen und Zuversicht gibt, die es erlauben, im Bewusstsein unserer besten Kräfte weiterhin handlungsfähig zu sein. Das ist in allen Fällen unserer tätigen Beziehung auf die Zukunft, die keiner von uns kennt, der Fall, und es gilt insbesondere dort, wo wir, bei aller Ungewissheit, unser Selbstverständnis nicht preisgeben dürfen und es hoffentlich auch nicht wollen.
6.
Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens
Eine in der Philosophie allgemein akzeptierte Definition der Wahrheit gibt es nicht, es sei denn, man erklärt sie für die »Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand«. Von Kant wird diese Bestimmung als »geschenkt« abgetan, weil sie keinen »Probirstein der Wahrheit« enthalte, der im Zweifelsfall zu entscheiden erlaubt, worauf denn die »Übereinstimmung« beruht (Kant 1968, 79 f.). Damit ist das traditionelle Kriterium der »Korrespondenz« entkräftet, auf das man im Alltag aber gewiss nicht verzichten kann. Uhrenvergleich oder der Blick auf den Sonnenstand erfolgen nach dem »Probirstein« der »Korrespondenz«. Für Fälle, in denen uns der anschauliche Vergleich nicht hilft, etwa weil es um die Bewertung der Wahrheit mathematischer oder theoretisch aufwändiger Erkenntnis geht, schlägt Kant das Kriterium der logischen Stimmigkeit von Aussagen vor, die man unter den Be130 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens
griff der »Kohärenz« fassen kann. Zu diesem, insbesondere unter komplexeren Erkenntnisbedingungen nicht immer leicht anzuwendenden Kriterium hat sich unter dem Einfluss des Pragmatismus und einer soziologisch inspirierten Kritischen Theorie als drittes Kriterium der »Konsens« gesellt, der sich auf die faktische Übereinstimmung von Personen in ihrem Urteil über Sachverhalte gründet. Alle drei Kriterien haben ihre Berechtigung, und es gibt sie auch in unterschiedlicher Präzisierung. Sie alle beziehen sich auf Wissen und setzen die Trennung zwischen beurteilten Sachverhalten und den beurteilenden Personen voraus, die das Richtige oder Wahre über diese Sachverhalte zu sagen suchen. Das ist beim Glauben nicht grundsätzlich anders: Im Glauben hat eine Person eine Einstellung zu einem immer auch Wissen einschließenden Sachverhalt, den sie beurteilt. Doch in diesem Urteil geht es nicht allein um die Kenntnis eines Sachverhalts und wie er in eindeutiger Weise erfasst werden kann. Das muss zwar auch eine Rolle spielen, insbesondere dann, wenn es um humanitäre und ethische Ziele, erst recht, wenn es um »Gott« gehen sollte. Bei Gott kann man zum Beispiel fragen: Befindet er sich innerhalb oder außerhalb der mir bekannten Welt? Kann ich ihn mir nach Art einer ins Übermenschliche vergrößerten Person mit bestimmten Eigenschaften vorstellen? Ist es überhaupt angemessen, Gott als »gut«, »gerecht«, »allmächtig« oder »allwissend« zu bezeichnen? Ist Gott ein Wesen, dem man ein Interesse an Menschen unterstellen kann – ein Interesse, das sich in bestimmten Anforderungen sogar an mich persönlich richten kann? Das sind Fragen, die man stellen kann, und deren Antworten etwa mit Blick auf bestimmte Traditionen oder Theologien als »wahr«, als »wahrscheinlich«, vielleicht auch als »unangemessen« oder »falsch« bewertet werden können. Für viele mag sich daran schon die Frage nach der Wahrheit ihres Glaubens entscheiden. Doch alledem liegt ein weiterer und tieferer Sinn zugrunde, der nur davon abhängt, ob das, worum es geht, entscheidend für meine eigene Lebensführung ist: Die Wahrheit des Glaubens muss letztlich als existenziell begriffen werden, nämlich ob und inwieweit sie mir – ganz persönlich – etwas bedeutet. Und spätestens dann, wenn ich sagen muss, dass diese Bedeutung derart ist, dass sie mein Handeln herausfordert oder bestimmt und somit verbindlichen Einfluss auf meine Art zu leben hat, geht die Wahrheit des Glaubens über die Wahrheit des Wissens hinaus. 131 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Volker Gerhardt
Zweifellos hat auch die Wahrheit des Wissens einen großen Einfluss auf meine moralische und religiöse Beziehung zu den Gegenständen und Vorgängen in der Welt; sie kann enorme technisch-praktische Konsequenzen haben, die ganz erheblich auf das zurückwirken können, was und wie ich glaube. Doch die Wahrheit des Glaubens kann mich inmitten der Vielfalt anerkannten Wissens so ergreifen, dass ich, ohne von meinem sachlichen Wissen abrücken zu müssen, ein Leben in Zuversicht und Hoffnung führen kann oder durch Zweifel und Schuldvorwürfe belastet sterben muss. Mehr noch: Je mehr das Wissen mit der darauf gegründeten politischen, ökonomischen oder rein technischen Geschicklichkeit versagt, so wie das in Krisen und Kriegen nahezu unablässig erlebt werden kann, desto größer wird sowohl die individuelle als auch die soziale Bedeutung der Wahrheit des moralischen wie des religiösen Glaubens. Wenn es richtig ist, dass Wissen und Glauben nicht nur keine Gegensätze sind, sondern sogar in einem Zusammenhang wechselseitiger Ergänzung stehen (vgl. Gerhardt 2016), dann kann man sagen, dass die Menschheit noch nie zuvor einen so großen Bedarf an Glauben hatte wie in der sogenannten »Wissensgesellschaft« der Gegenwart. In der gibt es mehr zu wissen, zu lernen und zu bewirken als je zuvor. Aber mit jedem Zuwachs an weiterem Wissen steht uns umso klarer vor Augen, dass es uns nicht lehrt, wie wir leben sollen. Wohl aber lässt es uns zunehmend zweifeln, ob es überhaupt noch einen Sinn hat, sich darin als Mensch zu begreifen. Hier kann nur ein Glauben helfen, der uns mit seiner Wahrheit im Leben hält. – Ursprünglich sollte das mein Schlusssatz sein: In der gebotenen Kürze ist aus philosophischer Perspektive das Wichtigste gesagt. Doch mir liegt an einer kleinen religionshistorischen Ergänzung, die das christliche Verständnis von Wissen und Glauben betrifft.
7.
Von Sokrates zu Jesus
In den frühen Schriftreligionen wurde nur selten zwischen Glauben und Wissen unterschieden. In den Büchern des Alten Testaments wird die Unterscheidung vornehmlich gemacht, um besonders unwahrscheinliche Verheißungen oder Erwartungen hervorzuheben. 10 Etwa die Verheißung Gottes, dass die 90-jährige Sarah dem 100-jährigen Abraham noch einen Sohn gebären wird.
10
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Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens
In den Evangelien das Neuen Testaments ist hingegen alles auf den Glauben gegründet, und Paulus bedauert, dass in den älteren Schriften der Juden von dieser Differenzierung so selten Gebrauch gemacht wird (vgl. Hebr 11,1–39). Nun könnte man meinen, das habe primär mit der Kaskade von Unwahrscheinlichkeiten zu tun, die mit dem Leben und der Lehre des Jesus von Nazareth verbunden ist: der als Sohn Gottes in einem Stall von einer Jungfrau geboren sein soll; dessen welthistorischer Rang vor allen anderen farbige Könige aus dem Morgenland erkannt haben wollen; und der am Ende, gegen das Zeugnis der Schriftgelehrten, als »Messias« verehrt wird; der am Kreuz stirbt und wenige Tage später von den Toten aufersteht und gen Himmel fährt. Dass darin Zumutungen an die sozialen und sittlichen Vorstellungen der Zeitgenossen Jesu liegen und zugleich der Begriff des Wissens zur Bezeichnung historischer Tatsachen, alltäglicher Vorgänge und politischer Verhältnisse an Bedeutung gewinnt, ist so unbestreitbar, dass man verstehen kann, wenn das frühe Christentum Zuflucht zum Glauben nimmt und sich so die Möglichkeit verschafft, über die Alltäglichkeit der Tatsachen hinwegzusehen. Das erlaubte, großzügig zu urteilen und sich gegen die widersprüchlichen kulturellen Traditionen in ihrer Umgebung zu behaupten. Umdeutung und Umwertung der Werte, so scheint es, waren für die Anhänger Christi ein Gebot der Selbsterhaltung. In dem (von Paulus inspirierten) Hebräerbrief wird überdies in lehrhafter Weise vorgeführt, wie man die historisch verbürgten Prophezeiungen des Alten Testaments als Vorzeichen der mit Jesus Christus möglich gewordenen Glaubenswahrheiten verstehen kann. Hier wird das, was in der Überlieferung als »Wissen« angesehen wurde, nunmehr als »Glaube« interpretiert. Legen wir die (seit Sokrates) anerkannte Abgrenzung des Glaubens vom Wissen als Prämisse der christlichen Botschaft zugrunde, sind alle ihre Wahrheiten, also die Lehren, auf die es ihr ankommt, in einem streng genommen bereits modernen Sinn nicht auf Wissen, sondern auf Glauben gegründet: dass Jesus nicht als Prediger oder Prophet, sondern als »Sohn« Gottes verstanden werden soll; dass er sich und alle, die ihm folgen, in radikaler Weise als Individuen versteht; dass er die Überzeugungskraft seiner Botschaft nicht an soziale, politische oder kulturelle Voraussetzungen knüpft; dass er die Frauen den Männern gleichstellt; dass er sein schreckliches Ende, den Tod am Kreuz, ohne Gegenwehr auf sich nimmt und seine Anhänger glauben macht, dass er es stellvertretend für alle Menschen erträgt! In alle133 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Volker Gerhardt
dem gibt es in der Substanz nichts zu wissen, wohl aber alles zu glauben. Dazu gehört schließlich die unerhörte Zumutung, das nicht mehr zu überbietende Leiden eines Menschen als Zeichen der Liebe eines Gottes zu den Menschen zu verstehen. Angesichts dieser sich steigernden Paradoxien gibt es, um es noch einmal zu betonen, nichts zu wissen, sondern nur zu glauben! Und das gelingt auch nur in der mitleidenden Anteilnahme – gleichsam in mitmenschlicher Korrespondenz – an dem, was alles menschliche Fassungsvermögen übersteigt. Was sich darin als Glaubenserlebnis einstellt, das ist »Offenbarung«, ein Geschehen, in das der Gläubige selbst einbezogen ist und das alles, was das bloße Wissen bietet, hinter sich lässt. Wer darin eine bloße »Tatsache« sehen will, die man durch Faktensammlung historisch bestätigen will, hat nicht verstanden, worum es in der Offenbarung geht. Sie muss vielmehr selbst schon als ein Ereignis verstanden werden, das sich in seiner Bedeutung nur in einem Akt des Glaubens erschließt. Und dennoch ist die Offenbarung kein Ereignis im geschichtsleeren Raum! Die christliche Botschaft nimmt die im Programm des sokratisch-platonischen Denkens erstmals dokumentierte Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen auf und ist durchdrungen von der ebenfalls aus dieser Quelle stammenden Einsicht, dass nur die Liebe dem Menschen eine Befreiung aus der Beschränkung leibhaftig sinnlicher Selbst- und Welterfahrung eröffnen kann. Diese Botschaft entsteht unter dem Eindruck der ersten Verselbstständigung der Wissenschaften im sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhundert sowie in ihrem erstmals in Form der Sophistik auftretenden Missbrauch. Es ist eine Frage der religionsgeschichtlichen Forschung, wie das Wissen von dieser eminenten Entwicklung von Athen und Rom nach Palästina gelangen konnte. Spätestens im Wirken des Apostels Paulus ist diese Überlieferung offensichtlich und sie greift weit in die Zukunft bis in unsere Gegenwart aus: Mit ihrer einzigartigen Exposition des Glaubens bei gleichzeitiger Anerkennung der Eigenständigkeit des Wissens hat die christliche Botschaft von Anfang an – das sage ich mit dem größten Nachdruck – eben die Modernität, 11 die einer
Zum Beleg kann ich hier nur auf die inzwischen verstärkten Forschungen zur Bedeutung der erstmals von Karl Jaspers skizzierten Achsenzeit verweisen. Ich habe sie 1998 in die seitdem verschiedentlich weitergeführte These ›Die Moderne beginnt mit 11
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Die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Glaubens
Religion auch unter den beinahe alles dominierenden Bedingungen der Wissenschaft angemessen ist.
Literaturverzeichnis Armstrong, Karen 2006: Die Achsenzeit. Vom Ursprung der Weltreligionen, München. Assmann, Jan 2018: Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, München. Gerber, Gustav 1871: Die Sprache als Kunst, Bromberg. Gerhardt, Volker 1998: Die Moderne beginnt mit Sokrates. In: Frank Grunert/ Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie, Tübingen, 3–20. Gerhardt, Volker 2014a: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München. Gerhardt, Volker 2014b: Licht und Schatten der Öffentlichkeit. Zu Voraussetzungen und Folgen der digitalen Innovation, Wien. Gerhardt, Volker 2016: Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang, Stuttgart. Gerhardt, Volker 2017: Zu nah am Feuer. Das unvergleichlich Neue der digitalen Technik – und ihre gerade darin unterschätzte Gefahr. In: Polar, Heft 22, 73–80. Gerhardt, Volker 2019a: Humanität. Über den Geist der Menschheit, München. Gerhardt, Volker 2019b: »Kritik und Öffentlichkeit« – machen die Vernunft erst möglich. Vortrag anlässlich der Verleihung des Kant-WeltbürgerPreises am 18. Mai 2019 in Freiburg. Unter: http://www.kantstiftung. de/uploads/KWP19_3_Vortrag_Prof_Dr_Volker_Gerhardt.pdf (Abrufdatum: 25.08.2019). Gerhardt, Volker 2019c: Kant und Sokrates. Vortrag auf dem Kant-Kongress der Französischen Kant-Gesellschaft in Athen am 22.10.2019 [Publikation in Vorbereitung]. Gujer, Eric 2019: Der perfekte Albtraum – wenn Überwachungskapitalismus und Überwachungsstaat zusammenwachsen. Unter: https://www.nzz. ch/meinung/google-facebook-und-amazon-big-brother-lebt-jetzt-imsilicon-valley-ld.1509071 (Abrufdatum: 25.08.2019). Kant, Immanuel 1968: Kritik der reinen Vernunft (2. Auflage 1787). In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Band 3, Berlin. Nietzsche, Friedrich 1988a: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Band 1, München, 873–890. Sokrates‹ gefasst (vgl. Gerhardt 1998). Religionsgeschichtliche Konsequenzen finden sich bei Karen Armstrong und Jan Assmann (vgl. Armstrong 2006; Assmann 2018).
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Volker Gerhardt
Nietzsche, Friedrich 1988b: Die fröhliche Wissenschaft. Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Band 3, München, 343–651. Nietzsche, Friedrich 1988c: Nachgelassene Fragmente. Sommer? 1875. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Band 8, München, 97–120. Platon 1986: Euthyphron. Griechisch/Deutsch, Stuttgart. Platon 2000: Der Staat/Politeia. Griechisch-deutsch, Düsseldorf/Zürich.
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Teil II: Herausforderungen des Relativismus für die Systematische Theologie
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Was heißt eigentlich »christlicher Wahrheitsanspruch«? 1 Christian Tapp
1.
Zwei Arten von Wahrheitsansprüchen
Ich beginne mit einer Feststellung: Das Christentum erhebt Wahrheitsansprüche. Dies beginnt schon in der Bibel, wenn es beispielsweise in Joh 19,35 von einem Zeugen der Kreuzigung heißt: »Und der, der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr.« Oder in Joh 21,24 über den Evangelisten: »Wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.« Aber auch von Jesus selbst wird berichtet, dass er einen Wahrheitsanspruch erhob. Berühmt ist Joh 14,6: »Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.« Das kirchliche Lehramt spricht zum Beispiel in Lumen gentium von der »Verkündigung der Heilswahrheit« (Zweites Vatikanisches Konzil 1964, Nr. 17). Die umstrittene Erklärung Dominus Iesus der Kongregation für die Glaubenslehre will »jene Wahrheiten […] bekräftigen, die zum Glaubensgut der Kirche gehören« (Kongregation für die Glaubenslehre 2000, Nr. 3). Viele Überschriften theologischer Publikationen enthalten einen Bezug auf einen Wahrheitsanspruch des Christentums. 2 Worin aber besteht genauer der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens? Wie oder wo beansprucht ein Christ 3 Wahrheit? Mir scheint, dass man mindestens zwei Antwortrichtungen auf diese Frage unterscheiden muss. Die erste Antwortrichtung bezieht sich auf die religiösen Überzeugungen eines Christen. Einen Anspruch auf Wahrheit christlicher Überzeugungen erhebt er insofern, als er den Inhalt seiner Überzeugungen für wahr hält. Man könnte dies den Für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Fassung danke ich Bruno Niederbacher SJ. 2 Aus der jüngsten Zeit exemplarisch vgl. etwa Böttigheimer 2016, 103; Grössl 2019, 48; Hempelmann 2017, 6; Jahae 2018; Loretan 2017; Loretan 2018, 11. 3 Das generische Maskulinum in diesem Beitrag bezieht sich selbstverständlich auf alle Personen unabhängig von ihrem natürlichen Geschlecht. 1
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Christian Tapp
doxastischen, den meinungsbezogenen Wahrheitsanspruch nennen. Den doxastischen Wahrheitsanspruch des Christentums möchte ich in den beiden folgenden Abschnitten (2. und 3.) behandeln. Schon jetzt sei jedoch angemerkt, dass er in mindestens zwei Hinsichten unbefriedigend ist: Erstens ist das Fürwahrhalten, das mit dem Haben von Überzeugungen verbunden ist, etwas recht Unspektakuläres. Jeder, der Meinungen hat, hält das Gemeinte für wahr. Die doxastische Antwortrichtung scheint daher nicht wirklich das zu treffen, was beim christlichen Wahrheitsanspruch so kontrovers in der Diskussion steht. Und zweitens ist unter dem christlichen Glauben als solchem etwas Umfassenderes als nur eine Menge von Überzeugungen verstanden worden, nämlich so etwas wie eine bestimmte Weltanschauung, Lebensauffassung oder existenzielle Einstellung, zu der die religiösen Überzeugungen gehören, die aber nicht in ihnen aufgeht. Zu klären wäre in diesem Rahmen, was ›Wahrheit‹ in Bezug auf das, was über die satzhaft ausdrückbaren Überzeugungen hinausgeht, überhaupt heißen könnte. Die zweite Antwortrichtung betrifft einen gegenüber dem doxastischen stärkeren Wahrheitsanspruch. Er ist mit Sprachhandlungen verbunden, mit denen im öffentlichen Diskurs Anspruch auf Wahrheit erhoben wird. Man könnte ihn den diskursiven Wahrheitsanspruch nennen. Mit ihm werde ich mich im vierten Abschnitt befassen.
2.
Der doxastische Wahrheitsanspruch oder: Die Wahrheit religiöser Überzeugungen
Unter dem Wahrheitsanspruch des Christentums lässt sich also einerseits der Anspruch verstehen, dass die mit dem Christentum gemeinhin verbundenen Überzeugungen wahr sind. Um dies näher bestimmen zu können, wäre zunächst die Frage zu klären, was genau die religiösen Überzeugungen des Christentums eigentlich sind. Die geschichtlich geprägten Formeln, in denen sich der Glaube früherer Zeiten ausgedrückt hat, bedürfen stets der Interpretation. Sie sind schließlich die Frucht von historischen Prozessen, in denen die religiösen Protagonisten früherer Zeiten dasjenige, was ihnen als Glaubensinhalt vorschwebte, mit den ihnen verfügbaren Begrifflichkeiten vor dem Hintergrund der zu ihrer Zeit üblichen Denkweisen und in Auseinandersetzung mit ihren persönlichen Fragestellungen aus140 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Was heißt eigentlich »christlicher Wahrheitsanspruch«?
gedrückt haben. Zu den zeitbedingten Ausdrucksformen der Glaubensüberzeugungen kommt außerdem die Beimischung eher peripherer, von außen in den Glaubensbestand eingewanderter Überzeugungen hinzu, die mit dem eigentlichen Glaubensbestand teils ein schwer aufzutrennendes Amalgam gebildet haben. Man muss also sowohl zwischen Kernbestand und Peripherie als auch zwischen intendiertem Inhalt und Ausdrucksform unterscheiden – und sich zugleich bewusst halten, dass auch dies nur eine grobe Annäherung an die wirkliche Komplexität der historischen Verquickungen darstellt. Schon aus dieser vergröbernden Annäherung ergeben sich aber methodische Anforderungen an die Interpretation ›des‹ Glaubens ›des‹ Christentums. Wenn die Interpretation, wie im Christentum, ein genuines Interesse an historischer Kontinuität hat, muss sie sich bemühen, in den historischen Zeugnissen einen gleichbleibenden, identitätsbestimmenden Kernbestand vom Zeitbedingten abzuscheiden (soweit das überhaupt geht) – nur um ihn dann gleich wieder in das je eigene Gesamtverständnis einzugliedern, das das Gleichbleibende mit neuem Zeitbedingtem amalgamiert. Auch wenn dieses Gleichbleibende des Glaubens also ein Ideal ist, das nie in Reinform existiert, ist es als eine Art regulative Idee nötig, um die diachrone Identität des Glaubens zu bewahren. Will man keine neue Religion erfinden, sondern eine zeitgemäße Gestalt ein und derselben Religion leben, so ist die starke Rückbindung an den historischen Ursprung für eine geschichtliche Religion wie das Christentum von zentraler Bedeutung. 4 Nebenbei bemerkt ist dies etwas ganz anderes als das traditionalistische Beibehalten alter Formeln. Denn eine solche Beibehaltung hat unter sich stark verändernden Kontexten gerade nicht die intendierte identitätssichernde Wirkung, sondern gefährdet sie. Nicht zuletzt die sprachphilosophische Einsicht in die Interdependenz von Meinungs- und Bedeutungszuschreibungen und deren holistische Natur zeigt, dass im Falle größerer Veränderungen der umgebenden Meinungsstrukturen automatisch Bedeutungsverschiebungen eintreten, die man durch das Festhalten an bestimmten Formeln nur verdeckt, nicht aber verhindert. Im Extremfall wird auf diese Weise durch die bloße Veränderung des sonstigen Meinungssystems bei Beibehaltung bestimmter Ausdrucksformeln eine inhaltlich ganz neue Religion erzeugt, die nur noch wie die alte aussieht, von den 4
Zum Vorstehenden ausführlicher vgl. Tapp 2015.
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Christian Tapp
geglaubten Inhalten her jedoch eine andere ist. Die bloße Übernahme einer bestimmten sektoralen Sprach- und Handlungspraxis allein ist eben nicht identitätsbestimmend. So würde ja auch niemand davon ausgehen, dass beispielsweise die Übernahme bestimmter Licht- oder Baumrituale aus einem heidnischen Kontext das christliche Weihnachtsfest zu einem heidnischen Fest machen würde. In den Kontext dieser Frage nach einer Hermeneutik des überlieferten Glaubens gehört auch die vor kurzem in Deutschland heftig geführte Debatte um einen theologischen Realismus. 5 Sind religiöse Sätze so zu verstehen, dass mit ihnen jedenfalls im Grundsatz ausgedrückt wird, was sie zu sagen scheinen (Realismus)? Oder sind sie so zu verstehen, dass mit ihnen zwar immer noch Behauptungen, die wahr oder falsch sein können, ausgedrückt werden, es sich aber um andere Behauptungen handelt, als es die Satzoberfläche nahelegt (kognitivistische Formen des Antirealismus)? Oder drücken religiöse Sätze in der missverständlichen Form von Behauptungssätzen eigentlich eher ein Lebensgefühl aus oder sind gar als moralische Appelle gedacht (nonkognitivistische Formen des Antirealismus)? Zu dieser Diskussion möchte ich hier nicht ausdrücklich Stellung beziehen. Sie ist für mein Thema, den christlichen Wahrheitsanspruch, nur insofern wichtig, als die Umdeutung religiöser Sätze diese unter Umständen um ihre Wahrheitsfähigkeit bringen kann. Ein Appell etwa kann vielleicht berechtigt oder unberechtigt sein, er kann wirksam werden oder unwirksam bleiben, aber er kann nicht wahr oder falsch sein. Deutet man zum Beispiel den religiösen Satz »Gott hat die Welt geschaffen« immanentistisch um in einen Appell, die Welt, das heißt unsere Umwelt, in bestimmter respektvoller Weise zu behandeln, dann lässt sich dafür überhaupt kein Wahrheitsanspruch erheben. Reinterpretiert man den Satz »Gott hat die Welt geschaffen« hingegen als moralische Norm, so ließe sich unter gewissen Zusatzannahmen (etwa der Objektivität moralischer Normen, sodass Sätze über Normen wahr und falsch sein können) noch von einem Wahrheitsanspruch reden. Und die realistische Interpretation steht sowieso auf dem ›wahrheitsfreudigsten‹ religionshermeneutischen Standpunkt. Die Frage nach dem grundsätzlichen religionshermeneutischen Standpunkt ist also insofern für meine Frage nach einem christlichen Vgl. zuletzt Grössl 2019; Göcke 2018; Kranemann 2017; Striet 2017; Göcke 2017; zu derselben Problematik aber auch schon Kreiner 2006, 130–145.
5
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Was heißt eigentlich »christlicher Wahrheitsanspruch«?
Wahrheitsanspruch relevant, als die Wahrheitsfähigkeit religiöser Sätze von ihrer Interpretation abhängig ist. Wenn man einen religionshermeneutischen Standpunkt vertritt, nach dem die religiösen Sätze grundsätzlich wahrheitsfähig sind, stellt sich dann die Frage, was es bedeutet, wenn sie wahr sind. Für einen Realisten ergeben sich unmittelbare ontologische Folgen daraus, dass jemand bestimmte religiöse Sätze für wahr hält. Es ist zwar ebenfalls nicht unumstritten, was genau das Charakteristikum religiöser Sätze ausmacht und ob es überhaupt ein einheitliches religionenübergreifendes Charakteristikum religiöser Sätze gibt. Aber für das Christentum lässt sich doch näherungsweise sagen, dass das Besondere einer religiösen Überzeugung ist, dass sie keine Tautologie ist und auf nicht-mathematische und nicht-ideenförmige nicht-empirische Gegenstände (Gott) Bezug nimmt oder zumindest mittelbar einen solchen Bezug voraussetzt. Kurz gesagt: Religiöse Überzeugungen des Christentums sind durch einen Transzendenzbezug gekennzeichnet. Sie verpflichten ihren Träger auf einen gegenüber naturalistischen Ontologien irgendwie erweiterten Gegenstandsbereich. Wie man die Wahrheit religiöser Überzeugungen dann aber erkennen kann, ist eine ganz andere Frage. Aufgrund des erweiterten Gegenstandsbereichs können dafür nicht allein die in den empirischen Wissenschaften angewendeten Erkenntnismethoden hinreichend sein. Weitere Kriterien, die für die Wahrheit religiöser Überzeugungen bzw. Überzeugungssysteme sprechen, sind vielmehr den Kriterien für wissenschaftliche Theorien vergleichbar: Konsistenz, Kohärenz, Integrationskraft etc. (vgl. Löffler 2013, 157–159). Da es in meinem Beitrag aber um die Natur des Wahrheitsanspruchs religiöser Überzeugungen geht, brauche ich dies nicht weiter zu verfolgen. Ich habe in den bisherigen Überlegungen immer vorausgesetzt, dass Wahrheit im religiösen wie theologischen Bereich so zu verstehen ist wie in unserem Alltag und in der Wissenschaft allgemein üblich. Es gibt jedoch Stimmen, die einen eigenen, spezifisch theologischen Wahrheitsbegriff einfordern.
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Christian Tapp
3.
Gibt es einen eigenen, spezifisch theologischen Wahrheitsbegriff?
In der biblischen Tradition gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Verwendungsweisen von »wahr«. Die eine ist uns aus unserem sonstigen Leben, Alltag wie Wissenschaft, bestens bekannt: Die geheilte Frau sagt Jesus »die ganze Wahrheit« (Mk 5,33); der Schriftgelehrte lobt Jesus, er habe ganz wahr/richtig gesprochen (vgl. Mk 12,32); Paulus betont, er sei nicht verrückt, sondern was er sage, sei wahr und vernünftig (vgl. Apg 26,25); er sage die Wahrheit und lüge nicht (vgl. Röm 9,1); Gottes Urteil über die Menschen entspreche der Wahrheit (vgl. Röm 2,2). Dies ist die ganz unproblematische Verwendungsweise des Ausdrucks »wahr«. Sie bezieht sich auf Aussagen, Sätze oder Urteile. In theologischen Kontexten wird sie zur Verdeutlichung gern »Aussagewahrheit« oder »Satzwahrheit« genannt. Daneben gibt es aber noch eine zweite Verwendungsweise des Ausdrucks »wahr« in den biblischen Texten. Am prominentesten kommt sie zum Ausdruck, wenn der johanneische Jesus von sich selbst sagt, er sei »der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). Sie ist mit der Aussagewahrheit kaum zur Deckung zu bringen. Daher befürworten nicht wenige Autoren einen eigenen theologischen Wahrheitsbegriff. Für einen eigenen theologischen Wahrheitsbegriff sind mir mindestens drei prominente Kandidaten bekannt: 1.
2. 3.
die traditionelle Auffassung einer ›doppelten Wahrheit‹, nach der es neben dem Prädikat »… ist wahr« auch noch ein Prädikat »… ist theologisch wahr« gibt, das mit dem Prädikat »… ist wahr« nicht koextensional ist; der existenzial-ontologische Wahrheitsbegriff Bultmanns, den dieser im Johannes-Evangelium vorgezeichnet sieht; die Auffassung, dass im Christentum die Wahrheit Person sei, wie sich dies beispielhaft im Titel der Festschrift für Karl-Heinz Menke ausdrückt: »Die Wahrheit ist Person« (Knop/Lerch/ Claret 2015).
Da sie eher randständig sind, möchte ich auf die beiden erstgenannten Auffassungen nur kurz eingehen.
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Was heißt eigentlich »christlicher Wahrheitsanspruch«?
3.1. Doppelte Wahrheit Bei dieser Auffassung geht es um eine eigene »theologische Wahrheit« von Aussagen. Die Kirche hat sich mit dieser Ansicht bekanntlich nicht anfreunden können. 6 Und aus philosophischer Perspektive halte ich es für hochproblematisch, neben einem allgemeinen noch einen sektoralen Wahrheitsbegriff einzuführen. Was sollte es heißen, dass ein Satz theologisch wahr ist, obwohl er falsch ist? Entweder hat dann theologische Wahrheit nichts mit Wahrheit zu tun, sodass der Ausdruck »Wahrheit« irreführend wäre. Oder beide haben etwas miteinander zu tun, und dann scheint mir der Konflikt mit dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, der Basis aller sinnvollen Kommunikation, unausweichlich zu sein. Die berechtigten Motive hinter der Auffassung von einer doppelten Wahrheit dürften sich vermutlich im Rahmen der Texthermeneutik rekonstruieren lassen: Wenn man meint, eine falsche Aussage könne dennoch »theologisch wahr« sein, kann damit vernünftigerweise eigentlich nur gemeint sein, dass eine andere, spezifisch theologische Interpretation der betreffenden Aussage wahr im herkömmlichen Sinne ist. Damit wäre dieser Begriff aber letztlich auf »Hermeneutik plus herkömmliches Wahrheitsverständnis« reduzierbar.
3.2. Existenzial-ontologischer Wahrheitsbegriff Zur zweiten Auffassung hat Bultmann die These vertreten, dass sich manche Vorkommnisse von aletheia in der Bibel – bzw. vom hebräischen hämät (Treue, Beständigkeit), das die Septuaginta meist als aletheia übersetzt hat – nicht als Aussagewahrheit verstehen lassen, selbst wenn in den entsprechenden Kontexten von Aussagen die Rede ist. Der evangelische Neutestamentler Christof Landmesser hat sich mit den Belegen für Bultmanns These im Detail auseinandergesetzt (vgl. Landmesser 1999). Er konnte zeigen, dass die von Bultmann Es sei erinnert an die Verurteilung von angeblichen Auffassungen der Mitglieder der Pariser Artistenfakultät durch den Bischof von Paris, Étienne Tempier, im Jahre 1277, nämlich unter anderem der Auffassung, »als gebe es zwei gegensätzliche Wahrheiten« (zitiert nach Flasch 1989, 93), nämlich Wahrheit im Sinne der Philosophie und Wahrheit im Sinne des christlichen Glaubens. Näheres dazu vgl. bei Maier 1955; dann auch Hödl 1996; Speer 2007; vgl. auch Müller 2003, 6.
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herangezogenen Belege vollständig im Rahmen des herkömmlichen Wahrheitsverständnisses interpretiert werden können. Sie verlangen mithin keineswegs die Annahme des existenzial-ontologischen Wahrheitsbegriffs, welchen Bultmann ausgehend von seiner Heidegger-Rezeption entwickelte. Selbst wenn man dies im Detail anders sehen sollte und Echtheit, Eigentlichkeit oder Lichtung als mögliche Übersetzungen von aletheia annehmen will, bliebe mit Landmesser erstens an der Forderung festzuhalten, dass in der Theologie kein anderer Wahrheitsbegriff anzusetzen ist als in allen anderen Wissenschaften auch. Und zweitens wäre darauf hinzuweisen, dass kein geringerer als Heidegger selbst seine Gleichsetzung der Lichtung als des Ermöglichungsgrundes von Wahrheit mit der Wahrheit selbst später als irreführend bedauert hat: Er habe früher etwas von Wahrheit Verschiedenes mit dem Ausdruck »Wahrheit« bezeichnet (vgl. Heidegger 1969, 77). Vonseiten der Frage nach dem Verständnis von Wahrheit her halte ich diese Diskussion daher für erledigt, auch wenn die Frage, wie der Ausdruck aletheia im Neuen Testament bzw. hämät im Alten Testament angemessen zu übersetzen ist, damit natürlich noch nicht erledigt ist. Die Übersetzungskette hämät – aletheia – Wahrheit hat jedenfalls bis hin zu Philosophen ersten Ranges zu Missverständnissen geführt. Hämät meint nach übereinstimmender Auskunft der Exegeten Treue und Beständigkeit von Personen und deren Handlungen und dann auch allgemeiner dasjenige, worauf man sich verlassen kann, was gilt, was Bestand hat. Und das ist im Allgemeinen eben etwas anderes als Wahrheit. Wahrheit kann eine Form von hämät sein, aber es gibt viele andere, und meist sind diese gemeint. Ein Vertrag beispielsweise kann beständig sein, aber sicher nicht wahr. Und schließlich gilt: Anders als Wahrheit in unserem alltäglichen Verständnis kann hämät auch Personen zukommen – und damit komme ich zum dritten Kandidaten.
3.3. Personale Wahrheit Der dritte Kandidat für einen eigenen theologischen Wahrheitsbegriff, dem ich etwas mehr Aufmerksamkeit widmen möchte, ist die sogenannte »personale Wahrheit«. Die Herausgeber der Festschrift für Karl-Heinz Menke schreiben in ihrem Vorwort:
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»Die Wahrheit ist Person. Gottes Wahrheit […] wurde Mensch. Sinn und Heil […] aller Menschen aller Zeiten ist ein Mensch […]: Jesus von Nazareth. Dieses Bekenntnis unterscheidet die christliche Antwort auf menschliche Sinnsuche von einem spekulativen Wahrheitsbegriff« (Knop/Lerch/Claret 2015, 11).
Nun: Dass im christlichen Bekenntnis ein bestimmter Mensch eine ganz zentrale Rolle spielt, ist unbestreitbar. Dass in diesem Menschen, in seinem Leben und seiner Verkündigung eine Antwort auf die Sinn- und Heilsfrage geboten ist, ist unbestritten. Dass Jesus Christus für die Christen die Gestalt der Offenbarung ist, stelle ich in keiner Weise in Abrede. Dies alles ist mit Äußerungen wie »die Wahrheit ist Person« wohl mitgemeint. Es ist aber nicht die wörtliche Bedeutung dieser Aussage. Ist die Wendung »die Wahrheit ist Person« wörtlich gemeint, so müsste das Wörtchen »ist« darin eine Prädikation oder eine Identität ausdrücken. Von der Wahrheit würde die Eigenschaft, Person zu sein, ausgesagt oder aber ihre Identität mit einer Person. Aussagen dieser Art wären aber nicht nur falsch, sondern sogar notwendigerweise falsch. Wahrheiten und Personen sind oder gehören zu zwei ganz unterschiedliche(n) Kategorien. Eine Identität von Wahrheit und Person auszusagen oder von einer Person »Wahrheit« zu prädizieren, wäre ein klassischer Kategorienfehler. Das sieht man zum Beispiel an ihren ganz verschiedenen Eigenschaften: Die Wahrheit ist ein Abstraktum, eine Person etwas Konkretes; die Wahrheit hat etwas mit unserem Verhältnis zur Welt zu tun, Personen nicht; Personen schreiben wir Überzeugungen und Absichten zu, der Wahrheit nicht etc. Man kann dafür auch noch ausführlicher argumentieren. »Wahrheit« hat mindestens zwei Bedeutungen. Sie kann etwas Einzelnes meinen, wie etwa in: »Diese Wahrheit hättest du lieber für dich behalten!«, oder etwas Allgemeines, wie in: »Auch in der Wissenschaft können wir die Wahrheit nur suchen«. Meint Wahrheit etwas Allgemeines, so ist der Kategorienfehler ganz offensichtlich, da eine Person nichts Allgemeines, sondern etwas Einzelnes ist. Meint Wahrheit dagegen etwas Einzelnes, so schließt sich die Frage an, ob etwas Abstraktes oder etwas Konkretes. Nach philosophischer Mehrheitsmeinung sind Wahrheiten etwas Abstraktes (etwa bestimmte Propositionen oder Gedanken), Personen hingegen etwas Konkretes. Und selbst wenn man mit der Minderheitenmeinung auch einzelne Wahrheiten als Konkreta auffasst, handelt es sich zumindest um
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Konkreta von ganz anderer Art als Personen: Wahrheiten kann man weder verletzen, noch in ihre Schutzrechte eingreifen, noch können sie gelangweilt aus dem Fenster schauen – alles Tätigkeiten, zu denen die uns bekannten menschlichen Personen bestens in der Lage sind. Aussagen wie »Die Wahrheit ist Person« oder »Jesus Christus ist die Wahrheit« können also, wenn sie wahr sein sollen, nur metaphorisch gemeint sein. Mir scheint, dass man das mit diesem Satz Gemeinte nur erreicht, wenn man sogar zwei der Ausdrücke nicht-wörtlich interpretiert, nämlich sowohl das »ist« als auch die »Wahrheit«. Wie beide zu verstehen sind, möchte ich nun zeigen. Mit dem Begriff der Wahrheit verbindet sich eine gewisse epistemische Idealisierung, vor allem wenn man mit »Wahrheit« theoretische Vollbestimmtheit verbindet oder wenn man auch moralische Prinzipien »wahr« nennt. So hätte man etwa nur dann die volle Wahrheit über einen Gegenstand erfasst, wenn man alle wahren Aussagen über ihn zusammennehmen könnte. Das kann man aber faktisch nicht, und so kennt man von jedem Gegenstand immer nur Bruchstücke, erfasst »seine Wahrheit« – wenn man so reden möchte – nur zum Teil. Auf moralischer Seite hat man mit gewissen Lebensentwürfen oder moralischen Vorsätzen zu tun. Eine Person will so und so sein, vermag es aber nicht oder wenigstens nicht vollkommen. Sie vermag es praktisch nicht, in vollkommener Weise das beanspruchte Ideal zu leben. Bestimmte Personen können nun in der Lage sein, ein Ideal in ihrem Leben in besonderer Weise zu realisieren. Ich erinnere hierzu an den Begriff der »großen Menschen« bei Jaspers (vgl. Tapp 2010). Diese Realisierung kann so weit gehen, dass man die Personen geradezu als Verkörperungen des Ideals auffasst. Wir erleben dies, wenn jemand heute angesichts eines überbordenden Anspruchs an seine Nächstenliebe antwortet: »Ich bin doch nicht Mutter Teresa!« Mutter Teresa ist zum Sprichwort geworden, weil sie das Ideal der Nächstenliebe auf eine kaum je dagewesene Weise gelebt hat. Ist man nun überzeugt, dass eine Person ein Ideal auf ganz besondere, vielleicht sogar unüberbietbare Weise verwirklicht hat, könnte man diese Person in gewisser Hinsicht mit diesem Ideal identifizieren. In dem Satz »Die Wahrheit ist Person« sind mithin sowohl »Wahrheit« als auch »ist« nicht-wörtlich zu verstehen: Mit »ist« ist eher »verkörpert werden« gemeint und mit »Wahrheit« so etwas wie der Weg zum Heil, zur echten Erfüllung des Lebens. Nicht gemeint
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ist Wahrheit in dem Sinne, in dem auch alle wahren Sätze dazugehören würden. Vielleicht kann man aber auch noch etwas präziser sagen, was »Jesus Christus ist die Wahrheit« heißen könnte. Ich möchte vier Vorschläge zur Diskussion stellen. Jesus könnte die Wahrheit genannt werden, insofern 1. 2. 3. 4.
alles, was er sagt, wahr ist. der Kern seiner Verkündigung/seines Zeugnisses von Gott wahr ist. die moralischen Maximen, nach denen er lebt, wahr sind. er ein moralisches Ideal lebt/modellhaft Mensch ist.
Grundsätzlich lassen sich eher theoretische und eher praktische Bedeutungen von »Wahrheit« voneinander unterscheiden. »Wahrheit« wird ja in beiden Hinsichten gebraucht. Den Kern der theoretischen Bedeutung trifft Aristoteles’ Analyse in seiner Metaphysik 4 (1011b): »Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das NichtSeiende sei nicht, ist wahr« (Aristoteles 1995, 85).
Dass das, was sprachlich zu verstehen gegeben wird, tatsächlich der Fall ist, bedeutet Wahrheit. Gelegentlich wird diese Entsprechung zwischen einer sprachlich ausgedrückten Proposition und der Wirklichkeit auch als »Korrespondenztheorie der Wahrheit« bezeichnet – was aber leicht irreführend ist, da hier zwar von einer Entsprechung (»Korrespondenz«) die Rede ist, diese aber gar nicht als Theorie ausgeführt ist. Die Vorschläge 1. und 2. zielen eher auf diesen theoretischen Sinn von »Wahrheit«. »Wahrheit« im praktischen Sinn bezeichnet hingegen das moralisch Gebotene 7 oder noch allgemeiner dasjenige, was Lebensorientierung gibt, »in einer entsprechenden Lebenspraxis zum Ausdruck kommt und in wahrheitsfähigen Sätzen artikuliert wird« (Jüngel 2005, 1251). Ob man, um von praktischer Wahrheit zu sprechen, zuHabermas hat in einer bemerkenswerten Selbstkritik deutlich erkannt, dass es eigentlich irreführend ist, diese praktische Normativität »Wahrheit« zu nennen. Diese Benennung verdanke sich »einer Überverallgemeinerung des speziellen Falls der Geltung moralischer Urteile und Normen. […] An diesen Sinn von rationaler Akzeptabilität unter annähernd idealen Bedingungen darf der Begriff der Aussagenwahrheit nicht assimiliert werden« (Habermas 1999, 15 f.).
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gleich auch objektive moralische Werte annehmen muss, lasse ich dahingestellt. 8 Die Vorschläge 3. und 4. beziehen sich auf den praktischen Sinn von »Wahrheit«. Als Exegese von Joh 14,6 bieten vor allem sie sich an, denn angesichts der Zusammenstellung mit »Weg« und »Leben« ist die praktische Deutung naheliegend.
4.
Der diskursive Wahrheitsanspruch
Wir haben nun den doxastischen Wahrheitsanspruch behandelt, einen Anspruch, der sich unabhängig von jedem Diskurs als epistemische Einstellung mit den eigenen Überzeugungen verbindet. Mit seinen Meinungen beansprucht man schon insofern Wahrheit, als man das Gemeinte für wahr hält. Unsere epistemische Limitiertheit zeigt sich gerade darin, dass für uns das Wahre und das, was wir für wahr halten, nicht immer zusammenfallen. Wie eingangs bereits angekündigt, ist damit der im öffentlichen Diskurs weniger problematische Fall behandelt. Schwieriger und problematischer ist der Anspruch, den man mit seinen Behauptungen im Diskurs mit anderen erhebt.
4.1. Doxastischer versus diskursiver Anspruch Der doxastische Anspruch auf Wahrheit ist recht schwach. Das sieht man zum Beispiel daran, dass Peter überzeugt sein kann, dass A gilt, während Paul überzeugt sein kann, dass B gilt, wobei A und B miteinander unverträglich sind, ohne dass die beiden sich deshalb in den Haaren liegen müssten. Peter und Paul könnten beispielsweise unterschiedlicher Ansicht darüber sein, ob ein bestimmtes Essen schmeckt. Nun könnte man das noch als subjektiv-perspektivische Meinungen abtun. Sie können aber auch uneins über objektive Fakten sein, zum Beispiel ob die Anzahl der Grashalme auf einer bestimmten Wiese gerade oder ungerade ist. In einem solchen Fall kann nur einer von ihnen recht haben. Mit ihren Behauptungen erheben sie Anspruch
Manche meinen jedenfalls, dass die Annahme einer Korrespondenztheorie der Wahrheit genau dazu zwinge, so zum Beispiel Johannes Fischer (vgl. Fischer 2005, 191).
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darauf, dass sie recht haben, dass ihre Meinungen stimmen. Und hier erst sehen wir den Kern eines Konflikts. Was ihn auslöst, ist nicht die Tatsache, dass Peter A glaubt und Paul B glaubt. Es ist auch nicht die Behauptung, dass Peter A glaubt, und die Behauptung, dass Paul B glaubt, sondern, was den Konflikt auslöst, ist die Behauptung, dass A, die Peter erhebt, und die Behauptung, dass B, die Paul erhebt. So entsteht der diskursive Konflikt zwischen beiden. Wahrheitsansprüche dieser Art erhebt man durch bestimmte Sprechakte, vor allem den des Behauptens. Dadurch, dass ich A behaupte, erhebe ich einen Anspruch darauf, dass A auch stimmt, dass A wahr ist. Behauptungen verschiedenster Art haben einen gewissen Belästigungscharakter. Sie sind gewissermaßen Störungen der akustischen, aber auch der argumentativen Ruhe, denn sie drängen auf Verständigung. 9 Unser Diskurs hat daher Regeln. Wer etwas behauptet und damit einen Wahrheitsanspruch erhebt, muss diesen Anspruch auch belegen – diskurstheoretisch spricht man meist von »einlösen«. Das kann argumentativ geschehen, indem man Gründe für das Behauptete benennt. Es kann aber auch durch empirische Hinweise oder unmittelbare Nachweise geschehen. Behauptet Peter, er habe drei Münzen in der Hosentasche, löst er diesen Anspruch ein, indem er Paul die drei Münzen zeigt und seine Hosentasche auf links zieht. Behauptungen sind etwas anderes als Überzeugungen. Während Letztere vermutlich Dispositionen sind, sind Erstere aktuale Handlungen. Während Überzeugungen irgendwie in den Innenbereich unseres Geistes gehören (oder, unter stärker behavioristischen Vorzeichen, in den Bereich theoretischer Annahmen bei der Erklärung beobachtbaren Verhaltens), gehören Behauptungen der öffentlichen Sphäre an. Ein religiöser Wahrheitsanspruch in diesem stärkeren Sinne entsteht also nicht durch das Für-wahr-Halten, sondern durch das Als-wahr-Behaupten.
Habermas geht weiter: »Der Sprecher verfolgt das illokutionäre Ziel, daß der Hörer nicht nur seine Meinung zur Kenntnis nehmen, sondern zur selben Auf[f]assung gelangen, also seine Meinung teilen soll« (Habermas 1999, 10). Ob man alle behauptenden Sprechakte uneingeschränkt mit diesem Telos verknüpft sehen sollte, erscheint mir jedoch zweifelhaft. Ist jeder sprachliche Angriff konsensorientiert? Behaupten wir nicht immer wieder etwas, obwohl wir gewiss sind, dass der Andere unsere Ansicht nicht teilen wird?
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4.2. Juristische Analogie Was es mit sich bringt, wenn man einen Anspruch erhebt, kann man fürs Erste gut an der juristischen Sphäre ablesen. Bei ihr handelt es sich ja gewissermaßen um ein komplexes System zur Beurteilung, zum Ausgleich und zur Durchsetzung von Ansprüchen. Wer etwa im Weg einer Klage vor einem zuständigen Gericht einen Anspruch erhebt, der zieht sich dadurch gewisse Pflichten zu. Er muss seinen Anspruch zunächst konkretisieren und begründen. Er muss dann aber auch auf Bestreitung reagieren und auf Anforderung weitere Beweismittel beibringen. Am Ende muss er auch das Ergebnis eines Prozesses (in gewissen Grenzen) akzeptieren, sonst wäre das ganze Verfahren sinnlos. Übertragen auf einen Wahrheitsanspruch wäre zunächst darauf hinzuweisen, dass durch das Erheben des Anspruchs auf Wahrheit der eigenen religiösen Überzeugungen entsprechende Diskurspflichten entstehen: Man muss den eigenen Anspruch konkretisieren und begründen (ich erinnere an das ›Hohelied‹ der Fundamentaltheologie in 1 Petr 3,15). Dem kommen die Kirchen beispielsweise dadurch nach, dass sie wissenschaftliche Theologie betreiben. Ohne wissenschaftliche Theologie wäre ein christlicher Wahrheitsanspruch wie eine Klageschrift, in der weder ein konkreter Antrag gestellt noch eine Klagebegründung angegeben wäre. Die Aussichten einer solch defizienten Klage wären klar. Die Analoga zu den prozessualen Pflichten wären beim Wahrheitsanspruch etwa die Pflicht, auf begründete Anforderung weitere Gründe zu liefern, oder die Pflicht, zu Bestreitungen und Gegendarstellungen, also zu Kritik, angemessen Stellung zu nehmen. Auch dies sind Aufgaben der wissenschaftlichen Theologie, die sich mit begründeten atheistischen Positionen, mit Religions- und Christentumskritik auseinandersetzt. Und schließlich bedeutet die Akzeptanz des Urteils in vernünftigen Grenzen mindestens den Verzicht auf ein trotziges »Wir behaupten einfach trotzdem, dass es wahr ist«. Von hierher lässt sich meines Erachtens auch begründen, warum Bibelstellen wie 1 Kor 1,23 – Christus, der Gekreuzigte, ist »für Heiden eine Torheit« – nicht vorschnell als eine Frontstellung gegen »die Vernunft der Welt« interpretiert werden dürfen. Erscheint dem Gegner oder dem Richter der eigene Anspruch als »Torheit«, verlangt dies im Gegenteil besondere Anstrengungen bei der Begründung des An-
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spruchs. Das Verlassen des vernünftigen Diskurses hingegen käme eher dem Aufgeben des Anspruchs gleich. Aus der Analogie zu einer juristischen Klage, in der man einen Anspruch erhebt, lassen sich weitere interessante Fragen an einen christlichen Wahrheitsanspruch ableiten. Ich möchte zwei Fragen exemplarisch aufgreifen. Erstens: Wer ist das Gericht? Man denkt vermutlich zunächst an die Gesellschaft. Häufig spricht man ja auch von der Verteidigung des Glaubens vor dem »Forum der Vernunft« und meint mit »Vernunft« dann wohl den rationalen Teil gesellschaftlicher Urteilsbildungsprozesse. Für die Beurteilung einer komplexen Sache wie den Wahrheitsanspruch eines religiösen Glaubens ist jedoch eine gewisse Kompetenz nötig. Daher wird man kaum die Gesamtgesellschaft heranziehen können. Welches Subsystem käme infrage? Die religiösen Experten scheiden aus, denn sie sind selbst Partei. Verlangt wäre eine Instanz, die religiöse Überzeugungen in der Komplexität ihrer Bedeutungs- und Begründungsstrukturen versteht und zugleich, anders als die Theologie, neutral steht. Könnte dies eine Aufgabe der (Religions-)Philosophie im weitesten Sinne sein? Zweitens: Worauf richtet sich eigentlich der Anspruch? Ansprüche sind juristisch das Recht, von einem Anderen bestimmte Handlungen oder Unterlassungen zu fordern. Welche Handlung oder Unterlassung fordert man eigentlich vom Anderen (Wem? Der Öffentlichkeit? Jedem Einzelnen?) durch das Erheben eines Wahrheitsanspruchs ein? Die Zustimmung zu der Behauptung, die eigenen Überzeugungen seien wahr? – Das wäre sehr viel verlangt. – Die Anerkennung der möglichen Wahrheit? – Das wäre in einer Hinsicht sehr wenig (»möglicherweise wahr« ist wohl sehr vieles), in anderer Hinsicht wäre es dennoch viel (im Konflikt mit den eigenen Überzeugungen des Anderen). Diese und andere Fragen wären zu beantworten, um den diskursiven Wahrheitsanspruch des Christentums weiter zu klären.
4.3. (Ideologie-)Kritisches Diese Klärung wäre auch hilfreich, um die Grenzen des diskursiven christlichen Wahrheitsanspruchs auszuloten. Manche dieser Grenzen werden in ideologiekritischer Perspektive längst markiert und es werden auch teils radikale Schlussfolgerungen daraus gezogen. 153 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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So hält beispielsweise Gerd Neuhaus fest, dass ein Wahrheitsanspruch religiöser Überzeugungen »längst obsolet geworden« und »durch die Forderung nach deren Authentizität ersetzt worden« sei (Neuhaus 2001, 113–130). Markus Knapp hält diese Einschätzung insofern für verständlich, »als der christliche Wahrheitsanspruch in der kirchlichen Glaubensverkündigung oft in autoritärer Weise zur Geltung gebracht worden ist und sich so als ein totalitärer Machtanspruch zeigt, der keinen Raum lässt für andere Wahrheitsansprüche« (Knapp 2009, 157).
Will man aus solchen und ähnlichen Gründen den diskursiven Wahrheitsanspruch etwas zurücknehmen, so muss man allerdings beachten, dass er nicht neben dem Gesamtgefüge des Glaubens steht, sondern mit anderen christlichen Überzeugungen verwoben ist. Den Wahrheitsanspruch zu erheben, hat also nicht nur damit zu tun, dass der Mund darüber redet, wovon das Herz voll ist (vgl. Lk 6,45; Mt 12,34). Es gibt auch glaubensinterne Gründe, die Argumente dafür liefern, mit dem Glauben in die (externe) Öffentlichkeit zu treten. Ein Argument wäre etwa das folgende, das drei relativ verbreitete Faktoren voraussetzt: 1. 2. 3. 4.
die grundsätzliche Sorge um den Nächsten, darum, dass es ihm gut geht, traditionell gesprochen: um sein Heil. ein gewisser Universalismus: dass das Heil in Christus für alle Menschen Heil ist. ein gewisser Exklusivismus: dass das Heil (zumindest im vollen Sinne) nur im Weg Christi liegt. Also sollte man dem Nächsten den Weg Christi nahebringen.
Auf eine Formel heruntergebrochen: Aus Exklusivismus, Universalismus und Liebesgebot ergibt sich der Imperativ, den eigenen Wahrheitsanspruch auch für andere öffentlich vernehmbar zu artikulieren. Will man den christlichen Wahrheitsanspruch im Sinne des starken öffentlichen Anspruchs also etwas zurücknehmen, so müsste man entsprechend einen dieser drei Faktoren reduzieren. Die geringsten Aussichten hat wohl das Liebesgebot bzw. die Sorge um den Nächsten. Diese moralische Überzeugung ist wohl wirklich in die DNA des Christentums eingeschrieben – im Gegensatz zu vielen an154 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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deren moralischen Lehren, die zwar als christlich ausgegeben werden, in Wirklichkeit aber eher von außen in das Christentum eingewandert sind. Es bleiben Exklusivismus und Universalismus. Die Aufgabe für die Systematische Theologie bestünde nun darin, zu fragen, wie weit man diese beiden Faktoren absenken könnte, ohne dem Selbstverständnis des eigenen Glaubens untreu zu werden. Denn wenn der Glaube nichts Selbstgemachtes sein, sondern die Treue zu seinem Ursprung bewahren will, dann muss er sich eben auch zu denjenigen Ansprüchen ins Verhältnis setzen, die seit seinem Ursprung erhoben worden sind. Noch einmal Joh 14,6: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.« Diese Stelle bietet in dieser Hinsicht extreme Herausforderungen. Schon die bestimmten Artikel »der«, »die«, »das« deuten auf einen Exklusivismus hin. Und was sollte der Ausschluss anderer Wege zum Vater anderes bedeuten als sowohl Exklusivismus als auch Universalismus? Es ist eine bleibend anspruchsvolle Aufgabe für Exegese und Systematische Theologie, aus dieser Stelle einen Gehalt zu extrahieren, der der Grundbotschaft treu bleiben und zugleich eine gewisse Temperierung des darin ausgedrückten Exklusivismus und Universalismus erlauben würde. Erst so könnte man die Treue zum identitätsstiftenden Anfang in einer Weise leben, die den diskursiven Wahrheitsanspruch moderiert.
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Anspruch auf Wahrheit Das katholische Lehramt über »Relativismus« Thomas Marschler
Die Geschichte des Relativismus-Begriffs in Aussagen des römischen Lehramts ist in den letzten Jahren bereits mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. In seiner 2015 erschienenen Studie Relativism and Religion entwickelt der amerikanische Politologe Carlo Invernizzi Accetti auf der Basis einer (allerdings unvollständigen und nicht immer exakten) Analyse der Texte eine These zur Entwicklung des lehramtlichen Relativismus-Diskurses und schließt eine systematische Kritik an (Invernizzi Accetti 2015). Die bislang beste Übersicht zum lehramtlichen Material findet sich in der (unveröffentlichten) Paderborner Magisterarbeit von Daniel Wäschenbach aus dem Jahr 2016 (Wäschenbach 2016). Ergänzungen hat ein Buchbeitrag von Daniel Bugiel beigesteuert (Bugiel 2018). An verschiedensten Stellen kommt die Relativismus-Thematik in der Forschungsliteratur zum Denken von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. und in der Diskussion zu den Lehräußerungen in seinem Pontifikat zur Sprache. Hier seien nur beispielhaft genannt die Bochumer Dissertation von Heiko Nüllmann zum Vernunftbegriff Ratzingers (Nüllmann 2011) sowie die eigens der Relativismus-Thematik gewidmete, allerdings recht unkritisch verfahrende amerikanische Studie von Gediminas T. Jankunas (Jankunas 2011). 1 In meinem Beitrag möchte ich Ergebnisse dieser Forschungen zusammenfassen und, soweit es im vorliegenden Rahmen möglich ist, ergänzen und eigenständig bewerten. Dabei werde ich die Frage nach der historischen Einordnung der lehramtlichen RelativismusAussagen einschließen, über die in der Literatur bislang keine Einigkeit herrscht.
Einige weitere Titel: Cottier 2007; Girard/Vattimo 2008; Gruber 2014; Häberle 2007; Mattei 2011; Müller 2010; Nissing 2011; Raedel 2013; Sommer/Seiterich 2009; Stegherr 2017.
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Anspruch auf Wahrheit
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Pius XII.: Die Einführung des Relativismus-Begriffs in die lehramtliche Argumentation
Der früheste Beleg für den Begriff »Relativismus« in einer päpstlichen Lehraussage findet sich in einer Ansprache Pius XII. aus dem Jahr 1939. Es geht darin um die Zurückweisung »eines gewissen Relativismus« durch Ablehnung des unveränderlichen Sittengesetzes. Ohne dessen »vollkommene und absoluteste Wahrheiten« könnten Würde und Glück der Familie und der Gesellschaften keinen Bestand haben (vgl. Pius XII. 1939, 247). Diese Haltung setzt der Papst mit demjenigen gleich, was Pius XI. in seiner Antrittsenzyklika von 1922 »moralischen, rechtlichen und sozialen Modernismus« genannt und durch einige Beispiele aus der kirchlichen Soziallehre illustriert hatte (vgl. Pius XI. 1922, 696). Es geht also um die Verteidigung eines mit sehr konkreten Konsequenzen für die Gesellschaft verknüpften Naturrechtsverständnisses. Gegen Ende des Pontifikats von Pius XII. wird das Heilige Offizium 1956 im Dekret Contra doctrinam das Thema des moralischen Relativismus in der Ablehnung der sogenannten Situationsethik aufgreifen, der vorgeworfen wird, das »natürliche Gesetz« bestenfalls in seinen allgemeinsten Forderungen für absolut, konkretere Forderungen aber nur für situationsgebunden begründbar und folglich für anpassbar bzw. veränderlich zu halten. Dann aber fehle dem sittlichen Urteil des persönlichen Gewissens die Orientierung an objektiven Gesetzen, es urteile nur noch nach seinem individuellen »inneren Licht«. Ein solches Verständnis stellt das Offizium in die Nähe von »Relativismus und Modernismus«. Es wird als gleichermaßen der Vernunft wie dem christlichen Glauben widersprechend bezeichnet (vgl. Heiliges Offizium 1956). Ein zweiter Themenkreis wird von Pius XII. in der Enzyklika Humani generis von 1950 unter das Stichwort des »dogmatischen Relativismus« gefasst (vgl. Pius XII. 1950b, 565–567). Der Papst versteht darunter die bei manchen Theologen der Gegenwart festzustellende Tendenz, die in der Kirche anerkannte Bedeutung der Dogmen zu schwächen, indem man von der etablierten philosophischen Begrifflichkeit und kirchlichen Auslegung des Inhalts abweicht. Mit der Ausscheidung von Elementen, die in der Offenbarung nicht begründet sind, wolle man angeblich zur Redeweise der Schrift und der Väter zurückkehren und hoffe zudem, die ökumenische Verständigung zu befördern und das Dogma im Horizont moderner philosophischer Ansätze besser erklären zu können. Bei manchen stehe die 159 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Ansicht im Hintergrund, dass die Glaubenswahrheiten im Dogma niemals ihren adäquaten, sondern nur einen »approximativen« Ausdruck finden. Folglich sei das Dogma veränderlich, die Offenbarung finde zu unterschiedlichen Zeiten einen divergierenden Ausdruck. Der Papst beklagt die hinter solchen Thesen stehende »Verachtung« der überlieferten Lehre und Terminologie und schärft die Notwendigkeit ein, an den durch die Konzilien bestätigten Begrifflichkeiten festzuhalten. Konkretisiert werden die Vorwürfe im zweiten Teil der Enzyklika unter anderem an der Ablehnung der thomistischen philosophia perennis und der mit Berufung auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse vollzogenen Leugnung des Monogenismus. Ein Brief der Kongregation für die Seminare aus dem gleichen Jahr warnt vor »dogmatischem Relativismus« aufgrund der Übernahme falscher philosophischer Prämissen in die Theologie – hier wird konkret auf den Hegelianismus Bezug genommen – und verweist auf die Verurteilung dieses Relativismus in Verbindung mit dem Modernismus (vgl. Kongregation für die Seminare und Studieneinrichtungen 1950, 839, 842). 2 Schließlich greift Pius XII. in den 50er-Jahren vereinzelt auf den Begriff des Relativismus zurück, um damit eine allgemeine Gefährdung von Glaube und Moral in der Gegenwart zu kennzeichnen, etwa durch die Medien (vgl. Pius XII. 1953, 609; Pius XII. 1957, 787). Man könnte hier von ›Alltagsrelativismus‹ sprechen. Insgesamt bleiben die ersten Relativismus-Bezüge im Pontifikat Pius XII. punktuell. Man findet in ihnen aber bereits drei zentrale Aspekte, die bei seinen Nachfolgern aufgegriffen und erheblich ausgeweitet werden. Schon hier wird der Begriff wie auch in der Folgezeit durchgängig negativ konnotiert und in Verbindung mit Warnungen vor Bedrohungen für das Überzeitliche der kirchlichen Lehre in der Gegenwart herangezogen. Diese Warnungen richten sich primär an innerkirchliche Adressaten, nicht an das politische Gemeinwesen (obgleich dessen Affizierung durch relativistische Moralauffassungen anklingt). Sowohl der ethische als auch der dogmatische Relativismus werden von Pius XII. als Varianten des Modernismus präsentiert und recht klar definiert. Eine umfassende, alle Aspekte umgreifende Begriffsbestimmung bietet der Papst nicht, es deutet sich allerdings an, Eine Warnung vor dem philosophischen Relativismus enthalten auch eine Ansprache von Pius XII. aus dem Jahr 1950 (vgl. Pius XII. 1950a, 635 f.) sowie eine Radiobotschaft an die Katholiken in der Schweiz von 1954 (vgl. Pius XII. 1954, 327).
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dass der Begriff aus der Philosophie entlehnt ist. Eine differenzierte Fortsetzung der existierenden philosophischen Relativismus-Diskurse bietet Pius XII. ebenso wenig, wie es seine Nachfolger tun werden. Schon an dieser Stelle kann man fragen, wie die Einführung des Relativismus-Begriffs in die kirchliche Lehre historisch einzuordnen ist. Diese Frage ist auch deswegen von Interesse, weil der Begriff zum Zeitpunkt der ersten magisterialen Rezeption in der theologischen Debatte noch keine besondere Rolle spielte; die großen theologischen Lexika vor 1950 kennen entweder kein diesbezügliches eigenes Lemma oder erläutern den Begriff rein philosophisch nach seinen unterschiedlichen Hinsichten. 3 Invernizzi Accetti hat die These aufgestellt, dass Pius XII. den Begriff des Relativismus von denjenigen Vorwürfen gegen die liberale Demokratie der Moderne getrennt habe, die ihm bei Leo XIII. anhafteten, und ihn stattdessen allein gegen innerkirchliche Gegner ins Feld führte, offenbar als Ersatz für den in Verruf gekommenen Begriff des Modernismus. Diese Einschätzung ist nicht exakt genug. Sie übersieht, dass der Begriff »Relativismus« bei Leo XIII. noch gar nicht verwendet wird. Invernizzi Accetti hat, wie bereits Wäschenbach feststellt (vgl. Wäschenbach 2016, 23), fälschlicherweise eine redaktionelle Anmerkung in volkssprachlichen Übersetzungen der Enzyklika Humanum genus Leos XIII. gegen die Freimaurer von 1884 zum Originaltext der Enzyklika gezählt. Offensichtlich ist dagegen die von Pius XII. hergestellte Beziehung zwischen Relativismus und Modernismus. Schon in Abhandlungen aus der Zeit vor Pius XII. wird Relativismus von Theologen als zentraler Aspekt des Modernismus erwähnt, wenn auch nicht durchgängig und stets nur als ein Element neben anderen (vgl. etwa Bois 1908, vor allem 220–234; Glossner 1908, 4 f.; Rosa 1909, 70, 214; Lehmen 1923, 18–20; Farges 1926, 650 f.; Galloway 1928, 115–117). 4 Das für die deutsche katholische Theologie im 19. Jahrhundert maßgebliche Kirchenlexikon von Wetzer und Welte kennt in seinen beiden Auflagen das Stichwort ebenso wenig wie das größte theologische Lexikon der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das französische Dictionnaire de théologie catholique (nicht einmal im Indexband). Die amerikanische Catholic Encyclopedia von 1911 berücksichtigt das Lemma, allerdings nur in philosophischer Hinsicht (vgl. Walker 1911). Ähnliches gilt für die erste Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche (vgl. Honecker 1936). Die schon aus der Nachkriegszeit stammende Behandlung in der Enciclopedia cattolica benennt neben dem philosophischen auch einen religiösen Sinn des Begriffs in großer Nähe zum Agnostizismus (aber ohne Rekurs auf die Aussagen Pius’ XII.) (vgl. Maccagnolo 1953). 4 Vgl. auch die aus der Sicht eines konservativen katholischen Literaten vorgenom3
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Vor allem für die zweite bei Pius XII. vertretene Spielart, den »dogmatischen Relativismus«, ist kaum zu bestreiten, dass er ein Kernthema des Modernismusstreits aufgreift, nämlich die These von der Zeitgebundenheit und Veränderlichkeit kirchlicher Dogmen. Ihre Abweisung findet sich in den zentralen antimodernistischen Lehrdokumenten von Pius X. (Lamentabili; Pascendi; ›Antimodernisteneid‹) in expliziter Form. 5 Allerdings sollte man hier nochmals differenzieren. Die Verurteilung der These, dass sich die göttliche Offenbarung mit der menschlichen Vernunft entwickle, findet sich schon in der anti-hermesianischen Enzyklika Qui pluribus Pius’ IX. von 1846 (vgl. Pius IX. 1846 [DH 2777]) 6 und in seinem Syllabus von 1864 (vgl. Pius IX. 1864b [DH 2905]). Unter demselben Papst wurde eine Interpretation der die Offenbarung bezeugenden Dogmen in Abweichung von ihrem einmal durch die Kirche erläuterten Sinn »gemäß dem Fortschritt der Wissenschaft« durch das Erste Vatikanische Konzil feierlich anathematisiert. 7 Der Sache nach reicht also der lehramtliche Widerstand gegen »dogmatischen Relativismus«, der mit dem Einfluss bestimmter philosophischer Prämissen verbunden wird, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Dies wurde durch die seit Pius X. üblich gewordene, mene Identifizierung von Modernismus und Relativismus bei Richard von Kralik (Kralik 1909, 97–105). 5 Vgl. Heiliges Offizium 1907, Nr. 58, 477 (DH 3458): »Veritas non est immutabilis plus quam ipse homo, quippe quae cum ipso, in ipso et per ipsum evolvitur.« Vgl. auch Pius X. 1907, 602, 617 f. (DH 3483, 3493); Pius X. 1910, 670 (DH 3541) (›Antimodernisteneid‹): »Quarto: fidei doctrinam ab Apostolis per orthodoxos Patres eodem sensu eademque semper sententia ad nos usque transmissam, sincere recipio; ideoque prorsus reicio haereticum commentum evolutionis dogmatum, ab uno in alium sensum transeuntium, diversum ab eo, quem prius habuit Ecclesia; pariterque damno errorem omnem, quo, divino deposito, Christi Sponsae tradito ab eaque fideliter custodiendo, sufficitur philosophicum inventum, vel creatio humanae conscientiae, hominum conatu sensim efformatae et in posterum indefinito progressu perficiendae.« 6 Auf die hier beginnende Linie verweist bereits Hans Geisser (vgl. Geisser 1966, 201, Anm. 4). 7 Erstes Vatikanisches Konzil 1870, cap. 4, 490 (DH 3020): »Neque enim fidei doctrina, quam Deus revelavit, velut philosophicum inventum proposita est humanis ingeniis perficienda, sed tamquam divinum depositum Christi Sponsae tradita, fideliter custodienda et infallibiliter declaranda. Hinc sacrorum quoque dogmatum is sensus perpetuo est retinendus, quem semel declaravit sancta mater Ecclesia, nec umquam ab eo sensu altioris intelligentiae specie et nomine recedendum«; Erstes Vatikanisches Konzil 1870, cap. 4, can. 3, 492 f. (DH 3043): »Si quis dixerit, fieri posse, ut dogmatibus ab Ecclesia propositis aliquando secundum progressum scientiae sensus tribuendus sit alius ab eo, quem intellexit et intelligit Ecclesia: anathema sit.«
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bei Pius XII. nachwirkende Verbuchung unter den wenig präzisen Sammelbegriff »Modernismus« eher verdeckt. Zudem ist zu beachten, dass den Modernisten in der Verurteilung von 1907 spezifische Motive für ihre Thesen zur Dogmenentwicklung zugeordnet werden, die für die 1950 von Pius XII. adressierten »dogmatischen Relativisten« möglicherweise nicht in gleicher Form maßgeblich waren. Andere den Modernisten von Pius X. unterstellte Meinungen werden unter dem Titel des »dogmatischen Relativismus« nicht mehr abgerufen (zum Beispiel die Begründung der Offenbarung im »religiösen Gefühl«). Man wird den Begriff daher am besten in die Linie derjenigen päpstlichen Lehraussagen stellen, die sich seit dem 19. Jahrhundert gegen Konsequenzen der Historisierung des theologischen Denkens richten. Ihre Abweisung eskalierte im Modernismusstreit, begann aber nicht erst mit ihm; einen starken Ausdruck fand sie bereits in der Definition des Ersten Vatikanums. Pius XII. hat mit seiner neuen Bezeichnung die Separierung dieses Aspekts vom langsam verschwindenden Modernismus-Begriff unterstützt, ohne die sachliche Position seiner Vorgänger aufzugeben. Weniger deutlich ist eine innere Verbindung zum ursprünglichen Modernismus-Begriff bei dem, was Pius XII. »moralischen Relativismus« nennt. Die Ablehnung der Naturrechtslehre klingt zwar in Lamentabili an einer Stelle an, 8 gehört aber nicht zu den zentralen Themen des Modernismusstreits zu Beginn des 20. Jahrhunderts; im ›Antimodernisteneid‹ kommt der Punkt nicht vor. Die eher sekundäre Verknüpfung mit dem Modernismus-Begriff wird schon daran erkennbar, dass erst Pius XI. in Analogie zum »dogmatischen Modernismus« von einem »moralischen« bzw. »sozialen Modernismus« gesprochen hat. Der Sache nach gibt es aber auch hier eine lehramtliche Tradition, die weit vor den Beginn des Modernismusstreits zurückreicht. In der Forschungsliteratur ist bereits auf die kirchliche Verurteilung des sogenannten Indifferentismus als vielleicht älteste Linie der Relativismuskritik hingewiesen worden. Tatsächlich finden sich Lehraussagen der Päpste gegen den Indifferentismus vor allem in den zahlreichen Verurteilungen der Freimaurerei, die mit einer Bulle Klemens XII. aus dem Jahr 1738 beginnen, und sie setzen sich (auch ohne Bezug zur Freimaurerei) bei verschiedenen Päpsten des 19. JahrVgl. Heiliges Offizium 1907, Nr. 63, 477 f. (DH 3463): »Ecclesia sese praebet imparem ethicae evangelicae efficaciter tuendae, quia obstinate adhaeret immutabilibus doctrinis, quae cum hodiernis progressibus componi nequeunt.«
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hunderts fort. 9 Allerdings wird unter Indifferentismus primär nicht die generelle Infragestellung objektiver moralischer Gesetze verstanden, sondern die Behauptung einer Gleichwertigkeit der Religionen bzw. christlichen Konfessionen, das heißt eine spezifisch theologische Variante des epistemischen Relativismus. In dieser Verwendung war der Begriff innerhalb der Theologie schon im 17. und 18. Jahrhundert geläufig (vgl. etwa Thomas Philippus ab Alsatia 1701; Pichler 1713, 35–41, 59–79; Lamennais 1817–1823). Unter dem Titel des »religiösen Relativismus« wird der Indifferentismus zwar bei späteren Päpsten des 20. Jahrhunderts Erwähnung finden, aber noch nicht bei Pius XII. Dies spricht gegen die Vermutung, dass die Indifferentismustradition primäre Quelle für die Einführung des RelativismusBegriffs bei Pius XII. war bzw. Indifferentismus mit dem, was er »moralischen Relativismus« nennt, gleichgesetzt werden kann. Die konkrete Linie, die mit dem letztgenannten Ausdruck aufgegriffen wird, ist vielmehr die Zurückweisung jenes modernen Autonomieverständnisses, das den Anspruch erhebt, moralische Gesetze ohne Rekurs auf ihren göttlichen Urheber begründen zu können, sei es für das Individuum oder für das Staatswesen. Dieser Auffassung wird von Päpsten schon im 19. Jahrhundert ein Naturrecht entgegengestellt, das zugleich Gottesrecht ist, weil es als Teilhabe am ewigen Gesetz Gottes definiert wird und damit die Berufung auf Gott als Gesetzgeber unverzichtbar impliziert. Mit dieser theonomen Letztbegründung des Naturrechts, der Bestimmung des Verpflichtungsgrundes mit Rekurs auf den göttlichen Willen, bleibt in der Lehre der Päpste des 19. Jahrhunderts eine Position lebendig, die schon in der Frühen Neuzeit gegen Naturrechtskonzeptionen, die ohne diesen Gottesbezug auskommen wollten (etwa bei Hugo Grotius), stark gemacht worden war. Sie wird in der Folgezeit dem Denken der Freimaurer (vgl. Leo XIII. 1884, 423 f.), aber vor allem auch modernen Begründungen politischer Gesetzgebung entgegengestellt. Sehr deut9 Vgl. Pius VII. 1821 (gegen die »Carbonarii«). – Gregor XVI. verurteilt in Dum acerbissimas einige Lehrsätze der Hermesianer als »falsas, temerarias, captiosas, in scepticismum et indifferentismum inducentes« (Gregor XVI. 1835 [DH 2740]). Pius IX. lehrt in seiner Enzyklika Qui pluribus: »Huc spectat horrendum ac vel ipsi naturali rationis lumini maxime repugnans de cuiuslibet religionis indifferentia systema [Indifferentismus], quo isti veteratores, omni virtutis et vitii, veritatis et erroris, honestatis et turpitudinis sublato discrimine, homines in cuiusvis religionis cultu aeternam salutem assequi posse comminiscuntur« (Pius IX. 1846 [DH 2785]). – Vgl. auch Pius IX. 1864b, Nr. 15–18 (DH 2915–2918).
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lich ist diese Position wiederum im Syllabus Pius’ IX. artikuliert, wo unter anderem die Sätze verurteilt werden, dass »die menschliche Vernunft – ohne dass Gott irgendwie berücksichtigt würde – der einzige Richter über Wahr und Falsch sowie Gut und Böse ist, dass sie sich selbst Gesetz ist und mit ihren natürlichen Kräften hinreicht, für das Wohl der Menschen und Völker zu sorgen« (Pius IX. 1864b [DH 2903]),
dass »die Staatsverfassung als Ursprung und Quelle aller Rechte über ein Recht verfügt, das von keinen Grenzen eingeschränkt ist« (Pius IX. 1864b [DH 2939]), und dass »die Sittengesetze keiner göttlichen Bestätigung bedürfen, und es keineswegs nötig ist, dass die menschlichen Gesetze entsprechend dem Naturrecht gestaltet werden oder ihre verpflichtende Kraft von Gott empfangen« (Pius IX. 1864b [DH 2956]).
Auch Leo XIII. hat in seiner Enzyklika Libertas praestantissimum von 1888, in der die Demokratie prinzipiell als eine legitime Staatsform anerkannt wird, die verbindliche Kraft des natürlichen Gesetzes und dessen Ursprung in Gott gegen den Anspruch, der Mensch könne »als höchster Gesetzgeber sich selbst die Norm für seine Handlungen« geben, deutlich hervorgehoben (vgl. Leo XIII. 1888, 597). 10 In Richtung des Staates schließt Leo XIII. eine Warnung an: »Außerdem ist jene Lehre für den Einzelnen wie für die Staaten äußerst verhängnisvoll; denn in der Tat, wenn die menschliche Vernunft einzig und allein über Gut und Bös zu entscheiden hat, wird jeder Unterschied zwischen Gut und Bös aufgehoben; es würde das Unsittliche vom Sittlichen sich nicht dem Wesen nach unterscheiden, der Unterschied wäre von der Meinung und dem Urteil des Einzelnen abhängig, was gefiele, wäre auch erlaubt. Diese sittliche Ordnung, die zur Bezähmung und Unterdrückung der stürmischen Leidenschaften fast keine Macht besitzt, würde von selbst zu jeglicher Sittenverderbnis führen. Im öffentlichen Leben löst sich alsdann die obrigkeitliche Gewalt los von ihrem wahren und natürlichen Fundament, auf dem allein ihre ganze Macht der Förderung des Gemeinwohles beruht. Das Gesetz, das zu bestimmen hat, was zu tun und zu lassen [,] ist der Willkür der Masse überantwortet, was leicht zur Tyrannei führen kann« (Leo XIII. 1888, 601).
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Die deutschen Übersetzungen nach: Ulitzka 1934, 96–119.
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Bei Pius XII. wird unter der Bezeichnung des »moralischen Relativismus« vor allem die Ablehnung der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes und seines göttlichen Ursprungs für das christliche Individuum zurückgewiesen; nachfolgende Päpste werden das bei Leo XIII. schon präsente demokratiekritische Moment der Argumentation wieder stärker in den Vordergrund rücken. Dies hat Invernizzi Accetti richtig gesehen.
2.
Paul VI.: Intensivierung der Relativismus-Bezüge im Kontext der Rezeption des Zweiten Vatikanums
Nach dem Ende der pianischen Ära schienen die Relativismus-Referenzen in lehramtlichen Texten zunächst wieder zu verebben. Bei Johannes XXIII. gibt es eine einzige Wortmeldung gegen den philosophischen Relativismus in einer eher peripheren Ansprache von 1959 (vgl. Johannes XXIII. 1959, 360). Das Zweite Vatikanische Konzil verzichtet in den verabschiedeten Dokumenten komplett auf den Begriff (ebenso auf andere bislang in päpstlichen Texten häufig vorkommende Vokabeln wie Modernismus, Rationalismus oder Liberalismus) und wendet sich nur andeutungsweise gegen relativistische Tendenzen der Gegenwart. 11 Dagegen lehnt das Konzil mehrfach religiösen Indifferentismus ab (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil 1965a [Gaudium et spes], Nr. 28; Zweites Vatikanisches Konzil 1964 [Orientalium ecclesiarum], Nr. 26; Zweites Vatikanisches Konzil 1965b [Ad gentes], Nr. 15, 20), gibt aber mit der Anerkennung der aus der Personwürde begründeten Religionsfreiheit zugleich einen Aspekt der bisherigen kirchlichen Lehre auf, was schon während der Beratungen durch konservative Kritiker wie Erzbischof Marcel Lefebvre mit dem Relativismus-Vorwurf belegt wurde (vgl. Siebenrock 2005, 161 f.). 12 Das genuin theologische Problem einer Veränderlichkeit bzw. Reinterpretation von einmal formulierten Glaubenslehren, in dessen Kontext Pius XII. den Begriff des »dogmatischem Relativismus« eingeführt hatte, wird durch das Konzil nicht eigens erörtert, obgleich
Wäschenbach nennt als Belege einige Passagen aus Gaudium et spes (Zweites Vatikanisches Konzil 1965a, Nr. 19, 30, 37) (vgl. Wäschenbach 2016, 31 f.). 12 Die Präsenz des Relativismus-Begriffs in den nicht zur Verabschiedung gekommenen Schemata und in den Debatten der Konzilsväter und -theologen wäre ein vielleicht lohnendes eigenes Untersuchungsthema. 11
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nicht bloß die Neuorientierung in Sachen Religionsfreiheit diesen Punkt durchaus berührt. Im Bereich der Sozialethik spricht Gaudium et spes von der »Kenntnis des göttlichen und natürlichen Sittengesetzes« als »solider Grundlage der brüderlichen Gemeinschaft unter den Menschen und Völkern« und vom positiven Beitrag, den die Kirche dazu leisten soll (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil 1965a, Nr. 89), 13 schließt aber keine Warnungen hinsichtlich der Nichtbeachtung dieses Gesetzes an. Paul VI. sah sich in seinem Pontifikat vor die Herausforderung gestellt, die aus der dialogbereiten Öffnung des Konzils zur Welt resultierende Spannung zur bisherigen Betonung der Unveränderlichkeit von Glaube und Moral zu bewältigen. Bereits in seiner Antrittsenzyklika Ecclesiam suam von 1964 formuliert er Fragen, die sein ganzes Pontifikat durchziehen werden: »Bis zu welchem Grade muss die Kirche sich den historischen und örtlichen Umständen anpassen, in denen sie ihre Sendung ausübt? Wie muss sie sich gegen die Gefahr eines Relativismus schützen, der ihre dogmatische und moralische Treue antastet?« (Paul VI. 1964, 631).
Der Begriff »Relativismus« taucht bei Paul VI. von nun an regelmäßig, circa 30-mal in fast allen Jahren seines Pontifikats vor allem als Bezeichnung für ein Fehlverständnis des konziliaren Aggiornamento auf (vgl. Paul VI. 1966a, 54; Paul VI. 1972, 222; Paul VI. 1975c, 709 f.; Paul VI. 1977, 45). Dessen Ziel besteht nach Ansicht des Papstes darin, die christliche Wahrheit in einer neuen Weise, unter Berücksichtigung neuer Ausdrucksformen und unter Einbeziehung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, zu artikulieren (vgl. Paul VI. 1971c, 561). Wie der Begriff »Unbeweglichkeit« die Stellung der Kirche zur Geschichte falsch charakterisiere, so auch der Begriff »Relativismus« (vgl. Paul VI. 1973, 209 f.). Ein Abrücken von absoluten Wahrheiten unter Berufung auf deren Geschichtlichkeit schließt der Papst aus (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 1966, 660; Paul VI. 1969, 88), und er wirbt um Vertrauen für das kirchliche Lehramt als Garant der Orthodoxie (vgl. Paul VI. 1966b, 225; Paul VI. 1967c, 792; Paul VI. 1967d, 962). Eine Bestätigung dieser Position bietet die 1973 von der Kongregation für die Glaubenslehre publiAuf die Bindung des Staates an »rechtliche Normen, die der objektiven sittlichen Ordnung entsprechen«, weist auch Dignitatis humanae hin (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil 1965c, Nr. 7).
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zierte Erklärung zur katholischen Lehre über die Kirche, die gegen einige heutige Irrtümer zu verteidigen ist. In ihr wird der Begriff des »dogmatischen Relativismus« ausdrücklich wieder aufgegriffen und die Lehre des Ersten Vatikanums über den unveränderlichen Sinn der Dogmen affirmiert (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 1973, 403 f.). Im Folgejahr warnt Paul VI. erneut vor einem »Relativismus bei der Dogmeninterpretation«, der gewissermaßen den Pluralismus zum locus theologicus erhebe (vgl. Paul VI. 1975a, 13). In der Morallehre wird der Relativismus wie schon unter Pius XII. in Verbindung mit Subjektivismus und »Situationsethik« gebracht (vgl. Paul VI. 1967a, 144), denen »ewige Normen, die von Gott in das Herz der Menschen gelegt sind« (Paul VI. 1968, 205) 14, gegenübergestellt werden. Über diese allgemeinen Prinzipien hinaus benennt Paul VI. in einer Ansprache vor der Internationalen Theologenkommission 1974 auch konkrete Punkte, in denen er eine relativistische, schrankenlos gewordene Freiheit zur Durchsetzung gelangen sieht: »Ehescheidung, Homophilie, voreheliche sexuelle Beziehungen« (Paul VI. 1975b, 40). Hier deuten sich konkrete gesellschaftliche Konfliktfelder an, die später bei Johannes Paul II. eng mit der Relativismuskritik verbunden werden. Die genannte Ansprache zeigt beispielhaft, dass es wohl zu kurz greift, das Relativismus-Motiv bei Paul VI. allein als Verständigungsangebot in Richtung der innerkirchlichen Konzilskritiker von rechts zu deuten. 15 Über den Konflikt um die Konzilsinterpretation hinaus und wesentlich intensiver als in den Andeutungen bei Pius XII. wird bei Paul VI. »Relativismus« zur zeitdiagnostischen Schlüsselformel, die in möglichst weitem Zugriff die »große Versuchung« (Paul VI. 1971b, 555) der Gegenwart und den diffusen Grund jener Verunsicherung zu erfassen versucht, die von der Welt in die Kirche einzudringen droht: Der moderne Mensch sei »anfällig für einen systematischen Relativismus, der ihn geneigt macht zu den leichteren Entscheidungen von der Situation, der Demagogie, der Mode, der Leidenschaft, des Hedonismus, der Vgl. auch Paul VI. 1974, 87: »certi valori assoluti dell’obbligazione morale«. Diese einseitige Tendenz ist bei Invernizzi Accetti zu erkennen: »In the years that followed the closure of the council in 1965, the discourse of anti-relativism was consolidated in this anti-conciliar function, progressively becoming the principal language employed by the conservative wing within the Church to criticize the openness to reform that was judged responsible for the crisis that Catholicism was undergoing« (Invernizzi Accetti 2015, 56).
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Selbstsucht her, so dass er äußerlich versucht, die ›Majestät des Gesetzes‹ herauszufordern, und innerlich, fast ohne es zu merken, das Reich des moralischen Gewissens ersetzt durch die Laune des psychologischen Bewusstseins.« 16
»Wir werden abhängig von dem, was uns von außen umgibt und uns bedingt«, lautet eine definitionsartige Formulierung aus dem Jahr 1970. 17 Der Papst bezeichnet die Gegenwart als »Epoche der doktrinellen Desorientierung« aufgrund des Relativismus, der »alle säkularen Irrtümer einer von sich selbst berauschten und von der sicheren Verbindung zu Gott gelösten Vernunft sammelt und absorbiert« 18, und geradezu beschwörend klingt seine Frage: »Wenn man Friedrich Nietzsche für den Propheten unserer Zeit hielte, wo bliebe das Evangelium Christi, wohin würde die Welt von heute am Ende steuern?« (Paul VI. 1975b, 40).
Paul VI., so wird man resümieren dürfen, war der Papst, der fast unbemerkt jene Entgrenzung des Relativismus-Diskurses eingeleitet hat, die dann in der Lehre seiner Nachfolger augenscheinlich wurde. Bei ihm übernimmt der Terminus »Relativismus« zum ersten Mal klar die Rolle eines negativen globalen »Zeichens der Zeit«, eines scheinbar alle Aspekte pessimistischer Gegenwartsanalyse aufnehmenden Containerbegriffs, der fast beliebig mit anderen ›Ismen‹ in Beziehung gesetzt werden kann, gegen die sich die Kirche in der voranschreitenden Moderne abzugrenzen sucht. 19 Wenigstens in dieser Paul VI. 1974, 87: »[…] dall’altro, vorrete considerare la soverchia facilità con la quale l’uomo moderno, che tanto fieramente rivendica la propria libertà, sia poi intimamente tentato, e talora vulnerato da un relativismo sistematico, che lo piega alle scelte più facili della situazione, della demagogia, della moda, della passione, dell’edonismo, dell’egoismo, così che esteriormente tenta di impugnare la ›maestà della legge‹, e interiormente, quasi senza avvedersi, sostituisce all’impero della coscienza morale il capriccio della coscienza psicologica.« 17 Paul VI. 1970, 104: »Chi definisce teoricamente questo, oggi tanto diffuso, atteggiamento, parlerà di relativismo: cioè noi diventiamo relativi a ciò che fuori di noi ci circonda e ci condiziona«. 18 Paul VI. 1976, 461: »Oggi, come in altri periodi di disorientamento dottrinale, ma forse più che non mai per il relativismo che talora raccoglie e assorbe e fa propri tutti gli errori secolari di una ragione ebbra di sé e disancorata da un sicuro rapporto con Dio (che pure è l’unico che ne garantisca l’autonomia e la dignità), oggi, diciamo, la comunione in seno alla Chiesa è, per alcuni, in pericolo.« 19 Vgl. ähnlich Bugiel: Der Begriff wird jetzt verwendet »als Antagonismus zu allem, was von Seiten des Lehramts in Glaubensfragen für schützenswert erklärt wird« (Bugiel 2018, 83). 16
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Hinsicht wird »Relativismus« tatsächlich seit Paul VI. zu einem Nachfolgebegriff für den nach Pius XII. endgültig verabschiedeten »Modernismus«.
3.
Johannes Paul II.: Der moralische Relativismus als Gefährdung demokratischer Gesellschaften
Im langen Pontifikat Johannes Pauls II. lässt sich eine deutliche Entwicklung in der Verwendung des Relativismus-Begriffs feststellen. In den ersten Jahren ist der Befund eher unauffällig. Erwähnenswert ist vielleicht, dass schon in dieser Zeit erstmals die Beanstandung von Theologen bzw. Theologien mit ausdrücklicher Heranziehung des Begriffs »Relativismus« erfolgt. Dies geschieht 1980 im Brief des Papstes an die Deutsche Bischofskonferenz anlässlich des Entzugs der Lehrerlaubnis für Hans Küng 20 und setzt sich nach dem Dienstantritt Joseph Ratzingers im Schreiben der Glaubenskongregation über Aspekte der Befreiungstheologie (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 1984, 907) und in der kurz darauf publizierten Notifikation zu einer ekklesiologischen Publikation von Leonardo Boff (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 1985, 759 f.) fort. Seit etwa 1985 ist ein Crescendo der Relativismus-Bezüge in Texten Johannes Pauls II. festzustellen. Bis zum Ende des Pontifikats 2004 finden sich in den Acta Apostolicae Sedis (AAS) rund 100 verschiedene Texte, in denen der Papst oder ein zentrales kuriales Organ einmal oder mehrfach von Relativismus sprechen (gegenüber neun vor 1985). Auffällig ist zunächst, dass »Relativismus« anders als bei den Vorgängerpäpsten bei Johannes Paul II. auch regelmäßig in Verbindung mit den Begriffen »Indifferentismus« und »Synkretismus« verwendet wird. Allerdings werden die Begriffe fast ausschließlich auf die These von der Gleichwertigkeit der Religionen, nicht aber auf die Behauptung der Gleichwertigkeit verschiedener Gemeinschaften in-
Vgl. Johannes Paul II. 1980, 391: »Jeder, der an der Geschichte unseres Jahrhunderts teilnimmt und die verschiedenen Prüfungen kennt, die die Kirche in ihrem Innern während dieser ersten nachkonziliaren Jahre erlebt, weiß um diese Stürme. Die Kirche, die ihnen zu begegnen hat, darf nicht von Unsicherheit im Glauben und von Relativismus in der Wahrheit und der Moral befallen sein.«
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nerhalb der christlichen Ökumene bezogen, 21 was als Modifizierung des traditionellen Indifferentismus-Diskurses im Gefolge des Konzils gewertet werden kann. Höhepunkt der neuen »anti-indifferentistischen Linie« unter dem Relativismus-Label ist im Wojtyła-Pontifikat die Erklärung der Glaubenskongregation Dominus Jesus (2000), die sich als Abwehr von »relativistischen Theorien« versteht, »die den religiösen Pluralismus nicht nur de facto, sondern auch de iure (oder prinzipiell) rechtfertigen wollen« 22. In diesem Zusammenhang wird der schon in der Missionsenzyklika des Papstes von 1991 als innerkirchliche Gefahr für die Evangelisierung gekennzeichnete »religiöse Relativismus, der zur Annahme führt, dass ›eine Religion gleich viel gilt wie die andere‹« (Johannes Paul II. 1991a, Nr. 36, 281), 23 explizit als »Mentalität des Indifferentismus« (Kongregation für die Glaubenslehre 2000, Nr. 22, 763) qualifiziert. 2002 unterstreicht die Glaubenskongregation in einem weiteren Dokument, dass die »Verurteilung des Indifferentismus und des religiösen Relativismus durch die katholische Lehre« der Gewissens- und Glaubensfreiheit im Sinne des Zweiten Vatikanums nicht widerspreche, und verweist in den Fußnoten ausdrücklich auch auf ältere päpstliche Dokumente gegen den Indifferentismus aus der Feder von Pius IX., Leo XIII. und Pius XI. 24 Damit ist der bereits erwähnte älteste und umfangreichste Traditionsstrom päpstlicher Lehraussagen, welche der Sache nach antirelativistisches Gepräge haben, endgültig mit dem Begriff »Relativismus« verknüpft worden. Die beiden zentralen inhaltlichen Konkretisierungen des Relativismus, die schon die Vorgängerpäpste kannten, werden bei Johannes Allerdings werden hier und da relativistische Gefahren auch in der Ökumene benannt; vgl. etwa Johannes Paul II. 1987b, 1474. 22 Kongregation für die Glaubenslehre 2000, Nr. 4, 744: »Perenne nuntium missionarium Ecclesiae in discrimine hodie ponitur a theoriis indolis relativisticae, quae comprobare conantur pluralismum religiosum, non solum de facto sed etiam de iure (vel de principio).« 23 Vgl. auch Apostolisches Schreiben Pastores dabo vobis (Johannes Paul II. 1992, 667) und viele weitere Bezugnahmen. 24 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 2004, 370: »L’affermazione della libertà di coscienza e della libertà religiosa non contraddice quindi affatto la condanna dell’indifferentismo e del relativismo religioso da parte della dottrina cattolica, [Cf. Pio IX, Lett. Enc. Quanta cura, ASS 3 (1867) 162; Leone XIII, Lett. Enc. Immortale Dei, ASS 18 (1885) 170–171; Pio XI, Lett. Enc. Quas primas, AAS 17 (1925) 604–605; Catechismo della Chiesa Cattolica, n. 2108; Congregazione per la Dottrina della Fede, Dicl. Dominus Iesus, n. 22.] anzi con essa è pienamente coerente.« 21
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Paul II. in auffällig unterschiedlicher Gewichtung aufgegriffen. Die bei Pius XII. und auch Paul VI. unter dem Namen des »dogmatischen Relativismus« präsente Abweisung der radikalen Historisierung dogmatischer Wahrheiten wird unter Johannes Paul II. kaum mehr thematisiert; der Terminus begegnet nur noch punktuell und ohne klare Sinnzuweisung (vgl. etwa Johannes Paul II. 1993b, 692). Ein in seinem Pontifikat verfasstes Papier der Internationalen Theologenkommission zur »Interpretation der Dogmen« (1990) grenzt sich zwar von »Relativismus« ab, eröffnet aber durchaus Spielräume aktualisierender Hermeneutik (vgl. Internationale Theologische Kommission 1990, vor allem Abschnitt C.III.3). Die im selben Jahr publizierte Instruktion der Glaubenskongregation »Über die kirchliche Berufung des Theologen« möchte mit der obligatorischen Warnung vor dem Relativismus nicht so sehr dogmatische Formeln als vielmehr die bischöfliche bzw. päpstliche Autorität vor den Ansprüchen eines »parallelen Lehramts der Theologen« schützen. 25 In gewisser Hinsicht an die Stelle des alten, noch am stärksten dem Antimodernismus verbundenen Ringens um die Geschichtlichkeit der Dogmen tritt bei Johannes Paul II. die Abweisung des glaubensfeindlichen Alltagsrelativismus und die Verteidigung der generellen Wahrheitsfähigkeit des Menschen in Auseinandersetzung mit dem intellektuellen (epistemischen) Relativismus, dessen Verweigerung wahrhaft metaphysischen Denkens als Gefährdung des Glaubens in seinem philosophischen Vorfeld verstanden wird (vgl. etwa Johannes Paul II. 1988a, 765). Die Enzyklika Fides et ratio hat sich diesem Thema ausführlich gewidmet (vgl. Johannes Paul II. 1999, vor allem Nr. 5, 8–10 und Nr. 80, 67 f.). Natürlich hat auch diese prinzipielle Auseinandersetzung mit dem Zweifel an der Wahrheitsfähigkeit des Menschen Wurzeln in der älteren katholischen Theologie; sie lassen sich bis an die Anfänge der Apologetik in der Frühen Neuzeit zurückführen (vgl.
Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 1990, 1564 (DH 4884): »Dissensionis defensio generatim variis argumentis fulcitur, quorum duo suapte natura altius fundantur. Alterum est indolis hermeneuticae: documenta Magisterii nihil aliud esse, nisi quamdam theologiae opinabilis imaginem. Alterum vero ad pluralismum theologicum appellat, protractum quandoque usque ad relativismum, qui in discrimen adducit ipsam integritatem fidei: interventus Magisterii ortum suum ducere ex una tantum theologia inter alias multas, at nullam theologiam particularem ubique eminere posse super ceteras. Sic genus quoddam ›magisterii paralleli‹ theologorum exoritur, quod magisterio authentico adversatur et aemulatur.«
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beispielhaft Elizalde 1662). 26 Diese Linie kann im vorliegenden Beitrag nicht weiter verfolgt werden. Die Bekämpfung des »moralischen Relativismus« stellt eindeutig ein Kernanliegen des gesamten Pontifikats von Karol Wojtyła dar. In fast allen der zahlreichen Relativismus-Passagen in der Verkündigung des Papstes geht es (auch) um diese Art der Ablösung objektiver, verlässlicher Orientierung durch individualistische, subjektivistische, utilitaristische Haltungen. In vielen Ansprachen, vor allem bei Adlimina-Besuchen europäischer und lateinamerikanischer Bischofskonferenzen, scheint die Relativismus-Warnung mit der Zeit ein standardisierter Textbaustein geworden zu sein. Am ausführlichsten kommt der Papst in seinen prominenten Lehrdokumenten, die Moral- und Sozialfragen gewidmet sind, auf den Relativismus als zentrale Bedrohung zu sprechen. Dies beginnt im Apostolischen Schreiben Familiaris consortio (1981), wo die eheliche Treue als Schutzmittel gegen moralischen Relativismus empfohlen wird (vgl. Johannes Paul II. 1982, 93), es setzt sich fort im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Reconciliatio et paenitentia (1984), das eine Beziehung zwischen »Geschichtsrelativismus in der Ethik« und schwindendem Sündenbewusstsein herstellt (vgl. Johannes Paul II. 1985a, Nr. 18, 226) 27. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem moralischen Relativismus stehen drei große Enzykliken, die Johannes Paul II. zwischen 1991 und 1995 verfasst hat. Die erste von ihnen, die Sozialenzyklika Centesimus annus, enthält die Textpassage mit der vielleicht größten Wirkung. Hier begegnet erstmals jene Aussage über die Relativismus-Gefährdung moderner Demokratien, die bis in Michel de Elizalde diskutiert nicht nur bereits das im Humanismus aufgekommene Argument, dass die Zugehörigkeit von Menschen zu einer bestimmten Religion letztlich auf kulturelle Umstände zurückzuführen ist, ohne dass überzeugende rationale Gründe geltend gemacht werden können (vgl. Boccaccios Gleichnis von den ununterscheidbaren drei Ringen: q. 1, n. 3–5 [1–2]). Aus der antiken Philosophie und von Augustinus kennt der Jesuit auch schon verschiedene Varianten des Zweifels an der Wahrheitsfähigkeit unseres Erkennens, namentlich die antiken Schulen der Skeptiker und Relativisten. Die Akademiker lehnen jede bloße Meinung ab, bezweifeln die Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Irrtum und erkennen nur die Suche nach Wahrheit, aber kein Finden an. Den Pythagoreern dagegen erscheint alles als wahr, weil sie als Kriterium nur den subjektiven Anschein zulassen. Gegen beide führt Elizalde ausführliche Argumente ins Feld (q. 5, n. 89–120 [571–577]). Für ihn steht fest, dass erst die Offenbarungsreligion die Unsicherheiten philosophischer Reflexion zu überwinden vermag, was deren Unverzichtbarkeit belegt. 27 Im lateinischen Text ist von einem »relativismus historicisticus« die Rede. 26
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die Gegenwart hinein heftig diskutiert wird. Gegen die weit verbreitete Meinung, dass »der Agnostizismus und der skeptische Relativismus […] die Philosophie und die Grundhaltung [seien], die den demokratischen politischen Formen entsprechen«, stellt Johannes Paul II. seine Überzeugung, dass nur die Orientierung der Politik an einer letzten (sittlichen) Wahrheit ihre Korrumpierung durch Mehrheitsentscheidungen verhindern kann. Der Papst folgert daraus: »Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus«, und: »In einer Welt ohne Wahrheit verliert die Freiheit ihre Grundlage, und der Mensch ist der Gewalt der Leidenschaften und offenen oder verborgenen Bedingtheiten ausgesetzt« (vgl. Johannes Paul II. 1991b, 851). Diese Gedanken der Enzyklika sind später vom Papst immer wieder zitiert und variiert worden, unter anderem in den Enzykliken Veritatis splendor (vgl. Johannes Paul II. 1993c, Nr. 101, 1212 f.) und Evangelium vitae (vgl. Johannes Paul II. 1995, Nr. 20, 422 f.). Die letztgenannten Lehrschreiben bemühen sich darüber hinaus, den inneren Zusammenhang zwischen Wahrheit und Freiheit, auf den sich Johannes Paul II. bei seiner Ermahnung der demokratischen Gesellschaften beruft, grundzulegen bzw. im Hinblick auf Themen des Lebensschutzes zu konkretisieren. Auch bei diesen Versuchen eines neuen Zugangs zum Thema des natürlichen Sittengesetzes fungiert das antirelativistische Anliegen als Ausgangspunkt. Die bereits zitierte Note der Glaubenskongregation von 2002 »zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben« liest sich gegen Ende des Pontifikats von Johannes Paul II. noch einmal wie ein Summarium seiner antirelativistischen Botschaft, die er seit Centesimus annus an die politisch Verantwortlichen gerichtet hat (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 2004). Diesen seit Anfang der 90er-Jahre stark ins Politische gewendeten Antirelativismus unter Johannes Paul II. hat Carlo Invernizzi Accetti primär als Reaktion der Kirche auf den Fall des Eisernen Vorhangs nach 1989 gedeutet (vgl. Invernizzi Accetti 2015, 57–60). Der Kommunismus als politischer Hauptfeind der Kirche im 20. Jahrhundert, so seine These, existierte nun nicht mehr, stattdessen rückte die liberale Demokratie des Westens als wesentlicher Ausdruck von Modernität in den Fokus. Dafür spreche auch die seit den 90er-Jahren erkennbare (und in der Regel erfolglos gebliebene) diplomatische Aktivität des Vatikans zur Verhinderung der nun in vielen Staaten 174 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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zur Realisierung gelangten liberaleren Gesetzgebungen in Sachen Abtreibung, Euthanasie, gleichgeschlechtlicher Ehe oder Bioethik. Diese Bewegung habe der Papst durch sein Argument der Totalitarismus-Gefährdung einer relativistischen Demokratie mit fehlendem Gottesbezug politisch ad absurdum führen wollen. Die Kirche sei jetzt gewissermaßen zu ihrer Kritik moderner politischer Ordnungen vor 1917 zurückgekehrt. Tatsächlich ist die Verbindung zwischen dem Ende des Kommunismus und den verschärften Mahnungen des Papstes an die westlichen Demokratien offensichtlich. Auch Kardinal Ratzinger hat auf diesen Zusammenhang hingewiesen 28 und schon bald nach dem Fall der Mauer davor gewarnt, dass das vom Kommunismus hinterlassene Vakuum zuerst vom Relativismus und dann vom Nihilismus gefüllt werden könnte (vgl. Ratzinger 1991b, 106 f.). An dieser Stelle möchte ich drei kommentierende Bemerkungen anschließen. Zum einen haben wir gesehen, dass der päpstliche Antirelativismus-Diskurs schon bei Pius XII. und verstärkt bei Paul VI. immer auch eine gesellschaftskritische Dimension hatte und dabei primär gegen die westliche »Kultur des Provisorischen« im Alltag gerichtet war. So warnte Paul VI. bereits vor einer dem Liberalismus entstammenden »tyrannischen Art von Demokratie« 29, und Joseph Ratzinger erinnerte bald nach seiner Ernennung zum Präfekten der Glaubenskongregation an die Einschätzung zweier Kardinäle aus dem kommunistischen Teil Europas, die den »westlichen Hedonismus und Permissivismus« für gefährlicher hielten als den Marxismus (vgl. Ratzinger 1985, 200). Johannes Paul II. hat in seinem Pontifikat ebenfalls schon vor 1989 den Westen vor den Gefahren des Relativismus gewarnt (vgl. etwa Johannes Paul II. 1985b, 963; Johannes Paul II. 1987a, 326; Johannes Paul II. 1988b, 819). Die Relativismuskritik der Päpste zielte von Anfang an vor allem in diese Richtung, während der Antikommunismus im vorliegenden Kontext keine erkennbare Rolle spielte. Man wird darum weniger von einer Neudefinition des ideologischen Gegners nach 1990 als von veränderten Schwerpunkten der Auseinandersetzung sprechen müssen, was sowohl mit der Wahrnehmung der Ausbreitung des westlichen Gesellschaftsmodells auf
Vgl. Ratzinger 2003, 94: »Das Versagen des einzigen Systems einer wissenschaftlich fundierten Lösung der menschlichen Probleme konnte nur den Nihilismus oder jedenfalls den totalen Relativismus ins Recht setzen. So ist in der Tat der Relativismus zum zentralen Problem für den Glauben in unserer Stunde geworden.« 29 Paul VI. 1971a, 426 (DH 4510): »imperiosum democratiae genus«. 28
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ganz Europa als auch mit der einhergehenden Erfahrung eines Modernisierungsschubes zusammenhängen dürfte, der in den demokratischen Gesellschaften seit den 90er-Jahren zu beobachten ist und dessen Resultate aus kirchlicher Sicht insgesamt als Abkehr von sittlichen Grundprinzipien in der westlichen Kultur wahrgenommen wurden (»Kulturrelativismus« 30). Die Tatsache, dass der Niedergang des Kommunismus dem kirchlich verfassten Christentum nicht die erhoffte neue Blüte in Europa verschafft, sondern im Gegenteil seinen Niedergang beschleunigt und die zunehmende Wirkungslosigkeit politischer Interventionen der Kirche offenbar gemacht hat, dürfte die Intensivierung der päpstlichen Relativismuskritik befördert haben. 31 Zweitens: Das Bedrohungsszenario, das Johannes Paul II. für Demokratien malt, die ihr moralisches Fundament aufgeben, ist tatsächlich demjenigen ähnlich, das schon bei Pius IX. oder Leo XIII. für eine von der Religion getrennte Volkssouveränität gezeichnet wird: der Verlust wahrer Gerechtigkeit zugunsten »nackter Gewalt« (vgl. Pius IX. 1864a [DH 2890]), das Umkippen unbeschränkter Mehrheitsherrschaft in »Tyrannei« 32. Allerdings fordert Johannes Paul II. in diesem Zusammenhang von der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr wie die Päpste des 19. Jahrhunderts die Anerkennung von »Lehre und Autorität der göttlichen Offenbarung« ein, sondern mahnt zur Achtung von »Werten« und »Wahrheit« zum Schutz der Personwürde, die unbezweifelbar im Zentrum der Anthropologie des Papstes steht. Der Gottesbezug naturrechtlicher Aussagen scheint damit in den Hintergrund zu rücken, die Politik wird nicht direkt mit einem göttlichen Gesetz oder gar mit Herrscherrechten des Königs Christus (vgl. Pius XI. 1925, vor allem 604–606) konfrontiert. Andererseits liest man auch in den Enzykliken von Johannes Paul II. Sätze wie: Dieser Begriff fällt bei Johannes Paul II. in einer Ansprache von 1991 (vgl. Johannes Paul II. 1993a, 43). Benedikt XVI. wird ihn in der Enzyklika Caritas in veritate aufgreifen (vgl. Benedikt XVI. 2009, Nr. 26, 661). 31 Eigens in diesem Kontext zu berücksichtigen wären Parallelen der päpstlichen Relativismuskritik zu politischen Kulturkampfdebatten in Verbindung mit demselben Motiv, wie sie schon in den 80er-Jahren in den USA sehr lebendig geführt wurden (vgl. Prothero 2016). 32 Vgl. die zuvor bereits zitierte Passage aus der Enzyklika Libertas praestantissimum (Leo XIII. 1888, 601). Johannes Paul II. beruft sich auf diesen Text explizit in seiner Enzyklika Centesimus annus (vgl. Johannes Paul II. 1991b, Nr. 4, 797 f.). 30
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»Die Leugnung Gottes beraubt die Person ihres tragenden Grundes und führt damit zu einer Gesellschaftsordnung ohne Anerkennung der Würde und Verantwortung der menschlichen Person« (Johannes Paul II. 1991b, Nr. 13, 810),
oder: »Der Gehorsam gegenüber der Wahrheit über Gott und über den Menschen ist die erste Voraussetzung der Freiheit« (Johannes Paul II. 1991b, Nr. 41, 843–845). Insofern wird die theonome Legitimation selbst fundamentaler moralischer Prinzipien weiterhin vertreten. Sind diese dann aber tatsächlich rein vernunftrechtlich begründbar, 33 oder erweist sich der kirchliche Antirelativismus als »theology in disguise« 34? Können vernunftrechtliche Moralprinzipien nicht auch anders konkretisiert werden als in der katholischen Naturrechtstradition, ohne dass dahinter eine relativistische Haltung stehen muss? Und denken die Päpste heute über sittliche und politische Autonomie in letzter Konsequenz anders als ihre Vorgänger in den ersten 150 Jahren nach der Französischen Revolution? 35 Dies bleiben zentrale Kontroverspunkte. Eine dritte Bemerkung betrifft die Frage, welchen Einfluss Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation auf die Verlagerung des ethischen Relativismus-Diskurses ins Politische ausgeübt hat. Wenn ich es recht sehe, beginnt die explizite Verwendung des Relativismus-Begriffs in Ratzingers Veröffentlichungen zum Themenkomplex »Glaube und Politik« nicht vor 1990 (vgl. Ratzinger 1991a, 74 f.; Ratzinger 2005a). Die Warnung vor der »Drohung des Totalitären« in einer Welt, in der sich der Nihilismus ausbreitet, äußert er allerdings schon Anfang der 70er-Jahre (vgl. Ratzinger 1987a, 155), und etwa zehn Jahre später schreibt er, dass das »bloß formale demokratische System der Machtbegrenzung und Machtverteilung […] aus sich allein nicht [funktioniert]«, sondern »ein inhaltliches Ethos voraus[setzt], das gemeinsam angenommen ist und gemeinsam festgehalten wird, obwohl es nicht absolut zwingend begründet werden kann« (Ratzinger 1987b, 169). 36 In einem Beitrag über ChristDarauf zielt die Kritik bei Invernizzi Accetti 2015, 85. Bloor 2007, 279: »Relativism is just epistemological atheism, while anti-relativism is theology in disguise«. 35 Vgl. etwa die Kritik am anti-aufklärerischen Grundduktus bei Johannes Paul II. durch den Philosophen Paolo Flores d’Arcais in seinem Dialog mit Joseph Ratzinger (Ratzinger/Flores d’Arcais 2006, 32 f.). 36 Eigens zu thematisieren wäre in diesem Kontext Ratzingers Verhältnis zur katholischen Naturrechtslehre. Während der frühe Ratzinger sich zur konkreten traditio33 34
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liche Orientierung in der pluralistischen Demokratie von 1984 formuliert der Kardinal als Schlussfolgerung: »Die eigentliche Gefahr unserer Zeit, der Kern unserer Kulturkrise, ist die Destabilisierung des Ethos, die darauf beruht, daß wir die Vernunft des Moralischen nicht mehr begreifen können und Vernunft auf das Berechenbare reduziert haben. […] Die Befreiung von der Moral kann daher ihrem Wesen nach nur Befreiung zur Tyrannis sein. […] Die Beziehung des Staates auf den christlichen Grund ist unerläßlich, gerade wenn er Staat bleiben und pluralistisch sein soll« (Ratzinger 1987c, 194). 37
Auch Nebenmotive wie die These von der Demokratie als »Produkt aus der Verschmelzung von griechischem und christlichem Erbe« (Ratzinger 1987c, 192), die Ablehnung des Rechtspositivismus, die gegenseitige Angewiesenheit von Vernunft und Offenbarung (vgl. Ratzinger 1987c, 195), den Aufruf an die Christen, sich auch um des Staates willen nicht aus der politischen Öffentlichkeit zurückzuziehen (vgl. Ratzinger 1987c, 195 f.), ohne dass die Kirche selbst »Partei« wird, und schließlich die Beobachtung, dass das Einfordern absoluter Werte im Pluralismus der Gegenwart oftmals schon als intolerant und gesellschaftsfeindlich empfunden wird, findet man bereits während der 80er-Jahre in Ratzingers Werk (vgl. Ratzinger 1987d, 202). 38 Es spricht demnach vieles dafür, dass die Wendung des RelativismusDiskurses ins Politische bei Johannes Paul II. nach 1990 durch Joseph Ratzinger in wesentlichen Punkten mitgeprägt wurde; in seinen Beiträgen waren alle zentralen Motive – mit Ausnahme der Verwendung des Relativismus-Begriffs selbst – in den vorangehenden zwei Jahrzehnten vorbereitet. Ähnliches wird man wohl auch über die antiindifferentistische Linie des Wojtyła-Pontifikats bzw. seine Betonung der Wahrheitsfähigkeit des Menschen sagen dürfen. Insofern beginnt Joseph Ratzingers päpstliches Lehramt lange vor 2004. nellen Ausgestaltung mehrfach kritisch äußerte, hat er als Kardinal und Papst den unaufgebbaren sachlichen Gehalt der Naturrechtslehre deutlicher betont; vgl. die (eher auf Harmonisierung ausgerichtete) Studie von Hölscher 2014, vor allem 23– 57, 225–242). 37 Vgl. auch Ratzinger 1982, 31, 52 f., 76 f., 80 f. 38 Die Belege, die leicht vermehrt werden könnten, zeigen, dass nicht erst ein Vortrag an der Universität Eichstätt von 1987 (vgl. Ratzinger 1988) als Beginn von Ratzingers Auseinandersetzung mit der »Diktatur des Relativismus« zu bezeichnen ist, wie Lothar Roos meint (vgl. Roos 2006, 3). Allerdings fehlt auch im Eichstätter Vortrag noch der explizite Begriff »Relativismus«.
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4.
Benedikt XVI.: Warnung vor der »Diktatur des Relativismus«
Wie auf dem Hintergrund des Gesagten nicht anders zu erwarten war, hat sich die starke Präsenz der Relativismuskritik im eigenen Pontifikat Ratzingers ungebrochen fortgesetzt, ja sogar noch verstärkt und ist von der öffentlichen Debatte intensiv aufgegriffen worden. Die Relativismus-Referenzen, die Daniel Bugiel zusammengetragen hat (vgl. Bugiel 2018, 97, Anm. 51), erreichen in den knapp acht Jahren der Amtszeit Benedikts XVI. ungefähr die Zahl der Belege aus dem weitaus längeren Pontifikat von Johannes Paul II. Wenn man sie durchsieht, kann man vielleicht gegenüber der Lehre des Vorgängers kleinere Akzentverlagerungen feststellen, wie etwa die forcierte Warnung politisch Verantwortlicher vor den Gefahren des Relativismus für die Demokratie oder die stärkere Betonung eines »intellektuellen« Relativismus (ein Begriff, den Johannes Paul II. nicht verwendete) neben dem »moralischen«. Besonders deutlich kommt der letztgenannte Aspekt in einer Passage der Enzyklika Lumen fidei zum Ausdruck, die eindeutig zu den von Benedikt XVI. vorbereiteten Teilen gehört, auch wenn der Gesamttext 2013 erst unter seinem Nachfolger Franziskus publiziert wurde (vgl. Franziskus 2013b, Nr. 25, 569 f.). Die kurz vor der Wahl zum Papst erstmals verwendete griffige Formel von der »Diktatur des Relativismus« 39 hat Benedikt auch anschließend häufig verwendet und variiert; sie hat die Debatte stark angeregt. 40 Wirklich neue Motive kommen im Pontifikat Benedikts aber nicht hinzu, sodass hier auf eine eingehendere Untersuchung der Texte verzichtet werden soll. 41
Vgl. Ratzinger 2005b, 687: »Avere una fede chiara, secondo il Credo della Chiesa, viene spesso etichettato come fondamentalismo. Mentre il relativismo, cioè il lasciarsi portare ›qua e là da qualsiasi vento di dottrina‹, appare come l’unico atteggiamento all’altezza dei tempi odierni. Si va costituendo una dittatura del relativismo che non riconosce nulla come definitivo e che lascia come ultima misura solo il proprio io e le sue voglie.« 40 Vgl. Girard 2005, 43: »This formula – the dictatorship of relativism – is excellent. It is going to establish a new discourse in the same way that John Paul II’s idea of recovering ›a culture of life‹ from the ›culture of death‹ has framed a whole set of issues, from abortion to stem research, capital punishment and war.« 41 Verwiesen sei auch auf die zu Beginn des Beitrags genannten Forschungsbeiträge zur Relativismus-Thematik im Ausgang vom Denken Ratzingers/Benedikts XVI. 39
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5.
Franziskus: Ablehnung des »praktischen Relativismus«
Papst Franziskus verwendet nach seiner Wahl im Jahr 2013 den Relativismus-Begriff in einer Regelmäßigkeit, die angesichts des deutlich veränderten Stils und der neuen Schwerpunkte seiner Amtsführung zunächst erstaunen mag (vgl. schon Invernizzi Accetti 2015, 76 f.). Relativ konstant bleiben vor allem sehr kritische Aussagen über den Alltagsrelativismus, der in einer pluralistischen Welt, in einer »›flüssigen Gesellschaft‹, die ohne Fixpunkte ist« (Franziskus 2017a), die christliche Identität bedroht (vgl. Franziskus 2014a, 715; Franziskus 2014b, 829; Franziskus 2015a, 179; Franziskus 2017b, 157; Franziskus 2017e, 978; Franziskus 2018b; Franziskus 2019c). In der Enzyklika Laudato si’ (2015) nennt er konkrete Beispiele für die Folgen eines solchen »praktischen Relativismus« bzw. einer »Kultur des Relativismus«, die aber nicht mehr die Standardthemen seiner Vorgänger umfassen (Ehescheidung, Abtreibung, Homosexualität etc.), sondern eher die Gleichgültigkeit gegenüber der Menschenwürde infolge eines entfesselten, globalisierten Kapitalismus anprangern: »Menschenhandel, organisierte Kriminalität, Rauschgifthandel, Handel mit Blutdiamanten und Fellen von Tieren, die vom Aussterben bedroht sind« (Franziskus 2015b, Nr. 123, 896). So ergeben sich durchaus Verschiebungen im Vergleich zu den beiden Vorgängern, obgleich Franziskus seinerseits an antikapitalistische bzw. antiliberale Linien der päpstlichen Lehrtradition anknüpfen kann (vgl. nur Paul VI. 1967b, 270 [DH 4451] [unter anderem mit Berufung auf Pius XI.]). Auf drei Aspekte sei noch besonders hingewiesen. Zum einen verbindet Franziskus schon in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (2013) mit dem Begriff des »praktischen Relativismus«, den er dort erstmals in seinem Verständnis vorstellt, eine besondere Botschaft in den Innenraum der Kirche hinein, die man vielleicht am besten als Warnung vor Orthodoxie ohne Orthopraxie kennzeichnen könnte. »Es ist erwähnenswert, dass sogar, wer dem Anschein nach solide doktrinelle und spirituelle Überzeugungen hat, häufig in einen Lebensstil fällt, der dazu führt, sich an wirtschaftliche Sicherheiten oder an Räume der Macht und des menschlichen Ruhms zu klammern, die man sich auf jede beliebige Weise verschafft, anstatt das Leben für die anderen in der Mission hinzugeben« (Franziskus 2013d, Nr. 80, 1053). 42
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Man kann also in diesem Sinn als Christ nach Franziskus Relativist sein, auch wenn man moralischen oder intellektuellen Relativismus auf der theoretischen Ebene ablehnt. Ein Zweites: Franziskus entfaltet in diesem Zusammenhang ein Verständnis von »Wahrheit«, das sich von den philosophischen Standardbestimmungen unterscheidet, aber auch bei seinen päpstlichen Vorgängern schon anklingt (vgl. etwa Benedikt XVI. 2012, Nr. 27, 762 f.). Er spricht davon, Wahrheit sei »eine Begegnung mit einer Person« (Franziskus 2013a), wobei er konkret auf die Christusbeziehung des Menschen abzielt. In einem Brief an den atheistischen Journalisten Eugenio Scalfari schreibt er 2013: »Weiter fragen Sie mich, ob es ein Irrtum oder eine Sünde sei zu glauben, es gebe nichts Absolutes und daher auch keine absolute Wahrheit, sondern nur eine Reihe relativer und subjektiver Wahrheiten. Zunächst würde ich nicht, nicht einmal für den Glaubenden, von ›absoluter‹ Wahrheit sprechen im Sinne, dass absolut das ist, was los, frei von jeglicher Beziehung ist. Nach dem christlichen Glauben ist die Wahrheit die Liebe Gottes zu uns in Jesus Christus. Wahrheit ist also eine Beziehung! Dafür spricht, dass auch jeder von uns die Wahrheit von sich selbst her erfasst und ausdrückt – von seiner Geschichte und Kultur, von der Situation, in der er lebt, usw. Das heißt nicht, dass Wahrheit veränderlich und subjektiv wäre, im Gegenteil. Aber es bedeutet, dass sie sich uns immer nur als Weg und Leben gibt« (Franziskus 2013c).
Diese Passage ist schon deswegen erwähnenswert, weil sie zu den wenigen Aussagen eines Papstes gehört, die in gewisser Weise die Rede von »absoluter« Wahrheit infrage stellen, indem sie das relationale Moment menschlicher Erkenntnis positiv würdigen. Möglicherweise wäre von hier aus sogar ein positives christliches Verständnis von Relativismus (in einem bestimmten Sinn) zu gewinnen. 43 Vgl. auch sein Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate: »Oft hört man, dass angesichts des Relativismus und der Grenzen der heutigen Welt beispielsweise die Lage der Migranten eine weniger wichtige Angelegenheit wäre. Manche Katholiken behaupten, es sei ein nebensächliches Thema gegenüber den ›ernsthaften‹ Themen der Bioethik. Dass ein um seinen Erfolg besorgter Politiker so etwas sagt, kann man verstehen, aber nicht ein Christ, zu dem nur die Haltung passt, sich in die Lage des Bruders und der Schwester zu versetzen, die ihr Leben riskieren, um ihren Kindern eine Zukunft zu bieten« (Franziskus 2018a, Nr. 102). 43 Franziskus gesteht auch ausdrücklich Theologen ein bestimmtes Maß »relativistischen« Denkens zu, das allerdings nicht in das Gottesvolk weitergegeben werden 42
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Schließlich drittens: Die in der Morallehre für Franziskus maßgebliche Überzeugung, dass die Bewertung konkreter menschlicher Lebenswege und -situationen mit ihren Bedingtheiten nicht allein von abstrakten Normen her erfolgen kann, führt ihn dazu, nicht nur vor den »Totalitarismen des Relativen«, sondern im gleichen Atemzug auch vor »engelhaften Purismen, […] geschichtswidrigen Fundamentalismen, Ethizismen ohne Güte, Intellektualismen ohne Weisheit« 44, vor Rigidität 45 und Uniformität (vgl. Franziskus 2017d, 373 f.), Legalismen und Integrismen 46 zu warnen. Durch die Kombination mit solchen Kontrastbegriffen wird die Relativismus-Warnung neu kontextualisiert: Für den jetzigen Papst, der eine offene Kultur des Dialogs schätzt, droht Gefahr nicht nur durch Nichtbeachtung der Wahrheit, sondern auch durch bestimmte Weisen ihrer Beanspruchung. Die bislang umstrittenste pastorale Entscheidung von Franziskus, die Zulassung von wiederverheirateten geschiedenen Christen zu den Sakramenten im Einzelfall, ist wohl auf diesem Hintergrund zu lesen. 47 Vom Standpunkt der Lehrverkündigung der vorangehenden Päpste könnte dies als Schritt in Richtung einer relatidürfe: »La dimensione di relativismo, diciamo così, che sempre ci sarà nella discussione, rimanga tra i teologi – è la vostra vocazione –, ma mai portare questo al popolo, perché allora il popolo perde l’orientamento e perde la fede. Al popolo, sempre il pasto solido che alimenta la fede« (Franziskus 2019d). 44 Vgl. Franziskus 2017d, 373 f.: »E qui abbiamo una buona chiave che ci aiuta a leggere il mondo contemporaneo. Senza condannarlo e senza santificarlo. Riconoscendo gli aspetti luminosi e gli aspetti oscuri. Come pure aiutandoci a discernere gli eccessi di uniformità o di relativismo: due tendenze che cercano di cancellare l’unità delle differenze, l’interdipendenza.« 45 Vgl. Franziskus 2017c, 235: »Fatevi guidare dallo spirito profetico del Vangelo per avere una visione originale, vitale, dinamica, non ovvia. E questo specialmente oggi in un mondo così complesso e pieno di sfide in cui sembra trionfare la ›cultura del naufragio‹ – nutrita di messianismo profano, di mediocrità relativista, di sospetto e di rigidità – e la ›cultura del cassonetto‹, dove ogni cosa che non funziona come si vorrebbe o che si considera ormai inutile si butta via.« 46 Vgl. Franziskus 2019a: »Non cadiamo nella tentazione di ridurre la nostra appartenenza di figli a una questione di leggi e proibizioni, di doveri e di adempimenti. La nostra appartenenza e la nostra missione non nasceranno da volontarismi, legalismi, relativismi o integrismi, ma da persone credenti che imploreranno ogni giorno con umiltà e costanza: ›venga il tuo Regno‹.« 47 Vgl. die Formulierung im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Amoris laetitia: »Trotzdem erlaubt uns die Betrachtung der noch nicht erreichten Fülle auch, die geschichtliche Wegstrecke, die wir als Familie zurücklegen, zu relativieren, um aufzuhören, von den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Vollkommenheit, eine Reinheit der Absichten und eine Kohärenz zu verlangen, zu der wir nur im endgültigen
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vistischen Situationsethik gewertet werden, während die 2019 in der interreligiösen Erklärung von Abu Dhabi gewählte Formulierung, dass »der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache […] einem weisen göttlichen Willen, mit dem Gott die Menschen erschaffen hat« (Franziskus/Al-Tayyeb 2019), 48 entsprechen, relativismusverdächtig im Sinn des religiösen Indifferentismus ist.
6.
Schlussbemerkungen
Es ist mittlerweile 80 Jahre her, dass der Begriff »Relativismus« zum ersten Mal in einem päpstlichen Lehrdokument erschien. Seitdem hat er eine erstaunliche Karriere durchlaufen. Im Verlauf der sieben Pontifikate dieser Zeit sind manche Bedeutungsaspekte konstant geblieben, andere hinzugekommen, wieder andere in den Hintergrund getreten oder neu konnotiert worden. Mit dem Begriff wurde ursprünglich eine zentrale Abgrenzung des Modernismusstreits mit älteren Wurzeln im 19. Jahrhundert fortgesetzt (»dogmatischer Modernismus« als historisierende Neuinterpretation des Dogmas), die aber nach Paul VI. in den Hintergrund trat. Andererseits konnten unter seinem Titel ältere lehramtliche Traditionen einer Verteidigung der theonomen Naturrechtslehre (auch gegen moderne politische Autonomiekonzepte: »moralischer Relativismus«) und der religiösen Indifferentismuskritik (»religiöser Relativismus«) versammelt werden. Ebenso leben in ihm die Kritik an bestimmten Formen neuzeitlicher Philosophie und wohl auch der Anspruch der generellen Überlegenheit der Offenbarungserkenntnis gegenüber bloß rationaler Reflexion fort. Alle Aspekte fließen zusammen in einer eher vagen zeitdiagnostischen Variante des Relativismus-Begriffs, mit dessen Hilfe die Päpste in unterschiedlicher Akzentuierung vor dem Verlust christlicher Identität in der fortschreitenden Moderne warnen. Man hat – vor allem während des Pontifikats Benedikts XVI. – die lehramtliche Ablehnung des Relativismus in vielfacher Weise kriReich finden können« (Franziskus 2016, Nr. 325, 445 f.). Das Verb »relativieren« kommt nur in der deutschen Version vor. 48 Die in der Generalaudienz vom 03.04.2019 angeschlossene Erklärung, der Wille Gottes sei hier im Sinn seiner voluntas permissiva zu verstehen, ist angesichts der Nennung der Religionen in einer Reihe mit Hautfarbe oder Geschlecht wenig überzeugend (vgl. Franziskus 2019b).
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tisiert: als zu pauschal und einseitig defensiv, als empirisch wie theoretisch nicht überzeugend legitimiert, als kulturpessimistisch und pluralismusfeindlich, als ideologisches Ablenkungsmanöver nach längst verlorener Schlacht oder als Kaschierung der eigenen Fehlbarkeit im Reden und Handeln. Selbst wenn man diese Vorbehalte nicht teilt, kann man festhalten: Die semantische Unbestimmtheit, die der Begriff »Relativismus« schon auf dem Feld der Philosophie besitzt, hat es den Päpsten ermöglicht, ihn auch in der theologischen Applikation mit sehr divergierenden Inhalten zu füllen. Dadurch ist der Relativismus-Begriff der Päpste mit der Zeit unscharf bis an die Grenze der Äquivozität geworden. Man weiß bei seinem Auftauchen nicht ohne Weiteres, ob eine philosophische oder theologische, theoretische oder praktische Haltung gemeint ist, eine lokale oder globale Einstellung, und es ist nicht immer klar, ob eine zu schwache Vernunft kritisiert wird oder eine zu starke. Es wäre daher wünschenswert, dass lehramtliche Texte in Zukunft zu einer restriktiveren Verwendung des Terminus zurückkehren und ihn nach Möglichkeit durch exaktere Alternativen ersetzen. Denn auch der RelativismusBegriff kann dem epistemischen Relativismus verfallen.
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Theonome und autonome Relativität Ein analytischer Vergleich Karl-Heinz Menke
Ohne dass es eine Wirklichkeit gibt, die weiß, dass es Wirklichkeit gibt, wüsste niemand, ob es überhaupt etwas gibt. Ohne das Phänomen des ›Geistes‹, das heißt ohne ihrer selbst bewusste Subjektivität gibt es überhaupt kein Objekt von Wahrnehmung oder Erkenntnis, von Verstehen oder Interpretation. Jeder Mensch unterscheidet zwischen seinem Bewusstsein und der Wirklichkeit außerhalb seines Bewusstseins. Aber die Frage, ob das Bewusstsein real verschieden von der Wirklichkeit ist, die es von sich unterscheidet, lässt sich nur dann positiv beantworten, wenn ich nicht nur denke, dass ich denke, sondern in einer von meinem Denken real verschiedenen Welt denke. Man kann widerspruchsfrei denken, dass das Denken des Menschen und also jedwede Theorie und Interpretation bloßes Spiel der Natur mit sich selbst ist. Dann gibt es in Wahrheit gar kein ›Außerhalb‹ des Bewusstseins; dann erübrigt sich jede Frage nach der Übereinstimmung von Denken (bzw. Erkennen) und Sein. Dann ist auch das, was ein Mensch sich zuschreibt, wenn er von seinen Möglichkeiten oder seiner Freiheit spricht, bloße Fiktion. Dann gibt es keinerlei Kontingenz. Denn wenn die Welt unseres Bewusstseins alles ist, dann kann nichts anders sein, als es faktisch ist.
1.
Theonome Relativität oder: Theonome Autonomie
Mit diesen Vorbemerkungen möchte ich hinweisen auf den unendlichen Abstand zwischen der ›Idee Gott‹ einerseits und der alles gründenden und bestimmenden Wirklichkeit andererseits. Wenn unser Bewusstsein alles ist, dann ist Gott eine Fiktion bzw. ein Gedanke des Bewusstseins, nichts anderes. Wenn es aber die alles Endliche begründende und bestimmende Wirklichkeit gibt, die von den drei monotheistischen Religionen als »der Schöpfer« bezeichnet wird, gibt es 193 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Karl-Heinz Menke
ein ›Außerhalb‹ unseres Bewusstseins. Wer an Gott glaubt, weiß um die eigene Endlichkeit und also darum, dass das eigene Bewusstsein nicht der Grund seiner selbst und des Ganzen ist. Unser ›Ich‹ kann die Erkenn- und Verstehbarkeit des ›Nicht-Ich‹ nicht selbst verbürgen. Nur wenn es eine Instanz gibt, die die Unterschiedenheit von ›Ich‹ und ›Nicht-Ich‹ und die Erkennbarkeit des ›Nicht-Ich‹ durch das ›Ich‹ verbürgt, ist das eigene Bewusstsein nicht das Ganze. Genau dies wollte Robert Spaemann mit seiner oft als Gottesbeweis missverstandenen These von der »Unverzichtbarkeit der Existenz Gottes für das Selbstverständnis von Personen« (Spaemann 2007, 49) ausdrücken. Nur wenn beispielsweise die Tatsache, dass gestern in Köln ein Kind von den eigenen Eltern zu Tode gequält worden ist, auch dann noch wahr ist, wenn darum keine endliche Person mehr weiß, ist die Wahrheit dieser Tatsache mehr als eine Funktion des menschlichen Bewusstseins. Spaemann folgert: »Denn ein Gewesensein behaupten, das von allem Bewußtsein endlicher Personen unabhängig ist, kann nur heißen, die Existenz Gottes behaupten. Wenn wir auf die Annahme eines definitiven Aufgehobenseins aller Ereignisse der Welt in einem göttlichen Innen verzichten, müssen wir die Wirklichkeit entwirklichen. Wir müßten dann den absurden Gedanken akzeptieren, daß das, was jetzt ist, einmal nicht mehr gewesen sein wird. Das aber heißt, daß es überhaupt nicht wirklich ist – ein Gedanke, den nur der Buddhismus tatsächlich zu denken versucht« (Spaemann 2007, 51 f.).
Kaum bekannt ist, dass Max Horkheimer Spaemanns Argument aus dem »futurum exactum« (Spaemann 2007, 35) in seinen zwischen 1950 und 1969 entstandenen Notizen so formuliert hat: »Die Schreckenstat, die ich verübe, das Leiden, das ich bestehen lasse, leben nach dem Augenblick, in dem sie geschehen, nur noch im erinnernden menschlichen Bewußtsein fort und erlöschen mit ihm. Es hat gar keinen Sinn zu sagen, daß sie dann noch wahr seien. Sie sind nicht mehr, sie sind nicht mehr wahr: beides ist dasselbe. Es sei denn, daß sie bewahrt blieben – in Gott« (Horkheimer 1974, 11).
Vermutlich hat Spaemann sein Argument unabhängig von Horkheimer entwickelt. Die Gemeinsamkeit der vorgetragenen Zitate erklärt sich durch die beide Denker verbindende Nietzsche-Lektüre. Denn es war Friedrich Nietzsche, der die Konsequenzen des Natura194 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Theonome und autonome Relativität
lismus ohne Wenn und Aber ausgesprochen hat. »Was mich« – so bekennt Nietzsche – »am gründlichsten von den Metaphysikern abtrennt, das ist: ich gebe ihnen nicht zu, dass das ›Ich‹ es ist, was denkt: vielmehr nehme ich das Ich selber als eine Construktion des Denkens, von gleichem Range, wie ›Stoff‹, ›Ding‹, ›Substanz‹, ›Individuum‹, ›Zweck‹, ›Zahl‹ : also nur als regulative Fiktion, mit deren Hülfe eine Art Beständigkeit, folglich ›Erkennbarkeit‹ in eine Welt des Werdens hineingelegt, hineingedichtet wird« (Nietzsche 1988, 526).
Nietzsche hat nie bestritten, dass die ontologische Unterscheidung zwischen Geist (Denken und Freiheit) und Materie – eingeordnet in das Ganze des Wirklichen – nur theologisch verbürgt werden kann. Für ihn stand fest: Nur wenn es Gott gibt und nur wenn Gott ein Geschöpf wollte, das nicht nur eine vorübergehende Gestalt von Sternenstaub, sondern Person ist, ist der Mensch wahrheitsfähig, das heißt fähig, alles, was nicht er selbst ist, von sich zu unterscheiden und fortschreitend tiefer als das zu erkennen, was es unabhängig von seinem Erkennen ist. Mit diesem Hinweis ignoriere ich keineswegs, dass die sprachlich gebundenen Begriffe und Theorien, mit deren Hilfe Menschen seit Jahrtausenden die ihnen begegnende Wirklichkeit deuten, geschichtlich bedingte Konventionen und Konstruktionen sind. Man kann die Genese aller Theoreme – auch der zu Dogmen erklärten – re- oder dekonstruieren. Eine solche Relativierung ist nicht nur nützlich, sondern notwendig, um die Relativität des Denkens in Bezug auf die im Logos des Schöpfers gründende Wahrheit alles Seienden zu wahren. Aber es ist doch grundlegend zweierlei, ob ich die Geistes- und Religionsgeschichte lediglich als eine faktische Abfolge von Ideen, Sprachspielen oder Paradigmen betrachte, oder ob ich davon ausgehe, dass die Klärung von Begriffen und der argumentierende Diskurs Wahrheit von Irrtum zu trennen vermögen. Zumindest Naturwissenschaftler setzen voraus, dass ihre Forschungen ständig voranschreiten – ungeachtet der sehr unterschiedlichen Interessen und Kontexte, die ihre Arbeit bedingen. Wer an einen einzigen Grund aller Wirklichkeit glaubt und daran, dass der Mensch aufgrund seiner Begabung mit Vernunft und Freiheit die im Logos des Schöpfers gründende Wahrheit des Seins fortschreitend tiefer, wenn auch nie erschöpfend erkennen kann, wird 195 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Karl-Heinz Menke
zum Beispiel interkonfessionelle und interreligiöse Dialoge nicht als bloße Gespräche unterschiedlicher Konstrukte unterschiedlicher Traditionen begreifen, sondern alle Sinndeutungssysteme denselben Rationalitätskriterien unterwerfen. Unter der christlichen Voraussetzung, dass alles Wirkliche Ansprache des Schöpfers an den mit Vernunft begabten Menschen ist, darf man von der Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft ausgehen. Anders gesagt: Unter der Prämisse, dass es einen vom Logos des Schöpfers begründeten Zusammenhang alles Seienden und eine auf diesen Logos ausgerichtete Vernunft aller Menschen gibt, gibt es eine kriteriell (zum Beispiel an dem Kriterium größerer oder geringerer Kohärenz) überprüfbare Vergleichbarkeit der begrifflichen Anstrengungen des interpretierenden Menschen. Diese Vergleichbarkeit nenne ich die »theonome Relativität« aller Deutungssysteme. Joseph Ratzinger bemerkt in seinen religionsvergleichenden Studien: »Weil […] das Christentum sich als Sieg der Entmythologisierung, als Sieg der Erkenntnis und mit ihr der Wahrheit verstand, deswegen mußte es sich als universal ansehen und zu allen Völkern gebracht werden: nicht als eine spezifische Religion, die andere verdrängt, nicht aus einer Art von religiösem Imperialismus heraus, sondern als Wahrheit, die den Schein überflüssig macht. Und eben deshalb muß es in der weiträumigen Toleranz der Polytheismen als unverträglich […] erscheinen: Es hielt sich nicht an die Relativität und Austauschbarkeit der Bilder, es störte damit vor allem den politischen Nutzen der Religionen und gefährdete so die Grundlagen des Staates, indem es nicht Religion unter Religionen, sondern Sieg der Einsicht […] sein wollte« (Ratzinger 2003, 137).
Wer den Logos von Schöpfung und Geschichte mit Christus identifiziert, kann nicht ernstlich behaupten, im Glauben der Christus durch Taufe und Eucharistie eingestalteten Kirche liege keine andere Ermächtigung als die menschlichen Meinens. Wenn die Interpretationsgemeinschaft ›Kirche‹ verbindlich ausdrückt, was der alles Seiende zugleich verbindende und unterscheidende Logos ist, dann in der Regel nach einem langen Prozess des Austausches von Pro- und Kontra-Argumenten. Und der Abschluss eines Interpretationsprozesses nach hinten schließt ein tieferes Verstehen und eine bessere sprachliche Fassung für die Zukunft nicht aus. Im Gegenteil, ein Dogma kann die Wahrheit nur vermitteln durch Übersetzung in die Gegenwart. Aber richtig ist auch: Ein Dogma ist mehr als ein sozial196 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Theonome und autonome Relativität
und kulturhistorisch bedingtes Theorem des religiösen Bewusstseins; es ist verbindliche Antwort einer Glaubensgemeinschaft an den geschichtlich vermittelten Logos Gottes. Wie das Beispiel der christlichen Dogmengeschichte zeigt, ermöglicht theonome Relativität einen hohen Grad an diachroner und synchroner Verbindlichkeit – allerdings nur innerhalb der entsprechenden Glaubens- und Bekenntnisgemeinschaft. Eine weltanschaulich neutrale Gesellschaft kann einen Glauben schützen, aber dessen Wahrheit nicht voraussetzen. Auch wenn viele Verfassungspräambeln Gott nennen oder gar anrufen, impliziert eine nominatio vel invocatio Dei kein Glaubensbekenntnis. Theonome Relativität im eben skizzierten Sinn ist einer pluralistischen Gesellschaft verwehrt. Sie kann sich nicht auf die Offenbarkeit Gottes beziehen. Sie spricht zwar jedem Menschen unbedingte Würde zu, aber stützt sich dabei auf Konzepte autonomer Relativität. Zwei dieser Konzepte sollen im Folgenden besprochen werden. Beide beschreiben sich als dezidiert antirelativistisch, ohne Gott zu nennen oder gar anzurufen.
2.
Zwei Konzepte autonomer Relativität
Die erste Variante autonomer Relativität verbinde ich mit der Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas; die zweite mit der »kopernikanischen Wendung« (Striet 2018, 144), zu der Magnus Striet Theologie und Kirche auffordert.
2.1. Autonome Relativität auf der Basis ›pragmatischer‹ Autonomie Um ein mögliches Missverständnis von vornherein auszuschließen, folgender Hinweis vorweg: Ich halte die auf einem alle Sprachspiele überwölbenden Rationalitätskonzept basierende Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas in einer weltanschaulich neutralen Gesellschaft für ein außerordentlich nützliches Instrument. Aber mit dieser Bemerkung verbinde ich den Hinweis auf die Tatsache, dass der sich als Agnostiker bezeichnende Habermas seine Kommunikationstheorie allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz auf eine genuin metaphysische Prämisse gründet. Er erklärt die Freiheit, die Per197 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Karl-Heinz Menke
sonen sich zuschreiben, als real, ohne gleichzeitig die durchgängig naturalistische Erklärung des Menschen zum Beispiel durch die Evolutionstheorie zu widerlegen. Jürgen Habermas setzt sich ausführlich auseinander zum Beispiel mit den deterministischen Konklusionen der von Benjamin Libet betriebenen Gehirnforschung (vgl. Habermas 2005b, 155–186) oder mit dem Versuch Theodor W. Adornos, Vernunft und Freiheit als ›das Andere‹ gegenüber der Natur aus der Natur selbst abzuleiten (vgl. Habermas 2005c, 187–215). Aber er kommt dann doch zu dem Fazit: »Rätselhaft bleibt […] die ›mentale Verursachung‹ von neurologisch erklärbaren Körperbewegungen durch verstehbare Intentionen. Wenn wir diese Art der Programmierung an Naturkausalität angleichen, geht etwas Wesentliches verloren, nämlich der Bezug auf Gültigkeitsbedingungen, ohne den propositionale Gehalte und Einstellungen unverständlich bleiben« (Habermas 2005b, 179).
Im Unterschied zu vielen anderen Verteidigern der Realität von Subjektivität, Personalität und Freiheit rettet Habermas sich nicht in das Retorsionsargument, das da lautet, der Naturalismus könne ja die Instanz nicht bezeichnen, die eine restlos naturalistische Erklärung alles Seienden verbürgt. Habermas weiß nur zu gut, dass ein Bewusstsein, das alles ist, mitsamt der Annahme seiner Sonderstellung und retorsiven Selbstbestätigung gleichsam ein bloßes Spiel der Natur mit sich selbst sein könnte. Deshalb spricht er ehrlicherweise von einer ›Entscheidung‹. »Die Menschheit«, so bemerkt er wörtlich, »muss sich entscheiden. Wollen wir das eigene kulturelle Leben Nietzscheanisch als ›Experiment ungezügelter Lebenskräfte‹ verstehen und die Verantwortung für die Folgen unseres Handelns, sei es als Libertäre an anonyme Marktkräfte abtreten oder, als Naturalisten, ganz verabschieden? Oder sollen wir die Entwicklung und die Nutzung neuer, durch Gentechnik, Neurologie und künstliche Intelligenz möglicherweise erweiterten Optionsspielräume wie bisher unter moralischen Gesichtspunkten politischen und rechtlichen Regelungen unterwerfen?« (Habermas 2007, 402).
Habermas plädiert mit Nachdruck für die letztgenannte Alternative, gibt aber unumwunden zu, dass »[d]ie reflexive Entscheidung, ob wir uns überhaupt noch als verantwortlich handelnde Personen verstehen ›wollen‹« (Habermas 2007, 402 f.), ihn als Agnostiker oder Kan198 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Theonome und autonome Relativität
tianer mehr bedrängt als einen religiösen Mitbürger. 1 Habermas stellt im Blick auf die Gesellschaften des Westens fest: »Im Kreis der Gattungsethiken treten inzwischen naturalistische Selbstbeschreibungen auf, die mit einem normativen Selbstverständnis verantwortlich handelnder Personen nicht mehr vereinbar sind. Mit einem Sieg des szientistischen Naturalismus würde die Selbstverständlichkeit, ›dass egalitäre Freiheit sein soll‹, erschüttert und damit ›die letzte Bastion der im jüdisch-christlichen Glauben wurzelnden abendländischen Geistesgeschichte geschleift‹« (Habermas 2007, 403).
Habermas kann die naturalistische These nicht widerlegen, dass die Innenperspektive eines Menschen, der sich Freiheit zuschreibt, eine bloße Fiktion des Gehirns sei. Die Sonderstellung des Menschen in der Natur ist auch für ihn nur durch Rekurs auf die jüdisch-christliche Anthropologie zu retten. Wenn deren Axiome in die allgemein akzeptable Sprache der weltanschaulich neutralen Gesellschaft übersetzt werden, kann man – so meint er – den Sinn des Unbedingten retten, ohne an Gott zu glauben. Habermas wörtlich: »Dass der Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen schafft, die ihm gleichen, muss man nicht glauben« (Habermas 2003, 261), um den von seiner mythischen Verkleidung befreiten Gehalt dieses Glaubens in das Selbstverständnis einer säkular gewordenen Gesellschaft einspeisen zu können. Demnach bedeutet das theologische Axiom von der Gottebenbildlichkeit, dass der Mensch, mit wirklicher Freiheit begabt, die Freiheit jedes anderen Menschen anerkennen soll und anerkennen kann. Denn, so Habermas: »Liebe kann es ohne Erkenntnis in einem anderen, Freiheit ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben« (Habermas 2003, 261).
Habermas bemerkt innerhalb seines Vergleiches zwischen gläubigen und skeptischen Zeitgenossen: »Daraus resultiert die Beunruhigung, dass wir ausgerechnet in Ansehung der existentiellen Frage, wie wir uns als Gattungswesen verstehen sollen, vernünftigerweise mit einem fortbestehenden Dissens rechnen müssen. Aus theologischer Sicht mag diese Beunruhigung zunächst nicht bestehen, weil die religiöse Gewissheit auch im Diskurs mit anderen ›umfassenden Doktrinen‹ einen Wahrheitsanspruch für die jeweils eigene Lehre reklamiert. Aber auch für den religiösen Bürger stellt sich die Beunruhigung spätestens dann ein, wenn er sich an den Verzicht auf die politische Durchsetzung religiöser Wahrheitsansprüche erinnert, den alle Religionsgemeinschaften im Verfassungsstaat als Preis für die rechtlich gesicherte religiöse Toleranz entrichten« (Habermas 2007, 403).
1
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Aber mit der fragwürdigen Annahme, der semantische Gehalt theologischer Axiome lasse sich ohne Eliminierung des ursprünglich Gemeinten in eine allgemein plausible Sprache transferieren, wird die Frage nicht beantwortet, welche Instanz die Realität der Unterscheidung und Kongruenz von Innen- und Außenperspektive, von Ich und Nicht-Ich, von Bewusstsein und Sein, von Freiheit und Notwendigkeit verbürgt. Max Horkheimer hat über die ›Kritische Theorie‹ der von ihm begründeten Frankfurter Schule gesagt: »[S]ie weiß, daß es keinen Gott gibt, und doch glaubt sie an ihn« (Horkheimer 1988, 508). Horkheimer hält wie Habermas an einer antinaturalistischen Anthropologie fest, bezeichnet dieses Festhalten aber im Unterschied zu diesem als nur durch den Glauben an Gott hinreichend begründbar. Sein vielzitiertes Diktum: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel« (Horkheimer 1985, 184) wurde von Habermas als Herausforderung verstanden und ausführlich kommentiert (vgl. Habermas 1991, 110–126). Um die Autonomie einer weltanschaulich neutralen Gesellschaft wahren zu können, beantwortet Habermas die Frage, warum der Mensch überhaupt moralisch handeln soll, mit Immanuel Kants These von der Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft. Horkheimers Einwand, Kants kategorischer Imperativ sei so inhaltsleer (vgl. Horkheimer 1987, 102–118), dass man mit ihm sogar Vergeltungsmorde begründen könne, wird von Habermas mit der Überlegenheit der Diskursethik über die Individualethik Kants beantwortet. Wenn autonome Freiheit ihren Inhalt nicht einfach selbst bestimmt, sondern in einem auf faire Argumentation gestützten Diskurs einvernehmlich zu konkreten Lösungen gelangt, dann – so meint er – ist die Gefahr gebannt, dass die praktische zur instrumentellen Vernunft verkommt. Dabei verkennt er keineswegs, dass die reale Welt die Befolgung moralischer Normen zumindest dann nicht belohnt, wenn deren Befolgung den Interessen des Handelnden zuwiderläuft. Wer den kommunikativ überprüften Imperativen seiner praktischen Vernunft gegen die eigenen Interessen und Vorteile treu bleibt, wird, so räumt er ein, nur durch den Glauben an den Gott getröstet, der den Opfern der Geschichte Gerechtigkeit über den physischen Tod hinaus verspricht (vgl. Habermas 2008, 26–36). Habermas weiß, dass seine Diskursethik nicht trösten kann. Aber theonome Autonomie bzw. theonome Relativität ist für ihn der unmögliche Ver-
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such, in das metaphysische Denken vor Kant zurückzukehren. 2 Das hat er in seiner lesenswerten Entgegnung auf die selbstbewusstseinstheoretische Metaphysik Dieter Henrichs unmissverständlich zum Ausdruck gebracht (vgl. Habermas 1992, 18–34). Also verzichtet er lieber auf eine hinreichende Begründung seiner besagten ›Entscheidung‹ und empfiehlt der säkular gewordenen Gesellschaft die Pragmatik einer autonomen Relativität von Handlungsmaximen und Regeln. Aber: So hilfreich dieser Pragmatismus in einer weithin glaubenslos gewordenen Gesellschaft sein mag, so gefährdet ist er durch die naturalistische Abschaffung des Menschen. Die Frage, was denn die These von der Nichtidentität des Bewusstseins mit dem Sein verbürgt, wird von ihm nicht beantwortet. 3 An eben diesem Punkt empfiehlt sich Magnus Striet mit seinem Aufweis ›selbstursprünglicher‹ Autonomie als die besser begründete Alternative.
Es besteht, so bemerkt Thomas Schärtl-Trendel, wenig Anlass zur Dogmatisierung der Kant-Interpretation von Jürgen Habermas: »Hätten wir nur Kants Auskünfte zum Gottesbegriff aus der Kritik der reinen Vernunft, gemäß der wir Gott als eine oberste Idee der Vernunft, als ein (alle Ideale noch einmal synthetisierendes) transzendentales Ideal zu verstehen hätten, bliebe ein nicht ganz auszuräumender Fiktionsverdacht bestehen. Aber in der Kritik der praktischen Vernunft ebenso wie in der Religionsschrift finden wir ein um personale Attribute angereichertes, im Umweg über das Ethische auch mit einem Wirklichkeitssinn aufgeladenes Gottesverständnis, so dass der Antirealismus-Fiktionalismus-Vorwurf an die Adresse Kants pauschal sicher nicht berechtigt ist. Umgekehrt darf man sich aber auch darüber wundern, warum ausgerechnet Kant (und nicht etwa Wittgenstein, Quine oder Strawson und andere) heute noch das Eintrittsbillet in den Salon intellektuell angesehener Theologie bilden soll. Und reicht die Beschwörung Kants schon aus, um zu begründen, dass man keinerlei Metaphysik mehr betreiben dürfe?« (Schärtl-Trendel 2018, 337 f.). 3 Von Henrich auf dieses Defizit angesprochen, antwortet Habermas: »Henrich meint, dass sich diejenigen, die das cartesische Sprachspiel des exklusiven Gegensatzes von Geist und Körper unterlaufen, dem Problemdruck des Naturalismus entzögen. Das will mir nicht ganz einleuchten. Erstens wäre ja zu prüfen, ob die, die aus dem cartesischen Sprachspiel aussteigen, nicht gute Gründe haben, ›dritten‹ Kategorien wie ›Sprache‹, ›Handlung‹ oder ›Leib‹ zu philosophischem Rang zu verhelfen. Diese Versuche, das transzendentale Bewusstsein in Sprache, Handlung oder Leib ›verkörpert‹ zu denken und die Vernunft in Gesellschaft und Geschichte zu ›situieren‹, haben ein nicht ganz unbeträchtliches Argumentationspotential hinter sich« (Habermas 2008, 27 f.). 2
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2.2. Autonome Relativität auf der Basis ›selbstursprünglicher‹ Autonomie Auf Gott will der Theologe Striet ebenso wenig rekurrieren wie der Agnostiker Habermas – und dies nicht nur aus Gründen der Konsensfindung in einer weltanschaulich neutralen Gesellschaft, sondern weil die Freiheit des Menschen mit sich selbst anfängt und deshalb im wahrsten Sinne dieses Wortes ›un-bedingt‹ ist. Man könnte aufgrund der Semantik des Begriffes ›unbedingt‹ annehmen, hier werde Gott durch die Freiheit des Menschen ersetzt. 4 Jedenfalls liegt die Quintessenz von Striets Variante autonomer Relativität gegenüber der von Habermas vertretenen darin, dass sie die Freiheit des Menschen nicht nur als Tatsache beschreibt, sondern als die einzige Wirklichkeit innerhalb von Raum und Zeit, die sich selbst als das Unbedingte gegenüber allem Bedingten setzt. 5 Wo Habermas bescheiden von dem Phänomen der Unterschiedenheit des Personalen gegenüber allem Impersonalen spricht, beschreibt Striet die »Selbst-ursprünglichkeit« einer unbedingten Wirklichkeit, die nicht identisch ist mit Gott. 6
Jedenfalls bezeichnet Striet die Freiheit immer wieder als »das Höchste«. Er will erweisen, »dass Freiheit dem Menschen das Höchste ist und sie anzuerkennen auch Gott das Höchste ist« (Striet 2018, 10). 5 Wenn es innerhalb der Welt des Bedingten ›selbst-ursprünglich‹ Unbedingtes gibt, dann müsste es doch grundsätzlich möglich sein, dass ein Mensch den Zeitpunkt eruieren kann, an dem er zum Ursprung seiner Unbedingtheit wurde. Doch diese Konsequenz will Striet nicht zulassen. Denn in seiner Replik auf meine Frage »Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr?« bemerkt er: »Der zwischen Menke und mir heikle Punkt besteht in der Frage, ob die menschliche Freiheit als selbstursprünglich gedacht werden muss. Ich sehe auch weiterhin nicht, wie die zwar vielfach bedingte, sich selbst nie vollständig durchsichtig werden könnende Freiheit gedacht werden können soll, wenn man transzendentallogisch nicht ein Moment von Selbstursprünglichkeit, d. h. einen ursprünglichen Entschluss der Freiheit zu sich selbst unterstellt, der sich freilich im Dunkel der Biographie verloren hat […]« (Striet 2018, 59 f.). 6 »Wie Gott es vermag, eine Welt zu erschaffen, in der es eine nicht kausal bewirkte menschliche Freiheit gibt, das ›Wunder‹ einer zwar radikal endlichen, aber selbstursprünglichen Freiheit, muss sich zwar menschlichem Begreifen entziehen. Denn menschliches Begreifen kann nur kausal erklären, und deshalb kann es, weil Freiheit dann ist, wenn sie selbstursprünglich ist, Gottes Schöpfungswirken und die Faktizität der menschlichen Freiheit nicht mehr zusammendenken. Aber dies ist insofern kein Dilemma, als das Faktum der menschlichen Freiheit sich über ihren Selbstvollzug erschließt, also unmittelbar gewiss ist […]« (Striet 2010, 116 f.). 4
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Wenn es Gott gibt, ist er – so erklärt Striet mit Berufung auf die durch Johann Gottlieb Fichtes Subjektphilosophie ermöglichten Freiheitsanalysen von Hermann Krings und Thomas Pröpper – formal und material unbedingte Freiheit; wohingegen die Freiheit des Menschen bestimmt ist durch die Antinomie von formaler Unbedingtheit und materialer Bedingtheit. Was aber, so muss man an dieser Stelle fragen, ist das eigentlich: die ›formale Unbedingtheit‹ menschlicher Freiheit? Ist damit gemeint, dass es neben und über der Naturkausalität des material Bedingten eine Kausalität aus Freiheit gibt, die durch nichts außer durch sich selbst bedingt ist? Wäre ein sich von meiner Natur, Lebensgeschichte und charakterlichen Verfassung distanzierender Wille überhaupt noch mein persönlicher Wille? Oder wie stellt sich Striet den Zusammenhang zwischen ›Kausalität der Natur‹ (materialer Bedingtheit) und ›Kausalität aus Freiheit‹ (formal unbedingter Freiheit) vor? Thomas Schärtl-Trendel kommentiert Striets dualistische Verhältnisbestimmung von Freiheit und Natur mit einer Empfehlung der Anselm-Analysen von Katherin A. Rogers (vgl. Rogers 2015, 93–126). Er schreibt: »Mein Charakter, darin ›meine‹ Überzeugungen, Motive, Wünsche, meine Präferenzen, Leidenschaften und Intentionen bilden […] eine Struktur, innerhalb derer eine konkrete Entscheidung als konkrete erst getroffen werden kann; mein Charakter ›bedingt‹ meine Freiheit also in einer Weise, die man nicht mehr unter die Überschrift der ›materialen Bedingtheit formal unbedingter Freiheit‹ setzen kann, wenn man einräumt, dass der Charakter eine ›formalursächliche‹ Rolle spielt« (Schärtl-Trendel 2018, 336).
Wenn man, so Schärtl-Trendel weiter, »davon ausgeht, dass die Willensentscheidung und der Willensentschluss kein eigenes Ereignis mit eigenen kausalen Kräften ist, sondern eine Art Vermögen, das einer Substanz (nämlich dem Akteur) attribuiert wird, kann dieser Entschluss als solcher gar nicht im Einflussbereich irgendeiner externen Kausalität liegen« (Schärtl-Trendel 2018, 337).
Autonomie lässt sich widerspruchsfrei auch ohne die abenteuerliche Voraussetzung denken, es gebe innerhalb des Bedingten ein selbstursprüngliches Unbedingtes. Anselm von Canterbury hat Autonomie mit der direkten Proportionalität zwischen Einheit und Unterschie203 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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denheit von Urbild (gemeint ist der göttliche Logos bzw. die Wahrheit des Seins) und Abbild (die Freiheit des Menschen) erklärt. 7 Denn ein Abbild ist in demselben Maße es selbst – Abbild im Unterschied vom Urbild –, in dem es das Urbild abbildet und also mit diesem übereinstimmt. Der Wille Jesu – so erklärt das Dritte Konzil von Konstantinopel (Drittes Konzil von Konstantinopel 680/681 [DH 556]) – ist vollkommen autonom, indem er sich vollkommen an den Willen des Vaters (an dessen Logos) bindet. 8 Entsprechend ist jede menschliche Freiheit (Abbild) in dem Maße ›sie selbst‹, in dem sie sich an den Logos Gottes als ihren Ursprung und Sinn (Urbild) bindet. Demgegenüber erklärt Striet: Freiheit ist selbstursprünglich oder gar nicht. Die biblisch bezeugte Liebe wäre aus seiner Sicht nicht vollkommene und also trinitarische Liebe, wenn sie dem Menschen eine theonome statt autonome (unbedingte) Autonomie ermöglichen würde. Anders gesagt: Die vollkommene Liebe Gottes muss die vollkommene Freiheit des Menschen wollen; und das ist nicht die theonome, sondern die unbedingte Autonomie. Es geht um eine Freiheit, die ohne Rekurs auf den Willen oder den Logos des Schöpfers ihren Inhalt selbst bestimmt. Striet gibt wiederholt zu, denkerisch nicht einholen zu können, wie die Freiheit des Menschen einerseits vom Schöpfer ermöglicht und doch im wahrsten Sinne dieses Wortes ›selbst-ursprünglich‹ ist. 9 Aber er ist sich sicher: Wenn Gott die biDie Trinitätslehre eröffnet Anselm »die Möglichkeit, ein in seinem Eigenstand anerkanntes geschaffenes Sein im Horizont des unbedingt absoluten Seins Gottes wirklich zu denken, nicht nur zu behaupten: In dem Maße, wie geschaffenes Sein an dem Bildsein des Sohnes teilhat, ist es« (Verweyen 1982, 15 f.). 8 »Die metaphysische Zweiheit eines menschlichen und eines göttlichen Willens wird nicht aufgehoben, aber im personalen Raum, im Raum der Freiheit, vollzieht sich beider Verschmelzung, so daß sie nicht natural, aber personal ein Wille werden. Diese freie Einheit – die von der Liebe geschaffene Weise der Einheit – ist höhere und innerlichere Einheit als eine bloß naturale Einheit. Sie entspricht der höchsten Einheit, die es überhaupt gibt, der trinitarischen« (Ratzinger 1984, 34 f.). 9 »Festzuhalten ist an dieser Stelle […]: Wenn Gott den freien Menschen wollte, dann musste auch die über den Schöpfungsakt hinausgehende bleibende Differenz bereits ursprünglich gewollt sein. Damit gerät Gott in die Position dessen, der die absolute Differenz zwischen ihm und seinem Geschöpf setzt und verbürgt. Nicht mehr einsichtig zu machen ist, wie ein durch Freiheit sich auszeichnendes göttliches Wesen andere Freiheit zu sich selbst zu ermöglichen vermag. Denn soll Selbstbestimmung des Geschöpfs möglich sein, dann muss diese ihren Grund in der Unbedingtheit und damit der Selbstursprünglichkeit seiner Freiheit haben. Andernfalls müsste wiederum von kausaler Determination und damit nur von vermeintlicher Freiheit gesprochen werden« (Striet 2007, 269). 7
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blisch bezeugte Liebe ist, dann will er die unbedingte Freiheit seines Bundespartners. Jürgen Habermas hat sich anlässlich des 2007 in Wien veranstalteten Symposions zum Thema »Glauben und Wissen« zu Striets Konzept einer unbedingten Autonomie geäußert. Dieser Replik haftet eine gewisse Verwunderung an. Denn Habermas hatte von einem Theologen offensichtlich nicht erwartet, dass dieser aus seinem Bekenntnis zum trinitarischen Gott mit logischer Notwendigkeit folgert, die Freiheit des Menschen könne gar nicht anders als im Sinne einer eigenen, selbstursprünglichen und inhaltlich selbstbestimmten Autonomie gedacht werden. Habermas erkennt auf Anhieb die Anschlussfähigkeit dieses Konzepts an sein eigenes Argumentieren »etsi deus non daretur«. 10 Allerdings schwingt bei ihm auch die Frage mit, warum Striet überhaupt noch wichtig ist, dass der biblisch bezeugte Gott die unbedingte Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen will. Es genüge doch, dass sich alle Menschen wechselseitig selbstbestimmte Freiheit zuschreiben und ihre Interpretationen und Normen dem kritisch argumentierenden Diskurs kompetenter Gesprächsteilnehmer unterwerfen. Striet verbindet seine Freiheitsanalyse mit dem von Fichte erbrachten und von Krings entfalteten Aufweis, dass ein Mensch, der die Anerkennung seiner eigenen Freiheit einfordert, seinerseits aufgefordert ist, die Freiheit jedes anderen Freiheitssubjektes anzuerkennen. Das unbedingte Sollen, das Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft als kategorischen Imperativ autonomer Freiheit erklärt, ist also immer schon intersubjektiv verfasst. Aus Striets Sicht ist die Selbstverpflichtung jedes sich zur eigenen Freiheit entschließenden Menschen auf die Anerkennung der Freiheit jedes anderen Menschen hinreichendes Kriterium zur Unterscheidung begründeter von unbegründeten Geltungsansprüchen. Wenn man von seinem Postulat des Gottes absieht, der die Selbstursprünglichkeit menschlicher Freiheit gewollt hat, entsprechen seine Ausführungen zur intersubjektiven »Striets intersubjektivistischer Ansatz, der die Schöpfung im Lichte der Bundestheologie auf die Absicht Gottes bezieht, sich in einem Alter Ego wieder zu erkennen, kommt meiner Sicht […] entgegen. […] ›Der Freigelassene der Schöpfung soll Gott in eigener Autonomie entsprechen.‹ […] In den Umrissen dieser Freiheitstheologie erkenne ich ein Komplement, das in der begrifflichen Anlage zum nachmetaphysischen Denkens gut passt, denn beide teilen die Prämisse, dass ›die gesellschaftlich-kulturellen Selbstverständigungsprozesse nach dem Prinzip etsi deus non daretur ablaufen müssen‹« (Habermas 2007, 401).
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Verfasstheit der Freiheit exakt dem, was auch Habermas meint, wenn er den Menschen antinaturalistisch beschreibt. Denn wie Habermas, so will auch Striet postkantianisch nicht mehr von Wahrheit oder Wissen, sondern nur noch von Gründen sprechen, die diskursiv zu bewähren sind.
3.
Das Verhältnis von theonomer und autonomer Relativität
Sofern es in staatlich moderierten Diskursen um die pragmatische Sicherung ethischer Mindeststandards in einer pluralen Gesellschaft geht, müssen die beteiligten Theologen sich den allgemein akzeptierten Regeln einer auf Konsens zielenden Kommunikation unterwerfen. Das versteht sich von selbst. Was mich zu meiner Kontroverse mit Striet veranlasst hat, ist nicht sein Plädoyer für eine Theologie, die argumentativ anschlussfähig ist. Was mich zum Widerspruch getrieben hat (vgl. Menke 2017, 9–76), ist die »kopernikanische Wendung«, die er seiner Kirche und deren Theologie verordnet. Die katholische Theologie darf nicht länger voraussetzen, dass ihre Lehrentscheidungen wahr sind, weil es, wie Kant letztgültig bewiesen hat, keine Möglichkeit gibt, die Übereinstimmung von Begriff und Wirklichkeit zu überprüfen. Wahrheitsansprüche sind auch innerhalb der Kirche generell auf Geltungsansprüche zu reduzieren, die sich durch ihre Begründungen bewähren müssen. Mein intellektueller Anspruch nicht nur als Philosoph, sondern auch als katholischer Theologe ist, so erklärt Striet, »theologisch eingeübte Denkweisen in ihrer Genealogie zu überprüfen und, falls diese sich nicht mehr plausibilisieren lassen oder gar normativ fragwürdig geworden sind, begründete Denkalternativen aufzubieten« (Striet 2018, 19).
Striet folgert: »Der Gott Jesu, so wie ich ihn begrifflich rekonstruiert habe, hat […] meines Erachtens keine schlechten Chancen. Jedoch existiert er nur im Reflexionszirkel, ist er ein Bewusstseinsgott, was ich gerne zugebe« (Striet 2018, 41 f.).
Angesichts dieses Zitates kann ich – diese Feststellung ist frei von jeder Polemik – nicht erkennen, worin sich Striets »kopernikanische Wendung« von der unterscheidet, die Perry Schmidt-Leukel (vgl. 206 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Schmidt-Leukel 1999, 154–159) und andere Verteidiger der Pluralistischen Religionstheologie längst vollzogen haben. Mit dem Buchtitel Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr? bin ich davon ausgegangen, dass Striet die Frage nach der Wahrheit seiner Theologie beantworten will. Aber das war offensichtlich ein Irrtum. Es geht ihm gar nicht um die Ableitung von Wahrheit aus ›selbstursprünglicher‹ Freiheit. Denn er bezeichnet nicht nur meine Sprechweise von »der Wahrheit, die frei macht«, als falsch, 11 sondern auch die Gegenthese, dass die Freiheit wahr macht. »Die Freiheit«, so betont er, »macht nicht wahr, sondern es gibt ein Handeln aus Freiheit, das dann, wenn es frei sein will, Gründe für sich aufbringt« (Striet 2018, 9). Kurzum: Der Mensch ist gar nicht wahrheitsfähig. 12 Die von der analytischen Sprachphilosophie vorausgesetzte Isomorphie von Denken und Sein ist für Striet eine durch die Philosophie- und Theologiegeschichte widerlegte Illusion. Offenbarungsnarrative, 13 die letztgültige Wahrheit beanspruchen, sind durch die Religionsgeschichte widerlegt; und wenn sie dennoch aufrechterhalten werden, sind sie – so erklärt Striet – tendenziell gefährlich. Das gilt ausdrücklich auch von der Bezeichnung des Menschen Jesus als Ursakrament des göttlichen Logos und von der Bezeichnung der Kirche als von Christus untrennbarem Grundsakrament. Eine Kirche, die vorgibt, aufgrund ihres Glaubens an die Inkarnation des göttlichen Logos und aufgrund »Die Rede von der Wahrheit, die frei macht, ist jedenfalls schlicht irreführend, weil sie eine Objektivität beziehungsweise ein Wissen um Gott und dessen Willen behauptet, die es so nicht gibt; was es gibt sind Gründe, die bewährt werden müssen […]« (Striet 2018, 148). 12 »Wenn Menke ungeschützt von der Wahrheit spricht, so sollten wir um die Frage streiten, wie verpflichtend das Erbe Kants ist. Kant kennt nur noch eine Vernunft, die konsequent ihre Grenzen mitreflektiert und die deshalb kritisch gegenüber den alten Wahrheitsansprüchen der Metaphysik bleibt. Unumstößlich gewiss bleibt lediglich das Faktum der Freiheit vergewissert über die für Kant schlechthin evidente Erfahrung unbedingten Sollens. Aber als diese Freiheit, zu der es gehört, sich begrifflich und mit Gründen verständigen zu können, ist sie irrtumsanfällig« (Striet 2018, 30 f.). – »Wenn Menke gegen mich gerichtet schreibt, ›erstaunlicherweise‹ schiene ich ›immer schon zu wissen‹, was das Evangelium als Evangelium ausmache, so kann ich nur antworten: Nein, das tue ich nicht. Ich bilde einen Begriff des Evangeliums, weil es das Evangelium nicht gibt. So, wie alles nur für mich sein kann, indem ich es auf mich zustelle […]« (Striet 2018, 38). 13 »Ich mache aber nochmals darauf aufmerksam, dass es sich bei der Ausdeutung des Lebens und der Person Jesu als Selbstoffenbarung Gottes um ein Narrativ, um eine Interpretation handelt« (Striet 2018, 89). 11
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ihrer Untrennbarkeit (Sakramentalität) von diesem Logos endgültige Urteile fällen zu können, habe noch nicht verstanden, dass Dogmen zeitbedingte Regelungen sind, die solange Geltung beanspruchen können, wie sich ihre Begründungen als plausibel erweisen. 14 Und was für das apostolisch verfasste Lehramt der Kirche gilt, das gilt analog auch für das Gewissen des Einzelnen. Jeder Mensch muss seinem Gewissen gehorchen. Aber gerade deshalb darf man es nicht an einer vorgegebenen Wahrheit messen und gegebenenfalls als objektiv irrig bezeichnen. Aus Striets Sicht kann es nur mehr oder weniger gut begründete, nicht aber irrige Gewissensentscheidungen geben. Denn es gibt ja keine Wahrheit jenseits der Gründe, die das unbedingt autonome Subjekt für sich gelten lässt. 15 Striet schreibt mir die These zu, eine Gesellschaft ohne Gott sei »hochgradig gefährdet, in Gewalt oder doch zumindest im ethischen Niemandsland zu enden« (Striet 2018, 136). Ich habe das zwar nirgendwo so formuliert, meine aber in der Tat: Nur wenn es in unseren säkularisierten Gesellschaften hinreichend viele Menschen gibt, die die unbedingte Würde theologisch fundieren, gibt es genügend Widerstand gegen Kompromisse wie zum Beispiel die ›Abtreibungsregelung‹ der Bundesrepublik Deutschland. Die Freiheit, die sich zu sich selbst und zur Anerkennung jedes anderen Freiheitssubjektes verpflichtet, ist keine Tatsache, sondern eine voraussetzungsreiche Selbstzuschreibung des Menschen. Kants kategorischer Imperativ und kommunikativ erzielte Konsense können die Gesellschaft offensichtlich nicht vor der Versuchung bewahren, unter bestimmten Bedingungen (in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft; im Embryonalzustand; im Koma; zur Gewinnung eines lebensrettenden Medikamentes) die Selektion oder Instrumentalisierung von Menschen für Menschen zu erlauben. Eine von Plausibilitäten oder Kon»Schaut man genauer hin, so ist auch das, was Menke als Identität des Christlichen voraussetzt und was er überzeitlich von der apostolisch verfassten Kirche repräsentiert sieht, das Ergebnis eines geschichtlichen Konstruktionsprozesses. Identität gibt es nicht, sondern sie wird in geschichtlichen Prozessen konstruiert« (Striet 2018, 94). 15 Es gibt deshalb auch kein intrinsece malum – selbst im Blick auf Ehebruch, Abtreibung und Suizid nicht. Es kommt auf die Gründe an. Das legitime Anliegen der Lehre vom intrinsece malum soll aber mit dem Hinweis gerettet werden, dass es für bestimmte Regelübertretungen wie Kindesmissbrauch überhaupt kein Pro-Argument (keinen Grund) gibt (vgl. Goertz 2019, 110). Hier werden offensichtlich die Pro-Argumente der Grünen-Politiker und linksliberalen Pädagogik-Professoren verdrängt, an die der emeritierte Papst Benedikt XVI. in seinem jüngsten Aufsatz zum Missbrauchsskandal der katholischen Kirche erinnert hat (vgl. Benedikt XVI. 2019). 14
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sensen bedingte Menschenwürde ist keine unbedingte. Jeder weltanschaulich neutrale Staat, der Gott in der Präambel seiner Verfassung nennt, weiß, dass die Personwürde des Menschen nicht durch Definitionen oder demokratische Mehrheiten begründet wird (vgl. Habermas 2005a, 106–118; Essen 2004, 47–84). Es gibt Rechtsphilosophen wie Horst Dreier, die für die Streichung des Gottesbezugs plädieren, weil der Staat selbst nicht theologisch argumentieren könne oder solle (vgl. Dreier 2013, 112–117, 126–130, 141–143; Dreier 2018, 171–214). Es gibt aber auch Staatsrechtslehrer wie Josef Isensee, die den besagten Hinweis auf die theologische Begründung der Menschenrechte für einen wichtigen Akt der Selbstrelativierung des Staates halten (vgl. Isensee 2006, 173–218).
Literaturverzeichnis 16 Benedikt XVI. 2019: Ja, es gibt Sünde in der Kirche. Zum Missbrauchsskandal der katholischen Kirche, Kisslegg. Dreier, Horst 2013: Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates, Tübingen. Dreier, Horst 2018: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München. Drittes Konzil von Konstantinopel 680/681: 3. Konzil von Konstantinopel (7. November 680 – 16. September 681). In: DH 550–559. Essen, Georg 2004: Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts. Religion im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und säkularer Zivilgesellschaft, Göttingen. Goertz, Stephan 2019: Sexueller Missbrauch und katholische Sexualmoral. Mutmaßliche Zusammenhänge. In: Magnus Striet/Rita Werden (Hg.): Unheilige Theologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester, Freiburg i. Br., 106–139. Habermas, Jürgen 1991: Zu Max Horkheimers Satz: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel«. In: Jürgen Habermas: Texte und Kontexte, Frankfurt a. M., 110–126. Habermas, Jürgen 1992: Metaphysik nach Kant. In: Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M., 18– 34.
Im Literaturverzeichnis kommt folgende Abkürzung zum Einsatz: DH für das Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen (Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum), hg. von Heinrich Denzinger und Peter Hünermann.
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Christliche Glaubensüberzeugungen im Kontext religiöser Pluralität Zur dogmatisch-theologischen Auseinandersetzung mit dem alethischen Relativismus Michael Seewald
1.
Begriffliche Bestimmungen und thematische Eingrenzungen
Was unter religiöser Pluralität zu verstehen ist, hängt davon ab, unter welchen Aspekten Religion betrachtet wird. Charles Y. Glock unterschied in für die religionssoziologische Diskussion prägender Weise fünf Dimensionen des Religiösen: die ideological dimension, die ritualistic dimension, die experiential dimension, die intellectual dimension und die consequential dimension. 1 Im Zuge der Weiterentwicklung dieses Ansatzes sind die ideologische und die intellektuelle Dimension von Religiosität – das Bekenntnis zu bestimmten Glaubenssätzen und das Wissen über diese Glaubenssätze – zunehmend beseitigt oder mit anderen Dimensionen zusammengefasst worden. So benennt Detlef Pollack nur noch drei Dimensionen des Religiösen: »Die Identifikationsdimension geht von der Frage aus, wer sich überhaupt zu einer religiösen Gruppe oder Organisation zählt und mit einer Religion identifiziert«, die »Dimension der religiösen Praxis umfasst Riten und kultische Vollzüge« und zur »Abbildung der Dimension des religiösen Glaubens und der religiösen Erfahrung kann man nach dem Glauben an Gott und höhere Wesen, an den Einfluss der Sterne oder den von Dämonen auf das menschliche Leben« (Pollack 2017, 19) fragen. Alle drei Dimensionen sind zumindest in den westlichen Gesellschaften durch Pluralität geprägt. Menschen identifizieren sich mit unterschiedlichen religiösen Gruppierungen, gehen Glock modifizierte sein ursprüngliches Modell mehrfach (vgl. Glock 1962). Einen Überblick zu den Entwicklungsstufen und der Rezeption von Glocks Ansatz bietet Stefan Huber (vgl. Huber 2003, 97–100).
1
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Christliche Glaubensüberzeugungen im Kontext religiöser Pluralität
womöglich auch innerhalb derselben Gemeinschaft verschiedenen religiösen Praktiken nach und hegen konträr zueinander sich verhaltende religiöse Überzeugungen, in deren Folge oder als deren Voraussetzung sie Erfahrungen religiös unterschiedlich deuten. Da diese Dimensionen religiöser Pluralität unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet das Objekt unterschiedlicher Disziplinen sein können, gilt es, den Gegenstand und die Perspektive der folgenden Überlegungen genauer zu benennen. (1) Religiöse Pluralität beschreibt, prima facie formuliert, den Sachverhalt, dass es in einem sozialen Gebilde simultan verschiedene Positionierungen zu religiösen Fragen und Praktiken gibt. Diese Positionen lassen sich nach verschiedenen Kriterien klassifizieren, etwa in affirmative, negative oder unentschlossene. Affirmative Positionierungen zu Religion wiederum können verschiedene Dimensionen des Religiösen unterschiedlich ausgestalten. Im Folgenden geht es ausschließlich um die Pluralität innerhalb der Affirmation des Religiösen. Diese Pluralität wird im Sinne der Identifikation von Menschen mit verschiedenen Religionen, nicht im Sinne intrareligiöser, innerkonfessioneller oder gar intrapersonaler Vielfalt betrachtet, die sich in der aktuellen Diskussion ebenfalls unter dem Begriff der religiösen Pluralität subsumiert finden (vgl. Wolf 2012, 35). (2) Die Identifikation mit einer Religion besteht nicht nur im Fürwahrhalten von Propositionen, aber sie besteht auch aus einem solchen Fürwahrhalten. Denn: »Um an Gott zu glauben, muss man eine Vorstellung von ihm besitzen« (Pickel 2019, 114). Diese Vorstellung braucht keine im theologischen Sinne gelehrte Form zu haben, weshalb der ideological dimension nicht notwendigerweise eine ausgeprägte intellectual dimension korrespondiert. Eine Vernachlässigung der ideological dimension bei der Fassung des Religionsbegriffs brächte jedoch Unschärfen mit sich, weil jede Vorstellung, so bescheiden sie sein mag, etwas als wahr in Anspruch nimmt, also einen propositionalen Gehalt besitzt. Diese »kognitiv-propositionale Dimension« darf wiederum, um die Begrifflichkeit Klaus von Stoschs aufzugreifen, nicht gegen die »expressiv-regulative« (Stosch 2003, 106) Funktion religiöser Überzeugungen ausgespielt werden. »Religiöse Überzeugungen sind eben nicht (nur) deskriptive Aussagen über die letzte Wirklichkeit, sondern Ausdruck der Lebenseinstellung und des Glaubens religiöser Menschen«; sie sind »Ausdruck der eigenen Lebenshaltung und Letztorientierung« (Stosch 2003, 109). Religiöse Pluralität beschreibt also den Sachverhalt, dass Menschen, die 213 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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sich mit verschiedenen Religionen identifizieren, divergente, möglicherweise konträr zueinander sich verhaltende Überzeugungen haben, aber auch divergente Lebenseinstellungen und Letztorientierungen mit dieser Identifikation verbinden können. (3) Religiöse Pluralität stellt die christliche Theologie vor drei Herausforderungen: eine epistemologische, eine soteriologische und eine sozialethische. In epistemologischer Hinsicht ist erstens zu klären, wie auf Ebene der theologischen Erkenntnislehre mit dem Faktum religiöser Pluralität umzugehen ist. Religionen zielen jedoch nicht nur auf die Verbreitung wahrer Einsichten, sondern handeln, zumindest aus christlicher Perspektive, auch von jenem ominösen Gut, das als Heil bezeichnet wird. Es gilt daher zweitens zu bedenken, was es aus soteriologischer Sicht bedeutet, dass Menschen sich mit verschiedenen Religionen identifizieren. Da Religion einen oft überschätzten, aber keinen bedeutungslosen Faktor im gedeihlichen Zusammenleben von Menschen darstellt, wäre drittens aus sozialethischer Perspektive zu fragen, wie ein friedliches Zusammenleben trotz divergierender religiöser Überzeugungen gelingt. Die Antworten auf diese dritte Frage erforderten nicht nur eine Analyse christlich-intrinsischer Motive zugunsten der Akzeptanz religiöser Pluralität, sondern auch eine Würdigung jener Größen, wie des säkularen Rechtsstaats oder eines operativ geschlossenen Rechtssystems (vgl. Jansen 2019, 120), die religiösen Organisationen regulierend gegenüberstehen. Dass die intrinsischen Anreize zugunsten der Achtung religiöser Pluralität in anderthalb Jahrtausenden der Christentumsgeschichte immer wieder versagt haben, legt zumindest die Vermutung nahe, dass Religionen mit anderen Religionen oder mit Menschen, die eine negierende Haltung gegenüber dem Religiösen pflegen, nur dann friedlich zu koexistieren vermögen, wenn Religion von etwas begrenzt wird, das selbst nicht Religion ist: von einem säkularen Staat, der eine »Äquidistanz« zu den Wahrheitsansprüchen aller Religionsgemeinschaften wahrt, was jedoch nicht den »Verzicht auf Wertentscheidungen« (Dreier 2018, 105) dieses Staates impliziert, die eine Nähe zu einer oder Distanz zu einer anderen Gemeinschaft aufweisen können. Kurz gesagt: Man kann zum Schutz religiöser Pluralität nicht darauf vertrauen, dass die Religionsgemeinschaften gewillt sind, ihre Überzeugungen so zu gestalten, dass sie religiöse Pluralität aus intrinsisch-religiösen Gründen achten, und man sollte sich auch nicht darauf verlassen, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaften sich motivieren, jenen Gründen entsprechend zu 214 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Christliche Glaubensüberzeugungen im Kontext religiöser Pluralität
handeln. Ohne einen säkularen Staat ist die Sicherung religiöser Pluralität auch theologisch nicht zu denken. Das ist aber eine These, die den Rahmen dieser Überlegungen überschreiten würde. Daher beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die epistemologische und die soteriologische Dimension religiöser Pluralität aus dogmatisch-theologischer Sicht.
2.
Organisationen als Träger religiöser Überzeugungen
Die Diskussion über die Charakteristika religiöser Überzeugungen reicht von der formalen Frage, ob es entgegen der Tendenz, Überzeugungen in den Bereich des rationalen Glaubens einzuordnen, sinnvoll sei, einen »eigenen Überzeugungsbegriff« einzuführen, »der weder mit Glauben noch mit Wissen zusammenfällt« (Schärtl 2007, 269), über Ansätze, die religiöse Überzeugungen als Sprechakte im Sinne John Searles (vgl. Irlenborn 2017, 724) oder als »Verschiebung, Erweiterung und Neugestaltung unserer inferentiellen Ensembles« (Dürnberger 2017, 384) im Sinne Robert B. Brandoms deuten, bis hin zu dem Versuch, religiöse Überzeugungen in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas zu konturieren (vgl. Breul 2019, 140 f.). Ein für die dogmatische Theologie relevantes Problem stand bislang nicht im Vordergrund des Interesses: Wer ist der Träger religiöser Überzeugungen?
2.1. Ich-Subjekte und Korporativpersonen Um etwas glauben oder wissen zu können, von etwas überzeugt zu sein oder einen Sprechakt zu vollziehen, muss Bewusstsein vorausgesetzt werden. Träger religiöser Überzeugungen sind, um einen von Holm Tetens geprägten Ausdruck aus anderen Zusammenhängen aufzugreifen, »Ich-Subjekte« (Tetens 2015, 31), das heißt Subjekte, die sich sowohl auf Gegenstände als auch auf sich selbst erkenntnissuchend ausrichten und sprachlich beziehen können. Diese Subjekte sind sensu proprio die einzigen Träger von Überzeugungen. In einem übertragenen Sinne ist es jedoch möglich, Eigenschaften von Subjekten auch von Organisationen auszusagen. Die Unterschiede zwischen Organisationen und Institutionen sind schwer zu benennen.
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»Institutionen erfassen den ›Menschen‹ im ganzen und orientieren ihn auf bestimmte Letztbegründungen seiner gesellschaftlichen Ordnung, und Organisationen beziehen sich auf ›Mitglieder‹, die nach bestimmten Regeln ein- und austreten können« (Bude 2003, 223).
Die katholische Kirche ist dieser Definition zufolge beides: Sie bietet einen institutionellen Rahmen, der das Leben ihrer Mitglieder zu strukturieren und ihnen Orientierung zu geben vermag; sie ist zugleich ein organisational verfasstes Sozialgebilde mit Mitgliedern, die ihr durch die Taufe eingegliedert werden und sich zumindest rechtlich wieder von ihr distanzieren können. Als Organisation besitzt die katholische Kirche eine differenzierte Hierarchie, die versucht, Handlungen, die im Namen der Kirche geschehen, zu steuern und Überzeugungen, die als der »Glaube der Kirche« (Zweites Vatikanisches Konzil 1964 [Lumen gentium], Nr. 49) vorgelegt werden, zu normieren. Durch diese Hierarchie samt der von ihr beanspruchten Zuständigkeiten lässt sich die katholische Kirche in organisationaler Hinsicht als Korporativperson deuten. Dass korporativen Personen Eigenschaften zugeschrieben werden, die normalerweise nur IchSubjekten zukommen, ist im sozialen, politischen und rechtlichen Bereich ein gängiges Phänomen. Rechtssubjekte zum Beispiel sind nicht nur natürliche Personen im Sinne von Ich-Subjekten, sondern auch sogenannte juristische Personen. Diesen korporativen Personen werden Tätigkeiten, zum Beispiel das Fällen von Entscheidungen (vgl. Schimank 2005, 22), zugeschrieben, die Bewusstsein voraussetzen und streng genommen nur von Ich-Subjekten vollzogen werden können. Eine der Bedingungen solcher Zuschreibungen ist das Vorhandensein einer Ordnungs- und Repräsentationsstruktur, die klärt, wer, wann und in welcher Weise so zu handeln befugt ist, dass sein Handeln als Handeln der Organisation gelten kann. Die Deutung ekklesialer Vorgänge im Sinne von Handlungen, die im strengen Sinne nur von Ich-Subjekten vollzogen werden können, kommt dem dogmatischen Selbstverständnis – auch eine Zuschreibung der genannten Art, weil ein Selbstverständnis sensu proprio nur Ich-Subjekten zu eigen ist –, das die katholische Kirche von sich pflegt, entgegen. Das zeigt sich etwa in der Kirchenkonstitution Lumen gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die zahlreichen figurae und imagines, von denen das Konzil spricht (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil 1964, Nr. 6), lassen sich in drei Kategorien gliedern:
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Christliche Glaubensüberzeugungen im Kontext religiöser Pluralität
(1) Eine erste Kategorie versteht die Kirche in apersonaler Weise. Das ist zum Beispiel der Fall, wo sie als »Schafstall«, als »Pflanzung« oder als »Bauwerk Gottes« gedeutet wird. (2) Demgegenüber gibt es Bilder, die die Kirche personal ausdeuten. Theologisch besonders wirkmächtig ist die Rede vom Leib Christi und von der Braut Christi. Diese beiden Bilder unterscheiden sich in der Bedeutung ihres Genitivattributs. Beim »Leib Christi« handelt es sich um einen genitivus subiectivus. Christus ist das Ich-Subjekt des Leibes, während der Leib selbst, verstanden als die Gesamtheit der sich mit Christus identifizierenden IchSubjekte, in eine passive Stellung rückt, die die Subjekthaftigkeit des Einzelnen, sofern er zum Leib gehört, aufhebt. Anders verhält es sich bei der Rede von der Braut Christi, weil es sich hierbei um einen genitivus possessivus handelt, der nicht die Identität, sondern die Unterschiedenheit von Christus und der Kirche betont. Die Kirche als Braut ist ein von Christus verschiedenes Ich-Subjekt. Sie gehört zu Christus und bestimmt sich in Relation zu ihm, aber sie ist nicht Christus. (3) Als dritte Bildkategorie könnte man eine Kombination aus personalen und apersonalen Motiven ausmachen. Wenn die Kirche im Ersten Petrusbrief als geistiges Haus aus lebendigen Steinen bezeichnet wird (vgl. 1 Petr 2,5), verbindet der Verfasser dieser Schrift apersonale Elemente (Haus, Steine) mit personalen Momenten (geistig, lebendig). Das grammatikalische Subjekt ist unbelebt, ihm werden jedoch Eigenschaften des Lebendigen zugeschrieben. Man könnte diese dritte Bildkategorie als animistisch bezeichnen. Vor allem im Kontext der zweiten Kategorie wird die Kirche als »korporative Persönlichkeit« gedacht, weil »eine bestimmte Sozietät in einer Person repräsentiert ist« (Greshake 2007, 290). Das Ich, das sich bei Ich-Subjekten als handelnd versteht, wird in der katholischen Kirche idealiter durch Christus, realiter aber durch Akteure wahrgenommen, die ihr Handeln durch auf Christus verweisende Repräsentationsstrukturen legitimieren. Besonders das Bild von der Kirche als Leib Christi ist in legitimatorischer Hinsicht ergiebig: Weil Christus als das Subjekt des Leibes zumindest nicht in der Weise über seinen Leib verfügt, wie »in Materie verkörperte Ich-Subjekte« (Tetens 2015, 31) dies tun, braucht er Repräsentanten, die die Kirche an seiner Stelle leiten. Diese Repräsentantenrolle ist im Laufe der dogmati217 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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schen Entwicklung der katholischen Kirche immer mehr dem Papst und den Bischöfen zugewachsen. Der Papst sei, so das Zweite Vatikanische Konzil in der Konstitution Lumen gentium, »Stellvertreter Christi« (Zweites Vatikanisches Konzil 1964, Nr. 18), die Bischöfe »leiten die ihnen zugewiesenen Teilkirchen als Stellvertreter und Gesandte Christi« (Zweites Vatikanisches Konzil 1964, Nr. 27) und in einem weiteren Sinne handeln sogar alle »geweihten Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer und Leiter in der Kirche« (Zweites Vatikanisches Konzil 1964, Nr. 37).
2.2. Glaubensüberzeugungen christlicher Ich-Subjekte und der katholischen Kirche Religiöse Überzeugungen werden in der Selbstbeschreibung der katholischen Kirche als Glaubensüberzeugungen bezeichnet. Religion und Glaube sind keine koextensiven Begriffe. Die Auffassung, dass Glaube nicht nur ein defizienter Modus oder eine Vorstufe des Wissens darstellt, sondern eine eigene Form der Welt- und Selbstdeutung, verdankt sich jüdischen und christlichen Motiven (vgl. Ebeling 1979, 87). Sie kann nicht unbesehen auf alle als Religion klassifizierten Phänomene übertragen werden. Religion und Glaube verhalten sich vielmehr wie genus und species zueinander. Zu glauben ist eine Art der Religionsausübung. Das Verhältnis von religiösen Überzeugungen und der christlich gefärbten Rede von Glaubensüberzeugungen gestaltet sich analog: Glaubensüberzeugungen im christlichen Sinne sind eine spezifische Form religiöser Überzeugungen. Logisch müssen alle Eigenschaften, die von einem genus ausgesagt werden, auch auf alle zum genus gehörenden species zutreffen, aber nicht umgekehrt. Was über religiöse Überzeugungen gesagt wird, muss also auch für christliche Glaubensüberzeugungen gelten. Jene Glaubensüberzeugungen, die vom Papst und den Bischöfen aufgrund ihres Anspruchs vorgelegt werden, Stellvertreter Christi und damit »Träger der höchsten und vollen Gewalt über die ganze Kirche« (Zweites Vatikanisches Konzil 1964 [Lumen gentium], Nr. 22) zu sein, weisen in materialer und in formaler Hinsicht bedeutende Unterschiede zu den Glaubensüberzeugungen auf, wie sie von christlichen Ich-Subjekten gehegt werden. Dass sich als christlich identifizierende IchSubjekte Überzeugungen vertreten, die von der organisational vorgetragenen Glaubenslehre abweichen, ist kein typisch modernes Phä218 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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nomen, sondern vermutlich eine durchgängige Erscheinung der Christentumsgeschichte. Spezifisch modern sind jedoch die Bedingungen, unter denen diese Divergenz sich gegenwärtig abspielt. Charles Taylor vertritt die Position, dass die Moderne die Möglichkeit eines neuen Selbstverständnisses des Menschen hervorgebracht habe, das er als »abgepuffertes Selbst« bezeichnet. »Das abgepufferte Selbst ist im wesentlichen das Selbst, das sich der Möglichkeit der Distanzierung, des Desengagements bewußt ist« (Taylor 2012, 79) – eine Möglichkeit, die sich auch gegenüber ekklesial vorgetragenen Glaubenslehren realisiert. Selbst sich als gläubig ansehende Christen stehen der Kirche nicht selten distanziert und womöglich auch desengagiert gegenüber. Vor allem die skizzierte Repräsentationslogik mit ihrem legitimatorisch instrumentalisierbaren Charakter zugunsten des Amtes wird kritisch gesehen. Aber auch in formaler Hinsicht gibt es bedeutende Differenzen zwischen organisational vorgetragenen und individuell vorhandenen Glaubensüberzeugungen. Diese Unterschiede seien exemplarisch mit Blick auf vier Aspekte – die Normativitätsansprüche, die Kohärenzanforderungen, den behaupteten Gewissheitsgrad und die Stabilität solcher Überzeugungen – skizziert. (1) Äußern sich der Papst oder die Bischöfe in Ausübung ihres Lehramtes zum »Glauben der Kirche« (Zweites Vatikanisches Konzil 1964 [Lumen gentium], Nr. 49), stellt diese Äußerung eine normative Forderung an die zu dieser Organisation gehörigen Mitglieder und, sofern sich die Kirche »in alle Welt gesandt« (Zweites Vatikanisches Konzil 1964, Nr. 9) betrachtet, sogar an alle Menschen dar, die eigenen Überzeugungen dem anzupassen, was das Lehramt als Glaubensüberzeugung der Kirche kundtut. In John Searles Typologie illokutionärer Akte könnte man eine lehramtliche Äußerung als einen Akt des Aufforderns charakterisieren. Solche Äußerungen tun nicht nur einen propositionalen Gehalt kund, sondern sie fußen auf der Annahme einer »überlegenen Position« des Sprechers – in diesem Fall: des Lehramtes –, weshalb der Sprecher das, wenn auch nur in seinem Selbstbild vorhandene, »Autoritätsverhältnis« (Searle 2013, 100 f.) gegenüber den Adressaten einzusetzen versucht, um die Adressaten dazu zu bewegen, seiner Aufforderung nachzukommen. Artikuliert hingegen ein Ich-Subjekt seine Glaubensüberzeugungen, muss dies nicht in illokutionären Akten des Aufforderns erfolgen, sondern könnte auch in Akten des Behauptens, Feststellens oder Bestätigens geschehen, die »nicht wesentlich mit dem Versuch, jemanden zu überzeugen, verbunden zu sein« (Searle 2013, 101) brauchen. Der 219 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Wille zu überzeugen und damit die Aufforderung an andere, die eigene Position zu übernehmen, weil die zu ihren Gunsten angeführten Gründe als berechtigt anerkannt werden, zeigt sich vor allem dort, wo die Anstrengung einer Argumentation unternommen wird, was nicht bei jeder Äußerung religiöser Überzeugungen von Ich-Subjekten der Fall ist. (2) Das Vorbringen von Argumenten hat nicht nur eine auf Überzeugung zielende Funktion gegenüber dem Adressaten dieser Argumente, sondern auch eine kognitiv disziplinierende Wirkung gegenüber denjenigen, die versuchen, ihre Position argumentativ zu vermitteln. Wer Argumente artikuliert, muss die Gründe, die für seine Position sprechen, so kohärent anordnen, dass sie intersubjektiv nachvollziehbar und potenziell zustimmungsfähig werden. Diese Kohärenzanforderungen unterscheiden Glaubensüberzeugungen von Ich-Subjekten gegenüber organisationalen Überzeugungen der Kirche. Denn ein Ich-Subjekt braucht das, was es glaubt, sofern es nicht andere davon zu überzeugen versucht, nicht in eine kohärente Form zu bringen. Ein Ich-Subjekt kann eine Vielzahl von Überzeugungen hegen, die in sich widersprüchlich sind, oder es kann Inkohärenzen zwischen verschiedenen Dimensionen des Religiösen in sich vereinen. Es nehmen »immer mehr Menschen Positionen ein, die man früher als unvertretbar angesehen hätte. Sie halten sich zum Beispiel für katholisch, erkennen jedoch viele wichtige Dogmen nicht an, oder sie kombinieren das Christentum mit dem Buddhismus, oder sie beten, sind sich aber nicht sicher, daß sie glauben« (Taylor 2013, 96).
Für die Glaubensüberzeugungen der Kirche gelten höhere Kohärenzanforderungen. Ob diese immer eingelöst werden, ist eine andere Frage. Man könnte jedoch formulieren: Je universaler der Sendungsauftrag und je mehr dieser durch Überzeugungsarbeit, nicht etwa durch Zwang, eingelöst werden soll, desto größer ist der Kohärenzanspruch an die religiösen Überzeugungen einer Organisation. (3) Selbst Autoren, die religiöse Überzeugungen in Verwandtschaft zu dem sehen, was im Anschluss an Wittgenstein als grammatische Überzeugungen oder auch als Moore-Propositionen bezeichnet wird, heben einen Aspekt hervor, der zumindest die religiösen Überzeugungen von Ich-Subjekten begleiten kann: den Zweifel. Laut Klaus von Stosch besitzen religiöse Überzeugungen »Züge weltbild220 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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konstituierender bzw. regulativer Überzeugungen […], ohne deshalb an ihrer Unbezweifelbarkeit teilzuhaben« (Stosch 2003, 127). Auch Winfried Löffler, der religiöse Überzeugungen als »Weltbildsätze zweiten Typs« betrachtet, die mit Moore-Propositionen zwar gemeinsam haben, dass sie keine »Bestandteile der Wissenschaft im engeren Sinne« bilden, geht davon aus, dass religiöse Überzeugungen sich von Moore-Propositionen dadurch unterscheiden, dass sie »nicht alternativlos« sind und dass sie »Gegenstand von Zweifel« (Löffler 2019, 95) sein können. Dieser Zweifel bricht sich vor allem auf der individuellen, weniger auf der organisationalen Ebene Bahn. Ich-Subjekte können sich aus verschiedenen Anlässen fragen, ob das, wovon sie gläubig überzeugt sind, tatsächlich wahr ist. Dass das Lehramt der katholischen Kirche etwas mit dem Vorbehalt des Zweifels verkündet, widerspricht seinem autoritären Selbstbild, das darauf zielt, genau jene Zweifel zu beseitigen, die Ich-Subjekte hegen, und für Gewissheit zu sorgen – ein Problem, auf das es noch zurückzukommen gilt. (4) Eine gewisse temporale Persistenz ist dem Begriff der Überzeugung bereits zu eigen (vgl. McClendon/Smith 1975, 7), weil man ein bloß kurzfristiges Meinen, das sich auf unbedeutende Sachverhalte bezieht, kaum als Überzeugung charakterisieren würde. Überzeugungen zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass ein von einem Sachverhalt überzeugtes Subjekt in »einer besonderen erkenntnisrelevanten Relation zu diesem Sachverhalt« (Schärtl 2007, 269) steht und diese Relevanz der besagten Relation Dauerhaftigkeit verleiht. Dennoch sind Überzeugungen nicht unveränderbar. Religiöse Überzeugungen sind »durch eine spezifische Spannung zwischen Festigkeit und Fragilität« geprägt; einerseits »gehören religiöse Überzeugungen zu den Grundlagen der jeweiligen Sicht auf die Welt und geben in existenziellen Fragen Halt. Sie beweisen angesichts von Krisenerfahrungen häufig eine erstaunliche Festigkeit. Andererseits können auch die Fundamente eines religiösen Weltbildes im Rahmen einschneidender biografischer Erlebnisse ins Rutschen geraten« (Breul 2019, 146) – mag es sich nun um religiös nicht mehr zu verarbeitende Erfahrungen des Leids, Konflikte mit religiösen Organisationen oder ein stilles Dahinschwinden einmal gehegter Überzeugungen handeln. Auch Organisationen können Überzeugungen verändern. Allerdings gehen diese Prozesse in der Regel langsamer vonstatten als bei Ich-Subjekten und sind oft konfliktbehaftet. Als Zwischenfazit sei festgehalten: Religiöse Pluralität hat eine individuelle und eine organisationale Dimension. Beide Aspekte hän221 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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gen zusammen, können aber nicht aufeinander reduziert werden. Daher gilt es die Frage, in welchem Verhältnis christliche Glaubensüberzeugungen zum alethischen Relativismus stehen, mit Blick auf beide Dimensionen – die individuelle wie die organisationale – zu bedenken.
3.
Christliche Glaubensüberzeugungen und der alethische Relativismus I: Ein epistemologisches Problem
3.1. Terminologische Klärungen Das Charakteristikum des alethischen (auf Wahrheitsfragen bezogenen), normativen (nicht bloß deskriptiven) Relativismus besteht in der These, dass eine Aussage stets nur relativ zu einem Referenzrahmen wahr oder falsch und damit ein und dieselbe Aussage in einem Referenzrahmen – etwa einer Sprache, einer Theorie, einer Gemeinschaft oder einer Kultur – wahr, in einem anderen Referenzrahmen aber falsch sein kann. 2 Zwei konträr oder kontradiktorisch zueinanderstehende Aussagen könnten damit zugleich wahr sein, wenn sie sich in unterschiedlichen Referenzrahmen bewegen. Ein übergeordneter »Standard« (Devine 1989, 43), der in seiner Geltung selbst nicht mehr auf einen partikularen Referenzrahmen beschränkt bliebe und prüfen könnte, ob ein innerhalb eines Referenzrahmens als wahr in Anspruch genommener Sachverhalt auch an und für sich der Fall ist oder nicht, steht einer relativistischen Auffassung zufolge nicht zur Verfügung. Mit Maria Baghramian ließe sich ein Relativismus kognitiver Normen, etwa des Vernunftbegriffs oder der Logik, der das, was als theoretisch begründbar erscheint, nur in einem partikularen Rahmen gelten lässt, von einem Relativismus moralischer Normen unterscheiden, der davon ausgeht, dass es kein Sollen gebe, das universale Geltung beanspruchen könne, weil Handlungen stets nur relativ zu einem bestimmten Referenzrahmen geboten oder verboten seien. Ein mit beiden Formen eng verwandter kultureller Relativismus nimmt an, dass Aussagen nur als wahr relativ auf eine bestimmte Kultur gelten können, und ein konzeptueller oder ontologischer ReEine exemplarische Aufzählung, »was als relativ in Bezug auf was« im Sinne des normativen Relativismus dargestellt werden kann, bietet Susan Haack (vgl. Haack 2014, 83 f.).
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Christliche Glaubensüberzeugungen im Kontext religiöser Pluralität
lativismus geht davon aus, dass alles, was als seiend gedacht werde, sich begrifflichen Setzungen und Denkschemata verdanke (vgl. Baghramian 2004). All diese Spielarten lassen sich, sofern sie einen propositionalen Ausdruck in assertorischen Sätzen finden, im alethischen Relativismus zusammenfassen. Um den Skopus von im genannten Sinne relativistischen Positionen zu verstehen, ist es wichtig, das Charakteristikum der im alethischen Relativismus behaupteten Relationen zu bestimmen (vgl. Irlenborn 2016, 9–12). Deskriptiv wäre die These: Es gibt verschiedene Auffassungen zu der Frage, ob Gott existiert. Dass dem so ist, es also tatsächlich viele Meinungen zu diesem Problem gibt, lässt sich nicht bestreiten. Im normativen Sinne relativistisch wäre die These: Ob die Aussage »Gott existiert« wahr ist, lässt sich nur mit Blick auf den kulturellen oder moralischen Rahmen entscheiden, in dem sie diskutiert wird. Eine Aussage wie »Moralische Fragen lassen sich zwar nur relativ auf einen kulturellen Kontext beantworten, die Naturwissenschaften sind aber in der Lage, objektive Erkenntnis zutage zu fördern.« impliziert, dass irrelatives Wissen zumindest in manchen Bereichen möglich ist. Es gilt also, einen lokalen, auf einzelne Gegenstandsbereiche beschränkten und einen globalen, alle gehaltvollen Aussagen betreffenden Relativismus zu unterscheiden. Bedeutsam ist auch die Differenzierung zwischen entstehungstheoretischen Relativierungen und einem geltungstheoretischen Relativismus. Der Hinweis darauf, dass das christliche Gottesverständnis sich bestimmten kulturellen und philosophischen Konstellationen verdankt, damit in seiner Genesis bedingt und in diesem Sinne relativ ist, stellt keine im normativen Sinne relativistische These dar, sondern eine deskriptive, entstehungstheoretische Einordnung. Normativ relativistisch hingegen wäre die Aussage, dass aufgrund der Relativität der Genese einer Aussage das in ihr als wahr in Anspruch Genommene grundsätzlich keine irrelative Geltung beanspruchen könne.
3.2. Der alethische Relativismus und organisational vorgetragene Glaubensüberzeugungen der katholischen Kirche Der normative alethische globale Relativismus oder ein auf religiöse Überzeugungen bezogener normativer alethischer lokaler Relativismus scheinen für die epistemologische Problematik religiöser Plura223 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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lität ein Remedium bereitzustellen, indem sie behaupten: Es ist möglich, dass zwei religiöse Überzeugungen, die Sachverhalte als wahr in Anspruch nehmen, die nicht zugleich der Fall zu sein vermögen, beide wahr sein können. Das Lehramt der katholischen Kirche erhebt jedoch für seine Aussagen Anspruch auf objektive, absolute und exklusive Geltung. Diese drei Attribute bewegen sich auf verschiedenen Ebenen. Der Anspruch auf objektive Geltung bezieht sich auf die ontologischen Implikationen eines assertorischen Satzes, der Anspruch auf absolute Geltung auf die epistemologischen Implikationen eines assertorischen Satzes und der Anspruch auf exklusive Geltung auf die logischen Implikationen eines assertorischen Satzes. Auch wenn man den in der Idee der Stellvertretung Christi wurzelnden Legitimationskonstruktionen des Lehramtes kritisch gegenübersteht, gibt es Gründe, für die Möglichkeit einzutreten, dass Propositionen sinnvoll mit objektiver, absoluter und exklusiver Geltung vertreten werden können. (1) Objektive Geltung erhebt eine Aussage (im Bereich der theoretischen Vernunft 3), die beansprucht, dass es einen Sachverhalt in der Welt gibt, den sie zutreffend zum Ausdruck bringt. Dieser Sachverhalt wird dabei – performative Sprechakte wie grüßen oder beglückwünschen ausgenommen – nicht erst durch seine Propositionalisierung konstituiert, sondern durch den Sprecher gleichsam entAusgeklammert sei an dieser Stelle die Urteile der praktischen Vernunft betreffende Problematik einer objektiven Ethik oder eines moralischen Realismus. Eine solche Ethik würde die Existenz moralischer Tatsachen voraussetzen, die ein moralisches Urteil wahr machen oder es als falsch erweisen könnten (vgl. Hübenthal 2018, 217– 224). Dass solche moralische Tatsachen tatsächlich existieren, ist eine prekäre Annahme. Sie verfügen »über keine robuste Phänomenstruktur« (Möllers 2018, 95). Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag von Christoph Möllers, den Objektbezug von Normen gerade in der Distanznahme vom Gegebenen – und nicht im Sinne einer aus dem Gegebenen zu dechiffrierenden Tatsache – zu sehen. Normen wären damit »als positiv markierte Möglichkeiten zu verstehen. Normen verweisen auf einen möglichen Zustand oder ein mögliches Ereignis. Unmögliches zum Gegenstand einer Norm zu machen, ist sinnlos. Die positive Markierung einer Möglichkeit zeigt an, dass diese sich verwirklichen soll. Von Normativität – so die Vermutung – ist also nur dort die Rede, wo unterstellt wird, dass die Welt anders sein könnte, als sie ist, und wo diese Unterstellung kenntlich gemacht wird. Normativität hängt an der Möglichkeit einer abweichenden Weltbeschaffenheit – oder einer Weltbeurteilung, deren Maßstab sich nicht auf die Welt, wie sie ist, beschränkt« (Möllers 2018, 14), aber, so könnte man hinzufügen, zumindest insofern auf die Tatsachen der gegebenen Weltbeschaffenheit verwiesen bleibt, als dass das in der Welt Unmögliche die Grenzen des normativ Möglichen bestimmt.
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Christliche Glaubensüberzeugungen im Kontext religiöser Pluralität
deckt, artikuliert, in dieser Artikulation interpretiert und in dieser Interpretation wiederum in einen kulturell sowie subjektiv bedingten Theorierahmen eingebettet. Die unausweichliche Einbettung jeder Aussage in einen solchen Rahmen löst jedoch ihren objektiven Geltungsanspruch nicht auf. Selbst wer wie Willard Van Orman Quine der nach seinem eigenen Bekunden »relativistischen These« zustimmt, »dass es sinnlos ist zu sagen, was die Gegenstände einer Theorie sind, es sei denn, wir beschränken uns darauf zu sagen, wie diese Theorie in einer anderen zu interpretieren oder zu reinterpretieren ist« (Quine 2003, 67),
muss mit Blick auf gehaltvolle Aussagen zugestehen, dass »die Unerforschlichkeit des Bezugs nicht die Unerforschlichkeit einer Tatsache ist« (Quine 2003, 64). Ob, um ein Beispiel Quines aufzugreifen, ein Sprecher einen Hasen vorbeilaufen sieht, gavagai ruft und in seinem Bezugsrahmen damit meint: »Das ist ein Hase.«, »Sieh, ein Hase!«, »zeitliches Stadium eines Hasen«, »Hasentum«, »nicht abgetrenntes Hasenteil«, »Es häselt.«, »ganzer Kosmos minus Hase« oder »Menge mit dem einzigen Element ›Hase‹«, ist mit Blick auf die Objektivität des erhobenen Anspruchs zweitrangig. Denn der Sprecher nimmt einen Sachverhalt als wahr in Anspruch, der falsch ist, wenn es nicht der Fall wäre, dass – wie immer man es beschreiben mag – ein Hase, das zeitliche Stadium eines Hasen oder eine Menge mit dem einzigen Element »Hase« an ihm vorbeiläuft. Der Anspruch einer Aussage auf objektive Geltung könnte in einem Theorierahmen, in dem die Forderung nach epistemischer Demut eine zentrale Rolle spielt, als anmaßend kritisiert werden. Dabei gilt es jedoch zu unterscheiden, welche Geltung eine Aussage mit Blick auf den von ihr als wahr behaupteten Sachverhalt beansprucht und wie diese Geltung diskursiv vertreten wird. Der »Gottprotz« (Canetti 2016, 86) ist ein Antipath und, wo er zum Fanatiker wird, ein gefährlicher Zeitgenosse. Der Anspruch auf Objektivität ist jedoch nicht schlechthin mit Protzerei zu verwechseln, sondern kann selbst ein Ausdruck epistemischer Demut sein. Denn der Anspruch einer Proposition, dass der in ihr als wahr behauptete Sachverhalt tatsächlich der Fall ist, impliziert einen »normativen Bezug zwischen Propositionen und der durch sie erfassten Wirklichkeit« (Göcke 2018, 61) [Hervorhebung Verf.]. Dieser normative Bezug wiederum fußt auf der Anerkennung, dass es etwas Gegebenes gibt, das der Fall ist und dem diejenige Per225 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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son, die eine Behauptung aufstellt, gerecht werden muss, indem sie sich ihm in wahrhaftiger Weise verpflichtet. (2) Absolute Geltung wird einer Aussage zugeschrieben, wenn davon ausgegangen wird, dass das, was sie als wahr behauptet, wahr nicht nur relativ zu einem bestimmten Referenzrahmen ist, sich in einem anderen Rahmen aber als falsch erweisen könnte, sondern der propositionale Gehalt einer Aussage einen normativen Anspruch an alle Referenzrahmen – seien es nun Theorien, Sprachen oder Kulturen – stellt. Dabei gilt es, mit Blick auf religiöse Überzeugungen zu beachten, dass diese sich sowohl ihrem Objekt als auch der Art ihrer sprachlichen Artikulation nach von anderen Überzeugungen unterscheiden. Gott ist kein Gegenstand in der Welt, über den Sachverhaltsbehauptungen getroffen werden könnten wie über gewöhnliche Dinge. Dennoch nimmt etwa die Aussage »Gott ist« ontologische Gegebenheiten als wahr in Anspruch. Diese Gegebenheiten werden oft in Metaphern oder Mythologemen formuliert, die, worauf vor allem die Pluralistische Religionstheologie hinweist, »eine besondere Hermeneutik transzendenzbezogener Rede« erfordern; eine solche Hermeneutik muss fragen, ob »transzendenzbezogene Aussagen, die ›vordergründig inkompatibel‹ erscheinen, tatsächlich inkompatibel sind« (Schmidt-Leukel 2017, 766). Dabei gilt es, sprachliche Gegebenheiten, kulturelle Prägungen oder philosophische Abhängigkeiten, die die Artikulation religiöser Überzeugungen formen, zu beachten. Dennoch ist die These, es sei unklar, »ob Aussagen wie ›Der eine Gott ist nicht trinitarisch‹ oder ›Der eine Gott ist trinitarisch‹ wirklich inkompatibel sind« (Schmidt-Leukel 2017, 767), nicht zu halten. So berechtigt die Warnungen der Pluralistischen Religionstheologie sind, dem, was vordergründig divergent erscheinen mag, nicht zu trauen, sondern sorgfältig zu prüfen, was in einer Aussage genau ausgesagt wird und was nicht, so problematisch ist es, die Feststellbarkeit von Divergenzen grundsätzlich unter Rekurs auf die Unbegreiflichkeit Gottes oder den nicht festgelegten Charakter bildlich-religiöser Sprache zu verneinen. Die These zum Beispiel, dass Gott eine Substanz in drei Personen sei, nimmt – obwohl die Rede von Substanzen und Personen dogmengeschichtlich eine Verlegenheitslösung darstellt – ihrem propositionalen Gehalt nach auch jenseits des philosophischen Kontextes, in dem sie entstanden ist, eine Beschaffenheit der Wirklichkeit in Anspruch, die man als wahr anerkennen oder als falsch zurückweisen kann. Würde man dies leugnen, müsste man entweder von einer grundsätzlichen Inkommensurabilität der zur Be226 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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schreibung Gottes oder des Göttlichen zur Verfügung stehenden Referenzrahmen ausgehen; dann wäre ein gehaltvolles Gespräch über religiöse Fragen nicht mehr möglich. Oder man müsste die Annahme einer Einheit der Wirklichkeit, die es nach sich zieht, dass religiöse Überzeugungen, sofern sie wahr sein sollen, logisch kompatibel zu sein haben, aufgeben – ein Schritt, den die Pluralistische Religionstheologie ablehnt (vgl. Schmidt-Leukel 2019, 209–214). (3) Im Rahmen einer binären Logik sind gehaltvolle Aussagen insofern exklusiv, als ihr Anspruch, wahr zu sein, impliziert, dass sich zu ihnen konträr oder kontradiktorisch verhaltende Behauptungen falsch sein müssen. Dabei gilt es jedoch, eine wichtige Unterscheidung zu beachten, auf die Keith Ward aufmerksam macht. »Religionen sind nicht als solche entweder wahr oder falsch. Sie sind Mixturen aus Geschichten, Ritualen, Institutionen, ethischen Regeln, Erfahrungen und doktrinalen Wahrheitsansprüchen. Die meisten Religionen beinhalten ein Set miteinander verbundener Wahrheitsansprüche, die um einige grundlegende, oft mit der Bedeutung des Gründers zusammenhängende Ansprüche mit Schlüsselcharakter gruppiert sind. Demgegenüber können die einzelnen Wahrheitsansprüche, die sich in Religionen finden, separat von den Gesamtsets betrachtet werden, deren Teil sie sind« (Ward 2019, 145).
Es gibt also nicht die christliche Glaubensüberzeugung schlechthin, sondern nur eine Reihe von Überzeugungen, unter denen einige von zentralerer und andere von peripherer Bedeutung sind. Werden diese Überzeugungen organisational vonseiten des Lehramtes vorgetragen, dessen Sprechen höheren Kohärenzanforderungen unterliegt als von Individuen gehegte Glaubensüberzeugungen, sollten diese Überzeugungen logisch miteinander verbunden und untereinander hierarchisierbar sein. Einige dieser Überzeugungen haben den Status von core convictions, etwa die Menschwerdung des göttlichen Logos oder die Auferstehung Christi. Andere Überzeugungen, möglicherweise aus dem Bereich der Ekklesiologie, der Sakramentenlehre oder der Moraltheologie, sind von nachrangiger Bedeutung. Sie könnten auch als falsch betrachtet werden, ohne dass die Identität des christlichen Glaubens aufgegeben würde.
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3.3. Der hypothetische Charakter von Glaubensüberzeugungen Die letztgenannte Beobachtung führt zu einem Aspekt, der im Duktus der organisationalen Unangefochtenheit, der lehramtliche Äußerungen prägt, oft im Hintergrund bleibt: Der Sachverhalt, dass Glaubensüberzeugungen mit dem Anspruch auf objektive, absolute und exklusive Geltung vorgetragen werden, sagt noch nichts über die Einlösbarkeit dieses Anspruchs aus. Dass Gott existiert, er Mensch geworden oder Christus auferstanden ist, kann mit Blick auf jene Dimension religiöser Überzeugungen, die von Stosch als »expressiv-regulative« (Stosch 2003, 106) bezeichnet, zur existenziellen, subjektiven Gewissheit werden, an der Christen ihr Leben ausrichten. Die epistemische, objektive Gewissheit, dass Gott existiert, er Mensch geworden und Christus auferstanden ist, dass also das, was christliche Glaubensüberzeugungen auf der »kognitiv-propositionale[n]« (Stosch 2003, 106) Ebene als wahr beanspruchen, tatsächlich wahr ist, bleibt jedoch verwehrt, solange keine demonstrativischen Beweise zugunsten der Wahrheit dieser Überzeugungen vorgelegt werden. Da solche Beweise mit Blick auf die Deutung zurückliegender Ereignisse aber nicht zu erbringen sind – wie will man die Menschwerdung Gottes beweisen? –, ist nicht auszuschließen, dass auch core tenants des christlichen Glaubens falsch sein könnten. Christen glauben zwar, dass sie wahr sind, und versuchen so zu leben, als ob sie wahr wären. Dennoch hat dieser Glaube, auch wenn er existenzielle Sicherheit bietet, auf der epistemischen Ebene lediglich den Status einer Hypothese, der dort zutage tritt, wo – in der Terminologie Löfflers – »Weltbildsätze zweiten Typs« aus ihrer alltäglichen Selbstverständlichkeit herausgehoben und zum »Gegenstand von Zweifel und Diskurs« (Löffler 2019, 95) gemacht werden. Gegen die These eines solch hypothetischen Status christlicher Glaubensüberzeugungen wird in der dogmatischen Theologie gelegentlich polemisiert. Die Theologie könne, so Helmut Hoping, Gottes Existenz »nicht als ›Hypothese‹ betrachten, so wenig wie sich der Glaube mit seinem Bekenntnis Jesus Christus ist Gottes Sohn ›nur auf eine Möglichkeit beziehen‹ kann. […] Mit dem auf göttliche Offenbarung gründenden christlichen Glauben ist die Gewissheit verbunden, dass Gott existiert, wir daher über ihn sprechen können und unser Sprechen wahrheitshaltig ist. Es ist nicht ersichtlich, wie man mit einem ›Hypothesengott‹ noch Theologie als
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Glaubenswissenschaft betreiben will. Theologie als Glaubenswissenschaft setzt die assertorische Gewissheit ergangener Offenbarung und damit die Gewissheit der Existenz Gottes voraus« (Hoping 2019, 19).
Solche Äußerungen sind in mehrfacher Hinsicht prekär. Erstens missverstehen sie, was der Begriff der Hypothese besagt. Eine Hypothese ist nicht bloß eine beliebige Vermutung, sondern eine für wahr gehaltene Proposition, von deren als wahr beanspruchtem Gehalt Schlussfolgerungen gezogen werden können, die jedoch nur dann wahr sind, wenn – was beim Arbeiten mit Hypothesen vorausgesetzt wird – auch die ihnen zugrundeliegende Hypothese wahr ist. Theologisches Arbeiten ohne Hypothesen, die Beziehungen zwischen Grund und Folge nach einer Wenn-dann-Form herstellen, ist nicht möglich, obwohl das zugrundeliegende Wenn nicht in jedem Arbeitsschritt sprachlich expliziert wird. Zweitens erhebt Hoping Ansprüche, die er argumentativ nicht einlösen kann. Auch wenn Christen sich den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu als für sie existenziell bedeutsame, subjektive Gewissheit angeeignet haben, bleibt offen, wie eine demonstrativische, von jedem Schatten des Hypothetischen befreite Form der objektiven Gewissheit dieser Glaubensaussage unter den raumzeitlich zur Verfügung stehenden Bedingungen erreicht werden kann. Drittens, und dies sei nur angedeutet, hat die Zurückweisung alles Hypothetischen zugunsten einer dogmatisch beschworenen Gewissheit Folgen für die soziale Gestalt von Religion in einer religionspluralen Gesellschaft. Geht man davon aus, dass dem Zweifel – nicht im Sinne der Beliebigkeit, sondern im Sinne der Einsicht in die hypothetischen Bedingtheiten der eigenen Überzeugungen, die für wahr gehalten werden, aber auch falsch sein könnten – ein bedeutender Anteil bei der sozialen Domestizierung von Religion zukommt (vgl. Bauer 2019, 63), steht zu befürchten, dass Individuen oder Organisationen, die das Moment des Hypothetischen aus ihren Überzeugungen verbannen, ihre mit unangefochtener Gewissheit vorgetragenen Ansprüche auch mit unangefochtenem Willen gegenüber Nicht- oder Andersgläubigen durchzusetzen versuchen. Das spräche wiederum für die eingangs angedeutete Vermutung, dass Religion sich nicht selbst zu begrenzen vermag, sondern von etwas in die Schranken gewiesen werden muss, das selbst nicht Religion ist – eine Vorstellung, die hier nicht weiterverfolgt werden kann.
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3.4. Die Glaubensüberzeugungen christlicher Individuen und ein praktikabler Alltagsrelativismus Obwohl der normative alethische Relativismus auf organisationaler Ebene keine sinnvolle Möglichkeit zum Umgang mit religiöser Pluralität darstellt, kann dieses Phänomen auf individueller Ebene durchaus praktikabel in Gestalt eines Alltagsrelativismus bewältigt werden. »Der Grundzug eines solchen Alltagsrelativismus besteht darin, dass Wahrheit angesichts der faktischen Vielzahl von Geltungsansprüchen in einer Gesellschaft, des Gebots von Toleranz und Verständigung und des endlichen Erkenntnisvermögens des Menschen als relativ angesehen wird. Diese Ableitung geschieht in alltäglichen Streitfragen oder Auseinandersetzungen um unterschiedliche Geltungsansprüche nicht explizit durch Reflexion oder auf der Basis theoretischer Annahmen oder Theorien, sondern eher intuitiv und vermittelt durch soziale oder politische Rollenerwartungen« (Irlenborn 2018, 101 f.).
Auch wenn ein solcher Alltagsrelativismus in epistemologischer Hinsicht theoretische Inkonsistenzen aufweisen mag, sollte man nicht verachten, wie sehr er es ermöglicht, mit divergierenden Wahrheitsansprüchen religiöser Überzeugungen konfliktarm umzugehen. Das lässt ihn in manchen Situationen nicht nur als abzulehnende Abweichung von einem dogmatisch definierten Idealzustand, sondern als sinnvolle Option erscheinen. Während es zum Wesen der katholischen Kirche als religiöser Organisation gehört, religiöse Wahrheitsansprüche in kohärenter Form zu vertreten, sind auch solche Individuen, die sich mit der katholischen Kirche identifizieren, mehr als nur katholische Christen. Ihnen kommt alltäglich eine Vielfalt an Rollen und Aufgaben zu. Sie sind zum Beispiel Bürgerinnen eines säkularen Staates, Schüler einer bekenntnisneutralen Schule oder Beschäftigte in einem Betrieb, der am Handeltreiben, nicht an den religiösen Überzeugungen seiner Kundschaft interessiert ist. Menschen sollten das Recht haben, diese Tätigkeiten als gläubige Christen auszuüben. Dennoch hängt das Gelingen des alltäglichen Zusammenlebens in solchen Kontexten auch davon ab, dass die Artikulation der eigenen religiösen Überzeugungen zurückgestellt, ein Dissens nicht ausgetragen, sich des Urteils enthalten wird und Positionen im Ungefähren verbleiben.
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Ein solcher Alltagsrelativismus steht zwar im Fadenkreuz des einem »äußerst kulturpessimistischen Deutungsschema« (Bugiel 2018, 91) verpflichteten, lehramtlichen Antirelativismus-Diskurses. Dabei ist der beschriebene Alltagsrelativismus jedoch kein vermeintliches Dekadenzphänomen der Moderne. Im Gegenteil: Erst seit dem 19. Jahrhundert und seinem Streben nach religiöser Eindeutigkeit scheint er zum Ärgernis geworden zu sein, während noch in der Frühen Neuzeit etwa das Phänomen »situativer Konfessionalität« gängig war, bei dem Menschen ihr Bekenntnis sowie das dazugehörige Verhalten alltagspragmatischen Überlegungen anpassten und sich in dissimulatio übten, um sich öffentlich nicht festlegen zu müssen. Die Idee einer vor dem 19. Jahrhundert bestehenden stabilen und »homogene[n] Konfessionskirche«, die mehrheitlich aus ihre organisational vorgetragenen Überzeugungen bejahenden Mitgliedern besteht, verdankt sich »den Fiktionen orthodoxer Theologen und den Wunschvorstellungen der Obrigkeiten« (Stollberg-Rilinger 2013, 26). Man sollte nicht den Fehler begehen, die normativen Implikate dieser Fiktionen allzu rigide auf alltagspraktische Fragen anzuwenden.
4.
Christliche Glaubensüberzeugungen und der alethische Relativismus II: Kein soteriologisches Problem
In der christlichen Theologie haben sich – so kategorisiert es zumindest ein viel rezipiertes, von Alan Race entwickeltes Schema (vgl. Race 1993) – drei Hauptpositionen im dogmatischen Umgang mit religiöser Pluralität entwickelt: inklusivistische, exklusivistische und pluralistische Ansätze. Das Problem dieses dreigliedrigen Schemas besteht darin, dass es zwei Aspekte religiöser Pluralität miteinander verbindet, die eigentlich auseinanderzuhalten wären. Brennglasartig zeigt sich dies am Begriff der »heilshaften Erkenntnis«, der in allen drei Modellen eine zentrale Rolle spielt. Während dem Exklusivismus zufolge »nur die eigene Religion heilshafte Erkenntnis der letzten Wirklichkeit ermöglicht«, bietet der Inklusivismus eine Perspektive, die »zwar auch anderen Religionen derartige Erkenntnisse zutraut«, aber »darauf beharrt, dass diese Erkenntnis in der eigenen Religion in einer singulären Höchstform vorliegt«; pluralistische Positionen gehen davon aus, »dass in mehreren Religionen gleichzeitig und gleichwertig heilshafte Erkenntnis der letzten Wirklichkeit möglich ist« (Stosch 2012, 20). Wo von »heilshafter Erkenntnis« die Rede ist, wer231 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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den epistemologische mit soteriologischen Fragen verkettet. Beide ließen sich nur dann legitimerweise verbinden, wenn Erkenntnis der Modus wäre, in dem Heil zugeteilt würde. Das ist jedoch aus christlicher Perspektive nicht ohne Weiteres der Fall. Es gilt nämlich, zwischen einem im Immanenten verbleibenden Heilsbegriff, der sich auf ein als heilsam empfundenes diesseitiges Leben im Glauben bezieht, und einem auf Transzendenz abzielenden Heilsbegriff, der das umschreibt, was Menschen im Letzten von Gott gläubig erhoffen, zu unterscheiden. (1) Ein diesseitig-immanenter Heilsbegriff ist vermutlich im Blick, wenn behauptet wird, dass religiöse Überzeugungen »in dem Maße als Ausdruck echter Transzendenzerfahrung gewertet werden [können], in dem sich ihr lebensregulatives Potential als heilshaft bestimmen lässt« (Schmidt-Leukel 2017, 766). In solchen Zusammenhängen leuchtet eine gewisse Verbindung zwischen Heil und Erkenntnis ein. Denn wer in der Überzeugung lebt, dass sein Dasein sich in der Hand eines allmächtigen Gottes befindet, der ihm Gutes will, mag daraus Orientierung und Halt schöpfen, die bereits im Diesseits als heilsam erlebt werden. Eine solche Wirkung lässt sich jedoch rein immanent, etwa psychologisch, erklären und könnte ebenso gut von Überzeugungen erzielt werden, die etwas als wahr in Anspruch nehmen, das nicht der Fall ist. Ein im Immanenten verbleibendes Heilsverständnis fußt auf dem Vorhandensein sich positiv auf es beziehender religiöser Überzeugungen unabhängig von der Frage, ob diesen Überzeugungen ein objektiver Wahrheitsgehalt entspricht oder nicht. (2) Umgekehrt verhält es sich mit einem Heilsverständnis, das auf Transzendenz zielt und jenes Diffusum bezeichnet, das manche Menschen über ihren eigenen Tod und die Vergänglichkeit alles Kreatürlichen hinaus von Gott erhoffen. Die christliche Tradition hat ein solches Heilsverständnis durch Begriffe wie Ewiges Leben, Himmel oder Reich Gottes zu umschreiben versucht. In das Ewige Leben, den Himmel oder das Reich Gottes kann der Mensch aber nur eingehen, wenn die in diesen Bildern als wahr in Anspruch genommenen Sachverhalte tatsächlich der Fall sind. Das Verhältnis von Erkenntnis und Heil gestaltet sich beim zweiten Heilsbegriff genau umgekehrt wie beim ersten: Während der erste Heilsbegriff auch placebohaft wirken könnte, Heil also nur dadurch erfahrbar wird, dass Menschen von seiner Realität überzeugt sind, ohne dass das in dieser Überzeugung als wahr Behauptete tatsächlich wahr zu sein braucht, setzt der zweite 232 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Heilsbegriff eine bestimmte Beschaffenheit der Wirklichkeit voraus, die auch dann so und nicht anders wäre, wenn Menschen sich nicht gläubig auf sie bezögen. Heil und Erkenntnis wären mit Blick auf den zweiten Heilsbegriff nur miteinander verbunden, wenn – bildlich gesprochen – Menschen im Himmel bloß etwas widerfahren könnte, von dessen Existenz sie schon auf Erden überzeugt waren. Dass dem so ist, leuchtet nicht ein. Wenn es so etwas wie transzendentes Heil gibt, könnte dieses Heil auch jenen zuteilwerden, die nicht daran geglaubt haben, dass sie über den physischen Tod hinaus etwas zu erwarten haben. Wohlgemerkt: Es könnte so sein. Wem und wie Gott Heil schenkt, bleibt dem Menschen unverfügbar. Christen ist lediglich die Hoffnung gegeben, dass Gott mit diesem Gut großzügig umgeht und »allen Menschen« in einer nur »Gott bekannten Weise« die Möglichkeit bietet, der Auferstehung entgegen zu gehen (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil 1965 [Gaudium et spes], Nr. 22).
5.
Rekapitulation
Religiöse Pluralität – verstanden als der Sachverhalt, dass Menschen, die sich mit verschiedenen Religionen identifizieren, divergente religiöse Überzeugungen mit dieser Identifikation verbinden können – stellt die dogmatische Theologie vor epistemologische, soteriologische und sozialethische Herausforderungen. Der epistemologische und der soteriologische Aspekt waren Gegenstand dieser Überlegungen. Dabei wurde zunächst dargestellt, dass sowohl Organisationen wie die katholische Kirche als auch Ich-Subjekte Träger von religiösen oder, christlich formuliert, von Glaubensüberzeugungen sein können. Diese Unterscheidung hat, da Glaubensüberzeugungen von sich als christlich identifizierenden Ich-Subjekten gegenüber den von der Kirche vertretenen Überzeugungen mit Blick auf ihre Normativitätsansprüche, ihre Kohärenzanforderungen, ihren behaupteten Gewissheitsgrad und ihre Stabilität abweichen können, Folgen für die Verhältnisbestimmung zwischen christlichen Glaubensüberzeugungen und dem normativen alethischen Relativismus. Während ein solcher Relativismus mit den organisational vonseiten des Lehramtes vorgetragenen Glaubensüberzeugungen der katholischen Kirche unvereinbar ist, sollte – aufgrund des anders gelagerten Normativitätsund Kohärenzprofils individueller Glaubensüberzeugungen – ein praktikabler Alltagsrelativismus nicht grundsätzlich diskreditiert 233 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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werden. Der religionstheologisch prominente Begriff der »heilshaften Erkenntnis« erscheint aus soteriologischer Sicht problematisch, weil er eine Verbindung zwischen dem Fürwahrhalten von Propositionen, die etwas aussagen, das der Fall ist, und der Zuteilung von transzendentem Heil impliziert. Diese Verbindung ist jedoch prekär, weil nicht einleuchtet, warum transzendentes Heil nicht auch jenen zuteilwerden sollte, die sich in der Immanenz nicht bejahend auf es beziehen oder gar von seiner Existenz überzeugt sind.
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Teil III: Religionsethische und politische Fragestellungen
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Gibt es eine Wahrheit von Normen? Christof Breitsameter
1.
Wahrheit und Normativität
Gelegentlich wird der Begriff der Wahrheit nicht nur auf deskriptive, sondern auch auf präskriptive Aussagen bezogen. Präskriptive Aussagen haben mit einem Sollen zu tun im Gegensatz zu deskriptiven Aussagen, die mit einem Sein zu tun haben. Auf eine elementare Weise könnte man deskriptive Aussagen auf Überzeugungen beziehen und mit dem Anspruch des Für-wahr-Haltens kombinieren, was ich hier lediglich am Rande tun will, präskriptive Aussagen hingegen auf Wünsche, versehen mit dem Anspruch des Wahr-Machens. Man könnte dann überlegen, was es bedeutet, eine Überzeugung für wahr zu halten, bzw. unter welchen Bedingungen ein solcher Anspruch überhaupt gestellt und gegebenenfalls auch eingelöst werden kann, und man könnte überlegen, was es bedeutet, einen Wunsch wahr zu machen, bzw. unter welchen Bedingungen ein solcher Anspruch überhaupt gestellt und gegebenenfalls eingelöst werden kann. Eine Überzeugung für wahr zu halten bzw. einen Wunsch wahr machen zu wollen, bedeutet jeweils, ein Urteil zu fällen, das sich auch als falsch herausstellen kann. Ich beginne mit der Behandlung des Wunsches, und die simple Auskunft könnte lauten, dass wir einen Wunsch dann wahr machen, wenn wir ihn realisieren, das heißt, wenn wir die Wirklichkeit, das schon erwähnte ominöse Sein, das wir mehr oder weniger gut beschreiben können, diesem Wunsch entsprechend verändern und ihr, also der Wirklichkeit, auf diese Weise, wenn man so formulieren will, vorschreiben, wie sie zu sein hat. Wir sprechen dann in der Regel von einer Handlung. 1 Handeln bedeutet ja, eine andere Zukunft zu wolDer Unterschied zwischen einer Handlung, die intendiert ist, und einem Verhalten, das nicht intendiert ist, freilich ebenfalls die Wirklichkeit verändern kann, soll hier nicht weiter beachtet werden. Ebenso wenig soll hier die Diskussion darüber geführt
1
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Christof Breitsameter
len, als sie sich aus der Vergangenheit ergibt. Das damit verbundene Urteil lautet, dass ich in einer bestimmten Weise handeln will, weil es gut für mich ist, worin ich mich, wie gesagt, auch täuschen kann. 2 Der Begriff der Überzeugung muss insofern in Anspruch genommen werden, als wir, um die Wirklichkeit durch eine Handlung verändern zu können, auch Überzeugungen in Bezug auf kausale Verhältnisse ausbilden müssen, die mit Überzeugungen in Bezug auf Wahrscheinlichkeiten kombiniert werden können. Sind diese Überzeugungen falsch, können wir einen Wunsch – zumindest unseren Intentionen gemäß – nicht wahr machen. In der Regel ist der Erfolg einer Handlung durch das Verweisen auf die Wahrheit motivierender Überzeugungen zu erklären. Wenn ich mich in der Überzeugung irre, kann ich zwar in zufälliger Weise Erfolg haben. Erklärungen der verlässlichen Fähigkeit einer Person, auf einem Gebiet erfolgreich zu handeln, können aber nicht von solchen Zufällen abhängen, sondern müssen sich dementsprechend, soweit möglich, auf wahre Überzeugungen stützen: Der Erfolg von Handlungen muss also anhand dessen erklärt und beurteilt werden, was wahr ist, bezogen auf das, was die verschiedenen intentionalen Zustände, die zu jenen Handlungen führen, repräsentieren.
2.
Individuelle und kollektive Rationalität
In dieser Hinsicht könnte man jedenfalls Wünsche und Überzeugungen sinnvoll kombinieren und mit dem Begriff der Wahrheit in einen ersten plausiblen Kontakt bringen. Wenn ich einen Wunsch wahr machen will, sollte ich eine Überzeugung von einem probaten Mittel ausbilden, um ein Ziel erreichen zu können. Damit ist ein instrumentelles Verhältnis beschrieben. Ein prudentielles Verhältnis läge dann vor, wenn ich das Ziel, das ich durch ein probates Mittel erreichen will, zum Mittel für ein weiter reichendes Ziel erkläre und in dieser Hinsicht ein kluges Verhältnis von Mittel und Ziel erwäge. Instrumentelle und prudentielle Erwägungen mit Blick auf Handlungen werden, ob eine Handlung (oder ein Verhalten) stets die Wirklichkeit verändert, ob es also nicht auch ein folgenloses Handeln (oder Verhalten) gibt – was eine Sache sozialer Zuschreibung wäre. 2 Man kann deshalb sagen, es handle sich bei Wünschen selbst noch nicht um Urteile. Ein Urteil würde beispielsweise besagen, dass es gut für mich ist, etwas zu essen oder zu trinken, worin ich mich eben auch täuschen kann.
240 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Gibt es eine Wahrheit von Normen?
werden durch Individuen angestellt. 3 Man könnte auch von einer intrasubjektiven Rationalität sprechen. In beide Modi intrasubjektiver Rationalität lassen sich intersubjektive Eingriffe vornehmen, und zwar durch Informationen, die durch die Bestimmung eines geeigneten Mittels ein gewisses Maß an Objektivität ins Spiel zu bringen vermögen, obwohl sich in einem prudentiellen wie auch in einem instrumentellen Kalkül durch die Bestimmung des jeweils gewünschten Ziels auch ein gewisses Maß an Subjektivität geltend macht: Instrumentelle oder prudentielle Kalküle können sich somit als begründet oder als unbegründet erweisen. 4 Erweist sich das Kalkül als irrtumsbehaftet, liegt ein Grund zur Revision des vorgesehenen Mittels vor. Das evaluative Urteil darüber, ob ich einen Wunsch auch wahr machen soll, ob es also gut für mich ist, den Wunsch wahr zu machen, also ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, unterliegt zunächst meiner individuellen Rationalität. Wenn jedoch der Radius der individuellen Rationalität überschritten wird, wenn wir also nicht von Aktionen, sondern von Interaktionen ausgehen, ist neu zu überlegen, wie Wünsche wahr gemacht werden können. Wünsche können wahr gemacht werden, wenn sie bzw. genauer: die Handlungen, durch die sie realisiert werden sollen (vorausgesetzt werden richtige Überzeugungen im Hinblick auf naturgesetzlich entdeckbare Verhältnisse), nicht durch andere Akteure durchkreuzt werden, wenn sich ihrer Verwirklichung zumindest niemand entgegenstellt bzw. wenn die Akteure, deren Hilfe ich benötige, um Wünsche wahr zu machen, diesen Beitrag auch zu leisten bereit sind. Hier bilde ich wiederum Überzeugungen, dieses Mal mit Blick auf ›meine soziale Umwelt‹, aus, und entscheidend dabei ist, ob das, was ich für wahr halte, also eine intersubjektive Verlässlichkeit, sich auch tatsächlich einstellt. Ich nenne das eine werthafte Einstellung, die nicht eine individuelle, sondern eine dividuelle Rationalität reprä-
Selbstverständlich können auch korporative Akteure instrumentelle wie prudentielle Kalküle anstellen, das heißt, wir können korporativen Akteuren solche Kalküle sinnvollerweise zuschreiben. Trotzdem werden korporative Akteure insofern wie Individuen behandelt, als ihre Vernunftkalküle in Gegensatz zueinander treten können und deshalb, wie noch zu zeigen sein wird, eine werthafte Rationalität ins Spiel kommen kann. 4 In beide Kalküle gehen in der Regel auch Wahrscheinlichkeitsannahmen ein, die dann zum Bestandteil der Vernunftkritik werden, gegebenenfalls auch in der Feststellung ›beschränkter Rationalität‹. 3
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Christof Breitsameter
sentiert. 5 Werthafte Einstellungen haben es mit Normen zu tun, und das insofern, als Normen die schon erwähnte Verlässlichkeit nun in Bezug auf Akteure herstellen sollen. Auch hier vermögen Informationen, in das Urteil eines Akteurs einzugreifen, allerdings nur bedingt. Anders als bei Naturgesetzen, die eine Aussage darüber, was sein wird, zulassen, erlauben Handlungsgesetze keine Aussagen darüber, was sein wird, sondern nur darüber, was sein soll. Idealerweise wirken Handlungsgesetze wie Naturgesetze, das heißt, sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie befolgt werden. Erneut spielen also Überzeugungen bzw. spielt die Wahrheit von Überzeugungen eine wichtige Rolle. Meine Überzeugung würde sich idealerweise darauf richten, dass eine Norm von anderen Akteuren (ebenfalls oder nur von ihnen) befolgt wird, sodass ich unter dieser Voraussetzung einen Wunsch realisieren kann. Der Überzeugungsanteil von Normen kann dann insofern als wahrheitsfähig behandelt werden, als diskutiert und auch bestritten werden kann, dass eine Norm (etwa in Form einer Sanktion) die Wirkung entfaltet, die ihr zugeschrieben wird, derentwegen sie also instituiert wurde. Man würde zum Zweck der Beilegung eines solchen Streits nicht-moralische Fakten heranziehen, hätte es also mit einer instrumentellen oder auch einer prudentiellen Rationalität in Bezug auf Normen zu tun. 6 Wir können Normen dann nicht als moralische, jedoch als soziale Tatsachen behandeln. Ob der Begriff der Wahrheit dafür angemessen ist, wird noch zu klären sein. Es handelt sich hier jedenfalls nicht um genuin moralische Dissense, sofern nämlich Mittel diskutiert werden. Genuin moralische Dissense lägen nur dann vor, wenn diskutiert werden würde, welche Ziele durch die Instituierung einer Norm kollektiv erreicht werden sollen. Wir hätten es somit mit einem werthaften Urteil zu tun. 7 Obwohl Informationen mit Blick auf werthafte Urteile nur bedingt Wirkung auf indi-
Zur Unterscheidung von instrumenteller, prudentieller und werthafter Rationalität vgl. Breitsameter 2010, 12 f. 6 Die instrumentelle Sicht auf Normen bestünde schlicht in der Feststellung ihrer Wirkung, die prudentielle Sicht in der Diskussion, ob wir beispielsweise in einer Gesellschaft leben wollen, in der die Einhaltung von Normen, etwa die Achtung von Eigentum, durch nötigenfalls äußerst harte Sanktionen oder vielleicht doch eher durch die Verbesserung von Lebensbedingungen erreicht werden soll. 7 Von einem individuell-werthaften Urteil würde man sprechen, wenn es um Interaktionen geht, also um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Interaktionen zustande kommen. 5
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Gibt es eine Wahrheit von Normen?
viduelle Kalküle zeigen, weil sie keine Sicherheit darüber geben können, was sein wird, können wir Normen mit Blick auf das, was sein soll, insofern unbedingte Geltung zuschreiben, als an ihnen trotz abweichender individueller Rationalkalküle kollektiv festgehalten werden kann. Wir werden auf dieses Verhältnis noch zurückkommen. Insofern in den bisherigen Überlegungen von der Wahrheit von Überzeugungen die Rede war, wurden Natur- und Handlungsgesetze berührt. Ich will hier die Diskussion überspringen, inwiefern es angemessen ist, von der Wahrheit dessen, was wir als Naturgesetz formulieren, zu sprechen. Auch die Diskussion darüber, was es bedeutet, die Wahrheit von Überzeugungen in Bezug auf Handlungsgesetze zu erörtern, kann in diesem Rahmen nicht geführt werden. Begnügen wir uns deshalb mit der Auskunft, dass wir in beiden Fällen Verlässlichkeit, das heißt verlässliche Erfahrungen, die verlässliche Vorhersagen erlauben, benötigen, um verlässlich handeln zu können. Können jedoch Wünsche und ihr Bezug zu Handlungsgesetzen oder, wie ich synonym formulieren möchte, ihr Bezug zu Normen mit dem Begriff der Wahrheit angemessen beschrieben werden? Dabei setze ich voraus, dass der Bezug von Überzeugungen auf Normen zur Erklärung der Wirkung von Handlungsgesetzen in der Weise, wie ich ihn kurz zu erläutern versuchte, sinnvoll mit dem Begriff der Wahrheit verknüpft werden kann. Nach meinem Dafürhalten kennt freilich der Bezug von Wünschen auf Normen zur Rechtfertigung der Wirkung von Handlungsgesetzen keine Kategorie, die dem Wahrheitskriterium entspräche. Ich will versuchen, diese Aussage zu begründen, indem ich zwei Einwände formuliere.
3.
Zwei Einwände
Ein erster Einwand könnte, zunächst erneut mit Blick auf Überzeugungen, Bedingungen diskutieren, unter denen eine Beschreibung der Wirklichkeit als wahr gelten kann. Es liegt nahe, neben der Beachtung empirischer Daten Konsistenz und Kohärenz unter diese Bedingungen zu zählen. Konsistent sind Überzeugungen dann, wenn die Sätze, durch die sie zum Ausdruck kommen, gleichzeitig wahr sein können. Wenn man begrifflich so vorgehen will, ist mit der Kohärenz von Überzeugungen gemeint, dass sie unter sonst gleichen Umständen über Zeitdifferenzen hinweg wahr bleiben. Sie sind möglicherweise dann nicht mehr wahr, wenn sich relevante Umstände 243 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Christof Breitsameter
verändert haben. 8 Dies gilt zunächst für die intrasubjektive Rationalität. Für die intersubjektive Rationalität kann von Konsistenz und Kohärenz von Überzeugungen sinnvoll nur mit Blick auf ihre jeweilige Deutung gesprochen werden. 9 Das heißt, es gilt zu klären, ob die Überzeugungen von Mitgliedern der Gesellschaft konsistent bzw. kohärent sind und woran es liegt bzw. welche Konsequenzen entstehen, wenn dies nicht der Fall ist. Für unsere Belange ist nun zu überlegen, ob auch mit Blick auf Wünsche in sinnvoller Weise von Konsistenz und Kohärenz gesprochen werden kann, was die Verwendung des Wahrheitsbegriffs in Bezug auf den Zusammenhang von Wünschen und Normen stützen könnte. Wünsche verhalten sich, könnte man sagen, für ein Individuum dann zueinander konsistent, wenn sie zugleich realisiert werden können, sich also nicht gegenseitig stören, und sie sind kohärent, wenn sie über Zeitdifferenzen hinweg bestehen bleiben. Für die intrasubjektive Rationalität sind Konsistenz und Kohärenz von Wünschen prudentiell relevant. Wo sich zwei Wünsche nicht gleichzeitig realisieren lassen, muss eine Präferenz für einen Wunsch ausgebildet werden (oder man verzichtet auf die Realisierung beider Wünsche), und zwar anhand von Kriterien. Solchermaßen evaluierte Wünsche nenne ich Motive. Hier entscheidet sich ein Individuum für oder gegen die Realisierung eines Wunsches. Nimmt man die Zeitdimension hinzu, entscheidet sich ein Individuum (implizit oder explizit) für oder gegen die Revision einer solchen Entscheidung. Bleibt ein Wunsch über Zeitdifferenzen gleich, kann auch von einem Interesse gesprochen werden. Man kann in der Inkonsistenz bzw. Inkohärenz von Wünschen eine nonkognitive Einstellung gegenüber möglichen Handlungen identifizieren. Entscheidend ist jedoch der evaluative Umgang mit Wünschen durch die Herausbildung von Motiven, sodass in dieser kognitiven Einstellung Inkonsistenzen bzw. Inkohärenzen intrasubjektiv gerade ausgeschlossen werden sollen (worauf ein Individuum natürlich nicht verpflichtet ist). Kann nun in einer intersubjektiven Hinsicht sinnvoll von einer Konsistenz bzw. Kohärenz von Wünschen Überzeugungen müssen selbstverständlich auch dann revidiert werden, wenn sie auf einem Irrtum beruhen. 9 Damit soll natürlich nicht behauptet werden, dass das individuelle Urteil deutungsund damit irrtumsfrei sei. Doch spielt sich die intrasubjektive Deutung immer im Raum intersubjektiver Deutung ab, auch der Selbstzweifel bezüglich der Richtigkeit eines Urteils stellt einen Verständigungsprozess dar. 8
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gesprochen werden? Es ist leicht zu sehen, dass auch die Wünsche unterschiedlicher Akteure Inkonsistenzen aufweisen können, nämlich dann, wenn sie sich gar nicht oder nicht gleichzeitig realisieren lassen (möglicherweise können sie nacheinander realisiert werden, wobei zu überlegen wäre, welchem Wunsch in der zeitlichen Abfolge ein Vorrang zukommen soll und wie dem zurückgestellten Wunsch dauerhafte Geltung verliehen werden kann). Eine Inkohärenz von Wünschen unterschiedlicher Akteure liegt dann vor, wenn die Verwirklichung von Wünschen auf Dauer verhindert wird. Werden die Wünsche unterschiedlicher Akteure in eine konsistente und kohärente Ordnung gebracht, das heißt entsprechende Motive ausgebildet, kann man bei den Akteuren wiederum von kognitiven Einstellungen sprechen. Wären durch Normen Konsistenz und Kohärenz von Wünschen unterschiedlicher Akteure erreicht, könnte die Position eines ethischen oder normativen Relativismus für überflüssig erklärt werden. Das gilt auch für den Fall, dass es nicht gelingt, den gewünschten kollektiven Zustand herzustellen, würde der ethische bzw. normative Relativismus doch keine Mühe aufwenden, für die Konsistenz bzw. Kohärenz von Wünschen unterschiedlicher Akteure zu sorgen, selbst wenn das wünschenswert wäre. Solange sich die Wünsche unterschiedlicher Akteure (das können Individuen oder auch Kollektive sein) nicht berühren, bedürfen sie einer solchen Ordnung selbstverständlich nicht. Hier werden moralische Dissense lediglich als Konflikte zwischen nonkognitiven Einstellungen beschrieben. Ethisch gehaltvoll ist es jedoch, Konsense aufzuzeigen, die Wünsche sozial und zeitlich in produktiver Weise aufeinander beziehen, also auf kognitive Weise entsprechende Motive verlässlich bereitstellen. Es ist nicht auszuschließen, dass es unauflösbare moralische Konflikte gibt. 10 Es ist freilich das Geschäft der Ethik gerade darin zu sehen, diese Vermutung zu widerlegen. Die Tatsache, dass moralische Uneinigkeiten als problematischer angesehen werden als etwa ästhetische Dissense (die deshalb unlösbar sein dürfen), deutet ja darauf hin, dass bei moralischen Dissensen mehr auf dem Spiel steht als bei abweichenden Geschmacksurteilen. Genau deshalb ist allerdings auch zu erwarten, dass es erstrebenswert ist, Konsense durch die Instituierung von Normen herzustellen.
Wobei hier vorausgesetzt wird, dass bezüglich der relevanten nicht-moralischen Tatsachen Einigkeit besteht und keine logischen Fehler zu konstatieren sind.
10
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Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Wie ist das Verhältnis von der Wahrheit einer Überzeugung zur Wirklichkeit zu bestimmen? Nimmt man an, dass wissenschaftliche Modelle (um den Fall besonders sorgfältig formulierter Überzeugungen zu diskutieren) die Wirklichkeit zwar nicht abbilden, aber doch beschreiben sollen, sollte ihr Wert nach ihrer Leistungsfähigkeit bemessen werden. Diese Leistungsfähigkeit erschließt sich nicht oder zumindest nicht vollständig erfahrungsunabhängig. Natürlich liegt das Defizit, dass eine Theorie die Wirklichkeit nicht richtig beschreibt, an der Theorie, nicht an der Wirklichkeit. Das Defizit selbst kann allerdings nur im Kontakt mit der Empirie festgestellt werden. Behoben wird das Defizit, indem man kognitiv reagiert, das heißt, indem die Theorie entsprechend revidiert wird. Der Wert eines wissenschaftlichen Modells bemisst sich dann daran, inwiefern es in der Lage ist, Beobachtungen zu organisieren und zu verstehen. Ein solches Modell wird nicht einfach als wahr oder falsch bezeichnet werden können, es vermag im Vergleich zu alternativen Modellen jedoch mehr oder weniger gut, Beobachtungen zu organisieren bzw. zu verstehen und damit Überzeugungen zu generieren. Der Begriff der Wahrheit dient dann nicht dazu, Modelle, sondern Beobachtungen bzw. Überzeugungen, die auf der Grundlage dieser Modelle angestellt bzw. formuliert werden, an der Wirklichkeit zu messen und auf diese Weise zu bewerten. Dieser Prozess ist prinzipiell unabschließbar. Denn so wie die Wahrheit einer Überzeugung nicht unabhängig von empirischen Daten bestimmt werden kann (wobei nie abschließend geklärt zu werden vermag, ob diese richtig oder vollständig erfasst sind), also an entdeckbaren Zusammenhängen gemessen werden muss, so kann sie auch nicht von Verständigungsprozessen abgekoppelt werden: Was wir mit einem Begriff bezeichnen (und in einer Überzeugung begrifflich zum Ausdruck bringen), ist auch abhängig davon, was wir mit einem Begriff bezeichnen. Was mit einer Bezeichnung erfasst werden soll, steht nicht ein für alle Mal fest und kann von Ort zu Ort wie von Zeit zu Zeit verschieden ausfallen, weil die Verwendung von Begriffen an je neuen Fällen, also wiederum im Kontakt mit der Empirie, aktualisiert werden muss und damit je neu zu verhandeln ist. 11 Auf diese Weise gewinnt die Wahrheit in Bezug auf Überzeugungen eine So war man durch die Entdeckung bestimmter Merkmale gezwungen, Delfine nicht mehr unter die Kategorie der Fische, sondern unter die Kategorie der Säugetiere zu subsumieren.
11
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konsensuelle Dimension und damit einen relativen Charakter. Man könnte auch sagen, eine Überzeugung sei dann und so lange gerechtfertigt, wenn bzw. wie sie sich (angesichts bekannter empirischer Daten) gegenüber anderen Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft behaupten kann. Es versteht sich von selbst, dass auch Überzeugungen abhängig von Motiven, also Präferenzen und Interessen, sind. Doch gilt es idealerweise, solche Verzerrungen zu überwinden – im Namen der Wahrheit. Es wäre nun falsch zu behaupten, eine Überzeugung, über die Konsens besteht, sei einfachhin wahr. Eine solche Behauptung wäre Ausdruck eines ›kollektiven Voluntarismus‹. 12 Eine Gemeinschaft könnte nach diesem Verständnis konsensuell beschließen, was wahr und was falsch ist. Das ist nicht deshalb nicht richtig, weil es eine feststehende, immer und überall gültige Wahrheit von Überzeugungen gibt, sondern weil die Wahrheit einer Überzeugung nie abschließend festgestellt, nur für einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit festgehalten werden kann, durchaus mit Konsequenzen für Raum und Zeit, sodass sich eine Überzeugung faktisch durchsetzt und durchhält. Trotzdem muss eine jede Überzeugung damit rechnen, revidiert zu werden. Auch eine Gemeinschaft als Ganze kann sich irren. Denn was eine Gemeinschaft als richtig akzeptiert, kann jederzeit bestritten werden – etwa von einer anderen Gemeinschaft oder von derselben Gemeinschaft zu einem späteren Zeitpunkt. Es gibt jedoch keinen gesellschaftsunabhängigen Standpunkt, der über Wahrheit oder Irrtum einer Überzeugung entscheiden könnte. Wie sieht es nun mit der Wahrheit von Wünschen aus? Normen können nach dem Gesagten als Instrumente betrachtet werden, um ›wahre Wünsche‹ zu produzieren, also solche Wünsche, die zusammen mit anderen entsprechend gestalteten Wünschen oder besser dann: Motiven wahr gemacht werden können. 13 Normen wären dann, genauer gesagt, jene Bedingungen, unter denen Wünsche wahr gemacht werden können. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass die Etablierung einer Norm nicht von ihrer Anwendung abgekoppelt Martin Kusch schreibt dazu: »Treating truth as consensual belief might also lead one to accept a mistaken form of ›collective voluntarism‹ : as if a group could collectively make something true by willing it to be true« (Kusch 2002, 214). 13 ›Zusammen mit anderen Wünschen‹ kann einerseits bedeuten, dass die Realisierung eines Wunsches nicht durch andere Wünsche behindert wird, andererseits, dass die Realisierung eines Wunsches nur mithilfe anderer Wünsche erreicht werden kann. 12
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werden kann. Eine Norm zu etablieren, bedeutet zugleich, zu bestimmen, was diese Norm ihrem Inhalt nach bedeutet, was es also heißt, sie zu befolgen. Es muss also ersichtlich werden, was unter welchen Umständen dieser Norm gemäß getan werden soll. Wird eine Norm angewendet, so urteilen wir (Handelnde wie Nichthandelnde), ob und wie eine Handlung sich zu dieser Norm verhält, ob sie unter gegebenen Umständen die Norm beachtet, missachtet oder gar nicht unter die Norm fällt. Die Kontur der Norm wird durch ihre Anwendung geschärft, vielleicht mit Rückwirkungen auf die Norm, die – implizit oder explizit – neu justiert werden muss, um Ausnahmefälle zu bestimmen. Wenn man so will, wird die Norm durch die Anwendung immer weiter inhaltlich angereichert, ohne je eine endgültige Form finden zu können (vgl. Kusch 2002, 178). Insofern gilt das von der Wahrheit von Überzeugungen Gesagte analog: Sollen Wünsche wahr gemacht werden können, sind konsensuell entsprechende Bedingungen herzustellen. Urteile über Handlungen entlang von etablierten Normen erheben einen Anspruch, der unabhängig ist vom Zweck, der mit der entsprechenden Handlung erreicht werden soll. Wenn ein Akteur aufgrund einer Norm ein Motiv hat, in einer bestimmten Weise zu handeln oder auch nicht zu handeln, obwohl er, gäbe es diese Norm nicht, diesen Grund nicht hätte, dann ist die Geltung dieser Norm von auf Handlungen gerichteten Wünschen oder besser: Motiven unabhängig, insofern es hier um die Befolgung der Norm geht. Abhängig ist die Geltung der Norm von auf Normen gerichteten Wünschen bzw. Motiven insofern, als es dabei um die Etablierung dieser Norm geht. In dieser Hinsicht können moralische Urteile auch ohne die Existenz irreduzibel normativer Tatsachen einen objektiven Gegenhalt zu subjektiven Kalkülen bieten, weil Gründe für Akteure existieren, die unabhängig von ihren auf Handlungen gerichteten Wünschen sind. Es sind somit Gründe, die normativ weder im internalistischen noch im externalistischen Sinn wirken. Immer können Gründe, die sich auf eine Handlung richten, natürlich auch geteilte Gründe sein, wenn die Handlung durch mehrere Akteure ausgeführt werden soll. Während für deskriptive Modelle gilt: sie können über die Beobachtungen, die sie produzieren, an die Wirklichkeit herangetragen und an ihr getestet werden, gilt dies für präskriptive Modelle nicht: Sie können keinem solchen empirischen Test unterworfen werden. Was für Überzeugungen gilt, dass Konsistenz wie Kohärenz eine Art 248 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Vorbildcharakter entfalten, kann mit Blick auf Wünsche nicht gesagt werden: Es kann rational sein, das Motiv auszubilden, von der Unterstützung eines anderen Motivs zu profitieren, ohne selbst einen entsprechenden Beitrag leisten zu wollen. Es lässt sich also kein wirksamer konsensueller Gegenhalt zur Empirie von Wünschen konstruieren. Dies gibt für mich auch den Grund dafür ab, in Bezug auf Normen auf den Begriff der Wahrheit zu verzichten: Sowohl die Befolgung als auch die Nichtbefolgung von kollektiv etablierten Normen kann individuell rational sein (so gesehen, könnte man eine Norm, die der Durchsetzung der eigenen Wünsche dient, als wahr bezeichnen), auch wenn kollektiv gilt, dass es gerade Normen sind, die bewirken, dass wir Wünsche wahr machen können. Wir können natürlich, wie schon erwähnt, überprüfen, ob Normen befolgt oder nicht befolgt werden. Doch gewinnen wir daraus Instrumente, die uns dazu berechtigen, Überzeugungen für wahr zu halten, und zwar nicht in Bezug auf Erfolg oder Misserfolg einer Handlung, sondern auf Erfolg oder Misserfolg einer Norm, und wir gewinnen daraus unter Umständen wiederum Instrumente, mit denen wir Wünsche wahr machen können. Wir könnten etwa zu erklären versuchen, warum Normen nicht befolgt werden, um daraus Instrumente zu generieren, die die Normbefolgung wahrscheinlicher werden lassen. Auch hier sind konsensuelle Prozesse mit Blick auf die Etablierung von Normen vorstellbar. Denkbar wäre höchstens, dass Normen Wirklichkeiten in der Weise beschreiben, dass sie ausnahmslos von allen Akteuren, denen sie gelten sollen, befolgt werden. Wir hätten es dann jedoch kaum mit einer Norm zu tun. Und auch dann wäre nichts über die Berechtigung der Norm selbst gesagt. Ein zweiter Einwand könnte darauf verweisen, dass Normen nicht mit Wünschen, sondern mit Überzeugungen zu tun haben oder wie Überzeugungen (von dem, was zu tun ist) behandelt werden können. Normen wären dann nicht Ergebnis einer Setzung, um Wünsche (verlässlicher) realisieren zu können; Normen wären vielmehr Tatsachen, die ich entdecken kann. Darunter könnten auch göttliche Gebote oder von Natur aus bestehende und gültige Normen zu fassen sein. Wenn ich Normen als entdeckbare Zusammenhänge konzipiere, die im Prinzip Tatsachenaussagen entsprechen, kann ich sie auch als wahrheitsfähig behandeln. Moralische Urteile würden dann Propositionen zum Ausdruck bringen, die wahr oder falsch sein können. Wir könnten dann nicht nur feststellen, es existiere eine bestimmte Norm; neben ihrer Existenz wäre vor allem auch ihre Geltungs- oder 249 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Verpflichtungskraft unstrittig und in diesem Sinn objektiv. Dabei zeigt sich zum einen die Schwierigkeit, ontologisch zu bestimmen, was moralische Tatsachen sein sollen, wenn es sich dabei nicht um subjektive Einstellungen, die eine motivierende Kraft auszubilden vermögen, handeln soll, und zum anderen die Schwierigkeit, epistemologisch zu bestimmen, wie eine ›wahre Erkenntnis‹ moralischer Tatsachen von einer, sit venia verbo, ›falschen Erkenntnis‹ unterschieden werden kann. (1) Eine moralische Tatsache könnte in einer nicht-inferentiellen Weise gerechtfertigt werden, etwa durch den Verweis auf eine Intuition, gegen die man argumentativ nicht ankommen kann. Wir hätten es dann womöglich mit einem intuitionistischen Fundamentalismus zu tun. Die Behauptung der individuellen Evidenz moralischer Tatsachen muss von Momenten der Reflexion allerdings nicht abgeschnitten sein. Eine Intuition kann Resultat von Lern- bzw. Reflexionsprozessen sein. Es bietet sich deshalb an, eine moralische Intuition als prima-facie-Einsicht zu behandeln, die kollektiv befragt und gegebenenfalls kritisiert und modifiziert werden kann. Idealerweise würde eine moralische Intuition von allen moralischen Akteuren geteilt werden. (2) Wir hätten es dann allerdings mit einer inferentiellen Weise, eine Intuition zu rechtfertigen, zu tun. Damit würde man die Plausibilität einer nicht-inferentiellen Verifikation moralischer Tatsachen bezweifeln. Wo eine inferentielle Überprüfung moralischer Tatsachen gefordert werden würde, käme man um logische Standards sowie um empirische Annahmen nicht herum, und wir stünden wieder vor dem bereits erwähnten Problem. Wo die Verifizierung moralischer Tatsachen inferentiell verläuft, haben wir es mit prinzipiell unabschließbaren Prozessen der Anerkennung in sozialer und der Bewährung in zeitlicher Hinsicht zu tun. Eine Möglichkeit, die Existenz und Erkennbarkeit von moralischen Tatsachen zu plausibilisieren, bestünde darin, zu beobachten, ob eine Norm für wahr gehalten wird, zunächst unabhängig davon, ob die Norm auch befolgt wird. Wir hätten es dann erneut mit einer – grundsätzlich revidierbaren – konsensuellen Bestimmung von Wahrheit zu tun, die nicht unabhängig von empirischen Beobachtungen sein kann. Zumindest der Bezug auf die Natur des Menschen müsste darauf Rücksicht nehmen, dass sich diese Natur wandeln kann. Bezieht man sich auf den Willen Gottes, könnte man auf unwandelbare Gebote verweisen, müsste dann jedoch in Kauf nehmen, dass, obgleich sich die Natur des Menschen wandelt (oder weniger basal: die Lebensverhältnisse des Menschen sich geschichtlich wan250 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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deln), der Wille Gottes in Bezug auf das, was der Mensch zu tun hat, unwandelbar bleibt – was eine absurde Vorstellung ist, nähme der göttliche Wille in diesem Fall doch keine Rücksicht auf wandelbare Verhältnisse. Man könnte höchstens auf einen Kernbestand unwandelbarer Verhältnisse verweisen und auf basalste unwandelbare Normen schließen, die von wandelbaren Normen, welche auf wandelbare Verhältnisse reagieren, unterschieden werden können. Es ist jedoch zweifelhaft, wie das ohne eine dezisionistische Wahl der relevanten Merkmale gelingen soll. Zudem könnte man dann auch nur einen kleinen Bestand jener Normen, die unser soziales Leben regeln, auf diese Weise begründen. Nehmen wir an, wir könnten sowohl die ontologische wie auch die epistemologische Hürde nehmen und uns darauf verständigen, dass wir die Überzeugung, eine Norm sei wahr, teilen. In diesem Fall hätten wir noch kein Motiv, diese Norm auch zu befolgen. Normen können zwar unabhängig von Wünschen bestehen, sie können sich jedoch, wenn sie befolgt werden sollen, nicht einfach von Wünschen abkoppeln. Da Motive auf Wünschen gründen, ist zu diskutieren, inwiefern Wünsche wahrheitsfähig sind. Nach dem bisher Gesagten wäre also noch einmal zu überlegen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um Wünsche wahr machen zu können. Diejenige Position, die von der Existenz moralischer Tatsachen ausgeht, müsste zeigen, dass Überzeugungen unabhängig von Wünschen motivieren können. Doch ist das der Fall? Überzeugungen können möglicherweise Wünsche wecken oder Motive (verstanden als rationale Bewertung von Wünschen) verändern. Sie können die motivierende Kraft von Wünschen allerdings nicht ersetzen. Wenn ich die Überzeugung habe, dass ein ungesunder Lebensstil meine Lebenserwartung deutlich verkürzen wird, kann das in mir den Wunsch wecken, gesünder zu leben. 14 Ob dieser Wunsch tatsächlich zu einem Motiv wird, das sich in einer veränderten Praxis bemerkbar macht, bleibt offen. Klassischerweise würde man die fehlende Motivation trotz eines bestehenden Wunsches als Willensschwäche bezeichnen. Genauso ist es freilich denkbar, dass ich kein Motiv habe, einer Norm zu folgen, sofern die Normnichtbefolgung für mich vorteilhaft ist bzw. ich befürchten muss, dadurch, dass ich die Norm beachte, in Nachteil gegenüber denjeniIch stütze damit die Position, nach der nicht nur Wünsche, sondern auch Überzeugungen Wünsche motivieren können. Vgl. zu dieser Diskussion beispielsweise Nagel 1970, 29.
14
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gen Akteuren zu geraten, die die Norm missachten und das zu ihrem Vorteil nutzen. Hier wäre nicht auf einen Motivations-, sondern auf einen Normdefekt zuzurechnen: Der Norm fehlen Instrumente zu ihrer allgemeinen Durchsetzung. Beide Defekte wehren die Strategie ab, die Dichotomie zwischen Überzeugungen und Wünschen mit dem Hinweis kollabieren zu lassen, auch Überzeugungen könnten zu Handlungen motivieren (vgl. Altham 1986, 275–288). 15 Bilanzierend könnte man deshalb sagen: Was die Wahrheit von Überzeugungen betrifft, so scheint dieser Begriff angemessen angesichts eines dialektischen Verhältnisses von Empirie und Konsens; sofern in Bezug auf Normen zwar sinnvollerweise von einem Konsens-Test, im Fall des Auseinandertretens von individueller und dividueller Rationalität aber nicht von einem Empirie-Test gesprochen werden kann, soll der Begriff der Wahrheit in Bezug auf Normen aufgegeben werden. Auf welche Realität sollte man denn verweisen, um einen Akteur, der annimmt, ein Versprechen brechen zu dürfen, wann immer es ihm passt, davon zu überzeugen, dass es gilt, Versprechen, die man gibt, auch einzuhalten? Man könnte höchstens auf den individuellen Vorteil verweisen, den die Befolgung einer solchen Maxime mit sich bringt, doch würde man zwischen kurz- und langfristigen Vor- bzw. Nachteilen unterscheiden müssen und käme vermutlich auf eine gemischte Bilanz, was das Halten und Brechen eines Versprechens betrifft, wenn sich solche Vor- und Nachteile retrospektiv überhaupt empirisch bilanzieren lassen. Nehmen wir an, es ließe sich ein solcher individueller Vorteil im Befolgen der Maxime, ein Versprechen zwar zu geben, nicht aber zu halten, empirisch aufweisen. Die Praxis, ein gegebenes Versprechen auch zu halten, ist dennoch kollektiv vorteilhaft, weil dadurch Interaktionen zustande kommen, die ohne die Institution des Versprechens nicht (oder nur zu höheren institutionellen Kosten) zustande kämen. Doch bliebe damit die Dichotomie zwischen individueller und dividueller Rationalität bestehen, weshalb es ein Argument der praktischen Vernunft ist, die Forderung, ein Versprechen auch zu halten, gegebenenfalls so zu instituieren, dass die allseitige Befolgung dieser Forderung durch eine
Man wird kaum bestreiten können, dass es solche Fälle gibt, sodass die Unterscheidung von Überzeugung und Wunsch hinfällig wird. Genauso gibt es jedoch die beschriebenen Gegenfälle, in denen die Unterscheidung sinnvoll ist. Die motivierende Kraft von sogenannten »besires« ist demnach kontingent, nicht notwendig. Zu dieser Begriffsschöpfung vgl. Altham 1986, 275–288.
15
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Gibt es eine Wahrheit von Normen?
Norm, etwa einen Vertrag, sichergestellt wird. Die Dichotomie von individueller und dividueller Rationalität empirisch zu belegen, würde bedeuten, die Befolgung von Normen zu untersuchen und gegebenenfalls zu überlegen, welche Normen, die dann entsprechende Anreize formulieren, geeignet sein könnten, die individuelle an die dividuelle Rationalität heranzuführen. Mit dieser Konzeption werden die Etablierung und die Anwendung einer Norm mit Blick auf ihre Verpflichtungskraft so eng aneinander gerückt, dass ihre ›unmoralische Anwendung‹, die den moralisch Handelnden schlechterstellt, aus ethischen Gründen zu einer Veränderung der Norm führen muss. Kant würde von moralischer Notwendigkeit, die durch das Sittengesetz repräsentiert wird, sprechen. Auf diese Weise wird der Sinn der Norm, nämlich die gegenseitige Besserstellung, erreicht.
4.
Begriffsalternativen
Ich will nach den bisher angestellten Überlegungen den Begriff der Wahrheit auf das beschränken, was in normativen (sowie natürlich auch in nicht-normativen) Zusammenhängen deskriptiv genannt werden kann, also auf die genannten Überzeugungen in Bezug auf Handlungen bzw. in Bezug auf Normen; was präskriptiv funktioniert, soll mit dem Begriff der Richtigkeit oder Angemessenheit verhandelt werden. Im Folgenden will ich drei Begriffe diskutieren, die den Begriff der Richtigkeit oder Angemessenheit von Normen möglicherweise deutlicher werden lassen. Wenn man sich also darauf einlässt, auf den Begriff der Wahrheit in Bezug auf die präskriptive Seite von Normen zu verzichten, kann man drei begriffliche Alternativen testen: Man könnte behaupten, Normen seien absolut, universal und unveränderlich.
4.1. Absolute Norm? Ich beginne mit einem Modell, das einer Norm oder mehreren Normen absolute Geltung attestiert, und versuche, einige Implikationen zu diskutieren. Ein solches Modell kann (muss jedoch nicht) monistisch angelegt sein. Grundsätzlich ist es denkbar, dass eine solche Norm eher allgemein – ich spreche dann von einem Prinzip, oder eher konkret, ich spreche dann von einer Regel – ausfällt. Ein monistisches 253 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Christof Breitsameter
Modell kommt mit einem einzigen Prinzip aus. Verfährt ein normatives Modell pluralistisch, ist nicht von einem, sondern von mehreren Prinzipien bzw. Regeln auszugehen, die allerdings in eine feste hierarchische Ordnung gebracht sind bzw. sich in einer festgelegten Weise voneinander ableiten lassen. Wie auch immer, Normen sind hier rein theoretisch rechtfertigbar, man muss sie nur noch an die moralisch relevante Empirie herangetragen, also praktisch anwenden. Die Anwendung verändert die Normen nicht, weil es keine moralisch relevanten Eigenschaften, die etwa Grund für eine Ausnahme geben könnten, zu entdecken gibt. 16 Die Norm bringt, mit anderen Worten, alle Informationen für ihre Anwendung selbst mit. Die Geltung der Norm ist deshalb nicht relativ zur Wirklichkeit, auf die sie angewendet wird. Fälle werden unter allgemeine Prinzipien bzw. konkrete Regeln subsumiert. Denkbar ist auch die Existenz von mehreren absolut geltenden Normen oder Normsystemen, die nicht in eine feste Ordnung gebracht oder in einer festgelegten Weise voneinander ableitbar sind. Paul Boghossian spricht in diesem Fall von einem »absoluten Relativismus« (Boghossian 2011, 63). Fasst man einen solchen absoluten Relativismus als Norm auf, bedeutet es, dass man sich an verschiedenen Orten verschieden verhalten soll (und darf), also relativ beispielsweise zur jeweiligen Kultur. Die Formel selbst gilt jedoch absolut. Eine relativ verfahrende oder, wenn man begrifflich so formulieren will, relativistische Theorie bringt ihre Normen hingegen nicht in eine feste Ordnung, verzichtet also darauf, ihre Ableitungsbeziehungen festzulegen, und rechtfertigt deren Anwendung nur im Kontakt mit der Empirie, also praktisch: Eben das lässt sie relativ sein. Eine Moraltheorie, die sich in diesem Sinn als relativ versteht, muss die Ableitungsbeziehungen ihrer Normen nur dann reflektieren, wenn diese in Konflikt zueinander geraten. Wenn beispielsweise ein Patient von seinem Arzt getötet werden will, stünden nach einem bekannten ethischen Modell Nicht-Schadens-Prinzip und Wohltuens-Prinzip im Widerspruch, und es muss geklärt werden, wie sich diese Prinzipien zueinander verhalten sollen (vgl. Beauchamp/Childress 2008). Immerhin kann nur eine Ethik, die insofern induktiv verfährt, als für sie die Wahrnehmung konkreter Fälle und ihrer spezifischen MerkSolche Modelle dürften ziemlich selten zu finden sein. Man würde sie etwa für die Ethik eines Aristoteles oder eines Thomas von Aquin nicht in Anspruch nehmen können (auch wenn es entsprechende Interpretationen gibt).
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Gibt es eine Wahrheit von Normen?
male konstitutiv ist, überhaupt auf Konflikte aufmerksam werden, was einer rein deduktiv verfahrenden Ethik verwehrt ist: Eine deduktivistische Ethik kann für jeden Fall die richtige Anwendung zweifelsfrei ableiten. 17 Für sie gibt es einen solchen Konflikt gar nicht. Herrscht nämlich ein Normenmonismus oder eine unzweideutige Regelung der Dominanzverhältnisse zwischen den verschiedenen Normen, ist ein irreduzibler Konflikt zwischen ihnen von vorneherein ausgeschlossen. Eine deduktivistische Ethik würde etwa die Tötung eines Menschen immer und überall als unerlaubt ansehen, geriete jedoch in Schwierigkeiten, wenn das Leben eines Menschen gegen das Leben eines anderen Menschen steht, die Tötung eines der beiden Menschen also – zumindest prima facie – als gerechtfertigt erscheint, etwa im Fall der Notwehr. Liegen jedoch Konflikte zwischen Prinzipien vor, werden diese Konflikte also theoretisch zugelassen, muss ein Prozess der Abwägung erfolgen, und zwar unter Einbeziehung ethisch relevanter Informationen, was genuin ein Akt der praktischen Vernunft ist. So ist die Tötung, um auf das zuvor angeführte Beispiel zurückzukommen, nicht notwendig ein Akt, der einem Patienten Schaden zufügt, sondern kann als Tötung auf Verlangen bei einem autonomiefähigen Patienten einen Akt des Wohltuens darstellen. Man kann argumentieren, dass der Akt des Wohltuens über den Akt der Schädigung gestellt wird, wie das bei anderen medizinischen Eingriffen auch der Fall sein kann. Mit diesen Aussagen allein ist noch nicht geklärt, ob ein solcher Akt auch ethisch gerechtfertigt werden kann. Immerhin lässt sich an diesem Beispiel ablesen, dass die genannten Prinzipien in keinem geregelten hierarchischen Verhältnis der Art stehen, dass dem einen immer und unter allen Umständen Priorität gegenüber dem anderen zukommt. Damit wird eine Moraltheorie, die das Dominanzverhältnis ihrer Normen nicht festlegt, in zweifacher Hinsicht relativistisch. (1) Prinzipien entwickeln potenziell ein Eigenleben gegenüber anderen Prinzipien, was zu Konflikten zwischen den Prinzipien führen kann. Ein Natürlich kann auch eine deduktivistische Ethik auf konkrete Fälle aufmerksam werden, und zwar in dem Sinn, dass sie eine Schuldminderung in Anschlag bringt. Für das moralische Urteil folgt aus dem Kontakt mit der jeweiligen Situation, in der ein Akteur steht, jedoch nichts, das heißt, dieser Kontakt würde nicht zum Ergebnis haben können, dass die Norm in diesem konkreten Fall möglicherweise nicht gilt. Damit wäre auch behauptet, dass eine solche Ethik keine Ausnahmen von einer Regel zulassen kann.
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Christof Breitsameter
moralisches Problem verändert sich somit relativ zu dem Prinzip, das als leitend für die Lösung betrachtet wird. (2) Ein relativistischer Zug zeigt sich auch darin, dass unterschiedliche ethische Theorien, die zu unterschiedlichen materialen Deutungen der einzelnen Prinzipien anleiten, metaethisch, also durch die Anerkennung der Unabhängigkeit der Prinzipien, als gleichberechtigt behandelt werden. Es entsteht also einmal ein ethisches und einmal ein metaethisches Problem (vgl. Quante/Vieth 2000, 12 f.). Folgerichtig ist im Rahmen unserer Überlegungen nur eine deduktivistisch verfahrende Moraltheorie nichtrelativistisch. 18 Bilanzieren lässt sich jedenfalls, dass eine deduktivistisch sich verstehende Moraltheorie absolut, also ohne jede Bezugnahme auf Erfahrung, gerechtfertigt werden kann. Eine solche Theorie ist nicht in der Lage, Konflikte, wie sie in unserer Praxis offenbar vorkommen, als solche wahrzunehmen und zu behandeln. Es ist deshalb auch nicht zu sehen, wie geklärt werden soll, unter welchen Bedingungen sich eine solche Theorie als falsch oder unbrauchbar herausstellen kann. Konzeptionell soll vermieden werden, die praktische Vernunft nach dem Modell theoretischer Vernunft deduktivistisch zu verkürzen. Ich werde noch zu zeigen versuchen, dass das im Grunde gar nicht möglich ist, weil jede Norm angewendet werden muss und jede Anwendung eine Deutung und damit eine Veränderung der Norm darstellt. Weder das aristotelische noch das thomasische Denken entspricht diesem verkürzten Theorietyp, weshalb es auch relativ verfahrende bzw. relativistische Naturrechtsmodelle gibt. Eine deduktivistische Verkürzung kann nur vermieden werden, »wenn einerseits die Eigenständigkeit evaluativer Aspekte von konkreten Situationen bewahrt und andererseits der normkonstituierende Beitrag (mithin ein evaluativer Primat) der Wahrnehmung gewährleistet wird« (Quante/Vieth 2000, 27).
4.2. Universale Norm? Ich gehe über zum Merkmal der Universalität. Ist eine Norm unabhängig von Erfahrungsmomenten gültig, gilt sie immer und überDies kann auch für einen starken Kasuismus gelten, der einen extremen Partikularismus repräsentiert. Hierbei wird der normative Zugriff auf einzelne Fälle zumindest in der intuitiven Situationswahrnehmung als invariant aufgefasst.
18
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Gibt es eine Wahrheit von Normen?
all. Sie verändert sich nicht mit der Situation ihrer Anwendung. Deshalb würde ich sagen, dass eine Moraltheorie, die von absolut gültigen Normen ausgeht, auch eine Moraltheorie sein muss, die von universalen Normen ausgeht, was umgekehrt nicht behauptet werden kann: Man kann sich Prinzipien denken, die nicht absolut, jedoch universal gelten, freilich nicht in notwendiger, sondern kontingenter Weise. Eine Theorie, die Normen als absolut und daher universal versteht, bringt die Auswahl der Merkmale, die in einer konkreten Situation für das moralische Urteil relevant sind, schon mit, sie gewinnt diese Merkmale also nicht in der Situation selbst. Das muss jedoch, wie gesagt, nicht so sein; es können auch Prinzipien gedacht werden, die offen lassen, welche Eigenschaften in einer konkreten Situation für das moralische Urteil relevant sind, sodass sie durch die praktische Vernunft erst entdeckt werden. Dies kann der Fall sein bei Prinzipien, deren Geltung zwar als universal, nicht aber als absolut statuiert wird. Solche Prinzipien können durch Regeln so spezifiziert werden, dass eine Handlungsanweisung entsteht, und die Spezifikation erfolgt durch die Aufnahme von Eigenschaften, die für ein moralisches Urteil relevant sind (auch der umgekehrte Weg ist denkbar, dass von spezifischen evaluativen Einstellungen ausgehend universale Prinzipien formuliert werden). Ich würde jedenfalls einer Theorie zuneigen, die solche Eigenschaften nicht vorregelt, denn es können ja immer beachtenswerte Eigenschaften auftreten, die beispielsweise in ähnlichen Situationen nicht berücksichtigt wurden, von denen jedoch plausibel gezeigt werden kann, dass sie in das moralische Urteil einfließen sollten (im thomasischen Denken werden die Umstände einer Handlung stark gemacht, und man kann gut begründet die interpretatorische Auffassung vertreten, dass selbst noch bei per se schlechten Handlungen die Umstände Ausnahmen in Bezug auf die Befolgung von Normen hervorbringen können). Hier wäre eine weitere Schwäche des deduktivistisch verfahrenden Modells zu sehen, das vorregeln muss, was beachtenswert ist und was nicht, und damit in der Gefahr steht, Beachtenswertes zu übersehen, also einer Situation nicht gerecht zu werden. Wie wir sahen, darf ein Prinzip nur zugunsten anderer Prinzipien eingeschränkt oder überstimmt werden, wenn andere Prinzipien dies fordern, wenn es etwa gilt, das Autonomieprinzip einzuschränken oder zu überstimmen, weil es das Wohltuens- oder Nicht-Schadens-Prinzip fordert. Für sich genommen, sind Prinzipien bewährte und anerkannte Gründe, mittels derer ein Akteur sein Han257 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Christof Breitsameter
deln – zumindest prima facie – als ethisch angemessen ausweisen kann. Das mag so weit führen, dass diese Gründe faktisch universal anerkannt werden. Prinzipien weisen freilich insofern auch einen partikularen Sinn auf, als sie uns darin unterstützen oder dazu ermutigen, die relevanten Merkmale einer ethisch zu beurteilenden Situation erst zu entdecken. Denn in diesem Modell werden, wie bereits betont, die ethisch relevanten Merkmale einer Situation durch Prinzipien nicht im Vorhinein festgelegt. Jede Eigenschaft kann in einer konkreten Situation ethisch relevant sein. Das ist partikularistisch gedacht und erlaubt gleichzeitig, eine universalistische Tendenz zu situieren. Nehmen wir an, zwei Situationen seien hinsichtlich aller ethisch relevanten Eigenschaften identisch. Sie sind in ethischer Hinsicht gleich zu bewerten. Weil Situationen auch in Bezug auf die ethisch relevanten Eigenschaften kaum strikt identisch sind (zumindest kann dies ohne die Wahrnehmung der konkreten Situation nicht einfach unterstellt werden), lässt sich immerhin von Vergleichbarkeit oder Ähnlichkeit sprechen – mit einer universalisierenden Ausstrahlung. Prinzipien oder Regeln werden also für Situationen formuliert, die für vergleichbare bzw. ähnliche Situationen handlungsleitend sind.
4.3. Unveränderliche Norm? Prinzipien, deren Geltung absolut ist, beanspruchen, eindeutige Handlungsanweisungen zu geben. Man würde solche Prinzipien daher auch als unveränderlich ansprechen. Doch selbst wenn das Abhängigkeitsverhältnis verschiedener Prinzipien vorgeregelt ist, kann es unterschiedliche Deutungen bezüglich der Anwendung eines Prinzips geben, man müsste also von Uneindeutigkeiten sprechen. Es kann im konkreten Fall nie abschließend gesagt werden, ob bzw. wie eine Norm in einem bestimmten Fall Geltung beanspruchen kann. Genauer gesagt, ist, wie schon bemerkt, jede Anwendung auch Deutung einer Norm, und eine Deutung muss insofern uneindeutig sein, als sie nicht vorweggenommen werden kann. Jede Deutung ist wiederum eine Veränderung der Norm selbst. Deshalb kann gelten, dass Normen nicht unwandelbar sein können. Die Uneindeutigkeit von Normen stellt unabweisbar ein relativistisches Moment dar. Werden Normen angewandt, müssen sie auf konkrete Fälle in einem ganz bestimmten Kontext bezogen und deshalb gedeutet wer258 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Gibt es eine Wahrheit von Normen?
den. Weil kein Fall dem anderen exakt gleicht, kann eine frühere Entscheidung nicht unbesehen maßgebend für eine spätere werden. Fällt sie genau so aus, ist dies Resultat der Entscheidung, dass die mehr oder minder deutliche Ähnlichkeit der Fälle Anlass für eine vergleichbare Behandlung gibt. Je nach Kontext ist die Deutung der Norm durch den Akteur oder eine autorisierte Instanz vorzunehmen. Wird die Deutung durch den Akteur selbst vorgenommen, muss eine Instanz vorgesehen werden, die sicherstellen kann, dass die Deutung gesellschaftlich auch akzeptiert wird. Die Ratifizierung durch eine gesellschaftlich autorisierte Instanz kann an der Konsistenz bzw. Kohärenz vergangener Deutungen nicht vorbeisehen. Gleichwohl sorgt das Moment der Inkommensurabilität der Fälle dafür, dass die unabhängige Deutung durch eine autorisierte Instanz unabdingbar ist. So hat die Unvorhersehbarkeit der autorisierten Deutung für die Vorhersehbarkeit des Handelns innerhalb anerkannter Normen zu sorgen. Da zwei Handlungssituationen nie vollkommen identisch sind, kann es zwischen einem alten (entschiedenen) und einem neuen (zu entscheidenden) Fall keine Identität geben. Wir können, wie schon bemerkt, von ähnlichen Fällen sprechen, allerdings gibt es für die Feststellung einer solchen Ähnlichkeit keinen einheitlichen Maßstab, der situationsunabhängig wirkt. Wird Ähnlichkeit behauptet, kann sie auch bestritten werden, indem Merkmale beleuchtet werden, die die Fälle voneinander unterscheiden. Es muss also je und je ein Urteil darüber gefällt werden, ob und inwieweit sich Fälle ähneln oder eben nicht ähneln. Deshalb ist die Rechtfertigung einer Handlung abhängig vom Urteil über die Ähnlichkeit bzw. Vergleichbarkeit von Fällen. In der Praxis können ähnliche Fälle ähnlich oder gleich behandelt werden, sodass sich Muster der Wiedererkennung ausprägen, Muster, die sich über die Zeit freilich so verändern können, dass neue ›typische‹ Fälle aufgenommen werden und alte herausfallen. Im Grunde ist jeder Fall eine Veränderung, doch wirkt sich nicht jede Veränderung so aus, dass das Feld typischer Fälle bzw. ihre praktische Behandlung dadurch variiert wird. Neue Fälle werden an Präzedenzfällen gemessen und bilden zugleich neue Präzedenzfälle. Was es bedeutet, eine Norm anzuwenden, hängt natürlich auch von der Spezifität einer Norm ab. Eine relativ unspezifische Norm ist deutungsoffener als eine relativ spezifische Norm. Der Normsetzer kann für eine Staffelung von Spezifität sorgen, die Deutungsspielräume also klein halten wollen. Trotzdem gibt es auch dann keine 259 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Christof Breitsameter
Normanwendung ohne Normdeutung. Stellen wir uns vor, es gäbe ein absolutes Normanwendungswissen und der allwissende Anwender, er müsste wohl zugleich Normsetzer sein, könnte befragt werden. Doch auch das Normanwendungswissen wäre immer noch ein Wissen um die Anwendung von Normen, es könnte eindeutig nur funktionieren, wenn für jeden Anwendungsfall im Vorhinein eine spezifische Norm zur Verfügung stünde, die Anwendung der Norm also in alle möglichen Fälle zerfiele. Die Norm selbst zerfiele damit.
5.
Bilanz
Ich habe die Position des moralischen Realismus, die behauptet, dass moralische Einsichten Überzeugungen ausbilden, argumentativ abzuweisen versucht. Eine relativ sich verstehende Ethik ist mit folgenden Fragen konfrontiert: Was sind die relevanten evaluativen Aspekte einer Situation, was sind die Prinzipien, die beachtenswert sind, wie verhalten sich diese Prinzipien zueinander, welches Prinzip hat also im Konfliktfall gegenüber welchem Prinzip Vorrang, und schließlich: Wie kann ein Prinzip so spezifiziert werden, dass es in einer bestimmten Situation handlungsleitend wird? Prinzipien können als Ablagerungen bewährter moralischer Urteile verstanden werden, an denen sich das Urteil einer autonomiefähigen Persönlichkeit zu messen hat. Die für das moralische Urteil relevanten evaluativen Aspekte besitzen zumindest insoweit Eigenständigkeit, als sie unabhängig von der Geltung solcher Prinzipien existieren. Ich würde Wünsche als basale evaluative Aspekte einer Handlungssituation ansehen, während Kalküle in der Form von Motiven sich vernünftig-verfügend zu diesem Material verhalten können. Das zeigt sich daran, dass Wünsche ungebeten kommen und gehen, dass wir nicht vernünftig über ihre Existenz verfügen können, eher darüber, ob sie sich in unserer Praxis durchsetzen oder nicht. Insofern wird unseren Wünschen ein Status dergestalt zugesprochen, dass sie – unabhängig von Vernunftleistungen – Bestandteile unserer Welt (der Außen- wie der Innenwelt) sind. Solche basalen evaluativen Eigenschaften entstehen nicht dadurch, dass eine deskriptive Eigenschaft vernünftig beurteilt wird – sie ist einfach da. Es ist deshalb auch nicht sinnvoll, eine solche Eigenschaft universalisieren zu wollen. Selbst wenn alle Akteure die gleichen Wünsche hätten, wäre das
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Gibt es eine Wahrheit von Normen?
kontingent und könnte sich jederzeit ändern. Jedenfalls bestehen evaluative Eigenschaften unabhängig von deskriptiven Eigenschaften. Auch wenn es in unserer Gesellschaft einen weitgehenden Konsens über Prinzipien wie Autonomie, Wohltuen oder Nicht-Schaden gibt, kann eine strikte Allgemeingültigkeit für alle Vernunftwesen nicht begründet werden. »Klar ist, dass ein faktischer Konsens, so er denn besteht, keine philosophische Begründung, geschweige denn eine Rechtfertigung darstellt. Der Rekurs auf weitgehend geteilte und anerkannte soziale Standards bleibt […] in einem bestimmten Sinne relativ: Relativ zur Natur des Menschen, die sicher in gewissem Maße wandelbar ist, und relativ zu den historischen Erfahrungen, die Menschen mit ihren ethischen Vorstellungen machen« (Quante/Vieth 2000, 30).
Deshalb wäre es vielleicht eine allzu simple Schlussfolgerung, wir könnten von der Wahrheit einer Norm sprechen, wenn wir den Wunsch, dass diese Norm allgemein befolgt wird, wahr gemacht haben. Wer einer solchen Konzeption einen Relativismus vorwerfen will, der unterstellt einen in meinen Augen überzogenen Anspruch, der durch eine deduktivistische Konstruktion nur theoretisch, nicht jedoch praktisch eingeholt werden kann. Es spricht somit viel dafür, diesen hypertrophen Begründungsanspruch als unangemessen zurückzuweisen. Wer darauf beharrt, muss jedenfalls mit den hier angesprochenen Schwierigkeiten fertig werden. Der Vorwurf eines Relativismus ist sinnvoll dann, wenn Rechtfertigungsansprüche gänzlich oder weitgehend verschwinden. Verknüpft man die Ethik mit der empirischen Basis menschlichen Entscheidens und Handelns, stellt man sie auf ein Fundament, das ohne Zweifel relativ ist zu sozial divergenten und zeitlich variablen kulturellen Vorgaben. Relevante Faktoren, die dann als kontingent behandelt werden können, sind erstens die faktischen Rahmenbedingungen sowie zweitens die Bewertungen dieser Rahmenbedingungen durch die den zu etablierenden Normen unterworfenen Akteure – was Normen generell den Charakter einer hypothetischen Empfehlung verleiht. Ethisch gesehen, besteht somit ein wichtiges Anliegen in der Wahrnehmung von Partikularität, in der Entdeckung relevanter Merkmale einer Handlungssituation und auch in der Entdeckung von Konflikten aufgrund situativer Besonderheiten, und ebenso ein Anliegen in der Entdeckung von Universalität, wenn es nämlich gilt, Besonderheiten kri261 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Christof Breitsameter
tisch zu befragen und Konflikte zu überwinden. Eher scheint mir von diesen Vorgaben her eine kontextsensitive Ethik erstrebenswert: Eine Ethik muss plausibel machen können, unter welchen Kontextbedingungen eine moralische Norm gilt und unter welchen nicht. Wollte man Normen oder Normsysteme (etwa unterschiedlicher Kulturen) ihrer Richtigkeit oder Angemessenheit nach vergleichen, müsste man sowohl die Rahmenbedingungen (der jeweiligen Kultur) als auch die Wertungen (ihrer Mitglieder) in Anschlag bringen. 19 Möglicherweise kann man von den Wertvorstellungen einer anderen Kultur lernen. Umgekehrt kann man fremden Kulturen Empfehlungen geben, indem man auf Werte aufmerksam macht, die sich in der eigenen Kultur bewährt haben. In Bezug auf die werthaften Einstellungen (von Mitgliedern) anderer Kulturen hat man sich eines endgültigen Urteils allerdings zu enthalten, wollte man dadurch die eigene Überlegenheit begründen, würde man doch die Richtigkeit oder Angemessenheit der eigenen (bzw. die Unrichtigkeit oder Unangemessenheit fremder) Normen bzw. Normsysteme auf der Grundlage der eigenen Werte beurteilen – ein petitiöses Unterfangen! Dies gilt grundsätzlich auch für das Urteil einer Kultur über sich selbst. Stellt eine Gesellschaft oder Gemeinschaft die Frage nach der Richtigkeit oder Angemessenheit ihrer eigenen Normen bzw. ihres eigenen Normsystems, so sollte sie, selbst wenn sie die Rahmenbedingungen als invariabel betrachtet, doch ihre werthaften Einstellungen als variabel ansehen. Sie kann sich, mit anderen Worten, ihrer eigenen werthaften Einstellungen nicht sicher sein, weshalb sie sich auch in Bezug auf sich selbst eines endgültigen Urteils enthalten muss. So gesehen ›hat‹ eine Kultur als Ganze gar keine Werte, einerseits weil sie in aller Regel innerhalb ihrer Mitglieder Abweichungen von konsentierten Wertvorstellungen vorfindet und Überlappungen nur in kontingenter Weise auftreten, andererseits weil sich auch ihre Werte wandeln können (es genügt, dass sich die Wertvorstellungen eines einzigen Mitglieds wandeln bzw. dass die Wertvorstellungen eines einzigen Mitglieds von denen der übrigen Mitglieder abweichen, um über die Richtigkeit oder Angemessenheit der normativen Verfassung der eigenen Kultur in Zweifel zu geraten). Eine jede Kultur kann Auf die hermeneutischen Schwierigkeiten eines solchen Vergleichs von Normen kann ich hier nicht weiter eingehen. Er würde nicht nur existierende, sondern auch existierende und (vielleicht wünschenswerte) nichtexistierende Normen aufeinander beziehen.
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Gibt es eine Wahrheit von Normen?
sich somit zur Praxis anderer Kulturen sowie zur eigenen Praxis jeweils nur auf der Grundlage der eigenen Wertmaßstäbe verhalten. Freilich kann sie die Kenntnis fremder Wertmaßstäbe zur Revision des eigenen Urteils bewegen, so wie sie auch aus sich heraus die eigenen Wertmaßstäbe zu revidieren vermag. Gibt es eine Wahrheit von Normen? Sofern zum Zweck der Herstellung von Zuständen Überzeugungen ausgebildet werden, kann der Begriff der Wahrheit verwendet werden, weniger, um zu behaupten, wir hätten richtige Überzeugungen, an denen wir festhalten könnten, als vielmehr, um zu warnen, dass wir uns in unseren Überzeugungen irren können und sie in diesem Fall revidieren müssen. Auch wenn also die Wahrheit einer Überzeugung auf ihre jeweils mögliche nächste Revision hin relativiert wird, kann der Anspruch, auf Wahrheit aus zu sein, selbst absolut erhoben werden. Normen können analog mit dem konativen Anspruch ausgestattet werden, die Wünsche derer, die diesen Handlungsbeschränkungen unterworfen sind, in bestmöglicher Weise zu realisieren. Sofern damit freilich die Unterscheidung von individueller und dividueller Rationalität verdeckt zu werden droht, spreche ich nicht von der Wahrheit, sondern von der Richtigkeit oder Angemessenheit von Normen.
Literaturverzeichnis Altham, James Edward John 1986: The Legacy of Emotivism. In: Graham MacDonald/Crispin Wright (Hg.): Fact, Science and Morality. Essays on A. J. Ayer’s Language, Truth and Logic, Oxford, 275–288. Beauchamp, Tom L./Childress James F. 2008: Principles of Biomedical Ethics, Oxford. Boghossian, Paul 2011: Three Kinds of Relativism. In: Stephen D. Hales (Hg.): A Companion to Relativism, Oxford, 53–69. Breitsameter, Christof 2010: Handeln verantworten. In: Heike Baranzke/ Christof Breitsameter/Ulrich Feeser-Lichterfeld/Martin Heyer/Beate Kowalski (Hg.): Handeln verantworten. Grundlagen – Kriterien – Kompetenzen, Freiburg i. Br., 7–45. Kusch, Martin 2002: Knowledge by Agreement. The Programme of Communitarian Epistemology, Oxford. Nagel, Thomas 1970: The Possibility of Altruism, Oxford. Quante, Michael/Vieth, Andreas 2000: Angewandte Ethik oder Ethik der Anwendung? Überlegungen zur Weiterentwicklung des principlism. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 5, 5–34.
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Triumph der Gewalt oder Trumpf der Religion? Zur Logik des Ernstfalls bei Kierkegaard und Taylor Michael Kühnlein
Die viel zitierte Rede von der »Wiederkehr der Religion« (vgl. Casanova 1984; Riesebrodt 2000; Graf 2007) steht unter einem besonders heiklen Generalverdacht: Denn es scheint, als befördere ihre Anlandung in der Moderne hauptsächlich Gewalt und ruiniere die nüchternen Verfahrenstempel der säkularen Welt durch Hass und Zerstörung. Ihre Schockwellen, so die listigen Agenten einer ›fröhlichen Wissenschaft‹, künden überall von neuen Politischen Theologien, die an den Ufern der Moderne anbranden und das demokratische Mauerwerk gewaltenteilig organisierter Gesellschaften zu überspülen scheinen. Die Wiederkehr der Religion weckt also Ängste und Sorgen – gerade bei denjenigen, die die Moderne ideengeschichtlich als Abkehr von der Transzendenz konstruieren. Als beispielhaft können hier sicherlich die Analysen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Mark Lilla angesehen werden, der unter dem Eindruck einer neomythischen Allianz aus Herrschaft und Heil eine neue Gefahrenlage für den demokratischen Grundkonsens heraufziehen sieht (vgl. Lilla 2013, 275–287). Er befürchtet nämlich, dass mit dem Aufkommen existenzieller Theologien die öffentlichen Barrieren zwischen Politik und Religion so aus ihren institutionellen Verankerungen gerissen werden, dass alle Freiheitserrungenschaften des Liberalismus im Strudel apokalyptischer Endzeitszenarien versinken. Fundamentale Rechtsstaatsprinzipien wie Begründung, Toleranz und Konsens werden so unter einen unbotmäßigen politisch-theologischen Befristungsdruck gesetzt, aus dem einzig und allein die Entscheidung zum Gehorsam den Jüngern des Glaubens noch Heil verspricht. Alles, was ist, ist in dieser Perspektive bereits existenziell zugerüstet; sie kennt nur noch Freund oder Feind – und genau vor dieser offenbarungstheologischen Zuspitzung der letzten Konsequenz von an sich vorletzten Dingen möchte Lilla eindringlich warnen, denn sie führt langfristig nur dazu, dass die politischen Tugenden des Kompromisses, des 264 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Triumph der Gewalt oder Trumpf der Religion?
Regelbewusstseins und der Verständigung auf dem Altar der heiligen, reinen Ausnahmesituation geopfert werden (vgl. Lilla 2013, 55–100). 1 Insofern ist es nur folgerichtig, wenn Lilla vor einem Erstarken der Religion warnt, denn unter den Auspizien einer atheistischen Verschärfung des säkularen Liberalismus scheinen die apokalyptischen Wiedergänger Carl Schmitts höchstselbst ihre Attacken auf die Institutionen und Verfahrenspraktiken des liberalen Rechtsstaats zu reiten. Und vor diesen autoritären Angriffen kann sich die Demokratie nach Dafürhalten Lillas nur insoweit schützen, als dass sie die »Kunst der Trennung« (Walzer 1992, 38) weiter verfeinert und die institutionellen Barrieren zwischen Politik und Religion noch höher zieht bzw. noch strenger überwacht. Denn jeder Versuch, den Staatskörper zu re-sakralisieren und alle Entscheidungen ins ExistenziellReligiöse zu verkehren, mutet in den Augen Lillas wie ein offenbarungstheologischer Entzug der politischen Selbstbestimmungsfähigkeit an, der das liberalistische Bollwerk der Freiheit von innen her erodieren lässt; eine solche Transformation würde entscheidende Moral- und Rechtsvorstellungen der Moderne entwerten, vor allem jene, die den Menschen als ein freies, urteilendes und wählendes Individuum ansehen (vgl. Lilla 2013, 153). So zieht Lilla am Ende seines Buches das unmissverständliche Fazit, dass die politischen Errungenschaften der »Großen Trennung« von Immanenz und Transzendenz unter allen Umständen gegen totalitäre Erlösungsdoktrinen verteidigt werden müssen, um einen Rückfall in vorpolitische und latent gewaltanfällige Gesellschaftstheologien zu vermeiden. Denn erst unter den emanzipatorischen Bedingungen der Ausdifferenzierung – sprich: der atheistischen Moderne – könne Vernunft vernünftig bleiben und damit der Welt ihre Würde in Frieden und Wohlstand zurückgeben: Lillas systematische Gegenüberstellung von Politischer Theologie und Politischer Philosophie ist allerdings weder prominent noch singulär. Heinrich Meier hat bereits seit einigen Jahren diese Differenzierung im wissenschaftlichen Diskurs etabliert; für ihn liegt die konstitutive Differenz zwischen Religion und Politik vor allem in den unterschiedlichen Weisen ihres In-der-Welt-Seins begründet: »Während die Politische Theologie rückhaltlos auf das unum est necessarium des Glaubens baut und in der Wahrheit der Offenbarung ihre Sicherheit findet, stellt die Politische Philosophie die Frage nach dem Richtigen ganz und gar auf den Boden ›menschlicher Weisheit‹, um sie hier in der grundsätzlichsten und umfassendsten Art und Weise zu entfalten, die dem Menschen aus eigenen Kräften zu Gebote steht« (Meier 1994, 17 f.).
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Michael Kühnlein
»Wir haben uns entschieden, der Politik Grenzen zu setzen. Sie soll die Menschen vor den schlimmsten Verfehlungen schützen, die sie einander zufügen können. Sie soll die Grundrechte und einen gewissen Wohlstand sichern. Das spirituelle Schicksal des Einzelnen aber bleibt ihm selbst überlassen. Wir haben darauf gesetzt, dass es weiser ist, die Kräfte, die das Erlösungsversprechen der Bibel weckt, unter Kontrolle zu halten, statt sie für das öffentliche Wohl zu nutzen. Wir haben uns entschieden, unsere Politik nicht vom Licht der Offenbarung erhellen zu lassen. Wenn unser Experiment funktionieren soll, müssen wir uns ganz auf unsere eigene Klarheit verlassen« (Lilla 2013, 286 f.).
In dieser narrativen Totalverheißung des Säkularismus bleibt allerdings der Religion nur noch die Rolle der glutäugigen, Hass und Gewalt predigenden Gegenspielerin zur braven aufgeklärten Moderne. Doch wird das den normativen Qualitäten ihrer Wiederkehr gerecht? Setzte sie allein eruptive Spasmen der Destruktion frei, müsste man sie in der Tat energisch bekämpfen. Doch der Ausschließlichkeitsbefund Lillas irritiert. Denn die plane Gegenüberstellung von Religion und Vernunft ist angesichts des konkreten Reichtums an Werterfahrungen, die der Säkularisierungsprozess genealogisch erfolgreich durchlaufen hat, schon lange kein verlässliches Alleinstellungsmerkmal der Moderne mehr (vgl. Taylor 2009; Rosa 2016; Joas 2017). Und auch Gewalt ist der Vernunft selbst nicht gänzlich unbekannt; sie daher auf ein Phänomen der Religion reduzieren zu wollen, stellt angesichts der politischen Katastrophen total gewordener Immanenz-Ideologien im 20. Jahrhundert wohl eine historische Verharmlosung dar. Mir scheint deshalb, dass sich Lilla in seiner abschätzigen Beurteilung der politischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen einer religiös dichter gewordenen Welt noch immer von impliziten moralischen Wertmaßstäben leiten lässt, deren Voraussetzungen und Überzeugungen auf die Vertragstheorien der Neuzeit zurückgehen (vgl. Kühnlein 2013). 2
Bereits Charles Taylor hat sich am religionskritischen Plot der von Lilla erzählten Geschichte des politischen Liberalismus gerieben. Nicht nur sei sie einseitig erzählt, sondern sie verleite durch ihre radikale Trennungsmetaphorik den Leser auch zu der übereilten Annahme, »daß ein politisches Denken, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht, zuverlässigere Antworten liefert als Theorien, die von politischer Theologie geprägt sind« (Taylor 2012, 78). Diesen erkenntnistheoretischen Fundamentaloptimismus in Bezug auf eine endlich verfasste Vernunft teilt Taylor explizit nicht (vgl. Taylor 2013, 417).
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Triumph der Gewalt oder Trumpf der Religion?
Allerdings macht es im Zusammenhang meiner Fragestellung wenig Sinn, die Gewaltproblematik metaphysisch auszulagern. Denn ein solches Vorgehen kann ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erzählung Lillas über weite Strecken insoweit ›funktioniert‹, als sie eine »kulturelle Semantik« 3 erinnert, die uns sehr wohl vertraut ist: Denn der biblische Monotheismus ist ja nicht nur sprachlich-literarisch mit Hassmotiven durchsetzt, die von Säuberungen und Massakern berichten, sondern er hat oft genug auch die politischen Grenzen zur rituellen Vernichtungsgewalt überschritten und seinen Wahrheitsanspruch in der Realität verfolgt, wenn man an jene historischen Unrechtstaten denkt, die im Namen Gottes dem Menschen, der Welt und Gott selbst religiöse Eroberungskriege, Inquisitionen oder Zwangsmissionierungen aufgezwungen haben – dass also »der Monotheismus angeklagt wird, ist nicht bloß einem Vorurteil zuzuschreiben« (Taylor 1999, 21). Gleichwohl gibt es verschiedene Argumentationsstrategien, um der Gewaltverstrickung der Religion differenziert zu begegnen. Charles Taylor selbst bietet eine Erklärung an, die dafür plädiert, in der religiösen Gewalt (auch) ein ›sekundäres‹ Phänomen zu sehen, dessen Ursprünge vorrangig in den Identitätskämpfen einer politisierten Theologie zu suchen sind. Ein solcher Befund besagt, dass die spirituellen Konflikte nur vorgeschoben werden, um im Kampf um Macht reale Gefolgschaften zu mobilisieren. Die Steigerungslogik der Gewalt rührt hier aus den »Identitätskämpfen von Gruppen, die um ihre eigene Definition und die Herstellung politischer Identität ringen und dabei die Religion als Kennzeichen, als symbolisches Unterscheidungsmerkmal einsetzen, ohne daß es ihnen unbedingt um die dem jeweiligen Glauben zugrundeliegenden Vorstellungen und Gebote ginge« (Taylor 1999, 34).
Taylor warnt also eindringlich davor, »Religion als ein deutlich und ein für allemal identifizierbares Phänomen aufzufassen, das einer einzigen inneren Dynamik gehorcht« (Taylor 1999, 35). Vielmehr werden ihre Symbole politisch instrumentalisiert, um eine wie auch immer geartete ›Öffentlichkeit‹ mobilisierungswirksam zu inszenieIch verwende den Begriff der »kulturellen Semantik« im Sinne von Jan Assmann als exemplarische Leiterzählung, »mithilfe derer sich eine Gesellschaft in der Welt und in der Zeit orientiert und die sich in ihren fundierenden Mythen, Symbolen, Bildern und literarischen Texten ausprägt« (Assmann 2016, 26 f.; vgl. auch Assmann 1996).
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Michael Kühnlein
ren. Was dann als spezifisch religiöse Gewalt erscheint, ist in Wahrheit ihre militanteste Entfremdungsform, die befeuert wird »von einer ganzen Reihe heterogener Forderungen« (Taylor 1999, 35). Damit fügt Taylor der Debatte um die Gewaltgrundlagen Politischer Theologien eine interessante Facette hinzu, insofern er der Kritik an einer offenbarungstheologischen Überformung der Politik die Gewalt einer politisch domestizierten Theologie gegenüberstellt. Denn dort, »wo die Dynamik von Identitätskämpfen die Gesetze des Handelns diktiert«, ist es nach Taylor schlicht »sinnlos, den Ursprung in der Theologie zu suchen« (Taylor 1999, 36; vgl. Kühnlein 2008, vor allem 18–23). Die hier angedeuteten Diskussionen lassen bereits erahnen, dass der Begriff der Politischen Theologie zu kurz greift, um das opake Zusammenspiel von Glauben und Gewalt analytisch zu durchdringen. Deshalb möchte ich im Folgenden eine narrative Rekonstruktion wagen, die die Frage der Gewalt vor dem Hintergrund der kulturellen Leitsemantik der Aufklärung interpretiert. Mir geht es vor allem darum, wie religiöse Gewalt verstanden wird, wenn sie auf eine entzauberte Welt trifft, deren Sinn gemacht, aber nicht mehr moralisch vorgefunden wird – und wie sich zugleich ihre Bedeutung verändert, wenn das liberalistische Leitnarrativ und seine spezifische Art, davon zu erzählen, selbst an seine »postsäkularen« Grenzen geführt wird (vgl. Habermas 2005, 116). Ich beschäftige mich also nicht mit tatsächlichen Formen von religiöser Gewalt, sondern ich versuche vielmehr, die darin imprägnierten soziokulturellen Vorstellungswelten zu artikulieren, die solche Handlungen mit Bedeutung aufladen können. Methodisch orientiere ich mich dabei an den Überlegungen von Jan Assmann, der die sprachliche Verknüpfung von alttestamentlichem Monotheismus und Gewalt vor allem als kulturstiftenden Code ansieht, in dem neue Vorstellungen von politischer Identität in die Semantik der Revolution übersetzt und für sich verständlich gemacht werden konnten. Der Widerstand gegen den ägyptischen Polytheismus wurde so sprachlich ›umgebucht‹ auf einen Monotheismus der Treue, dessen Gewalt sich fortan nicht mehr nach außen, sondern nur noch nach innen richtete (vgl. Assmann 2000; Assmann 2016, 29–31). 4 Allerdings beschränkt sich Assmanns kulturelle Nah-ErzähInsofern wehrt sich Assmann aus meiner Sicht auch zu Recht gegenüber der Unterstellung, dass er in seinem Buch über die »Mosaische Unterscheidung« (Assmann
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lung auf jene Identitätsverwandlung, die sich in der narrativen Nachbearbeitung extremer Unterdrückungserfahrungen zu einem Monotheismus der »kollektiven Konversion« anamnetisch verdichtet hat (vgl. Assmann 2016, 71). 5 Doch sind die Gründe für das Entstehen des Monotheismus und dessen kulturprägender Kraft der Gewalt nicht zu verwechseln mit jenen individualisierten Gewalterfahrungen, die unter Bedingungen der Aufklärung die Geltungsgrundlagen der Religion gerade zu zerstören scheinen. Konversion und Assimilation sind psychologische Reaktionen auf ganz besondere existenzielle Krisenerfahrungen (Unterdrückung, Verschleppung, Gefangenschaft, Landnahme etc.); in der Aufklärung fallen jedoch diese ›äußeren‹ Bedrohungslagen weg, weil ihre kulturelle Leitsemantik die Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheit bereits vollumfänglich thematisiert hat. Hier geht es nicht mehr um die Formierung einer kollektiven Identität, die dem Zerstreuungsdruck einer heidnischen Umgebung narrativ Gegenwehr zu leisten hätte, sondern um die Performanz der Vernunft, die ihre Identität gerade im Kampf gegen die Religion erfolgreich behauptet hat. In dieser aufklärungsbedingt bereinigten Situation muss sich deshalb die Sprache der Gewalt vermehrt nach ›innen‹ richten. Dabei
2003) die Gewaltverliebtheit des Monotheismus als ein strukturelles Phänomen dargestellt habe (vgl. Schieder 2008; Schieder 2014). Eine solche Kritik übersieht nämlich, dass Assmann die Entstehung des Monotheismus vorwiegend als »symbolische Erzählung« behandelt, ihre Ereignisse also nicht für historisch hält und gerade deshalb besondere Aufmerksamkeit auf die sprachliche Struktur ihrer Erzählung richtet: »Ich frage also nach der Bedeutung dieser Bilder. Warum erzählte man sich solche Geschichten? Was bedeuten sie für das Selbstbild der Gruppe, die damals mit und in ihnen lebte, und was können sie uns heute noch bedeuten? Ich behaupte ja nicht, wie mir immer unterstellt wird, der Monotheismus habe Gewalt und Hass in eine bis dahin friedliche Welt gebracht. Natürlich war die Welt, wie jeder weiß, schon vor der Entstehung des Monotheismus voller Gewalt, Hass und Schuld. Ich konstatiere lediglich, dass der Monotheismus eine Religion ist, in deren kanonischen Texten die Themen Gewalt, Hass und Sünde eine auffallend große Rolle spielen und eine andere Bedeutung einnehmen als in den traditionellen ›heidnischen‹ Religionen. Dort gibt es Gewalt im Zusammenhang mit dem politischen Prinzip der Herrschaft, aber nicht im Zusammenhang mit der Gottesfrage. Gewalt ist dort eine Frage der Macht, nicht des Glaubens und der Wahrheit« (Assmann 2016, 28 f.). 5 »Daher bedarf der exklusive Monotheismus dieser Semantik des Bruches, der Abgrenzung, der Konversion. In diesem Zwang zur Entscheidung, der Pflicht zu Erinnerung und ständigem inneren Nachvollzug und der Angst vor Rückfall und Vergessen wurzeln die Motive der Gewalt, die tief in die Fundamente der kulturellen Semantik monotheistischer Religionen eingelassen sind« (Assmann 2016, 71).
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lehnt sie sich gegen einen Absolutismus der Autonomie auf, der von den Bedingungen seiner Befreiung nichts mehr wissen will und für den Freiheit nicht weiter reicht als das Gesetz. Einem solchen unabhängigen ›Über-Ich‹ begegnen die Denker der post-idealistischen bzw. postsäkularen Ära mit großer Skepsis. 6 Sie sehen in dem modernen Willen zur metaphysischen Entbettung des Subjekts eher einen Akt der expressivistischen Selbstverkleinerung des Menschen am Werk. Und um diesen Prozess der um sich greifenden »Vernunftfetischisierung« (Taylor 2006, 12) zu stoppen, werden von religionsphilosophischer Seite aus vor allem zwei Narrative der Transfiguration ins Spiel gebracht: In dem einen Modell stellt sich dabei die Kraft der transzendenten Gewalt frontal gegen die individuelle Autonomie, um den Einzelnen in der höheren Existenzweise der Religion aufgehen zu lassen; in dem anderen Modell wird dagegen die Dialektik der Vernunft mitvollzogen, um sie in einer dialogischen Wirklichkeit enden zu lassen, die eben nicht nur von Pflicht und Regelhaftigkeit, sondern darüber hinaus auch von Liebe, Mitgefühl und Barmherzigkeit bestimmt wird. In beiden Fällen wird das moralische Selbstinteresse ›suspendiert‹, doch die jeweils zugrunde gelegte Motivation ist hierfür recht unterschiedlich. In der Moderne können wir demnach eine kulturelle Metamorphose des religiösen Gewaltbegriffs beobachten. Konversion und Assimilation prägen nicht mehr ihre Leitsemantik, sondern Exzess und Suspension. Der Blick geht weg von einer feindlichen Umgebung und richtet sich nach innen – um dieses Mal die menschliche Freiheit im Blick auf den moralischen »Ernstfall« neu zu denken. Ich greife hier Dabei ist schon Immanuel Kant kein reiner Theoretiker des Autonomen gewesen: Aus der Dialektik von Natur und Freiheit, von Glück und Moral lässt er eine Gerechtigkeit folgen, die nicht von dieser Welt ist. Die metaphysische Ambivalenz des Subjekts bleibt somit auch für seine Transzendentalphilosophie konstitutiv. Auf diesen Aspekt des kantianischen Denkens hat Herbert Schnädelbach eindringlich hingewiesen: »In Kants Lehre vom ›höchsten Gut‹ […] wird die Einsicht ausgedrückt, daß die vollständige Realisierung des guten Willens noch nicht das gute Leben wäre; die Struktur der Welt muß auch noch zur Moralität passen, damit aus der Glückswürdigkeit die Glückseligkeit folgen kann.« Das höchste Gut bei Kant sei demnach ein »Grenzbegriff« der praktischen Philosophie, der »auf etwas jenseits der Grenzen unserer praktischen Diskurse« verweise, »das in ihnen selbst nicht ausdrückbar ist, von dem sie aber gleichwohl wie unsere Praxis in ihrem Gelingen« abhänge (vgl. Schnädelbach 1987, 172). Zur Dialektik von universeller Begründung und individueller Restitution bei Kant vgl. ferner auch die instruktiven Arbeiten von Blumenberg 1954 und Kittsteiner 1998.
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bewusst eine berüchtigte Formulierung von Carl Schmitt 7 auf, um an den existenziellen Ort der Freiheit in der Moderne zu erinnern. Die politischen Implikationen von Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung können dabei vernachlässigt werden. Denn mit dem Begriff des Ernstfalls will ich lediglich darauf hinweisen, dass in moralischen Ausnahme- oder »Grenzsituationen« (Jaspers 1988, 18) die Wahrheit des Handelns sich eben nicht allein gesetzesmäßig reproduzieren lässt. Hier bricht notwendigerweise etwas Absolutes in die Lebenswelt ein, die von einem Moment auf den anderen den Alltag der Routine in einen Ort der außeralltäglichen Erfahrung verwandelt. Erst hier, wo wir im Augenblick der existenziellen Verdichtung über die Grenze des Zumutbaren hinausgestoßen werden, liegt die äußerste Steigerungsform der Freiheit vor. 8 Bekanntlich ist für Schmitt das Politische das Gesellschaftlich-Totale und damit allen anderen Wertsphären ontologisch-existenziell vorgeordnet: Es kann, so formuliert es Schmitt höchstselbst, »seine Kraft aus den verschiedenen Bereichen menschlichen Lebens ziehen, aus religiösen, ökonomischen, moralischen und anderen Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, deren Motive religiöser, nationaler, wirtschaftlicher oder anderer Art sein können […]. Die reale Freund-Feind-Gruppierung ist seinsmäßig so stark und auschlaggebend, dass der nichtpolitische Gegensatz […] seine bisherigen ›rein‹ religiösen, ›rein‹ kulturellen Kriterien und Motive zurückstellt. Politisch ist jedenfalls immer die Gruppierung, die sich an dem Ernstfall orientiert. Sie ist deshalb immer die maßgebende menschliche Gruppierung« (Schmitt 2002, 38 f.). 8 Die Frage nach der Rationalität eines ›übererforderlichen‹ Handelns stellt daher eine große Herausforderung für herkömmliche Moraltheorien dar – insbesondere für utilitaristische und deontologische Regelmodelle hält sie nonkonforme Ärgernisse bereit. Denn die Prinzipien des ›Nutzens‹ und der ›Pflicht‹ sind so tief in die Verfahren vernünftiger Selbstregulation eingebunden, dass ein systemtranszendenter Standpunkt wie der des ›abgründig Exzessiven‹ überhaupt nicht sinnvoll in das jeweilige Begründungsprofil integriert werden kann. Philosophen wie Bernard Williams sehen diese Konventionalisierung der Moral deshalb sehr kritisch: »Man kann der Auffassung, daß die Handlung, für deren Ausführung es zu einer bestimmten Gelegenheit den besten moralischen Grund gab, nur schwer zustimmen. Es gibt Handlungen (Strategien, Haltungen etc.), die entweder mehr sind als Pflichten oder weniger. Es können heldenhafte oder großartige Handlungen sein, die über das Pflichtgemäße oder Erforderliche hinausgehen. Oder es können Handlungen sein, die aus einer ethischen Perspektive als begrüßenswert oder lohnend oder als gute Idee erscheinen, ohne daß es erforderlich ist, sie zu vollziehen. Das wird an den Reaktionen der Leute ganz offensichtlich. Menschen können für Taten bewundert oder anerkannt werden, deren Unterlassung keinerlei Schuldzuweisungen nach sich gezogen hätte. Wie geht das Moralsystem mit Erwägungen um, die anscheinend zu keinen Verpflichtungen führen?« (Williams 1999, 248 f.). 7
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Durch das Begriffsprisma des moralischen Ernstfalls fächert sich also die Sprache der Gewalt weiter auf. Sie nimmt die Gestalt der religiösen Überbietung, ja der Verschärfung an – die allerdings vor dem Hintergrund veränderter Identitätssemantiken unterschiedliche Bewegungsrichtungen auslösen kann, je nachdem, ob das besondere Vermögen dieser Gewalt darin besteht, das moralische Gesetz außer Kraft oder in Kraft zu setzen. Der Ernstfall der modernen Freiheit zeigt sich demnach nicht in der Unterscheidung von Freund und Feind, sondern in der inneren Dialektik von Autonomie und Theonomie (vgl. dazu Ricœur 1990; Ricœur 1996). Ihre Rhetorik der Gewalt setzt an die Stelle der heidnischen Überfremdungsangst die analytische Frage nach dem ›Übererforderlichen‹. Der argumentative Kontext ist somit ein vernunftkritischer – und deshalb stehen beispielhaft Kierkegaard und Taylor im Fokus meiner nachfolgenden Überlegungen und nicht Schmitts »Politische Theologie« (Schmitt 1993; vgl. Kühnlein 2017).
1.
Der Ernstfall bei Kierkegaard
Der Ernstfall tritt bei Sören Kierkegaard dann ein, wenn das moralisch Verpflichtende auf das religiös Gebotene trifft. Dieser Widerspruch zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen schafft eine Situation des Leidens, die bei Kierkegaard eben nicht nur kontingent, sondern vielmehr unaufhebbar in dem Sinne ist, als dass sie die existenzielle Ausnahmesituation des Subjekts verkörpert. In einer Vernunftwelt, in der Moral und Offenbarung kontradiktorisch auseinanderfallen müssen, ist Verzweiflung gesetzt (vgl. Kierkegaard 1954 9). Dieser Zustand der anthropologischen Uneigentlichkeit ist nach Kierkegaard für das menschliche Selbstsein konstitutiv und das heißt: Er ist existenziell nicht zu umgehen. Nur in der Verzweiflung ist man selbst. Dieses Außer-sich-Sein lässt sich nicht mehr in die laue Sprachpragmatik einer Anerkennungstheorie überführen oder durch den Erwerb von allgemeinen Kulturtechniken sublimieren. Vielmehr gilt es, hier Stand zu halten, indem man Gehorsam übt und auf autonome Selbstbefreiung verzichtet (vgl. Kierkegaard 1952, 46–48; Kierkegaard 1958, 298 f.). Hierin liegt die (un-)menschliche Größe des In dieser Schrift ist Kierkegaards Absetzung von Georg Wilhelm Friedrich Hegel besonders überzeugend.
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redlich Glaubenden: Denn er macht die paradoxale Wahrheit, dass Gott Mensch geworden ist, zur Kathedrale seiner eigenen Existenz. Er verinnerlicht dieses Paradox, indem er alle Konventionen und Traditionen radikal umwertet und an die Stelle des Allgemeinen das Einzelne, an die Stelle der Normalität die Ausnahme und an die Stelle der dialektischen Bewegung das »Innehalten« – eine Formulierung von Walter Benjamin (vgl. Benjamin 1982, 55) – bzw. das Anhalten des Widerspruchs setzt. Denn wenn die existenzielle Wahrheit von Gottes Menschwerdung nur geglaubt werden kann, dann ist alle Vernunft nichtig. Sie kann an und für sich nichts mehr ›vermitteln‹ oder ›aufheben‹, weil ihr schlicht die Wahrheit fehlt. In einer solchen Welt ist jegliche Existenz in sich schon absurd – und so abgründig, dass sich jegliche Rechtfertigung in Gewalt verkehrt. 10 Für Kierkegaard gibt es demnach eine höhere Sphäre der Existenz, die das Ethische außer Kraft zu setzen vermag – und dies ist die Sphäre der Religion. Für den Gewaltbegriff hat die begriffliche Verlagerung in die Autorität des Gehorsams jedoch Konsequenzen, die bis heute unser Bild der Religion als einer unheimlichen Produktionsstätte von Feindbildern bestimmen. Denn wer das Ethische auf diese Weise teleologisch suspendieren möchte, verlässt – von außen betrachtet – den Boden gemeinsam geteilter Verantwortung; und Handlungen, die vorher sozial geächtet waren, werden jetzt – so die Befürchtung – gegen jede Vernunft legitimatorisch salviert. Um diese Folgen weiß Kierkegaard, er wendet sie aber nicht ins Pejorative. Denn die Absurdität der Existenz verlangt nach einer Entscheidung, die das paradoxe Geltungsverhältnis von Ethik und Religion aufzudecken in der Lage ist: Für diesen Widerstreit steht bei ihm die Person Abrahams ein, der sich von Gott versuchen ließ, seinen einzigen Sohn Isaak in das Land Morija zu führen und ihn dort in den Bergen zu opfern. Im letzten Moment fiel ihm aber ein rettender Engel des Herrn in eben jene Hand, die das Messer führen sollte, und sprach:
Von der Vernunft führt damit kein Weg in den Glauben, nur die Entscheidung zum Gehorsam vermag das. Nach Kierkegaard ist also der Mehrwert der Religion stets individuell; und Systemphilosophien, die die Vernunft über das Individuelle stellen, müssen in ihren Darstellungen Religion auf etwas reduzieren, was sie selbst nicht ist. In dieser Perspektive verfehlen also gerade Kant und Hegel das Proprium der Ausnahme, wenn sie Religion von der Vernunft her einhegen und unter moralische bzw. begriffliche Gesetze bringen wollen.
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»Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten« (Gen 22,12).
Das Paradoxe dieser Situation liegt nach Kierkegaard darin, dass der Glaube Abraham allein dort zu retten vermag, wo er ethisch scheitert; denn allgemein gilt, dass »ein Vater seinen Sohn höher als sich selbst lieben soll« (Kierkegaard 1950, 61). Augenscheinlich verstößt Abraham aber gegen diese ethische Pflicht; und das aus Gründen, die allgemein nicht einzusehen sind. 11 Denn es gibt hier keinen tragischen Konflikt, der etwa auf die Verwirklichung einer höherrangigen Allgemeinheit abzielen würde: Abraham steht einzig und allein unter dem Befehl Gottes. 12 Dieser lässt ihn erst wagen, was niemals rational begründet werden kann: nämlich als reine Ausnahme, das heißt »im Widerspruch zum Allgemeinen«, zu existieren (vgl. Kierkegaard 1950, 66): »Der Glaube ist eben dies Paradox, daß der Einzelne als Einzelner höher ist denn das Allgemeine, ihm gegenüber im Rechte ist, ihm nicht unter-, sondern übergeordnet ist […]. Dieser Standpunkt läßt sich nicht vermitteln; denn alle Vermittlung geschieht gerade in kraft des Allgemeinen; er ist und bleibt in alle Ewigkeit ein Paradox, unzugänglich dem Denken« (Kierkegaard 1950, 59).
In dieser Glaubensapologetik wird Gewalt vollständig sakralisiert, sodass die Wirklichkeit gegen das Opfer keine Rolle mehr spielt. Diese Gewalt ist in wenigstens drei Hinsichten total: Erstens beginnt sie dort, »wo das Denken aufhört« (Kierkegaard 1950, 56); zweitens endet sie nie, eben weil sie darauf vertraut, dass das Opfer immer auch zurückgegeben wird; 13 und drittens besteht das Monströse, das Un»Der ethische Ausdruck für das, was Abraham getan hat, ist, daß er Isaak morden wollte, der religiöse ist, daß er Isaak opfern wollte; aber in diesem Widerspruch liegt eben die Angst, die sehr wohl imstande ist, einem Menschen den Schlaf zu rauben, und doch, ohne diese Angst ist Abraham nicht, der er ist« (Kierkegaard 1950, 27). 12 Rechtfertigungen verlassen nach Kierkegaard nie den Bereich des Ethischen, weil ihre Begründungen stets die Perspektiven einer höheren Allgemeinheit mit sich führen, sodass selbst im Konfliktfall die Missachtung des Kindeswohls bejaht werden kann, wie er an den tragischen Beispielen Jephtas, Agamemnons und Brutus deutlich macht (vgl. Kierkegaard 1950, 62 f.). 13 Diesen Aspekt hebt Kierkegaard in seiner Interpretation ganz besonders hervor: Abraham ist für ihn kein tragischer Held, eben weil er handelt, ohne zu zweifeln: Er schwankt nicht, er hadert nicht mit seinem Schicksal, sondern ganz im Gegenteil trifft 11
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kontrollierte dieser Gewalt darin, dass sie außerhalb bzw. über dem Allgemeinen steht (vgl. Kierkegaard 1950, 64). In Kierkegaards Suspension des Ethischen scheint somit eine Gewaltteleologie durch, die eine Wiederkehr der Religion unter den Prämissen einer vollständigen Vernunftentmächtigung desaströs erscheinen lassen. Eine solche Apologie des Gehorsams gliche sich in letzter Konsequenz dem dämonischen Herrschaftsexzess einer Politischen Theologie an, mit dem sie rhetorisch in ihrem Irrationalismus, ihrer Opferbereitschaft und ihrem Fanatismus übereinkommt. Wollte man also unter diesen Bedingungen die metaphysische Natur des Einzelnen näher bestimmen, würde das auf einen Schlag das Ende des politischen Liberalismus bedeuten – und die Zerstörung des modernen Rechtsstaats, so wie wir ihn kennen. 14 Denn wenn keine normativen Trennungsprinzipien in Geltung sind, kann der religiöse Glaube absurderweise alles bewegen, weil in der existenziellen Totalisierung des Widerspruchs keine Logik mehr waltet – in dieser Perspektive kann selbst das pflichtwidrige Tun die Form einer absoluten Pflicht annehmen und eine an sich unverantwortliche Handlung ausdrücklich gutheißen. Alles wäre demnach erlaubt, was vorher verboten war – gerade weil Gott existiert und nicht nicht existiert. 15
er innerlich gelassen an der Opferstätte ein, pünktlich, um genau zu sein, denn er weiß sich zur rechten Zeit, dass ihm gegen alle Hoffnung Isaak erneut geschenkt wird. Damit hält der Glaube gegen alle verrechnende Logik hinein wieder Einzug in die Wirklichkeit: In der Überzeugung nämlich, »daß Gott sich um das Kleinste kümmert« (Kierkegaard 1950, 32), kehrt der Glaube die Bewegung der menschlichen Resignation um, indem er vom Ewigen her in das Zeitliche eingeht. In diesem Sinne bedeutet »glauben« nach Kierkegaard, »so zu existieren, daß mein Widerspruch zu der Existenz jeden Augenblick sich ausdrückt als die schönste und sicherste Harmonie mit ihr […]« (Kierkegaard 1950, 52). Abrahams Existenz lässt sich demnach nur als paradoxes Geschehen rechtfertigen: »Auf welche Weise hat also Abraham existiert? Er glaubte. Das ist das Paradox, vermöge dessen er auf der Spitze bleibt, und das er keinem andern deutlich machen kann, denn das Paradox ist, daß er als ein Einzelner sich in ein absolutes Verhältnis zum Absoluten setzt« (Kierkegaard 1950, 67). 14 Für Vittorio Hösle ist deshalb Kierkegaard »ein Philosoph, der nicht fähig ist, transzendental zu denken, seine Geltungsansprüche zu begründen; stets verwechselt er psychologische Fragen mit dem Geltungsproblem; seine phänomenologische Kraft ist nicht mit einem transzendentalen Bewußtsein verbunden« (Hösle 1996, 221). 15 Für die letzte Option plädierte bekanntlich Fjodor M. Dostojewski – aus der Sicht des Absurden nur ein weiterer ethischer Schriftsteller, der das Religiöse instrumentalisiert hat, um das Abgründige der menschlichen Existenz, die immerwährende Revolte des Seins, zu verbergen.
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»Der religiöse Glaubensritter Kierkegaards, der sich von jeglichem Ethos gelöst hat, kann alle Handlungen, von der selbstlosesten Tat bis zur terroristischen Untat, zum Inhalt seiner absoluten Pflicht machen« (Kobusch 2018, 20).
Kritiker wie Lilla haben deshalb zu Recht die Tendenz der Religion zur Gewaltbereitschaft kritisiert, wenn sie, wie bei Kierkegaard, als begrifflich ›uneinholbar‹ idolisiert wird. Ihre Wiederkehr wäre unter diesen Bedingungen nichts weiter als eine paradoxe Form des Eskapismus, der sich auf Kosten der sprachlichen Allgemeinheit vollzieht (vgl. Kühnlein 2019c, 445–461) – wobei Irrationalismus und Hochmut seine religiösen ›Trümpfe‹ im Spiel sind.
2.
Der Ernstfall bei Taylor
Im Blick auf die Gewaltfrage scheint nun der Vergleich zwischen Kierkegaard und Taylor etwas gewagt zu sein: Auf der einen Seite haben wir nämlich einen religiösen Schriftsteller, der den Gehorsam des Glaubens bis zu dessen schmerzhaftestem Widersinn über die Grenzen der säkularen Vernunft hinaustreibt; auf der anderen Seite argumentiert ein Sozialphilosoph (vgl. Taylor 2009), der die durch die Säkularisierung ausgelösten spirituellen Fragilisierungsprozesse reflektiert, in deren Verlauf unter anderem auch die Dezision von der Option, der Existenzialismus vom Expressivismus als semantisches Leitnarrativ abgelöst werden. Die weitere Entwicklung des Guten führt also bei Taylor weg von geschlossenen Weltstrukturen hin zu Erzählungen, die den Menschen in plurale, offene Deutungshorizonte hineingestellt sehen (vgl. dazu Kühnlein 2014; Kühnlein 2019a; Kühnlein 2019b; Kühnlein 2019c). Trotz dieser hermeneutisch disparaten Ausgangslage gibt es jedoch bei näherem Hinsehen inhaltliche Übereinstimmungen in der Gewaltfrage: Beide Denkstile zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass sie diese Frage in den metaphysischen Kontext von Gut und Böse, von Sinn und Verzweiflung einordnen. In einer solchen Perspektive ist Gewalt vor allem narrativ vermittelt; ihre Opfer-Erzählungen verleihen der menschlichen Existenz eine ›numinose‹ Tiefenbedeutung, die weit über das hinausgeht, was der soziobiologische Aggressionstrieb am jeweils Anderen lediglich dinghaft eliminieren möchte. 16 Sowohl 16
»Ein solches Verhalten mag in der Tat Vorteile mit sich gebracht haben, erklärt aber
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Kierkegaard als auch Taylor versuchen also, die Gewalt vom Begriff des Opfers aus zu denken und von dort her ihre Beziehung zur Religion zu untersuchen. Analytisch ist damit der immanente Kontext von Sakralität, Gesellschaft und Gewalt fest umrissen: »Vom Anbeginn schließt Religion die Idee und die Praxis des Opfers ein. Wir müssen etwas darbringen, sei es um Gott zu beschwichtigen oder zu nähren oder um seine Gunst zu gewinnen. Diese Haltung kann auch spiritualisiert oder moralisiert werden: Da wir unserem Wesen nach unvollkommen sind, Gottes Ansprüchen nicht genügen, müssen wir das Schlechte an uns opfern, oder etwas anderes, um für das Schlechte zu sühnen. Das Gefühl der Unwürdigkeit spielt hier eine wichtige Rolle« (Taylor 2002, 54).
Darüber hinaus gibt es aber noch eine zweite Parallele, die beide Denker auf interessante Weise miteinander verknüpft: Denn auch Taylor sieht die modernen Opfer-Erzählungen durch »paradoxe« Gewaltmechanismen charakterisiert, insofern es deren Logik erlaube, »wieder Grenzlinien zu ziehen und Feinde zu identifizieren. Wenn wir die Opfer sind, seid ihr die Täter. Der Anspruch, Opfer zu sein, macht uns rein und unsere Sache zu einer guten Sache, in deren Namen wir gerechte Gewalt ausüben dürfen. Die Verbindung zum modernen Terrorismus liegt auf der Hand« (Taylor 2002, 67 f.).
Taylors Erzählung folgt hier also der Leitsemantik Kierkegaards: Wenn nämlich die Gewalt ihrer Natur nach ›paradox‹ ist, ist ihre Wiederkehr nicht mehr bloß historisch zufällig, sondern vielmehr metaphysisch notwendig. Das Gute lässt sich in dieser Welt nicht verwirklichen, ohne es zu zerstören. Allerdings nehmen die weiteren Überlegungen Taylors einen anderen vorpolitischen Erzählrahmen ein. Während Kierkegaard angesichts der erdrückenden Übermacht idealistischer Systemphilosophien die Notwendigkeit der Gewalt rhetorisch-exzessiv zu steigern versucht, bleibt Taylor ein Philosoph der metaphysischen Deeskalation. Seine Erzählung, die vor dem Hintergrund der humanistischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, stellt die »Sorge
nicht die Bedeutungen, in die Gewalt eingebettet ist, bzw. reduziert sie instrumentalistisch« (Taylor 2002, 53 f.).
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um das Opfer« (Taylor 2002, 67) in den Mittelpunkt ihrer Darstellung. 17 In diesem Zusammenhang betont er den mäßigenden Einfluss des neutestamentlichen Christentums auf die sozialen Imaginationsformen der Moderne: »Die Sorge um das Opfer setzt die moderne moralische Ordnung der Gleichheit und des gegenseitigen Respekts voraus, wird durch sie aber nicht hinreichend erklärt. […] Dieses Anliegen ist dem Christentum entlehnt. Das Neue Testament stellt das Opfer und seine Unschuld in den Mittelpunkt; es ermutigt all die Erniedrigten und Beleidigten sich zu erheben. Verschiedene religiöser Reformen, die Reformation selbst und schließlich der moderne Humanismus haben diese Idee weiter radikalisiert. Sie ist heute Teil unserer politischen Ethik geworden. Der modernen moralischen Ordnung wird damit eine eschatologische Idee unterlegt« (Taylor 2002, 67 f.).
Anders als Kierkegaard gibt sich Taylor der Gewalt also nicht mehr metaphysisch hin, sondern er versucht vielmehr, ihre paradoxen Verwicklungen zu lösen und ihre Eskalationsdynamik zu unterbrechen. Gewalt lässt sich zwar nie zur Gänze ausschließen – und deshalb bietet auch der humanistische Atheismus für Taylor keine Zuflucht; 18 doch Gewalt kann immer wieder auf das Neue überwunden, bezwungen werden. Und hier kommt nun ein Begriff ins Spiel, der die vertikale Bewegungsrichtung von Kierkegaards Suspensionsdenken in ein horizontales Restitutionsmodell übersetzt: nämlich der des Verzichts. Denn wenn Hass und Zerstörung immer gegenwärtig sind und sowohl Vernunft als auch Religion kontaminieren, müssen wir das Gift der Gewalt nach Taylor anders bekämpfen. Ist das Muster der Gewalt metaphysisch nicht zu hintergehen, sodass selbst die wohlmeinendsten Versuche der Überwindung nur die in ihnen eingelager-
Diese Formulierung Taylors geht übrigens auf die Sündenbocktheorie von René Girard zurück (vgl. Girard 2008, 207; kritisch zu Girard vgl. Kühnlein 2015). 18 »Eine Antwort könnte sein, daß wir in Anbetracht der offensichtlich metaphysischen bzw. religiösen Wurzeln der Gewalt versuchen, uns radikal von der religiösen Dimension unserer Existenz loszusagen. Bisher hat das Problem freilich immer darin bestanden, dass all die Baumeister einer säkularen Republik, all die Robespierres und Lenins, sich nie ganz von diesem Inkubus befreien konnten. Darüber hinaus scheint klar, dass die schlichte Propagierung eines nichtreligiösen Ansatzes, wie etwa des modernen Humanismus, fehlschlagen muss, weil die religiösen Formen sich auch unter dieser Quarantäne immer wieder neu bilden« (Taylor 2002, 69). 17
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ten numinosen Schrecken reproduzieren, bleibt nur so etwas wie eine ontologische Mitverantwortung übrig, die sich selbst der Gewalt anbietet und an die Stelle des Bekämpfens das Sein lassen setzt: »Gegen diesen selbstgerechten Rückfall in Gewalt gibt es also kein Allheilmittel. Und doch gibt es etwas, was ihm entgegengesetzt werden kann. Es sind Akte und Gesten, die darin bestehen, auf das durch Leiden erworbene Recht auf Genugtuung zu verzichten, auf das Recht des Unschuldigen, seinen Peiniger zu bestrafen. Ein solcher Akt widerstrebt allen Instinkten, mit denen wir unsere gerechte Sache verteidigen. Man könnte ihn als Vergebung bezeichnen, doch vollzieht er sich auf einer tieferen Ebene, weil er die Einsicht in unser aller Menschlichkeit voraussetzt, und das heißt in unsere Fehlbarkeit und Unvollkommenheit« (Taylor 2002, 70).
Das Paradox der Gewalt findet also bei Taylor im Paradox des Verzichts seine Unterbrechung. Der Ernstfall ist damit ganz anders aufgestellt als bei Kierkegaard: Während es bei Kierkegaard darum geht, die Moral zu schwächen, will Taylor sie stärken – indem er darauf verzichtet, das einzusetzen, was sie stark macht, nämlich das Gesetz. Kierkegaard brauchte für seine Suspension der Ethik nur individuellen Gehorsam; Taylor indes drängt auf die exzessive Verwirklichung einer verzichtenden Gerechtigkeit, die nicht Akte der Reinigung und Zerstörung im Gewande des Gesetzes singulär aneinanderreiht, sondern umgekehrt die Bewegungsrichtung des schöpferischen In-KraftSetzens gleichermaßen umfasst. Ein solcher Ansatz ist um die ganze Rehabilitierungsdimension ethisch-sittlicher Lebensverhältnisse besorgt – und nicht nur um das je eigene Seelenwohl. Im Gegensatz zu Kierkegaard werden also die Kodizes der Gerechtigkeit nicht aufgehoben, lediglich der Furor, mit dem die Einhaltung ihrer Regeln verfolgt und überwacht wird, soll durchbrochen werden. Denn es gibt nach Taylor dilemmatische Situationen, in denen die Durchsetzbarkeit eines Rechtsanspruchs mit den narrativen Selbstinterpretationen der Beteiligten kollidiert. Hier kommen nach Taylor mehrere Vorgehensweisen in Betracht: Man kann zum einen auf der Entschädigung beharren, bringt sich dadurch aber um die Güter der Solidarität und der Wechselseitigkeit; oder aber man verzichtet auf materiellen Ausgleich zugunsten der Wahrheit und ermöglicht so ein neues Zusammenleben auf der Basis ausgesöhnter Verhältnisse (vgl. Taylor 2009, 1169 f.). Gerade in Fragen der Übergangsgerechtigkeit hält Taylor den modernen ›Regelfetischismus‹ 279 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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deshalb für kontraproduktiv; er erblickt darin eine schlimme »Verstümmelung des Menschlichen« (Taylor 2009, 1050). 19 Die Logik des Ernstfalls ist bei Taylor somit durch den moralischen Rechtsverzicht des Opfers charakterisiert. Es ist allerdings ein freiwilliger Verzicht, der sich von der instrumentellen Übermächtigungssituation durch andere unterscheidet: Phänotypisch steht ihm dabei die Person Nelson Mandelas vor Augen, der im Zuge der Aufarbeitung des Unrechts des Apartheidregimes auf Wahrheit und Versöhnung und nicht auf Recht und Rache gesetzt hat. Damit brachte er die früheren Opfer dazu, »in einer Hinsicht das Maximalergebnis (die Wahrheit über das Geschehene) zu akzeptieren und dafür auf vieles andere zu verzichten, worauf sie sonst einen Rechtsanspruch gehabt hätten (nämlich die Bestrafung der Täter nach dem Grundsatz ›Auge um Auge‹). Das Ziel bestand darin, eine ›Entschädigung‹ zu finden, die zugleich eine Versöhnung und daher das Zusammenleben auf einer neuen Basis ermöglichen würde« (Taylor 2009, 1170).
Mit anderen Worten: Der moralische Ernstfall besteht nach Taylor gerade darin, der Versuchung zu widerstehen, Rache und Vergeltung auf Kosten von Wahrheit und Versöhnung zu üben (vgl. Taylor 2002, 71).
3.
Fazit
Der Zusammenhang von Religion und Gewalt ist bei Taylor sicherlich sehr viel komplexer als bei Kierkegaard. Für Kierkegaard ist die Welt in sich absurd und nicht nur eine bestimmte einzelne Situation. Und insofern stellt für ihn Gewalt das absolute Mittel dar, um die metaphysische Überordnung des Einzelnen über das Allgemeine auszudrücken. Bei Taylor verhält sich die Sachlage indes anspruchs»Der ›Regelfetischismus‹ – die Nomolatrie – der modernen liberalen Gesellschaft ist also potentiell überaus schädlich. Es besteht die Tendenz, den Hintergrund, der jedem Kodex Sinn verleiht – also die Vielfalt der Werte, deren Realisierung die Regeln und Normen dienen sollen –, außer acht zu lassen und uns für die vertikale Dimension unempfänglich, ja blind zu machen. Außerdem ist diese Tendenz einem Vorgehen nach Einheitsmaß förderlich: Regel ist Regel! Man könnte sogar sagen, daß die moderne Nomolatrie die moralische und spirituelle Nivellierung begünstigt« (Taylor 2009, 1173; vgl. dazu Kühnlein 2011; Kühnlein 2019a; Kühnlein 2019b).
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voller: Zum einen leugnet er nicht, dass die metaphysische Unhintergehbarkeit der Gewalt alle Lösungen kontaminiert und ihre Pervertierungskraft jede denkbare spirituelle Option besetzen kann: »Das Vertrauen in die richtige Religion zu setzen, kann also ebenso wenig die Gefahr bannen. Beide Seiten, die säkulare und die religiöse, sind vom Virus der Gewalt infiziert und müssen ihn bekämpfen« (Taylor 2002, 70).
In dieser Hinsicht ist also auch für Taylor der religiöse Hang zur Gewalt evident. 20 Aber in der Frage nach den Überwindungsmöglichkeiten der Gewalt stehen die säkulare und die religiöse Option nicht gleichberechtigt nebeneinander. Hier verhält sich die Religion zur Vernunft eher wie die Anti-Struktur zur Struktur, wie der GegenKodex zum Kodex; sie löst hierarchische Machtgefälle auf, indem sie durch Akte der Barmherzigkeit die Kodizes erst in Gang setzt: »Alle Kodizes brauchen ein Gegengewicht und gelegentlich sogar das Eintauchen in ihre Verneinung, sonst drohen Starrheit, Schwächung, Atrophie der sozialen Kohäsion, Blindheit und letzten Endes vielleicht Selbstzerstörung« (Taylor 2009, 93).
Nun ist hier nicht der Ort, auf den mit der christlichen Nächstenliebe verbundenen Dezentrierungsgedanken näher einzugehen. Das habe ich bereits an anderen Stellen ausführlicher getan (vgl. Kühnlein 2011; Kühnlein 2019a; Kühnlein 2019b; Kühnlein 2019c). Im Blick auf die eingangs formulierte Fragestellung möchte ich aber folgende Ergebnisse kursorisch festhalten: (1) Religion ist nicht mit Gewalt verknüpft, sondern Gewalt mit Religion. (2) In dieser Perspektive besteht das ›Absurde‹ der Religion gerade darin, das Subjekt in seine Allgemeinheit wieder einzusetzen. (3) Eine solche Gabe der Liebe ist ihrer Natur nach schenkend, nicht nehmend; sie lässt sich nicht auf eine soziale Tugend, auf eine moralische Pflicht oder einen verantwortbaren Nutzen reduzieren.
Exemplarisch verweist Taylor hier auf »die lange und furchtbare Geschichte des christlichen Antisemitismus« (Taylor 2002, 70).
20
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Mit diesen Thesen im Hintergrund möchte ich schließlich zu meiner letzten Überlegung kommen: Eingangs hatte ich die Kritik von Mark Lilla erwähnt, der in der Wiederkehr der Religion vor allem eine unheilvolle Politische Theologie am Werke sieht, die den Freiheitsliberalismus der Moderne in die Defensive zu zwingen versucht. Auch wenn Lillas umstandslose Identifizierung der Religion mit Gewalt auf den ersten Blick ungenau und polemisch erscheinen mag, zur Gänze unberechtigt ist sie deshalb nicht. Denn gerade in ihrer offenbarungstheologischen Abtrennung vom Allgemeinen neigt Religion zu einem Absolutismus des Glaubens, der existenziell alles aufs Spiel setzt, um der scheinbar metaphysischen Natur des Einzelnen auf die Spur zu kommen; doch dabei macht sich der Glaube – das hat Lilla zweifellos richtig gesehen – zu einem Werkzeug der Gewalt, welcher Subjektivität und Intersubjektivität gleichermaßen zu vernichten droht, eben weil er nur Extreme kennt. Das, was Lilla also an der Gewaltverfallenheit der Religion kritisiert, bezieht sich zunächst einmal auf ihre existenziell-theologische Gehorsamsvariante; und hier hat Kierkegaard – sicherlich gegen seine eigenen Intentionen – die entscheidenden Mechanismen des paradoxalen Destruktionstriebs der Religion und ihrer Allgemeinheitsverweigerung offengelegt. Denn in der Anbindung an den Voluntarismus bleibt die Rechtfertigung des Opfers an das singuläre, unvermittelbare Moment der individuellen Glaubensüberzeugung gekettet. Und von dort her ist es schließlich nur ein erschreckend kleiner Schritt zu jener Politischen Theologie des 20. Jahrhunderts, die Kierkegaards Inkommensurabilität von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von Einzelheit und Allgemeinheit in ihrer ganzen dämonischen Tiefe aufgearbeitet und auf die epische Freund-Feind-Distinktion höchst folgenreich übertragen hat: In beiden Fällen, existenziell-theologisch wie auch politischtheologisch, bedeutet nämlich intersubjektive Vermittlung letzten Endes immer nur Verrat an der göttlichen Offenbarung – und insofern zählt für beide Gehorsamstheologien nichts so sehr wie die Außerkraftsetzung des Normalzustandes: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt« (Schmitt 1993, 13). – Und das wiederum ist eine absolutistische Vision von Zukunft, die es mit Lilla zu Recht zu fürchten gilt. Taylor indes verfolgt eine andere Argumentationsstrategie, um der Religion in der Moderne Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er knüpft dabei an Kierkegaards Gedanken der Suspension an, dessen Mehrwert er aber jetzt nicht für ein vertikales ›Außer-Kraft-Setzen‹ 282 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Triumph der Gewalt oder Trumpf der Religion?
der Normalität, sondern vielmehr für deren horizontales ›In-KraftSetzen‹ verwendet: Ethos und Sittlichkeit sollen von der Macht der Ausnahme nicht zerstört, sondern durch sie in ihre Allgemeinheit und Respektabilität wieder eingesetzt werden. Gewissermaßen verlangt also die Instandhaltung des moralischen Gesetzes mehr als das Gesetz. Damit sehen wir uns bei Taylor auf Ermöglichungsbedingungen der Freiheit gewiesen, die sich in ihrer Reflexionskraft weder auf die Skylla des Absolutismus noch auf die Charybdis des Relativismus reduktionistisch einlassen muss. Gegen eine totalitäre Interpretation spricht nämlich, dass die Prioritätenordnung der Religion für Taylor zuallererst eine konstitutive Möglichkeit darstellt, »sich selbst und den anderen in einem anderen Licht zu sehen, und insbesondere das Selbstmitleid sowie das Gefühl zu überwinden, persönlich durch das, was der andere tut und ist, verletzt zu sein« (Taylor 1995, 138).
Der liebende Exzess der Religion zielt also bei Taylor nicht auf den unbedingten Gehorsam ab, der eine Person unverwandelt lässt (Abraham ändert sich schließlich auch nicht), sondern in ihm geht es um eine Selbstveränderung, um die Möglichkeit einer Konversion, weil von der schlichten Voraussetzbarkeit der Freiheit entgegen aller rationalen Heilsversprechungen von René Descartes bis Jürgen Habermas einfach nicht mehr ausgegangen werden kann. Wo der Glaube in der Kierkegaard-Version nur dann absolut bei sich ist, wenn er sich gegen jeden Zweifel verhärtet, setzt Taylor ganz auf die durch die Liebe freigesetzte Empfindsamkeit, welche dem Subjekt immer wieder vermittelt, dass er selbst ein anderer werden bzw. hinter sich zurückgehen muss, um das an Freiheit einzulösen, was der Liberalismus in seiner Befreiungsprätention immer schon triumphalistisch vorwegnimmt. Taylor geht es also um die Hervorbringung jener Freiheit, von der man gemeinhin ausgeht, dass sie bereits ist; und in dieser Hinsicht kann Religion eine ethische Auffassung vermitteln, wonach Gerechtigkeit nicht allein im Namen von Herrschaft und Gehorsam erfolgen kann (dazu vgl. neuerdings Menke 2018). Die Zurückweisung der absolutistischen Option produziert aber auch keinen – wie man leicht annehmen könnte – beiläufigen Relativismus, der alles infrage stellt. Zwar spricht Taylor selbst im Zusammenhang bestehender und kodifizierter Geltungsstrukturen von einem notwendigen »Eintauchen in ihre Verneinung« (vgl. Taylor 283 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Michael Kühnlein
2009, 93), doch verbindet sich damit gerade nicht eine Relativierung ihrer Wahrheitsansprüche; vielmehr soll die Negation praktische Vernunft gerade dort unterbrechen, wo ihre Allgemeinheit im Blick auf die konkrete Situation des Einzelnen zur Gewalt führt, weil sie die Verpflichtung zum Gesetz prinzipiell über das stellt, was der Mensch unter den Endlichkeitsbedingungen des Daseins existenziell zu leisten imstande ist. 21 Die von Taylor eingenommene Perspektive verlangt also nicht weniger, sondern mehr Gerechtigkeit – eben weil sie auf die moralische Restitution des vernunftgebenden Subjekts abzielt. Sie relativiert die menschliche Hybris dort, wo sie sich alles zuzutrauen beginnt. Insofern ist die Erinnerung an die Religion bei Taylor mit dem Bewusstsein der moralischen Begrenzung verbunden – dass nämlich die von der transzendentalen Subjektivität gestiftete Wahrheit endlich in dem Sinne ist, als dass sie auch nicht vollständig über den Sinn des Guten verfügt, wenn sie selbst nicht zu jener positiven Metaphysik werden will, die sie ideologiekritisch bekämpft. Bedenkt man nun alle vorgetragenen Punkte, so lässt sich resümieren, dass in der Religion nicht automatisch die Gewalt triumphiert; vielmehr hält sie selbst die entscheidenden Trümpfe bereit, um im Kampf gegen die Gewalt zu reüssieren. Es kommt auf die Narration an.
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Diese Dynamik hat Hegel unter dem Stichwort einer ›Verzeihung des Bösen‹ an prominenter Stelle in seiner Phänomenologie des Geistes analysiert (vgl. Hegel 1986, 492 f.).
21
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Religiöse Wahrheitsansprüche im Menschenrechtszeitalter Marie-Luisa Frick
1.
Einleitung
Über das Verhältnis von Religionen und Menschenrechten ist viel geschrieben worden: dass Erstere Letztere immer schon verbürgten oder umgekehrt verachteten, dass Menschenrechte Religion als stabilisierenden normativen Anker nötig haben oder umgekehrt nur die Überwindung religiöser Weltdeutungen zu ihrem endgültigen Durchbruch führen kann (vgl. dazu insbesondere Witte/Green 2012; Ghanea/Stephens/Walden 2007; Rouner 1988). Haben religiöse Wahrheitsansprüche im Menschenrechtszeitalter überhaupt noch Platz, oder können Religionen nur unter Bedingungen der Relativierung solcher Ansprüche sich in ein harmonisches Verhältnis zum Zeitgeist setzen? Sind Menschenrechte auf dem besten Weg, selbst zur Heilslehre zu erwachsen, zur ultimativen ›Gegen-Religion‹ traditioneller Glaubenssysteme? Es lohnt sich, vor dem Hintergrund nicht selten auch polemisch geführter Debatten über diese Fragen zunächst einen Blick in die Geschichte der Menschenrechte zu werfen, zu welcher inzwischen ein beachtlicher Forschungsstand vorliegt, der noch immer um teils überraschende Einsichten erweitert wird. Nach diesem ersten Schritt, der Erörterung der Frage nach der Bedeutung religiöser Wahrheitsansprüche in der Herausbildung sowohl der Rights of Man/Droits de l’Homme des 18. Jahrhunderts als auch der modernen Human Rights nach 1948, analysiere ich gegenwärtige Positionen religiöser Akteure zu Menschenrechten und die davon ausgehenden ambivalenten Prozesse von Konfrontation und Akkommodation in den Bereichen globaler Menschenrechtsdiskurse und internationaler Menschenrechtspolitik. Dabei richte ich besondere Aufmerksamkeit auf religiöse Menschenrechtskritik in Form von Relativismuskritik. Am Beispiel des Rechts auf Gewissens- und Glaubensfreiheit sowie des Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit möchte ich zeigen, dass den 288 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Religiöse Wahrheitsansprüche im Menschenrechtszeitalter
Menschenrechten ein Substrat an relativistischen Prämissen zukommt, das religiöse Wahrheitsansprüche zwar herausfordert, jedoch gerade durch ihre Relativierung säkular legitimiert. Dass jedoch der Preis des ›relativistischen Stachels‹ für einen solchen Legitimitätsgewinn religiösen Akteuren mitunter als zu hoch erscheint, zeigen Versuche, Menschenrechte nur unter für sie letztlich zersetzenden Vorbehalten bzw. opportunistischen Selektionen zu bejahen. Die Frage, wann Menschenrechte es im Prozess ihrer Akkommodation durch Religionen mit ›echten‹ oder aber ›falschen‹ Freunden zu tun haben, ist angesichts globalisierter Menschenrechtsrhetorik dringlich und fordert auch dazu auf, über Möglichkeiten und Grenzen des menschenrechtlichen universalen Geltungsanspruchs nachzudenken. Wie viel Pluralität und ›Standardabweichungen‹ können Menschenrechte zulassen bzw. ertragen?
2.
Religiöse Wahrheitsansprüche in der Geschichte der Menschenrechte
Wenn wir von Menschenrechten und ihrer Geschichte sprechen, ist es hilfreich, folgende Unterscheidung vorzunehmen: zwischen Menschenrechten als (Vertrags-/Verfassungs-)Katalogen mit konkreten Ansprüchen, die jedem Menschen zukommen, einerseits und der Idee der Menschenrechte andererseits. Letzterer zufolge gibt es (moralische) Ansprüche, die jedem und jeder zukommen, wobei die konkrete Ausgestaltung dieser Normen – abgesehen von diesem Normbegünstigten-Universalismus sowie Normbegünstigten-Individualismus – sekundär ist, solange es sich um gehaltvolle und verwirklichbare Ansprüche handelt (vgl. Frick 2017a). Mit dieser Differenzierung ist es nämlich möglich, zwei scheinbar inkompatible Intuitionen bzw. historische Befunde zu versöhnen, nämlich dass Menschenrechte ein sehr junges Konzept sind, darin verkörperte Werte und Normen aber mitunter bis in die Antike zurückreichen. So ist eine rudimentäre Idee der Menschenrechte durchaus präsent etwa im Kosmopolitismus der Stoa oder auch den Edikten Aśokas, das Menschenrechtszeitalter hingegen kann sinnvoll nicht vor dem 17./18. Jahrhundert angesetzt werden. Erst dann haben Umbrüche im polit-philosophischen Denken über Legitimität von Herrschaft zu revolutionären Erklärungen und Verfassungen geführt, die Menschenrechte zum Anker und Maßstab staatlicher Legitimität er289 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Marie-Luisa Frick
heben. Diese neuzeitlichen Rights of Man/Droits de l’Homme sind freilich noch nicht identisch mit den modernen Human Rights, wie sie seit der 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Universal Declaration of Human Rights entwickelt wurden, und zwar aus einer Mehrzahl von Gründen. Neben Spannungen zwischen Exklusivität und Inklusivität, welche in den neuzeitlichen Menschen- und Bürgerrechten teilweise deutlich sichtbar sind, oder auch unterschiedlichen Begründungsstrukturen (Naturrechtstheorien/Menschenwürde) ist insbesondere folgender Unterschied im institutionellen Regime bedeutsam: Neuzeitliche Menschenrechte verstehen sich vorrangig als staatliche Bindung bzw. Versprechen gegenüber Bürgern bzw. Menschen in ihrem Einflussbereich und verfügen noch über keine Besicherung in intergouvernementalen Versprechen bzw. multilateralen Verträgen und Kontrollmechanismen. Bevor nun die Rolle religiöser Wahrheitsansprüche in der Herausbildung der neuzeitlichen sowie der modernen Menschenrechte überblickartig nachgezeichnet wird, möchte ich noch klären, wie in diesem Kontext religiöse Wahrheitsansprüche definiert werden. Unter diese Kategorie fasse ich zweierlei Arten von Ansprüchen auf Wahrheit von Behauptungen: (a) solche, die sich auf die Gotteserkenntnis im weiten Sinne beziehen (»Das höchste Wesen ist x«, »Götter sind y« etc.) sowie (b) solche, die sich auf Frömmigkeit im weiten Sinne beziehen (»Gott will, dass wir x«, »Die Götter wollen verehrt werden durch y« etc.). Dass diese beiden Arten von Wahrheitsansprüchen ungeachtet dieser analytischen Differenz freilich selten unabhängig voneinander wirken, wird im Folgenden deutlich werden.
2.1. Neuzeitliche Menschenrechte Geboren aus naturrechtlichen Theoriesträngen, die sich keineswegs harmonisch zueinander verhalten, spiegeln die neuzeitlichen Menschenrechte auch ebendiese Vielschichtigkeit in mehr als einer Hinsicht. Der Einfluss religiöser Wahrheitsansprüche auf die natürlichen Rechte des Menschen, wie sie in den Rights of Man/Droits de 290 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Religiöse Wahrheitsansprüche im Menschenrechtszeitalter
l’Homme erklärt werden (vgl. Jellinek 1919; Joas 2011), ist durchgängig ambivalent (vgl. Grayling 2007). Nicht nur stehen religiöse Wahrheitsansprüche gegen religiöse Wahrheitsansprüche, wenn es um die Basislegitimation dieser Rechte geht. Auch innerhalb der Rechte-Tradition besteht keine Einmütigkeit in ›letzten Fragen‹. So können die neuzeitlichen Menschenrechte zwar zurückbezogen werden auf die Sozialkontraktstheorien, wie sie sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts ausgebildet haben; diese Theorien selbst aber weisen sowohl einen (eher) säkularen (und positivistischen) Charakter auf (vgl. Milton; Hobbes; Rousseau; Paine) als auch einen (stark) metaphysisch-religiösen Grundzug (vgl. Locke). So ist die von der revolutionären Französischen Nationalversammlung verkündete Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (Französische Nationalversammlung 1789) zwar nicht frei von Wahrheitsansprüchen – dass das Volk sich selbst bestimmen und Gesetze geben darf, dass es »natürliche, heilige und unveräußerliche« Rechte des Menschen gibt und diese den Zweck des Staates ausmachen –, diese werden aber nicht rückgebunden an theologische Behauptungen. Im Gegenteil atmet diese Erklärung einen betont weltlichen Geist, der sich dem Anspruch des französischen Königs, von Gottes Gnaden und als Rex Christianissimus zu herrschen, unmissverständlich entgegenstellt. Dass hingegen die amerikanische Declaration of Independence (Continental Congress 1776) der sich von England loslösenden 13 Kolonien die darin erklärten Grundrechte (»life, liberty, pursuit of happiness«) als dem Menschen von Gott mitgegebene Rechte ausweist (»endowed by their Creator«), ist kein Zufall und auch nicht allein ein strategischer Rückgriff auf die bewährte Wirksamkeit von sakraler Rhetorik. Es handelt sich dabei um einen religiösen Wahrheitsanspruch im Sinne der Gotteserkenntnis, aus dem sich ein Menschenbild und in weiterer Folge eine Ethik ableiten lässt, welcher breit geteilt wurde – sowohl bei reformierten Glaubensgemeinschaften wie auch bei Deisten, zu welchen sich zahlreiche Gründerväter der USA zählten: Ein Schöpfergott – christlich oder ›philosophisch‹ vorgestellt – hat die Welt recht geordnet, keine natürlichen Unterschiede zwischen die Menschen gelegt und ihnen Freiheit geschenkt. Die Verletzung dieser menschlichen Gleichfreiheit gerät vor diesem Hintergrund unmittelbar in Verdacht, gegen die rechte Frömmigkeit zu verstoßen, welche sich dann gerade auch in Form der Achtung der natürlichen Menschenrechte bestimmen lässt. – Zumindest im Falle eines christlichen Gottesbildes, welches ein fortwährendes und nicht 291 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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nur anfängliches Interesse Gottes an seiner Schöpfung unterstellt. Bereits bei Locke (1689) werden die natürlichen Rechte des Menschen als gottgegebene beschrieben, deren Verletzung in Gottes Eigentum eingreift, das Menschen letztlich sind (vgl. Locke 1966; Locke 2012). Wie im Fall der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen ist auch die Declaration of Independence selbst wiederum gegen andere religiöse Wahrheitsansprüche gerichtet, konkret gegen das Divine right of kings, das Gehorsam gegenüber Monarchen wie George III. als Akt von Frömmigkeit bzw. religiöse Pflicht bestimmt. Als besonders einflussreich haben sich religiöse Wahrheitsansprüche der reformierten bzw. freichristlichen sowie deistischen Gruppierungen im Zusammenhang mit dem Recht auf Glaubensfreiheit sowie mit der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei erwiesen. Glaubensfreiheit, sich allmählich aus Toleranzdiskursen herausentwickelnd, war für viele der Minderheitenkonfessionen und dissenters eine Überlebensfrage – im alten und im neuen England. Selbst verfolgt von den Puritanern in Massachusetts, hat als einer der ersten Roger Williams einen universalen Anspruch jedes Menschen auf Gewissensfreiheit vertreten, auch des heidnischen und sogar anti-christlichen (vgl. Williams 1867). Sein Hauptargument ist ein theologisches: Nicht dem Menschen, sondern allein Gott steht ein Urteil zu, wenn es darum geht, die Gerechten von den Frevlern zu scheiden. 1 Williams, Mitbegründer der ersten baptistischen Kirche in Nordamerika, steht daher nicht nur in seiner Zeit, sondern weit darüber hinaus für eine mit spezifischen religiösen Wahrheitsansprüchen untermauerte Glaubensfreiheit, die dort an konkurrierende religiöse Wahrheitsansprüche prallt, wo Menschen sich konkret ermächtigt oder sogar beauftragt fühlen, andere zum Heil zu zwingen oder Gottes Schöpfung von Verderbnis zu säubern. Wie auch an aktuellen Konflikten um Religionsfreiheit sichtbar wird, kann im Fall missionarischer Glaubenssysteme letztlich nur ein Williams’scher Zugang, der den Anderen ›aufgibt‹ (vgl. Frick 2010) und zudem in die Forderung nach Trennung von Kirche(n) und Staat mündet, ein universales Recht auf Glaubensfreiheit fundamentieren.
1 Fast ein halbes Jahrhundert später wird John Locke seinen Letter Concerning Toleration veröffentlichen, in dem der überzeugte Protestant zwar ebenfalls mit dem nämlichen Argument für eine gewisse Religionsfreiheit eintritt, diese allerdings Katholiken und Atheisten aus politischen Gründen vorenthält (vgl. Locke 1996).
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Religiöse Wahrheitsansprüche im Menschenrechtszeitalter
Auch die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels (in England 1807) sowie der Sklaverei (zwischen Ende des 18. Jahrhunderts in einzelnen US-Bundestaaten, 1833 in England und seinen Kolonien und schließlich durch den 13. Verfassungszusatz in den USA 1865) zeigt den Einfluss religiöser Wahrheitsansprüche – auf beiden Seiten. Mit religiösen Wahrheitsansprüchen unterfütterte abolitionistische Agitation hatte dabei insbesondere gegen die Legitimierung von Sklavenhaltung im Alten Testament und daraus weiterentwickelte neuzeitliche Rechtfertigungsdiskurse anzukämpfen. Für die einen war die Versklavung von Afrikanern eine in von Gott festgelegten Hierarchien und der »Great Chain of Being« verbürgte Praxis und damit moralisch unproblematisch. Für ihre Gegner wiederum stellte sie umgekehrt eine Verkehrung der göttlichen Ordnung und den Inbegriff von Sünde dar. In den Worten der Bostoner Abolitionistin Mary Weston Chapman ist Sklaverei nicht weniger als eine Verletzung von Gottes »sure law of truth and right« (Weston Chapman 1836, 21). Dass Letztere sich dennoch durchsetzen konnten – allen voran in England, wo es zu einer einzigartigen Massenbewegung kam –, ist dabei zu großen Teilen den Gemeinschaften der Methodisten und der Religious Society of Friends (»Quäker«) zu verdanken (vgl. Forst 1980). Vertreter dieser Gruppen waren maßgeblich beteiligt an der Gründung der englischen Society for Effecting the Abolition of the Slave Trade und hatten Anteil daran, dass etwa in Pennsylvania Sklaverei bereits 1780 abgeschafft wurde. John Wesley, Mitbegründer der Methodistischen Bewegung, war aktiver Gegner der Sklaverei ebenso wie die Quäker John Woolman und Antony Benezet, Gründer der Society for the Relief of Free Negroes Unlawfully Held in Bondage. Im Fall der Quäker scheint insbesondere die Vorstellung, dass jedem Menschen das Licht Gottes innewohnt, die Idee der Menschenwürde vorbereitet und den daraus abgeleiteten Humanismus vorstrukturiert zu haben. So schreibt etwa Thomas Clarkson, zentrale Figur der britischen Abolitionismusbewegung, in seiner von Dankbarkeit getragenen Schrift über das Quäkertum: »They view man, in the first place, as the temple in which the Divinity may reside. This procures him respect« (Clarkson 1806, 368).
Hingegen kam es innerhalb der etablierten christlichen Kirchen, der katholischen und den orthodoxen, aber auch den reformierten, zu 293 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Marie-Luisa Frick
keiner vergleichbaren Positionierung für die Abschaffung der Sklaverei, für die sich – um kein einseitiges Bild zu zeichnen – freilich in Europa wie Nordamerika auch Persönlichkeiten und Staatsmänner engagierten, deren Bekenntnis nicht christlich genannt werden kann und deren etwa deistischer Wahrheitsanspruch hinsichtlich der Eigenschaften Gottes (»Erster Beweger, der nicht näher an uns Menschen interessiert ist«) nicht zugleich Wahrheitsansprüche rechter Frömmigkeit mit sich führte. Diese Gruppen, ebenso religionsfreie Personen, bezogen ihre Einschätzung hinsichtlich der Verabscheuungswürdigkeit der Sklaverei aus Quellen humanistisch-säkularer (Mitgefühls-)Moral, oft in Verbindung mit politisch-libertärer Abneigung gegen diese Institution.
2.2. Moderne Menschenrechte Die modernen Menschenrechte sind geboren aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges 2 und unterscheiden sich von den neuzeitlichen Menschenrechten auch durch die Einführung eines neuen Begründungskonzepts, das der Menschenwürde. Das wichtigste Dokument dieser Epoche im Menschenrechtszeitalter ist die Universal Declaration of Human Rights (UNO 1948). Diese ist zwar durchaus inspiriert von den Rights of Man/Droits de l’Homme, aber so wie ihre Vorläuferin, die American Declaration of Rights and Duties of Man (Organization of American States 1948), möchte sie angesichts der so deutlich zu Bewusstsein getretenen Bedrohung der Menschenrechte durch totalitäre Staaten Menschenrechte mit einer überpositiven Norm absichern, der »dignity of the individual«/»dignity of the human person« (UNO 1948). Diese Idee der Menschenwürde, wie sie in allen nachfolgenden wichtigen internationalen und auch regionalen Übereinkommen zum Menschenrechtsschutz aufscheint (vgl. auch UNO 1966; Europarat 1950), ist zwar nicht näher bestimmt und damit anschlussfähig an verschiedene weltanschauliche Ausdeutungen. Die Menschenwürde der Universal Declaration of Human Rights ist zwar an keinen – im Ausarbeitungsprozess noch in Form eines Hinweises auf »the image and likeness of God« diskutierten (vgl. Morsink 2017, 5 f.) – GottesInwieweit sie dabei als Reaktion auf die Shoa entwickelt wurden, ist umstritten (vgl. insbesondere Moyn 2015; Morsink 2017).
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bezug gekoppelt, zollt aber konkret durch den nachfolgenden Hinweis auf das Gewissen, mit dem alle Menschen begabt seien, Tribut an die Ethik der christlichen/abrahamitischen Tradition. Diese ist im Drafting Committee insbesondere präsent durch den Philosophen und libanesischen Christen Charles Malik, den Chilenen Hernán Santa Cruz sowie im weiteren Kreis der Drafter durch Carlos Peña Rómulo von den Philippinen und den katholischen Philosophen Jacques Maritain. Letzterer positionierte sich ausdrücklich gegen nicht-religiöse Fassungen der Menschenwürde, denn: »The worth of the person, his liberty, his rights arise from the order of naturally sacred things which bear upon them the imprint of the Father of Being […]« (Maritain 2012, 67).
Mit René Cassin, der für seine Mitarbeit an der Deklaration mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, ist auch die jüdische Ethik vertreten, auch wenn Cassin nicht im strengen Sinne religiös, sondern eher als »secular Jewish universalist« (Winter/Prost 2013, 318; vgl. auch Morsink 2017, 27 f.) einzuordnen ist. Ihre Prominenz in diesem spezifischen Kontext verdankt die Menschenwürde, so zeigen es jüngste Untersuchungen der Rechtsund Ideengeschichte, der christlichen (konkret: katholischen) ›Entdeckung‹ der Würde der Person als taugliches Instrument in der Konfrontation bzw. Herausforderung durch totalitäre Systeme des Faschismus und Kommunismus auf der einen und der vermeintlich materialistisch-egoistischen freien Welt auf der anderen Seite. Samuel Moyn schreibt dazu: »It was thus in a moment of discovering two extreme political ideologies that, in its view, left no room for Christianity that the Church discovered its sovereignty over the ›human‹, over which in turn no merely temporal politics can claim full authority« (Moyn 2015, 45).
Es ist dieser Kontext, in welchem die katholische Kirche ihre vorbehaltlos ablehnende Haltung zu den Rights of Man/Droits de l’Homme (vgl. insbesondere Isensee 1987) in eine vorbehaltliche Inkorporation ihrer normativen Grundlagen überführt (vgl. Uertz 2005; Bloch 2007). Hatte noch Papst Gregor XVI. etwa die Glaubensfreiheit der neuzeitlichen Menschenrechte als »error pestilentissimus« gegeißelt (vgl. Gregor XVI. 1832), wird diese Freiheit nun im Angesicht der Bedrohung durch ›gottlose‹ Ideologien umso klarer bekräftigt. Nicht 295 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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länger gleichgesetzt mit Indifferentismus und Relativismus, wird das Recht auf Religionsfreiheit als Abwehrrecht der Kirche und ihres Glaubens aufgenommen und nach und nach mit der Idee der Personenwürde als individuellem Recht der Gläubigen theologisch akkommodiert, bis schließlich 1965 mit der Konzilserklärung Dignitatis humanae Anspruch auf Verkörperung der Heilswahrheit und Glaubensfreiheit offiziell versöhnt wurden (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil 1965). Diese christlich(-katholisch)en Rückgriffe auf naturrechtlich-metaphysische Vorstellungen im Zeitalter der politischen Totalitarismen haben auch die Europäische Menschenrechtskonvention, wie sie unter der Ägide des Europarates erarbeitet wurde, geprägt (vgl. Europarat 1950; dazu Duranti 2017). Hinsichtlich der erweiterten Verhandlung religiöser Wahrheitsansprüche im Ausarbeitungsprozess der Universal Declaration of Human Rights waren letztlich wenige mehrheitsfähig. Trotz langer Debatten und auch Interventionen von christlichen Verbänden (vgl. Morsink 2017, 199–201) wurde beispielsweise das Recht auf Ehe und Familie (vgl. UNO 1948, Art. 16.) nicht so gefasst, dass es Scheidungen ausschloss. Im Gegenteil sind darin die gleichen Rechte der Partner während und bei Auflösung der Ehe klar festgehalten. 3 Nicht konsensfähig waren auch Bestrebungen islamischer Staaten, das Recht auf Ehe nur im Rahmen nationaler Rechtsordnungen zu gewähren, was das gleiche Recht auf Ehe für Männer und Frauen durch das Scharia-Verbot für Musliminnen, Nicht-Muslime zu heiraten, unterlaufen hätte. Im Zusammenwirken mit anderen Rückschlägen führte dies letztlich zur Enthaltung Saudi-Arabiens bei der Abstimmung über die Universal Declaration of Human Rights in der UNGeneralversammlung (vgl. Frick 2017b). Subtil sind Spuren, die nicht-abrahamitische Traditionen in der Universal Declaration of Human Rights hinterlassen haben, wie etwa mittels des chinesischen Philosophen Peng Chun Chang. So geht, folgt man Morsinks Rekonstruktion, das in Artikel 25 erklärte Recht auf angemessenen Lebensstandard, eingeschlossen Nahrung und Kleidung, auf entsprechende konfuzianische Pflichten des Herrschers zur Daseinsfürsorge zurück (vgl. Morsink 2017, 29 f.). Im Endeffekt ist die Universal Declaration of Human Rights ein Kompromiss zwischen verschiedenen religiösen Traditionen sowie zwischen Zum Spannungsverhältnis religiös-patriarchaler Normensysteme und der Menschenrechte der Frau vgl. insbesondere Moller Okin 1999 und Raday 2003.
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Religiöse Wahrheitsansprüche im Menschenrechtszeitalter
diesen und materialistisch-sozialistischen und liberalen Positionen, der nicht zuletzt dadurch möglich wurde, dass man diese ideologischen Auffassungsunterschiede immer noch geringer einstufte als die gemeinsame Distanz zum Nationalsozialismus.
3.
Zwischen Konfrontation und Akkommodation: Religiöse Wahrheitsansprüche und Menschenrechte heute
Ihre mit der Universal Declaration of Human Rights eingeleitete Globalisierung hat die Menschenrechte mit religiösen Wahrheitsansprüchen weltweit in Gespräche gebracht, deren Tenor bis heute oszilliert zwischen freundlich-neugierig und ablehnend-feindlich. Und selbst dort, wo die ursprünglich als ketzerisch eingestufte Menschenrechtsidee weitgehend akkommodiert worden ist, wie etwa in der katholischen Theologie und Lehre, bereitet die Freiheitsdimension der Menschenrechte und ihr grundsätzlich nicht-konfessioneller Charakter mitunter Unbehagen, welches vertiefende transsystemische ›Übersetzungsleistungen‹ blockiert. Warum das so ist 4 und welche Konflikte gegenwärtig vom Aufeinandertreffen religiöser Wahrheitsansprüche mit menschenrechtlichen Normen und Werten ihren Ausgang nehmen, soll in den folgenden Abschnitten anhand konkreter Beispiele erörtert werden.
3.1. Der ›relativistische Stachel‹ der Menschenrechte Mit dem Zeitalter der Menschenrechte bricht eine Epoche an, die herkömmliche Moral ebenso erschüttert wie traditionelle Ordnungskonzepte und Legitimitätstheorien. Menschenrechte stehen eben nicht einfach für Werte, die kulturelle/religiöse Traditionen immer schon gekannt und vertreten hätten, sondern erweisen sich in mehrerlei Hinsicht als ungemein anspruchsvoll (vgl. Ignatieff 2017). Zugleich verdanken die neuzeitlichen Rights of Man/Droits de l’Homme ihren
Eine aktuelle empirische Studie legt nahe, dass zwischen der Religiosität von Bevölkerungen und Menschenrechtsdefiziten ihrer Staaten immerhin Korrelationen bestehen, und vermutet darüber hinaus einen Kausalzusammenhang in Form der Spannung zwischen religiösen Binnenuniversalismen und egalitären Rechten (vgl. Cingranelli/Kalmick 2019; dazu auch Frick 2017a).
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Durchbruch Revolutionen – 1649 und noch deutlicher 1688 in England, 1775 in den britischen Kolonien in Amerika und 1789 in Frankreich. Diese wurden ideengeschichtlich vorbereitet von Denkern, die ein neues Menschenbild vertraten, das in zentralen Bereichen mit herrschenden christlichen – katholischen wie reformierten – Vorstellungen der natürlichen Ordnung brach. Dass Menschen nicht (bloß) erlösungsbedürftig sind, sondern sich selbst ermächtigen können und ihr Schicksal selbst gestalten, sich erheben aus den Fesseln des ihnen von vermeintlich göttlicher Vorsehung zugewiesenen Standes und Gehorsam nicht als Tugend begreifen, sondern als Gegenleistung: Die (Selbst-)Erhöhung des Subjekts zum entscheidenden Maßstab für die Legitimität von Herrschaft und zum Träger von natürlichen Ansprüchen gegenüber dem Staat und anderen (anstelle von primären Pflichten) – wie es der Sozialkontraktualismus lehrt – war (und ist) für seine Gegner ein durchwegs häretisches Projekt (vgl. Ignatieff 2003; Ceming 2010). Dieses setze, so Kritiker, unkontrollierbares Anspruchsdenken an die Stelle von Demut, menschliche beschränkte Urteilskraft an die Stelle göttlicher Weisheit und Gleichmacherei gegen in der Schöpfung eingeschriebene natürliche Hierarchien (vgl. insbesondere Maistre 1812). Besonders der letzte Aspekt ist Quelle hartnäckiger Widerstände gegen das Projekt universaler Menschenrechte etwa innerhalb der islamischen und jüdischen Tradition. Eine als von Gott bevorzugt oder auserwählt vorgestellte Glaubens(volk)gemeinschaft kann den Anspruch ausnahmslos aller Menschen – allen voran der ›Ungläubigen‹ und ›Frevler‹ – auf grundsätzlich gleiche Menschenrechte nur unter Neudeutungen ihres Selbstverständnisses akzeptieren. Dies geschieht zwar in unterschiedlichen Theorien und Theologien, riskiert jedoch immer auch Konflikte mit herrschenden ›Orthodoxien‹. Auch im Christentum hat sich zuletzt im Bereich der russisch-orthodoxen Kirche eine insofern ambivalente Positionierung zu Menschenrechten etabliert, als diese zwar grundsätzlich als mit den Grundlagen des christlichen Glaubens vereinbar angesehen werden, allerdings unter bedeutenden Vorbehalten (vgl. Pollis 1993; Stoeckl 2014). In ihrer Verlautbarung The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights (Russisch-Orthodoxe Kirche 2008) erklärt die russisch-orthodoxe Kirche unter anderem, dass zwar alle Menschen von Gott mit Würde ausgestattet sind, diese aber Schaden nehmen kann durch die Entfernung des sündigenden Menschen von Gott. Ähnlich hat bereits etwa zwanzig Jahre zuvor die 298 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Organisation der Islamischen Konferenz in ihrem Gegenentwurf zur Universal Declaration of Human Rights, der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, die volle, unbeschädigte Menschenwürde an den »wahren Glauben« geknüpft (vgl. Organisation der Islamischen Konferenz 1990). 5 Aus diesen Vorbehalten, die zunächst die Gleichheitsdimension der Menschenrechte betreffen, ergeben sich gewichtige Implikationen für die menschenrechtliche Freiheitsdimension, das heißt für die Frage, welche Rechte wozu genau Menschen eigentlich legitimerweise haben sollen. Alles, was religiöse Wahrheitsansprüche in Bezug auf die rechte Frömmigkeit tangiert, wird dann in dem Ausmaß problematisch, in dem solche Wahrheitsansprüche nicht in entscheidender Weise relativiert werden: Erst wenn sie von denen, die sie vertreten, als Ansprüche verstanden werden, die für sie zwar absolut – das heißt: losgelöst von menschlichem Urteilen und Dafürhalten – gültig sind, innerhalb des menschenrechtlichen Paradigmas aber nur pares inter pares sein können, lassen sich Menschenrechte und Religionen in ein verträgliches Verhältnis setzen. Dies ist der ›relativistische Stachel‹, den Religionen – und überhaupt jedes von absoluten Wahrheitsansprüchen getragene ideologische System – notwendig verschmerzen müssen, wenn sie das Territorium der Menschenrechte betreten (vgl. Ghanea 2012), und erklärt ihren »quälend lange[n] Lernprozess« (Wittreck 2013, 39) in ebendieser Hinsicht. Das Recht auf Glaubensfreiheit ist ein anschauliches Beispiel: Es schützt eben jeden Glauben, auch den der ›verrücktesten‹ Konfession und auch den der kleinsten Sekte, und ausdrücklich auch den NichtGlauben. Das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit schützt auch ›Irrlehren‹, und das Recht auf Bildung ist kein Recht auf die ›richtigen‹ Inhalte etc. Und auch die Begründung der Menschenrechte mit der menschlichen Ebenbildlichkeit (Christentum/Judentum) oder Stellvertretung Gottes (Islam) ist eben nur eine unter mehreren möglichen, die grundsätzlich religionsferne Anhänger der Menschenrechte nicht davon abhalten kann, den ultimativen Wert des Menschen mit Immanuel Kant in seiner sittlichen Autonomie zu verorten. Um-
Dass es sich dabei um keine Position handelt, die nur ›radikale‹ islamische Strömungen vertreten, zeigt auch das Beispiel von Seyyed Hossein Nasr, der ebenfalls betont: »To be fully human is to have an awareness of the central reality of who we are. When we do not have full awareness of this, we are only accidentally but not fully human« (Nasr 2006, 301 f.).
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gekehrt freilich ermöglicht ein universales Recht auf Glaubensfreiheit religiösen Menschen wie auch zu einem gewissen Grad religiösen Institutionen Schutz und Freiräume. Man kann auch sagen, gerade aus ihrer in den Menschenrechten angelegten Relativierung liegt die Quelle weltlicher Legitimität von religiösen Wahrheitsansprüchen, welche auch von Nicht-Religiösen anerkannt werden muss, wenn sie sich den Menschenrechten verpflichtet fühlen. Religiöse Traditionen bzw. ihre Mitglieder bewältigen den ›relativistischen Stachel‹ der Menschenrechte mit unterschiedlichem Erfolg. Zwar gilt, was die völkerrechtliche Dimension der Menschenrechte betrifft, Peter Petkoffs Einschätzung: »Religious cultures can no longer ignore the existence of international law as something which could be dismissed as culturally irrelevant and must gradually learn to engage with it and use it« (Petkoff 2015, 229; vgl. auch Kirchschläger 2016).
Jedoch ist der Preis für eine weltliche Legitimierung ihrer Wahrheitsansprüche in Form von deren Relativierung vielen religiösen Akteuren zu hoch – nicht nur deshalb, da diese Legitimierung nicht bedingungslos erfolgt und besonders dort ihre Grenzen findet, wo das Recht auf Glaubensfreiheit mit anderen Menschenrechten in Konflikt gerät wie beispielsweise im Fall der Menschenrechte des Kindes oder der Frau. Nur eine unter anderen Religionen zu sein, ist für Anhänger und Anhängerinnen allen voran des Islams eine noch nicht einmal in Ansätzen bewältigte Zumutung, wie das Verbot des Glaubenswechsels zeigt. Dieses war bereits in der Vorbereitungsphase der Universal Declaration of Human Rights ein Streitfall, als etwa Saudi-Arabien, Ägypten und zunächst auch Pakistan gegen ein umfassendes Recht auf Religionsfreiheit opponierten (vgl. Frick 2017b). Bis heute ist Apostasie nach Lehre aller islamischen Rechtsschulen verboten und ein todeswürdiges Verbrechen (vgl. Saeed/Saeed 2004). In diesem Fall gründet der religiöse Wahrheitsanspruch, wonach Apostaten Verbrecher sind, auf der Prophetentradition, den Hadithen. Dass dieser Wahrheitsanspruch nicht (leicht) mit der erstrangigen Quelle islamischen Rechts, dem Koran, vereinbar ist, eröffnet zumindest ein kleines Fenster zur Revision der Tradition im Lichte menschenrechtlicher Erfordernisse. Dennoch treffen solche Reformansätze (vgl. insbesondere An-Na’im 1996) regelmäßig auf Kritik, sie würden etwas von Gott absolut Gesetztes menschlichen bzw. zeitgeistigen 300 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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Bedürfnissen nach unterordnen. Wo religiöse Wahrheitsansprüche zugleich hermeneutische Wahrheitsansprüche sind wie im Falle der Buchreligionen, stehen reformatorische Zugänge rasch im Verdacht, Semantik von privaten Zwecken abhängig zu machen und dadurch in Ungehorsam gegenüber der göttlichen Autorität zu relativieren. Der ›relativistische Stachel‹, der aus ›orthodoxer‹ Sicht den modernen Menschenrechten zudem in einem diskriminierungslosen Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit innewohnt (Stichwort: Blasphemie), erscheint nicht nur nach wie vor einer Mehrzahl an Muslimen und Musliminnen weltweit als unerträglich. Davon zeugt auch die erwähnte Erklärung der russisch-orthodoxen Kirche. Klassische, das heißt im UN-System breit akzeptierte Menschenrechte wie insbesondere das Recht auf persönliche Freiheit oder das Recht auf Familie und Privatsphäre geraten dort unter Druck, wo ihre Grenzen bei »absolut bösartigen Dingen« gezogen werden, wie konkret »Abtreibung, Suizid, Unzüchtigkeit, Perversion, Zerstörung der Familie, der Verehrung von Grausamkeit und Gewalt« (Russisch-Orthodoxe Kirche 2008, Art. 2.2.). 6 Generell hält diese Erklärung fest: »Menschenrechte können nicht über den Werten der spirituellen Welt stehen« (Russisch-Orthodoxe Kirche 2008, Art. 3.1.). Insbesondere dürften sie Gläubige nicht dazu zwingen, gegen Gottes Gebote zu handeln, und sollten weder Sünde noch gesellschaftliche Unordnung propagieren (vgl. Russisch-Orthodoxe Kirche 2008, Art. 3.3., 4.4.). Obwohl die russisch-orthodoxe Kirche gegenwärtig – auch politischen Gründen geschuldet – die wohl prononcierteste Menschenrechtskritik artikuliert und in internationalen Foren offensiv vertritt (vgl. Petkoff 2015), sind derartige Vorbehalte auch dem katholischen Christentum nicht fern, das, wie angesprochen, einen bemerkenswerten Wandel von Anfeindung hin zu Aneignung und sogar Verteidigung menschenrechtlicher Normen vollzogen hat. Nicht nur aus der Relativismuskritik Papst Benedikts XVI. (vgl. Frick 2010, 99–107) spricht eine unmissverständliche Gegnerschaft zu einer von christlichen Wahrheitsansprüchen entkoppelten Freiheitsdimension der Menschenrechte sowie zu deren Aktualisierung in offenen demokratischen Prozeduren. Auch sein Nachfolger teilt die Ablehnung von Rechten, die Menschen sich selbst gewähren, ohne zugleich die HeilsSämtliche deutsche Übersetzungen aus der englischen Version der Verlautbarung The Russian Orthodox Church’s Basic Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights durch die Autorin.
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wahrheiten der Kirche dabei zum Maßstab zu nehmen. In einer Rede vor dem EU-Parlament 2014 7 kleidet Papst Franziskus diese Ablehnung in mahnende Sorge: »Man muss aber Acht geben, nicht Missverständnissen zu verfallen, die aus einem falschen Verständnis des Begriffes Menschenrechte und deren widersinnigem Gebrauch hervorgehen. Es gibt nämlich heute die Tendenz zu einer immer weiter reichenden Beanspruchung der individuellen – ich bin versucht zu sagen: individualistischen – Rechte, hinter der sich ein aus jedem sozialen und anthropologischen Zusammenhang herausgelöstes Bild des Menschen verbirgt […]« (Franziskus 2014a).
Ohne Einbettung in ein System ergänzender Pflichten und ohne Rückbindung an die Idee des Gemeinwohls würden Menschenrechte letztlich disharmonisch und eine Quelle von Konflikten. Dieser Zugang ähnelt stark der zurückhaltenden Würdigung des Projektes der Universal Declaration of Human Rights durch Mohandas Karamchand Gandhi, der für eine Pflichtenethik anstatt Menschenrechten plädierte (vgl. Gandhi 1947). Welche Pflichten Papst Franziskus vor Augen stehen, lässt sich aus seiner Ausdeutung der Menschenwürde ersehen, die er nicht primär nur aus der menschlichen Ebenbildlichkeit Gottes leitet, sondern aus der »Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden« (Franziskus 2014a). Das gebiete, »den Menschen nicht als ein Absolutes zu betrachten, sondern als ein relationales Wesen« (Franziskus 2014a).
3.2. Religionen entgegenkommen? Von Kompromissen mit echten und falschen Freunden Angesichts der skizzierten Konflikte zwischen den in modernen Menschenrechten eingegossenen gleichen Freiheiten und religiösen Wahrheitsansprüchen hinsichtlich der rechten Frömmigkeit stellt Seine Ansprache vor dem Europarat im Zuge derselben Reise widmet sich ebenfalls Menschenrechten, fällt aber merklich zurückhaltender aus und stellt das Lob für die Verdienste der Europäischen Menschenrechtskonvention in den Vordergrund (vgl. Franziskus 2014b). Warum Papst Franziskus vor dem EU-Parlament so betont kritisch auftritt, könnte damit erklärt werden, dass er wie seine Vorgänger in der Volkssouveränität einen »demokratischen Relativismus« (Papst Benedikt XVI.) bzw. den Wegbereiter zu einem »substanziellen Totalitarismus« (Papst Johannes Paul II.) erblickt (vgl. Frick 2010, 99–107).
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sich die Frage, inwieweit ein Ausgleich oder Kompromiss zwischen beiden Paradigmen möglich ist. Anders formuliert: Was müssen Menschenrechte von Religionen, die als ihre Unterstützer bekannt sein wollen, in jedem Fall verlangen und wo besteht Spielraum für flexible Interpretationen und Implementierungen? Man könnte bereits gegen diese Frage als solche einwenden, dass Menschenrechte universal sind und derartige Aushandlungen oder gar Verkürzungen ihrem Wesen nach nicht gestatten. Mit Blick jedoch auf die Ebene des internationalen Menschenrechtsrechts ist dieser Idealanspruch schwer einzulösen. Nicht nur der Vatikan als Völkerrechtsubjekt sui generis, auch andere mehr oder weniger explizit konfessionell gefasste Staaten betreiben Menschenrechtsdiplomatie, lobbyieren ihre Positionen neben einer Heerschar von (trans-)konfessionellen Nichtregierungsorganisationen. Dialog mit Religionen bleibt Menschenrechten hier jedenfalls nicht erspart, wie nicht nur die Ausarbeitung der Universal Declaration of Human Rights, sondern aller folgenden internationalen Menschenrechtsverträge zeigt. Es gibt aber auch weitere Gründe, diesen Dialog nicht nur als Belastung anzusehen, die man sich in einer idealen Welt, wo ›Vernunft‹ über ›Aberglauben‹ längst gesiegt hat, ersparen könnte. Die Idee der Menschenrechte selbst, indem sie keinen wie auch immer gearteten prinzipiellen Vorrang der einen Menschen vor anderen zulässt, legt als solche nahe, religiöse Personen und Gruppen nicht vorab von der Mitautorschaft an den Menschenrechten auszuschließen – noch bevor ein Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit zusätzlich den Spielraum legitimer weltanschaulicher Differenz öffnet. Menschenrechte repräsentieren gerade keine übermenschlichen Wahrheiten, sondern soziale Konstruktionen (vgl. etwa Gregg 2012; Frick 2013). Nur eine solche Selbst-Relativierung bewahrt sie davor, selbst zu einer (Ersatz-)Religion zu werden. Zum anderen darf man nicht zuletzt mit Blick auf die Geschichte hoffen, dass sich Religionen in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der ›Kultur der Menschenrechte‹ an die für sie zunächst mitunter befremdlichen bis schwer verdaulichen normativen Logiken, die Menschenrechten eigen sind, selbstkritisch heranwagen und angewöhnen und in davon ausgehenden Prozessen Transformationen eingeleitet werden, die der Stärkung der Menschenrechte langfristig dienen (vgl. insbesondere Amesbury/Newlands 2008; Wittreck 2013). Um die Risiken religiöser Vereinnahmung und Instrumentalisierung zu mindern, benötigen Menschenrechte jedenfalls klare 303 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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konzeptionelle Konturen. Erst unter dieser Bedingung und mit entsprechender Wachsamkeit nämlich lässt sich entscheiden, wann Menschenrechte genuin in religiöse Überzeugungssysteme übersetzt werden und wann sich falsche Freunde lediglich ihres wohlklingenden Namens bemächtigen. Ein Beispiel dafür ist die Propagierung des Konzepts der »Diffamierung (defamation) von Religion« in globalen Menschenrechtsdiskursen, wie sie konkret von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (bis 2011: Organisation der Islamischen Konferenz) seit Jahren intensiv betrieben wird (vgl. Langer 2013; Petkoff 2015). In ihrer eigenen Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam gelten für das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit Grenzen, die mit religiösen Wahrheitsansprüchen gezogen werden: Diese Freiheit wird gewährt, um das Gute zu loben und das Schlechte zu kritisieren (vgl. Organisation der Islamischen Konferenz 1990, Art. 22), und der alleinige Maßstab für die Beurteilung ist dabei das islamische Recht (vgl. Organisation der Islamischen Konferenz 1990, Art. 22, 24). Da nun aber im klassischen Menschenrechtsrecht die Frage nach der wahren Religion ausdrücklich ausgeklammert wird und auf diese Weise Meinungen grundsätzlich unabhängig davon Schutz genießen, ob sie von Musliminnen oder Atheisten getätigt werden, kurz: eine solche ›islamische Meinungsfreiheit‹ schlicht inakzeptabel ist, lassen sich Proponenten einer solchen zunehmend auf menschenrechtliche Rechtfertigungslogiken ein. Das geschieht dadurch, dass das in der Abwägung von konfligierenden menschenrechtlichen Ansprüchen bedeutsame liberale Schadensprinzip aufgegriffen und für die eigenen Zwecke – Immunisierung der eigenen Weltanschauung gegen Kritik – angewendet wird: Meinungsfreiheit muss dort enden, wo sie Rechte anderer verletzt. Dabei wird Schutz vor Diffamierung nicht nur für den Islam, sondern – gemäß der geschützten Minderheitenposition der vorislamischen Offenbarungsreligionen – für alle ›heiligen Religionen‹, also auch Judentum und Christentum, eingefordert. Damit generiert man nicht nur Allianzen, sondern verkleidet den hier maßgeblichen religiösen Wahrheitsanspruch – »Islam is the religion of true unspoiled nature« (Organisation der Islamischen Konferenz 1990, Art. 10) – mit humanistischer Toleranz und Schutz von vulnerablen Gruppen. Doch wie können falsche von echten Freunden der Menschenrechte überhaupt unterschieden werden? Ich habe an anderer Stelle für einen »relativen Universalismus« plädiert, der aus der Idee der 304 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Religiöse Wahrheitsansprüche im Menschenrechtszeitalter
Menschenrechte selbst »rote Linien« ableitet, die den Kern der Menschenrechte erfassen (vgl. Frick 2019). Dieser wäre grundsätzlich unverhandelbar, während ringsum davon ein weites Feld theoretischer Deliberation und politischer Auseinandersetzungen liegt, welches allen, nicht nur Höchstrichtern und Expertinnen, offenstehen sollte. In aller Kürze: Die Gleichheitsdimension der Menschenrechte entspricht einem prinzipiellen Normbegünstigten-Universalismus. Jeder Mensch hat ein Recht auf prinzipiell gleiche Rechte. Ideologien, die mit Vorrechten argumentieren, die nicht im nachvollziehbaren (unterstellten) Schutzinteresse der betreffenden exkludierten Personen (Stichwort: Kinderrechte) gegründet sind, können auf dem Boden der Menschenrechte nicht Fuß fassen. Die Freiheitsdimension der Menschenrechte macht ein doppelter Individualismus aus: ein Normbegünstigten-Individualismus und ein emanzipativer Individualismus. Ersterer schließt ein Verständnis von Menschenrechten als Gruppenrechten – nicht aber kollektiven Rechten – aus. Anschauungen, die Menschenrechte als Gruppenrechte verstehen, verfehlen somit den Menschenrechtsgedanken. Daran schließt der emanzipative menschenrechtliche Individualismus an: Als Ansprüche von Individuen geraten Menschenrechte leicht in Konflikt mit kollektiven Interessen, gegen die sie zwar grundsätzlich auch gewogen werden können, aber nur wenn diese kollektiven Ziele sich selbst menschenrechtlich aufschlüsseln lassen. In diesem Bereich gibt es den größten Spielraum für unterschiedliche Sichtweisen, aber auch einen entscheidenden ›Lackmustest‹ : Weltanschauungen, die keinerlei Ansprüche kennen oder gelten lassen, die nicht-menschenrechtlich gefasste kollektive Interessen kompromittieren, können die Idee der Menschenrechte nicht im Ansatz akkommodieren. Um auf das angeführte Beispiel islamischer Meinungsfreiheit und den Versuch, sie über das Konzept religiöser Diffamierung zu etablieren, zurückzukommen: Man kann über die Grenzen von Rechten durch die Rechte anderer lange diskutieren, nicht aber darüber, dass Individuen und nicht Gruppen – und somit auch keine Religionen – Träger von Menschenrechten sind. Auch nicht wirklich darüber, dass ein Recht aller Menschen, ihre Weltanschauung nicht geschmäht zu sehen, schlicht undurchsetzbar wäre. ›Diffamierungen‹ einer Religion(sgemeinschaft) können folglich nicht in menschenrechtliche Abwägungsdeliberationen einfließen. Doch es gibt eine Vielzahl von Fällen, wo ein relativer menschenrechtlicher Relativismus religiöse Wahrheitsansprüche berück305 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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sichtigen kann bzw. nicht von vornherein ausschließen muss. Dazu gehören nicht minder kontroverse Thematiken, wie etwa die Frage der Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen, die vor dem Hintergrund eines Rechts auf Leben tatsächlich auch aus menschenrechtlichen Gesichtspunkten aufrichtiger und sorgfältiger Auseinandersetzungen bedarf. Über ähnliche Deliberationsspielräume verfügen auch die Fragen, ob ein Recht auf Familie auch nicht-heterosexuelle Konstellationen umfassen soll oder inwieweit Diskriminierung innerhalb religiöser Gemeinschaften oder auch aus Gewissensgründen unter Privaten (Stichwort: Vertragsfreiheit) erlaubt sein darf. Und es gibt Fragen, wo erst intensivere Debatten Aufschluss darüber geben könnten, ob Menschenrechte von echten oder falschen Freunden umarmt werden. Konkret, wenn religiöse Akteure Pflichten zur Ergänzung von Menschenrechten einmahnen. Denken sie an Pflichten, die Menschenrechten ja immer schon in ihrer universalen Reziprozität innewohnen? Wollen sie diese spiegelbildlichen Menschenpflichten lediglich aus dem Schatten holen, oder ist es ihnen darum zu tun, ebendiese Rechte mit einer Pflichtenethik zu beschneiden, die letztlich jenen religiösen Wahrheitsansprüchen entspricht, die in säkularen Öffentlichkeiten ohne ummantelnde menschenrechtliche Rhetorik kaum Beachtung fänden?
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Zusammenfassung
Religiöse Wahrheitsansprüche haben die Geschichte der Menschenrechte von Anfang an geprägt: einerseits als stabilisierende Faktoren des alten Regimes (religiöse Intoleranz, religiöse Rechtfertigung monarchischer Herrschaft, religiöse Rechtfertigungen der Sklaverei etc.) und damit als Antagonisten der Rights of Man/Droits de l’Homme; andererseits entwickelten insbesondere emergente, marginale Konfessionen theologische Fundierungen der gleichen Freiheit aller Menschen im Allgemeinen und der Glaubensfreiheit und der Kritik des transatlantischen Sklavenhandels im Besonderen. In diesem Sinne sind die neuzeitlichen Menschenrechte nicht einfach gegen ›die Religion‹ erkämpft worden, sondern auch mit ihr. Als pauschale These freilich taugt sie wenig, denn es sind allen voran die randständigen unter den christlichen reformierten Gemeinschaften, die zur Verbreitung der Idee der Menschenrechte und ihrer politischen Konsolidierung beigetragen haben. 306 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Religiöse Wahrheitsansprüche im Menschenrechtszeitalter
Auch im Fall der modernen Menschenrechte, die keine bloße Wiederbelebung oder Fortschreibung der neuzeitlichen Rights of Man/Droits de l’Homme sind, sondern mit ihrer expliziten Verankerung in der Idee der Würde des Menschen und mit ihrer globalen Orientierung eine normative Innovation darstellen, ist der Einfluss religiöser Wahrheitsansprüche sichtbar. Es ist diese Idee der Menschenwürde – obgleich anschlussfähig an verschiedene religiöse wie nicht-religiöse Verständnisse –, die im Zuge ihrer (katholischen) Theologisierung im Abwehrkampf gegen totalitäre Systeme zur axiologischen Prämisse der Menschenrechte schlechthin aufsteigt und die ihre Gleichheitsdimension zementiert. Unabhängig von diesen historischen Verbindungen enthält das menschenrechtliche Paradigma einen irreduziblen ›relativistischen Stachel‹. Er besteht zwar nicht im Erfordernis, religiöse Wahrheitsansprüche am Eingangstor der Menschenrechte gleichsam abzulegen, sehr wohl aber in der Akzeptanz, dass innerhalb ihres Geltungsbereiches religiöse Wahrheitsansprüche kein Vorrecht reklamieren können. Sie sind Wahrheitsansprüche unter anderen und werden auf diese Weise in foro externo relativiert. Dies führt wenig überraschend dort zu Konflikten, wo Religionen sich Menschenrechten ohne die prinzipielle Leidensbereitschaft annähern, die diese Selbstverkleinerung verlangt. Besonders die Freiheitsdimension der Menschenrechte erweist sich bis heute als Quelle von Rivalität zwischen religiösen Wahrheitsansprüchen und den menschenrechtlichen Normen. Individuelle Rechte, die sich fallweise auch gegen Gruppeninteressen – konkret an der Etablierung bzw. Absicherung einer öffentlichen Moral sowie an der Geschlossenheit und Integrität der Glaubensgemeinschaft – richten, sind für viele Gläubige offenbar nur sehr bedingt akzeptabel und sollen daher regelmäßig durch extern gewonnene Pflichten eingefasst werden. Inwieweit paradigmatische Spannungen zwischen dem grundsätzlich säkularen, in liberaler politischer Theorie verankerten Projekt universaler Menschenrechte und religiösen Glaubens- und Normsystemen aufgelöst werden können, hängt auch davon ab, ob Menschenrechte selbst ›sakralisiert‹, das heißt dogmatisch als unabwandelbare Standards einer einzig wahren Moral betrachtet und vertreten werden. Unter Anerkennung ihrer geschichtlichen Gewordenheit und in Bejahung einer subjektiven, ja relativen Wertethik hingegen eröffnet sich ein Feld der Deliberation, das grundsätzlich allen Menschen – als Adressaten und Autoren der Menschenrechte – 307 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
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offenstehen sollte. Ihre Wahrheitsansprüche – ob religiös oder nicht, ob absolut gefasst oder relativ an jeweilige Bezugssysteme rückgebunden – können letztlich nur im Dialog und manchmal auch Streit verhandelt werden. Vieles ist hier möglich, doch ein solcher relativer Universalismus hat auch Grenzen, die in der Idee der Menschenrechte selbst liegen. Wo religiöse Wahrheitsansprüche diese Grenzen berühren, wäre das ehrlich zu benennen. Denn so sehr Menschenrechte angewiesen sind auf Fürsprecher in möglichst allen Traditionen der Menschheit und Regionen der Welt, bei der Wahl ihrer Freunde können sie nicht vorsichtig genug sein.
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Autorinnen und Autoren
Christof Breitsameter Professor für Moraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Marie-Luisa Frick Assoziierte Professorin für Philosophie an der Universität Innsbruck Volker Gerhardt Seniorprofessor für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin Bernd Irlenborn Professor für Geschichte der Philosophie und Theologische Propädeutik an der Theologischen Fakultät Paderborn Michael Kühnlein Lehrbeauftragter für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Martin Kusch Professor für Angewandte Wissenschaftstheorie und Theorie des Wissens an der Universität Wien Thomas Marschler Professor für Dogmatik an der Universität Augsburg Karl-Heinz Menke Emeritierter Professor für Dogmatik und Theologische Propädeutik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 313 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Thomas Schärtl Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Universität Regensburg Dorothee Schmitt Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Michael Seewald Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Christian Tapp Professor für Philosophisch-Theologische Grenzfragen an der Ruhr-Universität Bochum
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 198, 210 Al-Tayyeb, Ahmad 183, 186 Altham, James E. J. 252, 263 Amesbury, Richard 303, 208 An-Na’im, Abdullahi Ahmed 300, 308 Anselm von Canterbury 203 f., 210 f. Aristoteles 121, 149, 155, 254 Armstrong, Karen 135 Assmann, Jan 135, 267–269, 284, 286 Augustinus von Hippo 82, 109, 173 Ayer, Alfred Jules 263 Bacon, Francis 90 Baghramian, Maria 13, 20, 22, 24, 33 f., 51, 53, 64–66, 68 f., 82, 222 f., 234 Barnes, Barry 45, 53 Bauer, Thomas 229, 234 Beauchamp, Tom L. 254, 263 Bellarmin, Robert 52 Benedikt XVI. (Papst) 29, 158, 170, 175–179, 181, 184–187, 189, 191 f., 196, 204, 208–210, 235, 302 Benezet, Antony 293 Benjamin, Walter 273, 284 Berger, Peter L. 15, 33 Bois, Henri 161, 184 Bloch, Tamara 295, 308 Bloom, Allan 16, 33 Bloor, David 17–19, 33, 40, 45, 48, 53, 177, 184 Blumenberg, Hans 270, 284 Boff, Leonardo 170, 188 Boghossian, Paul 19, 21 f., 24, 33 f., 39 f., 47, 53, 254, 263
Böttigheimer, Christoph 139, 155 Brandom, Robert B. 29, 215, 234 Breitsameter, Christof 239, 242, 263 Breul, Martin 215, 221, 234 Brown, Michael F. 14, 33 Brumlik, Micha 286 Bude, Heinz 216, 234 Bugiel, Daniel 26, 33, 158, 169, 179, 184, 231, 234 Bultmann, Rudolf 144–146 Cappelen, Herman 24, 33 Carnap, Rudolf 26, 56, 90 Carter, J. Adam 20, 22, 33 Casanova, José 264, 284 Cassin, René 295, 311 Castagnoli, Luca 62, 67, 82 Cayley, David 287 Ceming, Katharina 298, 308 Chang, Peng C. 296 Childress, James F. 254, 263 Cingranelli, David L. 297, 308 Claret, Bernd J. 144, 147, 156 Clarkson, Thomas 293, 308 Code, Lorraine 48, 53 Coliva, Annalisa 24, 33 Cornea, Andrei 14, 33 Corradetti, Claudio 14, 33 Cottier, Georges 158, 185 Cremonini, Cesare 43, 48 Dancy, Jonathan 39, 53 Davidson, Donald 26, 76, 82, 101, 111, 119 Descartes, René 94, 283 Devine, Philip E. 222, 234
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Personenregister Devitt, Michael 84 f., 119 Dewey, John 73 f. Diamond, Cora 104, 119 Dreier, Horst 209, 214, 234 Dummett, Michael 83 f. Duranti, Marco 256, 308 Dürnberger, Martin 215, 234 Ebeling, Gerhard 218, 234 Elizalde, Michel de 173, 185 Essen, Georg 209 Farges, Albert 161, 185 Feyerabend, Paul K. 47 f., 53 f. Fichte, Johann G. 96 f., 203, 205 Field, Hartry 39 f., 48, 53 Filoni, Ferdinandi 186 Fischer, Johannes 150, 155 Fish, Stanley 15, 34 Flasch, Kurt 145, 155 Flores D’Arcais, Paolo 177, 187, 191 Forst, William J. 293, 308 Forster, Michael N. 82 f. Fraassen, Bas C. 51, 53 Frank, Philipp 17 Franziskus (Papst) 27, 34, 179–183, 185 f., 302, 308 Frick, Marie-Luisa 14, 34, 288 f., 292, 296 f., 300–303, 305, 309 f. Gabriel, Markus 15, 33 f., 235 Galloway, George 161, 186 García-Carpintero, Manuel 13, 22, 34 Gardiner, Mark Q. 56, 83 Geisser, Hans 162, 186 Gerber, Gustav 126, 135 Gerhardt, Volker 121 f., 124, 127 f., 132, 135 Ghanea, Nazila 299, 309 Girard, René 28, 34, 158, 179, 186, 278, 285 f. Glock, Charles Y. 212, 234 Glock, Hans-Johann 82 f. Glossner, Michael 161, 186 Göcke, Benedikt P. 142, 155 f., 225, 234 Goertz, Stephan 208 f.
Goodman, Nelson 26, 55–59, 68, 71 f., 79 f., 83 f. Graf, Friedrich W. 264, 285 Grayling, Anthony C. 291, 309 Green, M. Christian 288, 309, 311 Gregg, Benjamin 303, 309 Gregor XVI. (Papst) 164, 186, 295, 309 Greshake, Gisbert 217, 234 Grössl, Johannes 139, 142, 156 Grotius, Hugo 164 Gruber, Marian 158, 186 Gujer, Eric 124, 135 Haack, Susan 20, 34, 36, 53, 222, 235 Häberle, Lothar 158, 186 Habermas, Jürgen 104–106, 108, 119, 149, 151, 156, 197–202, 205 f., 209– 211 Hales, Steven D. 13, 33–35, 53, 263 Hawthorne, John 24, 33 Hegel, Georg W. F. 101, 106 f., 109, 119, 129, 160, 272 f., 284–286 Heidegger, Martin 28, 146, 156 Hempelmann, Heinzpeter 139, 156 Henrich, Dieter 201 Herbert, Christopher 48, 53 Herrnstein Smith, Barbara 48, 54 Hick, John 28 Hobbes, Thomas 291 Hödl, Ludwig 145, 156 Hölscher, Maria R. 178, 187 Honecker, Martin 161, 187 Hoping, Helmut 228 f., 235 Horkheimer, Max 194, 200, 209 f. Hösle, Vittorio 275, 285 Hübenthal, Christoph 224, 235 Huber, Stefan 212, 235 Humboldt, Wilhelm von 126 Husserl, Edmund 73–75, 82 f. Ignatieff, Michael 297 f., 309 Invernizzi Accetti, Carlo 158, 161, 166, 168, 174, 177, 180, 187 Irlenborn, Bernd 10, 13, 15, 19, 21, 26–28, 34, 215, 223, 230, 235 Isensee, Josef 209 f., 295, 309
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Personenregister Jahae, Raymond 139, 156 Jankunas, Gediminas T. 158, 187 Jansen, Nils 214, 235 Jaspers, Karl 134, 148, 271, 285 Jellinek, Georg 291, 309 Joas, Hans 234, 236, 266, 285, 291, 309 Johannes XXIII. (Papst) 166, 187 Johannes Paul II. (Papst) 168, 170– 178, 187 f., 302 Joisten, Karen 100, 119 Jüngel, Eberhard 149, 156 Kalmick, Carl 297, 308 Kant, Immanuel 84, 87, 97, 99, 105, 119, 129 f., 135, 200 f., 205–208, 253, 270, 273, 284 f., 299 Khatchadourian, Haig A. 109 f., 119 Kierkegaard, Søren 264, 272–280, 282 f., 285 f. Kinzel, Katherina 13, 35, 44, 48 f., 54 Kirchschläger, Peter G. 300, 310 Kittsteiner, Heinz D. 270, 285 Klemens XII. (Papst) 163 Knapp, Markus 154, 156 Knop, Julia 144, 147, 156, 235 Kobusch, Theo 276, 285 Koch, Anton F. 100 f., 119 Kölbel, Max 13, 15, 22, 24, 34, 50, 54, 56, 59, 83 Kopernikus, Nikolaus 40 Kralik, Richard von 162, 188 Kranemann, Benedikt 142, 156 Krausz, Michael 13, 18, 34, 83 Kreiner, Armin 142, 156 Krings, Hermann 203, 205 Kuhn, Thomas S. 26, 43–45, 54, 84 Kühnlein, Michael 264, 266, 268, 272, 276, 278, 280 f., 285 f. Küng, Hans 170 Kusch, Martin 13, 19, 22, 34 f., 36 f., 39, 44, 46, 48 f., 51, 54, 247 f., 263 Lamennais, Félicité R. de 164, 188 Landmesser, Christof 145 f., 156 Langer, Lorenz 304, 310 Lefebvre, Marcel 166
Lehmen, Alfons 161, 188 Lehrer, Keith 110 f., 115 f., 119 Lenin, Wladimir I. 278 Lenk, Hans 100, 119 Leo XIII. (Papst) 161, 164–166, 171, 176, 188, 192 Lerch, Magnus 144, 147, 156 Leśniewski, Stanisław 56 Libet, Benjamin 198 Lilla, Mark 264–267, 276, 282, 286 Lindbeck, George A. 30, 35 Locke, John 291 f., 310 Löffler, Winfried 143, 156, 221, 228, 235 Loretan, Adrian 139, 156 Ludwig, Kirk 24, 35 Lynch, Michael P. 24, 35 Maccagnolo, Enzo 161, 189 MacFarlane, John 13, 22–24, 35, 50, 54 Maier, Anneliese 145, 156 Maistre, Joseph de 298, 310 Malik, Charles 295 Mandela, Nelson 280 Mandelbaum, Maurice 73 f., 82 f. Maritain, Jacques 295, 310 Marschler, Thomas 26, 158 Mattei, Roberto de 158, 189 McClendon, James W. 221, 235 McGinn, Colin 101, 119 Meier, Heinrich 265, 286 Menke, Christoph 283, 286 Menke, Karl-Heinz 144, 146, 193, 202, 206–208, 210 Messori, Vittorio 191 Moller Okin, Susan 296, 310 Möllers, Christoph 224, 235 Moore, George E. 220 f. Morsink, Johannes 294–296, 310 Moyn, Samuel 294 f., 310 Müller, Gerhard L. 145, 157 Müller, Philipp 158, 189 Nagel, Thomas 251, 263 Nasr, Seyyed H. 299, 310 Neuhaus, Gerd 154, 157
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Personenregister Newlands, George M. 303, 308 Nietzsche, Friedrich 125–127, 135 f., 169, 194 f., 198, 210 Nissing, Hanns-Gregor 158, 189 Nüllmann, Heiko 158, 189 O’Grady, Paul 20, 35 Park, Seungbae 14, 35 Paul VI. (Papst) 166–170, 172, 175, 180, 183, 189 f. Pears, David 102, 119 Pera, Marcello 186 Petkoff, Peter 300 f., 310 Pichler, Vitus 164, 190 Pickel, Gert 213, 235 Pinkard, Terry 99, 101, 104, 106 f., 119 Pius VII. (Papst) 164, 190 Pius IX. (Papst) 162, 164 f., 171, 176, 190 Pius X. (Papst) 162 f., 190 Pius XI. (Papst) 159, 163, 171, 176, 180, 190, 192 Pius XII. (Papst) 159–161, 163 f., 166, 168, 170, 172, 175, 190 Plantinga, Alvin 29, 97 f., 108 f., 119 Platon 59–65, 70, 72, 81–83, 122, 127–129, 136 Pollack, Detlef 212, 235 f., 287 Pollis, Adamantia 298, 310 Popper, Karl 15, 35, 104 Preston, John 79, 83 Pröpper, Thomas 203 Prost, Antoine 295, 311 Protagoras 59–64, 68 f., 72, 75, 81–83 Prothero, Stephen 176, 191 Putnam, Hilary 55–58, 60, 76, 78–84, 95 f., 119 Quante, Michael 119, 256, 261, 263 Quine, Willard Van Orman 201, 225, 235 Race, Alan 231, 235 Raday, Frances 296, 310
Raedel, Christoph 158, 191 Ratzinger, Joseph (siehe Benedikt XVI.) Reckwitz, Andreas 32, 35 Rescher, Nicholas 84, 86–91, 111 f., 116–118, 120 Ricœur, Paul 272, 286 Riesebrodt, Martin 264, 286 Rogers, Katherin A. 203, 210 Rómulo, Carlos P. 295 Roos, Lothar 178, 191 Rorty, Richard 21, 29, 78, 119 Rosa, Enrico 161, 191 Rosa, Hartmut 266, 286 Rouner, Leroy S. 288, 310 Rousseau, Jean-Jacques 291 Rovane, Carol 24–26, 31 f., 35, 113 f., 120 Runzo, Joseph 28, 32, 35 Saeed, Abdullah 300, 310 Saeed, Hassan 300, 310 Sankey, Howard 47, 54 Santa Cruz, Hernán 295 Scalfari, Eugenio 181, 185 Schärtl( Trendel), Thomas 84, 201, 203, 210, 215, 221, 235 f. Schieder, Rolf 269, 286 Schiller, Ferdinand C. S. 63, 83 Schimank, Uwe 216, 235 Schmidt-Leukel, Perry 206 f., 210, 226 f., 232, 235 f. Schmitt, Carl 265, 271 f., 282, 286 Schmitt, Dorothee 31, 35, 55 f., 58, 62, 64, 69 f., 74 f., 79, 82 f. Schnädelbach, Herbert 270, 286 Schopenhauer, Arthur 125 Searle, John 215, 219, 236 Seewald, Michael 14, 33–35, 184, 212, 234 f. Seiterich, Thomas 158, 192 Siebenrock, Roman A. 166, 191 Siegel, Harvey 70, 81–83 Smith, James K. A. 29–32, 35 Smith, James M. 221, 235 Sloterdijk, Peter 286 Soffer, Gail 74, 76, 83
318 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .
Personenregister Sokrates 60 f., 64, 122, 125, 127 f., 132 f., 135 Sommer, Norbert 158, 192 Spaemann, Robert 194, 211, 309 Speer, Andreas 145, 157 Steizinger, Johannes 13, 35 Stephens, Alan 288, 309 Stich, Stephen P. 41, 48, 54 Stoeckl, Kristina 298, 310 Stollberg-Rilinger, Barbara 231, 236 Stosch, Klaus von 213, 220 f., 228, 231, 236 Striet, Magnus 142, 157, 197, 201– 209, 211 Tapp, Christian 139, 141, 148, 157 Taylor, Charles 29, 219 f., 236, 264, 266–268, 270, 272, 276–287 Tetens, Holm 215, 217, 236 Thomas Philippus ab Alsatia 164, 192 Thomas von Aquin 109, 120, 254 Tollefsen, Olaf 75–77, 82 f. Uertz, Rudolf 295, 311 Ulitzka, Carl 165, 192 Vattimo, Gianni 28, 32, 34 f., 158, 186 Verweyen, Hansjürgen 204, 211 Vieth, Andreas 256, 261, 263
Walden, Raphael 288, 309 Walker, Leslie 161, 192 Walker, Ralph C. S. 91–94, 120 Walzer, Michael 265, 286 f. Ward, Keith 227, 236 Wäschenbach, Daniel 26, 35, 158, 161, 166, 192 Welte, Benedikt 161 Wesley, John 293 Weston Chapman, Mary 293, 311 Wetzer, Heinrich J. 161 Whorf, Benjamin 26 Wildschut, Niels 13, 35 Williams, Bernard 42, 46, 54, 271, 287 Williams, Roger 292, 311 Winter, Jay 295, 311 Witte, John 288, 309, 311 Wittgenstein, Ludwig 21, 29, 90, 100–103, 105, 107, 110, 114 f., 119 f., 201, 220 Wittreck, Fabian 299, 303, 311 Wojtyła, Karol (siehe Johannes Paul II.) Wolf, Christof 213, 236 Woolman, John 293 Wright, Crispin 13, 22, 111 f., 120, 263
319 https://doi.org/10.5771/9783495823583 .