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German Pages 162 [165] Year 2018
Christian Bouillon/Holger Eschmann/ Andreas Heiser (Hrsg.) Spiritualität und theologische Ausbildung Evangelische Perspektiven
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Mit einer Grafik.
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/3846902936. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2018 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Lektorat und Satz: Tanja Meth Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: Basta Werbeagentur GmbH, Göttingen Druck: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach ISBN: 978-3-8469-0292-9 (Print), 978-3-8469-0293-6 (eBook)
Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................. 7
Spiritualität und theologische Ausbildung in der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) .............................. 11 Holger Eschmann: Weite und Verbindlichkeit .............................................. 11 Spiritualität in evangelisch-methodistischer Tradition
Spiritualität und Studium der Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen ..................................... 19 Achim Härtner: Gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe...............19 Spiritualität und Studium der Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen
Spiritualität und theologische Ausbildung im Bund der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden (BEFG) .............. 31 Volker Spangenberg: Ein Erfahrungsbericht .................................................31
Spiritualität und theologische Ausbildung im Bund der Freien evangelischen Gemeinden (BFeG) ........................ 51 Wolfgang E. Heinrichs: Spiritualität in frei-evangelischer Tradition ...............51 Spirituelle Traditionen
Spiritualität und theologische Ausbildung an der Theologischen Hochschule Ewersbach ..................................... 77 Ingo Scharwächter: Im Curriculum der Studiengänge ................................ 77
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Inhaltsverzeichnis
Spiritualität und theologische Ausbildung an der Theologischen Hochschule Ewersbach ..................................... 85 Markus Iff: Systematisch-theologische Perspektiven .................................... 85
Spiritualität und theologische Ausbildung in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) .......... 101 Christoph Barnbrock: Lutherische Spiritualität .......................................... 101
Spiritualität und theologische Ausbildung in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ........................... 119 Sabine Hermisson: Funktionale Spiritualität .............................................. 119 Zu einem Trend in der aktuellen Ausbildung zum Pfarrberuf
Spiritualität in neutestamentlicher Perspektive ................................. 139 Michael Schröder: Multidimensional gelebter Glaube aus der Kraft des Heiligen Geistes ........................................................................................ 139 Eine Bibelarbeit zu Galaterbrief 5,25–6,10
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .......................................... 159 Register ......................................................................................... 160
Vorwort Spiritualität erlebt derzeit einen Boom. Moderne Zeitgenossen pilgern auf dem Jakobsweg, und Einkehrfreizeiten erfreuen sich großer Beliebtheit. Der Trend zur Spiritualität greift nicht nur im Raum der Kirche um sich, sondern auch in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen. Selbst im traditionell schulmedizinisch geprägten Gesundheitswesen etabliert sich seit einigen Jahren die Spiritual Care1. Gleichzeitig bleibt christliche Spiritualität in vielen theologischen Entwürfen recht unbestimmt2. Soll man sie mit Corinna Dahlgrün als „die von Gott auf dieser Welt hervorgerufene liebende Beziehung des Menschen zu Gott und Welt, in der der Mensch immer von neuem sein Leben gestaltet und die er nachdenkend verantwortet“3, oder mit Peter Zimmerling als „den äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben, der in der paulinischen Forderung des ‚vernünftigen Gottesdienstes‘ von Röm 12,1f. seine biblische Begründung besitzt“4, bestimmen? Oder soll man sie mit Gerhard Ruhbach weitaus allgemeiner als eine „vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz“5 auffassen? Unabhängig von der Weite des Phänomens und der Unbestimmtheit des Begriffs findet sich ein historisch wechselnder Zusammenhang von theologischer Ausbildung und Spiritualität, über den der Band aufklärt. Bereits auf der ersten „Lehrerkonferenz freier Predigerseminare“ am 5. und 6. Januar 1926 in Frankfurt am Main in der Ginnheimer Landstraße 180, an der Lehrer des Predigerseminars der deutschen Baptisten zu Hamburg-Horn, der Bibelschule der Freien evangelischen Gemeinden in Vohwinkel, des Predigerseminars der Evangelischen Gemeinschaft in Reutlingen, dem Prediger1
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Seit 2016 informiert die Zeitschrift „Spiritual Care“ über die neusten Ergebnisse und Entwicklungen der Spiritual Care im Gesundheitswesen. Herausgegeben wird die Zeitschrift von der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (IGGS); siehe https://www.degruyter.com/view/j/spircare, Zugriff 1. August 2017. „Inzwischen ist Spiritualität auch im Protestantismus geradezu ein Modewort geworden, das umso hemmungsloser gebraucht wird, je weniger man auf den Sinn seines Gebrauchs reflektiert. Im Übrigen wird der im Christentum entstandene Begriff heute auch selbstverständlich auf nichtchristliche Religionen angewandt …“ (Ulrich Köpf, Art. Spiritualität I Zum Begriff, 4 in: RGG , Bd. 7, Tübingen 2004, S. [1589‒1591] 1590). Corinna Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort v. Ludwig Mödl, Berlin/New York 2009, S. 153. Peter Zimmerling, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 2003, S. 16. Gerhard Ruhbach, Spiritualität als vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz, in: Josef Ernst/Stephan Leimgruber (Hrsg.), Surrexit Dominus vere. Die Gegenwart des Auferstandenen in seiner Kirche. Festschrift für Erzbischof Dr. Johannes Joachim Degenhardt, Paderborn 1995, S. (359–364) 363.
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Vorwort
seminar der Bischöflichen Methodistenkirche in Frankfurt am Main und des Missionsseminars „Licht im Osten“ sowie Gäste vom Missionsseminar in Wiedenest sowie der Ausbildungsstätte in St. Chrischona bei Basel teilnahmen6, wurde aus den vielen Themenvorschlägen das Thema „Pflege des geistlichen Lebens im Predigerseminar“ ausgewählt. Der Reutlinger Lehrer für Altes Testament, Ethik, Logik und Englisch, Ernst Sommer, leitete mit einem Referat in das Thema ein7. Er argumentierte gegen die wohl in den Gemeinden kolportierte Ansicht, „dass auf dem Seminar die Schüler nicht frömmer werden“8. Er führte eine Reihe von Gefährdungen der Frömmigkeit auf, unter ihnen durchaus auch nach knapp hundert Jahren noch aktuelle: „Ein ferneres Hindernis: es fehlt unseren Schülern an Einsamkeit. Dazu kommen die Schwierigkeiten, die im Schulbetrieb liegen. Dieser legt den Nachdruck 9 auf das Verstandesleben. Trotzdem sollte jede Stunde ein Gottesdienst sein.“
Zur Förderung des geistlichen Lebens schlug er positive Maßnahmen vor: „Wir müssen Gemeinschaft schaffen, aber auch die Beziehungen der Einzelseele zum Heiland fördern. Die Bildung kleiner Kreise ist zu begünstigen; ferner sollen die Andachten der Gemeinschaft dienen; dabei sollte der erbauliche Ton ferngehalten werden. Die Einzelseelsorge ist nicht nur Sache des Direktors und Hausvaters, sondern auch der anderen Lehrer, je nachdem ein 10 Schüler Vertrauen zu einem von ihnen hat.“
In der Aussprache wurde festgehalten, dass in dem Bedenken des Zusammenhangs von Spiritualität und theologischer Ausbildung eine bleibende Aufgabe bestünde11. Dieser Aufgabe stellten sich die Kollegien der Hochschulen in freikirchlicher Trägerschaft bei ihrem Dozierendentreffen an der Theologischen Hochschule Ewersbach in 2014 unter den geänderten Bedingungen nach der Hochschulanerkennung erneut. Die Beiträge reflektieren zunächst die unterschiedlichen Frömmigkeitstraditionen der bekenntnisgebundenen Theologi6 7 8 9 10 11
Fachverteilung an den Predigerseminaren als Beilage III, ebd., S. 17f. Das Protokoll der Konferenz am 5. und 6. Januar 1926 findet sich im Archiv des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, Goltenkamp 4, Witten. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9.
Vorwort
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schen Hochschulen der Evangelisch-methodistischen Kirche in Reutlingen, des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Elstal und der Freien evangelischen Gemeinden in Ewersbach und schildern jeweils die Verankerung spiritualitätsfördernder Ausbildungselemente im Studium der evangelischen Theologie. Christoph Barnbrock ergänzte dankenswerterweise im Nachgang zur Tagung die Perspektive der spezifisch lutherischen Spiritualität12 in dem Studium an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Die Darstellungen können sich freilich nicht auf eine gezielte und umfassende Erforschung der Quellen zur Rolle der Spiritualität an den theologischen Ausbildungsstätten stützen. Eine solche Erforschung nämlich, die alle verfügbaren Dokumente seit der Gründung der Ausbildungsstätten erfassen und auswerten müsste, ist wie viele andere Forschungen zur Geschichte und Theologie der Freikirchen in Deutschland nach wie vor ein Desiderat. Demgegenüber fußen die Beobachtungen zur Funktionalisierung der Spiritualität von Sabine Hermisson, Universität Wien, auf qualitativen empirischen Analysen und stellen die Darstellungen der freikirchlichen Ausbildung in den weiteren Kontext evangelischer theologischer Ausbildung im Rahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie zeigt, wie die Impulse für eine spirituelle Dimension die Geschichte der evangelischen Ausbildung seit ihren Anfängen durchziehen und eine Art Unterstrom bilden, der in unterschiedlicher Gestalt immer wieder an die Oberfläche tritt. Dennoch sei Spiritualität in der evangelischen Ausbildung zum Pfarrberuf ein Anliegen, das in seiner heutigen Form erst seit der Wende zum 21. Jahrhundert aufgekommen ist und in dem Spannungsfeld von Funktionalität und Zweckfreiheit steht. Die neutestamentliche Perspektive auf Spiritualität rundet den Band mit einer Bibelarbeit von Michael Schröder ab. Galaterbrief 5,25‒6,10 gibt Aufschluss über wichtige Elemente einer paulinischen Spiritualität: Der empfangene Heilige Geist befähigt zu einem veränderten Lebenswandel, welcher die Dimensionen des Lebens in Gemeinschaft, des Selbstbildes und des Dienstes am Nächsten umfasst. Der Band zeigt erstmals gesammelt, wie die theologische Ausbildung in methodistischer, baptistischer, frei-evangelischer und selbständiger evangelisch-lutherischer Trägerschaft großen Wert auf die Persönlichkeitsentwicklung legt und spiritualitätsfördernde Elemente bereits in das Studium der 12
Mit Gene E. Veith, Jr. lässt sich formulieren: „Lutheran Spirituality is all about what God does.“ (Gene E. Veith, Jr., The Spirituality of the Cross. The Way of the First Evangelicals, St. Louis 1999, S. 23).
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Vorwort
evangelischen Theologie integriert. Diese zur Spiritualität im Studium hin offene freikirchliche Tradition steht in Spannung zur gegenwärtig am Bolognaprozess orientierten Ökonomisierung des Studiums, die weniger Raum für unverzweckte geistliche Bildungsprozesse der Studierenden bietet. Unser Dank gilt Moritz Groos, dem Rektoratsassistenten an der Theologischen Hochschule Ewersbach, und im besonderen Tanja Meth, der Hilfskraft am Lehrstuhl für Kirchengeschichte ebendort, für allerlei Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts und des Drucksatzes. Christian Bouillon, Holger Eschmann, Andreas Heiser
Spiritualität und theologische Ausbildung in der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) Holger Eschmann
Weite und Verbindlichkeit Spiritualität in evangelisch-methodistischer Tradition 1
Vorbemerkung
Bevor ich auf Spiritualität in evangelisch-methodistischer Tradition zu sprechen komme, möchte ich darauf hinweisen, dass man christliche Spiritualität mit dem lutherischen Spiritualitätsforscher Gerhard Ruhbach als eine „vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz“1 verstehen kann. Christliche Spiritualität verbindet Christen und Christinnen über die Konfessionsgrenzen hinweg. Beispiele dafür sind der Weltgebetstag, ökumenische Friedensgebete und Bibelabende oder die Allianzgebetswoche. Diese ökumenische Weite ist also immer mit zu bedenken, wenn im Folgenden die Spiritualität einer einzelnen Tradition – nämlich der evangelisch-methodistischen – in den Blick genommen wird. Konkret heißt das, dass die eigenkirchliche Spiritualität nicht gegen andere Frömmigkeitsstile auszuspielen ist. Vielmehr ist in einen wechselseitigen Lernprozess einzutreten, in dem die Vielfalt der unterschiedlichen konfessionellen Impulse zur Bereicherung des eigenen Weges mit Gott dient. Das heißt andererseits nicht, alles unbesehen zu übernehmen, was an spirituellen Traditionen zu finden ist. Auch hier gilt natürlich die paulinische Weisung: Prüfet alles und das Gute behaltet (1Thess 5,21).
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Gerhard Ruhbach, Spiritualität als vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz, in: Josef Ernst/Stephan Leimgruber (Hrsg.), Surrexit Dominus vere. Die Gegenwart des Auferstandenen in seiner Kirche. Festschrift für Erzbischof Dr. Johannes Joachim Degenhardt, Paderborn 1995, S. (359–364) 363.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
Die verschiedenen Wurzeln evangelisch-methodistischer Spiritualität
Evangelisch-methodistische Spiritualität ist eine Frömmigkeit, die aufgrund der Entstehungsgeschichte der methodistischen Bewegung sehr unterschiedliche Elemente in sich vereint2. Von den spirituellen Traditionen, aus denen die wesleyanische und später die methodistische Frömmigkeit schöpfte, ist zunächst die anglikanische Kirche zu nennen. Die Brüder John und Charles Wesley waren bis zu ihrem Lebensende Geistliche der Kirche von England, die keine neue Kirche gründen wollten. Durch ihr Studium der alten Kirchenväter und ihren Dienst in der anglikanischen Kirche waren sie von deren Theologie und Liturgie stark geprägt. Neben dieser eher „hochkirchlichen“ Wurzel ist im Blick auf methodistische Spiritualität genauso aber auch das „freikirchliche“ Erbe des Methodismus als Erweckungsbewegung zu sehen, das den Schwerpunkt auf Evangelisation und sozialdiakonisches Handeln legte und damit bei der Not in der damaligen Gesellschaft anknüpfte. In seiner Geschichte bewegt sich der Methodismus mit seiner Frömmigkeit immer wieder zwischen diesen beiden Polen. Ein weiterer, früher Einfluss auf die Spiritualität der Wesleys kam von katholischer Seite – insbesondere war John Wesley beeindruckt von der konsequenten Frömmigkeit in der Thomas von Kempen zugeordneten Schrift „Imitatio Chris3 ti“ . Die Imitatio oder Nachfolge Christi war eine Zusammenfassung mittelalterlicher klösterlicher Theologie und Spiritualität mit einer großen Wirkungsgeschichte. Bedeutungsvoll für die wesleyanische Spiritualität wurden auch die Begegnungen der beiden Wesleys mit den Schriften und der Person des englischen Theologen William Law. Hier waren für die Wesleys vor allem Laws theologisches Traktat zur christlichen Vollkommenheit und seine bibelzentrierte Frömmigkeit prägend. Schließlich sind noch die Frömmigkeitsbewegungen des Puritanismus und des Arminianismus zu nennen, die mit ihren Meditationsformen die Spiritualität der Wesleys, ihr Gebetsleben und ihren Umgang mit der Bibel beeinflussten. Angesichts dieser ganz unterschiedlichen Impulse verwundert es nicht, dass evangelisch-methodistische Frömmigkeit bis heute sehr verschiedenartige Elemente in sich vereint. Ich nenne im Anschluss an die amerikanische
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Vgl. dazu auch Gordon S. Wakefield, Methodist Spirituality, Peterborough 1999. Gut zugänglich ist die Reclam-Studienausgabe: Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi, Walter Kröber (Hrsg.), übersetzt v. Johann Michael Sailer, Stuttgart 2014.
Weite und Verbindlichkeit
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„methodistisch-katholische“ Theologin Robin Maas sieben charakteristische Akzente methodistischer Spiritualität4. (1) Sie ist ernsthaft und bewusst – ja sogar methodisch – gestaltet. Dieser Grundzug hat der methodistischen Bewegung und späteren Kirche den Namen eingebracht. Die Brüder John und Charles Wesley versuchten, zusammen mit anderen ähnlich Gesinnten in einem akademischen Oxforder Zirkel nach bestimmten Regeln zu leben und mit Ernst Christen zu sein – bis hin zur Vorstellung von der christlichen Vollkommenheit. Das entfaltete sich dann später auf ähnliche Weise in den von John Wesley gegründeten Gemeinschaften, Klassen und Banden, in denen das stattfand, was heute Geistliche Begleitung genannt wird. (2) Neben dieser Ernsthaftigkeit ist evangelisch-methodistische Spiritualität gleichzeitig von großzügiger Weite gekennzeichnet. In der methodistischen Erweckungsbewegung waren alle Menschen – auch die am Rand der Gesellschaft stehenden – willkommen. Die spirituelle Weite hält sich bis heute durch. Merkmale dafür sind zum Beispiel die gelebte Internationalität und Inklusion in der Evangelisch-methodistischen Kirche, aber auch die Offenheit des 5 Abendmahls, zu dem alle Menschen eingeladen sind . Man kann methodistische Spiritualität deshalb auch eine Spiritualität in ökumenischer Gesinnung nennen. (3) Evangelisch-methodistische Spiritualität ist erfahrungsbezogen. Die Notwendigkeit eines lebendigen und persönlichen Glaubens wird betont. Die Umkehr zu Gott und die Gewissheit des Heils in Christus waren John Wesley wichtig und sind bis heute ein Kennzeichen evangelisch-methodistischer Theologie, das sich in vielfältigen missionarisch-evangelistischen Bemühungen niederschlägt. Ein Zeugnis für diese Erfahrungsdimension und Emotionalität sind auch die vielen Lieder, die im Methodismus entstanden und durch die sich die methodistische Spiritualität schnell und über soziale Grenzen hinweg verbreiten konnte. (4) Trotz dieser Betonung der persönlichen Frömmigkeit legt evangelischmethodistische Spiritualität einen starken Akzent auf gelebte Gemeinschaft. Sie will ins soziale Handeln führen. Von Anfang an spielten die guten Werke bei 4
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Vgl. Robin Maas, Wesleyan Spirituality, in: Ders./Gabriel O’Donnell (Hrsg.), Spiritual Traditions for the Contemporary Church, Nashville 1990, S. 303–319. Die Nennung der sieben Akzente bedeutet nicht, dass diese im real existierenden Methodismus überall in gleicher Weise gelebt werden. Vgl. Unterwegs mit Christus. Glaubensbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche, hrsg. v. der Theologischen Kommission des Europäischen Rates der Evangelisch-methodistischen Kirche, Zürich 1991, S. 74.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
den Wesleys eine bedeutende Rolle. Auch dieser Grundzug zieht sich bis heute durch und äußert sich unter anderem darin, dass die evangelisch-methodistische Bewegung viele Schulen und Krankenhäuser gegründet hat, und dass die Evangelisch-methodistische Kirche neben der Berufung auf die altkirchlichen, ökumenischen Glaubensbekenntnisse ein Soziales Bekenntnis formuliert hat6. (5) Weil für John Wesley – und für die methodistische Bewegung bis heute – die Heilige Schrift primäre Quelle für Theologie und Frömmigkeit ist, enthält methodistische Spiritualität eine typisch protestantische, bibelbezogene Dimension. Zwar sind für evangelisch-methodistische Theologie neben der Bibel auch die Tradition, die Erfahrung und die Vernunft – das sogenannte Quadrilateral – wichtige Schlüssel zum Erkenntnisgewinn, aber die Heilige Schrift nahm bei dem „Mann eines Buchs“ (homo unius libri), wie Wesley sich nannte, eine herausragende Stellung ein. (6) Neben dem protestantischen Element können einige spirituelle Impulse der evangelisch-methodistischen Tradition aber auch sakramental oder hochkirchlich genannt werden, da die Gnadenmittel, und hier besonders das Abendmahl, eine bedeutsame Rolle spielen. Die Betonung des Sakramentalen ist im englischsprachigen Raum der United Methodist Church stärker ausgeprägt als in Deutschland oder in der Schweiz. Aber eine Zunahme des Gebrauchs von Talaren, Stolas und Collarhemden unter den Pastorinnen und Pastoren deutet darauf hin, dass diese Dimension zurzeit im Kommen ist. (7) Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine Spiritualität im Geiste John Wesleys – neben der oben genannten Betonung der Glaubenserfahrung und der Emotionen – auch eine rationale Komponente besitzt. Die Gründer der methodistischen Bewegung waren Kinder ihrer Zeit, der Aufklärung. Der Mensch ist mit Herz und Verstand von Gott angesprochen und in den Dienst der Liebe gerufen. Ein programmatisches Motto von Charles Wesley war: 7 „Unite the pair so long disjoin‘d, reason and vital piety.“
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Vgl. Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Agende der Evangelischmethodistischen Kirche, Frankfurt am Main 2014, S. 152, zurzeit nur im Intranet der Kirche verfügbar, ein Neudruck ist geplant. Dies ist der Beginn der fünften Strophe von Lied Nr. 40 der Liedersammlung Hymns for Children (1763), zugänglich in: The Poetical Works of John and Charles Wesley, Charles Osborn (Hrsg.), 13 Bde., London 1868–1871, Bd. 6, S. 408; Charles Wesley dichtete dieses Lied anlässlich der Einweihung der methodistischen Schule für die Kinder der Kohlenarbeiter von Kingswood.
Weite und Verbindlichkeit
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Das dreifache Gnadenwirken Gottes
Spiritualität in evangelisch-methodistischer Tradition kann nicht ohne einen Blick auf John Wesleys Verständnis des Heiligen Geistes angemessen verstanden werden. Nach Wesley ist Gottes Geist in einem dreifachen Gnadenhandeln am Werk. (1) Gott vermittelt durch seinen Geist die allem menschlichen Handeln vorlaufende Gnade. Da Wesley – gegen den theologischen Trend der Aufklärung – an der Lehre von dem peccatum originale, der Ur- oder Erbsünde festhielt, sah er den Menschen nicht in der Lage, von sich aus zu Gott zu finden. Aber Gottes Geist ist in seinen Geschöpfen immer schon am Werk, auch in den Menschen, die noch nicht glauben. Mit Hilfe des Gewissens und der Sehnsucht nach Sinn und Erfüllung treibt der Heilige Geist den Menschen hin zu Gott. (2) Eine zweite Weise, wie Gottes Geist im Menschen wirkt, ist die zur Umkehr führende und rechtfertigende Gnade. Im reformatorischen Sinne predigte Wesley die Rechtfertigung des Gottlosen. Der Glaube an Gott und sein Heil in Jesus Christus ist keine menschliche Leistung, sondern ganz göttliches Geschenk. Wesley blieb allerdings nicht bei einem rein juridischen Verständnis der Rechtfertigung stehen. Christus tat nicht nur etwas für den Menschen, so dass Gott den Menschen deshalb nun als gerecht ansieht, sondern er tut im Heiligen Geist auch etwas im Menschen. Er befreit von Schuld und von der Macht der Sünde und schenkt Gewissheit des Heils. (3) Schließlich vermittelt Gott durch seinen Geist heiligende Gnade. Diese prägt die Christen und Christinnen nach dem Bild Jesu Christi und führt sie zu einem Leben im Dienste Gottes und des Nächsten. Auch Heiligung geschieht allein aus Gnade und ist kein Verdienst des Menschen. Aber sie nimmt den Menschen mit Herzen, Mund und Händen in Dienst. Das Ziel des Geistwirkens war für Wesley eine Veränderung sowohl des Individuums als auch der Gemeinschaft und der Gesellschaft – und zwar weltweit. 4
Geistliches Tun und Lassen in den Allgemeinen Regeln
John Wesley verfasste für diejenigen, die sich seiner Bewegung anschlossen, die sogenannten Allgemeinen Regeln. Sie gaben die Richtung für ein geistliches Leben an und boten konkrete Beispiele für die damalige gesellschaftliche Situation. Die Allgemeinen Regeln gehören bis heute zu den Lehrgrundlagen der Evangelisch-methodistischen Kirche, auch wenn sie natürlich – wie in der Kirchenordnung formuliert wird – „in Sprache und Gedankenführung den Stempel ihrer Entstehungszeit (tragen) und … aus dieser heraus verstanden
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Spiritualität und theologische Ausbildung
sein“8 wollen. Die Allgemeinen Regeln als Ausdruck evangelisch-methodistischer Frömmigkeit lassen sich in drei Teile gliedern: Der erste Teil ist negativ formuliert und handelt vom Lassen. Wesley schrieb: Von denen, die zur methodistischen Bewegung dazugehören wollen, wird erwartet, dass sie „(n)ichts Böses tun, sondern Böses aller Art meiden, besonders solche Sünden, welche am meisten verübt werden“9. Danach nannte er im Blick auf sein missionarisches Umfeld einige Konkretionen, wie die Entheiligung des Sonntags durch Arbeit, Sklaverei, Trunkenheit, Zank, liebloses oder unnützes Geschwätz und anderes. Der zweite Teil der Allgemeinen Regeln ist positiv formuliert und handelt vom rechten Tun: Wer zur methodistischen Bewegung dazugehören will, soll „Gutes … tun; sich in jeder Hinsicht nach seinem Vermögen barmherzig erweisen und bei jeder Gelegenheit Gutes aller Art, soweit die Kräfte reichen, allen Menschen erzeigen“. Und auch hier wurde Wesley wieder konkret: „Hinsichtlich des Leibes: die Hungrigen speisen, die Nackten kleiden, Kranke und Gefangene besuchen und ihnen behilflich sein; hinsichtlich der Seele: alle, mit denen man Umgang hat, lehren und ermahnen; Fleiß und Sparsamkeit üben, die Schmach Christi tragen und erwarten, dass Menschen uns grundlos 10 und um des Herrn willen Böses aller Art nachreden werden.“
Was solches Lassen und Tun heute heißen kann, ist immer wieder zu aktualisieren. Neben der persönlichen Umsetzung, die allen evangelisch-methodistischen Christen und Christinnen aufgetragen ist, sind an dieser Stelle auch die Sozialen Grundsätze der Evangelisch-methodistischen Kirche zu nennen, die eine Art Aktualisierung der Allgemeinen Regeln für den Bereich der sozialen Gerechtigkeit darstellen, und die für die ganze Kirche verbindlich in die Lehrgrundlagen aufgenommen wurden. 5
Der Gebrauch der Gnadenmittel
Nach dem rechten Tun und Lassen spricht der dritte Teil der Allgemeinen Regeln vom Gebrauch der Gnadenmittel. Der Begriff Gnadenmittel war John Wesley aus der Kirche von England geläufig. Er bezeichnet die äußeren Mittel,
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Verfassung, Lehre und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche, hrsg. auf Beschluss der Zentralkonferenz in Deutschland, Frankfurt am Main 2010, S. 69. Ebd., S. 70. Ebd.
Weite und Verbindlichkeit
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mit deren Hilfe Gott seine Gnade und das Heil in Jesus Christus den Menschen zukommen lässt. Oder mit Wesleys eigenen Worten formuliert: „Unter ‚Gnadenmitteln‘ verstehe ich äußere Zeichen, Worte oder Handlungen, die von Gott eingesetzt und dazu bestimmt sind, unter normalen Umständen die Wege zu sein, durch welche er den Menschen vorlaufende, recht11 fertigende und heiligende Gnade mitteilt.“
Interessant ist, welch hohe Wertschätzung der Begriff Gnadenmittel bei John Wesley hatte – und in der evangelisch-methodistischen Tradition bis heute hat. So schreibt Wesley: „(V)on allen, welche Mitglieder der Gemeinschaft sein und bleiben wollen, (wird) erwartet, dass sie ihr Verlangen nach Seligkeit stets … beweisen: Durch den Gebrauch aller von Gott verordneten Gnadenmittel, als da sind: Der öffentliche Gottesdienst. Das Hören des Wortes Gottes, es werde solches gelesen oder ausgelegt. Das Abendmahl des Herrn. Das Beten mit der Familie und 12 im Verborgenen. Das Forschen in der Schrift. Fasten und Enthaltsamkeit.“
Eine bestimmte Reihenfolge oder Rangordnung der Gnadenmittel wurde von Wesley nicht festgelegt, obwohl man aus seinen Beschreibungen herauslesen kann, dass ihm das Abendmahl besonders am Herzen lag. Die Aufzählung ist auch nicht ausschließlich zu verstehen. An einigen Stellen wurden von ihm noch die christliche Gemeinschaft und das Tun guter Werke dazu gerechnet. 6
Zusammenfassung
Will man evangelisch-methodistische Spiritualität kurz und prägnant beschreiben, so sind als Wesensmerkmale sowohl die ökumenische Weite als auch eine hohe Verbindlichkeit zu nennen. Sie vereint Elemente persönlicher Frömmigkeit mit sozialem Engagement. Inhaltliche Schwerpunkte setzt sie bei der Liebe Gottes zur Welt, bei dem Glauben an die alles und alle umfassende Gnade Gottes und bei den Impulsen und Hilfestellungen zu einem geheiligten Leben im Geiste Jesu Christi. Eine differenzierende Bemerkung noch zum Schluss: Spiritualität ist bei aller Übung zuerst und zuletzt Geschenk und nicht Anstrengung – donum und 11 12
Predigt 16, in: John Wesley, Die 53 Lehrpredigten, Bd. 3, Stuttgart 1987, S. 292. Verfassung, Lehre und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche (wie Anm. 8), S. 69f.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
nicht abzuarbeitendes pensum. Diese evangelische Einsicht kann angesichts der Forderungen in den Allgemeinen Regeln Wesleys leicht in den Hintergrund geraten. Da hilft dann immer wieder ein Schuss reformatorischer Gelassenheit, denn die alles und alle umfassende Gnade Gottes gilt nicht nur den anderen, denen wir in Liebe dienen, sondern auch uns selbst.
Spiritualität und Studium der Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen Achim Härtner
Gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe Spiritualität und Studium der Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen Ich möchte Anspruch und Wirklichkeit einer Verknüpfung von Theologie und Spiritualität an der Theologischen Hochschule Reutlingen (Evangelisch-methodistische Kirche) in den Blick nehmen. Dies geschieht in Form eines Erfahrungsberichts, der keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt1. 1
Spiritualität und das Studium der Theologie im Methodismus
Theologische Ausbildung in freikirchlicher Trägerschaft war und ist seit ihren Anfängen von der Überzeugung getragen, dass die Lehre und das Studium der Theologie in einer geistlichen Existenz wurzeln. Dies galt und gilt auch für den Methodismus und seine theologischen Ausbildungsstätten, Hochschulen und Universitäten weltweit. 1.1 Ein kurzer Blick zurück in die Gründerzeit des Methodismus Michael Nausner umreißt in seiner Anthologie Kirchliches Leben in methodistischer Tradition die zentralen Anliegen methodistischer Tradition und kommt im Hinblick auf unser Thema zu folgender Einschätzung: „Der Methodismus ist eine Missionsbewegung, die im 18. Jahrhundert aus dem evangelistischen und sozialdiakonischen Wirken von John und Charles Wesley und ihrer Weggefährten entstand. Die ersten Methodisten trieb nicht eine neue theologische Einsicht, sondern das brennende Herz für Gott und die 1
Überarbeitung eines Vortrags, der am 19. Februar 2014 an der Theologischen Hochschule Ewersbach gehalten wurde. Der Vortagsstil wurde beibehalten.
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Spiritualität und Studium der Theologie Menschen und ihre Bereitschaft, Christus allen Menschen zu bezeugen, vor allem denen, die ihn am nötigsten brauchten. Bis heute ist ‚Mission‘, das Gestalten der Sendung Gottes in dieser Welt, die verbindende Ausrichtung im welt2 weiten Methodismus.“
Im Zusammenhang unseres Themas ist besonders die Formulierung „ … nicht eine neue theologische Einsicht, sondern das brennende Herz für Gott und die Menschen …“ bezeichnend. Wenn wir in die Gründerzeit der frühmethodistischen Erweckungsbewegung zurückschauen, wird deutlich, welchen Stellenwert man dem beimaß, was wir heute „Spiritualität“ nennen. So lauteten die entscheidenden Fragen, die einem Bewerber fürs Predigtamt zu Zeiten John Wesleys vor dem versammelten Plenum der jährlichen Konferenz gestellt wurden, nicht: „Hat er ordentlich akademische Theologie studiert?“, sondern „Hat 3 er Gaben? Hat er Feuer? Hat er Frucht?“ Wie vorrangig Wesley die geistlichen Voraussetzungen – bei Laienpredigern wie Hauptamtlichen – betonte, wird beispielhaft in einem Brief deutlich, den der bereits 74-jährige John Wesley schrieb, mit deutlichem Anklang an Matthäus 16,18: „Gib mir einhundert Prediger, die nichts als die Sünde fürchten und nach nichts verlangen als nach Gott, und ich schere mich nicht einen Strohhalm darum, ob sie Geistliche oder Laien sind. Nur solche werden die Pforten der 4 Hölle erschüttern und das Reich Gottes auf Erden aufrichten!“
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Wesley verlangte von seinen Laienpredigern (sic!), sofern deren geistliche Fundierung ihres Lebens und Dienstes außer Frage stand, kontinuierlich mindestens fünf Stunden pro Tag, theologische Literatur zu lesen! Dazu verfasste er selbst unzählige Schriften und homiletische Abhandlungen5. Die im frühen Methodismus angestrebte fundamentale Verbindung von Theologie und gelebtem Glauben bzw. Spiritualität kommt an kaum einer anderen Stelle so treffend zum Ausdruck wie in der folgenden Liedstrophe Charles Wesleys:
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Michael Nausner (Hrsg,), Kirchliches Leben in methodistischer Tradition: Perspektiven aus drei Kontinenten, Reutlinger Theologische Studien, Bd. 6, Göttingen 2010, S. 7. In den Konferenzprotokollen (Minutes) von 1746 sind differenzierte Angaben zur „Predigerprüfung“ zu finden, die sich auf die oben genannten Fragen beziehen, siehe: Richard P. Heitzenrater, John Wesley und der frühe Methodismus, Göttingen 2007, S. 212. John Telford (Hrsg.), The Letters of John Wesley, Bd. 6, London 1931, S. 272. Vgl. Richard P. Heitzenrater, Wesley (wie Anm. 3), S. 213–218.
Gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe
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„Unite the pair so long disjoined, Knowledge and vital piety: Learning and holiness combined, And truth and love, let all men see In those whom up to thee we give, 6 Thine, wholly thine, to die and live.“
1.2 Zur Bedeutung der Spiritualität für den geistlichen Dienst in der Evangelisch-methodistischen Kirche heute Eine nach außen hin erkennbare geistliche Fundierung des Dienstes war im Methodismus von jeher die conditio sine qua non für ein geistliches Amt, und sie ist es bis heute. In der Evangelisch-methodistischen Kirche haben Kandidatinnen und Kandidaten – am Ende ihrer Probezeit im Anschluss an ihr Theologiestudium und vor der Zulassung zur Ordination – unter anderem auch die folgende Frage zu beantworten: „(6) Willst du im Studium der Heiligen Schrift und im Gebet fleißig sein? Bist du bereit, dich für deinen Dienst im umfassenden Sinn theologisch weiterzubilden?“7 Hier werden geistliches Leben und anhaltendes Studium der Theologie bewusst in einem Atemzug genannt. Auch an dieser Stelle wird das eigenständige Bibelstudium und Gebet zuerst genannt, stellvertretend für die Wahrnehmung der von Wesley so genannten „Gnadenmittel“ (means of grace)8. 1.3 Die Theologische Ausbildung in Reutlingen im Umbruch Noch immer bilden wir an der Theologischen Hochschule Reutlingen die Mehrzahl der angehenden Hauptamtlichen im Raum der deutschsprachigen Evangelisch-methodistischen Kirche aus. Zugleich wächst indes die Zahl derjenigen Studierenden, die sich ziemlich sicher sind, nicht in den pastoralen Dienst einer Kirche gehen zu wollen, einschließlich derer, die „einfach so“ Theologie studieren möchten. Gegenwärtig kommt ein Viertel unserer Studierenden aus dem europäischen Ausland und aus Übersee – auch sie mit mehr oder weniger 6 7
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Strophe 5 des Liedes „Come Father, Son and Holy Ghost“, in: Methodist Hymnal, London 1889 Edition, Nr. 473, http://wesley.nnu.edu/?id=4411, Zugriff 12. August 2017. Ordinationsfragen, in: Verfassung, Lehre und Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche, hrsg. auf Beschluss der Zentralkonferenz in Deutschland Ausgabe 2012, Frankfurt am Main 2014, S. 143. Vgl. Achim Härtner, Art. Prayer, in: Al Truesdale (Hrsg.), Global Wesleyan Dictionary of Theology, Kansas City 2013, S. 425f.
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Spiritualität und Studium der Theologie
ausgeprägtem methodistischem bzw. anderem kirchlichen Hintergrund. Wir haben es also mit einer immer heterogener werdenden Studierendenschaft zu tun, was wir einerseits als Bereicherung erleben, andererseits als Herausforderung. Dabei ist uns wichtig, die Theologischen Hochschule Reutlingen nach innen wie nach außen hin dezidiert als Hochschule der Evangelisch-methodistischen Kirche zu verstehen, was eine ebenso dezidierte ökumenische und interkulturelle Weite mit einschließt. Wie Holger Eschmann im vorhergehenden Beitrag betonte, ist Spiritualität eine „vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz“ (Gerhard Ruh9 bach) – und damit meiner Auffassung nach auch eine überkonfessionelle . Während das vormalige Reutlinger Predigerseminar der Evangelischen Gemeinschaft seit 1877 ausschließlich und das Theologische Seminar Reutlingen seit 1971 vorwiegend Studierenden der eigenen Denomination offen stand, studieren an der Theologischen Hochschule Reutlingen seit 2008 inzwischen ein Drittel Studierende aus mehr als zwölf verschiedenen Konfessionen bzw. Denominationen – Tendenz steigend. Das stellt die Lern- und Lebensgemeinschaft vor die spannende Aufgabe, mit einer sich ausweitenden geistlich-theologischen Bandbreite konstruktiv umgehen zu lernen. Diese Bandbreite kann reichen – um nur drei „Hausnummern“ zu nennen – von selbstbewusst makedonisch-orthodox über traditionell evangelisch-volkskirchlich bis zu stamm evangelikal-pfingstlerisch. „Weite und Verbindlichkeit“ hat Holger Eschmann als Grundmerkmale einer methodistischen Spiritualität herausgestellt, die sich aus unterschiedlichen Quellen speist. Diesen doppelten Anspruch nach aller Möglichkeit umzusetzen, versuchen wir in der Lern- und Lebensgemeinschaft unserer Hochschule, deren Leitbild durch drei miteinander zusammenhängenden Aussagen geprägt ist: gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe. Demzufolge wurde der Auftrag der Hochschule im Jahr 2008 wie folgt beschrieben: „Unser Auftrag ist theologische Bildung und Forschung, die in bewusster Verbindung von gelebtem Glauben, befreitem Denken und tätiger Liebe geschehen. Unsere theologische Arbeit wurzelt in einem gelebten Glauben in der Nachfolge Jesu. Sie ist bewegt von der weltverändernden Liebe Gottes, wie sie in Jesus Christus sichtbar geworden ist. 9
Vgl. Gerhard Ruhbach, Spiritualität als vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz, in: Josef Ernst/Stephan Leimgruber (Hrsg.), Surrexit Dominus vere. Die Gegenwart des Auferstandenen in seiner Kirche. Festschrift für Erzbischof Dr. Johannes Joachim Degenhardt, Paderborn 1995, S. (359–364) 363, zitiert bei Holger Eschmann im vorliegenden Bd., S. 11, Anm. 1.
Gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe
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Unsere theologische Arbeit lebt von einem befreiten Denken. Offen und angstfrei sucht sie das Gespräch mit anderen Wissenschaften, Kulturen und Glaubensweisen und lässt sich auf zeitgenössische Fragen ein. Unsere theologische Arbeit zielt auf eine Praxis tätiger Liebe. Sie nimmt teil an der Mission Gottes zum Heil und Wohl der Welt, die sich in der Weitergabe des Evangeliums und in konkreten Taten der Barmherzigkeit und Gerechtig10 keit erweist.“
Auf dem Hintergrund dieses Leitbildes sieht unser Studienangebot drei inhaltliche Schwerpunkte vor: Wissenschaftliche Theologie – Praxisbezug – Persönlichkeitsbildung. Diese sind nicht additiv gemeint, sondern als einander durchdringende und ergänzende Dimensionen im Aufbau einer geistlich-theologischen Existenz.
Wissenschaftliche Theologie steht dabei für einen „gesunden“ Abstand zur gelebten Spiritualität, der für eine professionell betriebene, methodisch disziplinierte Reflexion des Glaubens unerlässlich ist. Gelebter Glaube und das kriti10
http://www.th-reutlingen.de/hochschule/leitbild/auftrag-der-hochschule, Zugriff 16. August 2017.
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Spiritualität und Studium der Theologie
sche Nachdenken darüber sollen je ihren Eigenwert behalten. Sie berühren sich, sollen aber nicht unreflektiert ineinander fließen. Im Praxisbezug begegnen sich Theologie und Spiritualität gleichsam auf Schritt und Tritt: Wenn Studierende in einem Gemeindegottesdienst predigen, im Sozialpraktikum Menschen in schwierigen Lebenslagen beistehen oder mit Jugendlichen im Kirchlichen Unterricht arbeiten, sind sie fachlich wie existenziell gleichermaßen gefordert. Mit dem Stichwort Persönlichkeitsbildung verbindet sich das doppelte Anliegen, einerseits die Weiterentwicklung der Studierenden als Mitmenschen im Blick zu haben (personal formation), andererseits ihre geistliche Entwicklung (spiritual formation) zu fördern, soweit dies im Rahmen der „Laborsituation“ eines Hochschulstudiums sinnvoll und möglich ist. 2
Spiritualität und Theologie im Studieren und Leben an der Theologischen Hochschule Reutlingen
2.1 Spiritualität im Rahmen von Lehrveranstaltungen Exemplarisch nenne ich im Folgenden eine Reihe von Lehrveranstaltungen, in denen Glaube und Spiritualität implizit oder explizit thematisiert werden: In der interdisziplinären Einführung ins Theologiestudium wird turnusmäßig das Spannungsfeld zwischen Glaube und wissenschaftlicher Theologie angesprochen, wobei lebhafte Diskussionen entstehen, in denen die höchst unterschiedlichen Lebensgeschichten und theologischen Einstellungen der Studierenden ins Gespräch gebracht werden. In den Lehrveranstaltungen der Biblischen Theologie sind die Fragen nach dem eigenen Bibelverständnis unumgänglich, etwa wenn exegetische Befunde die Frage aufwerfen, was diese für den eigenen Glauben und die Weitergabe der christlichen Botschaft in Kirchengemeinde und weiterer Öffentlichkeit bedeuten. Die Lehrinhalte in den Fächern Philosophie, Kirchengeschichte und Systematische Theologie eröffnen den Studierenden neue Sichtweisen auf den eigenen Glauben, auch wenn dies nicht immer eigens thematisiert wird. Da methodistische Theologie stets auch gesungene Theologie ist, hört man auf unseren Fluren ab und an ein Charles-Wesley-Lied erklingen, das zu Beginn einer Vorlesung im Fach Theologie des Methodismus gesungen wird. In den Lehrveranstaltungen der Praktischen Theologie (Predigtlehre, Seelsorgelehre, Gemeindepädagogik, Diakoniewissenschaft, Pastoraltheologie, Evangelistik, Interkulturelle Kommunikation usw.) wird im Rahmen des fachlichen Diskurses auch die eigene religiöse Sozialisation angesprochen, beispielsweise bezogen auf die Rolle des Predigers
Gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe
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auf der Kanzel oder der Pastorin (als Christin) in Gemeinde und Öffentlichkeit. In den Sozial- und Gemeindepraktika erleben sich die Studierenden fortwährend stets auch auf einer existenziellen Ebene im persönlichen Glauben gefordert, wie die Rückmeldungen in ihren Berichten zeigen. Eine Lehrveranstaltung muss besonders erwähnt werden: Die regelmäßig angebotene Wahlveranstaltung „Spiritualität“ findet seit Jahren regen Zuspruch. Im Vorlesungsverzeichnis wird sie folgendermaßen angekündigt: „,Religion ist ein Handwerk, das es einzuüben gilt‘, schreibt der Praktische Theologe Manfred Josuttis. In der Lehrveranstaltung wird es zunächst um eine Klärung des Begriffs Spiritualität gehen. Im weiteren Verlauf des Semesters werden dann verschiedene Ausdrucksformen christlicher Spiritualität kennen gelernt, theologisch beurteilt und praktisch eingeübt (z.B. christliche 11 Meditation; Gebet; Segnen und Salben).“
Noch einen Schritt weiter geht die Einführung eines neuen Masterstudiengangs „Christliche Spiritualität im Kontext verschiedener Religionen und Kulturen“ zum Wintersemester 2017/2018. Dieser berufsbegleitende Studiengang gibt fundierte Einblicke in die Geschichte, Theologie und Praxis christlicher Spiritualität, um angesichts der wachsenden Vielfalt von Weltanschauungen in der heutigen Zeit Orientierung zu geben und sprachfähig zu machen12. 2.2 Geistliche Angebote in der Lern- und Lebensgemeinschaft der Theologischen Hochschule Reutlingen Neben den turnusmäßigen Gottesdiensten am Beginn bzw. zum Abschluss eines Studienjahrs und der Weihnachtsfeier, zu denen eine breitere Öffentlichkeit eingeladen wird, gibt es an der Theologischen Hochschule Reutlingen zwei regelmäßige Angebotsformen geistlichen Lebens, die an dieser Stelle zu nennen sind. Während der Semesterzeiten wird jeden Mittwoch ein Hochschulgottesdienst gefeiert, der von den Dozierenden der Hochschule und Gastpredigerinnen und -predigern aus dem ökumenischen Umfeld verantwortet wird. Im Durchschnitt nehmen an diesen Gottesdiensten etwas mehr als die Hälfte der Studierenden teil, gegenwärtig vornehmlich 11 12
Vorlesungsverzeichnis der Theologischen Hochschule Reutlingen, Sommersemester 2015; http://www.th-reutlingen.de/studium/vorlesungsverzeichnis, Zugriff 16. August 2017. Vgl. https://www.th-reutlingen.de/de/studium/master-christliche-spiritualitaet.html, Zugriff 16. August 2017.
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Spiritualität und Studium der Theologie
aus den „unteren Semestern“. An den Vorlesungstagen gibt es jeweils Morgenandachten, die von den studentischen Diakonoi verantwortet werden und aus verschiedensten Gründen mehr oder weniger Resonanz finden. In studentischer Eigenregie gab und gibt es weitere geistliche Angebote wie Taizé-Andachten (mit Abendmahlsfeiern) und Lobpreis- bzw. Gebetsabende. Manche Studierende treffen sich regelmäßig in Zweierschaften oder Hauskreisen zum geistlichen Austausch, zum Bibellesen und gemeinsamen Beten. Die Bereitschaft von Studierenden, sich während des Studiums in einer Kirchengemeinde zu engagieren, ist meiner Wahrnehmung nach eher rückläufig, obwohl dafür immer wieder geworben wird. Punktuell hingegen, etwa bei den ein- oder mehrtägigen Gemeindebesuchen der Theologischen Hochschule Reutlingen im deutschsprachigen Raum, engagieren sich die meisten unserer Studierenden sehr erfreulich und bringen sich konstruktiv ein. Die genannten geistlichen Angebote versuchen wir bewusst als Angebote zu kommunizieren und nicht als Verpflichtungen. Im Sinne von „Weite und Verbindlichkeit“ überwiegt in der gegenwärtigen Praxis die Weite; mit der Verbindlichkeit tun wir uns an dieser Stelle eher schwer. Das hat auch mit dem zu tun, was bereits zur Sprache kam: Die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung innerhalb der Studierendenschaft zeigt sich gerade auch in der Unterschiedlichkeit der kirchlichen Beheimatungen, Frömmigkeitsstile und Verbindlichkeitsgrade. Hier werden wir als Dozierende in Zukunft weitere Sensibilität entwickeln müssen, damit wir einerseits die unterschiedlichen geistlichen Bedürfnisse der Studierenden wahr- und ernst nehmen und andererseits aber auch uns selbst als Vertreter/innen einer methodistisch geprägten Glaubensweise treu bleiben. Selbstkritisch sei hierzu angemerkt: Unsere Hochschulgottesdienste, die mehrheitlich eher traditionell gestaltet sind, könnten durchaus etwas mehr gestalterische Vielfalt, Experimentierfreude und geistliche „Risikobereitschaft“ vertragen. 2.3 Spiritualität in Fördergesprächen und seelsorglicher Begleitung von Studierenden Mindestens einmal jährlich finden mit allen Studierenden individuelle Fördergespräche statt. Hier geht es um Studienfragen, persönliche Entwicklungen und Zielsetzungen. Auch Fragen, die die Glaubenspraxis betreffen, können angesprochen werden, sofern seitens der Studierenden Bereitschaft dazu signalisiert wird. Nach unserer Erfahrung äußern sich die allermeisten
Gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe
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Studierenden hierbei ausgesprochen vertrauensvoll und offen, sodass in den Gesprächen nicht selten auch eine persönliche und geistliche Ebene berührt wird. Wenn solche Gespräche einen seelsorglichen Charakter annehmen, ist seitens der Dozierenden ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl erforderlich, um nicht in einen unguten Rollenkonflikt zwischen Dozentinnen und Dozenten sowie Seelsorgerinnen und Seelsorgern hinein zu geraten. Dies führt uns in zwei Spannungsfelder hinein, die ich abschließend kurz beleuchten möchte. 2.4 Das Studium der Theologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftlichkeit und kirchlicher Anbindung Die Öffnung unserer Hochschule für Studierende unterschiedlichster geistlichtheologischer Prägungen bringt es mit sich, dass vormals selbstverständliche Plausibilitäten (z.B. „So machen wir das in der Evangelisch-methodistischen Kirche!“) hinterfragt werden müssen. Die Erfahrung zeigt, dass sich gerade dort, wo nicht „schon alles klar ist“, Chancen ergeben, gelebte Spiritualität und theologische Reflexion auf überraschende Weise neu miteinander ins Gespräch zu bringen. Wer sich aus diesen Gründen bewusst für geistliche Angebote an einer Theologischen Hochschule stark macht, steht der Tendenz der derzeitigen Universitätstheologie in Deutschland entgegen, die im Zuge einer möglichst weitgehenden wissenschaftlichen Objektivierung bestrebt zu sein scheint, möglichst alles Praxisrelevante aus dem Studium der Theologie herauszuhalten. Im internationalen Kontext hingegen sieht dies anders aus. Zu erinnern ist an die Richtlinie der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa „Die Ausbildung für das ordinationsgebundene Amt in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ von 2011. In Abschnitt 2.4.3 Gelebter Glaube und Persönlichkeitsbildung heißt es: „Evangelisches Christsein zeichnet sich aus durch die Freiheit, den jeweils eigenen Weg zu finden, zu einer gefestigten geistlichen Persönlichkeit heranzureifen. Die Bildung dieser Art wird später während der Tätigkeit im Pfarramt eine Kraftquelle sein. Deshalb soll die Fähigkeit zu einer persönlichen geistlichen Lebensführung gefördert werden. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die Pflege der Grundformen geistlichen Lebens: persönliches Gebet, Umgang mit der Bibel und dem evangelischen Gesangbuch, aktive Gemeindeverbindung, Teilnahme am Gottesdienst, lebhafte Kommunikation über geistliche Fragen innerhalb der Hochschulgemeinschaft.
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Spiritualität und Studium der Theologie Die Ausbildung soll Begegnungen mit verschiedenen Frömmigkeitsrichtungen einschließen. Neben der eigenen Frömmigkeit sind Toleranz und Respekt anderen Glaubenshaltungen gegenüber unentbehrlich. Theologiestudierende brauchen außer der Studiengemeinschaft auch eine geistliche Gemeinschaft. Das können z.B. Wohnheime sein, in denen sie eine dem evangelischen Geist entsprechende Gemeinschaft bilden, die als eine Art geistliche Werkstatt für die 13 spätere geschwisterliche Gemeinschaft dienen kann.“
Auf der anderen Seite sind wir als staatlich anerkannte Hochschulen in freikirchlicher Trägerschaft daran gebunden, die vom Wissenschaftsrat genannten „Kriterien der Hochschulförmigkeit bekenntnisgebundener Einrichtungen im nichtstaatlichen Sektor“ vom 24. Januar 2014 hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit des Theologiestudiums ernst zu nehmen: Sie besagen, (1) dass „die im Hintergrund stehende Gemeinschaft … über religiöse und philosophisch-weltanschauliche Vorstellungen, Wertvorstellungen und Normen verfügen muss, die einer theologischen Betrachtung nach wissenschaftlichen Kriterien zugänglich sind“. Außerdem, (2) dass sich das Studienangebot an den „allgemeinen wissenschaftlichen Standards“ zu orientieren hat und (3) die „Bereitschaft der sie tragenden Religionsgemeinschaft …, gleichwertige Ausbildungsund Qualifikationsstandards im Verhältnis zu vergleichbaren Theologischen Hochschulen respektive Fakultäten staatlicher Universitäten anzustreben“ 14 gegeben sein muss . 2.5 Das Selbstverständnis der Lehrenden: akademische Fachleute, reflektiert glaubende Christen und Christinnen oder Seelsorgerinnen und Seelsorger der Studierenden? Die – im Vergleich zu den Theologischen Fakultäten der Universitäten – gegebene Überschaubarkeit der Theologischen Hochschulen in freikirchlicher Trägerschaft mit einem für Studierende überdurchschnittlich guten Betreuungsschlüssel bringt fast selbstverständlich eine ausgeprägte Nähe zwischen Dozierenden und Studierenden mit sich. Das Spannungsfeld Nähe – Distanz muss hier kritisch im Blick bleiben, ebenso die Frage nach dem Rollenver13
14
Vgl. hierzu auch: Peter Zimmerling, Integration der Spiritualität in das Studium der evangelischen Theologie, in: Ralph Kunz/Claudia Kohli Reichenbach (Hrsg.), Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Zürich 2012, S. (125–142) 125. Wissenschaftsrat, Kriterien der Hochschulförmigkeit bekenntnisgebundener Einrichtungen im nichtstaatlichen Sektor, Ders. 3644-14, Berlin 24. Januar 2014, S. 11f.; http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/3644-14.pdf, Zugriff 16. August 2017.
Gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe
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ständnis als Dozierende und Dozierender: Nehmen uns die Studierenden stärker als akademische Fachleute, als reflektiert glaubende Christinnen und Christen oder als Seelsorgerinnen und Seelsorger wahr? Sorgen wir an dieser Stelle für uns selbst und im Umgang mit unseren Studierenden für eine hinreichende Rollenklarheit bzw. -eindeutigkeit? Der Wissenschaftsrat hat diesbezüglich folgende Empfehlung gegeben: „Insbesondere sollen wissenschaftliche Betreuung und Seelsorge durch Mitglieder des Lehrkörpers organisatorisch und weitestgehend auch personell so voneinander getrennt werden, dass Leistungsprüfungen nicht Gefahr laufen, zugleich Bekenntnisprüfungen zu sein. Sofern curricular oder gewohnheitsmäßig Beratungsgespräche mit einer Komponente geistlicher Betreuung vorgesehen sind, liegt es in der Verantwortung der Hochschule darzulegen, wie die Funktionen in der Praxis derart voneinander abgegrenzt sind, dass die 15 wissenschaftliche Betreuung nicht beeinträchtigt wird.“
2.6 Ausblick: Gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe An der Theologischen Hochschule Reutlingen sind sich die für Lehre und Studium Verantwortlichen in der Überzeugung einig, dass wissenschaftlichtheologische Reflexion und gelebte Spiritualität sich weder gegenseitig ausschließen, noch eines nur auf Kosten des anderen möglich ist. Vielmehr geht es darum, dass Lehrende und Studierende zu Theologinnen und Theologen werden, die wissen, was sie glauben, glauben, was sie wissen und tun, was aus beidem erwächst. Der hohe Anspruch des Leitbilds unserer Einrichtung gelebter Glaube – befreites Denken – tätige Liebe erinnert uns beständig an ein Bibelwort, das schon John Wesley am Herzen lag, Philipperbrief 3,12: „Nicht dass ich’s schon ergriffen habe, ich jage ihm aber nach …“. In seiner Einführung in die evangelische Theologie (1962) beschreibt Karl Barth die theologische Existenz als dreifache Erfahrung: der Verwunderung, der Betroffenheit und der Verpflichtung, ausgelöst durch die verwunderliche, treffende und verpflichtende Selbstoffenbarung Gottes im Evangelium. Spiritualität und Theologie treffen sich im Zentrum des Sehnens und Suchens nach Gott, der sich uns Menschen im Letzten nur selbst erschließen kann, über unser Reflektieren und Beten hinaus. Barth schreibt: „Er ist der Gegenstand der so gefährdeten Theologie. Er als solcher gefährdet sie. Er ist aber, indem er das tut, auch ihre Hoffnung. Er beschämt sie – und 15
Wissenschaftsrat, Kriterien (wie Anm. 14), S. 15.
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Spiritualität und Studium der Theologie das aufs Tiefste. Er als ihre Hoffnung und die Hoffnung auf ihn lässt aber auch 16 sie und gerade sie nicht zu Schanden werden.“
Welche andere Hoffnung könnte uns in unserem Dienst als Lehrende und Studierende der Theologie antreiben und tragen, prüfen und trösten?
16
7
Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 2010, S. 120.
Spiritualität und theologische Ausbildung im Bund der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden (BEFG) Volker Spangenberg
Ein Erfahrungsbericht Dass der Beitrag zu Spiritualität und theologischer Ausbildung an der Theologischen Hochschule Elstal1 mit dem Untertitel „Ein Erfahrungsbericht“ versehen wurde, ist nicht ohne Grund geschehen. Denn was im Folgenden dargestellt wird, kann sich nicht auf eine gezielte Erforschung der Quellen zur Rolle der Spiritualität in der theologischen Ausbildung im deutschen Baptismus stützen. Eine solche Erforschung nämlich, die alle verfügbaren Dokumente seit der Gründung der Ausbildungsstätte im Jahr 1880 in Hamburg erfassen und auswerten müsste, ist wie viele andere Forschungen zur Geschichte und Theologie des deutschen Baptismus nach wie vor ein Desiderat. Die nachstehenden Ausführungen teilen daher Beobachtungen und praktische Erfahrungen im Blick auf die Rolle der Spiritualität im Studienkonzept der Theologischen Hochschule mit, wie es in den Jahren seit dem 1997 erfolgten Umzug von Hamburg nach Elstal bei Berlin (weiter)entwickelt wurde und gegenwärtig 2 umgesetzt wird . Versucht man im Sinne der Themenstellung die Rolle und Bedeutung von Spiritualität im Theologiestudium zu beschreiben, so kommt man nicht umhin zu erläutern, was mit „Spiritualität“ gemeint ist. Befragt man dazu die Fachliteratur und einschlägige Lexikonartikel, so wird man mit einer Vielzahl – durchaus disparater – Bestimmungsversuche konfrontiert, die klarstellen sollen, was die jeweiligen Autoren unter „Spiritualität“ verstehen. Das ist bereits ein ele1
2
Die folgenden Ausführungen gehen zurück auf einen Vortrag, der im Rahmen des zweijährlich stattfindenden Treffens der Dozierenden an Hochschulen in freikirchlicher Trägerschaft am 19. Februar 2014 in der Theologischen Hochschule Ewersbach gehalten wurde. Die langjährige Bezeichnung „Theologisches Seminar Elstal“ für die Theologische Hochschule des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland wurde mit Beginn des Sommersemesters 2015 in „Theologische Hochschule Elstal“ geändert. Zur Geschichte, zum Profil und zum Studienkonzept vgl. Ordnungen der Theologischen Hochschule Elstal, Stand September 2015 (als Ms. gedruckt), S. 1–7.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
mentarer Hinweis auf die Problematik des Begriffs und seine Bedeutungsbreite, die er in der jüngeren Vergangenheit gewonnen hat3. Was man unter „Spiritualität“ versteht, sollte also zuvor annähernd deutlich sein, bevor man zu ihrer Bedeutung, ihren Formen oder ihren Grenzen im Theologiestudium Stellung nimmt. Eine umfangreiche Definition zur Spiritualität findet sich im Studienbuch „Christliche Spiritualität“ von Corinna Dahlgrün. Sie hat den Vorteil, dass man sozusagen auf einen Blick das ganze Feld der hier zu berücksichtigenden Fragestellungen und Studiengebiete vor Augen hat. Sie lautet (bereits ein wenig gekürzt): „Christliche Spiritualität ist die von Gottes – dem Menschen erfahrbaren – Handeln … hervorgerufene und geforderte liebende Bezogenheit auf Gott und sein Gebot, die Haltung der Hingabe in der Ausgestaltung dieser Beziehung; demzufolge umfaßt sie zugleich die Bezogenheit auf den Nächsten als tätige Liebe und die Verantwortung gegenüber der Welt als Gottes uns anvertrauter Schöpfung, verwirklicht vom einzelnen und von der Gemeinschaft der Glaubenden, in die er gewiesen ist, in einem auf dieser Welt nicht endenden Prozeßgeschehen, in dem sich die einzelnen Elemente wechselseitig beeinflußen …; dieser Prozeß … ist stets neu zu reflektieren, mit dem Ziel der Selbsterkenntnis ebenso wie zur Verantwortung der Praxis vor dem Ganzen von Got4 tes überliefertem Wort und seinen möglichen Auslegungen.“
Was hier umfassend beschrieben ist, wird von der Autorin noch einmal kurz zusammengefasst: „Spiritualität ist die von Gott auf dieser Welt hervorgerufene liebende Beziehung des Menschen zu Gott und Welt, in der der Mensch immer von neuem sein Leben gestaltet und die er nachdenkend verantwortet.“5 Ohne die Bestimmung von Corinna Dahlgrün im Einzelnen zu interpretieren, lassen sich doch gewisse Schwerpunkte festhalten, die für die Fragestellung nach dem Verständnis von „Spiritualität“ bedeutsam sein können. Da ist zunächst die Feststellung, dass christliche Spiritualität ein Handeln Gottes voraussetzt und es dabei somit nicht um irgendeine Form von menschlicher Selbstheiligung kraft eigener Anstrengung und eigenem Vermögen gehen kann. Da ist ferner die Feststellung, dass es sich bei christlicher Spiritualität um ein Beziehungsgeschehen handelt, genauerhin um eine Liebesbeziehung 3 4
5
Vgl. dazu z.B. Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin/Boston 2012, S. 175–179. Corinna Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort v. Ludwig Mödl, Berlin/New York 2009, S. 152f. (ohne die in der Definition vorgenommenen Klammerzahlverweise). Ebd., S. 153.
Ein Erfahrungsbericht
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zu Gott wie zum Mitmenschen. Sie muss als Beziehung zum einen prozesshaft gedacht werden und sie muss – sonst wäre es keine echte Beziehung – gestalthaften Ausdruck finden. Es geht bei der christlichen Spiritualität also offenbar um ein Ineinander von Haltung und Formen der Lebensgestaltung, die beide zueinander in Wechselwirkung stehen. Und schließlich geht es dabei auch um Reflexion, d.h. um eine kritische Überprüfung, eine discretio, letztlich mit Hilfe des Wortes Gottes wie es uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Die von Corinna Dahlgrün vorgetragene eindrückliche Definition erinnert teilweise an diejenige, die Peter Zimmerling in seinem Buch über „Evangelische Spiritualität“ vorgeschlagen hat. Mit ihrer Zuspitzung auf die Frage der Gestaltwerdung des Glaubens dürfte sie dem an der Theologischen Hochschule Elstal vorherrschenden Verständnis von „Spiritualität“ weitgehend entspre6 chen . Unter Spiritualität versteht Zimmerling „den äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben, der in der paulinischen Forderung des ‚vernünftigen Gottesdienstes‘ von Römerbrief 12,1f. seine biblische Begründung besitzt“7. Als evangelische Spiritualität wird sie „dabei durch den Rechtfertigungsglauben sowohl motiviert als auch begrenzt: Einerseits befreit die Erfahrung der Rechtfertigung sola gratia dazu, den Glauben in der konkreten Lebensgestaltung zu bewähren, andererseits be8 wahrt sie davor, das eigene spirituelle Streben zu überschätzen“ .
Auch in Zimmerlings Definition der Spiritualität als äußerer Gestalt gelebten Glaubens wird zum Ausdruck gebracht, dass christliche Spiritualität ein unauflösbares Ineinander von Glaube und Lebensgestaltung bildet und es dabei niemals um einen Akt der Selbstheiligung gehen kann. Dies mag für eine erste Richtungsangabe im Blick auf das Verständnis von „Spiritualität“ genügen. Die Frage nach der Rolle und Bedeutung von Spiritualität im Theologiestudium gebietet freilich auch einen zumindest kurzen Blick auf das Verständnis von „Theologie“. Ohne dafür eine verbindliche Antwort für die gesamte Elstaler Hochschule geben zu wollen, kann man hier doch von ei-
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Der Begriff der Spiritualität wird in den Ordnungen der Theologischen Hochschule Elstal nicht förmlich definiert und muss im Folgenden aus dem Zusammenhang näher beschrieben werden. Peter Zimmerling, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 2003, S. 16. Ebd.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
ner gemeinsamen Grundüberzeugung ausgehen9. Sie besteht darin, dass die Theologie dem Glauben nach-denkt. Dies bedeutet, dass sie nicht eine Wissenschaft ist, bei der die Vernunft vorschreibt, was über Gott und Welt zu denken ist, sondern eine Wissenschaft, bei der – mit einer Formulierung Eberhard Jüngels – „sich die Vernunft … von dem zur Welt kommenden Gott mitnehmen und so auf den Denkweg bringen läßt“10. Theologie denkt in diesem Sinne dem Glauben nach und übernimmt (den Glauben an) „das Wort Gottes in die Verantwortung des Denkens“11. Insofern enthält das Profil der Theologischen Hochschule Elstal in seiner Beschreibung des Theologiestudiums die gewichtige Auskunft, dass es dabei neben der „Vermittlung von theologischer Fachkompetenz“ (in Gestalt von theologischem Wissen) um „die Befähigung zu selbständigem Urteilen und Denken geht“12. Mit den jetzt vorgetragenen Vorbemerkungen ist zunächst einmal ein Rahmen für die Themenstellung „Spiritualität und theologische Ausbildung“ bzw. „Spiritualität im Theologiestudium“ abgesteckt. Die Fragen, die sich hierbei stellen, sind als Fragestellungen natürlich nicht für ein bestimmtes Ausbildungsinstitut spezifisch: Wozu braucht die Theologie Spiritualität? Wer empfindet den Bedarf? Wie steht es mit der Erlernbarkeit von Spiritualität? Kann es spirituelle Praxis im Theologiestudium geben? Lässt sich eine solche im Theologiestudium fordern? Sollte es im Theologiestudium spirituelle Begleitung geben? Im Folgenden sollen auf dem Hintergrund dieser Fragen – nach zwei einführenden Erläuterungen – mehr beschreibend als grundsätzlich einige Hinweise aus der Beobachtung der gegenwärtigen Situation an der Theologischen Hochschule Elstal heraus gegeben werden. 1.1 Kurzer Blick in die Anfangszeit der theologischen Ausbildung im deutschen Baptismus Wozu braucht die Theologie Spiritualität? Wenn man so fragt, wenn man Baptisten so fragt, erntet man wahrscheinlich ein gewisses Erstaunen. Denn vielen 9
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Vgl. dazu auch Volker Spangenberg, Zum Verhältnis von Theologie und Gemeinde, in: Yvonne Ortmann, Glaube – Liebe – Hoffnung. Christen im 21. Jahrhundert, Kassel 2009, S. 234–237. Eberhard Jüngel, „Meine Theologie“ – kurz gefasst, in: Ders., Theologische Erörterungen 3: 2 Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, Tübingen 2003, S. (1–15) 7. Eberhard Jüngel, Die Freiheit der Theologie, in: Ders., Theologische Erörterungen 2: Ent3 sprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch, Tübingen 2002, S. (11–36) 30. Ordnungen der Theologischen Hochschule Elstal (wie Anm. 2), S. 2.
Ein Erfahrungsbericht
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Baptisten stellt sich vermutlich nicht so sehr die Frage, wozu die Theologie Spiritualität braucht, sondern eher die Frage, wozu die Spiritualität Theologie braucht. Für die Anfangszeiten der baptistischen theologischen Ausbildungsstätte – zur Gründungszeit 1880 noch „Missionsanstalt und Predigerschule“, danach „Predigerseminar“, „Theologisches Seminar“ und schließlich „Theologische Hochschule“ genannt – kann man das jedenfalls mit einiger Sicherheit sagen. Hier war zu begründen, wozu über die geistliche Haltung und Lebensgestaltung eines Predigers hinaus theologische Bildung nötig sei. So kann man in der einzigen deutschsprachigen baptistischen Pastoraltheologie aus dem Jahr 1908 von Johann Georg Fetzer, einem der ersten Seminarlehrer nach der Gründung, lesen: „Da die Hauptbeschäftigung eines Predigers die öffentliche und sonderliche Lehrtätigkeit ist, so ist es klar, daß er die nötige geistige Fähigkeit und genügende Kenntnis haben muß, um seine Arbeit lehrreich zu machen. Sittliche 13 und geistliche Eigenschaften können die geistigen keineswegs ersetzen.“
Fetzer macht unmissverständlich klar: „Das Lesen der Heiligen Schrift mit kritischem Blicke und zu wissenschaftlichen Zwecken ist für den Prediger unbedingt notwendig, will er sich auf der Höhe seines Amtes halten und mit einiger Sachkenntnis in den theologischen 14 Fragen seiner Zeit mitsprechen können.“
Dass es also theologische Ausbildung für den pastoralen Dienst geben muss, ist für diesen Lehrer der ersten Generation das eigentliche Anliegen, das es zu klären gilt. Dass ein Theologiestudium ohne Spiritualität, also ohne dass der christliche Glaube auch hier Gestalt gewinnt, nicht denkbar ist, wird dabei als selbstverständlich vorausgesetzt. Die in der Regel schon älteren Studierenden der Anfangszeit, von denen ein nicht geringer Teil bereits Erfahrungen im „pastoralen“ Dienst hatte, waren fromme Leute. Und zweifellos versteht sich das Predigerseminar als eine geistliche Gemeinschaft, in der z.B. eine „wö15 chentliche Seminargebetsstunde“ stattfindet. Darum muss nach Fetzer die andere Seite stark gemacht werden, dass nämlich „pure Frömmigkeit, so we13 14 15
Johann Georg Fetzer, Pastoral=Theologie, Kassel 1908, S. 39f. Ebd., S. 49. Julius Janßen, Johann Georg Fetzer. Ein Lebens- und Charakterbild, in: Festschrift zur Feier des 50jährigen Jubiläums des Predigerseminars der deutschen Baptisten zu Hamburg=Horn vom 1. bis 3. Juni 1930, Kassel 1930, S. (33–50) 41.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
sentlich sie auch ist, ohne das nötige Talent und ohne geistige Disziplin noch kein Beweis eines göttlichen Rufes“ ist16. Dessen ungeachtet ist die Frage der geistlichen Lebensgestaltung in Fetzers Pastoraltheologie ein eigenständiges Thema, das der gründlichen Reflexion bedarf. Denn die „geistliche Befähigung“17 ist ebenso wie die wissenschaftliche Bildung eine Voraussetzung für die Berufstätigkeit des Predigers. Darum wird in der „Pastoral=Theologie“ ausführlich über die persönliche (einsame) Meditation des Predigers, das persönliche Gebet und das Lesen der Heiligen Schrift gehandelt18. So ist etwa das persönliche Gebet des Predigers nach Fetzer nicht nur dazu unabdingbar, „um für sich selbst die nötige Kraft zum Kämpfen, Leiden, Dulden und Arbeiten zu erflehen“, sondern es gehört zur „Berufsarbeit mit Beziehung auf andere“19. Und die persönliche Bibellektüre ist erforderlich, weil bei denen, die berufen sind, „beständig auszuteilen“ ein „lebendiger Born vorhanden“ sein muss20, aus dem sie zu schöpfen vermögen. Das Erfordernis der Spiritualität neben und im wissenschaftlichen Studium wird hier sehr stark funktional, will heißen von der Berufspraxis her bestimmt. Eine solche funktionale Bestimmung kann als Erbe betrachtet werden, das auch in seiner gegenwärtigen Bedeutung keineswegs zu unterschätzen ist. Die Theologische Hochschule Elstal versucht allerdings, es im Rahmen eines umfassenden Prozesses der Persönlichkeitsentfaltung zur Geltung zu bringen und so möglichen Einseitigkeiten einer Funktionalisierung zu wehren. Dies geschieht auf dem Hintergrund eines dreidimensionalen Studienkonzeptes. 1.2 Das Studienkonzept der Hochschule: Wissen – Sein – Tun Die Theologische Hochschule Elstal ist vom Grundgedanken einer organi21 schen Zuordnung der Bereiche Wissen, Sein und Tun bestimmt . Der Bereich „Wissen“ berücksichtigt dabei die akademische Dimension des Studiums, der Bereich „Sein“ die personale und der Bereich „Tun“ die Praxisdimension. Geht es im Bereich des Wissens um die Vermittlung von theologischer Fachkompetenz und die Ausbildung von theologischer Urteilskraft, so im Bereich des 16 17 18
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Johann Georg Fetzer, Pastoral=Theologie (wie Anm. 13), S. 40. Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 46–50. Vgl. zum Thema aus neuerer Zeit Edwin Brandt, Die Bedeutung des persönlichen Gebetes der Pastorin/des Pastors. Pastoraltheologische Anmerkungen, in: ThGespr 38, 2014, S. 111–124. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49. Vgl. Ordnungen der Theologischen Hochschule Elstal (wie Anm. 2), S. 4 u.ö.
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Seins um die Anleitung zu einem eigenverantwortlichen Prozess der Persönlichkeitsentfaltung. Im Bereich des Tuns stehen der Erwerb praktischer Fertigkeiten und die Einübung verantwortlichen Handelns im Vordergrund. Wie zu zeigen sein wird, spielt die Spiritualität in allen drei Bereichen eine Rolle, wenn auch in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Gewichtung. 1.3 Spiritualität als Voraussetzung zum Studium Zu den Voraussetzungen für die Zulassung zum Studium an der Theologischen Hochschule Elstal gehört die Zugehörigkeit der Bewerberinnen und Bewerber zu einer christlichen Ortsgemeinde. Dabei schließt selbstverständlich die konfessionelle Bindung der evangelisch-freikirchlichen Hochschule „Angehörige anderer christlicher Konfessionen vom Studium nicht aus“22. Vielmehr wird deren Bewerbung ausdrücklich begrüßt. Dies geschieht nicht zuletzt im Bewusstsein dafür, dass unterschiedliche Spiritualitätserfahrungen einen bedeutsamen Faktor im Theologiestudium bilden. Wird doch hier der Reichtum christlicher Glaubensgestalt in seiner Vielfalt erfahrbar und kann auf diese Weise besonders wirksam möglicher Borniertheit im Bereich der Frömmigkeit gewehrt werden. Über die bloße Bestätigung der Mitgliedschaft in einer christlichen Gemeinde hinaus erwartet die Theologische Hochschule im Rahmen des Aufnahmeverfahrens einen „Nachweis ehrenamtlicher (oder hauptamt23 licher) Tätigkeit in einer Ortsgemeinde“ . Zwar bindet eine solche ortsgemeindliche Stellungnahme die Aufnahmekommission nicht. Dass jedoch nach wie vor für ein Studium ein derartiger Nachweis in Gestalt eines Gemeindevotums erfragt wird, zeigt, dass im Normalfall bei den Studienbewerberinnen und Studienbewerbern eine erkennbare Beteiligung am Leben der christlichen Gemeinde vor Ort vorausgesetzt wird. Darüber hinaus gehört ein persönliches Aufnahmegespräch mit Mitgliedern der Aufnahmekommission zum Bewerbungsvorgang24. Hier wird insbesondere nach der Motivation zum Theologiestudium und nach den Erwartungen der Bewerberinnen und Bewerber gefragt. Dabei kommt es immer wieder vor, dass Bewerberinnen und Bewerber von 22 23
24
Ordnungen der Theologischen Hochschule Elstal (wie Anm. 2), S. 13. Ebd., S. 14. Da sich die Kriterien für die Aufnahme zum Studium an der Theologischen Hochschule Elstal am Konzept von Wissen, Sein und Tun orientieren, gilt diese Tätigkeit als Anhalt für die Grundvoraussetzungen des Erwerbs von Handlungskompetenz. Die hier verwendete Bezeichnung „Tätigkeit“ ist bewusst weit gefasst zu verstehen. In diesem Gespräch wird versucht zu erkennen, ob Grundvoraussetzungen für den Erwerb personaler und sozialer Kompetenz vorhanden sind, „die ein erfolgreiches Studium erwarten lässt“, ebd., S. 14.
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sich aus und ungezwungen auch von ihren geistlichen Prägungen und von Erfahrungen bei der Gestaltung ihres Glaubenslebens berichten. Solche Gespräche lassen bei vielen Studienbewerbern den starken Wunsch erkennen, ihre individuell und gemeinschaftlich geübte Spiritualität in Form einer auf spirituelle Bildung gerichteten Ausbildung zu vertiefen25. Demgegenüber ist dann im Aufnahmegespräch von Seiten der Hochschule (ähnlich wie von dem erwähnten J. G. Fetzer) auch die Notwendigkeit des kognitiven Erwerbs theologischer Fachkompetenz und die Bedeutung der studienmäßigen Befähigung zu selbstständigem theologischen Denken und Urteilen stark zu machen. 1.4 Die Rolle der Spiritualität im Studienkonzept Da Spiritualität an der Theologischen Hochschule Elstal nicht als eine Größe verstanden wird, die man neben einem akademischen Studium oder als Ergänzungsfach zusätzlich betreibt, ist zu erwarten, dass sich dieses Verständnis auch im Dreiklang des Studienkonzepts von Wissen, Sein und Tun spiegelt. In der Tat lässt sich eine solche Spiegelung in Profil und Konzept der Elstaler Hochschule nachweisen. Das Studienkonzept benennt als Ziele des Studiums die „Vermittlung theologischer Kenntnisse, die Einübung praktischer Fertigkeiten und die Anleitung 26 zu selbständigem theologischen Denken und Urteilen“ . Das selbstständige Denken und Urteilen wird bezeichnenderweise noch einmal dahingehend erläutert, dass es „im Sinn eines verantwortlichen Umgangs mit Glaubensinhalten auf der intellektuellen ebenso wie auch auf der geistlichen und persönlichen Ebene“27 zu verstehen sei. Hier wird zwar der Begriff der „Spiritualität“ nicht expressis verbis bemüht, aber die Wendung „Umgang mit Glaubensinhalten auf der geistlichen und persönlichen Ebene“ weist zweifellos darauf hin. Ganz bewusst ist dabei dieser „Umgang“ mit dem Prädikat „verantwortlich“ versehen worden, wobei solche Verantwortung nun eben durch selbstständiges theologisches Denken und Urteilen gesteuert werden soll. Es bedarf demnach 25
26 27
Vgl. zur Frage einer theologischen Ausbildung, die spirituelles Lernen neben der Vermittlung kognitiven Wissens einschließt, Christian Grethlein, Pfarrer – ein theologischer Beruf!, Frankfurt am Main 2009, bes. S. 114–116 und 125f. Grethlein plädiert hier gegen „die bisherige Vernachlässigung spirituellen Lernens im Theologie-Studium“ auf dem Hintergrund dessen, dass „die meisten Theologie-Studierenden selbst vom Rückgang expliziter christlicher Sozialisation betroffen“ sind (ebd., S. 115) und zugleich „dem personalen Kontakt zunehmend Bedeutung für die Kommunikation des Evangeliums“ zukommt (ebd., S. 114). Ordnungen der Theologischen Hochschule Elstal (wie Anm. 2), S. 4. Ebd.
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der angeleiteten Reflexion dazu, wie man (selbstständig) mit Glaubensinhalten nicht nur auf der intellektuellen, sondern auch auf der geistlichen und persönlichen Ebene – einer Ebene also, zu der die Gestaltwerdung des Glaubens gehört – umzugehen hat. Spiritualität kommt ohne Reflexion und kritische, an der Heiligen Schrift orientierte Überprüfung nicht aus, und solche kritische Reflexion auszubilden, ist prominenter Gegenstand eines theologischen Studiums. Ferner nennt das Studienkonzept unter den Qualifikationen, die durch ein Studium erreicht werden sollen, die Vorbereitung auf den Dienst als Pastoren und Diakone, zu dem neben anderen Aufgaben die „Hilfe zu christlicher Le28 bensgestaltung“ , mithin auch deren spiritueller Dimension, gehört. Hier wird Spiritualität demnach im Bereich der Berufsqualifikation verortet, sofern der Dienst der Hilfe zu christlicher Lebensgestaltung zu den genuinen Aufgabenfeldern der pastoralen und diakonischen Berufstätigkeit gezählt wird. Schließlich will das Studium laut Studienkonzept Hilfe leisten, „die für den Dienst erforderlichen personalen Voraussetzungen weiter zu entwickeln“. Dazu wird an erster Stelle die „dem Evangelium gemäße Lebensführung“ gezählt, die (neben anderen hier genannten Voraussetzungen) unerlässlich zur 29 „Glaubwürdigkeit der Person“ gehört . Die Beschreibung der Ziele des Studiums an der Theologischen Hochschule Elstal zeigt also, dass das Studienkonzept der Spiritualität einen erkennbaren Platz einräumt, und dies in der Perspektive von Wissen, Sein und Tun: Das Studium soll a) zu einem reflektierten Umgang mit Glaubensinhalten auf der geistlichen und persönlichen Ebene anleiten, b) dazu vorbereiten, in der Praxis des pastoralen und diakonischen Dienstes anderen zu einer christlichen Lebensgestaltung zu verhelfen, c) dazu führen, selbst eine glaubwürdige Gestalt gelebten Glaubens zu entwickeln. Nun sagen die Beschreibung von Ausbildungszielen und die darin gegebenen Auskünfte über Rolle und Bedeutung der Spiritualität immer nur bedingt etwas über die praktische Durchführung bzw. methodische Realisierung dieser Ziele aus. Profil und Studienkonzept der Elstaler Hochschule geben darum hierzu eine Reihe von – verständlicherweise allgemein bzw. stichwortartig ge-
28 29
Ebd. Ebd. Im Profil der Theologischen Hochschule Elstal, das im Ordnungswerk dem Studienkonzept und dessen Erläuterung vorangestellt ist (vgl. ebd., S. 2f.), wird daher zusammenfassend formuliert: „Der Lernprozess des Studiums … umfasst das Studium der Theologie (Wissen), die Entfaltung von Persönlichkeit und Spiritualität (Sein) und die Befähigung zu verantwortlichem Handeln (Tun), ebd., S. 2 (Hervorhebung vom Verfasser).
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haltenen – Hinweisen. Sie sind anschließend durch genauere Beschreibungen und Erfahrungen zu ergänzen. Das Studienkonzept sieht im Blick auf das, was den Bereich der Spiritualität berührt oder zumindest berühren kann, verschiedene Angebote und Möglichkeiten vor. Sie lassen sich grob in vier Gruppen zusammenfassen. Hier sind zuerst die persönlichkeitsfördernden Gesprächsmöglichkeiten zu nennen, die insbesondere in der Eingangsphase Hilfestellung bei der zuweilen krisenhaften Integration von theologischer Denkarbeit und persönlichem Glaubensvollzug zu bieten versuchen: in Gestalt der wöchentlichen Jahrgangstutorien, durch Förder- und Feedbackgespräche, freiwillige Gesprächsgruppen und durch den jederzeit möglichen Kontakt zu den Lehrkräften. Zweitens ist da die Gruppe der geistlichen Angebote in Form von regelmäßigen gemeinsamen Andachten, Gottesdiensten und Einkehrtagen. Eine dritte Gruppe bilden die in den engeren Bereich der Praxisorientierung fallenden Möglichkeiten, die geeignet sind, die Entfaltung und Vertiefung der Spiritualität zu fördern, wie die Mitgliedschaft und Mitarbeit der Studierenden in den zahlreichen Ortsgemeinden der Umgebung von Elstal, die Praktika im Bachelor- und Masterstudium oder einzelne Übungen in Ortsgemeinden. Nicht zuletzt ist viertens das Thema Spiritualität Gegenstand der Reflexion in Lehrveranstaltungen, hier vor allem in praktisch-theologischen Vorlesungen und Seminaren und den pastoraltheologischen Einheiten am Ende des Master-Studiengangs. Von der Konzeption her gibt es damit ein nicht geringes Maß an „Spiritualität“ in Form von theoretischer Reflexion und auch Vollzug an der Theologischen Hochschule Elstal. Wie überall ist nun freilich auch hier zu fragen, wie Ideal und Wirklichkeit sich zueinander verhalten. Das soll im Folgenden sowohl in der Darstellung der konkreten Durchführung des Studienkonzeptes als auch in Form des Erfahrungsberichtes geschehen. 1.5 Beobachtungen zur Spiritualität von Studienanfängerinnen und -anfängern Dass eine große Zahl von Studierenden, wenn sie das Studium in Elstal beginnen, bereits auf eine intensive, gemeinsam und individuell gelebte Spiritualität zurückblicken und zurückgreifen können (s.o. unter 1.3), wirft die grundsätzliche Frage auf, inwieweit eine spirituelle Anleitung im Studium für die Studierenden überhaupt nötig ist. Geschieht sie in den (freikirchlichen) Ortsgemeinden, aus denen die Studierenden kommen, nicht ohnehin informell? Der Versuch einer Antwort auf diese Frage kann sich lediglich auf Beobachtungen stützen. Hier lässt sich zunächst notieren, dass viele Studierende in ihrer persönlichen
Ein Erfahrungsbericht
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Spiritualität durch ein ihrem Lebensalter entsprechendes Gruppenerleben, d.h. insbesondere durch Teenagergruppen, Jugendgruppen, Gebetsgruppen, Lobpreisteams u.ä. geprägt worden sind. Das verwundert nicht und dürfte in der Vergangenheit ähnlich gewesen sein. Allerdings fällt auf, dass dabei zugleich die Kenntnis traditioneller spiritueller Formen, wie sie bisher freikirchliche (baptistische) Gemeindefrömmigkeit in Gestalt des gemeinsamen Gottesdienstes gekennzeichnet hat, schwächer ausgeprägt zu sein scheint als früher. Man mag dazu sogleich einwenden, dass sich die Bindung an traditionelle (freikirchliche) gottesdienstliche Formen nun eben auch in den Gemeinden selbst signifikant gelockert hat. Und in der Tat lassen sich Veränderungen hier nicht von der Hand weisen. Diese sind freilich nicht einheitlich. Sie können, was die jüngere Vergangenheit angeht, sowohl in eine Richtung gehen, die Anteile einer eher „charismatisch“ geprägten spirituellen Tradition enthält, wie z.B. einen ausgeprägten „Lobpreisteil“ im Gottesdienst. Andernorts wird bisher mit deutlicher Skepsis betrachtetes liturgisch-spirituelles Gut aus dem Schatz der Jahrhunderte alten christlichen Frömmigkeitstradition aufgenommen, wie etwa ausformulierte Ge30 bete oder die Orientierung am Kirchenjahr . Wie dem auch sei: Viele Studierende, die gegenwärtig ein Studium in Elstal aufnehmen, sind hinsichtlich ihrer Spiritualität in starkem Maße von der Form des „Anbetungs- und Lobpreisgottesdienstes“ mit dem dazu gehörigen, raschem Wandel unterworfenen Liedgut bestimmt31. Die Kenntnis von traditionellem geistlichen Liedgut etwa – einschließlich der großen und bisher als „bekannt“ vorauszusetzenden Choräle – geht hier vielfach gegen Null. Dies ist denn auch ein nicht selten geäußerter Grund dafür, dass Studierende bekennen, mit den überwiegend traditionellen Liedern und dem liturgisch geordneten Verlauf der offiziellen Andachten und Gottesdienste der Hochschule nichts oder wenig anfangen zu können. Man wird dem von Seiten der Hochschule Verständnis entgegen zu bringen haben. Solches Verständnis impliziert freilich die Einsicht, dass die bislang informell von den Studierenden erworbenen Spiritualitätsformen ergänzungsfähig und auch ergänzungsbedürftig sind. Für eine solche Ergänzung gibt es gute Gründe. Sie lassen sich wiederum anhand der drei Dimensionen des Studienkon30
31
Vgl. zum baptistischen Gottesdienst und seinen Veränderungen Volker Spangenberg, Aspekte freikirchlichen Gottesdienstverständnisses. Das Beispiel des deutschen Baptismus, in: Hans-Peter Großhans/Malte Dominik Krüger (Hrsg.), In der Gegenwart Gottes. Beiträge zur Theologie des Gottesdienstes, Frankfurt am Main 2009, S. 33–56; ferner: Werkstatt Gottesdienst. Ein Arbeitsbuch aus dem Dienstbereich Gemeindeentwicklung des Bundes 2 Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R., Wustermark 2014. Vgl. dazu den differenzierten Abschnitt „Betonung von Lobpreis und Anbetung“ bei Peter Zimmerling, Spiritualität (wie Anm. 7), S. 177–182.
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zeptes der Theologischen Hochschule benennen. Zum einen ist es unerlässlicher Bestandteil theologischen Wissens, zumindest Grundkenntnisse von Formen und Traditionen christlicher Spiritualität erworben zu haben. Zum anderen ist im Hinblick auf eine spätere Berufstätigkeit und des damit verbundenen Umgangs mit verschiedenen Alters- und Traditionsgruppen eine ausreichende Weite des spirituellen Erfahrungshorizontes nötig. Und schließlich gehört auch zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit die von vielen Studierenden selbst gewünschte Vertiefung bisherigen spirituellen Wissens und spiritueller Erfahrung. Insofern ist die Frage, ob spirituelle Anleitung im Studium überhaupt notwendig ist, nicht nur hinsichtlich fehlender expliziter religiöser Sozialisation zu bejahen, sondern auch angesichts einer durchaus vorhandenen und intensiven, gerade hier jedoch nicht selten auch von einseitigen Weisen der Gestaltwerdung des Glaubens geprägten. 1.6 Formen und Orte geistlicher Gemeinschaft an der Theologischen Hochschule Elstal Von Anfang an wurden innerhalb der theologischen Ausbildung im deutschen Baptismus immer auch Angebote zur geistlichen Gemeinschaft geschaffen. Im Blick auf die gegenwärtige Studiensituation ist dafür zunächst auf die Möglichkeiten zu verweisen, die sich durch die Campusstruktur der Elstaler Hochschule ergeben. Der überwiegende Teil der Studierenden wohnt auf dem Gelände. Das Wohnen und Arbeiten in Gemeinschaft stellt daher nach wie vor einen zwar nicht unproblematischen, aber gerade darum auch nicht zu unterschätzenden Aspekt des Studienkonzeptes dar. Das Dokument „Die Ausbildung für das ordinationsgebundene Amt in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ von 2012 hat zu Recht auf die spirituellen Chancen solchen Zusammenlebens im Studium hingewiesen: „Studierende des Pfarramts brauchen Formen und Orte geistlicher Gemeinschaft. Das können z.B. Wohnheime sein oder diakonische Projekte, in denen sie eine dem evangelischen Geist entsprechende Gemeinschaft bilden, die als eine Art geistliche Werkstatt für die spätere geschwisterliche Gemeinschaft 32 dienen kann.“
32
Die Ausbildung für das ordinationsgebundene Amt in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, in: Michael Bünker/Martin Friedrich (Hrsg.), Amt, Ordination, Episkopé und theologische Ausbildung, Leuenberger Texte Nr.13, Leipzig 2013, S. (185–222) 208. Vgl. die Stellungnahme des Kollegiums der Elstaler Hochschule zu diesem Dokument:
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Was auf dem Elstaler Campus an spirituellem Leben in den einzelnen Wohngemeinschaften oder in Hauskreisen geschieht, ist Gegenstand studentischer Eigeninitiative und wird von der Hochschule nicht kontrolliert. Dass hier jedoch tatsächlich mancherlei praktiziert und eingeübt wird, von dem dann gelegentlich auch etwas scheitern kann, zeigen die Gespräche mit den Studierenden. Wichtiger Bestandteil der theologischen Ausbildung in Elstal sind die regelmäßigen Andachtszeiten und die gemeinsamen Gottesdienste der akademischen Gemeinschaft. Was das erwähnte Dokument der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa hier als „Aufgaben“ formuliert, ist seit Langem fester Bestandteil des Elstaler Studienlebens: „Liturgische Angebote wie Andachten und akademische Gottesdienste sind geeignet, die kirchliche und geist33 liche Dimension der theologischen Ausbildung erkennbar zu machen.“ Der Stundenplan der Hochschule sieht gegenwärtig an drei Vormittagen in der Woche eine Andachtszeit vor, die zwischen 10 und 11 Uhr liegt. Die Formen dieser Andachten variieren zwischen einer Semesterandacht in den Jahrgangsgruppen und im Kollegium, einer Lobpreisandacht mit Liedern und Gebeten und der sogenannten Campusandacht. Hinzu kommt eine (unregelmäßig stattfindende) Gebetsandacht am Abend, die insbesondere der Fürbitte gewidmet ist. Für die Gestaltung der Andachten sind mit Ausnahme der „Campusandacht“ (und der Andacht im Kollegium) die Studierenden selbst verantwortlich. Der Studierendenrat der Hochschule wählt daher eigens eine für die Durchführung der Andachten verantwortliche Person. Eine besondere Andachtsform stellt die „Campusandacht“ dar. Sie wird über die Hochschulgemeinschaft hinaus auch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller auf dem Elstaler Gelände befindlichen Einrichtungen besucht und teilweise auch ge34 staltet . Neben den Andachten finden an der Hochschule zu bestimmten Anlässen gemeinsame Gottesdienste statt. Außer den Gottesdiensten zur Eröffnung des jeweiligen Winter- und Sommersemesters sind dies der Schlussgottesdienst
33 34
https://www.thelstal.de/fileadmin/the/media/dokumente/Stellungnahme_des_ThS_Elstal_zum_GEKE-Dokument_Ausbildung.pdf, Zugriff 16. August 2017. Ebd. Auf dem Elstaler Gelände, das die Hochschule beherbergt, befinden sich zahlreiche weitere freikirchliche Einrichtungen, wie z.B. die Geschäftsführung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, das Jugendwerk des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, die Zentrale der Europäischen Baptistischen Mission (EBM International), aber auch das Servicewohnen Elstal, eine seniorengerechte Wohnungseinrichtung mit über 100 Wohnungen.
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des Studienjahres am Ende des Sommersemesters, in dem die Absolventinnen und Absolventen des Master-Studiengangs verabschiedet werden, und von den Studierenden gestaltete Weihnachts- und Freiluftgottesdienste. Alle Andachten und gemeinsamen Gottesdienste sind freiwillige Veranstaltungen; die Teilnahme daran wird weder kontrolliert noch zertifiziert. Das ist nicht unumstritten. Aufgrund des schwankenden Besuchs der Andachten wird gelegentlich und besonders von studentischer Seite zu bedenken gegeben, ob man den Andachtsbesuch nicht obligatorisch machen solle. Das Kollegium hat dies bisher stets mit dem Hinweis darauf abgelehnt, dass die Unterweisung und Einübung spiritueller Praxis, die man als akademische Veranstaltung durchaus obligatorisch machen kann, von der spirituellen Praxis selbst zu unterscheiden ist. Zum Gottesdienst, zum Gebet und Lobgesang kann niemand genötigt werden. Wollte man das tun, so würde man der Heuchelei Tür und Tor öffnen. Der Zwang zur Heuchelei jedoch ist die schlimmste Form der Häresie. Spiritualität, die „geleistet“ wird, ist ein Widerspruch in sich selbst und mit einer recht verstandenen evangelischen Rechtfertigungslehre nicht zu vereinbaren. Man wird die intrinsische Motivation zur Spiritualität auf mancherlei Weise fördern können, durch Zwang jedenfalls nicht. Die Theologische Hochschule Elstal hält daher daran fest, dass im Blick auf den Besuch von Andachten und gemeinsamen Gottesdiensten und also für die spirituelle Praxis an der Hochschule allein die Autorität der einladenden Bitte und nicht die eines Modulhandbuchs entscheidend sein kann. Was im Studienkonzept und in anderen Äußerungen der Elstaler Hochschule in Aussicht gestellt wird, nämlich das Studium in einer Gemeinschaft, die auch die Dimension des geistlichen Lebens einschließt, wird von vielen Studierenden ausdrücklich gewünscht und eingefordert. Für nicht wenige ist dieser Gemeinschaftsaspekt ein gewichtiger Grund für die Wahl ihrer Ausbildungsstätte. Es soll dabei nicht verschwiegen werden, dass sich bei manchen Studierenden nach einiger Zeit auch Enttäuschung darüber einstellt, dass die erwünschte geistliche Gemeinschaft nicht größer ist bzw. dass sie nicht von allen Kommilitoninnen und Kommilitonen gleichermaßen stark gesucht und wahrgenommen wird. Manche wünschen auch eine intensivere geistliche Begleitung von Seiten des Lehrkörpers. Es bedarf immer wieder der gemeinsamen Diskussion darüber, dass und wie die Unterscheidung – nicht die Trennung! – von geistlicher Gemeinschaft und Studiengemeinschaft, von Seelsorgetätigkeit und Lehrtätigkeit, von Kanzel und Katheder zu praktizieren ist. Solche Diskussionen brechen häufig an kleineren Fragen des Studienalltags auf: Soll am Beginn eines Prüfungstages ein Gebet gesprochen werden? (Es wird.)
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Soll die erste Vorlesung am Morgen mit Losung, Gebet oder einem Choral begonnen werden? (Das wird von den Lehrkräften unterschiedlich gehandhabt.) Die Diskussion entzündet sich gelegentlich jedoch auch an strukturellen Fragen, wie etwa der, ob eine anwendungsbezogene theologische Ausbildungsstätte wie die Elstaler Hochschule nicht eines eigenen Seelsorgers, Ansprechpartners oder Mentors zur geistlichen Begleitung der Studierenden bedarf. In der Debatte darüber erweist sich, dass eine derartige Aufgabe wegen der unweigerlich damit verbundenen Rollenkonflikte nicht einfach an eine Person des Lehrkörpers zu delegieren ist. Eine eigene Personalstelle für eine derartige geistliche Begleitung scheidet nicht nur aus finanziellen Gründen aus, sondern wird auch aus Gründen der evangelischen Freiheit spiritueller Praxis als problematisch erachtet. Zugleich zeigt die Diskussion, dass es beim Wunsch nach Begleitung nicht allein um eine im engeren Sinne spirituelle geht, sondern um eine Begleitung in Krisenzeiten, in denen Fragen der persönlichen Frömmigkeit, Ablösungsnöte, Studienprobleme oder Prüfungsängste oft ein schwer unterscheidbares Ineinander bilden. Nicht zuletzt im Blick auf solche Situationen hat die Hochschule mit einem in der Studierendenberatung erfahrenen freikirchlichen Berliner Theologen und Psychologen eine Vereinbarung über die Möglichkeit von (psychologischer) Beratung und Begleitung oder Therapie getroffen – ein Angebot, das von Einzelnen auch immer wieder genutzt wird. Daneben haben die Studierenden selbstverständlich die Möglichkeit, seelsorgerliche Begleitung und Beratung der Pastorinnen und Pastoren in ihren jeweiligen Ortsgemeinden in Anspruch zu nehmen. Da die Theologische Hochschule von Anfang an keine eigene Hochschulgemeinde gebildet hat, sind die Studierenden gehalten, sich einer der zahlreichen Ortsgemeinden im Brandenburger und Berliner Umland anzuschließen, um dort das geistliche Leben zu teilen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten mitzugestalten. 1.7 Mitgliedschaft und Mitarbeit von Studierenden in Ortsgemeinden Die Zugehörigkeit und Mitarbeit von Studierenden der Elstaler Hochschule in Ortsgemeinden während des Studiums wird im Studienkonzept der Praxisdimension des Studiums zugeordnet: „Zur Praxisorientierung gehören … die Mitgliedschaft der Studierenden in Ortsgemeinden der Umgebung von Elstal mit 35 der Möglichkeit zur Mitarbeit (z.B. auch in der Gemeindeleitung).“ Es ist klar, dass sowohl Mitgliedschaft als auch Mitarbeit von Studierenden in den Ortsgemeinden der Umgebung von der Hochschule immer nur erwar35
Ordnungen der Theologischen Hochschule Elstal (wie Anm. 2), S. 7.
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tet, nicht erzwungen werden können. Und ebenso ist es selbstverständlich, dass darüber von Seiten der Hochschule keine Kontrolle stattfindet. Hier kann allein ein Austausch im gemeinschaftlichen oder individuellen Gespräch erfolgen. Die Fragen, die sich dabei im Blick auf Theologiestudierende stellen, sind nicht neu: Es gibt auf der einen Seite bekanntlich ein Zuviel an praktischer Gemeindearbeit, das nicht nur rein zeitlich gesehen einem Studium im Wege steht, sondern auch den für ein Studium der Theologie nötigen Abstand zur Praxis verhindert. Und es gibt auf der anderen Seite ein Zuwenig an praktischer Gemeindearbeit, das zur Entfremdung gegenüber dem Berufsziel führt bzw. mit einer theorieüberfrachteten idealistisch-unrealistischen Vorstellung die eigene Person und die künftige Gemeinde überfordert. Zudem sollte während eines Theologiestudiums auch die Möglichkeit genutzt werden, gelegentlich – freilich keinesfalls im Sinne eines andauernden Vagabundentums – die Gottesdienste anderer Ortsgemeinden, sowohl der eigenen, aber auch anderer Konfessionen kennen zu lernen. Für die Wahrnehmung der künftigen Aufgaben im Gemeindedienst ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass die Studierenden auch auf diese Weise „zu ihrer eigenen religiösen Sozialisation in eine reflexive Distanz treten“ und durch die „Begegnung mit verschiedenen religiös-kirchlichen Milieus … schon während des Studiums … wichtige Im36 pulse“ empfangen . Es dürfte kaum verwundern, dass Ortsgemeinden in der Umgebung der Hochschule die Mitgliedschaft und Mitarbeit von Studierenden wertschätzen, als eine Bereicherung empfinden und fördern. Es kann aber ebenso wenig übersehen werden, dass es hier aufgrund der besonderen Lebenssituation von Studierenden und nicht zuletzt auch aus Gründen der ständigen Fluktuation zu Auseinandersetzungen und gelegentlichen Brüchen kommt. Die Theologische Hochschule bemüht sich deshalb nachdrücklich darum, mit den Pastorinnen und Pastoren der Umgebung im Gespräch über die Möglichkeiten und Grenzen spiritueller Förderung durch die Mitarbeit von Studierenden in den Ortsgemeinden zu sein. 1.8 Spiritualität als Gegenstand der Lehre Von der spirituellen Praxis eines gemeinsamen geistlichen Lebens an der Hochschule ist die spirituelle Unterweisung zu unterscheiden. Sie dient zunächst der Vermittlung von Kenntnissen der Formen und Traditionen christlicher Spiritualität und der Förderung ihrer kritischen Reflexion. Sie kann dane36
Die Ausbildung für das ordinationsgebundene Amt (wie Anm. 32), S. 207.
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ben auch die Gestalt der Einübung annehmen mit dem Ziel einer Förderung der intrinsischen Motivation. Spiritualität als Gegenstand der Lehre hat ihren Ort naturgemäß vor allem im Bereich der praktisch-theologischen Disziplinen. Hier sind die Angebote der Theologischen Hochschule in den letzten Jahrzehnten unterschiedlich gewesen – nicht zuletzt bedingt durch die lehrenden Personen. Sie reichen von einer Einführung in Dietrich Bonhoeffers Schrift „Gemeinsames Leben“ im ersten Semester des Studiums über Vorlesungen zum Thema „Theologie des Gebets“ bis hin zu Seminaren, die im engen Kontext zu Themen aus dem Bereich der Spiritualität stehen, wie etwa die Seminare zur Liturgik oder zum Kirchenjahr; in Lehrveranstaltungen zur Poimenik und Pastoraltheologie wird regelmäßig über Fragen wie die der Beichtpraxis oder der persönlichen Frömmigkeit im pastoralen Alltag gehandelt. In der Regel geschieht diese Unterweisung diskursiv-reflektierend, nicht praktizierend. Sie ist im Rahmen der Lehre eine „Theorie der Praxis“. Dabei treffen die meisten der genannten Themen auf reges Interesse bei den Studierenden, wobei sich im Vollzug der Lehrveranstaltungen nur ein geringes Maß an Kenntnissen im Bereich der reichen Traditionen christlicher Spiritualität offenbart. Gegenwärtig sieht die Planung der Hochschule konkrete Schritte vor, um das bislang mengenmäßig überschaubare Lehrangebot im Bereich der Spiritualität zu verstärken und so die praktisch-theologische Disziplin der Aszetik wieder zu Ehren zu bringen. Dies könnte auch bedeuten, dass Spiritualität im Sinne praktischer Einübung stärkere Berücksichtigung im Lehrplan findet. Solche lehrmäßige praktische Einübung ist an der Elstaler Hochschule bisher nur ansatzweise vorhanden und hat vor allem in Gestalt des jährlichen „Einkehrtags“ einen festen Ort. Hierzu werden häufig ausgewiesene Kenner spiritueller Traditionen oder Angehörige spiritueller Gemeinschaften eingeladen, die dann auch Anleitung zur praktischen Durchführung z.B. des Herzensgebets oder der Gebetsanweisungen Martin Luthers geben. In der Vergangenheit waren das u.a. Gerhard Ruhbach, Manfred Seitz, Wolfgang Bittner oder Peter Zimmerling. Die zumeist positiven Rückmeldungen der Studierenden haben hier vor allem zu bedenken geben, dass ein einzelner Tag zu kurz ist, um wirklich eine langfristig wirksame „Einübung“ schaffen zu können. 1.9 Spiritualität und Weltverantwortung In ihrer Bestimmung von christlicher Spiritualität hat Corinna Dahlgrün darauf hingewiesen, dass Spiritualität „zugleich die Bezogenheit auf den Nächs-
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ten als tätige Liebe und die Verantwortung gegenüber der Welt als Gottes uns anvertrauter Schöpfung“37 umfasst. Themen aus dem Bereich christlicher Weltverantwortung werden an der Theologischen Hochschule Elstal insbesondere im Rahmen ethischer, diakoniewissenschaftlicher und sozialtheologischer Lehrveranstaltungen in einem durchaus ponderablen Ausmaß behandelt. Damit ist zumindest indirekt die Frage nach einem christlichen Lebensstil im Blick auf Ökologie, Ökonomie, politisches Engagement oder Friedensdienst präsent. Praktische Initiativen Einzelner (wie z.B. Besuche von Gefangenen, Mitgliedschaft in einschlägigen Arbeitskreisen, vereinzelt auch die Wahrnehmung eines politischen Mandats) kommen gelegentlich vor und werden von der Hochschule begrüßt, gegebenenfalls auch unterstützt. Dass hier sowohl auf der Ebene der Reflexion als auch auf der Ebene praktischen Handelns noch Verbesserungspotentiale bestehen, haben die jüngsten Ergebnisse des regelmäßigen Qualitätsmanagements der Hochschule gezeigt. 1.10 Klärung der vocatio interna Das Dokument „Die Ausbildung für das ordinationsgebundene Amt in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ weist darauf hin, dass „die Jahre der theologischen Ausbildung eine relativ lange Zeitspanne“ bilden, „in der sich das Berufsbewusstsein und die vocatio interna der künftigen Pfarrerin38 nen und Pfarrer klären, formen und vertiefen kann“ . Dabei wird noch einmal auf die Notwendigkeit von geistlicher Begleitung und Seelsorge in Gestalt individueller Gespräche, von Gemeinschaftswochenenden, geistlichen Übungen und Hochschulgemeinden hingewiesen39. Wenn Theologie nicht lediglich um der Theologie willen betrieben werden soll, wird man hier, wo es um die Berufung zum geistlichen Dienst oder Amt geht, den vielleicht wichtigsten Grund für die Notwendigkeit sehen dürfen, der spirituellen Perspektive im theologischen Studium genügend Aufmerksamkeit zu widmen. Unabhängig davon, welchen Grad der Gewissheit einer vocatio interna Studierende beim Studienbeginn mitbringen, wird ein ordentliches Theologiestudium die Berufung, die man verspürt oder vielleicht auch nur ahnt, einer Prüfung unterwerfen. Damit sich diese Prüfung heilsam und klärend vollziehen kann, ist das spirituelle Angebot in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Wie weit es vom Einzelnen wahrgenommen wird und wie weit es trägt, ist erfahrungsgemäß individuell 37 38 39
Corinna Dahlgrün, Christliche Spiritualität (wie Anm. 4), S. 152 (ohne Klammerzahlen). Die Ausbildung für das ordinationsgebundene Amt (wie Anm. 32), S. 208. Vgl. ebd.
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verschieden. Dass es jedoch zu den Zielen einer theologischen Ausbildung gehört, eine konstruktive Klärung der Berufung zu fördern und das Fundament für eine reflektierte, eigenverantwortete und lebendige äußere Gestalt des Glaubens zu legen, dürfte kaum strittig sein. Auf diesem Grund kann dann gebaut werden – „auch über die Zeit der Ausbildung hinaus“40.
40
Ebd.
Spiritualität und theologische Ausbildung im Bund der Freien evangelischen Gemeinden (BFeG) Wolfgang E. Heinrichs
Spiritualität in frei-evangelischer Tradition Den größten Einfluss auf die Spiritualität der Freien evangelischen Gemeinden besaß zweifellos der maßgebliche Gründer der ersten Freien evangelischen Gemeinde in Deutschland Hermann Heinrich Grafe (1818–1869). Ihn kann man mit Recht als „spiritus rector“ der sich auf die Tradition des Independentismus berufenden Freien evangelischen Gemeinden sehen.
Spirituelle Traditionen 1
Pietismus
In seinem Denken lehnt Grafe sich an die Mystik Gerhard Tersteegens (1697– 1769)1 an, der wiederum von dem aus dem reformierten Genf, Lyon und vor allem den Niederlanden geprägten niederrheinischen Pietismus beeinflusst war, so wie ihn Theodor Undereyck (1635–1693), Christoph Hochmann von Hochenau (1670–1721) sowie Wilhelm Hoffmann (1685–1746) vermittelten. Elemente der Mystik der Teresa von Avila (1515–1582), Johannes vom Kreuz (1542–1591), Miguel de Molinos (1628–1697) und der Madame Guyon (1648–1717) machte Tersteegen durch Übersetzungen konfessionsübergreifend für den Pietismus fruchtbar. Auch seine auf subjektive Glaubenserfahrung ruhende Vermittlung religiöser „Wahrheiten“ und deren Vermittlung durch Korrespondenzen und in Kommunitäten finden sich in der Frömmig1
Zu Gerhard Tersteegen siehe den Artikel von Hermann-Peter Eberlein, Gerhard Tersteegen (1697–1769), in: Rheinische Geschichte, Persönlichkeiten, hrsg. v. Landschaftsverband Rheinland, http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/T/Seiten/GerhardTersteegen.aspx, Zugriff 16. August 2017; Johann Friedrich Gerhard Goeters, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jahrhundert, in: Martin Brecht u.a. (Hrsg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Göttingen 1995, S. 393–410 und 421–426.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
keitsstruktur der späteren Freien evangelischen Gemeinden wieder2. Als weiteren pietistischen Wegbereiter, der für Grafe und anderer Vertreter frei evangelischer Frömmigkeit maßgeblich wurde, wäre insbesondere Jean de Labadie (1610–1674)3 zu nennen. Bei ihm findet sich das strikte Schriftprinzip sowie das auch für Tersteegen so wichtige Kriterium der Abgeschiedenheit bzw. Unterschiedenheit des Christen von der so genannten „Welt“, das heißt der Trennung des Glaubenden von einer im Ganzen von Gott abgefallenen Gesellschaft. 2
Erweckungsbewegung
Diese Traditionen aufnehmend und gleichzeitig im Zuge des fortschreitenden Wandels auf allen Ebenen des menschlichen Lebens in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur in Bezug auf die Mentalität revolutionär, strukturierte die moderne Erweckungsbewegung, seit Mitte des 18. und sich ins 19. Jahrhundert fortsetzend, die Frömmigkeit der hieraus sich entwickelnden Freikirchen und eben auch der Freien evangelischen Gemeinden. Sie verstand ihre Zeit als eine besondere Phase christlicher Heilsgeschichte, für die der Hallenser Theologe August Tholuck (1799–1877) das Fahnenwort „Auferstehungszeit“ fand4. 2
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Sehr aufschlussreich darüber Horst Neeb (Hrsg.), Geistliches Blumenfeld: Briefe der Tersteegen-Freunde 1737 bis 1789 in Abschriften von Wilhelm Weck, Neunter Teil, Düsseldorf: Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland 2000 (= Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland 28). Siehe auch Michael Knieriem, Die Otterbeck. Eine Hütte Gottes bei den Menschen. Vier unbekannte Dokumente zum Tersteegen-Jahr, in: Romerike Berge 47, 1997, S. 11–19; Johannes Burkardt/Michael Knieriem, Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloss Hayn. Aus dem Nachlass des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742: Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2002; Dies., Drei geistliche Briefe aus Mülheim/Ruhr aus den Jahren 1732, 1736 und 1737. Ein Beitrag zur Tersteegen-Forschung, in: Bernd Hey (Hrsg.), Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 98, Bielefeld 2003, S. 129–148. Ein Umfassendes Literaturverzeichnis zu Tersteegen findet sich unter: Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren 1750–1950, Gerhard Tersteegen, http://www.lwl.org/literaturkommission/alex/index.php?id=00000003&letter=T&layout=2&author_id=00000243, Zugriff 16. August 2017. Johannes van den Berg, Die Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlanden, in: Martin Brecht u.a. (Hrsg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Göttingen 1993, S. 57–112; Anthony Gregg Roeber, Der Pietismus in Nordamerika im 18. Jahrhundert, in: Martin Brecht u.a. (Hrsg.), Geschichte (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 673–676. August Tholuck, Die Lehre von der Sünde und dem Versöhner oder: die wahre Weihe des 8 Zweiflers, Gotha 1862 (Vorwort zur ersten Auflage) = Dr. August Tholucks Werke, Bd. 1, S. Vf., in Auszügen in: Hans-Walter Krumwiede u.a. (Hrsg.), Kirchen- und Theologiegeschich-
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Pietistische Frömmigkeitsmotive des 17. und 18. Jahrhunderts finden sich in der Erweckungsbewegung in einem modernen, dynamischen, der Industriegesellschaft und Kulturkrise angepassten Gewand oder, vielleicht besser noch, in einer Metamorphose. Das prophetische Motiv wird zur konkreten Zeitkritik gegenüber einer vernunft- und wissenschaftsgläubigen Auslegung von Welt und vermittelt durch den Hoffnungsbegriff eine alternative Utopie. Das individualistische Motiv rezipiert die Aufklärung, ohne deren Rationalismus zu teilen, adaptiert aber dessen Freiheitsideal, das sozietäre Motiv gibt eine Antwort auf die Desintegration der Menschen und verarbeitet das Demokratieideal, das evangelistische Motiv antwortet auf die Desorientierung der Zeit und verarbeitet den Emanzipationsanspruch. Mit der Aufklärung und dem Idealismus verwandt ist die Erwartung einer Durchbruchserfahrung zum Heil, einer Erleuchtung, einer „Wiedergeburt“. Kant, Fichte und andere postulierten beziehungsweise hofften auf eine „sittliche Wiedergeburt“, Goethes Leitmotiv der 1830er Jahre ist das des neu5 en Lebens . 2.1 Impulse aus England, Schottland und der Schweiz Waren es im 18. Jahrhundert noch die Niederlande gewesen, welche die wichtigsten Impulse auf den der reformierten Tradition nahestehenden Protestantismus gaben, so gingen im 19. Jahrhundert von England, Schottland und der Schweiz die entscheidenden Anregungen aus. Für den Baptismus und den Methodismus wären freilich noch auf die Einflüsse aus den Vereinigten Staaten von Amerika hinzuweisen, die für die Freien evangelischen Gemeinden erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unmittelbar wirksam waren.
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te in Quellen, Bd. 4/1, Neukirchen 1979, S. 190. Ulrich Gäbler benutzt diesen Schlüsselbegriff der Erweckungsbewegung und zeigt ihre Charakteristika auf. Siehe Ulrich Gäbler, „Auferstehungszeit“. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Sechs Porträts. Porträts von Charles Grandison Finney, Thomas Chalmers, Adolphe Monod, Isaac da Costa, Aloys Henhöfer, Dwight Lyman Moody, München 1991. Inwiefern mit der Erweckungsbewegung tatsächlich eine neue Epoche der Frömmigkeitsgeschichte markiert wird, zeigen sehr eindrücklich Hartmut Lehmann, „Die neue Lage“ und Ulrich Gäbler „Evangelikalismus und Réveil“ in: Martin Brecht u.a. (Hrsg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 3, Göttingen 2000, S. 2–26. 27–84. Siehe auch Wolfgang Heinrichs, Die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts und ihr Bezug zur Moderne, expliziert an der Arbeit der beiden amerikanischen Evangelisten Charles G. Finney und Dwight L. Moody, in: ThGespr 26, 2002, S. 3–31. Dietrich Borchmeyer, Schnellkurs Goethe. Wiedergeburt in Italien (1786–1788), http://www.goethezeitportal.de/wissen/dichtung/schnellkurs-goethe/wiedergeburt-in-italien.html, Zugriff 17. September 2016.
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Entscheidend für die Gründung einer independenten Gemeinde in Wuppertal war nun der englische und schottische Kongregationalismus, der missionarisch auf den Kontinent einwirkte. Insbesondere war es Robert Haldane (1764–1842), der 1816/1817 in Genf vor Theologiestudenten den Römerbrief auslegte und dort der Erweckungsbewegung dogmatische Impulse vermitteln konnte6. Unter anderem inspirierte Haldane Jean-Henri Merle d’Aubigné (1794–1872), Louis Gaussen (1790–1863), Henri Pyt (1796–1835), Charles Rieu (1792–1821), Jean-Guillaume Gonthier (1793–1823), César Malan (1787–1864), Émile Guers (1794–1882) und Frédéric Monod (1794–1863), die in dieser Zeit lebensverändernde Impulse erfuhren7. Zuvor hatten bereits Ami Bost (1790–1874) und César Malan einen akademischen Freundeskreis, die „Société des Amis“ ins Leben gerufen, der sich in Reflexion der Französischen Revolution und der Napoleonischen Ära die Frage nach der inneren Reform christlicher Lehre und Praxis stellte. Wie viele andere Vertreter der Erweckungsbewegung gehörten sie einer Freimaurerloge an, der „L’Union des cœrs“. Die Ansicht der Trennung von Staat und Kirche beziehungsweise, weiter gedacht, von Gesellschaft und Staat wurde ihnen plausibel, eine Vorstellung, die, wie noch zu zeigen sein wird, in der Mentalität Hermann Heinrich Grafes mithin auch in seiner Spiritualität fest verankert ist. 1817 kam es in Genf zur Bildung einer staatsunabhängigen Gemeinde, die Vorbildcharakter für die ausbreitende Erneuerungsbewegung gewann. Robert Haldane, Auguste Rochat (1789–1847) Adolphe Monod (1802– 8 1856) und Carl von Rodt (1805–1861) , der aus dem französischen Raum die Ideen der Genfer Bewegung über Bern in den deutschsprachigen Raum brachte, sind nicht allein Repräsentanten einer Richtung einer speziellen Frömmigkeitsform, der Erweckungsbewegung, sie sind desgleichen Teil der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Freiheit, Verfassung und politischer Mitbestimmung sowie nationaler Einheit strebte. Zwar 6
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Zu Haldane siehe Hartmut Weyel, „Die Bibel mit Eifer und Ehrfurcht studieren“. Robert Haldane (1764–1842). Seemann, Erweckungsprediger und Kongregationalist aus schottischem Adel, in: Ders., Zukunft braucht Herkunft. Lebendige Porträts aus der Geschichte und Vorgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden, Bd. 1, Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden, Bd. 5.5/1, Witten 2009 = ²2014, S. 47–72. Zu den Anfängen des Réveil siehe Ulrich Gäbler, Evangelikalismus (wie Anm. 4), S. 40–56; außerdem Wieger van der Zwaag, Reveil en afscheiding, Kampen 2006. Zu allen genannten Personen finden sich ausführliche Darstellungen bei Hartmut Weyel, Zukunft (wie Anm. 6) für Rochat, S. 73–96; Monod, S. 97–109 und Rodt, S. 110–122. Zum Zusammenhang von britischer Evangelisation und Genfer Erweckung siehe Ken Stewart, Restoring the Reformation: British Evangelicalism and the Francophone Réveil 1816–1849, Carlisle, UK 2006.
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strebten die Protagonisten der Erweckungsbewegung die Revolution, das heißt die Ersetzung der auch in der Schweiz noch existierenden Hierarchie durch eine demokratisch-egalitäre Ordnung, nicht auf einer politischen Ebene an, es sei denn, dass sie die religiöse Freiheit einforderten, was sie, wenigstens Zeitweise, in Konflikt mit der Staatsgewalt brachte, doch entsprach das von ihnen vertretene Gemeindemodell in sich eben jener bürgerlichen Gesellschaft, die dabei war sich zu entfalten. Nun mag der Gedanke einer der Moderne angepassten Spiritualität, die sich gewissermaßen im Rahmen eine umfassenderen Mentalität entwickelte, theologisch nicht gerade konvenieren, zumal wenn über Jahrzehnte der Gedanke näher stand, dass die Geisteseinstellung eines Christen doch diametral zu der von Nichtchristen stünde und nichts gemein hätte mit dem so genannten Zeitgeist. Deshalb muss an dieser Stelle noch näher definiert werden, was denn unter „Mentalität“ überhaupt zu verstehen ist. Sie ist als „eine unreflektierte kollektive psychische Grundbefindlichkeit zu definieren, die eine Grup9 pe … innerhalb einer allen ihren Angehörigen gemeinsamen Umwelt“ besitzt. Sie ist somit eine kollektive Denk- und Verhaltensdisposition aufgrund einer bestimmten Mensch-Umwelt-Konstellation, umfasst geistige Einstellungen und praktische Verhaltensäußerungen, deren Wert und Wahrheit nicht näher reflektiert werden. Sie befindet sich demgemäß im Bereich elementarer Gewissheiten, Konstellationen, mit denen man rechnet und äußert sich in Verhaltensmustern, die Deutungen sind und nicht in Frage gestellt werden. Eine bestimmte Umweltkonstellation evoziert eine gewisse mentale Einstellung, die als plausibel gilt. Doch geht selbstverständlich auch von dem humanen Verhalten umgekehrt eine Prägung bzw. Gestaltung der Umwelt aus. Vom Begriff der 10 Mentalität sind, wie bereits Theodor Geiger darlegt , die Begriffe der „Weltanschauung“ und „Ideologie“ zu unterscheiden. Weltanschauung ist eine bereits durchdachte und strukturierte Geisteshaltung. Sie ist gefordert, wenn im Hinblick auf ein und dieselbe historische Wirklichkeit unterschiedliches Verhalten und damit verschiedene Deutungen vorliegen, Mentalität also fragwürdig wird11. Eine Weltanschauung kann im Gegensatz zu Mentalität gelehrt oder
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Karl-Hermann Beeck, Leistung und Bedeutung des mentalitätsgeschichtlichen Ansatzes in der Kirchengeschichte, in: Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland (Hrsg.), Mentalitätsgeschichtlicher Ansatz und regionalgeschichtliche Forschung, Düsseldorf 1989, S. 4. Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch 2 auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932, ND Stuttgart 1967, S. 77f. Zu dem wesentlich von Edmund Husserl geprägten Begriff „Lebenswelt“ vgl. Rudolf Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichts-
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propagiert werden. Eine zu einem Lehrgebäude verfestigte Weltanschauung wäre dann konsequent als Ideologie zu bezeichnen. Die Analyse einer Weltanschauung oder einer Ideologie kann natürlich mentale Strukturen freilegen. Eine Apologie von bisher als selbstverständlich gedachtem und gelebtem Denken und Verhalten verweist auf einen Umbruch von Mentalitäten; denn Ideologien setzen immer dann ein, wenn eine tradierte, bis dahin unreflektierte Sinngewissheit einer Legitimierung bedarf. Der Sinn von Lebensgestaltung und -deutung, eine alternative Plausibilitätsstruktur, muss neu gefunden werden, weil es ein konkurrierendes Wertsystem gibt, beziehungsweise überkommene und bis dahin unwillkürlich gelebte Einstellungen und Sensibilitäten sich im Kontext einer veränderten Umwelt als unbrauchbar oder anpassungsbedürftig 12 erwiesen haben . Spiritualität bewegt sich auf allen drei Ebenen, hat aber von ihrem Selbstverständnis her wesentlich eine vierte, geistliche Dimension, die sich freilich nur beschreiben, nicht aber ergründen lässt. Sie ist, was ihren göttlichen, eben geistgewirkten Charakter angeht, per Definition sakrosankt, letztlich als geäußerte Erfahrung mit dem Heiligen nicht mehr hinterfragbar. Doch wirkt Gott eben in Zeit und Raum, und hier können wir schon Zusammenhänge analysieren. Was die Mentalität angeht, so finden sich in den Alltagsgewissheiten Kongruenzen, die wir entdecken können und die ich nun weiter verfolgen will. Bevor nun auf die Spiritualität und damit Mentalität Hermann Heinrich Grafes genauer eingegangen wird, soll dies anhand zweier markanter Beispiele konkretisiert werden. Wenn Grafe in seinem Tagebuch etwa 1852 die „Kleinstaaterei im Reich 13 Gottes“ beklagt, die nur eine „Folge der Sünde“ sei , so greift er hiermit die Klage der Liberalen über die noch nicht vollzogene deutsche Einheit auf. Grafes Einheitsmotiv ist also verankert in dem nationalen Einheitsgedanken, den er auf den geistlichen, genauer ekklesiologischen Bereich transferiert.
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schreibung, in: Ders. (Hrsg.), Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttinger Gespräch zur Geisteswissenschaft, Bd. 1, Göttingen 1995, S. 7–28. In Bezug auf Freikirchen hatte ich seinerzeit in meiner Dissertation eine mentalitätsgeschichtliche Betrachtung unternommen. Wolfgang E. Heinrichs, Freikirchen eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal, TVGMS 346, Gießen ²1990. Tagebuch 1, S. 133, Eintrag vom 2. Mai 1852. Grafe schrieb insgesamt acht Tagebücher, die er „Lebenszeichen“ nannte. Sieben davon sind erhalten und befinden sich im Archiv der Freien evangelischen Gemeinde Wuppertal-Barmen. Wesentliche Auszüge daraus finden sich bei Wilfrid Haubeck/Wolfgang E. Heinrichs/Michael Schröder (Hrsg.), Lebenszeichen. Die Tagebücher Hermann Heinrich Grafes in Auszügen, Witten 2004.
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Wenn er in seinem bekannten, noch heute vielbesungenem Lied die Gemeinde als „Ein einig Volk von Brüdern“14 kennzeichnet, dann zitiert er den Rütlischwur aus Schillers Wilhelm Tell und übernimmt dabei, wohl unbewusst, Schillers Freiheitsideal, das der Würzburger Literaturhistoriker Wolfgang Riedel als „die Synthese von Natur und Kultur“ charakterisiert, die „in Naivität und Reflexion, Trieb und Vernunft“ einmal „versöhnt, was in der Gegenwart in feindliche Opposition auseinander tritt“ und die „ … Vollkommenheit des Daseins wiederherstellen …“15 soll. Grafe teilt folglich die Kulturkritik Schillers und dessen, offenbar in der allgemeinen Mentalität des 19. Jahrhunderts tief empfundene Sehnsucht nach Harmonie, Verbundenheit und „Brüderlichkeit“ einer ansonsten pluralisierten Gesellschaft. Ein Gedanke, der sich auch in Schillers Ode „An die Freude“ (1785) wiederfindet. Nur, dass bei Grafe nicht „alle Menschen Brüder“16 und „alle Sünden … vergeben“ werden sollen, sondern sich die Harmonie zwischen den Menschen untereinander und mit Gott aufgrund des Glaubens, freilich, wie bei Schiller, mittels einer Durchbruchserfahrung vollzieht. Aus der Mentalität seiner Zeit heraus ergibt sich für Grafe nun eine Dichotomie seiner Spiritualität, die sich als Konsens individueller und kollektiver Frömmigkeit und einem Dissens zwischen spiritueller und materieller Wirklichkeit fassen lässt. 2.2 Grafes Spiritualität als Dichotomie von Konsens und Dissens 2.2.1
Der Konsens individueller und kollektiver Frömmigkeit
Grafe, der zu dieser Zeit bereits im konservativen, evangelikal geprägten „Christlichen Bürgerverein“ Elberfelds war, der seine Loyalität zum preußischen König bekräftigte und sich entschieden gegen eine bürgerliche Revolution aussprach, beurteilte im Sommer 1852 noch einmal rückblickend die 1849er Ereignisse, indem er zunächst seine damalige Ansicht wiedergibt, dann aber korrigiert: „(Aus dem Jahre 1849) … Alle Welt will jetzt souverain sein. Dieses Bestreben zur Freiheit enthält soviel Schein der Wahrheit, daß es Leichtgläubigen Vertrauen einflößt und sie durch den Gehalt der Lüge soviel leichter und tiefer 14 15 16
Aufgenommen im aktuellen Liederbuch der Evangelisch-Freikirchlichen und der Freien evangelischen Gemeinden „Feiern und Loben“, Holzgerlingen 2003, Nr. 132. Wolfgang Riedel (Hrsg.), Der Spaziergang. Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller, Würzburg 1989, S. 69. So in der späten Fassung von 1808.
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Spiritualität und theologische Ausbildung verstrickt. Diese Freiheit brüstet sich mit Menschenrechten, um Gottesrechte dadurch zu neutralisieren. Sie will herrschen, aber diese Herrschaft ist nur Despotie, indem sie die Freiwilligkeit unterdrückt. Diese Freiheit nach außen, politisch-gesellschaftlich, verkennt die innere Freiheit, die christlich- ethische. Deshalb ist auch der Zwang ihr Mittel, und die Unterdrückung der persönlichen Freiheit, die Belastung des Gewissens ihre notwendige erste Folge. Jeder will sich nicht emanzipieren, aber jeder soll sich emanzipieren; und so treibt man einen Emanzipationszwang im Namen der Freiheit, eines Götzen, dem dann jede Leidenschaft frei dienen kann. Diese Freiheit ist die eines gesellschaftlichen Faustrechts, das die Revolution gegen die bestehenden gesetzlichen Autoritäten sanktioniert, ja zum Prinzip erhebt und deshalb permanent erklärt. So baut man das große Babel der Anarchie. Der Unglaube hält sich dann bloß nicht mehr in den Köpfen, er schafft vielmehr auch sein Werk. Er will sich verkörpern und wird in allen seinen einzelnen Bestandtheilen sich endlich kristallisieren zum Reich des Antichristenthums, mit der Spitze einer eminenten Persönlichkeit, der das ungeheure Thier des Abfalls, in einem weit verzweigten kolossalen Staatskörper Macht gibt. So schrieb ich am Ende des Jahres 1849, aus frischer Erinnerung der politischen Ereignisse desselben und des zuletzt vorhergegangenen Jahres. Ich schrieb so als ein guter Patriot, als ein warmer Freund des Königs und des Königthums. Voll Abscheu vor dem Wühlen der Revolutionsmänner, vertheidigte ich die Regierung des Landes. In der damaligen Bewegung sah ich nur Schlechtes und in dem Festhalten am Alten meistens nur Gutes. Aber seit dem Jahre 1849 habe ich über unsere königlichen und fürstlichen Regierungen ein ganz anderes Urtheil gewinnen müssen. Ohne die Demokraten zu vertheidigen und ihre Handlungsweise irgendwie rechtfertigen zu wollen, muß ich jetzt doch bekennen, daß sie darin ganz recht gesagt haben: ‚Den Fürsten ist nicht zu trauen; sobald sie wieder zu Kräften kommen, werden sie alle ihre Versprechungen nicht mehr halten, sondern uns mit neuem Eifer und mit neuem Unrecht in die alten Zustände wieder zurückdrängen.‘ Ich sehe jetzt das Unrecht nicht mehr bloß beim Volke, sondern ebensogut bei den Fürsten, ich sehe es überhaupt in jedem unbekehrten Menschen, als Mensch eben, gleichviel welches Standes und Ranges er sonst ist. – Und sollte ich unter den verschiedenen Regierungsformen wählen, so würde ich keine Bedenken tragen, mich für eine Republik, als für die an sich beste, zu erklären; weil sie der persönlichen Entwicklung, zur Bildung tüchtiger Charaktere, am förderlichsten ist, indem ihre Handhabung, wenn solche wirklich ersprießlich sein soll für das Wohl des Landes, schon Charaktere verlangt, die aus dem Volke hervorgegangen und in ihm gebildet, dann auch auf‘s Volk
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volksthümlich zurückwirken und dasselbe zur eigenen Bildung soviel besser an17 spornen können.“
Obwohl Grafe auch schon vor der Revolution 1848/1849 die Freiheit des Gewissens beziehungsweise die „innere Freiheit“ als Maxime des Menschen erkannte, sieht er doch eine Gefahr darin, wenn sie ungebunden ihre Rechte einfordert, sozusagen sich selbst Freiheit anmaßt. Die persönliche Freiheit ist für ihn kein „gesellschaftliches Faustrecht“, das man in die eigene Hand nehmen dürfe. Der Individualismus muss als ein relativer gesehen werden. Dabei geht er davon aus, dass die Persönlichkeit aus dem „Volk“ gebildet sein müsse, um nun ihrerseits das Volk zu bilden bzw. zu inspirieren. Hierbei greift er das idealistische Prinzip Georg Friedrich Wilhelm Hegels (1770–1831) auf, der das Kollektiv des Volks- und Weltgeistes in Interdependenz mit dem Individuum 18 sieht . Für Grafes Spiritualität ergibt sich hierin die Dichotomie des Einzelnen mit der Gesamtheit. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Entitäten ist für ihn im doppelten Sinne des Wortes aufgehoben in der organischen Gliedschaft des kreativen Einzelnen in der Gemeinde. Hierfür braucht es, nach seiner Überzeugung, aber eine spirituelle Durchbruchserfahrung sowohl des Individuums als auch des Kollektivs. Hier sieht er gerade den reformatorischen Kairos seiner Zeit: „Jede Zeit hat zur Entwicklung des Reiches Gottes ihre besondere Aufgabe. Und es will mir scheinen, als wenn der Herr unsere Tage dazu bestimmt habe, der Kirche oder den Kirchengemeinschaften eine neue Reformation zu geben; aber keine Reformation wie die des 16. Jahrhunderts, die eigentlich in Dogmen stecken geblieben ist und so kirchlich traditionell geworden ist, sondern eine Reformation des Anziehens der Reformation selbst, zunächst eine Reformation, die weniger revolutionär, sich zu einer individuellen Lebensaufgabe gestaltet, welche ihre Lösung nur in einer fortwährenden Erneuerung des eigenen angeborenen natürlichen Lebens aus Gott findet. – Die Wiedergeburt der Kirche, die Gemeinschaft, kann nur durch die Wiedergeburt der einzelnen Glieder – bis zu ihrer Gesammtheit – möglich gemacht werden. Was die Gesammtheit werden soll, muß in dem Einzelnen anfangen. Zu diesem Zwecke aber muß auch jeder Einzelne seine besondere Aufgabe erkennen und zu 17
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Tagebuch 1, S. 158–161, Eintrag vom 21. Juni 1852. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Hervorhebungen entsprechen dem Original. Siehe zu diesen Ausführung auch Wolfgang E. Heinrichs, Freikirchen (wie Anm. 12), S. 395–414. Siehe Leonardo Alves Vieira, Freiheit als Kultus. Aporien und Grenzen der Auffassung der menschlichen Freiheit bei Hegel, Epistemata Philosophie, Bd. 176, Würzburg 1996, besonders S. 210–212.
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Spiritualität und theologische Ausbildung lösen trachten. Es muß nicht mehr heißen, wie man so oft hört: wenn die Zeit dieser oder jener Verbesserung auf kirchlichem oder religiösem Gebiete kommen soll, so wird der Herr auch schon dazu seine Werkzeuge finden und ausrüsten; und dabei lässet man, gegen besseres Erkennen, doch alles beim alten. Ich kann die Allgemeinheit nicht verantwortlich machen für das, was ich selbst mitverschulde. Die Gesellschaft, welche kein Gewissen hat, kann mein Gewissen nicht absolvieren. Ich selbst muß wissen, was ich zu thun habe; aber ich selbst muß auch dann thun, was ich weiß. – Die Reformation muß individuell werden, und als solche Sache eines jeden einzelnen Gewissens sein. Dazu muß aber vor allem eine vollkommene Gewissensfreiheit sich Bahn brechen; und das korporative Recht darf mein persönliches Recht nicht mehr paralysieren, sondern es muß dies vielmehr derart involvieren, daß beiderlei Recht als einerlei Recht, als gleiches dasteht. Das Individuum muß vorab individuell berechtigt sein, um der Gesellschaft ein gesellschaftliches Recht zu verleihen. Das Individuum ist das Erste, die Gesellschaft ist das Zweite. Ohne Individuum ist keine Gesellschaft denkbar. Das individuelle Recht beruht auf freier Selbstbestimmung, auf den Bedingungen der Individualität selbst; denn gerade das Selbstbestimmende macht ja das Individuelle aus. Daß hier unter Selbstbestimmung nur die menschlich relative zu verstehen ist, braucht eigentlich nicht erwähnt zu werden. Die Gesellschaft aber hat eine doppelte relative Selbstbestimmung, welche zunächst in die des Individuums aufzulösen und zurückzuführen ist, wie das Individuum sie auch gebildet hat. Je potenzierter das Individuum erscheint, desto mehr ist es auch qualifiziert, um sich eine Gesellschaft zu krystallisieren; da es eine bekannte Sache ist, daß die starken Persönlichkeiten die schwächeren anziehen, und weit entfernt, dadurch der letzteren Selbständigkeit zu alteriren, empfangen diese erst die Macht einer Gesellschaftichkeit, welche auf dem Individuum und seiner individuellen Attraktion nothwendig frei beruht. – Die Gesellschaft ist ein Gebundensein der individuellen Elemente zu einem organischen Körper. Soll daher eine Gesellschaft in ein Anderssein übergehen, so müssen ihre Elemente zuerst frei und als ungebunden verwandelt werden: alsdann können sie eine neue Verbindung zur Darstellung eines neuen Körpers eingehen, der sich dann elementar von 19 dem frühern Körper unterscheidet.“
Grafe löst den Zwiespalt zwischen notwendiger Liberalisierung und aufzuhaltendem Liberalismus auf, indem er zwei Arten von Freiheit unterscheidet. Die eine, entartete Form, entspringt für Grafe aus einem von Gott losgelösten Autonomiestreben des Menschen, die andere ist die von Gott und auf ihn hin bezogene Emanzipation. Bei Grafes Freiheitsidee finden sich wiederum Anleh-
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Tagebuch 1, S. 66–68, Eintrag vom 28. Januar 1852.
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nungen an Hegel, der über Kant und Fichte hinausgeht20. Von Hegel her kann Grafe den Freiheitsbegriff metaphysisch begründen. Die Freiheit, die die Individualität zu ihrem eigenen, von Gott gewollten Wesen erhebe, wird von Grafe bejaht. Das von allgemeinen, nichtgöttlichen Normen der Gesellschaft befreite Ich kann nun, so folgert er weiter, nach seiner individuellen „Reformation“, seinerseits ein System kraft seiner vom Evangelium her geprägten Vorstellungen positiv verändern. Wenn dann alle Einzelteile einheitlich auf ein bestimmtes Ziel hin strukturiert seien, könne die Gemeinschaft als Ganzes verändert werden. Das erneuerte, besser noch neu geschaffene bzw. wiedergeborene Individuum ist für Grafe Träger jeder Reform. Ein Gemeinwesen, die Kirche wie der Staat, muss sich demnach von der freien Entscheidung und Gestaltung des Einzelnen her aufbauen. Die individuelle Gewissensfreiheit ist für Grafe deshalb unbedingt zu achten. Zwang könne niemals Grundlage einer Gemeinschaft sein: „Das Unrecht fängt da an, wo man ein Recht für sich behauptet, ohne die Bedingungen dazu, ohne die eigene Pflicht zu erfüllen. Alle gewaltsamen Verfolgungen und Unterdrückungen in der Kirche und durch die Kirche haben sich auf das Recht formell zu stützen gesucht, aber dasselbe materiell stets mit Füßen getreten; sonst wären sie keine Verfolgungen gewesen. Jede Kirche, welche die Gewissensfreiheit nicht achtet, kann nur Fanatiker oder Gleichgültige oder Heuchler zu Anhängern haben. In dem Maße, als ich selbst eine wahre innere Überzeugung habe, kann und werde ich die Überzeugung eines Anderen achten, selbst wenn ich sie für irrig halte, aber davon überzeugt bin, daß 21 sie aufrichtig gemeint ist und ehrlich befolgt wird.“
Diese Vorstellung unterstützt freilich nicht eine unbedingte Demokratie. Auch sie kann nach Grafe die Gewissensfreiheit des Individuums verletzen: „Das Recht, welches man aus der Stimmenmehrheit macht, gereicht einer gewissenhaften Minderzahl stets zum Gewissenzwange, den diese niemals gut heißen kann, weil sie in ihrem Gewissen, und zwar ein Jeder einzeln für sich, Gott verantwortlich ist und nicht irgendeiner Mehrzahl, die nur deshalb Recht haben kann, weil sie kein höheres Recht kennt, als das der Zahlen, die doch auf dem Gebiete des Sittlichen von gar keiner Bedeutung sind. Aber dieses Aushülfsmittel hat man allgemein da angewandt, wo man eine Herrschaft der 20 21
Siehe Georg W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 4, hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler, Hamburg 1968, S. 433. Tagebuch 2, S. 12, Eintrag vom 10. Februar 1853.
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Spiritualität und theologische Ausbildung Menge (democratische) begründen wollte, anstatt der Macht der persönlichen Überzeugung; und wo man dem selbstständigen Einzelbewustsein (sic!) nur in einem mechanischen und tyrannischen Gemeinbewustsein Raum lassen konnte. Und das ist unsittlich; obgleich man‘s im Bereiche des Sittlichen nicht weniger befolgt sieht, als in den Angelegenheiten der Politik und des bürgerlichen Lebens, wo es am Platze sein kann und ist. Die Bildung eines solchen Majoritätswesens ist ein Mord an der sittlichen Freiheit, die mit dem wahren 22 christlichen Bewustsein und Leben steht und fällt.“
Demokratie kann für Grafe im politischen Bereich durchaus angebracht sein. Anders als der Baptist Julius Köbner (1806–1884) sah er jedoch schon in der Revolution 1848/1849 das demokratische Gleichheitsprinzip als Gefahr. Für Grafe bleibt die Individualität die wichtigste Größe für seine persönliche Geisteshaltung wie für die Gemeinschaft. Gerade wo es um die grundlegenden sittlichen Dispositionen als Folge einer individuellen religiösen Überzeugung geht, dürfe dem Einzelnen kein Gewissenszwang auferlegt werden. Das Subjekt ist nach Grafe Träger der sittlichen Wertordnung. Auf ihm gründet sich jede Gemeinschaft, die auf göttlichen Normen beruht. Umgekehrt findet gerade für Grafe das durch eine feste innere Überzeugung geleitete, selbst- und in eins gottbewusste Individuum Erfüllung in der Gemeinschaft: „Je höher die Individualität, desto stärker der Charakter. – Die wahren Charaktere gleichen den Essenzen, die soviel mächtiger wirken, je potenzirter sie sind. Aber die Oberflächlichen verdünnen sie, um sich damit zu übertünchen. Für die Individualität ist die Gesellschaft das Gefährlichste, und doch auch wieder das Nothwendigste. Für beide ist es nothwendig, sich zu haben und sich zu geben; aber statt sich dabei zu planiren und dadurch in Frage zu stellen, müssen sie sich gegenseitig haben und betonen. Wie die Wolken sich aus der allgemeinen Verdunstung der Erde bilden, und sich dann doch wieder auf diese entladen: so soll die Individualität aus der Gesellschaft hervorgehen und sich ihr wiedergeben; aber zu einer neuen Fortbildung des gleichen Verhältnisses, in immer höherem Grade und in immer mächtigerer Wechselwirkung. Die Verdunstung ohne Wolkenbildung bringt den Nebel, diesen Zustand des Unklaren und Charakterlosen, in welchem alles verschwimmt und verwischt wird. So gehts auch in der Gesellschaft ohne Charaktere oder Individualitäten. Was würde ein großer Mann nützen, wenn die Potenz seines Charakters sich so auf die Gesellschaft vertheilte, daß Jeder in einem, zum Ganzen verhältnißmäßigen, Bruchtheile besäße, was jener allein in sich hat? Würde Luther für die Kirche der Reformator geworden sein, wenn Jeder der Millionen 22
Tagebuch 1, S. 118, Eintrag vom 9. April 1852.
Spiritualität in frei-evangelischer Tradition
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Protestanten einen millionsten Theil seiner reformatorischen Potenz empfangen hätte; statt solche in ihm zu konzentriren und dadurch als eine Individualität auf die Gesellschaft reformatorisch zu wirken? – Der Charakter muß zu einem Kapital werden, von dem die Individualität nur die Zinsen der Gesellschaft zu gute kommen lässet; und je größer das Kapital, desto mehr Zinsen, zum Besten der Gesellschaft. Charaktere bilden heißt die Gesellschaft bilden, So soll das Christenthum ein Sauerteig für die menschliche Weltgesellschaft 23 sein.“
Grafe benutzt zur Veranschaulichung seiner Gedankengänge des Öfteren Beispiele aus der Natur und aus der Ökonomie. Vielfach überträgt er Natur- oder ökonomische Gesetzlichkeiten auf den religiösen Bereich. Auch in letzterem war er auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen, an denen er sich orientieren konnte. Dies zeigt, dass die Rationalität, der begründete Glaube, bei ihm kein Gegensatz zu dem emotionalen Bezug der Gottesgemeinschaft ist. Der Individualität misst Grafe, wie aus dem bisherigen Zitaten hervorgeht, eine zentrale Rolle zu, ja man kann sagen, dass sie der entscheidende Faktor ist, auf dem Grafe sowohl sein ekklesiologisches Programm aufbaut, als auch die Stellung der Gemeinde in der Gesellschaft bestimmt. Die Potenz des inspirierten Charakters dürfe nicht einfach in die Gesellschaft aufgehen, sondern der Mensch und besonders der Christ solle ihr gegenüber seine Gewissensautonomie bewahren. Nur ein freier Charakter könne die Gesellschaft befruchten, aus der er selbst hervorgegangen ist. Ziel ist der Konsens zwischen dem Einzelnem und der Vielfalt, die Einheit. Sie kann jedoch nicht seiner Einsicht nach formal, auf politischem, äußeren Wege instituiert werden. Sie ist vielmehr als freiwillige vom veränderten Individuum her zu schließende Zusammengehörigkeit gemeint. Als solche konstituiert sie sich nicht in Anpassung, sondern bedarf der freien individuellen Gewissensentscheidung, der Überzeugung. Die Einheit, auf die Grafe zielt, ist in erster Linie auf dem religiösen Sektor zu verwirklichen. Hier hat sie ihren Ort. Die allgemein gesellschaftliche oder gar speziell politische Einheit wird, falls überhaupt, von Grafe erst in zweiter Linie angedacht. Es ist eher davon auszugehen, dass er letztere mit zunehmendem Alter als Utopie betrachtete. Zunehmend sieht er die Gesellschaft als Ganzes in einem Verfallsprozess begriffen.
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Tagebuch 1, S. 70f., Eintrag vom 1. Februar 1852.
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So äußert er sich bereits 1852: „Ich enthalte mich übrigens gerne jedes Urtheils über Politik, weil ich soviel von Politik weiß und bereits selbst erlebt habe, daß das eigentliche, positive Recht dabei allenthalben und doch nirgends ist, daß die Gewalt das Recht macht, und man nach dem Erfolg der Waffen über Recht und Unrecht entscheidet. Der Gläubige, welcher als Pilger und Gast in diesem Leben, seiner wahren Heimath im Himmel entgegeneilen soll, kann an der Politik und dem eitlen und vergänglichen Treiben der Welt unmöglich einen so regen Anteil nehmen, als wenn er dadurch eine dauernde Besserung der menschlichen Verhältniße zu erreichen hofft. Er muß vielmehr nach der Schrift erwarten, daß die Welt in ihrer Gesammtheit, unter dem Einfluß und der Herrschaft des Satans, dem Reiche Christi feindlich gegenüberstehen wird, solange Christus selbst den Teufel noch nicht gebunden und dadurch die Welt und ihre Herrschaften noch nicht tatsächlich erlöst hat. Der Christ ist in dieser Zeit der Weltherrschaft nur darauf angewiesen, mit Christo, seinem Haupte, zu dulden, zu leiden, und zu warten, bis der Herr, als solcher, sich herrlich erweise und seine Macht offenbare in seiner Wiederkunft, durch welche er den Bösen 24 richten und mit dem Hauche seines Mundes umbringen wird.“
Für Grafe galt es spätestens nach der Revolution von 1848/1849 als erwiesen, dass eine Gesellschaftsreform im Sinne einer vollständigen Christianisierung unmöglich sei. Die Gesellschaft sei zu einem heterogenen Forum widerstreitender Interessen geworden, wo sich der Stärkere, nicht das Recht durchsetze. Seine Aufgabe sah er nunmehr darin, einzelne von dem aus seiner Sicht verderbten System zu lösen. In diesem Sinne setzt er sich auch evangelistisch ein und gründet den „Evangelischen Brüderverein“ als Evangelisationsverein, der, von Elberfeld ausgehend, Inlandmissionare aussandte25. Die pluralistische Gesellschaft sieht Grafe als irreversibles Faktum. Insofern ist für ihn eine Betätigung als Politiker undenkbar, womit er für die Freien evangelischen Gemeinden spirituell einen Weg vorzeichnet, der sich aus der aktiven Gestaltung der Gesellschaft mittels Parteipolitik heraushält. Die Gesellschaft als Ganzes ist für ihn eine unerlöste, verfallene Größe. Gerade aus ihr muss sich der Einzelne emanzipieren und eine Gemeinschaft der Befreiten bzw. Erlösten und Heiligen eingehen. Grafe will die Vereinigung aller Erwählten und deren Rettung aus einer ins Chaos stürzenden Welt, die ihren göttlichen, unwandelbaren Bezugspunkt verloren habe. In der „Welt“ lebt für Grafe eben jener destruktive, falsche Individualismus, der, als Atomismus isoliert, ei24 25
Tagebuch 1, S. 161, Eintrag vom 22. Juni 1852. Hierzu Wolfgang E. Heinrichs, Freikirchen (wie Anm. 12), S. 278–291.
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nem egozentrischen Materialismus huldige. Der Zeitgeist sei hedonistisch auf das Vergängliche gerichtet: „Das Verderben wächst; die Gottlosigkeit nimmt zu; der Leichtsinn der Welt hat längst den Ernst der göttlichen Wahrheit verscherzt; das Interesse fürs Überirdische ist mehr als begraben in dem Acker der Erde des niederen Hanthierens, der täglichen Wirtschaft fürs Vergängliche, für den Sinnen ‚und Wollust‘ dienst, wo der Bauch zum Gott, der Mammon zum Heiland und ein Leben des niedrigsten Genusses zum Himmelreich geworden ist. In dem allen, durch das alles hindurch sollen wir uns unsere Arche bauen, mit der wir hinüber fahren über den Strudel des Abgrundes, der alle verschlingen wird, die nicht in dem einen Fahrzeuge, das nur der Glaube hat, in das Jenseits des 26 Schauens zu steuern versuchen.“
Indes bringt eine solche Sicht für den im Sinne Grafes aus dem Strudel der Zeit herausgerissenen Menschen einen auszustehenden Dualismus mit sich, da er ja faktisch in zwei antinomistisch sich gegenüberstehenden Welten leben soll. Auf dieses Problem soll noch im folgenden Kapitel eingegangen werden. Mit seiner Ekklesiologie stand Grafe nun vor dem Problem, wie denn angesichts der Vielzahl von Denominationen die „ecclesia una sancta apostolica“ dargestellt werden könne. Mit der „Welt“ gibt es nach Grafe für den Gläubigen „keine Solidarität der Interessen“27. Diese sei ausschließlich für alle Glaubenden gegeben, gleich welcher Konfession sie angehörten. Kirche sei nämlich in ihrem wahren Sinn „Gemeinschaft aller Gläubigen“: „Ist nicht jede kirchliche Verbindung eine menschliche des gesellschaftlichen Lebens, wobei die eine von der anderen nur durch die Zeit ihres Bestehens oder durch die Art und Weise ihrer Einrichtung sich unterscheidet? – Es gibt 28 nur eine wahre Kirche: die Gemeinschaft der Gläubigen.“
Damit ist für Grafe die Frage verknüpft, wie denn die Vielzahl kirchlicher Institutionen sich erklären und wie sie sich zueinander verhalten. Wie kann es eine vollkommene Gemeinde geben, wo doch alle menschlichen Vereinigungen unvollkommen sind? Bei dieser Frage greift er auf die von der Reformation aufgenommene Unterscheidung von „ecclesia visibilis“ und „ecclesia invisibilis“ zurück. Als 26 27 28
Tagebuch 1, S. 59, Eintrag vom 21. Januar 1852. Tagebuch 2, S. 30, Eintrag vom 23. Januar 1853. Tagebuch 1, S. 35, Eintrag vom 26. Dezember 1851.
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„ecclesia visibilis“ begreift er die konkrete Ortsgemeinde, als „ecclesia invisibilis“ „den unsichtbaren wahren Leib Christi, als die göttlich vollkommene Gemeinschaft aller Auserwählten und Wiedergeborenen, aus allen Zeiten und an allen Orten“29. Das Verhältnis zwischen beiden Seinsweisen der Kirche bestimmt Grafe, indem er nur der „unsichtbaren Kirche“ absolute Qualität zuspricht. Den verschiedenen christlichen Gemeinschaften komme dagegen nur vorläufige, relative Bedeutung zu. Diese Ansicht lässt sich auch auf die von ihm später gegründete Freie evangelische Gemeinde als independente Gemeinde beziehen, denn er schreibt: „Im Christenthum soll mein Sinn himmlisch werden; und ich soll je länger desto mehr von dem Irdischen absehen lernen, so daß ich besitze, als besäße ich nicht, und dieser Welt gebrauche, so daß ich denselben nicht mißbrauche; denn das Wesen dieser Welt vergeht (I. Korth. 7,31). Der fleischlichen Gesinnung entspringen nach I. Korth. 3,1–4 und Juda V. 19 die Spaltungen und Rotten, wo der Eine sagt, ich bin lutherisch, der Andere, ich bin reformirt, der Dritte, ich bin Baptist, der Vierte, ich bin Independent u.s.w. – Es ist aber zu natürlich, als daß ich nicht Sektirer werde und bin, wenn ich das Leben des heil. Geistes nur in gewissen Formen und selbstgewählten Einrichtungen finden und anerkennen will, während es doch über allen Formen erhaben sich frei offenbart, frei wirkt und frei gestaltet, mich immer von der Erde und dem Irdischen abziehend und mit dem Herrn und dem Himmlischen verbin30 dend.“
Die vollkommene Vereinigung aller „Auserwählten“ geschieht nach Grafes Überzeugung erst bei der Wiederkunft Christi, in deren Naherwartung er lebt: „Bis dahin werden verschiedene kirchliche Gemeinschaften von verschiedener Güte und in verschiedenen Verfassungen fortbestehen. Es ist dies eine Eigenthümlichkeit jeder zeitlichen und irdischen Entwicklung – auch eines ewigen und himmlischen Inhalts. Die Verfassung ist in dieser Hinsicht von der Gesinnung, die äußere von der inneren Kirche wohl zu unterscheiden. Wie der wahre Philanthrop ein Cosmopolit sein muß, so ist der wahre Christ ein Himmelsbürger, erhaben über die Kleinstaaterei im Reiche Gottes, die nur Folge
29 30
Tagebuch 2, S. 62, Eintrag vom 3. April 1853. Tagebuch 1, S. 111f., Eintrag vom 1. April 1852.
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der Sünde und der menschlichen Anmaßung ist, und die leider nur den Beweis 31 für die fleischliche Gesinnung auch der Wiedergeborenen noch liefert.“
Hier wird markant, wie Grafe sich wünscht, dass der Mensch über seine materiellen Grenzen hinauswächst. Bei allem ist Grafe geprägt von dem spirituellen Milieu des Wuppertals, in dem sich, wie in anderen Zentren der Erweckungsbewegung, über die konfessionelle Vielgestaltigkeit und Grenzen hinweg ein übergeordnetes evangelikales Zusammengehörigkeitsbewusstsein herausbildete und sich gegenüber einer als immer stärker empfundenen, diesseitsorientierten, materialistisch modernen Gesellschaft abgrenzte. Gesucht wurde nach einem alle sozialen Schichten umfassenden Konsens im Kontrast zur Konkurrenzgesellschaft. Allerdings war es die Einsicht Grafes, dass man sozusagen als „Bürger zweier Welten“ in seiner Zeit lebt. Doch handelt es sich bei Grafe bei dieser doppelten Bürgerschaft nicht, wie bei Kant, um die Dualität des der Sinnenwelt als empirisches Wesen (homo phaenomenon) und des als intelligibles Wesen (homo noumenon) der Vernunftwelt angehörenden Menschen, sondern um die Bestimmung des Menschen, der sowohl in der sichtbaren, materiellen als auch der unsichtbaren, übersinnlichen Welt lebt. Gleichwohl lässt sich Grafes Einstellung einem transzendentalen Idealismus zuordnen. Die Pluralität der „ecclesia visibilis“ entspricht der vielfältigen und zugleich unvollkommenen menschlichen Einsicht. Der pluralen Beschaffenheit der äußeren Kirche setzt Grafe die Einheit der inneren gegenüber und relativiert sie dadurch. Jede religiöse Gemeinschaft müsse sich, gewollt oder nicht, den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen assimilieren. Diese Anpassung soll jedoch nur nach außen geschehen. Sie ist nach Grafe eine Angleichung der Form, nicht des Inhalts. Damit verbindet er zwei an sich recht widersprüchliche Elemente. Dem von ihm vorgefundenen Pluralismus begegnet er gleichsam ambivalent. Auf der einen Seite passt sich Grafe der pluralistischen Gesellschaft an, indem er die konkrete Ortsgemeinde als eine gesellschaftliche Korporation, eben als Verein, definiert, auf der anderen Seite befindet er sich ihr gegenüber jedoch in krasser Ablehnung. Dies scheint auf eine Einsicht in die Zwiespältigkeit moderner Existenz hinzudeuten, der noch weiter im folgenden Abschnitt nachgegangen werden soll.
31
Tagebuch 1, S. 133, Eintrag vom 2. Mai 1852.
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2.2.2
Der Dissens zwischen spiritueller und materieller Wirklichkeit
Bislang wurde deutlich, dass Grafes erstes programmatisches Ziel die Einheit der Kirche bzw. der Gemeinde ist. Diese baut sich für ihn auf dem erneuerten Menschen auf. Die Einheit der Gemeinde steht damit allerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem sie konstituierenden Element, insofern die Individualität zur Bedingung ihrer eigenen Aufhebung bestimmt wird. Nun existiert allerdings nach Grafe auch die Individualität in einem besonderen Spannungsfeld, dem Dualismus von „geistlicher“ und „fleischlicher“ Natur: „Obgleich das Individuum untheilbar ist, so ist sein Charakter doch eines Dualismus fähig (nach seiner Anlage) und auch würdig (nach seiner Bestimmung); so daß, wenn man so will, ein und derselbe Mensch – dem Wesen nach, – aus zwei ganz verschiedenen Menschen – der Eigenschaften nach, – bestehen kann. Findet man doch nicht selten in einem nur rein natürlichen Menschen zwei stark ausgeprägte Eigenschaften, die, jede für sich betrachtet, sich vollkommen widersprechen und aufheben: wievielmehr müssen nicht zwei durchaus verschiedene Naturarten in ihrer Gesammtheit von einander abstehen und zugleich dem Individuuum, das beide in sich hat, einen Kampf bereiten, wie ihn uns Paulus Röm. 7 beschreibt, wie ihn aber auch nur der kennen lernt, der erfährt, was es um einen neuen Menschen im alten Menschen zu sagen hat. Wie wichtig ist da die Bezeichnung zweier verschiedener Menschen; und wie psychologisch wahr wird in dieser Erfahrung des Kampfes zwischen Fleisch und Geist die ethische Bedeutung der Erscheinung und Geschichte Adams und Christi. Der Fluch über die erste Sünde bewahrheitet sich in jedem Sünder, der sterben muß, weil er gesündigt hat, und der sündigt, weil er aus Adam stammt. Und der Segen Christi eines neuen Lebens seiner Auferstehung beweist sich in jedem Wiedergeborenen, der mit Christo leben und auferstehen wird, wie er mit ihm gekreuzigt und begraben ist. Der natürliche Tod Adams, als Sold der Sünde, wird dann von dem übernatürlichen Leben Christi, als Frucht der Rechtfertigung, verschlungen 32 (Anlehnung an Röm 5,7, W.H.).“
Während andere Richtungen der Erweckungsbewegung das natürlich-sündhafte (so Hermann Friedrich Kohlbrügge) oder, dem entgegengesetzt, das gottgeprägte-heilige Sein des Christen (so John Nelson Darby und Carl Brockhaus) akzentuieren, ist für Grafe der Gläubige im Zustand des auszuhaltenden Seinszwiespalts. Mit dieser Ansicht kommt Grafes Spiritualität der unter anderem von Julius Köbner im Baptismus gelehrten Heiligungstheorie recht nahe, wenn er auch stärker die Seinsdichotomie betont und sie nicht sogleich als in ihrem 32
Tagebuch 2, S. 27f., Eintrag vom 20. Februar 1853.
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Prozess der Heiligung begriffen auflöst. Die Erkenntnis des Dualismus und der Wille zur Heiligung bedingen sich für Grafe wechselseitig. Der Glaube ist nach Grafes Charakterisierung ein Kampf, den der Christ im Diesseits auszuhalten habe. Insofern der Gläubige noch den Anfechtungen der Welt ausgesetzt ist, haftet er der „Welt“ als Raum der Sünde an. Der Kampf, den der Christ nach Grafe zu führen hat, ist ein Kampf gegen sich selbst beziehungsweise seine alte Natur. Der Weg zu Christus führt über deren „Verläugnung“, wobei Grafe freilich diese Vokabel im Sinne einer Absage an den alten Menschen versteht, als ein Leugnen von dessen Passivität: „Das aber haben alle Anfechtungen mit einander gemein, daß sie dem Glauben die falschen Stützen rauben, die derselbe in der Natur und in dem Sichtbaren dieser Welt finden könnte. Wenn nun die Anfechtungen diesen Charakter und diesen Zweck haben, so können wir im Leben leicht missen, was für uns eine Anfechtung ist. Sobald meine natürlichen Wünsche nicht geopfert werden brauchen, habe ich auch keine Anfechtung. Erst in der Nothwendigkeit der Verläugnung meiner natürlichen Wünsche und ihres Gegenstandes gibt sich mir die Anfechtung zu erkennen. Deshalb kann in strengem Sinne auch nur der wahre Christ wirkliche Anfechtungen haben. Wo nichts anzufechten ist, kann auch keine Anfechtung stattfinden. Jede Erfahrung im Leben hat für den Gläubigen einen Theil Anfechtung, weil das Leben noch nicht frei geworden ist von aller Sünde und besonders von allem Unglauben. Der Glaube aber soll immer siegreicher aus unseren natürlichen Niederlagen hervorgehen, wie der Phönix aus seiner eigenen Asche. Hier entsteht erst der eigenthliche Kampf des Glaubens, wenn es sich nicht mehr bloß um die Verläugnung der Welt, des Sichtbaren, sondern vielmehr um die Verläugnung der weltlichen Lüste, des Unsittlichen, wo es auch nicht in die Erscheinung tritt, 33 handelt.“
Der Christ lebt somit nach Grafe in zwei Welten, denen er beide in einer Art angehört. Sein Ziel sei es allerdings, sich mehr und mehr von der natürlichen Welt zu lösen. Dies geschieht für Grafe in der Weise, dass der Mensch sich von der äußeren Umwelt innerlich distanziert beziehungsweise immer weniger im „Innern“ beeindrucken lässt: „Die äußere Lage des Lebens, in der ich mich gerade befinde, hat auch ihre innere Falte des Herzens, die ihr entspricht; und dieses Doppelleben, das ich führe, verweist mich auf eine Einheit der Welt, die mich umgibt, und der Welt, die in mir wohnt. So erst treten meine Beziehungen zu der Welt, die mir ge33
Tagebuch 4, S. 47, Eintrag vom 20. September 1856.
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Spiritualität und theologische Ausbildung kreuzigt ist, wie ich ihr gekreuzigt bin, in das rechte Licht des heil. Geistes, der die Welt straft um die Sünde, um die Gerechtigkeit und um das Gericht (Joh 16,8 uf.), und der mich züchtigt, auf daß ich nicht mit der Welt verdammt werde (1Kor 11,32). Deshalb muß einer neuen Welt auch ein neues 34 Herz vorhergehen, um in derselben leben zu können.“
Am Ende dieses Prozesses steht für Grafe die völlige Loslösung des Individuums von seinem „alten“ Ich, das heißt von seiner „weltlichen“ Dimension, sowie die Hinwendung zu Jesus Christus bis zur völligen mystischen Einswerdung mit ihm: „,Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen‘ (Joh 3,30) 1, Ich! 2., Ich und der Herr Jesus! 3., der Herr Jesus und ich! 35 4, der Herr Jesus!“
Grafes Mystizismus ist sicherlich in Anlehnung und Fortführung der Theologie Gerhard Tersteegens nicht mit einem mittelalterlichen monastischen zu identifizieren, da bei ihm das Individuum letztlich nicht einfach in der „unio mystica“ aufgehoben wird, sondern sich nach wie vor im ständigen Kampf mit der von ihm zu bewältigenden sozialen Umwelt befindet. Es benötigt diese Auseinandersetzung sogar, um sich von ihr immer stärker abzugrenzen. So ist Grafes Einstellung alles andere als Eskapismus. Er muss sich der Wirklichkeit stellen, um sich von ihr zu lösen. Das Individuum findet nach Grafe seine Erfüllung und wahre Ausprägung in dem Maße, wie es in Christus Gestalt gewinnt. Sein „geistliches Wachstum“ besteht darin, dass es sich zunehmend von den Ansprüchen dieser sozialen Umwelt, die zugleich die seines natürlichen Daseins ist, entfesselt beziehungsweise erlöst wird und seine Persönlichkeit aus Gottes Geist bezieht. Faktor dieses Prozesses ist für Grafe der Glaube, in dem der Mensch die Potenz besitzt, sich das Heil anzueignen, das heißt nach dem oben gesagten, immer weniger durch seine Kraft und eigene Vorstellungen und immer mehr von Gottes Geist geleitet zu sein. Erst in der „Ewigkeit“ ist der Mensch nach Grafe diesem Zustand des Dualismus enthoben. Anstelle des aktiven, kämpfenden Glaubens steht dann das „selige Schauen“. So schreibt er:
34 35
Tagebuch 4, S. 39f., Eintrag vom 17. Mai 1856. Tagebuch 4, S. 40, Eintrag vom 20. Mai 1856.
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„Meine ganze Lebensaufgabe erkenne ich immer mehr in der persönlichen Aneignung des Heils in Christo Jesu. Ich weiß durch den Glauben, daß mein Heil allein in ihm beruht, in ihm ist es für mich vorhanden; aber mein Leben will durchdrungen sein von ihm, der das Leben der Wiedergeborenen ist. Hier hinkt mein Leben; weil ich noch zu viel auf meinen eigenen Beinen stehe und gehe, weil ich, anstatt in der Lebenskraft Christi allein zu wandeln, noch viel zu viel in meiner eigenen Kraft mich bewege. Ich weiß dies auch recht gut; dennoch bleibe ich mit der That zurück, weil ich zu wenig glaube, was ich weiß. Ich weiß durch den Glauben, daß der Glaube kein Wissen ist; aber ich setze mein Wissen zuviel an die Stelle des Glaubens, um recht zu erfahren, wie der Glaube eine Kraft Gottes ist und nicht eine menschliche Vorstellung. Bei alle dem ist der Glaube kein Schauen; es ist vielmehr des Glaubens Art, die Aufgabe zum Glauben in dem Maße zu steigern, als der Glaube persönlich wird und wirkt. Der Ausgang des Glaubens führt zu einem Ende der Glaubens, das zum Schauen wird, wenn das Leben aus Gott, das als mein Leben jetzt noch verborgen ist mit Christo in Gott, mein natürliches Leben, das jetzt noch offenbar ist, ganz verschlungen hat, und ich mit Christo offenbar werde in der Herrlichkeit und Seligkeit seines Lebens. Bis dahin bin ich auf den Glauben angewiesen, um das Leben Christi an mir zu erfahren. Je mehr ich glauben 36 kann, desto mehr bin ich ein Christ, der Gott in Christo Jesu wohlgefällt.“
Grafe trennt die menschliche Existenz stringent in ein „Erscheinungsleben“ und ein „Gesinnungsleben“. Auch hier lehnt er sich an Hegel an37. Eine weitere augenfällige Parallelität ergibt sich in Grafes Äußerungen mit der Poesie des Idealismus, wie sie etwa bei Henrich Steffens (1773–1845) zum Ausdruck gebracht wird38. Von der Mystik des Spätpietismus beziehungsweise des Quietismus Gerhard Tersteegens kommend, geht Grafe nun einen bedeutenden, der Erfahrungswirklichkeit seiner Epoche angepassten Schritt weiter, indem er die Innerlichkeit und Abgeschiedenheit der Seele vor Gott mit dem Fortschrittsgedanken verknüpft. Das „Erscheinungsleben“, so wie der Mensch nach außen wirkt, ist für Grafe abhängig von seiner Gesinnung. In ihr liegt nach seiner Auffassung jedoch das eigentliche, spirituelle menschliche Sein verborgen:
36 37 38
Tagebuch 4, S. 3, Eintrag vom 20. April 1855. Siehe Hegels Ausführungen über die moralische Weltanschauung in der „Phänomenologie des Geistes“ oder in dessen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“. Heinrich Steffens, Christliche Religionsphilosophie, Erster Teil: Teleologie, Breslau 1839, S. 429–433.
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Spiritualität und theologische Ausbildung „,Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber nun lebe im Fleische, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebet und sich selbst für mich hingegeben hat.‘ (Gal 2,20) In diesem Ausspruche des Apostels suche und finde auch ich die Lösung meines Lebens. – Es kommt eben Alles darauf an, was man unter dem Leben versteht. – Um das Leben zu verstehen, wie es verstanden werden soll, muß ich selbst zu leben verstehen und leben, wie ich leben soll. – Das wahre Leben führt mich in sich selbst und durch sich selbst zum Verständniße des Lebens der Wahrheit. Ich gehe vom Leben aus, um zu einem wahren Begriffe des Lebens zu gelangen. – Das Leben der bloßen Erscheinung ist noch nicht das Leben der Gesinnung; wenn das Gesinnungsleben auch mit dem Erscheinungsleben zusammenhängt, wie die Potenz mit dem Produkte der Potenz; und wenn es auch keine eigene Erfahrung ohne eigene Bethätigung am Erscheinungsleben giebt. … So bildet die göttliche Offenbarung für mich gleichsam eine Brücke über dem Abgrunde meines Lebens, dessen eine Seite rein natürlich und dessen andere Seite rein übernatürlich ist. Ja; ich lebe! und doch nicht ich! Dieses Ich und dieses Nichtich, dieses Sein und dieses Nichtsein meiner Selbst, diese ethi39 sche Position der Bejahung und der Verneinung …“
Die Gesinnung ist für Grafe der Zielort des Glaubens. Sie soll durch ihn verändert bzw. neu gestaltet werden. Letztlich befindet sich nach Grafe der Christ im Prozess der Auflösung des existentialen Dualismus. Er ist auf dem Weg zur Einheit, die die „natürliche Entzweiung des Menschen mit sich selbst“ aufhebt. Hier widerspricht er Feuerbachs These, der gerade in der Religion diese Entzweiung sah40 und folgt dem Hegelschüler Karl Rosenkranz (1805–1879)41. Dabei ist die Anerkenntnis des Dualismus Bedingung für seine Auflösung. Erlösung ist danach nur für den möglich, der um seine Sünden weiß. Der Weg zur Einheit in Christo sei nur über die Erkenntnis der eigenen Zerrissenheit gehbar. Das, was Grafe, wie oben gezeigt, auf der Ebene der Kirche konstatiert, liegt für ihn auch dem Prinzip nach beim Individuum vor, ja bezieht sich auf das ganze Dasein als solches. Sehr augenfällig kann Grafe die Lösbarkeit der Dichotomie an seiner unternehmerischen Existenz aufzeigen. Er will sich nämlich von einem bloß materialistisch, auf das Diesseits bezogenen Unternehmer absetzen. Sein eigentliches Sein sieht er in der spirituellen Existenz. Sein sozial äußeres Dasein führt er nach dieser Auffassung in Abhängigkeit von seiner inneren Überzeugung. Da jedoch seine Überzeugung in einer permanenten Spannung zu dem 39 40 41
Tagebuch 2, S. 22, Eintrag 18. Februar 1853. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, hrsg. v. Karl Löwith, Stuttgart 1971. Karl Rosenkranz, Die Naturreligion. Ein philosophisch-historischer Versuch, Iserlohn 1831.
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ihm auferlegten Leben steht, könnte man sein von ihm gedachtes Verhältnis zu seiner gesellschaftlichen Position als „Existenz im Zwiespalt“ bezeichnen. Er ist gezwungen, sich in einem bestimmten sozialen Feld zu bewegen, beispielsweise dem Aufbau von Kapital und Gewinn, dem Lebensstandard, der politischen Verantwortung und weiterem, das ihn innerlich jedoch nicht prägen soll. Er will in seiner Umwelt leben, auch an ihr partizipieren, jedoch stets zugleich von ihr ontisch unterschieden sein. Da Grafe nun seiner Überzeugung gemäß keine monastische Lösung offensteht, die von ihm angestrebte Distanznahme zur Welt auszuleben, muss er diesen Dualismus durchstehen. Einen praktischen Ausweg aus diesem Dilemma sieht er darin, seinen geschäftlichen Erfolg für das „Reich Gottes“ nutzbar zu machen. In einem Brief an einen ihm befreundeten Kaufmann schreibt er: „Der Christ soll arbeiten, weil es Gott geboten hat, aber er soll dabei nicht heidnisch sorgen, weil eben derselbe es verboten hat; An Gottes Segen ist Alles gelegen; ich kann mich reicher glauben, als arbeiten, wenn die Lust, reich 42 zu werden, dem Glauben entspricht …“
Im Gegensatz zu den von ihm so bezeichneten „heidnischen“ Unternehmern, die aus ihrer puren materialistischen Einstellung Reichtum um ihres eigenen Vorteils willen erwerben, erhebt Grafe den Anspruch, Geld aus Glauben für den Glauben zu gewinnen. Hierdurch rechtfertigt er seine unternehmerische Existenz. Gewinn, der ihm aufgrund göttlichen Segens zufiele und den er wieder zum Segen einsetze, sei dann nicht mehr identisch mit dem menschlichen Streben nach vergänglichen Gütern. Somit erfährt für Grafe sein Unternehmersein eine höhere Bestimmung. Als er im Jahre 1849 über die Möglichkeiten seines missionarischen Engagements nachdenkt, kommt er zu folgendem Resultat: „Wenn ich in oder außer meiner täglichen Berufsbeschäftigung das eine Mal durch das wechselnde Bild des Lebens, das andere Mal durch die stille, sammelnde Selbstbetrachtung den Zweck und eigentlichen Werth des Lebens so recht klar erkannte und ihn mir selbst stets auf‘s Neue vorhalten mußte, dann schlich sich unwillkürlich bei der innigen, seligen, friedenvollen Freude über das eigene, beneidenswerthe Loos in der Gemeinschaft mit Christo, dem Herrn meiner selbst, – das mahnende Gefühl mit ein: Was thust du denn, o 42
Brief Hermann Heinrich Grafes an einem ihm befreundeten, ungenannten Elberfelder Kaufmann vom 22. März 1842, zitiert nach: Heinrich Neviandt, Erinnerungen an H. H. Grafe, gebundene Handschrift, gewidmet „Seinem lieben Neffen Eduard Grafe als Erinnerungsgabe an den 12. Mai 1882 vom Verfasser“ (Archiv der Freien evangelischen Gemeinde Wuppertal-Barmen), S. 25.
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Spiritualität und theologische Ausbildung Egoist, Andern desselben Glückes theilhaftig zu machen, das dich jetzt frohlocken läßt? … Was ich denn nun thun will? – wirst Du fragen. Höre! so Gott will und ich lebe. – Meine Stellung im Geschäft zu eigener Arbeit etc. erlaubt mir nicht, wenigstens noch nicht in der nächsten Zeit, meiner persönlichen Thätigkeit Kräfte und Zeit entziehen, um solche auf jenen Evangelisten Beruf zu verwenden. Auch würde eine persönliche Kolportage von mir durch die damit verbundene Abwesenheit meiner Person in unserem Geschäft für dieses von so großem Nachtheil sein, daß der dadurch entstehende Verlust in gar keinem Verhältniß zu dem Vortheil meiner evangelisirenden Wirksamkeit stände. Dagegen halte ich mir vor, daß freier gestellte Personen mit entschiedener Gabe und anerkannt ernstem Berufe zur Sache durch eine Geldunterstützung von mir in den Stand gesetzt werden können, meine möglichste Wirksamkeit durch ihre Thätigkeit vielleicht um das Zehnfache zu übertreffen. Ich will sagen: Wenn ich von meiner Zeit und den Kräften, die dem Geschäft gewidmet sind, trotz der eben genannten Bedenken, auch wirklich einen Theil der Verbreitung des Evangeliums widmen wollte, so könnte der dadurch entstehende Nachtheil im Geschäft sich für meine Person gar leicht auf 1000 Thaler belaufen. Für diese Summe aber könnte ich fünf Boten unterhalten, die zusammen zehn mal mehr ausrichteten, als ich dagegen zu leisten im Stande wäre, abgesehen, wie gesagt, von der Unzulässigkeit jener eigenen Thätigkeit, meinen Verpflichtungen dem Geschäft gegenüber. Ich werde also zunächst darnach trachten, recht viel Geld ehrlich zu verdienen, um damit je nach der Möglichkeit solche Personen zu unterstüt43 zen, die sich mit Erfolg der allgemeinen Evangelisirung widmen.“
Eine solche Äußerung wirkt freilich wie die vorhergehende ein wenig billig exkulpativ, so tuend, als ob das Geschäft nur der Verbreitung des Segens dienen könne, nicht für ihn jedoch auch zugleich stets eine Versuchung darstelle, gleichsam der Stimulus des permanent zu erringenden neuen Menschen ist, der nur aus der Einsicht in den Dualismus und in ihm erwachsen soll. Grafe will jedoch mit der obigen Bestimmung des Unternehmerseins dessen Dualismus nicht einfach auflösen, sondern ihm, gewisse lutherische Traditionen spielen hier ebenfalls eine Rolle – eine Richtung geben. Das irdische Leben soll nach Grafes Ideal abhängig sein vom himmlischen. Zeit seines Lebens befinde sich der Christ jedoch in einem Zwiespalt von beiden, der zwar im Prozess zunehmender Heiligung abnehme, sich letztlich jedoch erst im Jenseits bzw. in der Parusie Christi auflöse. Bis dahin habe der Christ aus dem Dualismus heraus die Aufgabe sein äußeres Leben, d.h. sein soziales, von dem inneren, 43
Brief Hermann Heinrich Grafes an seinen Schwager Heinrich Neviandt vom 4. November 1849, zitiert nach: Heinrich Neviandt, Erinnerungen (wie Anm. 42), S. 58.
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von seiner geistgeprägten Überzeugung, her leiten zu lassen. So „gewinnt alles“ nach Grafe, „was … im Leben begegnet, was … an sich erfreuen oder betrüben kann, einen ganz anderen Charakter und Werth, als man es gewöhnlich zu beurtheilen pflegt. Der Werth des Irdischen und Vergänglichen besteht dann … in seiner 44 Zweckbeziehung zum Himmlischen und Ewigen“ .
Grafes Spiritualität steht offenkundig im Kontext der Mentalität seiner Zeit. Sie verarbeitet die Erfahrung der Akzeleration des sozialen Wandel, die Forderung nach Emanzipation, die Hoffnung auf Freiheit, auf Erfüllung des Individuums, das Bedürfnis nach Einheit bzw. Integration, die Erwartung von Wachstum. Speziell spiegelt sie die Krise der Moderne wider. Grafe kommt zu der spirituell gewordenen Erkenntnis bzw. Erfahrung, dass die umfassende Krise seiner Zeit sich in der Existenz des Einzelnen ereignet und eine besondere Disposition verlangt. Individuum wie Kollektiv können in einer innigen, allerdings nur geistlichen Bezogenheit aufeinander in der Krise sogar wachsen. Krisen werden sogar, transzendental geführt, zu Katalysatoren eines positiven Wachstums. Anders formuliert, nur durch Krisen kommt es zum Fortschritt, durch Niederlagen zum Sieg, durch Rückschläge zum Erfolg, durch Enttäuschung zur Hoffnung, durch Sündenerkenntnis zur Heilserfahrung. Bezeichnend für seine Haltung sind die Strophen, die er 1860 aufschrieb: „1. Darf ich wiederkommen mit der gleichen Schuld? Hast du nicht verloren endlich die Geduld? Ist denn deine Gnade also täglich neu, dass du willst vergeben, auch so oft es sei? 2. Gnade und Vergeben heißt das süße Wort; das trägt mich durch’s Leben, nimmt den Jammer fort, bringet Heil und Frieden in mein Herz hinein, dass es schon hienieden kann recht selig sein. 3. Wahrlich, ich darf kommen mit der gleichen Schuld, ich werd angenommen, du trägst in Geduld. Halt mich dann gebunden fest, o Herr, an dich, 45 dass ich werd erfunden in dir ewiglich!“ 44 45
Tagebuch 1, S. 156, Eintrag vom 21. Juni 1852. Zitiert nach „Gemeindelieder“, hrsg. im Auftrag des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden und des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, Wuppertal/Kassel und Witten 1978, Nr. 348.
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Grafe geht davon aus, dass der Mensch zwar eine immer innigere Beziehung zu Gott und seiner Heiligkeit gewinnt, aber immer noch Mensch bleibt, welcher der permanenten Vergebung bedarf. Erlösung beziehungsweise Befreiung ist danach kein einmaliger Akt, sondern eine permanente Herausforderung der Gottesbeziehung. Wachstum geschieht nicht linear, sondern sozusagen in Konjunkturverläufen. Der Wachstumseinbruch, die Sünde, bietet die Chance für einen weitere Grenzen durchbrechenden Aufstieg. Ziel des Lebens ist die immer innigere Herzensverbindung und die Lösung aus dem eigenen Ich zu leben.
Spiritualität und theologische Ausbildung an der Theologischen Hochschule Ewersbach Ingo Scharwächter
Im Curriculum der Studiengänge Hans Peter Dürr zitiert in seinem Buch „Das Netz des Physikers“ folgende Parabel des britischen Astrophysikers Sir Arthur Eddington: „Ein Ichtyologe, ein Fischkundiger also, fängt Fische mit einem Netz und formuliert zwei Grundgesetze: 1. ‚Alle Fische haben Kiemen‘, 2. ‚Alle Fische sind größer als fünf Zentimeter‘. Da kommt der Philosoph einher und sagt: ‚Das zweite ist kein Gesetz. Vielmehr hat dein Netz eine Maschenweite von fünf Zentimetern.‘ Unbeeindruckt entgegnet der Forscher: ‚Über das, was ich nicht 1 fangen kann, kann ich auch nichts sagen.‘“
Was Spiritualität an der Theologischen Hochschule Ewersbach angeht, gibt es manches, das ich einfange, und vieles, das ich nicht einfange und über das ich entsprechend auch nichts sagen kann. So will ich zunächst kurz Auskunft über das Netz meiner Erfahrung geben: Ich bin Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Leverkusen-Wiesdorf und Lehrbeauftragter der Theologischen Hochschule Ewersbach. Im Rahmen dieses Lehrauftrages bin ich verantwortlich für das Modul „Christliche Spiritualität entdecken“, das mit jeweils zwei Semesterwochenstunden im ersten und im dritten Semester ein Pflichtmodul im Bachelor-Studiengang ist. Praktisch heißt das: Ich verbringe jeweils im Wintersemester einen Tag pro Woche an der Hochschule, unterrichte dort vier Stunden, biete persönliche Gespräche zum Thema Spiritualität an – und fahre dann wieder heim. Das ist mein Erfahrungshorizont. Ich werde daher nicht versuchen, das Ganze der Spiritualität im Studium der Theologie in Ewersbach 2 zu beleuchten . Ich stelle schlicht dar, welchen Hintergrund die Studierenden 1 2
Zitat in: Gero von Randow, Der fischende Physiker, vom 13. Januar 1989, http://www.zeit.de/1989/03/der-fischende-physiker, Zugriff 17. September 2016. Wenigstens im Überblick seien noch kurz einige weitere Elemente des Studiums an der Theologischen Hochschule Ewersbach erwähnt, die den Bereich der Spiritualität betreffen: Die jährlich stattfindende Einkehrwoche zu Beginn des Studienjahres im Forggenhof/All-
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mitbringen; welche Ziele in Bezug auf Spiritualität mir vorgegeben sind; wie ich versuche, diese Ziele in meinen beiden Lehrveranstaltungen umzusetzen und was viele Studierende in Bezug auf ihre persönliche Spiritualität bewegt. Abschließend werde ich kurz zwei Ideen vorstellen, wie der Bereich der Spiritualität im Studium noch weiter gefördert werden könnte. Nun ist mir bewusst, dass das Wort Spiritualität der Definition bedarf, da es in einer große Bedeutungsbreite verwendet wird. Ich will mich jedoch nicht lang bei Definitionsfragen aufhalten. Der Einfachheit halber verwende ich das Wort „Spiritualität“ ganz schlicht im Sinne der praxis pietatis. Genauer: Es geht mir beim Thema Spiritualität um die Grundformen geistlicher Übungen wie Gebet, Schriftlesung, Meditation oder Beichte. 1
Der Hintergrund der Studierenden
Zunächst jedoch einige Beobachtungen zum Erfahrungshintergrund der Studierenden: Die weitaus meisten Studierenden in Ewersbach kommen aus dem Bereich Freier evangelischer Gemeinen in Deutschland. Ein relativ hoher Anteil an Studierenden hat vor dem Studium ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, zum Teil als Kurzzeitmissionare („Shorties“); der Anteil der Studierenden, die bereits direkt nach dem Abitur im Alter von 18 oder 19 Jahren ihr Studium aufnehmen, ist in den letzten Jahren jedoch deutlich gestiegen. Einige Studierende haben auch bereits ein Studium oder eine Berufsausbildung abgeschlossen. Viele kennen nur ihre Heimatgemeinde näher und sind weitgehend von der dort geübten Spiritualität geprägt. Vertraut sind die Studienanfänger mit den Formen geistlichen Lebens, wie sie in den meisten Freien evangelischen Gemeinden geübt werden: „Stille Zeit“, freies Gebet und Gebetsgemeinschaften. Eine große Rolle im geistlichen Leben spielt für viele auch das Erleben von Lobpreis-Veranstaltungen. Das musikalische Lob Gottes mit Anbetungsliedern aus dem Bereich der charismatischen Bewegung ist auch in der persöngäu: freiwillige Teilnahme; die zwei Mal wöchentlich stattfindende Campusandacht. In diesem Rahmen wird monatlich auch das Abendmahl gemeinsam gefeiert: freiwillige Teilnahme; das wöchentliche Angebot des „ESMA-Gebetes“ (European Student Mission Association), bei dem für Anliegen der Mission gebetet wird und gelegentlich Missionarinnen und Missionare aus ihrem Dienst berichten: freiwillige Teilnahme; in der Verantwortung der Studierenden selbst liegt das sogenannte „Bergfest“, das ca. alle drei Monate stattfindet und als „Worship-Night“ gefeiert wird, ebenso wird dabei eine diakonische Zielsetzung im Hinblick auf Jugendliche aus der Gegend verfolgt: freiwillige Teilnahme. – Spiritualität ist eine Ressource des Dienstes als Pastorin und Pastor sowie als Missionarin oder Missionar und ist auch ein Thema der Vorlesung zur Pastoraltheologie im fünften Semester.
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lichen Frömmigkeit für viele wichtig. Wenig bis überhaupt nicht bekannt sind hingegen Formen geistlichen Lebens, wie sie in anderen geistlichen Traditionen geübt werden; beispielsweise sind die Studierenden gewöhnlich nicht vertraut mit der lectio divina, hörendem Gebet3 oder liturgischen Gebetsformen. 1.1 Ziele des Studiums im Bereich der Spiritualität Als Ziele des Studiums werden in der Studienordnung der Theologischen Hochschule Ewersbach angegeben: Wissenschaftliche Fundierung, Praxisbezug und Persönlichkeitsentwicklung. Der Bereich der Spiritualität wird unter dem Studienziel Persönlichkeitsentwicklung wie folgt angesprochen: „Sie werden bei ihrem intellektuellen Fortschritt auch zu einer angemessenen Wahrnehmung ihrer selbst und ihrer Umwelt angeleitet sowie zur Ausbildung einer eigenständigen, geistlichen und theologisch urteilsfähigen Persönlichkeit ermutigt. Dies geschieht durch die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Theologie, durch die Studienbegleitung und durch gemeinschaftliches Lernen und Leben. … Gottesdienstliche Feiern und geistliche Übungen för4 dern die spirituelle Bildung.“
Im Modulhandbuch werden folgende Lernergebnisse und Kompetenzen als Ziele des Moduls „Christliche Spiritualität entdecken“ angegeben: „Die Studierenden ‒ haben wichtige Herausforderungen erkannt, die das Theologiestudium für das persönliche geistliche Leben darstellt und Wege kennen gelernt, mit diesen Herausforderungen umzugehen. ‒ haben einen vertieften Einblick in ihre eigene Frömmigkeitsentwicklung gewonnen und die Fähigkeit entwickelt, diese kritisch zu reflektieren. ‒ haben einige geistliche Übungen vertieft kennen gelernt und eingeübt. ‒ haben einen Überblick über wesentliche Elemente gewonnen, die zu geistlichen Wachstumsprozessen gehören. ‒ haben ein Bewusstsein für den Einfluss von Vorbildern und Traditionen auf den persönlichen Frömmigkeitsstil gewonnen. ‒ haben ein Bewusstsein dafür, wie unterschiedlich verschiedene christliche Traditionen die Praxis des christlichen Glaubens ausgestaltet haben. ‒ haben einen Überblick über die wichtigsten Stationen christlicher Spiritualität gewonnen. ‒ kennen wichtige Herausforderungen für eine evangelische Glaubenspraxis heute und können 3 4
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Z.B. beschrieben in: Manfred Schmidt/Ursula Schmidt, Hörendes Gebet, Hamburg 2005. Studien- und Prüfungsordnung der Theologischen Hochschule Ewersbach vom 25. Juni 2015, S. 4, unter: http://www.th-ewersbach.de/wp-content/uploads/2015/10/Studien-und-Prüfungs ordnung-der-Theologischen-Hochschule-Ewersbach_2015.pdf, Zugriff 17. September 2016.
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Spiritualität und theologische Ausbildung Chancen und Grenzen der verschiedenen Traditionen benennen. ‒ haben ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, ihre eigene Spiritualität kritisch zu hinterfragen und besitzen die Fähigkeit, diese durch Beschäftigung mit den Traditi5 onen christlicher Spiritualität weiter zu entwickeln.“
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„Glaubensentwicklung und Lebensgeschichte“ (Erstes Semester)
Wie versuche ich als Lehrbeauftragter nun, diese Ziele zu erreichen? Die Lehrveranstaltung „Glaubensentwicklung und Lebensgeschichte“ im ersten Semester ist in drei Teile gegliedert, die man mit den Stichworten „Rückblick“, „Geistliche Übungen“ und „Reflexion“ beschreiben kann. Nach einer allgemeinen Einführung in das Semesterthema werden die Studierenden zunächst angeleitet, ihren geistlichen Weg bis zum Studium im Rückblick wahrzunehmen. Sie bedenken den Einfluss von Menschen und Ereignissen auf ihr Leben. Sie berichten einander im Unterricht von ihrem persönlichen Weg zum Glauben und zum Studium und lernen so unterschiedliche Wege zum Glauben und zum Studium kennen. In einer Einheit über die Rolle von Traditionen geht es darum, das, was die Studierenden bisher zumeist als „normales“ geistliches Leben empfinden, als pietistisch-freikirchliche Tradition zu verstehen. Im zweiten und längsten Teil des Semesters geht es um geistliches Wachstum durch geistliche Übungen, die vorgestellt und gemeinsam praktiziert werden. Diese geistlichen Übungen werden teils allgemein, teils unter dem Blickwinkel betrachtet, was sich durch das Studium in diesem Bereich verändert. In den ersten Jahren meiner Lehrbeauftragung habe ich versucht, weniger bekannte Formen geistlichen Lebens im Unterricht vorzustellen und dann als Hausaufgabe aufzugeben. Das hat jeweils nur ein geringer Anteil der Studierenden ausgeführt, vermutlich aus zwei Gründen: Zum einen ist für viele Studierende die Aufnahme des Studiums in vielen Bereichen des Lebens eine grundlegend neue Erfahrung. In dieser Zeit der Veränderung scheint mir für viele Studierende ihre bisher gewohnte Form persönlichen geistlichen Lebens ein Stabilisierungsfaktor zu sein, den sie nicht zugunsten neuer Erfahrungen aufgeben wollen. Zum anderen hat das Modul „Christliche Spiritualität entdecken“ nur eine geringe Prüfungsrelevanz; die Prüfungsleistung zum Modul ist ein Referat im dritten Semester. Hier ist schlicht zu beobachten, dass viele Studierende dazu neigen, Hausaufgaben in nicht prüfungsrelevanten Unter5
Modulhandbuch, Stand Juli 2015, S. 34f., unter: http://www.th-ewersbach.de/wp-content/ uploads/2015/10/Modulhandbuch_2015-2016.pdf, Zugriff 17. September 2016.
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richtsveranstaltungen nicht zu erledigen. Daher bin ich in den letzten Jahren dazu übergegangen, neue Formen geistlichen Lebens im Unterricht praktisch zu üben. So stelle ich im Laufe des Semesters unterschiedliche Gebetsformen vor; ich leite die Studierenden an, einen Bibeltext zu meditieren; wir feiern einen Gottesdienst mit gemeinsamem Sündenbekenntnis und Zuspruch der Vergebung; wir üben die charismatisch geprägte Praxis des Hörenden Gebets. Die Bereitschaft, sich auf diese ungewohnten geistlichen Übungen im Unterricht einzulassen, ist bei den meisten Studierenden groß. Noch mehr als in anderen Unterrichtsveranstaltungen kommt es dabei allerdings auf eine positive Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden an. Konkret ausgedrückt: Wer den Lehrbeauftragten – also mich – mag, lässt sich auch auf die geistlichen Übungen ein. Wer den Lehrbeauftragten nicht mag, absolviert die geistlichen Übungen nur widerwillig. In einem dritten Teil des Semesters steht die Reflexion des eigenen geistlichen Lebens im Studium im Mittelpunkt. Anhand des Textes „Kleines Exerzi6 tium für Theologen“ von Helmut Thielicke bedenken Kursteilnehmerinnen die Chancen und Gefahren des Studiums der Theologie für das geistliche Leben des Studierenden. Dazu ist ein einseitiger Aufsatz zu verfassen. Zur letzten Sitzung des Semesters hat jeder Studierende eine ebenfalls eine Seite umfassende Besinnung unter der Fragestellung „Wie will ich mein geistliches Leben während des Studiums gestalten?“ zu schreiben. Die Studierenden äußern sich zumeist positiv zu dieser Lehrveranstaltung, auch wenn nach wie vor der Eindruck bleibt, dass viele Studierende mehr davon erwarten als in diesem Rahmen zu leisten ist. Neben den anfangs genannten Zielen der Lehrveranstaltung hat sich herauskristallisiert, dass „Glaubensentwicklung und Lebensgeschichte“ für die Studierenden einen nicht zu unterschätzenden Sekundärgewinn hat: Sie lernen einander vertieft kennen. Insofern hat diese Lehrveranstaltung auch eine Art „Team-Building“-Effekt. 1.3 Christliche Spiritualität – Wurzeln und Zugänge (Drittes Semester) Im dritten Semester wird das Modul „Christliche Spiritualität entdecken“ mit einer zweiten Lehrveranstaltung unter dem Titel „Christliche Spiritualität – Wurzeln und Zugänge“ abgeschlossen. In dieser Lehrveranstaltung lernen die Studierenden zunächst mehrere Modelle kennen, mit denen in den letzten Jahren versucht wurde, unterschiedliche Wege der Gottesbegegnung zu be-
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Helmut Thielicke, Kleines Exerzitium für Theologen, Hamburg 1959.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
schreiben. Es sind dies die Modelle von John Ortberg7 und Christian A. Schwarz8 sowie die Beschreibung unterschiedlicher Formen von Spiritualität von Corinna Dahlgrün9. Im zweiten Teil des Semesters ist es Aufgabe der Studierenden, ein Referat zur Spiritualität einer Person der Kirchengeschichte zu halten. Neben Lebensweg und praktisch gelebter Spiritualität sollen die Studierenden sich auch zum impliziten Gottes- und Menschenbild äußern, sowie Chancen und Grenzen des beschriebenen Weges der Gottesbegegnung benennen. Zur Vertiefung werden Themen wie Beichte, Liturgie oder Musik und Spiritualität behandelt, teils als Vortrag, teils in Form von Gesprächsrunden. Zum Abschluss des Semesters müssen die Studierenden ein Thesenpapier verfassen unter der Fragestellung: Worin bestehen aus Ihrer Sicht gegenwärtig wesentliche Herausforderungen in Bezug auf gemeinsam gelebte Spiritualität in Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland? Der nach meinem Eindruck wichtigste Lerneffekt im Semester steht jedoch im Zusammenhang mit einer Exkursion, die wir im Rahmen dieser Lehrveranstaltung durchführen. Dabei besuchen wir ein Kloster, führen ein Gespräch mit einer Nonne bzw. einem Mönch und nehmen an einem Stundengebet teil. Weiterhin haben wir im Rahmen dieser Exkursion in den letzten Jahren zumeist an einem charismatischen Heilungsgottesdienst teilgenommen. Mehr noch als der Zugang durch Texte hilft das Erleben grundlegend anders geprägter Spiritualität dazu, die eigene Spiritualität zu hinterfragen und weiter zu entwickeln. 1.4 Das Gesprächsangebot Ebenfalls zum dritten Semester gehört das Angebot eines Gespräches zum persönlichen geistlichen Leben. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Studierenden gewöhnlich nur dann von sich aus ein Gespräch in Anspruch nehmen, wenn sie einen hohen Leidensdruck verspüren. Daher bin ich zu folgendem Modell übergegangen: Jeder Studierende bekommt von mir einen Gesprächstermin genannt, den er aktiv absagen muss, wenn er ihn nicht in Anspruch
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John Ortberg, Abenteuer Alltag, Asslar 2003, S. 187–244. Christian A. Schwarz, Die drei Farben deiner Spiritualität: Neun geistliche Stile: Wie drückt sich Ihr Glaube am natürlichsten aus?, Glashütten/Asslar 2009. Corinna Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort v. Ludwig Mödl, Berlin/New York 2009.
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nehmen möchte. Circa 50–60% der Studierenden nehmen das Gesprächsangebot an. Inhaltlich geht es bei diesen Gesprächen oft um folgende Inhalte: − Zeit für Gott: Viele Studierende zeigen sich stark herausgefordert durch Studium und Praxis in der Jugendarbeit und empfinden, dass sie schlicht zu wenig Zeit für Gott haben. Als Gesprächspartner versuche ich, die Studierenden zu ermutigen, diese Herausforderung als wichtige Lernaufgabe anzunehmen, die sie auch später im vollzeitlichen Dienst als Pastorin und Pastor begleiten wird. − Gemeinde: Viele Studierende müssen für sich die Frage klären, was sie in der Zeit in Ewersbach als ihre Gemeinde ansehen. Gewöhnlich sind das entweder ihre Heimatgemeinde, die Gemeinde ihres Jugendpraktikums oder die Hochschulgemeinschaft. Hier liegt meine Rolle als Gesprächspartner darin, auf die Notwendigkeit der Klärung dieser Frage hinzuweisen oder die Legitimität der getroffenen Wahl zu unterstreichen. − Der eigene Stil von Spiritualität: Hier bietet das Semesterthema eine gute Grundlage, um gemeinsam zu entdecken, was dem eigenen Stil der Gottesbegegnung am ehesten entspricht und weitere Ideen zu entwickeln, wie dieser Stil gelebt werden kann. − Anspruch und Wirklichkeit: Viele Studierende haben einen hohen Selbstanspruch an ihr eigenes geistliches Leben und zeigen sich ernüchtert oder gar enttäuscht über sich selbst; das gilt für ihr persönliches geistliches Leben und auch für geistliches Leben in der Partnerschaft, sofern die Studierenden befreundet, verlobt oder verheiratet sind. Oft besteht meine Aufgabe als Gesprächspartner darin, zur Versöhnung zwischen Anspruch und Wirklichkeit beizutragen. 1.5 Entwicklungsmöglichkeiten Vergleicht man das Angebot im Bereich der Spiritualität an der Theologischen Hochschule Ewersbach mit dem entsprechenden Angebot anderer Hochschulen, so kann man wohl ohne Übertreibung sagen: Hier bietet Ewersbach heute deutlich mehr als die meisten vergleichbaren Hochschulen oder Ewersbach selbst in früheren Jahren. Nach meinem subjektiven Eindruck ist der von Studierenden vergangener Jahre vielfach geäußerte Ruf nach mehr geistlichem Leben im Studium daher zumindest leiser geworden. Dennoch möchte ich an dieser Stelle zwei konkrete Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen – auch wenn mir bewusst ist, dass ein „Mehr“ in diesem Bereich zwangsläufig ein „Weniger“
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in anderen Bereichen nach sich ziehen muss und ich nicht sagen kann, wo dieses „Weniger“ denn liegen könnte: Wichtig erscheint mir eine dauerhafte geistliche Begleitung der Studierenden. Konkret halte ich wenigstens ein Gespräch über die persönliche Glaubensentwicklung pro Semester für notwendig. Hier könnte auch die grundlegende Bereitschaft eingeübt werden, als zukünftiger Helfer selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen; die Bereitschaft von Pastorinnen und Pastoren und anderen hauptamtlichen Mitarbeitern, selbst Seelsorge und geistliche Begleitung zu suchen, ist nach meiner Wahrnehmung oft erst unter hohem Leidensdruck gegeben. Wenn geistliche Begleitung jedoch bereits selbstverständlich zum Studium gehört, könnte dies zu einem Umdenken beitragen. Wer könnte diese geistliche Begleitung leisten? Meines Erachtens sind die Professoren in ihrer spezifischen Rolle hierfür wenig geeignet, da sie die Studierenden hinsichtlich ihrer Leistung beurteilen müssen und dies leicht zu einem Rollenkonflikt führt. Praktisch wäre denkbar, dass jeder Studierende selbst dafür verantwortlich ist, sich eine geistliche Begleiterin bzw. einen Begleiter zu suchen. Dies könnte z.B. die Pastorin bzw. der Pastor der Heimatgemeinde sein. Für den Dienst als Pastorin und Pastor oder Missionarin und Missionar ist die eigene Spiritualität eine kaum zu überschätzende Ressource. Gerade in den kritischen Phasen des Dienstes wie im Erleben eigener Überforderung oder in Konfliktsituationen ist es für Pastorinnen und Pastoren und Missionarinnen und Missionare meines Erachtens zentral wichtig, Gebet und das Hören auf Gott als Kraftquelle wahrzunehmen. Die üblichen Formen der Weiterbildung von Pastorinnen und Pastoren und Missionarinnen und Missionaren in Tagungen hilft hier wenig. Daher hielte ich eine ca. einwöchige Einkehrzeit mit einer vertieften Einübung von Gebet und Hören auf Gott in Schweigen und Mediation im Rahmen des Masterstudiengangs für außerordentlich hilfreich.
Spiritualität und theologische Ausbildung an der Theologischen Hochschule Ewersbach Markus Iff
Systematisch-theologische Perspektiven „Wozu bedarf es einer theologischen (Aus-)Bildung?“1 Diese Frage, die von Verantwortlichen und Förderern der Theologischen Hochschule Ewersbach bei der Einweihung des neuen Hochschulgebäudes 2007 ausführlich bedacht wurde, ist ständiger Begleiter der Gespräche zwischen Hochschulvertretern, der Leitung des Bundes Freier evangelischer Gemeinden und Vertreterinnen und Vertretern der Ortsgemeinden. Was trägt eine theologische Ausbildung für die Praxis aus? So wird vielfach gefragt. Eine in diesem Zusammenhang oftmals benannte Sorge ist, dass ein wissenschaftlich und rational verantwortetes Theologie-Studium die Leidenschaft für Evangelisation, Diakonie und Mission dämpfen könnte. Anders gewendet lautet die Frage dann: Inwiefern wird der christliche Glaube durch ein Theologie-Studium gefördert? Im Leitbild der Theologischen Hochschule Ewersbach von 2009 heißt es: „Wir wollen Menschen zur Entwicklung einer eigenständigen geistlichen Persönlichkeit ermutigen … Die Studierenden verbinden theologisches Studium und Leben in einer christlichen Gemeinschaft und üben so geistliches Leben 2 ein“ . Mit der Aufnahme des Begriffs „geistliche Persönlichkeit“ schließt das Leitbild an eine Tradition der Freien evangelischen Gemeinden an, da die Rede von der „geistbegabten, theologischen Persönlichkeit“ im Gemeinde- und Dienstverständnis durchgängig begegnet3. Der erste vollzeitliche Prediger der
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Jürgen van Oorschot, Wozu bedarf es einer theologischen (Aus-)Bildung?, in: ThGespr 32, 2008, S. 126–134. Das Leitbild wurde zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Aufsatzes überarbeitet. Nun ist von „Persönlichkeit“ und „Persönlichkeitsentwicklung“ die Rede. Vgl. dazu http://www.th-ewersbach.de/die-hochschule/leitbild, Zugriff 17. September 2016. Vgl. dazu Andreas Heiser, Ein Pastor – was ist das? Zur Genese unterschiedlicher Pastorenbilder und ihrer Bezugspunkte am Beispiel des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, in: Markus Iff/Andreas Heiser (Hrsg.), Berufen, beauftragt, gebildet. Pastorales Selbstverständnis im Gespräch. Interdisziplinäre und ökumenische Perspektiven, BThSt, Bd. 131, Neukirchen-Vluyn 2012, S. 68–107. Zum Begriff „geistliche Persönlichkeit“ vgl. Walther
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Freien evangelischen Gemeinden, der reformierte Theologe Heinrich Neviandt (1827–1901), hatte in seinem Studium August Neanders (1789–1850) Auffassung der geistbegabten Persönlichkeit als Movens der Kirchengeschichte kennengelernt und für sein eigenes theologisches Denken übernommen4. Auch der Prediger Konrad Bussemer (1874–1944) vertrat in seinem erstmals 1905 erschienenen Buch „Die Gemeinde“ das Leitbild einer geistbegabten Persönlichkeit und zog für die am 12. April 1912 gegründete Predigerschule des Bundes Freier evangelischer Gemeinden die Folgerung, es gehe um die Bildung „geistbegabter Einzelpersönlichkeiten“5. Umso erstaunlicher ist es, dass der Begriff der „Persönlichkeit“ beziehungsweise der „geistlichen Persönlichkeit“ in der theologischen Literatur des Bundes Freier evangelischer Gemeinden durchgängig schillernd verwendet wird und inhaltlich ungeklärt bleibt6. Im Kern soll damit vermutlich die Einsicht benannt werden, wie der derzeitige Rektor der Theologischen Hochschule Ewersbach, Andreas Heiser, formuliert, „dass die geistliche Begabung und Berufung der Bildung vorausgeht und im Pastorenbild eine Facette besteht, die sich unmittelbarem menschlichem Zugriff entzieht“7. Die Frage nach dem Zusammenhang von Spiritualität und theologischer (Aus-)Bildung, von geistlichem Leben und Theologie-Studium, macht es notwendig zu klären, was unter geistlichem Leben in frei-evangelischer Perspektive zu verstehen ist, was unter dem Begriff „geistliche Persönlichkeit“ zu verstehen ist, und wie das hier gemeinte auf philosophisch-anthropologische Bildungstheorien bezogen ist oder bezogen werden kann. Ich frage daher im Folgenden zunächst
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Hermes, Der Einfluss der Persönlichkeiten in unseren Gemeinden, in: Der Gärtner 32, 1924, S. 383–388. Neviandt hatte Neander in Berlin 1850 als Student wahrscheinlich noch gehört, vgl. Hartmut Lenhard, Studien zur Entwicklung der Ekklesiologie in den Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland, Diss. Bonn 1976, Bielefeld 1977, S. 131 und Andreas Heiser, Wie man Geschichte schreiben soll. Historische Skizze einer frei-evangelischen Historik, in: ThGespr 3, 2012, S. (129–147) 135f. Neanders Arbeit zielte darauf, die Vielfalt der Frömmigkeitsformen des Christentums aufzuzeigen. Er verfolgte dazu das Wirken des göttlichen Geistes, das sich in geschichtlichen Zusammenhängen, vor allem aber in einzelnen Personen manifestierte. Zur Gründung und Entwicklung der Ausbildungsstätte vgl. Andreas Heiser, 100 Jahre Theologische Hochschule Ewersbach, in: Wilfrid Haubeck/Michael Schröder (Hrsg.), Lernen, Begegnen, Senden. 100 Jahre Theologische Hochschule Ewersbach, Witten 2012, S. 11–34. Vgl. dazu Markus Iff, Geistliche Persönlichkeit und Dienstamt – systematisch-theologische Grundzüge des pastoralen Dienstes in freikirchlicher Perspektive, in: Ders./Andreas Heiser (Hrsg.), Berufen (wie Anm. 3), S. 149–168. Andreas Heiser, Pastor (wie Anm. 3), S. 106.
Systematisch-theologische Perspektiven
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nach den Wurzeln und der Eigenart dessen, was man in Freien evangelischen Gemeinden unter „geistlichem Leben“ versteht. Im zweiten Teil soll der philosophisch-anthropologische Bezugsrahmen einer evangelischen Bildungstheorie in frei-evangelischer Perspektive dargelegt werden, bevor abschließend einige Folgerungen für das Verhältnis von geistlichem Leben und theologischer Ausbildung zu ziehen sind. 1
Geistliches Leben – Wurzeln und Eigenart frei-evangelischer Spiritualität
Im evangelischen Christentum ist seit der Reformation der Begriff „Frömmigkeit“ gebräuchlich, mit dem die religiöse Praxis bezeichnet wird8. In den Freien evangelischen Gemeinden begegnet dieser Begriff bis in die Gegenwart in einem durch den Pietismus, die Erweckungsbewegung sowie den britischen Evangelikalismus ausgeprägten Verständnis des Lebens aus dem Glauben und der Pflege der im christlichen Glauben gründenden Werke. Den deutschen Sprachgebrauch des Wortes „fromm“ hat nicht zuletzt Martin Luther durch seine Bibelübersetzung geprägt. Er verbindet eine auf das Ethos bezogene Herkunftsbedeutung von „fromm“ (rechtschaffen, tüchtig) mit einer neuen, das Gottesverhältnis betreffenden, und insofern spezifisch 9 religiösen Bedeutung . Das Wort steht für verantwortliches menschliches Verhalten im Sinne eines Ethos, zum Beispiel im biblischen Kontext als Charakterisierung des treuen Knechts (Mt 25,21). Es steht aber auch für das richtige Verhalten, sofern es von Gottes Zuspruch eröffnet und seinem Anspruch gefordert wird; in diesem Sinn wird es in der biblischen Überlieferung Abraham, Hiob und Jesus von Nazareth prädiziert (Gen 17,1; Hiob 2,3; Lk 23,47). Mit Carl Heinz Ratschow kann man „Frömmigkeit“ als „Lebensgestalt des Glaubens aus und vor Gott“10 bestimmen und damit unter diesen Begriff Phänomene der Vermittlung von Glauben und Sittlichkeit fassen, die in individuel-
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Zum Begriff vgl. Carl Burger, Art. Frömmigkeit, in: Albert Hauck (Hrsg.), RE³, Bd. 6, Leipzig 1899, S. 294f.; Walter Sparn, Art. Frömmigkeit, II. Fundamentaltheologisch und 4 Traugott Koch, Art. Frömmigkeit, III. Dogmatisch, IV. Ethisch, in: RGG , Bd. 3, Tübingen 2000, S. 389–392; Carl Heinz Ratschow, Art. Frömmigkeit 2, in: EKL, Bd. 1, Göttingen 3 1986, S. 1397–1400. Vgl. Ernst Axmacher, Fromm aus Glauben. Überlegungen zu einem theologischen Begriff von Frömmigkeit, in: Bernd Jaspert (Hrsg.), Frömmigkeit. Gelebte Religion als Forschungsaufgabe, Paderborn 1995, S. 65–78. Carl Heinz Ratschow, Frömmigkeit (wie Anm. 8), S. 1400. Vgl. Ders., Eine Studie über das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit, in: Ders. (Hrsg.), Ethik der Religionen, Stuttgart u.a. 1980, S. 11–77.
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len, doch stets in Wechselbeziehung mit sozialer Praxis sich ausbildenden und sich verändernden Lebensgestalten existieren. Der Ausschluss des Begriffs „Frömmigkeit“ aus dem Kanon der theologisch legitimen Begriffe im 20. Jahrhundert – befördert durch die Kritik der Dialektischen Theologie, jegliche Befassung mit „Frömmigkeit“ sei eine Verfehlung der theologischen Aufgabe und führe zu einer anthropologischen Reduktion der Theologie – wurde in Freien evangelischen Gemeinden nicht nachvollzogen11, sodass bis in das ausgehende 20. und frühe 21. Jahrhundert die Begriffe Frömmigkeit und Spiritualität in Freien evangelischen Gemeinden koexistieren. Mit der Rede von der Frömmigkeit und der Spiritualität wird in Freien evangelischen Gemeinden einerseits ein Verhältnis des Menschen zu Gott und zu Jesus Christus beschrieben, und zwar im Sinne von Gottesfurcht, Gottesverehrung sowie Christusglaube und Christusnachfolge. Zugleich aber soll damit ein in ethischer Verantwortung praktiziertes Christentum auf den Be12 griff gebracht werden . Erkennbar sind Übereinstimmungen mit Corinna Dahlgrüns Definition von Spiritualität als „die von Gott auf dieser Welt hervorgerufene liebende Beziehung des Menschen zu Gott und Welt, in der der Mensch immer von neuem sein Leben gestaltet und die er nachdenkend verantwortet“13 und Peter Zimmerlings Definition von Spiritualität als „den äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben, der in der paulinischen Forderung des ‚vernünftigen Gottesdienstes‘ von Röm 12,1f. seine biblische Begründung besitzt“14. Für das Verständnis und die Eigenart der Spiritualität in Freien evangelischen Gemeinden ist in historischer und systematischer Perspektive der Genfer Réveil (die Erweckung) von unmittelbarer Bedeutung15. Er wurde von der Herrnhuter Gemeine in Genf geformt, aber auch entscheidend beeinflusst 11
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Zur Frage, warum „Frömmigkeit“ geradezu zu einem Unwort der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts werden konnte, vgl. Walter Sparn, Frömmigkeit als Wesen des Christentums, in: Dietrich Korsch (Hrsg.), Das Wesen des Christentums, MThS 62, Marburg 2002, S. (125–141) 129–131. Vgl. dazu Wilfrid Haubeck, Frömmigkeit und Theologie, in: Christsein heute Forum Nr. 65, Witten 1993; vgl. zur Bestimmung des Begriffs auch Günther Balders, Zur Frömmigkeitsgeschichte des deutschen Baptismus, in: ThGespr 2, 1994, S. 16–28. Corinna Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort v. Ludwig Mödl, Berlin/New York 2009, S. 153. Peter Zimmerling, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 2003, S. 16. Zum Réveil siehe Ulrich Gäbler, Der Weg zum Réveil in Genf, in: Zwing. 16/2, 1983, S. 142–167; Reinhard Pfister, Kirchengeschichte der Schweiz, Bd. 3, Zürich 1984, S. 171– 214. 240–243.
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durch die Begegnung mit dem britischen Evangelikalismus, insbesondere in der Person von Robert Haldane (1764–1842)16. Dieser hatte, so seine Selbstauskunft, im Alter von 31 Jahren eine Bekehrung erlebt und sich „zum Worte Gottes [gewandt, M. I.] und erhielt da allerlei köstliche, tröstliche Aufschlüsse und eine lebendige Erkenntnis des Herrn selber“17. Im Zusammenhang mit dem Selbstbericht zu einem Bekehrungserlebnis begegnen bei Haldane Anklänge an reformatorische Entdeckungen und Theologie: Die Unfähigkeit zur eigenen Erlösung, die Erkenntnis des Leidens und Sterbens Christi und seine versöhnende Gnade sowie die Zurechnung der Gerechtigkeit Gottes durch Christus18. Im Réveil lässt sich ein für den kontinentaleuropäischen Protestantismus ungewöhnlicher und für die Spiritualität in frei-evangelischen Gemeinden zentraler Missionseifer erkennen, der auf den Glauben an einen „persönlichen“ Gott19 und die persönliche Beziehung des Menschen zu Jesus Christus, dem Sohn Gottes, zielt. Bei Hermann Heinrich Grafe, dem Gründer der ersten Freien evangelischen Gemeinde 1854 in Elberfeld-Barmen, lässt sich die Eigenart dieser Spiritualität in folgenden Worten erkennen: „Ich muss die Wahrheit des Christentums in der persönlichen Beziehung zu Christus selbst erleben, um ein wahrer und lebendiger Christ zu sein. Diese persönliche Beziehung zu Christus als Lebenserfahrung kann durch nichts ersetzt werden; und es ist immer eine Abschwächung der Notwendigkeit der persönlichen Bekehrung zu Christus, um selig zu werden, wenn ich den Glauben an ihn durch einen Glauben an die Kirche, an gewisse Lehren oder auch 20 nur an die Heilige Schrift (in toter Rechtgläubigkeit) ersetzen will“ .
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Zur Person und zum Wirken von Robert Haldane vgl. Ulrich Gäbler, Evangelikalismus und Réveil, in: Zwing. 16/2, 1983, S. 36f. 43f. 51. 59. 76–79. Anonym, Robert und Alexander Haldane, in: Der Christ, ein religiöses Volksblatt, Bd. 23, Bern 1856, S. 258f. Vgl. Hartmut Weyel, Robert Haldane (1764–1842). Seemann, Erweckungsprediger und Kongregationalist aus schottischem Adel, in: Ders., Zukunft braucht Herkunft. Lebendige Porträts aus der Geschichte und Vorgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden, Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden, Bd. 5.5/1, Witten 2009 = ²2014, S. 47–72. So schreibt Adolphe Monod, der wie kein anderer den französischen Réveil verkörperte, am 14. August 1827 in Neapel an seine Schwester: „ … et maintenant j’ai un Dieu qui s’en est charge pour moi. Cela me suffit.“ (Ders., Souvenirs de Sa Vie Extraits de Sa Correspondence, Bd. 1, Paris ²1885, S. 120). Vgl. dazu Hartmut Weyel, Adolphe Monod (1802–1856). Reformierter Pastor und Theologe, in: Ders., Zukunft (wie Anm. 18), S. 97–107. Hermann Heinrich Grafe, Tagebuch 2, Eintrag vom 8. Januar 1854.
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Der Réveil betont die Verantwortung des Gewissens des Einzelnen in der Bindung an die Bibel, das Wort Gottes in schriftlicher Gestalt. Diese Überlegungen spielen auch im Pietismus eine Rolle, der in der Form und den Vertretern sowohl des sogenannten kirchlichen Pietismus, beispielsweise durch Theodor Undereyck (1635–1693) und Gerhard Tersteegen (1697–1769)21, als auch in der Form und den Vertretern des radikalen Pietismus, durch Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670–1721) sowie Jean de Labadie (1610–1674)22 seine Spuren in frei-evangelischer Spiritualität hinterlassen hat. Jean de Labadie, Jesuit, arbeitete seit 1644 – so der Historiker Max Goebel – „an einer Reformation der Kirche nach dem Muster der alten Kirche und namentlich nach der ersten apostolischen Gemeinde nach Jerusalem, in dem er … mit Erlaubniß seines Bischofs ‚die wirklich erweckten und bekehrten Seelen zu einer besonderen und geschlossenen Gemeinde (‚Brüderschaft‘) sammelte‘“23. Labadie vertritt in seinem Werk „La Pratique de l’oraison“ einen Mystizismus, dem bei aller monastisch anmutenden Weltabkehr ein evangelischer Grundzug, richtiger wohl ein quietistischer Zug, eigen ist. In die zentrale Stellung rückt die Betrachtung des unmittelbaren göttlichen Gnadenwirkens am Menschen, denn in ihm als Gottes Ebenbild wird Gott selbst anschaulich, in seinem Geist leuchtet der Geist Gottes hervor. Für Labadie ist die Idee der Nachfolge mit der dazugehörenden Absage an die Welt überaus wichtig für das christliche Leben. Die Möglichkeit, in der Welt und zugleich doch aus der Welt zurückgezogen zu leben, ist da wie ein Wunder: Man lebt, so Labadie, dann in 24 den Flammen, ohne Feuer zu fangen . Diese Spiritualität prägte – vermittelt
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Zu Theodor Undereyck und Gerhard Tersteegen vgl. Jan Friedrich Gerhard Goeters, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jahrhundert, in: Martin Brecht u.a. (Hrsg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 390–410. Vgl. Wilhelm Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670, Leipzig 1911 = ND Amsterdam 1974, S. 139–143; Max Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westfälischen evangelischen Kirche, Bd. 3: Die niederrheinisch reformierte Kirche und der Separatismus in Wittgenstein und am Niederrhein im 18. Jahrhundert, Koblenz 1860 = ND, TVGMS 280, Gießen 1992. Ders., Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westfälischen evangelischen Kirche, Bd. 2: Das 17. Jahrhundert oder die herrschende Kirche und die Sekten, Koblenz 1852 = ND, TVGMS 280, Gießen 1992, S. 193f. 2 Jean de Labadie, Abrege du veritable Christianisme, Amsterdam 1670, S. 85. 383.
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durch Tersteegenkreise in Mühlheim – den Gründer der Freien evangelischen Gemeinden, Hermann Heinrich Grafe25. Ziel des geistlichen Lebens ist es, sich mehr und mehr von der natürlichen Welt zu lösen, das heißt sich zu Jesus Christus hinzuwenden bis zur völligen Einswerdung mit ihm. Die sich hier abzeichnende Jesusfrömmigkeit hat auf den Spuren von Tersteegen einen mystizistischen Zug, der allerdings nicht mit einem monastischen Mystizismus zu identifizieren ist. Denn der Gläubige findet sich bleibend bezogen und unterschieden zur sozialen Umwelt26. Sein geistliches Wachstum besteht darin, dass der Gläubige sich zunehmend von den Ansprüchen der sozialen Umwelt, die zugleich die seines natürlichen Daseins ist, löst und seine Persönlichkeit aus Gottes Geist bezieht. Der Gläubige lebt in seiner Umwelt und partizipiert an ihr, ist jedoch zugleich von ihr ontisch unterschieden. Die wesentlichen Elemente und die Eigenart frei-evangelischer Spiritualität ergeben sich somit durch eine – vereinfacht gesprochen – Durchdringung von erwecklich-evangelikalem, pietistischem Erbgut, gepaart mit einer Form des evangelischen Mystizismus, einem Zusammenspiel von Innerlichkeit und missionarischem Aktivismus, das wiederum auf das gegenläufige Beieinander menschlichen Handelns und göttlichen Tuns zu beziehen ist. Die Intentionalität dieser Spiritualität ist keine einheitliche Bewegung, sondern besteht in der Spannung zweier gegenläufiger Bewegungen. Es sind die Bewegung nach innen, in das Reden des Herzens mit Jesus Christus und die Betrachtung des unmittelbaren göttlichen Gnadenwirkens am Menschen einerseits, und die Bewegung nach außen, zum Nächsten und zum Dienst an der Welt andererseits. Die Grundstruktur dieser Spiritualität besteht darin, dass das religiöse und ethische Moment des Glaubens in einer beweglichen Spannung gehalten werden. Zudem ist im Glauben eine Differenz gesetzt beziehungsweise muss immer neu aufgespannt werden: die Differenz zwischen dem Grund des Glaubens in Jesus Christus und dem höchsteigenen, aber derart begründeten Glauben. Der Historiker Wolfgang Heinrichs äußert die Auffassung, die theologische Mitte der ersten Freien evangelischen Gemeinden und damit die Grundlage für die Eigenart ihrer Frömmigkeit sei „offenbar nicht in einer der reformatorischen Bekenntnisschriften zu suchen …, sondern in einem aus Pietismus und Erweckungsbewegung erwachsenen undogmatischen, am eigenen Bibelverständnis
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Vgl. dazu Hartmut Lenhard, Studien (wie Anm. 4), S. 93f. Vgl. dazu Wolfgang E. Heinrichs, Freikirchen eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal, TVGMS 346, Gießen ²1990, S. 405–414.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
orientierten Erfahrungsschatz“27. Allerdings hat der Inhalt dieses Erfahrungsschatzes einen starken Bezug auf das Evangelium von Gottes freier Gnade und ist somit dogmatisch bestimmt. Die Erweiterung des Begriffs Gnade durch das Attribut „frei“ entspricht bei Grafe dem reformatorischen sola gratia insofern, als damit die Unbedingtheit des Heils extra nos, aber pro nobis festgehalten werden soll28. Es geht um die Einzigartigkeit des Christusgeschehens und um Jesus Christus selber, der nicht nur Gegenstand, sondern allein Grund des Glaubens ist. 2
Philosophisch- anthropologischen Bezugsrahmen einer Bildungstheorie in frei-evangelischer Perspektive
Für das Verständnis der Spiritualität und der Rede von der „geistlichen Persönlichkeit“ kommt in Freien evangelischen Gemeinden dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft sowie der Individualität des Glaubens eine Schlüsselbedeutung zu. Zudem zeichnet sich das Denken der frei-evangelischen Theologen der ersten und zweiten Generation durch eine Sensibilität für die Subjektivität des im Bildungsprozess befindlichen Menschen aus. Sie plädieren für einen Begriff der Innerlichkeit und Gewissensfreiheit, die im Gegenüber zur Gesellschaft und der Gemeinschaft steht. Dies führt uns zu der Frage, auf welchen philosophisch-anthropologischen Theoriemodellen die Verhältnisbestimmungen von Individuum und Gemeinschaft sowie die religiöse Individualitätsbestimmung einer geistlichen Persönlichkeit bei frei-evangelischen Theologen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts fußen und welcher Zusammenhang zwischen Spiritualität und Bildung auf dem Hintergrund dieses philosophisch-anthropologischen Bezugsrahmen zu gewinnen ist? Hermann Heinrich Grafes Vorstellung der Individualität einer geistlichen Persönlichkeit liegt auf der Linie der Zuordnung von Individuum und Gemein27
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Wolfgang E. Heinrichs, Ein Akt der Solidarität – Austrittserklärung von 14 Mitgliedern der ersten Freien evangelischen Gemeinde Elberfeld/Barmen aus der Landeskirche, unter ihnen Maria Grafe, vom 19. Dezember 1856, in: Wolfgang Dietrich (Hrsg.), Ein Act des Gewissens. Dokumente zur Frühgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden, Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden 2, Witten 1988, S. (169–187) 170. In seinem Buch „Erinnerungen an H. H. Grafe“ betont Heinrich Neviandt: „Die freie Gnade Gottes … war in seinen Augen das wirksamste Mittel, die Herzen solcher, die noch ferne standen, zu überwinden und die Herzen der Gläubigen neu zu erwärmen und zu beleben.“ (Ders., Erinnerungen an H. H. Grafe [1882], in: Wolfgang Dietrich [Hrsg.], Act [wie Anm. 27], S. 130).
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schaft wie sie von Friedrich Schleiermacher grundgelegt wurde29. Für Schleiermacher meint Persönlichkeit die „Eigenthümlichkeit“ des individuellen Menschen und diese ist der allgemeinen sittlichen Vernunft entgegengesetzt. Da diese aber nur in den Persönlichkeiten verteilt gegeben ist und für die Gesamtheit der Persönlichkeiten gilt, löst sich eine mögliche Antinomie zwischen der einzelnen Persönlichkeit und der allgemeinen sittlichen Vernunft auf. Die einzelne Persönlichkeit ist auf die Gemeinschaft hin angelegt und somit ist „die Persönlichkeit im ganzen Umfang … zugleich ein Gemeinschaftliches“30. Fragt man nach den Implikationen dieser Individualitätstheorie für Bildungsprozesse, geht es für Schleiermacher um die Entwicklung der Eigentümlichkeit des Menschen. Diese Eigentümlichkeit – man könnte sagen die Persönlichkeit – ist in seinen Augen potenzierte Individualität. Gleichzeitig beschränkt sich Bildung nicht auf den Gedanken der Persönlichkeit, sondern thematisiert das Identische in der Mehrheit von Personen und – insbesondere in der philosophischen Ethik – mit den individuellen zugleich die überindividuellen Handlungsprinzipien, die der einzelne Mensch mit anderen teilt, und die entsprechenden Lebensformen, in denen sie objektive Gestalt gewinnen. 31 Schleiermachers Bildungstheorie zeichnet sich durch einen umfassenden anthropologischen Horizont aus, dem auch die religiöse Bildung zugeordnet ist. Eine Konzeption von Individualität entwickelt Schleiermacher in den Monologen. Hier übersetzt er Spinozas Modell des Individuums als eines „Aggregat[s] von verschiedenen Mischungen der unmittelbaren und mittelbaren
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Zum Persönlichkeits- und Bildungsbegriff Friedrich Schleiermachers siehe: Hermann Fischer, Schleiermachers Theorie der Bildung, in: Joachim Ochel (Hrsg.), Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses F. D. E. Schleiermachers. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, Göttingen 2001, S. 129–150; Gerhard Ebeling, Frömmigkeit und Bildung, in: Dietrich Rössler/Gottfried Voigt/Friedrich Wintzer (Hrsg.), Fides et communicatio, Festschrift für Martin Doerne, Göttingen 1970, S. 69–100 (= Gerhard Ebeling, Wort und Glaube, Bd. 3, Tübingen 1975, S. 60–95). Vgl. auch das Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union: Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F. D. E. Schleiermacher, in: Joachim Ochel, wie oben, S. 13–58. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Tugendlehre 1804/1805, Schleiermacher Werke, Bd. 2, eingeleitet und hrsg. v. Otto Braun, Leipzig 1927 = ND Aalen 1967, S. 36. Eine grundlegende Darstellung der systematischen Gestalt des Bildungsbegriffs bei Schleiermacher bietet Matthias Riemer, Bildung und Christentum. Der Bildungsgedanke Schleiermachers, Göttingen 1989. Zur kategorialen Bedeutung des Bildungsbegriffs Schleiermachers vgl. Eilert Herms, Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz, in: Ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, S. 227–249.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
modorum im Verhältniß zu allen ähnlichen Dingen“ 32 bewusstseinstheoretisch in den prozessualen Vollzug freier Selbstbildung des Menschen, der seinerseits als die Realisierung des individuellen Allgemeinen zu denken ist. In religiösen Bildungsprozessen geht es um das Sichverhalten des Individuums zu einer fundamentalen Passivitätsdimension seines Lebens: „Dem [unendlichen All der Geister] nur verstatt ich zu verwandeln und zu bilden die Oberfläche meines Wesens, um auf mich einzuwirken“33. Auf dieser Grundlage ist für Schleiermacher eine reine Instrumentalisierung der Bildung, eine Reduktion auf bloße Ausbildung für den Beruf, nicht denkbar. Seine Polemik dagegen ist scharf: „Mit Schmerzen sehe ich es täglich wie die Wuth des Verstehens den Sinn gar nicht aufkommen lässt, und wie Alles sich vereinigt den Menschen an das Endliche und an einen sehr kleinen Punkt deßselben zu befestigen, damit das Un34 endliche ihm so weit als möglich aus den Augen gerükt werde.“
Die „Wuth des Verstehens“ als bloß nutzenorientiertes Kalkulieren ist für Schleiermacher die eigentliche Gegenkraft des christlichen Glaubens, mehr noch als der Atheismus. In seinen Überlegungen zur Bildung der Persönlichkeit legt Schleiermacher einen gleichermaßen weit und differenziert gefassten Bildungsbegriff zugrunde. Wissenschaftliche Bildung wie Berufsausbildung, allgemeine Bildung wie religiöse Bildung fasst er unter einen Begriff. Die Bildung jedes geistigen Individuums dauert lebenslang und betrifft die verschiedensten Dimensionen menschlichen Lebens: die Interaktionsfähigkeit, die Tüchtigkeit, die Gesinnung – d. h. das kategoriale Lebensverständnis – sowie Kenntnisse und Fertigkeiten. Im Bildungsgeschehen greifen dabei zwei Komponenten ineinander: ein Gebildetwordensein und Gebildetwerden des Individuums sowie ein (Selbst-)Bilden im aktiven Sinn, wodurch das Individuum auf seine Umwelt einwirkt. Dies gilt für alle verantwortungsfähigen und freien Instanzen, d. h. für alle leibhaften Personen.
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Ulrich Barth, Das Individualitätskonzept der ‚Monologen‘. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, S. (291–328) 308. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe. In: Ders., Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Hans-Joachim Birkner u.a. I, 3, Berlin/New York 1988, S. 1–62, 10. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: Ders., Schriften aus der Berliner Zeit. 1796–1799, hrsg. v. Günter Meckenstock, KGA 1,2, Berlin/New York 1984, S. 252 (144).
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Bildungsvorgänge, in denen die Persönlichkeit des Menschen (aus-)gebildet wird, sind somit sowohl verantwortungsfähige Praxis als auch ein Geschehen, das nicht operationalisierbar und methodisierbar ist. Für religiöse Bildung bedeutet dies, dass eine verantwortungsfähige Bildungspraxis in Bezug auf das geistliche Dienstamt möglich und notwendig ist, ohne jedoch ihren Erfolg in der Hand zu haben. Die Bildung des Inneren eines Menschen zielt auf den Gewinn von Selbstbewusstsein, Freiheit, Zielstrebigkeit, Verantwortungsund Liebesfähigkeit. So sehr nun auch Religion im Kontext einer solchen Bildungstheorie als Bildungsfaktor zu würdigen ist, so wenig können religiöse Einstellung und innere Haltung als ein rein vermittelbarer Lehrgegenstand behandelt werden. Neben Schleiermachers Zuordnung von Individuum und Gemeinschaft, seiner Bestimmung der Persönlichkeit und Eigentümlichkeit, kommen in freievangelischen Vorstellungen einer „geistlichen Persönlichkeit“ Georg Wilhelm Friedrich Hegels Überlegungen zur Theorie des Individuums im Kontext der 35 klassischen Moderne zum Tragen . Hegel verankert in seinen Ausführungen zur Anthropologie die Individualität der menschlichen Seele und der Person in einem subjektiven Strukturmoment des jeweiligen Fürsichseins. In diesem Sinne kann er von einer „innerlichen Individualität“36 sprechen, deren sich die Seele bzw. die Person im „Selbstgefühl“37 vergewissert. Dieses subjektive Strukturmoment der menschlichen Seele zur Begründung der Individualität kann religionsphilosophisch stabilisiert werden, wenn man im Anschluss Hegel davon ausgeht, dass im reformatorischen Christentum die Subjektivität des je einzelnen Dieses zum Ort Gottes wird, zu- und angeeignet im Glauben.38 Zugespitzt formuliert Hegel: 35
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Bei Otto Schopf (1870–1913), Walther Hermes (1877–1935) und Konrad Bussemer (1874–1944) zeigt sich der Anschluss an Hegels Persönlichkeitsbegriff, insofern dieser ein sich selbst bestimmen und eine reine Selbstbeziehung des Subjekts zu denken erlaubt. Darauf fußend behaupten Schopf, Hermes und auch Bussemer, dass das gläubige Individuum konstitutiv für die Gemeinde sei. Vgl. Hartmut Lenhard, Studien (wie Anm. 4), S. 241–245. 266f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der Wissenschaften III: Anthropologie, in: Eva Moldenhauer/Kurt Markus Michel (Hrsg.), Werke in 20 Bdn., Frankfurt am Main 1969–1971, Bd. 10, § 403, 122. Ebd., § 402, 117. Zu Hegels Überlegungen zur Religion des Individuums im Kontext einer Selbstverständigung der Moderne vgl. Jörg Dierken, Riskiertes Selbstsein. Individualität und ihre (religiösen) Deutungen, in: Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Hrsg.), Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung, Berlin 2012, S. 329–347 und Jörg Dierken, Ganzheit und Kontrafaktizität. Religion in der Sphäre des Sozialen, Tübingen 2014, S. 191.
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„Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre“39 und beschreibt damit eine „subjektive Gewissheit … der Wahrheit von Gott“40. Diese mit der Subjektivität des Bewusstseins verbundene Gewissheit wird im Protestantismus zur Grundform des Religionsvollzugs. Das bedeutet aber, dass mit einer solcher Aneignung der göttlichen Wahrheit durch das Individuum im Glauben eine elementare Freiheit von allem autoritativ Gegebenen einhergeht. „In der Wahrheit frei“ geworden, kommt der „subjektive Geist zu sich selbst“41. Dass der Mensch in seiner Individualität zum Ort des Göttlichen wird, stabilisiert nun aber nicht nur die Freiheit des Individuums gegenüber dem autoritativ Gegebenen, sondern stabilisiert insgesamt den Selbst- und Weltbezug des Individuums. Denn mit der göttlichen Wahrheit und dem göttlichen Geist im je Individuell-Subjektiven ist nicht nur der für das Individuum heilskräftige Glaube begründet, sondern kommt auch die Welt der Anderen und die Welt der Schöpfung in den Blick. Diese individuelle Freiheit als subjektives Selbstverhältnis – gestützt durch die im Herzen des Indviduums Tempel und Altäre erbauende Religion – lässt Selbstbezug und Weltverhältnis der Person in ein konstruktives Verhältnis gelangen, sodass es weder zu einer Vereinzelung und Immunisierung des Individuums noch zu seiner Brechung und Auflösung durch das Andere und Allgemeine kommt. Kultureller Weltbezug und subjektives Selbstverhältnis in innerlich gewissem Glauben sind dabei zwei nicht ineinander auflösbare Komponenten der Individualität. Diese ist nun nicht nur aus philosophisch-anthropologischer, sondern auch aus theologischer Sicht Risikopotentialen und Brechungen ausgesetzt, was dazu führt, dass individuelles Selbstsein sich und seine Welt verfehlen kann und verfehlt. Es ist keineswegs ausgemacht, dass Selbstbezug und Weltverhältnis tatsächlich in ein konstruktives Verhältnis gelangen. In der Freiheit seines subjektiven Sebstverhältnisses etwa vermag ein Individuum vernunftkritisch zu reflektieren und Unterscheidungen des Verstandes wahrzunehmen. Für ein religiöses Individuum bedeutet das aus der Sicht Hegels – und dies ist für religiöse Individuen in der späten Moderne durchaus zutreffend –, in „Seufzer[n] und Gebete[n]“ den Gott zu suchen, „dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (1802), in: Werke (wie Anm. 36), Bd 2, S. (287–433) 289. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Eva Moldenhauer/Kurt Markus Michel (Hrsg.), Werke (wie Anm. 36), S. 494f. Ebd., S. 496.
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das Angeschaute als Ding, den Hain als Hölzer erkennen würde“42 und damit von Sekpsis und Zweifeln begleitet zu sein. Zum Risiko individueller Freiheit gehört zudem, dass ein Ich sich selbst zum Gott machen und sich darin genügen kann oder dass eine religionskritische Gottesverneinung mit einer selbstermächtigten Weltbezwingung verbunden wird, die andere und anderes unterwirft oder abstößt. Die freie Subjektivität des Individuums verfehlt sich auch, wenn es Gott in sich zu umfassen versucht, auch wenn die endliche subjektive Subjektivität auf die Unendlichkeit Gottes auszugreifen versucht. Dieses Risiko individueller Freiheit lässt sich nur um ihren eigenen Preis vermeiden. Theologisch gesprochen, ist die am göttlichen Freiheitsprädikat partizipierende Freiheit des Individuums zugleich die Freiheit zur Sünde. Allerdings kann religiöse Bildung einen wichtigen Beitrag leisten, die Unergründlichkeit des Selbstverhältnisses des Menschen und seinen kulturellen Weltbezug in ein konstrutives Verhältnis zur Endlichkeit des Individuums, seinen Möglichkeiten und Grenzen, zu setzen. Religiöse Bildung setzt dabei nicht nur die Unergründlichkeit des Selbstverhältnisses und die Unendlichkeit des kulturellen Weltbezugs in ein konstruktives Verhältnis zur Endlichkeit des Individuums, das als einmaliges immer unter anderen ist. In theologischer Sicht ist religiöse Bildung auf die Gnade und die Versöhnung Gottes bezogen. Diese Gnade und Versöhnung in Jesus Christus ist freilich mehr als ein Wissensbestand, sie ist eine Erfahrung des Glaubens. Eine solche Erfahrung von Individualität kann nicht demonstriert und ausgebildet werden. Sie lässt sich ansinnen und anempfehlen. 3
Der Zusammenhang von Spiritualität und Bildung an einer theologischen Hochschule in freikirchlicher Trägerschaft
Theologie, theologische Forschung und Ausbildung sind kein Selbstzweck. So hat es Friedrich Schleiermacher gesehen und so wird es auch an einer Hochschule in freikirchlicher Trägerschaft verstanden. Theologie soll und will dazu verhelfen, dass Kirche, Gemeinde und Christen tiefer vertrauen, liebevoller handeln und klarer denken. Sie will damit den gelebten Glauben auf allen Ebenen begleiten und fördern. Mit den Worten des Epheserbriefes gesprochen: Es geht um das Wachsen des Menschen hin zu Jesus Christus (Eph 4,15f.). Paulus nennt das auch das Gleichgestaltet-werden mit Christus (Röm 8,29) oder redet davon, dass Jesus Christus in Menschen Gestalt gewinnen 42
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen, in: Eva Moldenhauer/Kurt Markus Michel (Hrsg.), Werke, Bd. 10 (wie Anm. 36), S. 289f.
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soll (Gal 4,19). So könnte man biblisch-theologisch umschreiben, was unter einer „geistlichen Persönlichkeit“ als Leitbild einer theologischen Bildung zu verstehen ist. Dieser Bildungsaufgabe, die eine individuelle und eine soziale Dimension hat, die also auf den einzelnen Glaubenden und auch die Gemeinde als soziale Gestalt von Glauben zielt – dieser Bildungsaufgabe hat auch Theologie, theologische Ausbildung und theologische Forschung zu dienen. Das impliziert, dass im Studium der Theologie Kenntnisse und Kompetenzen erworben werden. In dieser Hinsicht ist die Theologie das Element einer Berufsausbildung für einen leitenden Angestellten – so könnte man es im Vergleich mit anderen Berufen formulieren. Es muss etwas gewusst werden in der Theologie und die wissenschaftlichen Methoden sollte man beherrschen. Und doch zielt Theologie nicht nur auf die Ausbildung für einen Beruf, sondern immer auch auf die Bildung des ganzen Menschen und der Gemeinschaft, in der er lebt. Dass dies so ist, hat mit der ureigensten Sache zu tun, die die Theologie umtreibt und der sie ihre Existenz zu verdanken hat: dem christlichen Glauben. Wenn die Gestalten des Vertrauens, des Handelns und des Denkens, die dieser Glaube hat und annehmen kann, bearbeitet, geprüft und weiterentwickelt werden, dann formt dies den ganzen Menschen. Daher greift jedes Theologie-Studium zu kurz, wenn lediglich ein Werkzeugkoffer und ein Handbuch zur Anwendung mitgegeben werden. Theologie ist mehr als ein Handwerk. Das Theologiestudium zielt auch auf die Beförderung einer Berufung. Es geht um die Kunst des Umgangs mit dem Unverfügbaren – mit Glauben, mit dem eigenen Leben und dem Leben anderer, mit dem Menschen, den Gott liebt und in all dem, unverfügbar und verborgen mit Gott selbst. Auch wenn sich der Glaube und mit ihm die Grundgewissheiten des Lebens (Selbstgewissheit, Weltgewissheit, Gottesgewissheit) nicht im technischen Sinne beschaffen lassen, gibt es Faktoren, welche die Herausbildung des Glaubens erschweren und verhindern und Faktoren, die der Bildung des Glaubens förderlich sind. Dazu gehört die lebendige Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern, die Begegnung mit Menschen, die im Glauben leben, die erwartungsvolle Einkehr in die Anrede des biblischen Wortes, die Übung des Gebets – und somit auf den Spuren Schleiermachers gedacht und in seiner Terminologie gesprochen: der Respekt und die Pflege der Frömmigkeit. Ungeachtet der sachlichen Vermittlung und inhaltlichen Ausgestaltung des Freiheitsbegriffs durch die Moderne, spricht das Neue Testament im Blick auf die Glaubenshaltung beziehungsweise Lebensgestalt des Glaubens des ein-
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zelnen wie hinsichtlich der Christusnachfolger von ελευϑερία43 (Freiheit) und παρρησία44 (Freimut). Diese biblischen Begriffe und die mit ihnen verbundenen Haltungen werden in freikirchlicher Spiritualität besonders wertgeschätzt. Theologische Ausbildung will die befreiende Wirkung des Wortes Gottes im „Gewissen“ beziehungsweise im „Herzen“, das heißt in ihrer existentiellen Bedeutung hinsichtlich der eigenen Lebensgeschichte wie auch in der Frage des religiösen (Non)Konformismus gegenüber der Gesellschaft befördern. Eine theologische Ausbildung an einer Hochschule in freikirchlicher Trägerschaft wird selbstkritisch zu fragen haben, ob es einen konstruktiven Umgang mit der sich immer wieder erneuernden Differenz zwischen individuell sich ausbildender Spiritualität und das heißt persönlichem Glauben und der frommen Gemeinschaft gibt, die Träger der Hochschule ist. Hierher gehört die Frage nach dem Umgang mit dem Überschuss der Erfahrungen, die sich der Spiritualität verdanken, die aber über das jeweils reflexiv ausgebildete und auch praktisch leitende Frömmigkeitsbild hinausgehen – also der Umgang mit der Differenz zwischen Spiritualität und theologischer Normativität. Das Profil der Theologischen Hochschule Ewersbach ist von einem Studienkonzept geprägt, das bei der Ausbildung der Studierenden neben der wissenschaftlichen Fundierung und dem Praxisbezug auch auf die Persönlichkeitsbil45 dung Wert legt . Persönlichkeitsbildung meint hier nicht, ein ideales Bild von Persönlichkeit zu konstruieren, an das sich Studierende unter Modulation ihrer Persönlichkeitsstruktur anpassen. Es geht darum, theologische Fachkompetenz mit der biographischen und emotionalen Basis des individuellen Glaubenserlebens zu vermitteln, sodass sich ein persönlichkeitsspezifisches Credo46 bilden kann. Das Studienkonzept geht realistischer Weise davon aus, dass eine integrative Vermittlung historischer und systematischer Kenntnisse über den christlichen Glauben mit der biographisch gewordenen Gestalt des eigenen Glaubens Gegenstand eines lebenslangen Lernprozesses ist. Ein solcher Lernprozess
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Joh 8,31f. 36; Röm 6,18. 22; Gal 5,1. 13. Missionarisch in Ausrichtung auf die Gesellschaft: Apg 4,13. 29. 31; 28,31; 1Tim 3,13; religiös im Blick auf die Gottesbeziehung der Christusgläubigen: Hebr 4,16; 10,19. 35; 1Joh 2,28; 3,21; 4,17. Grundlegend ist die Konzeption der Persönlichkeitsbildung an der Theologischen Hochschule Ewersbach dargestellt und reflektiert bei Christian Bouillon, Bildungstheoretische Reflektion der Förderung der Persönlichkeitsbildung durch die Studiengänge der Theologischen Hochschule Ewersbach, in: Ders./Andreas Heiser/Markus Iff (Hrsg.), Person, Identität und theologische Bildung, Stuttgart 2017, S. 173–189. Vgl. Klaus Winkler, Seelsorge an Seelsorgern, in: Handbuch der Praktischen Theologie, Bd. 3, Gütersloh 1983, S. 521–531.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
transzendiert die Dauer und Möglichkeiten eines akademischen Studiums. Es kann im Studium nur darum gehen, solche Lernprozesse zu fördern. Subjekt dieser Bildungsprozesse, sind die Studierenden selbst. Inwieweit Persönlichkeitsbildung gelingt, ist daher abhängig von der je biographisch bedingten Lernbereitschaft und Lernfähigkeit der Studierenden in diesem persönlichen Bereich. Aber eben nicht allein davon. Eine verantwortungsfähige Bildungspraxis in Bezug auf das Dienstamt und die theologische Bildung der Persönlichkeit ist zwar möglich und auch notwendig, wie wir gesehen haben, aber dennoch nicht Herr ihrer Erfolge.
Spiritualität und theologische Ausbildung in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) Christoph Barnbrock Die Behandlung des Themas „Spiritualität und theologische Ausbildung in der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche“ setzt voraus, dass ich darüber Auskunft gebe, was ich unter „Spiritualität“ verstehe und welche Profilkanten für denjenigen kirchlichen Kontext vorauszusetzen sind, aus dem ich stamme und den ich hiermit beleuchte.
Lutherische Spiritualität Unter Spiritualität verstehe ich die Gestalt der individuellen und gemeinschaftlichen Gottesbeziehung – in diesem Fall im christlichen Kontext. Dabei fasse ich „Gestalt“ in doppelter Weise. Diese Gestalt ist mir als Resultat des Wirkens Gottes und in ihrer geschichtlichen Dimension einerseits vorgegeben und wird durch die Mittel geprägt, an und in denen Gott an den Menschen handelt. Zugleich sind die Formen der Spiritualität individuell unterschiedlich und keineswegs komplett eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und Gestaltungswünschen entzogen, sodass ihnen auch ein Aspekt menschlicher Gestaltung innewohnt. Für den Bereich der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche hat die Spiritualitätstradition der lutherischen Kirche (und der Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts) besondere Relevanz. Darum möchte ich hier einige Grundaspekte benennen, bevor ich mich konkret dem Thema „Spiritualität und theologische Ausbildung in der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche“ zuwende.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
Gottesdienstliche und sakramentale Spiritualität
Im Augsburger Bekenntnis findet sich die Formulierung: „Man leget den unsern mit unrecht auff, das sie die Mess sollen abgethan haben. Denn das ist öffentlich, das die Mess, ohn ruhm zureden, bey uns mit grösser andacht und ernst gehalten wird denn bey den widdersachern. So werden auch die leute mit höchstem vleis zum offtermal unterricht vom heiligen Sacrament, wo zu es eingesetzt und wie es zugebrauchen sey, Als nemlich die erschrocken gewissen damit zu trösten, dadurch das volck zur Communi1 on und Messe gezogen wird.“
Diese Sätze lassen sich nicht nur als apologetischen Akt im Kontext des Augsburger Reichstags lesen, sondern tatsächlich auch als Reflexion lutherischer Spiritualität, die grundlegend auf die Verkündigung des Wortes Gottes und die Sakramente bezogen ist2. In den genannten Gnadenmitteln wird nicht bloß etwas zum Ausdruck gebracht, was sich andernorts im Menschen spirituell vollzieht, sondern Gottes Verheißungen, die in der Wortverkündigung und in der Austeilung der Sakramente den einzelnen Christen zugeeignet werden, sind gleichermaßen Samen wie Wurzelgrund für lutherische Spiritualität. Die Worte und Verheißungen Gottes konstituieren eine neue Wirklichkeit. Und an diesen Verheißungsworten macht der Glaube sich fest3. Dies geschieht grundlegend in der Taufe und dann im weiteren Christenleben im Hören auf Gottes Wort und im Empfang von den ins Wort gefassten Gnadengaben des Heiligen Abendmahls und der Lossprechung in der Beichte. Gleichzeitig trägt die gottesdienstliche Verankerung lutherischer Spiritualität auch zu deren ganzheitlicher Ausrichtung bei. Peter Zimmerling fasst dies so: „Die Wiederentdeckung der Sakramente im evangelischen Raum nimmt die Erkenntnis auf, dass Rituale und Symbole – reflektiert gebraucht – zur Vertiefung und Verlebendigung der Spiritualität beitragen können. Damit soll die Konzentration evangelischer Frömmigkeit auf das Wort keineswegs in Frage
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CA XXIV, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche (BSLK). Vollständige Neuedition/Quellen und Materialien, hrsg. v. Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2015, S. 140,25–31. Vgl. CA V, in: BSLK (wie Anm. 1), S. 100. Vgl. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, S. 46–53.
Lutherische Spiritualität
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gestellt werden. Vielmehr geht es darum, neben der verbalen Seite die sinnli4 che Dimension des Evangeliums in den Blick zu bekommen.“
Selbst wenn sich gottesdienstliches Handeln immer auch als Ausdruck einer bestimmten Spiritualität fassen lässt, tritt dieser Aspekt in seiner Bedeutung doch hinter das Handeln Gottes in den Gnadenmitteln zurück. So ließe sich etwas spitz mit Gene E. Veith, Jr. formulieren: „Lutheran Spirituality is all about what God does.“5 1.1 Ökumenische Spiritualität Im Eingangszitat aus dem Augsburger Bekenntnis zur Messe wird nicht nur die gottesdienstliche Verankerung lutherischer Spiritualität deutlich, sondern auch das Bemühen, das ökumenische Erbe im Bereich von Gottesdienst und Spiritualität nicht vorschnell aus dem Blick zu verlieren. Lutherische Kirche sieht sich eben immer auch in den Raum des „magnus consensus“6 der gesamten christlichen und im recht verstandenen Sinne katholischen Kirche gestellt. Bewusst entwirft Luther keine ganz neuen Gottesdienstformen, sondern greift in seinen Gottesdienstentwürfen auf die Messform der Westkirche zurück und übernimmt sie, wenn auch in gereinigter Form und mit neuen Akzenten. Fast noch ungebrochener zeigt sich dies in der Fortführung der Tagzeitengottesdienste. Dass diese Andachtsformen im 19. und dann vor allem 20. Jahrhundert im Raum lutherischer Kirche nach einer Zeit des Vergessens wiederentdeckt worden sind, hat dazu geführt, dass diese heute für eine ganze Reihe von Lutheranern zu wichtigen Formen ihres spirituellen Lebens geworden 7 sind .
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Peter Zimmerling, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 2003, S. 216f. – Vgl. auch Christian Möller, der pointiert formuliert: „Lutherische Spiritualität ist Taufspiritualität“ und „Lutherische Spiritualität ist Beichtspiritualität“, Christian Möller, Lutherische Spiritualität. Reformatorische Wurzeln und geschichtliche Ausprägungen, in: Hans Krech (Hrsg.), Lutherische Spiritualität. Lebendiger Glaube im Alltag, Hannover 2005, S. (15–37) 21f. Gene E. Veith, Jr., The Spirituality of the Cross. The Way of the First Evangelicals, St. Louis 1999, S. 23. Vgl. CA I, in: BSLK (wie Anm. 1), S. 93,26. Vgl. Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin/New York 2004, S. 618–641.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
1.2 Gebet – Textmeditation – Anfechtung8 Diese Trias, die sich an prominenter Stelle bei Martin Luther findet, gehört zu den markantesten Zusammenfassungen dessen, was christliches Leben und christliche Frömmigkeitspraxis nach lutherischem Verständnis ausmacht. Am Anfang dieses Zirkels steht das Gebet darum, dass Gott seinen Geist geben möge, um den Lesenden die Heilige Schrift zu erschließen. Daran schließt sich die Meditation des biblischen Textes an, der nicht nur schnell überflogen, sondern wieder und wieder im Herzen und im Mund bewegt sein will. Oswald Bayer fasst es so zusammen: „In solcher Textmeditation betreibt der Mensch keine Nabelschau; er horcht nicht in sich hinein. Er geht nicht in sich, sondern gerät außer sich. Sein Innerstes lebt außerhalb seiner selbst allein in Gottes Wort. Darin ist es verfasst; 9 es ist ‚das Herz wesentlich im Wort‘.“
Solche Schriftlektüre führt dann allerdings auch wieder in die Auseinandersetzung mit der alltäglichen Wirklichkeit. Ein lutherischer Christ weiß sich gerade nicht aus den Konflikten des Alltags herausgenommen, sondern mitten in sie hineingestellt. Seine Existenz ist eine Existenz unter dem Kreuz und in der Kreuzesnachfolge10. Die Tragfähigkeit von Gottes Zusagen und Verheißungen erscheint immer wieder als fraglich. Gleichzeitig erweist sich diese Tragfähigkeit gerade in Krisensituationen, führt so zurück zum Festhalten am Wort und stößt den geschilderten Kreislauf aufs Neue an: „Die Anfechtung ist nicht etwa der Prüfstein der Echtheit des Glaubens als der Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit des glaubenden Menschen. Sie ist vielmehr der Prüfstein des Wortes Gottes, das in der Anfechtung und gegen sie seine Glaubwürdigkeit und Macht erweist. … Nicht Erfahrung als solche macht den Theologen zum Theologen, sondern die Erfahrung der Heiligen 11 Schrift.“
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Vgl. Oswald Bayer, Theologie (wie Anm. 3), S. 28–34, in Auslegung der entsprechenden Trias bei Martin Luther in dessen Vorrede zum ersten Band seiner deutschen Schriften (1539), in: WA 50, S. 657–661. Oswald Bayer, Theologie (wie Anm. 3), S. 32. ApolCA XXVI, in: BSLK (wie Anm. 1), S. 159,5–7: „Semper enim [sc. nostri] docuerunt de cruce, quod Christianos oporteat tollerare afflictiones. Heac est vera, seria et non simulate mortificatio: variis afflictionibus exerceri et crucifigi cum Christo.“ Oswald Bayer, Theologie (wie Anm. 3), S. 33f.
Lutherische Spiritualität
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1.3 Alltagsspiritualität12 So führt lutherische Spiritualität immer wieder hinein in den Alltag. Gerade gegen die Altgläubigen hatten die Reformatoren betont, dass gute Werke eben nicht im abgeschiedenen Winkel einer selbsterdachten Frömmigkeit geschehen, sondern an dem Platz, an den ein Mensch in die verantwortungsvolle Beziehung zu seinen Mitmenschen im Alltag gestellt ist13. Frömmigkeit und Spiritualität sind nach lutherischem Verständnis gerade nicht vom alltäglichen Leben geschieden, sondern gewinnen nicht zuletzt in alltäglichen Vollzügen Gestalt. Luther kann formulieren: „Man kunde ein paradis machen ex domo etc.“14 Und weiter aus der Perspektive einer Magd: „Sic kunden wir uns freude und unserm herr Gott wolgefallen machen et dicere: deo gratias, quod me ordinasti in ein stand vel dienst, ubi scio me tibi placere. Sic hettest du freude an deinem dienst und unser herr Gott hette wolge15 fallen dran, sic angeli und dein herr und fraw dazu.“
So wird gerade der Alltag zu einem Bereich spiritueller Aktivität und Erfahrung, in dem Menschen Gott dienen und Gott in ihnen wirkt, wie es Christian Möller zum Ausdruck bringt: „In dieser tiefen Diesseitigkeit und in solcher Begeisterung für das Alltägliche gelingen erst die wahrhaft guten Werke, von denen ich bekennen muss: eigentlich habe ich sie gar nicht getan, sondern ein anderer, der in mir Raum gewonnen hat, war für mich an der Arbeit, und zwar schon viel früher, als ich 16 ahnte.“
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Corinna Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort v. Ludwig Mödl, Berlin/New York 2009, S. 66–82. Vgl. CA XXVI: „Dis hielt man allein fur Christlich leben: wer die feier also hielt, also betet, also fastet, also gekleidet war, das nennet man geistlich Christlich leben. Daneben hielt man andere nötige gute werck fur ein weltlich ungeistlich wesen, nemlich diese, so jeder nach seinem beruff zutuhn schuldig ist, Als das der hausvater arbeit, weib und kind zu neren und zu Gottes forcht auffzuziehen, die hausmutter kinder gebieret und wart ihr, Ein fürst und Oberkeit land un leut regiert etc. Solche werck, von Gott geboten, musten ein weltlich und unvolkommen wesen sein.“, in: BSLK (wie Anm. 1), S. 152,16–24. Martin Luther, Predigt am 2. Sonntag nach Epiphaniä (im Hause), in: WA 37, S. (9–12) 11,28. Martin Luther, Predigt (wie Anm. 14), in: WA 37, S. 12,3–6. Christian Möller, Spiritualität (wie Anm. 4), S. 33f.
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1.4 Katechetisch geprägte Spiritualität17 Nun würde ein wesentlicher Aspekt lutherischer Spiritualität fehlen, würde das katechetische Element nicht zumindest auch benannt. Christliche Bildung stellte für Martin Luther eine wesentliche Komponente für ein christliches Leben und für christliche Frömmigkeit dar. Nicht zuletzt der Kleine Katechismus hat sich als außerordentlich wirkungsmächtig erwiesen. Wenn er in der Konkordienformel bereits mit dem Großen Katechismus als „der Leyen Bibel, darin alles begriffen, was in heiliger Schrifft weitleufftig gehandelt und einem Christen Menschen zu seiner seligkeit zu wissen von nöten ist“18, weist das auch auf die frömmigkeitsgeschichtliche Bedeutung dieses Textes hin. Nicht zufällig hat Luther in seinem Kleinen Katechismus auch Hausgebete aufgenommen, mit denen er zur häuslichen Gebetspraxis anleiten wollte19. Dabei waren Hauptstücke und Gebete aus Luthers Sicht nicht als zwei unterschiedliche genera dicendi voneinander zu unterscheiden oder gar zu trennen. Vielmehr konnte Luther selbst auch davon reden, dass er den Katechismus betete, wobei damit zunächst die jeweiligen Grundtexte gemeint gewesen sein dürften20. Birgit Stolt kann sogar eine unmittelbare frömmigkeitsgeschichtliche Parallele zwischen dem vielfach verehrten Bild der mittelalterlichen Schutzmantelmadonna und dem Katechismus ziehen: „Der Katechismus diente demnach als eine Art von Schutzmantel, doch schützte er nicht wie der der Madonna vor den Pfeilen des Richtergottes, sondern vor dem Teufel.“21 Im Morgen- und Abendsegen ist dies anschaulich gefasst.
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Vgl. zu diesem Zusammenhang jetzt auch Armin Buchholz, Luthers reformatorische Katechismus-Spiritualität: Lernen wahren Menschseins, in: LuJ 81, Göttingen 2014, S. 135–192. FC.Epit, Vom Summarischen Begriff, in: BSLK (wie Anm. 1), S. 1218,6–8. Vgl. Frieder Schulz, Die Hausgebete Luthers, in: Albrecht Peters (Hrsg.), Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 5: Beichte, Haustafel, Traubüchlein, Taufbüchlein, Göttingen 1994, S. 191–204. Vgl. Birgit Stolt, Zu Luthers ‚Rhetorik des Herzens‘ im Kleinen Katechismus, in: Norbert Dennerlein/Klaus Grünwaldt/Martin Rothgangel (Hrsg.), Die Gegenwartsbedeutung der Katechismen Luthers, Gütersloh 2005, S. (96–122) 98–100. Birgit Stolt, „Laßt uns fröhlich springen!“. Gefühlswelt und Gefühlsnavigierung in Luthers Reformationsarbeit, in: Studium Litterarum 21, Berlin 2012, S. 118.
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In jüngster Zeit hat Georg Gremels mit seinem Buch „Meine Zeit in deinen Händen“ den Versuch unternommen, eine solche Form katechetischer Spiritualität wiederzubeleben22. 1.5 Paradoxe Spiritualität23 In alledem bleibt lutherische Spiritualität paradoxe Spiritualität, eine Spiritualität, die gegen das Sichtbare und gegen den äußeren Schein lebt und steht. Sie ist und bleibt „Spiritualität unter dem Kreuz“. Lutherische Christen rechnen nicht damit, durch Frömmigkeitsübungen grundsätzlich fröhlicher, glücklicher und erfolgreicher zu werden oder den Niederungen eines erst anfänglich christlichen Lebens entkommen zu können und kontinuierlich fortzuschreiten. Sie wissen sich zeitlebens als Sünder und Gerechte zugleich. Gerade deswegen gewinnen alle Formen der Sündenvergebung für lutherische Spiritualität an Bedeutung. Lutherische Christen blenden nicht aus, dass Gott ihnen immer wieder auch als ein verborgener Gott begegnet und sie gerade dann in die Arme Gottes fliehen können, der sich in Jesus Christus in seiner Liebe und Barmherzigkeit offenbart hat. So ist lutherische Spiritualität durch ein großes „Trotzdem“ und durch ein 24 tägliches Neuanfangen gekennzeichnet . Christian Möller fasst diese Zusammenhänge so: „Gegenüber einer Spiritualität, die nach Vollkommenheit in der Heiligung strebt, kommt für lutherische Spiritualität der Schatz des Evangeliums in zerbrechlichen Gefäßen von Menschen zum Leuchten, die ihrer Sünde im Angesicht Christi auf befreiende Weise inne werden und deshalb mit ihrem ‚Pfahl 25 im Fleisch‘ fragmentarisch leben können.“
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Georg Gremels, Meine Zeit in deinen Händen. Sieben Säulen evangelischer Spiritualität, Göttingen 2003. – Als ähnlichen Versuch lässt sich auch Werner Klän, „Der dir helfen und dich mit allem Guten reichlich überschütten will“, in: OUH 46, Oberursel 2006, lesen. Vgl. Christian Möller, Spiritualität (wie Anm. 4), S. 17–21, und Corinna Dahlgrün, Spiritualität (wie Anm. 12), S. 50–66. Vgl. Martin Luther, Der Kleine Katechismus, 4. Hauptstück, Zum Vierten: „Was bedeut denn solch Wasser teuffen? Antwort: ‚Es bedeut, das der alte Adam in uns durch tegliche reu und busse sol erseufft werden und sterben mit allen sünden und bösen lüsten, und wiederumb teglich heraus kommen und aufferstehen ein neuer Mensch, der in gerechtigkeit und reinigkeit für Gott ewiglich lebe.‘“, in: BSLK (wie Anm. 1), S. 884,13–17. Christian Möller, Spiritualität (wie Anm. 4), S. 36.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
Gleichzeitig ist lutherische Spiritualität keine bloß statische Frömmigkeit. Sondern auch aus lutherischer Perspektive bedeutet Heiligung Veränderung, Prägung des Lebens, ein Fortschreiten auf einem Weg, auf dem es gleichwohl immer wieder auch Rückschritte gibt26. Auch das Festhalten des bleibenden, unentrinnbaren Sünderseins des Christen und der Gedanke eines Fortschreitens in der Heiligung durch die Kraft des Heiligen Geistes ist ein Paradox, das in lutherischer Theologie und Spiritualität seinen Platz hat. 1.6 Musikalische Spiritualität Abschließend sei noch auf die Bedeutung der Musik für lutherische Spiritualität hingewiesen. Über Jahrhunderte haben Generationen ihrem Glauben beispielsweise mit den Liedern von Martin Luther und Paul Gerhardt, um nur zwei herauszugreifen, zum Ausdruck gebracht und sind wiederum durch sie in ihrer Frömmigkeit geprägt worden. Zu nennen wäre daneben auch das Werk Johann Sebastian Bachs, das in ähnlicher Weise wirkmächtig geworden ist27. Das deutschsprachige Gemeindelied in freier Dichtung und musikalischer Ausgestaltung war wahrscheinlich eine der entscheidenden spirituellen Neuentdeckungen der lutherischen Reformation, sodass sogar der Gemeindegesang mit der Einführung der Reformation identifiziert werden konnte28. Dabei spielte die grundsätzliche Hochschätzung Martin Luthers für die Musik auf der einen Seite und die spezifische Verbindung von Wort und Musik auf der anderen Seite jeweils eine herausragende Rolle. Die Musik bewegt Menschen (auch emotional) über das Maß hinaus, das mit der bloßen Beschäftigung von Texten gegeben ist. Nicht zuletzt im Gesang wird das Wort zum verbum externum, zum äußerlichen und eben auch äußerlich wahrnehmbaren Wort, indem sich die Gemeinde das Wort einander zusingt und es miteinander singt. Christian Möller bringt es auf dem Punkt: „Eigentlich entsteht erst im Singen eine Gemeinde, während ohne Gesang lauter stumme Einzelne nebeneinander sitzen und der stumm machenden Kraft des Todes ausgesetzt 29 sind.“ Wo aber erhält so geprägte Spiritualität in der theologischen Ausbildung in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche Raum? 26 27 28 29
Vgl. Corinna Dahlgrün, Spiritualität (wie Anm.12), S. 400–404. Vgl. Peter Zimmerling, Spiritualität (wie Anm. 4), S. 242–257. Vgl. Christian Möller, Spiritualität (wie Anm. 4), S. 25. Christian Möller, Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität, Stuttgart 2003, S. 254; vgl. zum Ganzen ebd., S. 245–291, und Christian Möller, Spiritualität (wie Anm. 4), S. 25–27.
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Die theologische Ausbildung nach den Ordnungen der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche
In der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche werden Frauen und Männer zu Theologinnen und Theologen ausgebildet, die später in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche als Pastoralreferentinnen bzw. Pfarrer arbeiten können. Die Ausbildungszeit gliedert sich in vier Phasen: 1. Studium, 2. Lehrvikariat, 3. Pfarrvikariat, 4. Berufsbegleitende Fortbildung30. Dabei richtet sich die „Studienordnung für den Studiengang Evangelische Theologie (Kirchliches Examen in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche)“31 nach der vom Evangelischen Fakultätentag beschlossenen „Rahmenordnung für den Studiengang Evangelische Theologie (Pfarramt/ Diplom/Magister Theologiae)“32. Der akademisch-wissenschaftliche Charakter der ersten Ausbildungsphase bringt es mit sich, dass Aspekte gelebter Spiritualität, die sich dem wissenschaftlichen Diskurs und der Messbarkeit in Leistungspunkten (überwiegend) entziehen, nur am Rande Eingang in die Anforderungen der Studienordnung gefunden haben. Aus gutem Grund werden so wissenschaftlich-theologische Kompetenzen, die auch abprüfbar und messbar sind und sein sollen, von dem Bereich persönlicher Frömmigkeit unterschieden. Theologische Examina sind keine Gesinnungsprüfungen oder Tests persönlicher Frömmigkeit, sondern zuallererst 33 Prüfungen fachlicher Kompetenz . Entsprechend gewinnen die Fragen der 30
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Ordnung für die Ausbildung von Lehrvikaren und Pfarrvikaren der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (AbO) (in der Fassung vom 1. Januar 2016), in: Kirchliche Ordnungen für die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK), hrsg. v. der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirchen [Loseblattsammlung], Hannover o.J., Nr. 123.1, § 1. – Für die Pastoralreferentinnen gilt derzeit noch eine ältere Ordnung, die deren Ausbildungszeit anders gliedert. De facto ist deren Ausbildung aber weitgehend analog zu der der angehenden Pfarrer gehalten und zu verstehen. Studienordnung für den Studiengang Evangelische Theologie (Kirchliches Examen in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche) (StuO EvThKE) (in der Fassung vom 08. September 2016), abrufbar unter: http://lthh.de/images/Downloads/Ordnungen/KO_120_StuOEvThKE_EndF_2016.pdf, Zugriff 28. August 2017. Rahmenordnung für den Studiengang Evangelische Theologie (Pfarramt/Diplom/Magister Theologiae), abrufbar unter: http://evtheol.fakultaetentag.de/PDF/rahmord_dp.pdf, Zugriff 28. August 2017. Für das Zweite Theologische Examen als Examen pro ministerio verhalten sich die Dinge etwas anders, wenn in der entsprechenden Ordnung geregelt ist: „Geben Prüfungsleistungen eines Kandidaten zu schwerwiegenden Bedenken hinsichtlich seiner Bekenntnisbindung Anlass, hat die Prüfungskommission nach Anhörung des Kandidaten der Kirchenleitung hiervon schriftliche Mitteilung zu machen. Stellt die Kirchenleitung eine von dem
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Spiritualität und theologische Ausbildung
Spiritualität vor allem ab der zweiten Ausbildungsphase in den Ordnungen an Bedeutung. Wie dies nun in den rechtlichen Regelungen und in der Praxis der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche gefasst ist, soll im Folgenden dargestellt werden. 3
Spiritualität in den einzelnen Ausbildungsordnungen
3.1 Spiritualität in der Studienordnung Um akademische und spirituelle Aspekte zu unterscheiden, sind inzwischen die geistlichen Impulse für das Theologiestudium nicht mehr in der Studienordnung, sondern einer Anlage „Liste der Theologiestudierenden der SELK“ aufgenommen. Hier heißt es: „Den in der Liste Verzeichneten wird zur Förderung ihrer Persönlichkeitdringend empfohlen, während der Studienzeit − mindestens drei Mal Einkehrtage wahrzunehmen, − die Teilnahme an mindestens einer Rüstzeit mit Studierenden anderer Fakultäten, − die Teilnahme an einer Gesprächsgruppe mit anderen Theologiestudierenden am Studienort und 34 − regelmäßige Gespräche mit einem Seelsorger eigener Wahl.“ Ganz bewusst sind dabei seelsorgliche Begleitung und Studienberatung durch einen Dozenten an der Lutherischen Theologischen Hochschule voneinander unterschieden. In einem Kriterienkatalog für die Anerkennung von Einkehrtagen hat die Fakultät der Lutherischen Theologischen Hochschule in Erläuterung der Studienordnung mit Beschluss vom 8. Juli 2008 festgestellt: „Einkehrtage müssen von persönlicher Reflexion und Besinnung über Fragen des Glaubens geprägt und vom alltäglichen Leben in Arbeit und Freizeit unterschieden sein. Eine Anrechnung von theologischen Fachveranstaltungen oder von Freizeiten, in denen Erholung und Freizeit im Vordergrund steht, ist nicht möglich.“
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Bekenntnis der SELK abweichende Lehrstellung des Kandidaten fest, muss die Gesamt-Note ‚nicht bestanden‘ erteilt werden.“ (Ordnung für das Zweite Theologische Examen in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche [SELK] [PrüfO II] [in der Fassung vom 22.03.2003/24.05.2003], in: Kirchliche Ordnungen für die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche [SELK], hrsg. v. der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche [Loseblattsammlung], Hannover o.J., Nr. 124.7, § 7,4) Anlage zur StuO EvThKE (wie Anm. 31), dort Ziffer 8.
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Damit sind die Einkehrtage ganz bewusst dem Bereich der Spiritualitätsentwicklung zugeordnet. Versteht man lutherische Spiritualität gerade auch als Zuwendung zum Alltag und als Praxis des Glaubens in gesellschaftlichen Zusammenhängen, sind die zwei im Studium zu absolvierenden Praktika (Gemeinde- und Diakoniepraktikum und ggf. eine Jugendfreizeit) zumindest zum Teil als spirituelle Erfahrungsbereiche zu interpretieren35. Auch die Regelung, dass die Studierenden im Hauptstudium einige Semester an einer Universität zu verbringen haben36, soll nicht zuletzt dazu beitragen, dass sich die Studierenden nicht in den vermeintlich frommen Winkel einer kirchlichen Hochschule zurückziehen, sondern im Austausch mit Studierenden anderer Fächer, durch andersartige kulturelle und theologische Impulse persönlich und auch in ihrer eigenen Frömmigkeit reifen. Einen geistlichen Rahmen erhält das Studium nach der Studienordnung mit dem Ziel „Kirchliches Examen“ im Unterschied zum Studium nach der Studienordnung mit dem Ziel „Magister Theologiae“ durch die obligatorische Aufnahme der Studierenden in die Liste der Theologiestudierenden der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Die Aufnahme in diese Liste bringt eine wechselseitige Verpflichtung mit sich. So „übernimmt die SELK neben der geistlichen auch die materielle Mitverantwortung im Rahmen ver37 fügbarer Haushaltsmittel“ . Für die in der Liste der Theologiestudierenden wiederum gilt: „Sie sollen ihr Leben so führen, wie es für einen künftigen Pfarrer/eine künftige Pastoralreferentin angemessen ist.“38 Hierin sind jeweils Aspekte des geistlichen Lebens, des Gebets und der Fürbitte explizit beziehungsweise implizit eingeschlossen. 3.2 Spiritualität in der Ausbildungsordnung Wesentlich deutlicher als in der Studienordnung sind spirituelle Aspekte in der Ausbildungsordnung für die Vikare und Pfarrvikare gefasst. Dort heißt es: „Die Lehr- und Pfarrvikare sollen zu einer inneren Einstellung gelangen, in der sie − ihren Dienst in Verantwortung vor dem Dreieinigen Gott ausrichten, − ihren Dienst in liebevoller Hinwendung zu den Menschen tun,
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Vgl. StuO EvThKE (wie Anm. 31), § 7. Vgl. ebd., § 5,1–2. Anlage zur StuO EvThKE (wie Anm. 31), Ziffer 2. Ebd., Ziffer 5.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
− selber aus der Vergebung Gottes leben und ihre Bindung an Schrift und Be-
kenntnis gewissensmäßig annehmen und in kirchlicher Verantwortung vertreten.“39 So sind Gottesbeziehung, Dienst am Nächsten und das Leben aus den Gnadenmitteln, hier kurz gefasst als „Vergebung“ und „Schrift“, einander zugeordnet. Entsprechend fallen auch die Vorgaben für die Ausgestaltung des Vikariats aus, wenn es heißt: „Neben dem regelmäßigen Erfahrungsaustausch und der Reflexion sollen sich Vikar und Mentor zumindest einmal wöchentlich – unabhängig von anliegenden Aufgaben – Zeit nehmen für das gemeinsame Gebet und für ein gemeinsames Hören auf das Wort Gottes und die gemeinsame Beschäftigung mit dem lutherischen Bekenntnis. Sie sollen während der Ausbildungszeit die 40 Chance nutzen, brüderliche Gemeinschaft zu gestalten.“
Ergänzt wird dies durch eine Regelung, die es dem Vikar ermöglichen soll, „wenigstens einmal im Monat das Heilige Abendmahl zu empfangen“41. Gezielt werden in der Ausbildungsordnung Maßnahmen genannt, welche die Pfarrvikare und Vikare darin unterstützen sollen, „ihr Leben und ihre Arbeit tragen, leiten und korrigieren zu lassen durch Gottes Wort und Sakrament und dem Gebet angemessenen Raum einzuräumen“42. Dazu gehören insbesondere der Freiraum, in Vikariat und Pfarrvikariat weiterhin an Einkehrtagen teilnehmen zu können, die Möglichkeit, sich mit der Ehefrau mit anderen Pfarrehepaaren über die Situation eines Pfarrerehepaars auszutauschen, und die Empfehlung, sich einen Seelsorger zu suchen beziehungsweise weiterhin Kontakt zu ihm zu halten43. Auch das Praktisch-Theologische Seminar, das Predigerseminar der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, das zweimal im Jahr in DreiWochen-Kursen durchgeführt wird, dient der Pflege und Vertiefung der eigenen Spiritualität im Kreis der Schwestern und Brüder: „Das PTS [Praktisch-Theologische Seminar, C.B.] fördert die geistliche Persönlichkeitsentwicklung der Vikare. Sie üben untereinander und mit dem Leiter des PTS geistliches Leben ein, indem sie ihre Arbeit und ihr persönliches
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AbO (wie Anm. 30), 123.1f., § 2,4. Ebd., Nr. 123.4, § 4,8. Ebd., Nr. 123.5, § 4,12. Ebd., Nr 123.9, § 12,1. Vgl. ebd., Nr. 123.9f, §§ 12,1–7.
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Leben tragen, leiten und korrigieren lassen durch Gottes Wort und Sakrament. Sie nehmen sich Zeit für das gemeinsame Gebet. Sie sollen die Chance 44 nutzen, brüderliche Gemeinschaft zu gestalten.“
3.3 Spiritualität in der Fortbildungsordnung Im Rahmen der berufsbegleitenden Fortbildung im Dienst der Pfarrer und Pastoralreferentin hat die Förderung der Spiritualität ebenfalls ihren Raum. Ausdrücklich nehmen die „Richtlinien über berufsbegleitende Fortbildung, Bildungsurlaub und Zusatzausbildung für Pfarrer und Pastoralreferentinnen in der SELK“ Bezug auf die einschlägigen Passagen der Ausbildungsordnung45. Neben der Möglichkeit, an entsprechenden Veranstaltungen außerhalb der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche teilzunehmen46, bietet die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche auch selbst jährlich eine solche Fortbildungsmöglichkeit im Kloster Drübeck an, in der die Bereiche von Spiritualität und Supervision miteinander verschränkt sind. Im Einladungstext zu einer Fortbildung dieser Art heißt es: „Heilsame Unterbrechung. Sorgen für die eigene Seele. Zeit und Raum finden für die Begegnung mit Gott. Still werden im Hören und Bewegen einzelner Gottesworte. In der Berührung mit dem Ewigen Ermutigung und Kraft schöpfen für den Weg durch die Zeit. Was viele im Alltag nur schwer finden, gibt es hier: Zeit! – zum Schweigen, Hinhören, Meditieren, Beten, Lesen; auch für das gemeinsame Gebet in den alten Mauern der romanischen Klosterkirche. Täglich haben wir einige Stunden persönlicher Stille – beim Wandern in der Mittelgebirgslandschaft des 47 Harzes, im Klostergarten, der Kirche oder im Einzelzimmer.“
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AbO (wie Anm. 30), Nr. 123.7, § 8,3. Vgl. Richtlinien über berufsbegleitende Fortbildung, Bildungsurlaub und Zusatzausbildung für Pfarrer und Pastoralreferentinnen in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (in der Fassung vom 26. März 2011), in: Kirchliche Ordnungen für die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche [SELK], hrsg. v. der Kirchenleitung der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche [Loseblattsammlung], Hannover o.J., Nr. 1101.1, § 1, Abs. 2, bzw. AbO (wie Anm. 30), 123.12, § 16,1. Vgl. ebd., Nr. 1101.4, § 12,2. Pastoralkolleg im Kloster Drübeck, eRS 89 | 18. November 2014 [elektronisches Rundschreiben der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche] (Hervorhebung im Original).
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Spiritualität und theologische Ausbildung
Gestaltungsformen an der Lutherischen Theologischen Hochschule
Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche unterhält zur Ausbildung ihres theologischen Nachwuchses mit der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel (Taunus) eine eigene staatlich anerkannte kirchliche Ausbildungsstätte, an der zwei akkreditierte Studiengänge angeboten werden: Evangelische Theologie mit dem Ziel Kirchliches Examen und Evangelische Theologie mit dem Ziel Magister/Magistra Theologiae. Zu Professoren an dieser Hochschule können Pfarrer und Pastoralreferentinnen der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie ordinierte Geistliche aus Schwesterkirchen berufen werden48. Die Professoren leben wie die meisten Studierenden auf dem Campus, sodass sich schon aus dieser Konstellation in gewisser, wenn auch eingeschränkter Weise der Charakter eines kommunitären Lebens ergibt. Lehrende und Studierende nehmen gegenseitig Anteil an Freuden und Sorgen, begleiten einander auch in Krisensituationen des Lebens und treten füreinander in Gebet und Fürbitte ein. Von Montag bis Freitag werden Hochschulgottesdienste gefeiert, die montags, dienstags und donnerstags von einem der Professoren und mittwochs und freitags von Studierenden gestaltet werden. Die Gottesdienste und Andachten werden in einer großen Formenvielfalt gefeiert. Neben die Andachten und Gottesdienste in den geprägten Formen von Predigtgottesdienst (in gekürzter Form), Mette, Vesper und Complet treten auch Andachten, die sich an den Andachtsformen aus den Jugendliederbüchern der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche „Come on and sing“ (Bände 1–3) orientieren, Taizé-Andachten oder auch Gebetsandachten, in denen die Sprachformen der Klage, des Dankes und der Bitte besonderen Raum gewinnen. Als Liederbücher sind vor allem das Evangelisch-Lutherische Kirchenge49 50 sangbuch samt Beiheft und die genannten Bände des Jugendliederbuches
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Statut der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel (in der Fassung vom 1. Dezember 2013), in: Kirchliche Ordnungen für die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche [SELK], hrsg. v. der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche [Loseblattsammlung], Hannover o.J., 260.2f., § 5, Abs. 1. Evangelisch-Lutherisches Kirchengesangbuch, Hannover 1987. Beiheft zum Evangelisch-Lutherischen Kirchengesangbuch, hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Amt für Kirchenmusik v. der Liturgischen Kommission der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche, Groß Oesingen 2000.
Lutherische Spiritualität
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„Come on and sing“51 in Gebrauch. Daneben werden aber auch immer wieder vergessene alte und genauso neue Lieder zum Einsatz gebracht und erprobt. Je nach Zusammensetzung, Prägung und Neigung der jeweiligen Studierendenschaft treten zu diesen Andachten noch weitere Morgen- und Mittagsgebete oder auch Angebote von Bibelkreisen. Die ersten Veranstaltungen eines Tages werden häufig mit Gebet und/oder einer Liedstrophe begonnen. Auch die Durchführung der Examina hat einen geistlichen Rahmen. Die Gottesdienste und Andachten werden entweder in der benachbarten St. Johannes-Kirche gefeiert oder im eigens dafür vorgesehenen Andachtsraum in einem der Studierendenwohnheime. Musikalisch werden die Andachten und Gottesdienste durch den Einsatz eines Posaunenchors und durch Organisten sowie je nach Begabungen der Studierenden durch Gitarre, Flöte, Klavier, Geige und vielem anderen ausgestaltet und bereichert. Eine geistliche Heimat finden Professoren und Studierende in den Gemeinden der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche vor allem in Oberursel und in Frankfurt. Die St. Johannes-Gemeinde Oberursel, deren Kirche, Gemeinde- und Pfarrhaus sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Hochschulgebäuden befinden, ist aus der Arbeit der Lutherischen Theologischen Hochschule hervorgegangen und lässt sich bis heute auch als „Hoch52 schulgemeinde“ wahrnehmen . Der Pfarrer der St. Johannes-Gemeinde versteht sich entsprechend auch als Studierendenseelsorger. Studierende und Professoren nehmen an den Sonntagsgottesdiensten der St. Johannes-Gemeinde teil, die in der Regel als Abendmahlsgottesdienste in Form der Lutherischen Messe gefeiert werden, und wirken auch regelmäßig in ihnen durch Übernahme von Küster-, Predigt-, Lektoren- und musikalischen Diensten mit. In der Advents- und Passionszeit feiern Gemeinde und Hochschulgemeinschaft die Wochengottesdienste mittwochsabends gemeinsam. Seit alters her gibt es auch enge Verbindungen zur Trinitatis-Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Frankfurt. Studierende und Professoren(-familien) nehmen auch hier an Gottesdiensten und am Gemeindeleben teil.
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Come on and Sing. Komm und Sing. Jugendliederbuch, Bd. 1–3, Groß Oesingen, 1990, 1996 und 2012. Vgl. Gottfried Hoffmann, Die Lutherische Theologische Hochschule und die Anfänge der Evangelisch-Lutherischen St. Johannes-Gemeinde in Oberursel, in: Lutherische Theologische Hochschule Oberursel 1948–1998, Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum, OUH.E 3, Oberursel 1998, S. 72–82.
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Studierende mit Englisch als Muttersprache ziehen es gelegentlich vor, Gottesdienste der Trinity Lutheran Church in Frankfurt zu besuchen. Diese Gemeinde ist eine selbständige internationale Gemeinde, die mit der Lutheran Church-Missouri Synod (LCMS), einer Schwesterkirche der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, verbunden ist und von ihr unterstützt wird. Landeskirchliche Studierende nehmen häufig an den Gottesdiensten der Gemeinden der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau teil. Einen besonderen Baustein zur Vertiefung und Entwicklung der eigenen Spiritualität stellen die Einkehrwochenenden dar, die in regelmäßigen Abständen von der Fakultät der Lutherischen Theologischen Hochschule angeboten werden. Auch wenn ausdrücklich gewünscht und beabsichtigt ist, dass Studierende die in der Studienordnung geforderten Einkehrtage auch im Bereich der Ökumene absolvieren, um so Impulse aus den anderen christlichen Kirchen kennen zu lernen, bieten die von Fakultät angebotenen Einkehrtage noch einmal ganz eigene Möglichkeiten. Studierende und Professoren lernen sich so, auch mit ihrem je eigenen geistlichen Lebensweg, jenseits des akademischen Betriebes neu kennen. Gemeinsam Gottes Wort zu hören und im Gebet verbunden zu sein, prägt dann die Gemeinschaft untereinander auch über die gemeinsamen Einkehrwochenenden hinaus. 5
Herausforderungen und Möglichkeiten
Als besondere Herausforderungen für die Stärkung und Förderung von Spiritualität in der theologischen Ausbildung sehe ich für meinen Kontext Folgendes: In einer Zeit, in der die Kirchen einen rapide fortschreitenden gesellschaftlichen Bedeutungsverlust erleiden und in der Christen bisweilen der Wind scharf ins Gesicht bläst, droht die Gefahr, dass sich angehende Theologinnen und Theologen in ein heimeliges Ghetto der eigenen kirchlichen Kreise oder einer intensivierten, weltabgewandten Frömmigkeit zurückziehen. Das aber würde gerade einen der Kernpunkte spezifisch lutherischer Spiritualität, nämlich die Zuwendung zum Alltag, zur Gesellschaft und zu den Mitmenschen, grundlegend in Frage stellen. So werden die Studierenden immer wieder zu ermutigen sein, den sogenannten „Heiligen Berg“, auf dem die Lutherische Theologische Hochschule gelegen ist, zu verlassen und vielfältige Kontakte zu Zeitgenossen und gegenwärtiger Kultur zu pflegen, um gerade auch in Auseinandersetzung mit kritischen Anfragen und im immer neuen Hören auf Gottes Wort geistlich zu wachsen und zu reifen.
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Eine weitere Herausforderung sehe ich auch im Kontext der Theologenausbildung darin, die Bewahrung überkommener Formen nicht gegen die Neuentdeckung von bisher Unbekanntem und Ungewohntem auszuspielen. Die Sorge um eine Erosion der Tradition beziehungsweise des Profils und der Identität der eigenen Kirche kann leicht zu einer restaurativen Erstarrung führen. Dagegen scheint mir eine lebendige Spiritualität immer aus den Quellen der Vergangenheit gespeist zu sein, ohne sich Zuflüssen aus der Gegenwart zu verstellen. Nie wären die Choräle Paul Gerhardts zu Liedern geworden, die Generationen von Christen geprägt haben, wenn sich seinerzeit die Menschen gegen „neues Liedgut“ gesträubt hätten. Und andersherum wäre es ein flaches Christentum, wenn es nur den jeweils neuesten Trends nachjagen und das aus dem Blick verlieren würde, was Christinnen und Christen über Jahrzehnte und Jahrhunderte in ihrer Spiritualität getragen hat. Weiterhin schiene es mir lohnenswert zu sein, über Möglichkeiten einer Vertiefung geistlicher Gemeinschaft nachzudenken, die sich in einer CampusSituation in besonderer Weise ergeben. Welche Hindernisse gilt es zu überwinden, die dem derzeit entgegenstehen? Aber auch neue Formate gemeinsam gelebter Spiritualität wären womöglich zu erproben. Bestünde Interesse an einem Forum von Studierenden und Professoren, in dem die gemeinsame – zweckfreie – Bibellektüre und das Gebet ihren Platz haben? Würden neue oder alte Formen spiritueller Wahrnehmung und spirituellen Lebens wie Pilgerwanderungen Studierenden helfen, ihren eigenen geistlichen Lebensweg zu finden und/oder weiterzugehen? Dies wäre im Gespräch aller an der Ausbildung Beteiligter miteinander zu klären. Als Desiderat sehe ich an dieser Stelle aber auch die Ausbildung der an der Lutherischen Theologischen Hochschule tätigen Professoren. Während sie als Gemeindepfarrer Praxiserfahrung gesammelt haben und ihre wissenschaftliche Qualifikation mindestens durch Promotion ausgewiesen ist, fehlt in ihrem Kreis jemand mit einer spezifisch spirituellen Kernkompetenz. Die Ausbildung eines Professoren zum „Geistlichen Begleiter“/„Spiritual“ könnte helfen, hier einen ganz neuen Impuls im Rahmen der theologischen Ausbildung zu setzen.
Spiritualität und theologische Ausbildung in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Sabine Hermisson
Funktionale Spiritualität Zu einem Trend in der aktuellen Ausbildung zum Pfarrberuf 1 Gehört zum Theologiestudium die Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen spirituellen Lebens? Ist das Vikariat neben Predigtlehre und Seelsorgeausbildung auch ein Ort für die individuelle Suche nach Spiritualität? Noch Ende des 20. Jahrhunderts wurden diese Fragen in der evangelischen Ausbildung zum Pfarrberuf weitgehend verneint – sei es explizit oder implizit durch ihre faktische Struktur. In den 1970er Jahren beklagte Manfred Seitz das völlige Fehlen einer spirituellen Dimension und stellte nach einem Blick auf die Bedeutung von Spiritualität in der römisch-katholischen Priesterbildung fest: „Im Gegensatz dazu wurde in einem Dutzend Bänden über Reform der 2 theologischen Ausbildung diese Dimension überhaupt nicht gesehen.“ Zwar konstituierte sich in den 1990er Jahren im Rahmen des Deutschen Evangelischen Fakultätentages eine Arbeitsgruppe Spiritualität im Theologiestudium 1
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Der vorliegende Beitrag basiert auf meiner Dissertation ‚Spirituelle Kompetenz‘. Eine qualitativ-empirische Studie zu Spiritualität in der Ausbildung zum Pfarrberuf, Arbeiten zur Religionspädagogik, Bd. 60, Göttingen 2016, sowie in Teilen auf meinen Beiträgen in Sabine Hermisson/Martin Rothgangel (Hrsg.), Theologische Ausbildung und Spiritualität, Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 12, Göttingen 2016. Siehe außerdem Sabine Hermisson, Modelle zur Förderung von Spiritualität in Vikariat und kirchlicher Studienbegleitung. Eine qualitativ-empirische Analyse, in: Ralph Kunz/Claudia Kohli Reichenbach (Hrsg.), Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Zürich 2012, S. 143–157 sowie Sabine Hermisson, Spiritualität in der Ausbildung zum Pfarrberuf. Eine Bestandsaufnahme im Dialog mit George Lindbecks Überlegungen zum Thema, in: ZThK 108, 2011, S. 225–251. Manfred Seitz, Der Beruf des Pfarrers und die Praxis des Glaubens. Zur Frage nach einer neuen pastoralen Spiritualität, in: Ders., Praxis des Glaubens. Gottesdienst, Seelsorge, Spiri3 tualität, Göttingen 1985, S. (218–226) 219.
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mit dem Anliegen, Spiritualität als Gegenstand der Theologie wiederzugewinnen. Die Vorschläge der Arbeitsgruppe, der Manfred Seitz, Klaus-Peter Jörns, Gerhard Ruhbach, Henning Schröer und andere angehören, erwiesen sich jedoch nicht als mehrheitsfähig und verschwanden in der Schublade, ohne eine Wirkung zu hinterlassen3. Spiritualität spielte bis Ende des 20. Jahrhunderts keine nennenswerte Rolle in der Ausbildung zum Pfarrberuf. Impulse für eine spirituelle Dimension in Theologiestudium und Vikariat blieben allenfalls Randerscheinungen. Dies hat sich mittlerweile grundlegend geändert – vor allem für die von den Kirchen verantwortete Ausbildung in Vikariat und kirchlicher Studienbegleitung. In den letzten Jahren wurde Spiritualität als ein Anliegen für die Ausbildung neu entdeckt. Die aktuelle Hinwendung zu Spiritualität zeichnet sich auf allen Ebenen kirchlicher Ausbildung ab. Sie spiegelt sich wider in den Standards und Richtlinien, die das Vikariat – und in manchen Kirchen auch die Begleitung Theologiestudierender – orientieren. Hier ist eine Entwicklung hin zu Spiritualität zu beobachten, die sich quer durch alle Landeskirchen des deutschen Sprachraums zieht und häufig unter dem Stichwort „spirituelle Kompetenz“ verhandelt wird. Daneben haben in jüngster Zeit die meisten Kirchen Spiritualitätskurse in Vikariat und Theologiestudium etabliert. Eine „Kurswoche Spiritualität“, „Wüstentage“ oder geistliche Begleitung sind mittlerweile vielerorts Teil der Vikariatsausbildung. Und schließlich sind neue kirchliche Stellen für die spirituelle Begleitung von Theologiestudierenden und 4 Vikarinnen und Vikaren entstanden . Wenngleich die neue Aufmerksamkeit auf Spiritualität überwiegend von den Kirchen ausgeht, sind einzelne Ansätze auch an den theologischen Fakultäten zu verzeichnen. So finden sich heute praktisch-theologische Übungen, in denen Stundengebete praktizieren werden5, oder Lektürekurse, in denen die Studierenden durch die Lektüre geistlicher Texte wie Bonhoeffers Haftbriefe 3 4
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Spiritualität im Theologiestudium. Analysen und Vorschläge einer Arbeitsgruppe des Evangelisch-Theologischen Fakultätentages, unveröffentlichtes Ms. 1996. In der Fortbildung, die aktuelle Anliegen und Trends früher aufgreifen kann als die stärker normierte Ausbildung, zeichnet sich die Neuentdeckung von Spiritualität bereits einige Jahre früher ab. Beginnend in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts finden sich ignatianische Exerzitien oder Kontemplation in den Fortbildungskatalogen der Pastoralkollegs. Eine wachsende Zahl von Pfarrerinnen und Pfarrern bildet sich in geistlicher Begleitung weiter. Vgl. Sabine Hermisson, Das Paradox der Funktionalität. Was leistet geistliche Begleitung in der Aus- und Fortbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern?, in: PTh 100, 2011, S. 149–162. Ralph Kunz, „Wie ein Baum gepflanzt an Wasserbächen“. Der Psalter als Erfahrungsraum für studentische Spiritualität, in: Sabine Hermisson/Martin Rothgangel (Hrsg.), Ausbildung (wie Anm. 1).
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oder die Dunkle Nacht des Johannes vom Kreuz angeleitet werden, ihre eigene Spiritualität in einen größeren Zusammenhang einzuordnen6. Auf fundamentaler Ebene wird bisweilen für eine neue Einheit von Theologie und Spiritualität plädiert7. Wie kommt es zu diesem aktuellen Interesse an Spiritualität in der theologischen Ausbildung? Eine wesentliche Rolle spielt zweifellos der gesellschaftliche Kontext, von dem die neuen kirchlichen Ansätze für Spiritualität nicht zu abstrahieren sind. Spiritualität ist zu einem „Leitbegriff postmoderner Religiosität“8 avanciert. Zwar wird in der religionssoziologischen Forschung kontrovers diskutiert, ob die empirischen Daten es erlauben, von einem „Megatrend Spiritualität“ im Sinne einer Zunahme an Religiosität zu sprechen. Unstrittig ist jedoch, dass in der Aufmerksamkeit auf Spiritualität ein Trend zu verzeichnen ist. Dieser spiegelt sich in der neuen Sichtbarkeit von Religion in den Medien wider, im sprunghaften Anstieg von Ratgeberliteratur zu Themen wie „Spiritualität und Lebenskunst“ oder „Erfolg durch Spiritualität“, aber auch in der wissenschaftlichen Forschung, die in den vergangenen Jahren eine kaum mehr überschaubare Anzahl an Studien und Veröffentlichungen zu diesem 9 Thema hervorgebracht hat . Diese aktuelle Konjunktur von Spiritualität in der theologischen Ausbildung wurde an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien im Rahmen eines empirischen Forschungsprojekts analysiert. Die Analyse kam zu dem Ergebnis: Spiritualität wird in der Ausbildung heute mit einer Zuspitzung verhandelt, die sich von früheren Reformimpulsen pointiert unterscheidet. Um das innovative Potential der gegenwärtigen Ansätze auszuloten, werde ich im Folgenden zunächst schlaglichtartig einige spirituelle (Reform-)Ansätze in der Geschichte der evangelischen Ausbildung erkunden, um danach die Charakteristika der aktuellen Impulse Konturen gewinnen zu lassen.
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Corinna Dahlgrün, „Sich zum Guten gewöhnen“. Von der Notwendigkeit geistlicher Beratung, in: Sabine Hermisson/Martin Rothgangel (Hrsg.), Ausbildung (wie Anm. 1). Peter Zimmerling, Plädoyer für eine neue Einheit von Theologie und Spiritualität, in: PTh 97, 2008, S. 130–143. Ulrich Körtner, Geist und Ungeist heutiger Spiritualität. Die neureligiöse Unübersichtlichkeit, in: Lernort Gemeinde 17, 1999, S. (8–13) 8. Auf alle drei Aspekte verweist Ulrike Popp-Baier, From Religion to Spirituality. Megatrend in Contemporary Society or Methodological Artefact? A Contribution to the Secularization Debate from Psychology of Religion, in: Journal of Religion in Europe 3, 2010, S. (34–67) 61.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
Spiritualität in der Geschichte der evangelischen Ausbildung
Impulse für eine spirituelle Dimension durchziehen die Geschichte der evangelischen Ausbildung seit ihren Anfängen. Sie bilden eine Art Unterstrom, der in unterschiedlicher Gestalt immer wieder an die Oberfläche tritt. 1.1 Martin Luther: Einheit von Theologie und Spiritualität Für Martin Luther – wie für die Reformatoren überhaupt – gehören theologisches Studium und Spiritualität zusammen. Oswald Bayer resümiert: „Luther hat als Mönch, Priester und Universitätstheologe Theologie und Frömmigkeit, scholastische und monastische Theologie spannungslos zusammenzuhalten vermocht.“10 Wie eng Theologie und Spiritualität aufeinander bezogen sind, spiegelt sich insbesondere in Luthers Verständnis des theologischen Studiums wider, wie er es programmatisch in der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften (1539) expliziert11. In der Vorrede entwickelt Luther die drei Regeln oratio, meditatio und tentatio als die „rechte weise in der Theologia zu studirn“12. Mit der Trias oratio, meditatio und tentatio leitet Luther zu einem intensiven Umgang mit der Heiligen Schrift an, der – so seine Überzeugung – zum „Theologen“ und zum „rechten Doktor“ (der Theologie) macht. Das Studium der Schrift wird wesentlich durch eine spirituelle Dimension konstituiert. Es vollzieht sich im Kontext einer spirituellen Praxis – im regelmäßigen Gebet und in der kontinuierlichen und beharrlich geübten Meditation des biblischen Textes. Luther setzt mit seinen drei Regeln eine praxis pietatis voraus, wie er sie als Augustinermönch kennengelernt hat und nach dem Verlassen des Or13 dens weiter pflegt . Eine solche regelmäßige und kontinuierliche spirituelle 10 11
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Oswald Bayer, Theologie, HST 1, Gütersloh 1994, S. 106. WA 50, S. 657,1–661,8. Luthers Vorrede hat in der Forschung in mehreren Monografien 2 Beachtung gefunden. Vgl. Martin Nicol, Meditation bei Luther, Göttingen 1991; Oswald Bayer, Theologie (wie Anm. 10), S. 35–126; Marcel Nieden, Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung, Tübingen 2006, S. 80–87. WA 50, S. 658,29. Die Wendung „in der Theologia zu studirn“ ist in einem weiten Sinn zu verstehen, der den akademischen Zugang mitumfasst, ohne sich jedoch auf diesen zu begrenzen. Luthers persönliche spirituelle Praxis hat vielfach Beachtung gefunden, vgl. insbesondere Martin Nicol, Meditation (wie Anm. 11). Dass Luther seine eigene Praxis nicht als eine Ausnahme betrachtet und nicht auf Theologen oder Pfarrer begrenzt sieht, zeigt insbesondere seine Schrift „Eine einfältige Weise zu beten, für einen guten Freund“ (1535), in: WA 2, S. 81–130.
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Praxis empfiehlt er allen Christinnen und Christen14. Der Umgang mit der Schrift führt in eine spirituelle Erfahrung: in die den Menschen in seiner ganzen Existenz betreffende Erfahrung der Anfechtung, in der sich erst die volle Wirkmächtigkeit von Gottes Wort erweist. Mit den drei Regeln oratio, meditatio und tentatio beschreibt Luther einen intensiven Erfahrungsprozess, den er vom bloßen Wissen unterscheidet. Bayer führt aus, wie Luther das monastische Element in der Theologie neu zur Geltung bringt, ohne jedoch die scholastische Dimension aufzugeben15. Der Reformator versteht Theologie eher als Weisheit denn als Wissenschaft – als eine sapientia experimentalis. Sie ist für ihn nicht – wie später seit Johann Salomo Semler – eine Reflexion auf den Glauben, sondern vielmehr selbst existentieller Vollzug des Glaubens. Für Luther bilden Meditieren und Disputieren, Glauben und Wissen, Frömmigkeit und Bildung, Affekt und Intellekt keine Gegensätze, sondern sind aufeinander bezogen16. 1.2 Bedeutungsverlust von Spiritualität Nach diesen evangelischen Anfängen ist es bemerkenswert, wie rasch in der Folgezeit Spiritualität in der theologischen Ausbildung an Bedeutung verliert. Dies ist nicht erst ein Phänomen der Neuzeit, sondern eine Entwicklung, die bereits früh einsetzt. Marcel Nieden zeigt in seiner Untersuchung Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium17: Während im 16. Jahrhundert das Ideal des Theologen noch von der Einheit von Frömmigkeit und Theologie bestimmt ist, verliert im 17. Jahrhundert die spirituelle Praxis im theologischen Studium an Bedeutung. Nieden nennt mehrere Faktoren für diese Entwicklung. Erstens führen die kontroverstheologischen Auseinandersetzungen des beginnenden konfessionalistischen Zeitalters im theologischen Studium zu einer wachsenden Orientierung an lutherischen Autoritäten. Der Studienschwer14
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Vgl. dazu Silke Harms, Glauben üben. Grundlinien einer evangelischen Theologie der geistlichen Übung und ihre praktische Entfaltung am Beispiel der „Exerzitien im Alltag“, Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 67, Göttingen 2011, S. 90. „Mit seinen ‚drei Regeln‘, ‚in der Theologie zu studieren‘ – Oratio, Meditatio und Tentatio – nimmt der Doktor und Professor der Theologie Martin Luther, ursprünglich Mönch, die ‚monastische‘ Theologie auf, indem er mit ihr seine Antwort auf die wissenschaftstheoretischen Hauptprobleme der ‚scholastischen‘ Theologie gibt.“ Vgl. Oswald Bayer, Monastische und scholastische Theologie, in: Rudolf Landau/Günter R. Schmidt (Hrsg.), „Daß allen Menschen geholfen werde …“. Theologische und anthropologische Beiträge für Manfred Seitz zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1993, S. 11–15. Vgl. Oswald Bayer, Theologie (wie Anm. 10), S. 49–52. Siehe zum Folgenden Marcel Nieden, Erfindung (wie Anm. 11), S. 238–248.
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punkt verschiebt sich von der Heiligen Schrift zu den Lehrdokumenten der lutherischen konfessionellen Tradition, insbesondere den Bekenntnisschriften und den Werken Luthers. Zweitens ist ein politisches Interesse an der Einheitlichkeit des Bekenntnisstandes zu greifen. „Gefragt war der Pfarrer als Multiplikator konfessionsspezifischer Normen und Werte. Von ihm erwartete der Staat, dass er die konfessionellen Normen korrekt vermitteln, sie aber auch an den für das Luthertum maßgeblichen 18 theologischen Quellen begründen und beweisen kann.“
Damit kommt dem Studium lutherischer Autoritäten nicht nur kontroverstheologische Bedeutung, sondern auch politische Funktion zu. Dagegen zeichnet sich die Befürchtung ab, der „autonome“ Umgang mit der Bibel, der auf das Wirken des Heiligen Geistes angewiesen ist und sich damit dem normierenden Zugriff entzieht, könne den einheitlichen Bekenntnisstand und damit die Einheitlichkeit des konfessionellen Staates gefährden. Drittens lassen die zunehmende Professionalisierung und der damit einhergehende Wandel im Selbstverständnis des Theologen die Lektüre der Heiligen Schriften in einem Studienmodus, der den Theologen mit dem Gläubigen verbindet, in den Hintergrund treten. Der Theologe versteht sich nicht mehr als „frommer Gebildeter“ oder „gebildeter Frommer“ in einer Weise, die letztlich für alle Christinnen und Christen aussagbar ist, sondern zunehmend als „Experte“. Zum Theologen macht nicht mehr die Meditation der Heiligen Schrift, sondern der Erwerb von Spezialwissen und professionellen Fertigkeiten. Die Einheit von Theologie und Spiritualität, welche die Reformatoren voraussetzten, beginnt zu zerbrechen. Mit der Aufklärung setzt sich die Trennung von theologischer Wissenschaft und Spiritualität durch und letztere wird auf den Bereich des Privaten begrenzt. Diese Entwicklung erreicht ihren Höhe- und Endpunkt mit Johann Salomo Semler. Semler versteht die Vorrede nur noch als Anleitung für die private Frömmigkeit, die von der theologischen Wissenschaft strikt zu unterscheiden ist. Dies bedeutet das endgültige Zerbrechen der bei Luther 19 gegebenen Einheit von Theologie und Spiritualität .
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Marcel Nieden, Erfindung (wie Anm. 11), S. 244. Ausführlich zu Semlers Unterscheidung von Theologie und Religion siehe Botho Ahlers, Die Unterscheidung von Theologie und Religion. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Praktischen Theologie im 18. Jahrhundert, Gütersloh 1980, S. 101–130.
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1.3 Neuansätze In der Geschichte der Ausbildung zum Pfarrberuf gibt es jedoch vor und nach Semler immer wieder Ansätze, eine spirituelle Dimension zurückzugewinnen. Für den Pietismus ist die Förderung von Spiritualität im theologischen Studium ein zentrales Anliegen. Philipp Jakob Spener fordert in seiner Programmschrift Pia desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche (1675), dass das Theologiestudium sich daran orientiere, die Frömmigkeit der Studenten zu stärken und die praxis pietatis zu fördern. „Intendiert ist der fromme Student oder ‚Gottesgelehrte‘, der sich mit seinem Fach identifiziert und dessen Sache ‚praktisch‘ vorweg auf sich selbst bezieht.“20 Spener regt die Begleitung durch Mentoren und die Einrichtung von collegia pietatis an21. In den collegia soll unter Anleitung eines Professors die Bibel in einem existentiellen Lektüremodus gelesen und geistliche Gemeinschaft der Studenten untereinander gefördert werden. „Hier sollten die Professoren den Studenten die Bibel auslegen nicht zur Mehrung des Wissens, sondern vorrangig zum Wachsen in der Frömmigkeit.“22 Daneben empfiehlt Spener geistliche Lektüre während des Studiums: die Predigten Johannes Taulers, die Theologia Deutsch und Thomas von Kempens Nachfolge Christi23. Grundlegend für die Bedeutung der studentischen Frömmigkeit und praxis pietatis ist Speners Theologieverständnis. Spener versteht die Theologie nicht als reine Wissenschaft, sondern als „habitus practicus“, „als praktisches Verhalten unter Leitung des Heiligen Geistes“24. Im Unterschied zum Studium der Religionsphilosophie bedarf es für das Studium der Theologie des Heiligen Geistes. „Die Theologie ist für Spener vorwiegend Glaubenswissenschaft, bei der es zuerst um innere Aneignung der Glaubenslehre und dann um die zweckmäßige Ausübung des Erfahrenen geht. Da die einzige Quelle der Glaubens-
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Martin Brecht, Art. Theologiestudium, II. Reformation bis zur Gegenwart, in: TRE, Bd. 23, Berlin/New York 2002, S. 354–358. Philipp Jakob Spener, Pia desideria, hrsg. v. Kurt Aland, KlT 170, Berlin ³1964 = ND ³1990, S. 77,13‒78,26. Johannes Wallmann, Der Pietismus, UTB 2598, Göttingen 2005. Philipp Jakob Spener, Pia desideria (wie Anm. 21), S. 74,3–76,16. Martin Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: Ders. (Hrsg.), Der Pietismus vom 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 281– 389.
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Spiritualität und theologische Ausbildung lehre die Schrift ist, ist die Erleuchtung durch den Heiligen Geist unumgäng25 lich, um die Glaubenslehre erkennen zu können.“
Spener geht in seiner Betonung der Frömmigkeit so weit, dass er sie als Kriterium für die Anstellung von Theologen empfiehlt26. Er erwartet, dass von einer Reform des Theologiestudiums entscheidende Impulse für die Erneuerung der Kirchen ausgehen werden. Für Friedrich Schleiermacher sind nach Gerhard Ebeling Frömmigkeit und Bildung das Lebensthema, von dem sowohl Biografie als auch Werk geprägt sind27. Die Verbindung von Frömmigkeit und Bildung bestimmt auch Schleiermachers Entwurf zum Studium der Theologie. Er entwickelt in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums (1830)28 ein spezifisches Verständnis von Frömmigkeit, das er unter dem Begriff „kirchliches Interesse“ zur Geltung bringt. Grundlegend für Schleiermachers Konzept der Theologie und des theologischen Studiums ist die funktionale Bestimmung der Theologie von der Kirchenleitung her als „Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist.“29 Voraussetzung für die Teilnahme an der Kirchenleitung ist für Schleiermacher die Verbindung von wissenschaftlichem Geist und kirchlichem Interesse30. Diese beiden Elemente können mit unterschiedlicher Gewichtung vorhanden sein, sind aber sowohl für wissenschaftliche Theologen als auch für kirchliche Praktiker unverzichtbar. Daher ist Isolde Karle zuzustimmen, wenn sie betont, dass im Anschluss an Schleiermacher die „religiöse Gesinnung, die individuelle Frömmigkeit oder die Authentizität der Amtsperson … noch keine
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Chi-Won Kang, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts, Kirchengeschichtliche Monografien, Bd. 7, Gießen 2001. Kang weist darauf hin, dass Spener im Unterschied zu Luther den Ausdruck „Theologe“ nicht mehr für alle Christinnen und Christen verwendet, sondern zwischen einfachen Gläubigen und Berufstheologen unterscheidet. Vgl. ebd., S. 253. 270–274. Philipp Jakob Spener, Pia desideria, (wie Anm. 21), S. 71,36–72,20. Gerhard Ebeling, Frömmigkeit und Bildung, in: Ders., Wort und Glaube, Bd. 3: Beiträge zur Fundamentaltheorie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, S. 60–95. Im Folgenden zitiert nach Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hrsg. v. Dirk Schmid, KGA 1/6, Berlin 2002. KD § 5. KD § 12.
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hinreichenden Bedingungen für die professionelle Amtsführung“31 darstellen, sondern wissenschaftliche Bildung hinzutreten muss. Es gilt allerdings auch die Umkehrung: „Für Schleiermacher ist … die wissenschaftliche Bildung eine notwendige, aber für sich alleine nicht hinreichende Voraussetzung für die Teilnahme an der Kirchenleitung. Ihr muss in jedem Fall das kirchliche Interesse zur Seite stehen.“32 Was unter „kirchlichem Interesse“ zu verstehen ist, führt Wilfried Härle aus und unterscheidet zwei Momente: das Interesse an der „Förderung des Wohls der Kirche“33 sowie den „inneren Beruf“34, also die Berufung im Sinne der vocatio interna. Beide sind für Schleiermacher „nicht nur wünschenswerte, sondern notwendige, unverzichtbare Elemente des theologischen Studiums.“35 Als primären Ort für die Entwicklung religiösen Interesses sieht Schleiermacher allerdings die Familie und plädiert nicht dafür, gelebte Spiritualität in der theologischen Ausbildung zu stärken36. Fragt man nach Ansätzen für eine spirituelle Dimension in der Ausbildung zum Pfarrberuf, kommt man an Dietrich Bonhoeffer und seiner vielbeachteten vita communis im Predigerseminar Finkenwalde nicht vorbei. Bonhoeffers Anliegen ist es, in dem 1935 gegründeten und bereits zwei Jahre später von der Gestapo geschlossenen Predigerseminar, theologische Lehre und gemeinsames geistliches Leben zu verbinden. Die Einübung in ein spirituelles Leben wird zum grundlegenden Ziel der Vikariatsausbildung. In einem Brief an Karl Barth schreibt er: „Die Fragen, die heute im Ernst von jungen Theologen an uns gestellt werden, heißen: wie lerne ich beten? wie lerne ich die Schrift lesen? Entweder wir können ihnen da helfen oder wir helfen ihnen überhaupt 37 nicht. Selbstverständlich ist da wirklich gar nichts.“ Die in Finkenwalde praktizierte Spiritualität reflektiert Bonhoeffer in Gemeinsames Leben38. Er schildert den regelmäßigen Tages- und Wochenablauf mit gemeinsamen und indivi31 32 33 34 35 36 37 38
Isolde Karle, Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft, Praktische Theologie und Kultur, Bd. 3, Gütersloh 2001, S. 199. Wilfried Härle, „Wie studiert man kirchliches Interesse?“, in: Sabine Hermisson/Martin Rothgangel (Hrsg.), Ausbildung (wie Anm. 1). KD § 11. KD § 13. Wilfried Härle, „Wie studiert man kirchliches Interesse?“, in: Sabine Hermisson/Martin Rothgangel (Hrsg.), Ausbildung (wie Anm. 1). Zur Förderung religiösen Interesses und religiöser Übung bei Schleiermacher siehe die detaillierte Untersuchung in: Silke Harms, Glauben (wie Anm. 14). Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung. Finkenwalde 1935–1937, DBW 14, Gütersloh 1996, S. 237. Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel, DBW 5, München 1987.
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duellen geistlichen Übungen wie Psalmgebet, Schriftmeditation und der von ihm wiederentdeckten Einzelbeichte. Die Finkenwalder geistlichen Übungen lassen sich unter dem Leitbegriff der „Exerzitien“ zusammenfassen39. Wenngleich eine äußerliche Nähe zu klösterlichen Lebensformen unverkennbar ist, läuft Bonhoeffers Intention jedoch einer klösterlichen Abkehr von der Welt diametral entgegen40. Im Kontext des Kirchenkampfes gehört für Bonhoeffer der Christ „nicht in die Abgeschiedenheit eines klösterlichen Lebens, sondern mitten unter die Feinde“41. „Nicht klösterliche Abgeschiedenheit, sondern innerste Konzentration für den Dienst nach außen ist das Ziel.“42 2
Die aktuellen Ansätze für Spiritualität in der Ausbildung zum Pfarrberuf
Vor dem Hintergrund der Tour d’Horizont zu Spiritualität in der Geschichte der pastoralen Ausbildung können im Folgenden die Charakteristika der aktuellen Impulse Gestalt gewinnen. Wie wird gegenwärtig in der kirchlichen Ausbildung zum Pfarrberuf Spiritualität thematisiert? Welche Ansätze gibt es seitens der Kirchen, um Spiritualität in Theologiestudium und Vikariat zu fördern? Von diesen beiden Fragen geleitet, wurden die aktuellen kirchlichen Ausbildungsstandards für die erste und zweite Ausbildungsphase analysiert. Ausgewertet wurden die Dokumente sämtlicher 44 reformierten, lutherischen und unierten (Landes-)Kirchen Deutschlands, der Deutschschweiz und Österreichs. Sie umfassen insgesamt 53 Texte aus den Jahren von 2000 bis 2012. Die Auswertung der Texte erfolgte mit der Grounded Theory, einer der etab43 liertesten Methoden empirischer Sozialforschung .
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So Sabine Bobert-Stützel, die darauf verweist, dass Bonhoeffer auffallend häufig Ausdrücke wie „Übungen“, „Lernen“ oder „Zucht“ verwendet. Vgl. Sabine Bobert-Stützel, Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, Gütersloh 1995, S. 132f. Die Frage nach Übereinstimmungen und Unterschieden der Finkenwalder Kommunität mit einem klösterlichen Leben diskutiert differenziert Sabine Bobert-Stützel, Pastoraltheologie (wie Anm. 39), S. 114f. 128–131; siehe auch Karl Pinggera, Kommunitäres Leben als Herausforderung für die Kirche: Basilius der Große und Dietrich Bonhoeffer, US 57, 2002, S. 246–256. Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel, DBW 5, Gütersloh 1987, S. 15. Dietrich Bonhoeffer, Briefe und Texte von Dietrich Bonhoeffer und seinen Predigerseminaristen 1935–1946, DBW 14, Gütersloh 2012, S. 77. Verwendet wurde die von Anselm Strauss und Juliet Corbin weiterentwickelte Variante der Grounded Theory, wie sie beschrieben ist in Anselm L. Strauss/Juliet Corbin, Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, aus dem Amerikanischen v. Solveigh Niewarra/Heiner Legewie, Weinheim 1996.
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2.1 Funktionale Perspektive: „Spirituelle Kompetenz“ Zunächst ist festzuhalten: Sämtliche Ausbildungsstandards erwähnen Spiritualität44. Sie sprechen die persönliche Spiritualität von Vikarinnen und Vikaren an, nennen Kompetenzen im Bereich der Spiritualität als Desiderate der Ausbildung oder beschreiben Spiritualitätskurse. Die Texte tun das allerdings in sehr unterschiedlichem Umfang. Das Spektrum reicht von knappen Erwähnungen wie „zur theologischen Kompetenz gehört geistliche Existenz“ (in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg)45 bis zu ausführlichen mehrseitigen Texten zu „spiritueller Kompetenz“ (in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern)46. Bemerkenswert ist jedoch vor allem, wie die Ausbildungsstandards Spiritualität thematisieren. Die Texte nennen Spiritualität durchgängig im Zusammenhang mit Kompetenzen oder Fähigkeiten – also im weitesten Sinn mit „Können“. Dies zeigt sich zunächst lexikalisch. Spiritualität wird mit einer Vielzahl von Wörtern aus dem lexikalischen Feld „können“ verbunden („können“, „Fähigkeit“, „fähig sein“, „Kompetenz“, „in der Lage sein“, „vermögen“, „gelingen“, „sich ausweisen“). Vikarinnen und Vikare sollen die eigene spirituelle Grundhaltung vermitteln oder andere in geistlichen Bildungsprozessen anleiten können. Sie sollen sprachfähig oder auskunftsfähig in Bezug auf die eigene Spiritualität sein. Sie sollen in der Lage sein, die Sozial- und Frömmigkeitsstruktur einer Kirchengemeinde zu gestalten. Sie sollen sich über Geschichte und Formen von Spiritualität ausweisen können und Menschen auf einem spirituellen Weg zu begleiten vermögen. Terminologisch kann diese Verbindung von Spiritualität und Können mit dem Begriff „spirituelle Kompetenz“ zum Ausdruck gebracht werden. So entwickelte die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern eine kirchliche Begleitung Theologiestudierender mit dem Ziel „die Entwicklung der für den Pfarrberuf benötigten theologischen, spirituellen, kybernetischen und kommunika-
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Mit der Pommerschen Evangelischen Kirche, die 2012 in der Nordkirche aufging, gibt es dazu eine einzige Ausnahme, die dadurch begründet ist, dass diese Texte sich auf zwei formale Prüfungsordnungen begrenzten. Vgl. Pommern: Ordnung für die Erste Theologische Prüfung 2005, Ordnung für die Zweite Theologische Prüfung 2003. Verordnung des Oberkirchenrates über die Ausbildung im Vorbereitungsdienst, Studienordnung von 2011. Siehe dazu insbesondere das Konzept „Kirchliche Studienbegleitung“ der Evangelisch-lutherischen Kirche Bayern: Broschüren KSB 2008–2012, Konzept KSB 2007 sowie Verordnung KSB 2007.
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tiven Kompetenz zu fördern“47. Spiritualität kann jedoch auch als „Fähigkeit“ verhandelt werden, etwa, wenn die „Fähigkeit und Bereitschaft zur Klärung, Entfaltung und Pflege einer eigenen Spiritualität und zur Kenntnis und Würdigung anderer Formen von Spiritualität“48 als grundlegende „Fähigkeit“ für den Pfarrberuf genannt werden. Obgleich die Terminologie der Ausbildungsrichtlinien zwischen „Kompetenz“ und „Fähigkeit“ variiert, werde ich im Folgenden den Theoriebegriff „spirituelle Kompetenz“ als Oberbegriff verwenden, um ein wesentliches Analyseergebnis in der Sache auf den Begriff zu bringen49. Das Anliegen der Texte sind die Anforderungen des Pfarrberufs im Bereich der Spiritualität, zum Beispiel: die Fragen: Welcher Kompetenzen bedarf es, um Menschen auf ihrem je individuellen spirituellen Weg begleiten zu können? Welche Fähigkeiten, welches Sachwissen braucht eine Pfarrerin, ein Pfarrer in einer Gemeinde, deren spirituelles Profil sich von der eigenen Spiritualität unterscheidet? Das heißt in der Umkehrung: Weil die Texte spirituelle Fähigkeiten als berufsqualifizierend voraussetzen, deshalb – und wohl nur deshalb – erwähnen sie Spiritualität. Damit kommt Spiritualität in den Texten in einer spezifischen Perspektive zur Sprache: in ihrer Funktion für die Berufsaufgabe. Die Texte sprechen Sachwissen über Spiritualität, aber auch das individuelle geistliche Leben an, weil diese – das ist vorausgesetzt – relevant sind, um die Berufsaufgabe gelingend erfüllen zu können. Diese funktionale Perspektive entspricht dem Kontext Ausbildung und ist insofern stimmig. Zugleich tut sich mit der funktionalen Fokussierung von Spiritualität jedoch insbesondere dort, wo es um das persönliche spirituelle Leben von Vikarinnen und Vikaren geht, eine Spannung auf. Diese Spannung ist in manchen Ausbildungsrichtlinien zu greifen und zeichnet sich in Ambivalenzen ab. Zwar thematisieren einige Texte Spiritualität im Kontext von Kompetenzen, vermeiden es jedoch, Spiritualität explizit als „Kompetenz“ oder „Fähigkeit“ zu bezeichnen. So präzisieren die Ausbildungsstan47
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Den Ausdruck „spirituelle Kompetenz“ verwendete erstmals das 2002 formulierte „Konkordat betreffend der gemeinsamen Ausbildung der evangelisch-reformierten Pfarrerinnen und Pfarrer“ der Schweizer Konkordatskirche. Der Terminus wurde in Deutschland am umfassendsten in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern rezipiert und schließlich auch von der Evangelischen Kirche Österreichs übernommen. So die Kurhessen-Waldeck, Predigerseminar o.J.; Baden: Ausbildungsplan 2005. Dies entspricht der breit rezipierten Definition von Franz Weinert, wonach Kompetenzen Fähigkeiten und Fertigkeiten umfassen. Vgl. Franz Weinert, Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: Ders. (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen, erstellt im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister in der 2 Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz), Weinheim/Basel 2002, S. (17– 31) 27f.
Funktionale Spiritualität
131
dards der Gemischten Kommission der Evangelischen Kirche in Deutschland mehrere „Teilkompetenzen“ der Leitkategorie theologisch-pastorale Kompetenz. Während alle übrigen Teilkompetenzen als „Fähigkeiten“ benannt werden, wird dies für die Teilkompetenz „Entwicklung einer persönlichen Praxis des Glaubens“ vermieden. Damit bleibt die Zuordnung oder Nicht-Zuordnung von Spiritualität zu Kompetenzen in einer eigentümlichen Schwebe50. Wenn die Studie zu dem Ergebnis kommt, dass die kirchlichen Ausbildungsstandards Spiritualität als „spirituelle Kompetenz“ thematisieren, ist jedoch zu fragen, ob dieses Analyseergebnis nicht vorhersehbar ist. Schließlich handelt es sich bei den Dokumenten um Texte, welche die Ausbildung zum Pfarrberuf orientieren. Ist es in diesem Kontext nicht zu erwarten, dass Spiritualität im Zusammenhang mit Kompetenzen, Fähigkeiten und Berufsqualifizierung verhandelt wird? Zwar gibt es in der Geschichte der theologischen Ausbildung keine entsprechende Fokussierung von Spiritualität. Das mag jedoch mit dem jeweiligen historischen Kontext zusammenhängen. Weder Luthers vormoderne Lebenswelt noch die Situation des Kirchenkampfes, von denen Bonhoeffers Vorschläge zum geistlichen Leben nicht zu abstrahieren sind, sind mit den Anforderungen eines modernen Berufsalltags vergleichbar. Erhellend ist in diesem Zusammenhang jedoch der Vergleich mit Spiritualität in der Ausbildung der Ökumene. Der Vergleich zeigt: Weder Texte zur römisch-katholischen Priesterbildung noch zur Ausbildung anglikanischer, aber auch amerikanisch-lutherischer Pfarrerinnen und Pfarrer verhandeln Spiritualität als „Kompetenz“ oder „Fähigkeit“. Die Standards der Ökumene thematisieren Spiritualität nicht als „spirituelle Kompetenz“, sondern stattdessen als „spirituelle Bildung“ („formatio spiritualis“/„spiritual formation“). Die katholische Priesterbildung versteht „spirituelle Bildung“ in einem ontologischexistentiellen Sinn. Sie ist im Grunde nicht „Aus-bildung im wörtlichen Sinn, sondern … das Einüben einer Existenzweise, aus der heraus dann und nur dann 51 auch ein Dienst übernommen werden kann.“ Auch die anglikanischen und amerikanisch-lutherischen Dokumente thematisieren trotz des Kontexts Ausbildung Spiritualität nicht im Zusammenhang mit Kompetenzen oder berufsqualifizierenden Fähigkeiten. Im Gegenteil: Die anglikanische Church of England versteht spiritual formation geradezu als kritische Anfrage an die – wenn auch nicht prinzipiell abgelehnte – Orientierung der pastoralen Ausbildung an 50 51
EKD: Standards 2009. Markus Nicolay, Zeitgerechte Priesterbildung. Berufsbiographische Analysen. Systematische Vergewisserungen. Pastoral-theologische Perspektiven, Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik, Bd. 30, Berlin/Münster 2007, S. 261.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
Kompetenzen. Dies findet einen Widerhall in den amerikanisch-lutherischen Texten, die Spiritualität eng auf die Rechtfertigung sola gratia beziehen. Vor dem Hintergrund dieses Außenvergleichs kann daher festgehalten werden: Wenn evangelische Ausbildungstexte Spiritualität in die Perspektive von Kompetenzen und Fähigkeiten einordnen, liegt dies nicht (nur) am Kontext Ausbildung. Die evangelischen Standards haben vielmehr weiterreichende Gründe, Spiritualität als „spirituelle Kompetenz“ zu verhandeln. Sie sind von einem funktionalen Verständnis von Spiritualität geprägt, das sich markant von den Entwürfen der Ökumene unterscheidet. Die funktionale Fokussierung von Spiritualität ist ein Charakteristikum der evangelischen Ausbildung im deutschsprachigen Raum. 2.2 Theoriebildung: „Theologische Autoritäten“ Mit der aktuellen Integration von Spiritualität in die theologische Ausbildung geht die kirchliche Praxis der theologischen Theoriebildung voran. Die Formulierung „spiritueller Kompetenz“ als Berufsqualifizierung hat ihren Sitz im Leben nicht in der akademischen Theologie, sondern in der kirchlichen Ausbildungspraxis. Ansätze zur theologischen Bearbeitung fehlen bisher weitgehend und kommen in den gegenwärtigen Richtlinien nicht vor. Es findet sich in den Dokumenten jedoch etwas Anderes: Immer wieder beziehen sich die Ausbildungsstandards im Zusammenhang mit Spiritualität auf „evangelische Autoritäten“ wie Martin Luther oder Dietrich Bonhoeffer. Sie evozieren damit die 52 theologischen Traditionen, für die diese „Autoritäten“ stehen . So findet sich in den Texten der Rekurs auf die Theologie und Person Martin Luthers. Luther wird sowohl indirekt als auch im Wortlaut zitiert. Dazu gehören die berühmten Zitate „Sola autem experientia facit theologum“53 und „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden“54. Daneben verweisen Texte im Kontext der Predigerseminare auf Dietrich Bonhoeffer als Gewährsmann für spirituelles Leben. Der Rekurs auf Bonhoeffer er52
53 54
Im Prinzip kennen evangelischer Glauben und evangelische Theologie keine autoritativen Persönlichkeiten mit normativer Bedeutung – im Gegenteil. Faktisch jedoch erfolgt – etwa in kirchlichen Diskussionen – der Verweis auf Autoritäten wie Luther, Zwingli oder Bonhoeffer häufig mit dem Ziel, die theologischen Überzeugungen, Werte und Plausibilitätsstrukturen, die in einer kirchlichen Gemeinschaft gelten, zu evozieren. In diesem Sinn haben Verweise auf „evangelische Autoritäten“ normatives Gewicht. Tischrede Nr. 46 (1531), in: WA.TR 1, S. 16,13. Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind (1521), in: WA 7, S. 336,31–36.
Funktionale Spiritualität
133
folgt vor allem durch charakteristische Wendungen wie „geistliche Lebensgemeinschaft“, „Einführung in geistliches Leben“ oder „Erfahrung eines geistlichen Lebensrhythmus“, in denen Bonhoeffers Ideal vom gemeinsamen Leben anklingt, wie er es in Finkenwalde praktizierte. Interessanterweise beziehen sich im Zusammenhang mit spirituellen Fähigkeiten mehrere Texte aber auch auf Karl Barth. Sie rekurrieren zwar nicht explizit auf die Person und Theologie Barths, verwenden jedoch den von ihm geprägten Begriff „theologische Existenz“. Wie kommt es, dass Ausbildungstexte im Zusammenhang mit Kompetenzen oder Fähigkeiten im Bereich der Spiritualität Luther, Bonhoeffer oder Barth nennen? Keiner dieser drei Theologen ist geeignet, eine funktionale Perspektive von Spiritualität zu stützen, da es ihnen jeweils primär um Existentielles, nicht um Funktionales geht – um eine christliche Grunderfahrung (Luther), um das gemeinsame geistliche Leben (Bonhoeffer) oder eben um die theologische Existenz (Barth). Der Grund, warum die Texte sich dennoch auf Luther, auf Bonhoeffer oder auf Barth beziehen, dürfte ein anderer sein. Alle drei Theologen sind Autoritäten, die für das Selbstverständnis der einzelnen Kirchen von Bedeutung sind. Dem entspricht, dass sich lutherische Kirche vor allem auf Luther beziehen, reformierte Kirchen auf Karl Barth verweisen und die Predigerseminare im Osten Deutschlands, für die das Finkenwalder Modell nach wie vor prägend ist, Bonhoeffers charakteristische Formulierungen verwenden. Von besonderem Interesse ist jedoch, welche Theologen die Ausbildungsdokumente nicht nennen, wenn sie Spiritualität verhandeln. Insbesondere zwei Leerstellen sind aufschlussreich. Zum einen bezieht sich kein einziger Text auf Friedrich Schleiermacher – obwohl dies, wie in Abschnitt 6.1 diskutiert, durchaus naheläge. Wenn Schleiermacher sein Theologieverständnis funktional von der Aufgabe der Kirchenleitung ausgehend entfaltet als „Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren 55 Anwendung ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist“ , kann heute 56 entsprechend von Kompetenzen gesprochen werden . Eine ähnliche Leerstelle ist für den Pietismus zu verzeichnen. Es sind die von ihm wahrgenommenen Anforderungen des Pfarrberufs, die Philipp Jacob Spener veranlassten, in seiner programmatischen Schrift Pia desideria die Stärkung der praxis pieta55 56
KD § 5. Vgl. dazu Reiner Anselm/Jan Hermelink, Vom Segen der Differenz. Der Bologna-Prozess klärt die spezifische Struktur kirchlicher Berufstätigkeit, in: PrTh 38, 2003, S. (117–123) 122.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
tis in der Ausbildung zu fordern. Wenn Ausbildungstexte heute Spiritualität von der Berufsaufgabe her thematisieren, wäre daher in der Sache der Pietismus durchaus eine plausible Bezugsgröße. Wie kommt es zu diesen beiden Leerstellen? Wird Schleiermacher nicht erwähnt, weil er für das Selbstverständnis der Kirchen nicht dieselbe Autorität hat wie Luther oder Barth? Sind es kirchenpolitische oder strategische Überlegungen, die es angeraten sein lassen, die neue Aufmerksamkeit auf Spiritualität nicht mit dem Pietismus in Verbindung zu bringen? Die Gründe dazu sind den Texten nicht zu entnehmen 57 und lassen sich nur vermuten . 2.3 Spiritualitätskurse Spiritualität wird nicht nur als Ausbildungsdesiderat formuliert, sondern in jüngster Zeit in den meisten Kirchen des deutschen Sprachraums auch in speziellen Kursen und/oder Kurseinheiten gefördert. Drei verschiedene Modelle finden sich gegenwärtig. Am weitesten verbreitet sind „spirituelle Intensivzeiten“. Die Ausbildungstexte selbst sprechen von „Tagen der Spiritualität“, „Wochen der Spiritualität“ oder „Wüstentagen“. Diese finden außerhalb des regulären Alltags und meist an besonderen Orten statt, vor allem in evangelischen Kommunitäten und in Klöstern. Studierende oder Vikarinnen und Vikare begegnen dort individuell oder als Gruppe oft spirituellen Methoden, die ihnen wenig vertraut sind. Sie nehmen an Tageszeitengebeten teil, fasten, pilgern oder malen Ikonen. Bisweilen schließen sich an spirituellen Intensivzeiten reflektierende Auswertungstage an. Daneben haben mittlerweile mehrere Kirchen geistliche Begleitung als Angebot im Vikariat und zum Teil bereits im Theologiestudium etabliert. Geistliche Begleitung, die im deutschsprachigen evangelischen Raum erst in jüngerer Zeit rezipiert wurde, ist im Unterschied zu spirituellen Intensivzeiten gerade nicht an besondere Zeiten oder besondere Orte gebunden. Sie versteht sich im Gegenteil als Hilfe, im Alltag Spiritualität zu leben, und leitet dazu an, das 58 Alltägliche und Gewöhnliche religiös zu deuten . Im Vikariat wird geistliche
57
58
Dazu eine Randbemerkung: Gerade in den Texten der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, die von Konflikten zwischen pietistischen und liberalen Strömungen geprägt ist, begrenzt sich die Erwähnung von Spiritualität auf die knappe Aussage zur theologischen Kompetenz gehöre geistliche Existenz, vgl. Württemberg, Vorbereitungsdienst 2011. Zum Selbstverständnis geistlicher Begleitung vgl. u.a. Ralf Stolina, Lebens-Gespräch mit Gott. Zur theologischen Grundlegung geistlicher Begleitung, in: PTh 99, 2010, S. 288–305; Claudia Kohli Reichenbach, Umgekehrte Vorzeichen in der geistlichen Begleitung, in: PTh
Funktionale Spiritualität
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Begleitung als ein geschützter Raum angeboten, um mit Personen, die nicht in die Ausbildung involviert sind, die persönliche Glaubens- und Lebenspraxis zu reflektieren. Geistliche Begleitung wird seitens der Kirchen gefördert, indem Listen mit Begleiterinnen und Begleitern sowie finanzielle Zuschüsse zur Verfügung gestellt werden. Schließlich, wenn auch seltener, gibt es gegenwärtig im Kontext der Ausbildungskurse im Predigerseminar Spiritualitäts-Module. Diese sind meist Teil eines thematisch passenden Kurses (zum Beispiel des Gottesdienst- oder Pastorallehrekurses) und werden oft von den regulären Studienleiterinnen und Studienleitern geleitet. Spiritualitäts-Module werden als einzelne Kurseinheiten oder Kurstage unterrichtet und erstrecken sich bisweilen in mehreren Teilmodulen über das ganze Vikariat. Sie umfassen weniger das individuelle spirituelle Üben, sondern vor allem diskursive Inhalte: das Kennenlernen spiritueller Methoden und die Reflexion über diese, die Vermittlung spiritueller Methoden, wie sie im Religionsunterricht einsetzbar sind, oder religionssoziologische Themen. Die verschiedenen Spiritualitätskurse geben Anlass zu fragen: Welchen Strömungen gelebter Spiritualität begegnen die Teilnehmerinnen und Teilnehmern in solchen Kursen? Welche spirituellen Methoden werden praktiziert? Aber auch: Welche geistlichen Strömungen kommen in den aktuellen Spiritualitätskursen nicht vor? Festzuhalten ist, dass monastische beziehungsweise kommunitäre Spiritualität mit deutlichem Schwerpunkt vertreten ist. Das spiegelt sich wider in den Kursorten (meist Kommunitäten oder Klöstern), in der Leitung der Kurse (oft Mitglieder der Kommunität vor Ort) und in den spirituellen Methoden, die vielfach aus der monastischen Tradition kommen (wie Retraiten oder Einkehrtage). Der monastische Schwerpunkt mag nicht zuletzt dadurch begründet sein, dass hier ein breites Angebot an Orten und Kursangeboten besteht, das genutzt werden kann. Dagegen gibt es keinen einzigen Spiritualitätskurs, in dem ausschließlich traditionelle Formen evangelischer Frömmigkeit vorkommen (persönliche Bibellese, persönliches Gebet, Feier von Gottesdienst und Abendmahl). Die spirituellen Methoden der Kurse sind vielmehr häufig aus der Ökumene übernommen, vor allem aus der römisch-katholischen Tradition, aber auch aus der anglikanischen Kirche und der Ostkirche (wie ignatianische Exerzitien, Herzensgebet, Ikonenmalerei oder Pilgern). Verbreitet sind außerdem Formen, die im evangelischen Raum erst in jüngerer Zeit wiederentdeckt wurden (wie geistliche Begleitung). 99, 2010, S. 316–327 sowie Dorothea Greiner u.a. (Hrsg.), Wenn die Seele zu atmen beginnt … Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive, Leipzig 2007.
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Spiritualität und theologische Ausbildung
Diese aus der Ökumene übernommenen oder wiederentdeckten Methoden haben im evangelischen Raum häufig den Hauch des Innovativen oder Exotischen. Dies gilt auch für den Umgang mit der Bibel. Die Kurse nähern sich der Bibel vor allem über Zugänge, die nicht zum traditionellen evangelischen Repertoire zählen, etwa über die ignatianische Schriftmeditation oder durch den Bibliolog. Die Spiritualitätskurse fokussieren damit insbesondere auf das Erleben von Neuem. Wie bereits bei der Untersuchung der „theologischen Autoritäten“ sind auch hier die Leerstellen besonders interessant. So ist evangelikale oder charismatische Spiritualität nicht vertreten. Da ähnlich wie im monastischen Bereich hier ein breit gefächertes spirituelles Angebot besteht, dürfte sich in diesem Fehlen eine bewusste Entscheidung widerspiegeln. Außerdem findet sich unter den aktuellen Kursen weder explizit politische noch feministische Spiritualität. Ebenso wenig gibt es Kurse, die durch außerchristliche Traditionen (wie etwa Zen-Buddhismus) oder religiös ungebundene Spiritualität geprägt sind. 3
Spiritualität im Spannungsfeld von Funktionalität und Zweckfreiheit
Spiritualität ist in der evangelischen Ausbildung zum Pfarrberuf ein Anliegen, das in seiner heutigen Form erst seit der Jahrtausendwende aufgekommen ist59. Was könnte man erwarten, wenn evangelische Kirchen Spiritualität als neues Ausbildungsdesiderat entdecken und innerhalb kurzer Zeit Konzepte dafür entwickeln? Denkbar wäre, dass sie an ihre Tradition anknüpfen, in der Spiritualität von Luther über den Pietismus bis zu Bonhoeffer als Anliegen für die Ausbildung immer wieder auftauchte. Vorstellbar wäre auch, dass die Kirchen Anleihen bei der Ökumene machen und Modelle der katholischen, anglikanischen oder evangelischen Kirchen weltweit übernehmen. Das überraschende Ergebnis der Analyse ist jedoch: In Bezug auf die Konzeptualisierung des neuen Ausbildungsziels ist weder das eine noch das andere der Fall. Zwar wird gelegentlich die evangelische Theologiegeschichte evoziert, um das neue Anliegen in der eigenen Tradition zu verankern. Zwar werden in den aktuellen Spiritualitätskursen spirituelle Methoden aus der Ökumene übernommen. Der konzeptionelle Zugang, wie Spiritualität als Ausbildungsdesiderat thematisiert wird, ist jedoch genuin neu. Er setzt bei der Berufsaufgabe an und fragt von dort ausgehend nach den Kompetenzen und Fähigkeiten im Be59
Der exemplarische Vergleich mit Vorgängertexten zeigt, dass Spiritualität noch in den Richtlinien unmittelbar vor der jüngsten Revision zum Teil nicht erwähnt wird.
Funktionale Spiritualität
137
reich der Spiritualität, die Pfarrerinnen und Pfarrer für die gelingende Erfüllung der pastoralen Aufgabe benötigen. Spiritualität wird damit in ihrer Funktion für die Berufsaufgabe thematisiert. Wie kommt es, dass das Konzept „spirituelle Kompetenz“ sich in den evangelischen Standards innerhalb weniger Jahre auf so breiter Basis etablieren konnte? Mehrere Faktoren sind dafür maßgebend: Erstens wird das Anliegen einer spirituellen Dimension in der Ausbildung durch die Begriffe „Spiritualität“ und „Kompetenz“ in zeitgemäßer Terminologie zur Sprache gebracht. Nicht nur Spiritualität ist en vogue, sondern auch der Kompetenzbegriff hat in den vergangenen Jahren im Bildungsdiskurs und darüber hinaus an Populari60 tät gewonnen . Es ist kaum vorstellbar, dass Termini wie „praxis pietatis“, „geistliches Leben“ oder gar „geistliche Formung“61 vergleichbaren Erfolg gehabt hätten. Zweitens stellt Spiritualität durch die Verbindung mit dem „harten“ Kompetenzbegriff Professionalität nicht in Frage. „Spirituelle Kompetenz“ betont vielmehr die Professionalität von Pfarrerinnen und Pfarrern und spezifiziert sie für den Bereich der Spiritualität. Drittens entspricht die Verbindung von „Spiritualität“ und „Kompetenz“ der funktionalen Bestimmung des evangelischen Pfarrberufs, über die in der pastoraltheologischen Diskussion weitgehender Konsens besteht. Die Verbindung von Spiritualität mit dem Kompetenzbegriff birgt jedoch 62 erhebliche Spannungen . Der Begriff „spirituelle Kompetenz“ ist geeignet Kontroversen auszulösen und wird bisweilen als theologisch problematisch zurückgewiesen. Aber nicht erst mit dem Begriff, sondern bereits mit dem Konzept „spirituelle Kompetenz“ tut sich ein Spannungsfeld auf. Denn Spiritualität kann in theologischen Diskursen geradezu als Gegenentwurf zu Funktionalität verstanden werden. So entwickelt Christian Möller Spiritualität vor dem dunklen Hintergrund einer funktional verwalteten und zielorientiert verplanten Welt: „Es gibt Begriffe, die einem Stern gleichen, der am Horizont aufgeht und heller und heller zu leuchten beginnt. ‚Spiritualität‘ scheint mir gegenwärtig so ein Begriff zu sein. Je dunkler eine funktional verwaltete und zielorientiert verplante Welt wird, desto heller leuchtet das Hoffnungswort ‚Spiritualität‘. Es
60
61 62
Siehe dazu u.a. Anne Müller-Ruckwitt, „Kompetenz“ – Bildungstheoretische Untersuchungen zu einem aktuellen Begriff, Bibliotheca academia, Reihe Pädagogik, Bd. 6, Würzburg 2008. So Manfred Seitz, Beruf (wie Anm. 2), S. 218–226. Dazu ausführlicher Sabine Hermisson, Kompetenz (wie Anm. 1)
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Spiritualität und theologische Ausbildung weckt Sehnsucht nach einer Welt, die sich funktional nicht in den Griff kriegen 63 lässt, weil sie zwecklos ist und gerade deshalb das Leben lebenswert macht.“
Das Wesen von Spiritualität ist gerade ihre Zweckfreiheit. Spiritualität ist „zwecklos“, sie hat kein „Damit“. Sie orientiert sich nicht an Zielen und ist nicht auf Effizienz und Funktionieren ausgerichtet. Ist Spiritualität jedoch ein Kontrapunkt zu Funktionalität, kann dies auch in der Ausbildung zum Pfarrberuf nicht unbeachtet bleiben. Das Spannungsfeld von Funktionalität und Zweckfreiheit, welches das Konzept „spirituelle Kompetenz“ in sich trägt, wird in der Ausbildungspraxis sensibel zu berücksichtigen und in der theologischen Auseinandersetzung mit den aktuellen Impulsen zu reflektieren sein.
63
Christian Möller, Das Kloster im Alltag. Reformatorische Spiritualität als Leidenschaft für das Alltägliche, in: Ralph Kunz/Claudia Kohli Reichenbach (Hrsg.), Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Praktische Theologie im reformierten Kontext, Bd. 4, Zürich 2012, S. (73–80) 73.
Spiritualität in neutestamentlicher Perspektive Michael Schröder
Multidimensional gelebter Glaube aus der Kraft des Heiligen Geistes Eine Bibelarbeit zu Galaterbrief 5,25–6,10 1 1
Vorbemerkungen zur Spiritualität
1.1 Aufkommen des Begriffes Spiritualität im Kontext der Freien evangelischen Gemeinden Im Folgenden soll das Aufkommen des Begriffes der „Spiritualität“ in meinem Kontext, dem Kontext der Freien evangelischen Gemeinden, aufgezeigt werden. Dabei sollen Unschärfen aber auch durchgängige Aspekte benannt werden, welche diese Bibelarbeit in die Spur setzen sollen. „Spiritualität“ – das klingt für mich noch immer fremd. Das mag mit meiner christlichen Sozialisation zu tun haben, die ja nicht nur ihren spezifischen Ort im Bund Freier evangelischer Gemeinden hatte, sondern auch zu ihrer spezifischen Zeit stattfand. Prägend waren für mich die 1980-er Jahren, als man in meinem Umfeld diesen Begriff noch nicht kannte, oder ihn wegen seiner vermeintlichen „katholischen“ Färbung nicht gebrauchte beziehungsweise ihn sogar ablehnte. Man sprach von Frömmigkeit und von Gehorsam oder vom geistlichen Leben. Zieht man für den Bereich der Freien evangelischen Ge2 meinden die Zeitschrift „Der Gärtner“ bzw. „Christsein Heute“ heran, so zeigt
1
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Die Bibelarbeit wurde am 18. Februar 2014 zum Auftakt der Tagung der Dozentinnen und Dozenten an Theologischen Hochschulen in freikirchlicher Trägerschaft gehalten. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. Die Wochenzeitschrift „Der Gärtner“ erschien zum ersten Mal am 1. Oktober 1893; er hatte von Anfang den Untertitel „Ein Blatt für freie evangelische Gemeinden und Gemeinschaften“. Ab Juni 1992 erschien die Zeitschrift dann unter neuem Namen (Christsein Heute), da „der Name Gärtner wie eine Barriere“ wirke, so der Geschäftsführer des Verlags Erhard Diehl (Erhard Diehl, in: Der Gärtner 17, Nr. 99, 1992, S. 315). Herausgeber blieb aber der
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Spiritualität in neutestamentlicher Perspektive
sich, dass in dem Zeitraum der 1980-er bis zur Mitte der 1990-er Jahre kein Beitrag erschien, der den Begriff Spiritualität im Titel trug3. Es wurde vielmehr von „geistlicher Müdigkeit“4, über Erfahrungen, dass Gott schweigt5, oder darüber, dass ein „Gespräch mit Gott“6 zu suchen sei, gesprochen. All dies wurde aber an keiner Stelle dezidiert als spirituelle Erfahrung beschrieben. Ein deutlicher Wandel trat mit Erscheinen der Zeitschrift „Aufatmen“7 ein, mit der sich der gleiche Verlag an ein breiteres Publikum wandte8. In einem programmatischen Beitrag im ersten Heft fragte der Herausgeber Ulrich Eggers: „Was will Aufatmen?“9 und formulierte die Zielvorstellung für die neue Zeitschrift: „Ein Magazin für Leiter, Macher, Entscheider, Pastoren oder Mitarbeiter genauso wie für Hausfrauen, Väter, Mütter oder andere Stressgefährdete – für alle, die ständig geben und leisten müssen und auf Wiederherstellung ihrer geistlichen Kraft und Autorität angewiesen sind. Der Versuch, eine lebendige Spiritualität [Hervorhebung M.S.] zu entdecken, die unsere Hingabe an Gott 10 und an die Wahrheit der Bibel fördert.“
Im selben Artikel äußerte sich ein Mitglied des Teams11, das beratend hinter dem neuen Magazin stand, Wolfram Kopfermann, zu der Frage, warum er mitarbeite: „ … weil mich das Konzept von AUFATMEN – ein Forum für evangelikale Spiritualität zu sein – überzeugt. Der evangelikalen Bewegung in Deutschland
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9 10 11
Bund Freier evangelischer Gemeinden, sodass die Zeitschrift als das offizielle Organ des Gemeindebundes gelten kann. Die Indices, die teilweise auf private Initiative hin erstellt wurden, weisen für den Zeitraum von 1980–1995 keinen Beitrag aus, der sich mit dem Thema Spiritualität auseinandersetzt. Christsein Heute Heft 38, Nr. 100, 1993, S. 715f. Christsein Heute Heft 47/48, Nr. 101, 1994, S. 632. Der Gärtner 28, Nr. 93, 1986, S. 434f. Die Zeitschrift erscheint seit dem Jahr 1996 bei dem Bundesverlag in Witten. Das Team, das diese neue Zeitschrift verantwortete, bestand aus Mitgliedern verschiedener Kirchen und Frömmigkeitsrichtungen. Verbunden mit dem Wunsch, zukünftig Artikel von Autoren aus verschiedenen Konfessionen und Denominationen zu bringen, soll die Weite des Horizonts betont werden. Maßstab für die Veröffentlichung sei vor allem, Artikel solcher Autoren abzudrucken, „die für sich selbst eine Qualität von Glauben entdeckt haben, die erfüllt und in Bewegung setzt“ (Ulrich Eggers, Was will Aufatmen, in: Aufatmen, Heft 1, 1996, S. 5). Ebd., S. 4‒8. Ebd. Von den 22 Teammitgliedern sind lediglich fünf dem Bund Freier evangelischer Gemeinden zuzuordnen, darunter aber der damalige Präses des Gemeindebundes, Peter Strauch.
Multidimensional gelebter Glaube aus der Kraft des Heiligen Geistes
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fehlte bisher eine Plattform, auf der weder apologetisch noch kontroverstheo12 logisch noch kirchenpolitisch gekämpft wurde.“
Diese wenigen Hinweise verdeutlichen einerseits das große Interesse an der Thematik der persönlich gelebten Frömmigkeit, andererseits zeigt sich, dass an einer inhaltlichen Klärung dessen, was Spiritualität ausmacht, (noch) wenig Interesse bestand, und eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema „Spiritualität“ hat in meiner Tradition, der Tradition der Freien evangelischen Gemeinden, bis heute nicht stattgefunden. Gerade das Schlagwort von einer „evangelikalen Spiritualität“ fordert aber geradezu heraus, eine Verhältnisbestimmung zu einer evangelisch verstandenen Spiritualität vorzunehmen. Dass sich dieser Begriff, trotz einer sich andeutenden Öffnung in freikirchlichen Kreisen und insbesondere in Freien evangelischen Gemeinden immer noch nicht auf breiter Front durchgesetzt hat, zeigen die Diskussionen vor Ort. Besonders ältere Menschen stehen diesem skeptisch gegenüber. Überhaupt scheint mir die Bedeutung des Begriffes Spiritualität recht unklar zu sein. Welche Vorstellungen sind damit verbunden? Was meint man eigentlich genau, wenn man ihn verwendet? Dass dieser Eindruck der Unklarheit nicht allein auf persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen beruht, zeigen einzelne Einträge in den verschiedenen Lexika. Besonders deutlich äußerte sich Ulrich Köpf: „Inzwischen ist Spiritualität auch im Protestantismus geradezu ein Modewort geworden, dass umso hemmungsloser gebraucht wird, je weniger man auf den Sinn seines Gebrauchs reflektiert. Im Übrigen wird der im Christentum entstandene Begriff heute auch selbstverständlich auf nichtchristliche Religionen 13 angewandt …“
Spiritualität scheint also ein „Containerbegriff“ geworden zu sein, mit dem sehr unterschiedliche Auffassungen verbunden werden, ohne dass ein gemeinsamer Nenner zu erkennen ist. Diese Unbestimmtheit ließe sich vielleicht noch aushalten, wenn man wenigstens auf eine allgemein anerkannte Begriffsdefinition zurückgreifen könnte. Aber sie lässt sich nicht finden. In dem erwähnten Artikel schreibt Köpf weiter:
12 13
Ebd. 4 Ulrich Köpf, Art. Spiritualität I Zum Begriff, RGG , Bd. 7, Tübingen 2004, S. (1589–1591) 1590.
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Spiritualität in neutestamentlicher Perspektive „Eine allgemein oder auch nur mehrheitlich anerkannte Definition von Spiritualität gibt es nicht. Die Bedeutungsvielfalt des Begriffs reicht von einem sehr weiten Verständnis (etwa im Sinne von religiöser Einstellung, Mentalität, Religiosität o.ä.) oder einer bloßen Aufzählung von Aspekten (z.B. ‚das weite Feld … , das sowohl Mystik, Meditation, Kontemplation und überhaupt christliche Erfahrung wie auch deren theoretische Fassung und rituelle Praxis umfasst‘ [Josef Sudbrack, Einführung, in: Geschichte der christlichen Spiritualität, Bd. 1, Würzburg 1993, S. 11] bis zu sehr speziellen, inhaltlich (besonders 14 durch Herleitung vom Begriff ‚Geist‘ [spiritus]) gefüllten Auffassungen.“
Spiritualität wird also in unterschiedlichen Kontexten verwendet und mit unterschiedlichen Vorstellungen belegt, ohne dass man diese dann mit einer allgemein anerkannten Definition in Beziehung setzen könnte. Erschwerend mag an dieser Stelle noch hinzukommen, dass der Begriff Spiritualität erst im 20. Jahrhundert in den Vordergrund trat, was für den Bereich des Protestantismus erst für die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts gilt. Bei aller Unschärfe dieses Begriffes ist, gerade wenn wir nach einer Anbindung an das biblische beziehungsweise neutestamentliche Zeugnis fragen, die Geisterfahrung des Einzelnen und einer Gemeinschaft grundlegend und somit ein verbindendes Glied unterschiedlicher Auffassungen von Spiritualität. Derjenige, der an Christus glaubt, hat nicht nur die Erfahrung gemacht, sondern kann sich von Gottes Wort zusprechen lassen, den Heiligen Geist empfangen zu haben. Mit dem Geistempfang verbunden ist die Aufgabe, dem Christusglauben konkrete Gestalt zu verleihen. Der Geistempfang und die gestaltete Nachfolge Christi sind die beiden Momente, die vielen Anschauungen von Spiritualität zugrunde liegen. Im Blick auf die paulinische Spiritualität weist Samuel Vollenweider auf die Bedeutung von Gal 5,25 hin, der „die doppelte Funktion [Hervorhebung 15 im Original] des Geistes in der paulinischen Ethik“ illustriere. Es ist gerade dieser Abschnitt, der in grundlegender Weise den Geistempfang und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Gestaltung des Lebens thematisiert. Daher soll dieser Vers in seinem Kontext Gal 5,25–6,10 in der Bibelarbeit ausgelegt werden.
14 15
Ebd. Samuel Vollenweider, Paulinische Spiritualität, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hrsg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, S. (422–425) 425.
Multidimensional gelebter Glaube aus der Kraft des Heiligen Geistes
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1.2 Entdeckungen auf dem Wege Corinna Dahlgrün hat sich vor einigen Jahren eingehend mit dem Thema der Spiritualität auseinandergesetzt16. Ich möchte einige ihrer Ergebnisse einbinden, da sie helfen den Begriff der Spiritualität greifbarer zu machen. Darüber hinaus lassen sie sich im Folgenden auch mit dem Bibeltext ins Gespräch bringen. Dahlgrün verzichtet dabei zunächst auf eine Begriffsklärung. Sie beginnt mit einer „phänomenologischen Annäherung“, in der sie die Vielgestaltigkeit der Erscheinungsformen beschreibt und anschließend systematisiert. Unter dem Titel „Gott suchen“ erkennt sie sechs unterschiedliche Formen dieser Gottessuche. Diese Formen sind: 1. Gott suchen in der Einsamkeit, 2. Gott suchen im anderen, 3. Gott suchen in der Gemeinschaft, 4. Gott suchen in mir selbst, 5. Gott vergebens suchen und 6. Gott suchen im Alltag. Zu jeder dieser Kategorien werden bekannte und herausragende Vertreter genannt und gegebenenfalls mit ihrem literarischen Hauptwerk vorgestellt. Neben Personen aus der Neuzeit werden auch solche aus dem antiken Christentum und dem Mittelalter erwähnt. Einen Hinweis möchte ich herausgreifen, da dieser auch meine Freikirche, den Bund Freier evangelischer Gemeinden, am Rande berührt. Unter der Rubrik „Gott suchen in mir selbst“ wird der auch in den Freien evangelischen Gemeinden geschätzte Gerhard Tersteegen (1697‒ 1769) erwähnt. Es lassen sich Berührungspunkte zwischen ihm und Hermann 17 Heinrich Grafe (1818‒1869) , dem Mitbegründer der ersten deutschen Freien evangelischen Gemeinde in 185418 ausmachen. Gerade in seinen späteren Texten äußert er sich wertschätzend über Tersteegen und sein Werk. Auch heute ist er für viele ein Vorbild evangelischer Frömmigkeit. 16 17
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Corinna Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort v. Ludwig Mödl, Berlin/New York 2009. Zur Mystik Hermann Heinrich Grafes wurde an der Theologischen Hochschule Ewersbach im Sommersemester 2015 von Moritz Groos eine Masterarbeit (unveröffentlicht) angefertigt. Er untersucht u.a. den Einfluss von Tersteegen auf Grafe und verifiziert ihn. Zur Person von Hermann Heinrich Grafe siehe jetzt: Hartmut Weyel, Hermann Heinrich Grafe (1818– 1869), in: Ders., Zukunft braucht Herkunft. Lebendige Portraits aus der Geschichte und Vorgeschichte Freier evangelischer Gemeinden, Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden 5.5/1, Witten 2009 = ²2014, S. 145–181; Wolfgang E. Heinrichs, Freikirchen eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal, TVGMS 346, Gießen ²1990. Zur Geschichte der Freien evangelischen Gemeinde siehe jetzt: Hartmut Weyel, Evangelisch und frei. Geschichte des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland, Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden 5.6, Witten 2013; noch immer grundlegend ist: Wolfgang E. Heinrichs, Freikirchen (wie Anm. 17).
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Spiritualität in neutestamentlicher Perspektive
In der Untersuchung von Dahlgrün findet das Lied „Gott ist gegenwärtig“ besondere Beachtung, das wie kaum ein anderes für eine evangelische Mystik steht. Dieses Lied ist in allen Gesangbüchern abgedruckt, welche die Freien evangelischen Gemeinden in den letzten 60–70 Jahren geprägt haben, angefangen im jüngsten Liederbuch „Feiern und Loben“19, über die „Gemeindelieder“20, welches gemeinsam mit dem Bund Evangelisch Freikirchlicher Gemeinden herausgegeben wurde, bis hin zum „Gemeindepsalter“21, welcher eng mit dem Namen Johannes Theophil Giffey (1872‒1948)22 verbunden ist. Allerdings ist es nicht vollständig abgedruckt! Dahlgrün verweist besonders auf die Strophe fünf dieses Liedes, wo in eindrücklicher Weise das Einssein mit Gott beschrieben wird, das bereits in der Strophe „Wir entsagen willig allen Eitelkeiten … “ vorbereitet wird. In der fünften Strophe heißt es: „Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben, Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder: ich senke mich in dich hinunter. Ich in dir, du in mir, lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden.“
Nur, diese Strophe findet sich eben nicht in den genannten Liederbüchern, die für den Bund Freier evangelischer Gemeinden maßgebend waren. In „Feiern und Loben“ werden nur sechs Strophen geboten. Die gerade genannte Strophe und die ursprüngliche Strophe drei („Wir entsagen willig allen Eitelkeiten, aller Erdenlust und Freuden …“) sind in dieser Ausgabe weggefallen. Dieser Befund ist auch für das Gesangbuch „Gemeindelieder“ zu erheben, das in dem Jahr 1978 zum ersten Mal herausgegeben worden ist. In dem „Gemeindepsalter“ 19
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Feiern und Loben – Die Gemeindelieder, hrsg. v. Hänssler Verlag, Bundes Verlag und Oncken Verlag in Zusammenarbeit mit dem Bund Freier evangelischer Gemeinden und dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Holzgerlingen/Kassel 2003. Gemeindelieder, herausgegeben im Auftrag des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden und des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, Wuppertal u.a. 1978. Anonym (Johannes Theophil Giffey unter Mitarbeit von Walther Hermes), Der Gemeindepsalter, Witten 1930. Dieses Gesangbuch blieb für nahezu 50 Jahre in Freien evangelischen Gemeinden in Gebrauch, bis es 1978 von den „Gemeindeliedern“ abgelöst wurde. Zu Giffey siehe: Friedrich Wilhelm Bautz, Art. Giffey, Johannes, in: BBKL, Bd. 2, Hamm 1990, S. 244; Anonym (Wilhelm Wöhrle), (Zum Tode von) Johannes Giffey, in: Der Gärtner 29/30, Nr. 51, 1948, S. 508; Hartmut Weyel, Johannes Theophil Giffey (1872–1948), in: Ders., Zukunft braucht Herkunft. Lebendige Portraits aus der Geschichte und Vorgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden, Bd. 2, Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden 5.5/2, Witten 2010, S. 265–277 (dort auch weitere Hinweise zur Entstehung des „Gemeindepsalters“).
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werden hingegen sieben Strophen geboten, aber es fehlt auch hier die Strophe fünf. Dieses könnte man vielleicht noch erklären, wenn in ähnlich gelagerten Liederbüchern ebenfalls eine solche Streichung vorzufinden wäre. Aber dem ist so nicht. In dem im Jahre 1995 erschienenen Gemeinschaftsliederbuch finden wir dieses Lied mit allen acht angegebenen Strophen23. Aufgrund der engen Beziehungen zur Evangelischen Kirche ist zu vermuten, dass man aus Gründen der Kontinuität an dem Lied keine Kürzungen vorgenommen hat. So ist es auffällig, dass in den neueren Gesangbüchern ein bzw. zwei Strophen von dem sonst so hochgeschätzten Lied ohne weitere Hinweise ausgelassen werden und dieses zur gleichen Zeit in anderen vergleichbaren Werken nicht geschieht. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, darüber nachzudenken, warum man in Freien evangelischen Gemeinden stets diese eine bzw. später die zwei Strophen weggelassen hat. Das lässt sich meines Erachtens nur unzureichend mit dem Tatbestand erklären, dass diese Formulierung für die jeweilige Zeit nicht mehr erklärbar erscheint. Ich vermute an dieser Stelle, dass es vor allem die Vorstellung Tersteegens ist, dass man ganz mit Gott eins werden möchte, dass man sich in Gott hinein versenken möchte, die in den Kreisen Freier evangelischer Gemeinden für Bedenken gesorgt haben könnte. Mit einem weiteren Hinweis aus dem Buch von Dahlgrün soll zu dem Bibel24 text übergeleitet werden. Die Verfasserin fragt in einem Kapitel danach , welche biblischen Begriffe mit dem Wort Spiritualität verbunden werden können, und sie legt dar, dass wir das, was heute mit dem Begriff der Spiritualität verbunden ist, nicht auf einen einzigen biblischen Begriff zurückführen können. Sie nennt und untersucht mit einem Rückgriff auf die Arbeit von Kees Waaijman25 unter anderem die Begriffe Gottesfurcht sowie Heiligkeit Gottes, führt aber auch die Worte Gnade, Erbarmen und Vollkommenheit an26. Daneben gebe es weitere Begriffe, die den biblischen Sprachhorizont überschreiten und als eher „hellenistische“ Begriffe zu bezeichnen sind27. Hier nennt sie unter anderem Frömmigkeit, Kontemplation, Asketik und die Gnosis. Dahlgrün entscheidet sich in ihrem Buch nach diesen Vorüberlegungen dafür, Spiritualität vor allem als einen relationalen Sachverhalt zu begreifen. Der Mensch steht in einer Beziehung zu sich selbst, er lebt in einer Gemeinschaft mit ande23 24 25 26 27
Jesus unsere Freude – Gemeinschaftsliederbuch, hrsg. im Auftrag des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes e.V., Gießen 1995. Corinna Dahlgrün, Spiritualität (wie Anm. 16), S. 101–115. Kees Waaijman, Spirituality. Frames, Foundation, Methods, Studies in Spirituality Supplement, Bd. 8, Leuven u.a. 2002. Corinna Dahlgrün, Spiritualität (wie Anm. 16), S. 101–105. Ebd., S. 105–110.
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Spiritualität in neutestamentlicher Perspektive
ren Menschen und er ist vor allem als ein Geschöpf Gottes mit seinem Schöpfer verbunden. Darüber hinaus bewegt er sich in einem Kontext, der von vielen Faktoren beeinflusst ist. Es ist die Welt, die ihn umgibt, und in der die Menschen leben. Spiritualität wird also in diesen Beziehungen gelebt und verantwortet. „Wer sich mit christlicher Spiritualität befasst, hat es, um die wesentlichen Elemente zusammenzufassen, also mit einer Beziehung zu tun, der Beziehung zwischen Gott und Mensch, die für den Menschen erfahrbar ist und in einem zeitlich ausgedehnten Prozess in verschiedenen Hinsichten gestaltet 28 werden soll.“ Die vorher sechs genannten Kategorien zeigen allerdings, dass die Schwerpunkte offenbar sehr unterschiedlich gelegt werden können. 2
Galaterbrief 5,25–6,10
Wie bereits angeklungen ist, soll Gal 5,25–6,10 dieser Bibelarbeit zugrunde liegen. Dazu soll der Text genauer erschlossen werden, um ihn für das Thema der Spiritualität fruchtbar zu machen. 2.1 Text29 Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen. Wer aber unterrichtet wird im Wort, der gebe dem, der ihn unterrichtet, Anteil an allem Guten. Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen. 28 29
Ebd., S. 132. Der Text wird nach der Lutherübersetzung aus dem Jahr 1984 geboten.
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2.2 Zur Einordnung des Textes in seinen Zusammenhang30 Die paulinischen Briefe enthalten nach dem grundlegenden theologischen Teil einen paränetischen Abschnitt, der es dem Apostel Paulus ermöglicht darzulegen, dass aus der Rechtfertigung des Sünders und der Befreiung vom Gesetz keine Gesetzlosigkeit erwachsen kann. Es ist daher in der Tat bedenkenswert, die Rede bzw. das Schlagwort von dem „gesetzesfreien Evangelium“ zu überprüfen und – nach einem Vorschlag, der u.a. mit dem Namen Martin Hengel verbunden ist – eher von einem gesetzeskritischen Evangelium zu sprechen. Paulus entwickelt seine Ausführungen zu Gesetz und Glaube in den Kapiteln 3 bis 5,12, während er sich zuvor (Kap. 1,6–2,21) mit Angriffen auf seine Person auseinandersetzen musste. Im letzten Teil seines Briefes geht er dann der Frage nach, wie die Freiheit, die sich aus dem Evangelium ergibt, gelebt 31 und gestaltet werden kann (Kap. 5,13–6,10) . Während zu dieser Einteilung des Briefes weitgehend Einigkeit herrscht, ergeben sich im Blick auf Kap. 5,25 einige Fragen. Leitet dieser Vers einen neuen Gedanken ein, oder schließt Paulus mit diesem Satz den Gedanken ab, den er mit 5,13 begonnen hatte32. Meines Erachtens spricht mehr dafür, dass dieser Vers 25 die kommenden Ausführungen einleitet; dieser Besonderheit des Verses werden wir uns gleich noch stellen müssen33. 30
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Ich verstehe dieses Schreiben des Apostels als einen einheitlich abgefassten Brief an die Gemeinden, die im Rahmen der sogenannten ersten Missionsreise entstanden sind und daher im Süden der heutigen Türkei zu verorten sind („Provinzhypothese“). Zudem sprechen aus meiner Sicht einige Gründe dafür, dass dieses Schreiben etwa auf das Jahr 48/49 zu datieren ist. Damit wäre der Galaterbrief der älteste Paulusbrief; er ist m.E. kurz vor dem ersten Thessalonicherbrief und damit in einem größeren zeitlichen Abstand zum Römerbrief entstanden als gemeinhin angenommen. Diese Position wird in der deutschsprachigen Exegese kaum (anders jetzt: Dieter Sänger, Die Adresse des Galaterbriefes, in: Michael Bachmann/Bernd Kollmann, Umstrittener Galaterbrief. Studien zur Situierung des PaulusSchreibens, BThSt, Bd. 106, Neukirchen-Vluyn 2010, S. [1–56] 52), im angelsächsischen Bereich wesentlich häufiger vertreten. Anders: Joachim Rohde, Der Brief des Paulus an die Galater, ThHKNT, Bd. 9, Berlin 1989, S. 211. Er geht davon aus, dass mit 5,1 der dritte Hauptteil des Briefes beginnt. Einen größeren Einschnitt bei Kap. 5,25 erkennt er so nicht mehr. So ausdrücklich Franz Mussner; er bezeichnet 5,25 als eine inclusio; vgl. Franz Mussner, Der Galaterbrief, HThKNT, Bd. 9, Freiburg u.a. 2002, ungekürzte Sonderausgabe der 5. Auflage von 1988, S. 391. So u.a. Wilfried Eckey, Der Galaterbrief. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 2010, S. 299; James Louis Martyn, Galatians, Anchor Bible 33A, New York u.a. 1997, S. 542. Die Frage nach der Textabgrenzung wird ausführlich diskutiert bei: Douglas J. Moo, Galatians, BECNT, Grand Rapids, MI 2013, S. 370. Er kommt zu dem Schluss: „While somewhat transitional, then (cf. Parsons 1995: 240), verse 25 introduces the next section, in which Paul will spell out some of the ways believers are to manifest the reality of the Spirit …“
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Spiritualität in neutestamentlicher Perspektive
2.3 Der Text im Einzelnen 2.3.1 Kapitel 5,25 Es wurde schon darauf hingewiesen, dass 5,25 für das Verständnis paulinischer Spiritualität eine besondere Bedeutung zukommt34. Dabei ist es letzten Endes ohne größere Auswirkung, ob wir diesen Vers als zu den vorigen gehörend betrachten, also als Abschluss zu den Versen 16–24, oder ob wir diesen Vers als Beginn der weiteren Ausführungen ansehen, so als ob dieser Satz als Überschrift zu dem steht, was nun folgt. Es spricht einiges dafür, dass dieser Vers eine Art „Scharnierfunktion“ besitzt. Mit dem ersten Teil des Satzes wird etwas aufgegriffen, was Paulus zuvor ausgeführt hat. Mit dem Hinweis „wenn wir im Geist Leben“, wird auf eine tatsächlich gegebene Situation Bezug genommen. Heinrich Schlier formuliert es so: „Das ει) ist nicht eventualis oder 35 Irrealis, sondern Realis: sie leben tatsächlich πνεύματι.“ Das bedeutet, dass Paulus mit diesem ersten Teil des Satzes darauf Bezug nimmt, dass das Leben im Geist eine tatsächlich gegebene Realität im Leben der Christen ist. Damit greift der Apostel das auf, was er in den Versen vorher entfaltet hat. Es gibt eine neue Realität im Leben der Christen. Das ist ihre neue Situation, ihr neues Leben, ihr neues Sein, das sie im Heiligen Geist leben. Der zweite Teil des Satzes lenkt dann den Blick der Leser darauf, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Die Gute Nachricht Bibel übersetzt diesen Vers meines Erachtens richtig mit den Worten: „Wenn wir nun durch Gottes Geist ein neues Leben haben, dann wollen wir auch aus diesem Geist unser neues Leben führen.“ Ich denke aber, dass Paulus an dieser Stelle nicht nur Bezug auf den unmittelbaren Abschnitt vorher nimmt, also die Verse 16–24. Dieser Zusammenhang ist offensichtlich und lässt sich von der Struktur des Aufbaus und vielen sprachlichen Gemeinsamkeiten schnell und schlüssig nachweisen. Er hat insgesamt alle Christusnachfolger im Blick, die aus der Knechtschaft befreit worden sind; eben wie im Beginn des fünften Kapitels betont wird: Zur Freiheit hat Christus uns befreit! Wir haben also den gesamten Zusammenhang ab Gal 5,1 zu beachten. Aus 5,25 greife ich das Bild eines Scharniers auf. Paulus schreibt an die Christen in Galatien und hält ihnen vor Augen, dass in ihrem Leben ein Herrschaftswechsel stattgefunden hat; dieser grundlegende erste Teil wird nun mit dem konkreten Handeln des Einzelnen verbunden. Der Bezugspunkt, das „Scharnier“, ist dieses neue Leben, das der Geist Gottes ermöglicht. Michael 34 35
Siehe oben Anm. 15. 14 Heinrich Schlier, Der Brief an die Galater, KEK, Bd. 7, Göttingen 1971, S. 268.
Multidimensional gelebter Glaube aus der Kraft des Heiligen Geistes
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Wolter schreibt in seiner Darstellung der paulinischen Theologie über die Ethik des Apostels Paulus folgende Sätze, wobei er unsere Verse mit in den Blick nimmt: „Analoges gilt von der christlichen Heilswirklichkeit: dass Menschen auf Christus getauft sind und dadurch ein neues Leben gewonnen haben oder dass Gott sie aufgrund ihres Christus Glaubens für gerecht erklärt hat oder dass er den Geist in ihre Herzen ausgegossen hat, bleibt unter Ihnen und vor den anderen so lange unansehnlich, wie es nicht durch ein bestimmtes Tun 36 zur Darstellung gebracht wird.“
Paulus schreibt an die Menschen in Galatien und erinnert sie daran, dass sie befreit sind, und zwar zu einem neuen Leben, das in der Kraft des Heiligen Geistes Gestalt gewinnen soll. Wir könnten vielleicht wie folgt formulieren: „Weil ihr in Gottes Spur seid und weil ihr aus der Kraft des Heiligen Geistes lebt, deswegen könnt und sollt ihr auch in diesem Geist ein Leben führen und gestalten.“ An dieser Stelle wird deutlich, dass der Geist geradezu eine doppelte Funktion in der paulinischen Ethik übernimmt. Nach Vollenweider setzt er „die Norm des neuen Lebens, andererseits ist er die Kraft zum neuen Wandel, 37 deren genauer Status allerdings strittig ist … “ . In diesem Sinne lässt sich festhalten, dass in Gal 5,25 genau diese beiden Aspekte zusammenkommen, zum einen die Erinnerung daran, dass bei Menschen im Glauben ein Herrschaftswechsel in ihrem Leben vollzogen wurde, und zum anderen, dass sie ermutigt werden, diese neue Realität im alltäglichen Leben konkret werden zu lassen. Da es einen Herrschaftswechsel gegeben hat, weist Paulus darauf hin, welche Konsequenzen sich daraus für den Lebenswandel ergeben. Dazu verwendet er in Vers 16 und in Vers 25 zwei unterschiedliche Verben. In Vers 16 hatte Paulus den Empfängern des Briefes gesagt, dass sie im Geist leben sollen, „περιπατέω“, was wir in der Regel mit dem deutschen Wort „wandeln“ wiedergeben würden. In Vers 25 verwendet er allerdings das Wort „στοιχέω“, was zu mancherlei Mutmaßungen Anlass gegeben hat. Es hat den Versuch gegeben, die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes aus dem militärischen Be38 reich nachzuweisen , sodass einige hier übersetzen: „so wollen wir uns nach dem Geist ausrichten.“39 Bei einigen Parallelstellen außerhalb des biblischen 36 37 38 39
Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, S. 315. Samuel Vollenweider, Spiritualität (wie Anm. 15), S. 425. Heinrich Schlier, Galater (wie Anm. 35), S. 268. Ebd.
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Spiritualität in neutestamentlicher Perspektive
Befundes kann dieses Wort in der Tat so etwas bedeuten wie „in einer Reihe stehen“ oder „übereinstimmen“ oder „im Einklang sein“. Es war Albrecht Oepke, der darauf hingewiesen hat, dass an dieser Stelle nun die Vorstellung dahinter steht, dass sich die Ermahnungen nicht nur an einzelne, sondern auf das Leben der ganzen Gemeinde beziehen40. So wie man im Militär in Reih und Glied hintereinander geht, so soll auch die Gemeinde eine bestimmte Marschrichtung einhalten, auf der sie unterwegs ist. Joachim Rohde schreibt zu dieser Stelle: „Die Christen ziehen in einem Leben dahin, dass nicht mit dem Fleisch sondern mit dem Geist in Übereinstimmung steht. Sie brauchen deshalb kein Gesetz mehr, sondern in ihnen soll das zur Auswirkung kommen, was in ihnen schon vorhanden ist.“41 Diesem Verständnis ist in der letzten Zeit häufiger widersprochen worden. Das bezieht sich nicht nur darauf, dass die Verwendung dieses Wortes ausschließlich im außerbiblischen Bereich so nachzuweisen ist, und auch da nur an wenigen Stellen. Man hat auch kritisiert, dass Rohde an dieser Stelle ein Verständnis in den Mittelpunkt stellt, dass das Gesetz gänzlich negativ beurteilt. Damit stellt sich die Frage, ob hier nicht etwas in den Text hineingetragen wird. Kann man wirklich sagen, dass Paulus das Gesetz wirklich in Gänze abschaffen will, oder müssen wir hier zu einem differenzierteren Verständnis von Gesetz kommen? Zur eingehenderen Diskussion 42 dieser Fragestellung sei auf den Beitrag von Thomas Söding verwiesen . Samuel Vollenweider hat darauf hingewiesen, dass Gal 5,25 ein grundlegender Text für das Verständnis paulinischer Spiritualität ist43. Er geht davon aus, dass Paulus neben Johannes und Lukas „zu den großen Theologen des Heiligen Geistes im neuen Testament“44 zu zählen ist. Es seien gerade die Geisterfahrungen, die eine vielgestaltige Spiritualität hervorgebracht haben. Aus der Erfahrung heraus, dass Gott den Christusnachfolgern die Gabe des Heiligen Geistes schenkt, sollen sie ihr Leben in den vielfältigen Lebensbezügen gestalten. So gesehen ist die Frage nach dem Heiligen Geist eine wichtige Grundkonstante, um über das Thema Spiritualität nachzudenken. Natürlich kann man an dieser Stelle sagen, dass in dem Wort Spiritualität schon das Wort Geist enthalten ist. Aber es scheint keine direkte sprachliche Verbindung von dem Wortgebrauch Spiritualität zu den Aussagen über den Heiligen Geist im Neuen Testament herstellbar. Die Ausführungen in Gal 5,26–6,10 veran40 41 42 43 44
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Albrecht Oepke, Der Brief des Paulus an die Galater, ThHKNT, Bd. 9, Berlin 1984, S. 186. Joachim Rohde, Galater (wie Anm. 31), S. 253. Thomas Söding, Glaube, der durch Liebe wirkt. Rechtfertigung und Ethik im Galaterbrief, in: Michael Bachmann/Bernd Kollmann, Galaterbrief (wie Anm. 30), S. 165–206. Siehe oben Anm. 15. Samuel Vollenweider, Spiritualität (wie Anm. 15), S. 422.
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schaulichen, wie ein Leben unter der Herrschaft des Heiligen Geistes Gestalt gewinnen kann. Es sind nicht viele verschiedene einzelne Anweisungen, die der Apostel am Ende seines Schreibens den Hörern und Lesern seines Schreibens mitgeben möchte. Es ist nicht eine beliebige Aufzählung von konkreten Anweisungen, wie die Christusnachfolger ihr Leben zu gestalten haben. Dieser Abschnitt (5,26–6,10) lässt einen roten Faden erkennen, wenn man ihn von Vers 25 her liest. Paulus bezieht das Geistwirken auf drei Bereiche. Er fordert seine Leser auf, dass sich die Herrschaft des Heiligen Geistes zunächst in der Gemeinschaft zu erweisen habe, dann im Bezug auf sich selbst und zuletzt auch im Bezug zum Mitmenschen. Ich möchte diese drei Aspekte nun ein wenig näher noch entfalten. 2.3.2 Spiritualität als Leben in der Gemeinschaft Das Kapitel sechs des Galaterbriefes wird mit einem kurzen, aber sehr allgemein gehaltenen Satz eingeleitet: „Wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird“. Man könnte diesen Satz dahingehend deuten, dass Paulus auf den Fall anspielt, dass irgendein Mensch bei irgendeiner Verfehlung ertappt wird. Das würde bedeuten, dass andere das Fehlverhalten aufdecken. Er könnte aber auch meinen, dass ein Mensch plötzlich von einer Verfehlung überrascht wird, das heißt er fehlt, ohne dass er es gewollt oder gar geplant hätte. Zugleich fällt aber auf, wie allgemein Paulus an dieser Stelle spricht. Wenn irgendein Mensch von irgendeiner Verfehlung ereilt wird, unschärfer und allgemeiner kann man an dieser Stelle kaum formulieren. Das lässt den Schluss zu, dass Paulus hier nicht von einem besonderen Fall im Leben der Gemeinde ausgeht. Paulus hat hier eine ganz allgemeine Erfahrung vor Augen, die er mit allen anderen Christen und allen anderen Gemeinden teilt. Es kommt vor, dass Menschen, die an Jesus Christus glauben und in der Kraft des Heiligen Geistes leben, das Falsche tun. Es fällt weiterhin auf, dass die Frage nach der Verfehlung nur mit einem Halbsatz in den Blick genommen wird. Paulus liegt viel mehr daran, wie nun mit dieser Normalität in der Gemeinschaft der Jünger Jesu umgegangen werden soll. Anders ausgedrückt: Mit einem halben Satz setzt er voraus, dass Versagen und Schuld in der Gemeinde Jesu vorhanden sind. Es ist vielmehr entscheidend, wie man mit dieser Tatsache, dass man aneinander schuldig wird, umgeht; darauf legt der Apostel besonderen Wert. Dazu weist er die Leser an, dass eine Beschäftigung mit diesen Fragen nur in einem Geist der Sanftmütigkeit geschehen kann. Damit ist nicht eine Haltung gemeint, die sich alles gefallen lässt. Wir könnten sie als eine Hal-
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tung beschreiben, bei der auf jedwede Form der Gewaltausübung verzichtet wird. Gewalt ist nicht nur eine Frage der körperlichen Gewalt, es ist vielmehr ein Umgang, bei dem einem Anderen der eigene Wille aufgezwungen werden soll. Genau dieses soll in der Gemeinde Jesu nicht geschehen. Paulus fügt dieser ersten Aufforderung eine weitere hinzu. Es ist der bekannte Satz: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Paulus verweist die Christusnachfolger so sehr aneinander, dass sie zu Lastenträgern für einander werden sollen. Paulus war sich dessen sehr wohl bewusst, dass auch die römischen und griechischen Philosophen dazu geraten haben, einander zu helfen und beizustehen. Diese Hilfsbereitschaft ist eine Tugend, die von vielen Religionen und Weltanschauungen gepriesen wird. Paulus geht an dieser Stelle einen Schritt weiter. Er weist darauf hin, dass man sich mit unter die Schuld des Anderen stellen soll. Es geht nicht um die Übernahme der Schuld anderer Menschen, aber er ermutigt die Christen, sich mit unter die Last zu stellen, die andere Menschen aufgrund ihres eigenen Verhaltens treffen kann. Im Zusammenhang damit, dass Menschen in der Gemeinde Jesu schuldig aneinander werden, stellt sich die grundlegende Frage, wie man mit Versagen und Schuld umgehen soll. Gibt es solche, die sich mit unter das stellen, was andere niederdrückt? Gibt es solche, die mittragen, die mithelfen, wieder auf den richtigen Weg zu kommen? Oder ist es doch eher der Fall, dass man übereinander herfällt? Zerreißt man sich das Maul und damit sprichwörtlich den anderen in der Luft, oder findet man Worte des Zuspruchs und der Hilfe? Es geht dem Apostel darum, dass Menschen, die in der Gemeinde Jesu Christi leben, und die unter der Herrschaft des Heiligen Geistes leben, aneinander verwiesen werden und einander zu Lastenträgern werden sollen. In einer Atmosphäre, die von Sanftmut geprägt ist, steht nicht die Verurteilung im Mittelpunkt, sondern der Schutz und das Aufhelfen. Es ließen sich hier viele konkrete Beispiele anführen, die dieses illustrieren könnten. Es geht mir aber an dieser Stelle darum, auf einen Aspekt der Spiritualität aufmerksam zu machen. Dabei greife ich auf das zurück, was ich am Anfang aus dem Buch von Dahlgrün genannt habe. Sie hat einen Aspekt der Gottessuche so benannt: Gott suchen in der Gemeinschaft. Auch wenn sie als konkretes Beispiel die Regel des heiligen Benedikt erwähnt, so kommt sie doch in ihrer Auswertung darauf zu sprechen, dass ein Ort gelebter Spiritualität die Gemeinschaft der Glaubenden ist. Sie schreibt: „Der Weg, um Gott zu finden, kann also nur ein Leben der Hingabe an die Gemeinschaft sein, an gegenseitige Liebe und Fürsorge, an gemeinsamen Gottesdienst, über denen jedoch, die Gefahr dieses Weges, im Falle der Absolutsetzung das eigene Ich ebenso vergessen werden kann wie schließlich auch
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Gott. Die auslösende Erfahrung für das Beschreiten des Weges ist die Wahrnehmung der eigenen Angewiesenheit auf andere verbunden mit der Wahrnehmung der anderen als Geschenke Gottes, in deren Gesellschaft man Gott näher ist. Ihren Ausdruck findet diese Erfahrung in verwirklichter Gemeinschaft, in einem friedvollen, rücksichtsvollen, liebenden und sogar freudigen Miteinander – nicht als eine Selbstverständlichkeit, sondern als ein immer 45 neues Geschenk des Geistes, dass die menschliche Mitarbeit braucht.“
Dieser Ort gelebter christlicher Spiritualität mag gerade den Freikirchen als eine Selbstverständlichkeit vorkommen. Dennoch ist es wichtig, diesen Ort noch einmal besonders zu erwähnen und auch wert zu schätzen. Es mag auch sein, dass gerade in freikirchlichen Kreisen dieser Ort gelebter Spiritualität vor einer Überbetonung nicht gefeit ist, besonders dann, wenn andere Möglichkeiten spirituellen Handelns ausgeblendet bleiben. Es ist aber auch so, dass eine in der Gemeinschaft gelebte Spiritualität, die von gegenseitigem Respekt geprägt ist und in der Leid, Schmerz und Freude geteilt werden, keine Selbstverständlichkeit ist, sondern immer wieder neu in den Blick genommen und gelebt werden muss. 2.3.3 Spiritualität als Bescheidenheit im Blick auf sich selbst Paulus macht auf eine Gefahr aufmerksam, die sich sehr schnell droht. Wenn ihr einander begegnet, und wenn die Realität nicht geleugnet werden kann, dass man aneinander schuldig wird, so achtet darauf, dass ihr nicht hochmütig werdet. Paulus sieht die Gefahr, dass sich eine Haltung gegenüber anderen einstellt, die von der Meinung geprägt ist, dass das, was dem anderen widerfahren ist, einem selbst nicht passieren kann. Sieh dich vor, so der Apostel, dass du selbst nicht versucht wirst. In Vers 3 formuliert Paulus prägnant: „Wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.“ In dieser Zuspitzung liegt zugleich die Gefahr des Missverständnisses. Es lässt sich zeigen, dass dieser Satz immer wieder dafür herhalten musste, Menschen ein gesundes Selbstwertgefühl zu nehmen und ihnen den gebührenden Respekt zu verweigern. Der Mensch sei nun einmal nichts, und sein Handeln tauge wenig, daher sei es auch nicht erforderlich, zu ermutigen, zu fördern und zu loben. Doch ein solches Denken kann nicht auf diesen Versen aufruhen. Paulus ermahnt seine Leser, sich nicht in ein gefährliches Vergleichsdenken zu begeben. Wer meint, dass nur die anderen verfehlen und nicht das Rechte tun; 45
Corinna Dahlgrün, Spiritualität (wie Anm. 16), S. 36.
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wer meint, so etwas, was dem anderen geschehen ist, wäre mir selbst nicht passiert, der vergleicht sich mit denen, die mit auf dem Weg sind und kommt zu dem Schluss, doch selbst wesentlich besser zu sein. „Wie gut, dass ich nicht so schlecht bin wie die anderen!“ – ein solcher Satz wird vermutlich nicht laut über die Lippen kommen, aber in Gedanken kann sich doch diese Überzeugung einstellen. Es ist an dieser Stelle an ein Jesuswort aus der Bergpredigt zu erinnern, wo er seine Zuhörer ermahnt, nicht den Splitter im Auge des Bruders zu sehen und den Balken im eigenen Auge nicht (Mt 7,1–5). Es ergibt sich der Eindruck, dass mit einem solchen Vergleichsdenken auch ein Verdienstdenken einhergeht, so als ginge es bei dem Weg der Christusnachfolge nicht nur darum, besser als andere zu sein, sondern auch darum, möglichst viel an guten Taten anzuhäufen, die mir gutgeschrieben werden. In manchen Gesprächen mit Menschen aus Freien evangelischen Gemeinden kam das Bild eines „Punk46 tekontos im Himmel“ zum Vorschein, wo alle guten Taten aufgezeichnet sind . Man weiß zwar, dass alle nur aus Gnade gerettet werden, aber am Schluss gebe es ein Gericht, bei dem nun doch alle Taten offenbar werden. Daher sei es gut, auf dem Weg der Nachfolge möglichst viele Punkte zu sammeln. Paulus wehrt einem solchen Denken. Er fordert vielmehr dazu auf, sich selbst kritisch zu prüfen. Vielleicht tritt bei einer offenen Selbstkritik manches zutage, was als gut und positiv zu würdigen ist. Es gibt sicherlich viel, worauf man zufrieden blicken und stolz sein kann, dafür kann es auch Ruhm geben, so Paulus in Vers vier! Aber im Bezug auf Gott hat es keinen Wert. Da gibt es nichts, was von dem Herrn mit Anerkennung und Dank entgegenzunehmen wäre. Paulus erinnert in seinen Schreiben immer wieder daran, dass alle davon leben, dass Gott die Menschen in seinem Sohn Jesus Christus gnädig ansieht. Wir leben, weil er Gnade vor Recht ergehen lässt, oder anders ausgedrückt: Wir sind Mitglieder der Schuldgemeinschaft begnadigter Sünder. Wer sich so sieht, der kann bescheiden sein im Blick auf sich selbst. Ich kann und muss weder mir noch einem anderen etwas beweisen. Natürlich weist Paulus an etlichen Stellen in seinen Schreiben darauf hin, dass Menschen im Glauben wachsen und reifen können. Es gibt Veränderung, aber diese geschieht nicht in Abgrenzung zu anderen und schon gar nicht in dem Bewusstsein, immer besser oder gar vollkommen zu werden.
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Es wäre aufschlussreich, diesen Vorstellungen nachzugehen und die Hintergründe zu erhellen. Vermutungsweise kann man auf bestimmte Aspekte dispensationalistischen Denkens verweisen, wo u.a. die Vorstellung eines sogenannten Preisgerichtes vorkommt.
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2.3.4 Spiritualität als Blick für andere Menschen Der Abschnitt endet mit der Aufforderung, „Gutes zu tun an jedermann, allermeist an des Glaubens Genossen“. Dabei ist die Situation der Christen zu berücksichtigen, an die das Schreiben gerichtet ist. Die Jünger Jesu versammelten sich in dieser Zeit, also etwa um das Jahr 50 n.Chr., in Gemeinden, die vermutlich nicht mehr als 30–40 „Mitglieder“ umfassten. Wuchs eine Gemeinde, so bildete sich in der Stadt eine weitere Hausgemeinde47. Ohnehin dürften diese Gemeinschaften in ihrer Umgebung kaum aufgefallen sein, da sie zu dieser Zeit zahlenmäßig eine absolute Minderheit darstellten und von außen eher als ein Randphänomen wahrgenommen wurden. Trotz dieser geringen Größe geht Paulus davon aus, dass Glaube nicht bei sich selbst bleibt und auf die eigene Person bezogen ist, sondern sich in ganz konkretem Handeln erweist. Dabei beschreibt er eine Bewegung, die von innen nach außen geht. Zunächst sind die „betroffen“, die mit in der Gemeinschaft der Glaubenden leben. Kommen sie zusammen, so soll sich der Glaube in konkretem Handeln zeigen. Aber diese Bewegung geht über den Rand der Gemeinde hinaus, sie findet keine Begrenzung. Auch die, die unmittelbar und dann auch mittelbar mit den Glaubenden in Kontakt kommen, sollen erfahren können, dass ihnen seitens der Christen Gutes widerfährt. Es ist ein Glaube, der Kreise zieht. Zum einen hören wir an anderen Stellen in den paulinischen Briefen, dass eine wesentliche Aufgabe der Gemeinde darin besteht, das Evangelium von Jesus Christus weiterzusagen. Es gilt, die gute Nachricht zu bezeugen, zu verkündigen. Daneben hören wir, wie in diesen Versen, dass die Liebe Gottes, die man selbst erfahren hat, in ganz konkreten Taten ihren Ausdruck findet. Der Apostel hat demnach zwei „Lebensäußerungen“ der Gemeinde im Blick, die wir – sicherlich etwas verkürzend – mit den Worten von dem missionarischen und diakonischen Handeln wiedergeben können. Zum anderen fällt auf, wie unkonkret die Aufforderung des Apostels formuliert ist. „Gutes tun“ – mehr lesen wir hier und im unmittelbaren Zusammenhang nicht, dafür aber wird diese Aufforderung wiederholt (Verse 9 und 10). Paulus verweist auf ein Handeln, das sich dem Gegenüber zuwendet mit dem Gedanken einer wirksamen Hilfe. Indem er so scheinbar unkonkret formuliert, fordert er den Leser heraus, sich darüber Gedanken zu machen, wie 47
Grundlegend ist für diese Thematik die Untersuchung von Roger Gehring, Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften von Jesus bis Paulus, Bibelwissenschaftliche Monographien, Bd. 9, Gießen 2000. Hier ist besonders auf den Abschnitt „Die Verwendung von Häusern in der paulinischen Mission“ zu verweisen, S. 220– 384.
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Spiritualität in neutestamentlicher Perspektive
Handeln konkret werden kann. Wenn er dann noch in diesem Zusammenhang das Bild von der Ernte gebraucht, so macht er darauf aufmerksam, dass ein solches Handeln wie eine Saat ist, die Zeit zum Wachsen und Reifen braucht. Zugleich führt dieses Bild vor Augen, dass es nicht in unserer Macht steht, ob und wie aus der Saat Frucht entsteht. Diakonisches Handeln wird ja in manchen freikirchlichen Kreisen danach beurteilt, ob es denn zu einem „Erfolg“ führt oder nicht. Nicht selten wird ein Handeln, das dem Anderen Gutes tun möchte, danach beurteilt, ob es zu einer Reaktion bei dem führt, dem man sich zuwendet. Paulus durchbricht dieses Denken, welches das diakonische Handeln „verzwecken“, also einer bestimmten Absicht unterwerfen möchte. Wer Gutes tun möchte, fragt nicht nach einem möglichen Erfolg, sondern er gibt von dem weiter, was er selbst erlebt hat. Der Apostel ermutigt, sich Menschen zuzuwenden und zu handeln, ohne darüber nachzudenken, was einmal daraus werden könnte. Der Maßstab ist die Frage, was dem Nächsten wirklich hilft, ihm also im wahrsten Sinne des Wortes „gut tut“. Wer diakonisch handelt, sät auf Hoffnung. Ich sehe auch bei diesem dritten Gedankengang einen Aspekt der Spiritualität. Menschen, die im Glauben an Jesus Christus gerechtfertigt sind, sind solche, die die Liebe Gottes in seinem Sohn erfahren haben. Sie können davon an andere weitergeben. Sie sind dazu bereit, sich anderen Menschen zuzuwenden ohne nach einer Antwort zu fragen und ohne Lohn zu erwarten. Corinna Dahlgrün hat es so formuliert: „Die Liebe zum Nächsten, nicht als idealistische Grundhaltung oder persönliche Zuneigung, sondern als ein Tun an jeweils dem Menschen, der mir begegnet und Hilfe braucht, wird gewährt um Christi willen, doch sie wird vom Empfangenden erfahren als ihm persönlich, ihm als Subjekt zugewandt. … Die hinter dieser Haltung stehende Theologie ist vor allem christozentrisch, dabei kann die Passion oder die Inkarnation stärker betont werden; Nachdruck liegt in jedem Fall auf dem Gedanken der imitatio Christi [Hervorhebung im Original] hinsichtlich seines helfenden und heilenden Handelns, hinsichtlich sei48 ner Gemeinschaft mit den Geringsten.“
Gal 5,25–6, deutet an, welche Dimensionen ein gelebter Glaube haben kann. Wer neues Leben geschenkt bekommen hat, der kann diesem auch Ausdruck verleihen, in der Gemeinschaft mit anderen und im Blick auf sich selbst. Ja, er ist sogar in der Lage, auch denen Gutes zu tun, mit denen er in Kontakt kommt. Das kann nur dem gelingen, der in der Spur Gottes bleibt und aus der Kraft des Heiligen Geistes lebt. 48
Corinna Dahlgrün, Spiritualität (wie Anm. 16), S. 24f.
Multidimensional gelebter Glaube aus der Kraft des Heiligen Geistes
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Zusammenfassung
Was kann nun zusammenfassend festgehalten werden? „Spiritualität“ ist als Begriff erst Mitte der 1990er Jahre verstärkt in Erscheinung getreten, zumindest im evangelikalen oder frei-evangelischen Bereich, dabei bleibt dieser Begriff bis heute relativ unspezifisch. Häufig ist der Begriff der Spiritualität allerdings mit dem Empfang des Heiligen Geistes sowie der Beziehung zwischen Gott und Mensch respektive der Nachfolge verbunden, die Ausgestaltung dieser Beziehung erfolgt dann in verschiedensten Gestalten und Dimensionen. Der Text Gal 5,25–6,10 gibt Aufschluss über wichtige Elemente einer paulinischen Spiritualität: Der empfangene Heilige Geist befähigt zu einem veränderten Lebenswandel, welcher die Dimensionen des Lebens in Gemeinschaft, des Selbstbildes und des Dienstes am Nächsten umfasst.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Herausgeber Christian Bouillon ist Dozent für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach. Dr. Andreas Heiser ist Rektor und Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Hochschule Ewersbach. Dr. Holger Eschmann ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen.
Autorinnen und Autoren Dr. Christoph Barnbrock ist Rektor und Professor für Praktische Theologie an der Luther‐ ischen Theologischen Hochschule Oberursel/Taunus. Achim Härtner M.A. ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hoch‐ schule Reutlingen. Dr. Wolfgang E. Heinrichs ist Professor für Neuere Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal und Lehrer für Geschichte und Religion am Freien Christlichen Gymnasium Düsseldorf. Dr. Sabine Hermisson ist Universitätsassistentin am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Wien. Dr. Markus Iff ist Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hoch‐ schule Ewersbach. Ingo Scharwächter ist Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Leverkusen-Wiesdorf und Lehrbeauftragter für christliche Spiritualität an der Theologischen Hochschule Ewersbach. Michael Schröder ist Bereichsleiter der Stiftung ProVita e.V. und ehemaliger Dozent für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Ewersbach. Dr. Volker Spangenberg ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal.
Register Personenregister Aland, Kurt 125 Anselm, Reiner 133 Avila, Theresa von 51 Axmacher, Ernst 87 Bachmann, Michael 147, 150 Balders, Günther 88 Barnbrock, Christoph 9, 101 Barth, Karl 29f., 127, 133 Barth, Ulrich 94 Bautz, Friedrich Wilhelm 144 Bayer, Oswald 102, 104, 122f. Beeck, Karl-Hermann 55 Berg, Johannes van den 52 Bieritz, Karl-Heinrich 103 Bittner, Wolfgang 47 Bobert-Stützel, Sabine 128 Bonhoeffer, Dietrich 47, 127f., 132 Borchmeyer, Dietrich 53 Bouillon, Christian 10, 99 Brandt, Edwin 36 Braun, Otto 93 Brecht, Martin 51–53, 90, 125 Buchner, Hartmut 61 Bünker, Michael 42 Burger, Carl 87 Burkardt, Johannes 52 Bussemer, Konrad 86, 95 Charbonnier, Lars 95 Corbin, Juliet 128 Dahlgrün, Corinna 7, 32f., 47f., 82, 88, 105, 107f., 121, 143–145, 152f., 156 Dennerlein, Norbert 106 Diehl, Erhard 139 Dierken, Jörg 95 Dietrich, Wolfgang 92 Dürr, Hans Peter 77 Ebeling, Gerhard 93, 126
Eckey, Wilfried 147 Eggers, Ulrich 140 Ernst, Josef 7, 11, 22 Eschmann, Holger 10f., 22 Fetzer, Johann Georg 35f. Feuerbach, Ludwig 72 Fischer, Hermann 93 Friedrich, Martin 42 Gäbler, Ulrich 53f., 88f. Gehring, Roger 155 Geiger, Theodor 55 Gerhardt, Paul 108 Giffey, Johannes Theophil 144 Goebel, Max 90 Goeters, Jan Friedrich Gerhard 90 Goeters, Wilhelm 90 Gräb, Wilhelm 95 Grafe, Hermann Heinrich 51f., 56f., 59–76, 89, 91f., 143 Greiner, Dorothea 135 Gremels, Georg 107 Grethlein, Christian 32, 38 Groos, Moritz 10, 143 Großhans, Hans-Peter 41 Grünwaldt, Klaus 106 Haldane, Robert 54, 89 ärle, Wilfried 127 Harms, Silke 123, 127 Härtner, Achim 19, 21 Haubeck, Wilfrid 56, 86, 88 Hauck, Albert 87 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 59, 61, 71, 95–97 Heinrichs, Wolfgang E. 51, 53, 56, 59, 64, 91f., 143 Heiser, Andreas 10, 85f., 99 Heitzenrater, Richard P. 20 Hengel, Martin 147
Personenregister Hermelink, Jan 133 Hermes, Walther 86, 95, 144 Hermisson, Sabine 9, 119–121, 127, 137 Herms, Eilert 93 Hochmann von Hochenau, Christoph 51, 90 Hoffmann, Gottfried 115 Hoffmann, Wilhelm 51 Iff, Markus 85f., 99 Janßen, Julius 35 Jaspert, Bernd 87 Jesus Christus 15, 17, 22, 70, 88, 91f., 97, 107, 151, 154–156 Jüngel, Eberhard 34 Kang, Chi-Won 126 Karle, Isolde 126f. Knieriem, Michael 52 Köbner, Julius 62, 68 Koch, Traugott 87 Kohli Reichenbach, Claudia 28, 119, 134, 138 Kollmann, Bernd 147, 150 Köpf, Ulrich 7, 141 Kopfermann, Wolfram 140 Korsch, Dietrich 88 Körtner, Ulrich 121 Krech, Hans 103 Kröber, Walter 12 Krüger, Malte Dominik 41 Krumwiede, Hans-Walter 52 Kunz, Ralph 28, 119f., 138 Labadie, Jean de 52, 90 Law, William 12 Legewie, Heiner 128 Lehmann, Hartmut 53 Leimgruber, Stephan 7, 11, 22 Lenhard, Hartmut 91, 95 Lenhardt, Hartmut 86 Löwith, Karl 72 Luther, Martin 87, 104–108, 122f., 132 Maas, Robin 13
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Martyn, J. Louis 147 Meckenstock, Günter 94 Michel, Kurt Markus 95–97 Mödl, Ludwig 7, 32, 82, 88, 105, 143 Moldenhauer, Eva 95–97 Möller, Christian 103, 105, 107f., 137f. Monod, Adolphe 53f., 89 Moo, Douglas J. 147 Mussner, Franz 147 Nausner, Michael 19f. Neeb, Horst 52 Neviandt, Heinrich 73f., 86, 92 Nicol, Martin 122 Nicolay, Markus 131 Nieden, Marcel 122–124 Niewarra, Solveigh 128 Ochel, Joachim 93 O'Donnell, Gabriel 13 Oepke, Albrecht 150 Oorschot, Jürgen van 85 Ortberg, John 82 Ortmann, Yvonne 34 Osborn, Charles 14 Paulus, paulinisch 7, 33, 68, 88, 97, 142, 147–157 Peters, Albrecht 106 Pfister, Reinhard 88 Pinggera, Karl 128 Pöggeler, Otto 61 Popp-Baier, Ulrike 121 Randow, Gero von 77 Ratschow, Carl Heinz 87 Riedel, Wolfgang 57 Riemer, Matthias 93 Rochat, Auguste 54 Roeber, Anthony Gregg 52 Rohde, Joachim 147, 150 Rosenkranz, Karl 72 Rössler, Dietrich 93 Rothgangel, Martin 106, 119–121, 127 Ruhbach, Gerhard 7, 11, 22, 47, 120
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Register
Sailer, Johann Michael 12 Scharwächter, Ingo 77 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 93f., 97f., 126f., 133f. Schlier, Heinrich 148f. Schmid, Dirk 126 Schmidt, Manfred 79 Schmidt, Ursula 79 Schopf, Otto 95 Schröder, Michael 9, 56, 86, 139 Schulz, Frieder 106 Schwarz, Christian A. 82 Seitz, Manfred 47, 119f., 123, 137 Söding, Thomas 150 Sommer, Ernst 8 Spangenberg, Volker 31, 34, 41 Sparn, Walter 87f. Spener, Philipp Jakob 125f. Steffens, Heinrich 71 Stewart, Ken 54 Stolt, Birgit 106 Strauss, Anselm L. 128 Telford, John 20
Tersteegen, Gerhard 51f., 70f., 90f., 143 Thielicke, Helmut 81 Tholuck, August 52 Undereyck, Theodor 51, 90 Veith Jr., Gene E. 9, 103 Vieira, Leonardo Alves 59 Vierhaus, Rudolf 55 Voigt, Gottfried 93 Vollenweider, Samuel 142, 149f. von Kempen, Thomas 12 Waaijman, Kees 145 Wakefield, Gordon S. 12 Wallmann, Johannes 125 Weinert, Franz 130 Wesley, Charles 12–14, 19f. Wesley, John 12–17, 19f., 29 Weyel, Hartmut 54, 89, 143f. Winkler, Klaus 99 Wintzer, Friedrich 93 Wolter, Michael 149 Zimmerling, Peter 7, 28, 33, 41, 47, 88, 102f., 108, 121
Sachregister Abendmahl 14, 17, 78, 112, 135 Altes Testament 8 Anthropologie 95 Armianismus 12 Ausbildung evangelische 9, 119, 121f., 132, 136 theologische 7–9, 11, 19, 21, 31, 34f., 38, 42f., 48f., 51, 77, 85– 87, 97–99, 101, 108f., 116f., 119, 121, 123, 127, 131f. Baptismus 31, 34, 41f., 53, 68, 88 Bildung Bildungsaufgabe 98 Bildungsprozess 10, 100 Bildungstheorie 87, 92f., 95 Persönlichkeitsbildung 23f., 27, 99f.
religiöse 93–95, 97 Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden 43, 75 Bund Freier evangelischer Gemeinden 7–9, 31, 41, 43, 51–54, 57, 64, 75, 78, 82, 85–89, 91f., 139, 141, 143–145, 154 Christentum 7, 87f., 93, 95, 117, 141, 143 Dichotomie 57, 59, 72 Erweckungsbewegung 12f., 20, 52– 55, 67f., 87, 91 Evangelische Kirche in Deutschland 9, 102, 119, 131 Evangelisch-methodistische Kirche 9, 13–17, 19, 21f., 27
Sachregister Existenz christliche 7, 11, 22 Frömmigkeit 8, 87 evangelisch-methodistische 12, 16 individuelle 57 kollektive 57 Gebet 21, 25, 27, 36, 44f., 78f., 84, 104, 112–117, 122, 135 Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) 27, 42f., 48 Gnadenmittel 14, 16, 17, 21 Gnadenwirken 15 Heiliger Geist 9, 15, 70, 91, 108, 124– 126, 139, 142, 148–152, 156f. Individualität 60–63, 68, 92f., 95–97 Individuum 15, 59–63, 68, 70, 72, 75, 92–97 Kompetenz spirituelle 119f., 129–132, 137f. Leben geistliches 8, 25, 27, 44, 46, 78–81, 87, 91f., 111 Lutherische Theologische Hochschule Oberursel 9, 114 Methodismus 12f., 19–21, 24, 53 Mystizismus 70, 90f. Neues Testament 9, 139, 142 Pastor/in 14, 39, 45f., 84, 140 Pietismus 51–53, 87, 90f., 125f., 133f., 136 Puritanismus 12 Quadrilateral 14 Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) 9, 101, 108–116 Spiritual Care 7 Spiritualität 7f., 86, 91, 99 christliche 7, 11, 32f., 48, 77, 79– 82, 88, 105, 143
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evangelische 7, 33, 88, 103 evangelisch-methodistische 12–14, 17 frei-evangelische 90–92 funktionale 119 lutherische 9, 101–103, 105–108, 111, 116 musikalische 108 ökumenische 103 paulinische 9, 142 wesleyanische 12 Subjektivität 92, 95–97 Theologie 98 Evangelische 9f., 28, 88, 123 evangelisch-methodistische 14 Evangelisch-methodistische 13 Pastoraltheologie 24, 35f., 47, 78, 123, 128, 131 Praktische 24, 99, 124 Systematische 24, 85 Theologiestudium 21, 24, 31–35, 37, 48, 79, 98, 119f., 122f., 125, 128, 134 Theologische Hochschule Elstal 31, 33f., 36–40, 42, 44f., 48 Theologische Hochschule Ewersbach 8, 10, 19, 31, 77, 79, 83, 85f., 99, 143 Theologische Hochschule Reutlingen 11, 19, 21f., 24–26, 29 Tradition evangelisch-methodistische 11, 14f., 17 frei-evangelische 51 freikirchliche 10, 80 spirituelle 11f., 51
Gelehrsamkeit und Frömmigkeit Holger Eschmann und Achim Härtner (Hrsg.) Glaube bildet Bildung als Thema von Theologie und Kirche Reutlinger Theologische Studien, Band 5
182 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7675-7125-9
auch als
Book
Die Begriffe Glaube und Bildung gehören zusammen und stehen in einer fruchtbaren Spannung zueinander. Wer Bildung ganzheitlich versteht, wird die Frage nach Religion und Glauben bewusst einbeziehen. Verantworteter christlicher Glaube geht stets mit Verstehens- und Lernprozessen einher. Im Umgang mit biblischen Texten und mit der christlichen Tradition, im Leben der Gemeinde und in der Mitgestaltung der Gesellschaft geschieht jedoch mehr als Lernen und Verstehen, nämlich die Bildung des Herzens und des Lebens in der Nachfolge Jesu. Aus dem Inhalt: Einleitung: Glaube bildet – bildet Glaube? – Predigt zu 1 Petrus 3,15 – »... bis Christus in euch Gestalt gewinnt« – Bildung und Erziehung des Herzens – Evangelische Bildungsverantwortung in postsäkularer Zeit – Jesusnachfolge als Grenzerfahrung – Bildungs-Momente – Alttestamentliche-Anmerkungen anhand der Rede von »Frau Weisheit« – Den Fremden verstehen – Lernen in interkulturellen Begegnungen – Contemporary Theological Education in the Wesleyan Spirit – »... lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe« – Schleiermacher – ein Methodist? Christliche Bildung vor der Herausforderung der Postmoderne Mit Beiträgen von Jörg Barthel, Paul W. Chilcote, Holger Eschmann, Achim Härtner, Walter Klaiber, Clive Marsh, Michael Nausner, Jürgen van Oorschot, Ina Praetorius, Wolfgang Ruhnow, Friedrich Schweizer, Theo Sundermeier, Cornelia Trick, Christof Voigt und Siegfried Zimmer.
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K., Postfach 1716, 37007 Göttingen www.edition-ruprecht.de