115 96 41MB
German Pages [194] Year 2021
19 mm
Format: Bez.155x232, Aufriss: HuCo
Birgitta Annette Weinhardt (Hg.)
Schon lange wird die Anthropologie nicht mehr in den Spuren des cartesianischen Substanzdualismus entwickelt. Trotzdem fehlt heute ein neues Paradigma vom Menschen. Denn die cartesischen Begriffe stehen auch bei kritischen anthropologischen Entwürfen weiterhin im Hintergrund, und sei es nur, um zu versuchen, sich von ihnen zu befreien. Die Autor:innen setzen sich mit der Frage auseinander, wie im Rahmen einer nicht-dualistischen Anthropologie das Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein so bestimmt werden kann, dass es nicht zu einer reduktionistischen theory of mind kommt, in der das Bewusstsein keinen Einfluss auf das Verhalten hat.
ISBN 978-3-525-57327-3
9 783525 573273
Band 35 Weinhardt (Hg.) Mind matters?
RELIGION, THEOLOGIE UND NATURWISSENSCHAFT/ RELIGION, THEOLOGY, AND NATURAL SCIENCE
RThN 35
Die Herausgeberin Birgitta Annette Weinhardt studierte Evangelische Theologie, Erziehungswissenschaft und Germanistik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, wo sie 2009 bis 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen DFG-Projekten war. Seit 2019 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Edition von Albrecht Ritschls Vorlesung über die Katholischen Briefe von 1881« an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel.
Mind matters? Zur Relevanz mentaler Phänomene in einem monistischen Menschenbild
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Religion, Theologie und Naturwissenschaft / Religion, Theology, and Natural Science
Herausgegeben von Christina Aus der Au, Celia Deane-Drummond, Agustn Fuentes, Jan-Olav Henriksen, and Markus Mühling Band 35
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Mind matters? Zur Relevanz mentaler Phänomene in einem monistischen Menschenbild Neurowissenschaftliche, philosophische und theologische Perspektiven
Herausgegeben von Birgitta Annette Weinhardt
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: https://www.istockphoto.com, Stock-Fotografie-ID:17111107 Henrik5000 Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1110 ISBN 978-3-666-57327-9
Inhalt
Birgitta Annette Weinhardt Auf der Suche nach einer nicht-reduktionistischen monistischen Anthropologie. Zur Orientierung über die Beiträge dieses Bandes................
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Dirk Evers Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung. Ein hermeneutischer Versuch.................................................................. 13 Joachim Weinhardt Zwischen dritter und vierter Kränkung. Thomas Huxleys unvollständige Präparation des Epiphänomenalismus-Problems und ein Vorschlag zu seiner Lösung ......................................................... 43 Hansjürgen Volkmer Neuronale Grundlagen bewusstseinsassoziierter Prozesse ........................... 63 Thomas Fuchs Person und Gehirn. Zur Kritik des Zerebrozentrismus ............................... 77 Birgitta Annette Weinhardt Das Verhältnis von Geist und Gehirn im Spannungsfeld von Metaphysik, Wissenschaft und Theologie. Reflexionen im Anschluss an Gerhard Roth und Nicole Strüber ......................................... 95 Rainer Mogk Wer bin ich? Philosophische und theologische Einwände zur epiphänomenalistischen, neurowissenschaftlich geprägten Bewusstseinstheorie Thomas Metzingers .................................................. 113 Markus Mühling Leibliche Interindexikalität. Die Frage nach mind und matter im Wahrwertnehmen des Evangeliums.......................................................... 129
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Inhalt
Ursula Schumacher Mit Aristoteles gegen Platon? Aristotelisch inspirierte, nichtphysikalistische Ansätze zur Überwindung eines Dualismus in der mind-brain-Debatte ...................................................................... 145 Dirk Evers Die Identität des Menschen in der Auferstehung – eine hermeneutische Perspektive mit Ausblick in die Ewigkeit .................... 171 Register ................................................................................................ 185
Birgitta Annette Weinhardt
Auf der Suche nach einer nicht-reduktionistischen monistischen Anthropologie Zur Orientierung über die Beiträge dieses Bandes Es gilt heute als selbstverständlich, dass die Anthropologie – unabhängig welcher Fachrichtung – nicht mehr einfach in den Spuren des cartesianischen Substanzdualismus entwickelt werden kann. Zwar fallen seine Stichworte früher oder später in fast jeder Diskussion über den Menschen. Aber sie orientieren die anthropologische Arbeit nur in dem Sinne, dass man eben nicht in den Bahnen Descartes wandeln möchte. Dahinter steht eine lange Forschungs- und auch ideologische Streitgeschichte, die dem frühneuzeitlichen Paradigma der Anthropologie zusetzte. Der Materialismus sammelte seit dem 18. Jahrhundert so viele Daten, dass es mit der Selbständigkeit (oder der Substantialität) des Seelisch-Geistigen schlecht bestellt schien. Auch der Idealismus vermochte es nicht, sich als Gegentheorie höherer Ordnung dauerhaft zu etablieren: Im deutschen Materialismusstreit meldete sich jene Position mit verstärkter empirischer Plausibilität erneut zu Wort. Durch den Neukantianismus wurde er zwar in seiner Wucht begrenzt, setzte sich jedoch in der Wissenschafts- und Kulturgeschichte weiter fort. Im 20. Jahrhundert ist mit dem weiteren Aufschwung der Naturwissenschaften der biologische und medizinische Aspekt des Menschenbildes immer stärker erforscht worden. Die Geisteswissenschaften haben sich dagegen stark diversifiziert und dabei auch mehr oder weniger von den Naturwissenschaften abgewendet. So fehlt also heute ein neues Paradigma vom Menschen, und es ist nicht gewiss, ob ein solches überhaupt von allen Wissenschaftlerinnen willkommen geheißen würde. Wo immer jedoch die Suche nach einer neuen Verhältnisbestimmung von Leib, Körper, Seele und Geist des Menschen stattfindet, stehen die cartesischen Begriffe und die durchaus heftig umstrittenen Varianten des Substanzdualismus auch weiterhin im Hintergrund, und sei es nur, um sich von ihm befreien zu versuchen. Die Beiträge dieses Bandes, die auf eine Tagung im Februar 2020 in der Evangelischen Akademie Bad Herrenalb zurückgehen, setzen sich mit der zentralen Frage auseinander, wie im Rahmen einer nicht-dualistischen Anthropologie das Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein bestimmt werden kann. Insbesondere liegt der Fokus auf dem Problem, ob und wie sich eine reduktionistische theory of mind bei der durch den Monismus gegebenen engen Koppelung von mentalen Vorgängen an neuronale Strukturen und Ereignisse vermeiden lässt. Dieser zu überwindende
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Birgitta Annette Weinhardt
reduktionistische Monismus entspräche der epiphänomenalistischen Variante des cartesischen Dualismus. Vielleich ist es sinnvoll, an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass der Begriff des monistischen Menschenbildes im Titel dieses Bandes nicht im Sinne des materialistischen Monismus gemeint ist. „Monismus“ ist hier vielmehr als Gegensatz zu den Spielarten des Substanz-Dualismus angesetzt. Gesucht wird eine neue Position, die mit empirischen Erkenntnisen kompatibel ist, aber nicht auf sie reduziert werden soll. Die folgenden Beiträge sind so gereiht, dass zuerst die schwerpunktmäßig historisch orientierenden Beiträge stehen, gefolgt von den Aufsätzen mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Schwerpunkten. Die theologischen Arbeiten, die sich auf diese Grundlagen beziehen, folgen am Ende des Bandes. Dirk Evers zeichnet die neuzeitlichen Spielarten des anthropologischen SubstanzDualismus historisch nach und beschreibt anschließend das Aufkommen des monistischen Menschenbildes. Dabei geht er auch ausführlich auf die Schwierigkeiten dieser Positionen ein, die er beide für gescheitert hält. Einerseits handele es sich bei der Entgegensetzung von Monismus und Dualismus nicht um ein wissenschaftliches Problem, sondern um eine Perspektivenverwirrung. Andererseits will er auch dem Dualismus nicht das Wort reden. Durch eine hermeneutische Reflexion der drei möglichen Perspektiven des Menschen – auf die äußere Welt, auf sich selbst und auf die kulturell geprägte Gesellschaft – verfolgt er das Ziel, die Einheit der Welt zusammenzudenken mit der Mehrperspektivität lebender Personen. So erklärt sich der Titel seines Beitrags, wonach der Monismus im Sinne Kants ein regulatives Ideal der Erkenntnis bleibe, während der Dualismus als Warnung vor zu schnellen reduktionistischen Gesamtdeutungen dienen soll. Joachim Weinhardt stellt Thomas Huxleys Position der Bewussten-AutomatenHypothese dar, die auf René Descartes zurückgeht, aber keine substanzdualistische Konnotation mehr hat. Huxley werde heute oft als Begründer des Epiphänomenalismus bezeichnet, was historisch nicht ganz gerechtfertigt sei. Im Epiphänomenalismus gelten Bewusstseinsvorgänge und –inhalte als reine Wirkungen körperlicher Ursachen, haben aber selbst keinerlei Auswirkungen auf das menschliche Verhalten. Weinhardt beschäftigt sich sodann mit der aktuellen Diskussion des Epiphänomenalismus und versucht aufgrund methodischer Überlegungen und empirischer Plausibilitäten diese Position zurückzuweisen. Hansjürgen Volkmer berichtet in seinem Beitrag über den aktuellen Stand der neurowissenschaftlichen Forschung und davon, wie die Fortschritte der Hirnforschung bisher zur Aufklärung mentaler Phänomene beigetragen haben. Doch kann das Bewusstsein überhaupt mit empirischen Methoden erklärt werden? Da innerhalb der Neurobiologie bezüglich dieser Frage kein Konsens besteht, beschäftigt sich Volkmer mit den Möglichkeiten und Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis in der Bewusstseinsfrage. Dabei hält er zunächst fest, dass „das Gehirn als Gesamtsystem bisher nicht verstanden ist und dass es nach wie vor keine
Auf der Suche nach einer nicht-reduktionistischen monistischen Anthropologie
überzeugende übergeordnete Theorie zur Funktionsweise des Gehirns gibt. Was also fehlt, ist eine überzeugende allgemeine Theorie, die als Grundlage für die Hypothesenbildung der empirischen Forschung dienen kann […]“ Dennoch sei es möglich, aufgrund der bisherigen Ergebnisse das Bewusstsein als „Summe bewusstseinsassoziierter Prozesse“ zu verstehen. Aus der empirischen Evidenz dürfe deshalb abgeleitet werden, „dass das Gehirn in seiner stofflichen Natur Ursprung und Zentrum bewussten Handelns“ sei. Dennoch sei es fraglich, ob damit das Bewusstsein insgesamt hinreichend beschrieben sei. Thomas Fuchs spricht sich in seinem Beitrag gegen den Zerebrozentrismus aus. Für einen vollständigen Personbegriff reiche der Blick in das Gehirn niemals aus, da die Person auch immer an ihre Leiblichkeit gebunden sei. Dabei stelle ein funktionsfähiger Leib nicht nur eine wichtige Voraussetzung für das Bewusstsein dar, sondern bilde vielmehr die Grundlage dafür, dass sich Personen überhaupt realisieren und darstellen können. Die Selbstidentifikation oder die Identifikation einer anderen Person sei deshalb auch niemals auf das Gehirn reduzierbar, sondern stets an die gesamte Verkörperung gebunden. Ein zweiter zentraler Aspekt von Personalität seien die sozialen Relationen, in denen sich ein Individuum bewege. Diese Beziehungen seien aber weder vom Gehirn erzeugt, noch in ihm zu finden. Dennoch erachtet Fuchs das Gehirn als eine „zentrale Bedingung der Möglichkeit personalen Daseins in der Welt.“ Es gelte also: „Personen haben Gehirne, sie sind es nicht.“ Birgitta Annette Weinhardt diskutiert in ihrem Beitrag einen neurobiologischen Entwurf von Nicole Strüber und Gerhard Roth über den Zusammenhang von Geist und Gehirn. Roth/Strüber fordern für ihre bevorzugte nicht-reduktionistische Variante, dass für das Mentale keine übernatürlichen Zustände angenommen werden sollten, sondern dass es im Rahmen der Naturgesetze erklärt werde. Weinhardt weist darauf hin, dass hinter dem Epiphänomenalismusproblem auch die Frage nach der Ontologie auftaucht. Auch bei Roth/Strüber zeige sich, dass selbst eine Naturwissenschaft wie die Neurobiologie nicht ohne minimale ontologische Hypothesen auskomme. Diese Feststellung sei ein interessanter Punkt für den interdisziplinären Dialog. Denn wenn Naturwissenschaftler keine Reduktionisten und die Geisteswissenschaftler keine Metaphysiker mehr sein wollen, stelle sich die Frage, wie groß der Umfang von gemeinsamen Begriffen der Wirklichkeit, also die geteilte Ontologie heute aussehen könnte. Rainer Mogk setzt sich mit Thomas Metzingers „Entzauberung des Selbst“ kritisch auseinander. Nach Metzinger könne alles subjektive Erleben letztendlich auf biologische Daten reduziert werden. Das Bewusstsein sei „eine hochspezifische Weise der Präsentation von Information über die Welt, bei der diese so erscheint, als wäre sie das Wissen eines Ego“. Dem hält Mogk die Qualia-Debatte entgegen, die bei Metzingers Argumentation keine Berücksichtigung gefunden habe. Einen besonderen Kritikpunkt Metzingers am Christentum – die Annahme einer unsterb-
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lichen Seele – hält Mogk jedoch für unerheblich, da dieser Einwand ohnehin nicht die neuere evangelische Theologie betreffe. Denn diese setze eher auf „die Einheit des Menschen, statt auf eine unsichtbare und unsterbliche Seele als Wesenskern des Menschen.“ Abschließend überlegt Mogk, was die Theologie über die philosophische anti-epiphänomenalistische Argumentation hinaus zur Vorstellung vom Selbst beitragen könne, und kommt dabei auf die anthropologischen Überlegungen von Wolfhart Pannenberg zu sprechen. Markus Mühling vertritt in seinem Beitrag die These, dass die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn auf falschen Prämissen beruhe. Denn in der basalen Wahrnehmung komme diese begriffliche Unterscheidung nicht vor, daher bilde sie bereits eine nachträgliche Abstraktion. Dasselbe gelte auch für die noch vorgängigere Subjekt-Objekt-Distinktion, denn sie sei im Wahrnehmen nicht vorausgesetzt, sondern erscheine „aus dem [der Wahrnehmung] seinerseits vorgängigen Wahrwertnehmen.“ Mühling kommt deshalb zu dem Schluss, dass sich sowohl ein ontologischer Dualismus von Subjekt und Objekt, als auch ein Dualismus von Geist und Materie verbiete. „Ein solcher würde nämlich gar keine konstitutive Relationalität von Subjekt und Objekt annehmen, sondern nur deren sekundäre, nicht-konstitutive Relationierung […]“ Ursula Schumacher diskutiert die Frage, ob der aristotelisch-thomasische Hylemorphismus eine Alternative darstellen könnte zum (neu)platonisch/cartesischen Dualismus einerseits und zum eliminativen Materialismus andererseits. Thomas nimmt die aristotelische anima-forma-corporis-Lehre auf, bei der die Seele zwar eine starke Position hat, aber niemals ohne materielle Leiblichkeit gedacht werden kann, und scheidet dabei sogar noch einen platonischen Rest des Stagiriten aus. Allerdings gerät in der Eschatologie auch Thomas in eine semidualistische Problematik. Denn zwar hält er fest, dass der Zwischenzustand der vom Leib getrennte Seele ihrem Wesen widerspricht, weil sie als Entelechie auch nach dem Tod dauerhaft auf einen Körper verwiesen bleibt. Andererseits ist die Erkenntnisfähigkeit der leiblosen Seele hochrangiger als im Leibesleben, weil sie jetzt nicht mehr an die sinnliche Wahrnehmung gebunden ist, sondern begrifflich erkennen kann. Belastet mit dieser Hypothek, gibt es dennoch eine ganze Reihe katholischer Autoren, die den Hylemorphismus in die gegenwärtige mind-brain-Debatte einbringen. Schumacher beschreibt die verschiedenen Varianten, in denen dies geschieht, und wägt bedachtsam ab, wie die Bilanz von Plausibilitäten und Problemen im Vergleich mit dem Dualismus und dem Materialismus gezogen werden könnte. In einem zweiten Beitrag von Dirk Evers geht es um die Frage nach der eschatischen Zukunft des Menschen, genauer gesagt um die Kontinuität zwischen bzw. Identität von gestorbenem und auferwecktem Menschen. Zuerst setzt er sich mit dem Gegensatz zwischen der nach 1900 aufgekommenen Lehre von der vollständigen Vergänglichkeit des Menschen im Tod und der traditionellen, aus dem Platonismus stammenden Vorstellung einer unsterblichen Seele auseinander. Danach
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weist er darauf hin, dass vom biblischen Hintergrund her eher ein Todesrealismus als die Unsterblichkeitshoffnung einen starken Anhalt habe. So oder so sei jedoch das bloße Vorhandensein einer unsterblichen Seele keine geeignete Denkfigur, um eine angemessene Verhältnisbestimmung zwischen gelebten Leben und erhoffter eschatischer Vollendung durchführen zu können. Bei der Entfaltung seiner eigenen Position greift Evers zu der mathematischen Metapher des Integrals. Die Erfahrungen des gelebten Lebens, die unter anderem auch aus Gelingen und Scheitern bestehen, sollen nicht lediglich summiert und verewigt werden, sondern von Gott zu einer höheren Einheit zusammengefasst werden. Damit gehe auch „notwendig der Gerichtsgedanke einher“, wobei Evers auf Jüngels Vorstellung vom jüngsten Gericht als therapeutischem Ereignis schlechthin und auf den TäterOpfer-Zusammenhang verweist, bei dem schließlich auch die Täter geheilt werden können, nachdem „ihre wohlverdiente Schande offenbart“ wurde. Am Ende dieser Einleitung soll aber nicht von eschatischer Schande, sondern von irdischer Freude die Rede sein, nämlich über die Aufnahme der Beiträge in die Reihe „Religion, Theologie und Naturwissenschaft/ Religion, Theology and Natural Science“. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich bei den Reihenherausgeber*innen. Den Mitarbeiter*innen im Lektorat, vor allem Frau Laura Röthele, Frau Miriam Espenhain und Herrn PD Dr. Izaak de Hulster, gebührt für ihre freundliche Unterstützung bei der Drucklegung ebenfalls großer Dank.
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Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung Ein hermeneutischer Versuch Im gegenwärtigen Diskurs um das Leib-Seele-Problem werden die beiden wesentlichen, sich wechselseitig ausschließenden Alternativen mit den Schlagwörtern Monismus und Dualismus bezeichnet. Friedrich Hermanni hat durchaus zutreffend beobachtet, dass man es „in der gegenwartsphilosophischen Debatte über das Leib-Seele-Problem […] im Wesentlichen mit zwei Konfessionen zu tun hat“1 , die sich, einander ausschließend, gegenüberstehen: die eine Partei – scheinbar mit den empirischen Wissenschaften im Bunde – besteht darauf, dass das Wirkliche allein aus materiell-physischen Dingen und Zuständen besteht (Monismus), während die andere dem physisch Wirklichen einen zweiten Bereich zuordnet, die Welt des Seelischen und Geistigen (Dualismus) – wobei sich die Frage nach der Wechselwirkung beider Bereiche stellt (Interaktionismus). Ich möchte in den folgenden Ausführungen versuchen, die Differenz zwischen Monismus und Dualismus über ihre Konzeptionalisierung als eine Art kontradiktorischen Gegensatz hinauszuführen und deutlich zu machen, dass beide „Ismen“ eine auf je spezifische Weise verkürzte und deshalb aporetische Wirklichkeitssicht darstellen, sich in ihnen aber Haltungen niederschlagen, die sich hermeneutisch, also im Vollzug von Verstehen, vermitteln lassen. Dazu werde ich im Folgenden zunächst einen Blick auf die Geschichte der beiden ‚Konfessionen‘ werfen, dann einige wenige Bemerkungen zum Vorhaben einer hermeneutischen Vermittlung anschließen und sowohl konzeptionelle Schwierigkeiten des Dualismus als auch des Monismus kurz darstellen.
1 Friedrich Hermanni, Das Leib-Seele-Problem. Ein heterodoxer Lösungsvorschlag, in: Das LeibSeele-Problem. Antwortversuche aus medizinisch-naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, hg. v. F. Hermanni / T. Buchheim, München 2006, 163–179, 163. Hermannis eigener, von ihm als heterodox bezeichneter Lösungsvorschlag sucht die Alternative von Monismus und Dualismus durch die Variante eines Aspekt- oder Perspektivendualismus innerhalb einer psychophysischen Identitätstheorie zu unterlaufen: „Ein und dasselbe, was dieser konkrete mentale Zustand ist, ist aus anderer Perspektive auch dieser konkrete physische Zustand“ (Hermanni, Leib, 175). Das erinnert sehr an Gustav Theodor Fechners ‚Doppelaspekttheorie‘. Vgl. dazu vom Vf.: Dirk Evers, Natur von innen gesehen. Gustav Theodor Fechners psychophysikalische Identitätsansicht, in: Geist – Natur. Schöpfung zwischen Monismus und Dualismus, hg. v. T. Möllenbeck, Münster 2009, 73–94. Dort habe ich zusätzliche Argumente für das Ungenügen sowohl des Monismus als auch des Dualismus aufgeführt. Zu Fechner vgl. auch die ausführliche Darstellung bei Michael Heidelberger, Die innere Seite der Natur. Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltauffassung (PhA 60), Frankfurt a.M. 1993.
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Dirk Evers
Es folgt eine hermeneutische Reflexion dieses Befunds, die ein Drei-PerspektivenModell entwickelt und dann in vier Schritten eine Zusammenschau monistischer und dualistischer Anliegen versucht.
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Zur Geschichte der Konzepte von Monismus und Dualismus
Das beständige und bis heute sich fortsetzende Zurückfallen der Debatte um das Verhältnis von Leib und Seele bzw. Materie und Geist auf die Alternative zwischen Monismus und Dualismus wird besser verständlich, wenn man sich die Geschichte dieser ‚Konfessionen‘ vor Augen führt. Schon in der europäischen Antike hatten sich dualistische Seelenvorstellungen herausgebildet – allerdings oft noch im Zusammenhang mit einem mythischen Panvitalismus, bei dem die ganze Wirklichkeit als beseelt angesehen wurde –, die eine relative Unabhängigkeit der Seelen von Körper und Materie annahmen. Plausibel ist das allein schon aufgrund der Tatsache, dass wir in Geist und Denken uns von der materiellen Wirklichkeit lösen können. Dies steigerte sich bis zur Behauptung vollkommener Inkommensurabilität von Seele und Körper etwa in verschiedenen Spielarten des Platonismus. Hans Jonas hat dafür plädiert, dass diese Entwicklung getrieben war davon, auf die Frage nach dem Tod eine Antwort zu bekommen. Im Dualismus äußerte sich die unbedingte Wertschätzung des sich selbst gegenüber so eigentümlich ungleichgültigen menschlichen Lebens, und je länger je mehr zog die sich aus der Welt und der Natur „zurückziehende Seele alle spirituelle Bedeutsamkeit und metaphysische Würde an sich“2 . Das frühe Christentum entwickelte sich vor dem Hintergrund solcher dualistischen Vorstellungen, wie sie sich in radikalisierter Form auch in gnostischen Strömungen niederschlugen, und nahm zum Teil neuplatonische Vorstellungen auf, die die geschaffene materielle Welt als bloßen Durchgangsort für die Seelen ansahen. Andererseits war das Christentum aber schöpfungstheologisch auf die Wertschätzung des Kosmos als Gottes guter Schöpfung verpflichtet, was für viele eine Hochschätzung der materiellen, körperlichen Natur mit einschloss. Diese Debatten schlugen sich bis in die Gotteslehre und die Frage nach der Körperlichkeit Gottes selbst nieder, wie das vor kurzem Christoph Markschies bis ins Detail rekonstruiert hat.3 An seiner Darstellung wird deutlich, dass bei weitem nicht alle frühchristlichen Theologen Platoniker waren und die Gefahr eines Verlustes des Kosmos, der Natur und der Personalität Gottes bei einer entschieden dualistischen Ontologie durchaus gesehen wurde.
2 Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, 27. 3 Vgl. Christoph Markschies, Gottes Körper, München 2016.
Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung
Hatte es schon in der Antike auch monistisch orientierte Konzeptionen wie etwa einen kosmisch-animistische Materialismus gegeben, so formierte sich eine echte Alternative zum Dualismus doch erst in der Neuzeit, als man konzeptionelle Schwierigkeiten des Dualismus deutlich herausarbeitete und die Wirklichkeit in wissenschaftlicher Perspektive als einen einheitlichen Zusammenhang zu begreifen begann. Der Verdienst des neuzeitlichen Monismus ist es – so noch einmal Jonas –, nun konsequent das physisch-körperliche Leben und die Wirklichkeit in Raum und Zeit als einen einheitlichen Zusammenhang und aus sich selbst heraus zu begreifen und damit die Möglichkeit zu eröffnen, ihn als reine Diesseitigkeit zu verstehen. Leben und menschliche Existenz werden als Momente dieses Zusammenhangs wahrgenommen, und sie sollen nicht an einem Maß gemessen werden, das von woanders her, von jenseits der Wirklichkeit, genommen werden muss und damit die Gefahr von Entfremdung und Uneigentlichkeit birgt.4 Getrieben wurde der neuzeitliche Monismus von der Erschütterung, die von der Entdeckung der Eigengesetzlichkeit der physischen Wirklichkeit ausging und die sich im Laufe der Zeit von einem theoretischen Prinzip zur praktischen Lebenshaltung transformierte. Nun erst entstand der Monismus als ‚Konfession‘, als die Philosophie der frühen Aufklärung die Begriffe Monismus und Dualismus prägte. Man war an einer Typologie möglicher philosophischer Systeme interessiert und vergab entsprechend eingängige Label. Allerdings „bezeichnete Dualismus zuerst (bei Hyde, Bayle, Leibnitz [sic!]) die religiöse Lehre, welche ein gutes und ein böses Weltwesen annimmt, seit Wolff aber die philosophische Theorie, der Geistiges und Körperliches substantiell verschieden sind.“5 Zunächst also – und diese Bedeutung hat sich ja ebenfalls bis heute gehalten – wurden unter dualistischen Systemen solche Anschauungen verstanden, die dem guten Prinzip (Gott) ein böses Gegenprinzip zur Seite stellen. Erst unter Christian Wolff erhielt das Begriffspaar dann seine für die Leib-Seele-Debatte relevante Prägung6 , als dieser die Begriffe folgendermaßen definierte: „Dualisten heißen diejenigen, die die Existenz materieller und immaterieller Substanzen annehmen“7 . „Monisten heißen Philosophen, die nur eine Art Substanz annehmen“8 . Und er kommt zu dem Schluss: „Nach allgemeiner Meinung, die unter uns besteht, verkennt niemand, dass der Dualismus vorherrscht und der
4 Vgl. wieder Jonas, Organismus, 29. 5 Rudolf Eucken, Geschichte der philosophischen Terminologie, Leipzig 1879, 195. 6 In dem Lexikon von Johannes Micraelius, Lexicon philosophicum terminorum philosophis usitatorum, Stettin 1661 fehlen beide Begriff noch. 7 Christian Wolff, Psychologia Rationalis, Frankfurt a.M. Leipzig 1734, 24 (§32): „Dualistae sunt, qui & substantiarum materialium, & immaterialium existentiam admittunt“. 8 A.a.O., 26 (§39): „Monistae dicuntur philosophi, qui unum tantummodo substantiae genus admittunt“. Übrigens haben sich bis in das 19. Jahrhundert alternative Begriffe wie Unitarismus oder Unismus gehalten.
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Dirk Evers
Monismus verhasst ist.“9 Insofern außer Spinoza, dessen Schrifttum als atheistisch unterdrückt wurde und erst um 1800 eine Renaissance erlebte, kaum ein ausdrücklicher metaphysisch-ontologischer Monismus vertreten wurde, sondern der ebenfalls eine Minderheitenposition darstellende Materialismus als eigentlicher Gegner erschien, blieben die Begriffe bis in das 19. Jahrhundert hinein selten gebrauchte Fachtermini, die vor allen Dingen in lexikalischen und philosophiegeschichtlichen Werken typologisierend verwendet wurden. Wichtiger sind in dieser Zeit die Varianten des Dualismus in Bezug auf das LeibSeele-Problem, die sich in der Bestimmung der Wechselwirkung zwischen Mentalem und Physischem unterscheiden, so dass der Dualismus in die drei klassischen Schulen der Influxus-Theorie, der prästabilierten Harmonie sowie des Okkasionalismus zerfällt. Nach der ersten Variante vermag das Seelische das Leibliche real zu beeinflussen und umgekehrt10 , nach der zweiten sind Leibliches und Seelisches als zwei Aspekte des Wirklichen vom Schöpfer von Beginn an in wechselseitiger Harmonie geschaffen, ohne dass eine Wechselwirkung zwischen beiden vorliegt, und nach der dritten werden durch eine übernatürliche, göttliche Vermittlung – dem jeweiligen ‚Anlass‘ (lat. occasio) entsprechend – das Leibliche und das Seelische je und je korreliert, ohne dass ein natürlicher, kausaler Einfluss vorliegt.11 Der Begriff des Monismus erfuhr dann eine Renaissance in den Auseinandersetzungen um das Verständnis der neuzeitlichen (Natur-)Wissenschaften, wie sie die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägten, und wurde zu so etwas wie einem „Kampfbegriff für die Emanzipation der Naturwissenschaften von theologischer und philosophischer Bevormundung“12 . Er wurde zum Schlagwort gegen vitalistische und teleologische Konzepte innerhalb der Naturwissenschaften, die eine besondere, ‚nicht-materielle‘ Lebenskraft annahmen oder eine Naturgeschichte unterstellten, die durch auf Ziele und Zwecke hin ausrichtende Kräfte bestimmt sei. Zugleich zielte dieser Monismus im Namen der Wissenschaft auf eine Fundamentalkritik überlieferter metaphysischer Philosophiekonzepte und richtete sich auch gegen „die kirchliche Weltanschauung mit ihren übernatürlichen Voraussetzungen und ihrem Jenseitsglauben“13 . Nach dem Philosophen Arthur Drews, von dem 9 Ebd.: „Communem esse hanc sententiam, quae inter nos obtinet, nemo ignorat, ut Dualismus sit dominans & Monismus ideo exosus habeatur.“ 10 Vgl. Alexander G. Baumgarten, Metaphysica, Halle (Saale) 1750, 129 (§450): „una in alteram realiter influit“. 11 Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnte, dass Immanuel Kant an zwei Stellen in der Kritik der reinen Vernunft unter ‚Dualism‘ die Gewissheit versteht, unabhängig von uns existierende Dinge anzunehmen. Der Gegenbegriff dazu ist der ‚Idealism‘. 12 Tilman M. Schröder, Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie (Contubernium 67), Stuttgart 2008, 408. 13 So der Monist Arthur Drews, zitiert nach a.a.O., 409.
Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung
dieses Zitat stammt und der einen von ihm so genannten ‚konkreten Monismus‘ vertrat, ist das konkrete Wirkliche das dynamische, zur Setzung eigener Zwecke erwachte Resultat der Selbstorganisation eines zunächst unbewussten Seins. Weder der menschliche Geist noch ein göttlicher Schöpfer stehen der Wirklichkeit dieses einen Seins dualistisch gegenüber. Der menschliche Geist ist vielmehr sein spätes Produkt und täuscht sich, wenn er sich als Geist vom göttlichen Geist versteht. Im Übrigen löste nun der Begriff der Weltanschauung den des philosophischen Systems ab und der ‚Kampf um die Weltanschauung‘ zwischen monistischmaterialistisch und dualistisch-metaphysisch orientierten Wirklichkeitsauffassungen wurde zur stehenden Wendung in der Beschreibung der entsprechenden Auseinandersetzungen. Die Kampfmetaphorik brachte den von den beteiligten Parteien empfundenen grundsätzlichen und machtförmigen Charakter dieser Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit der Wirklichkeit zum Ausdruck, und sie hielt sich bis in die Zeit des Nationalsozialismus.14 Vor allem der ‚Monismus‘ wurde nun zum weltanschaulichen Kampfbegriff und um 1900 „zur Parole verschiedener Reformbestrebungen, die ein säkulares, wissenschaftlich-weltanschauliches Reforminteresse zu Bündnissen mit weitgehend ersatzreligiösem Charakter motiviert“15 . Durch die Entwicklungen in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts und durch entsprechende Neubestimmungen dessen, was naturwissenschaftliche Erkenntnis für das Welt- und Selbstverständnis des Menschen bedeutete, geriet der traditionelle Dualismus einschließlich der mit ihm verbundenen Vorstellungen einer unsterblichen Seele, eines dem Wirklichen gegenüberstehenden und sie auf sich ausrichtenden Schöpfers und eines Jenseits gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter starken Druck. Zudem erschien er als von kirchlich-theologischen Machtinteressen geleitet. Umgekehrt schien der moderne Monismus jede transzendente Dimension überhaupt zunichte zu machen und ein Seelenleben und höhere Werte zu leugnen, damit aber die Grundlagen des abendländischen Kulturraums infrage zu stellen. Greifbar werden diese Auseinandersetzungen in jeweils neuer Wendung in den drei bekannten Großdebatten im Deutschland des 19. Jahrhunderts: dem Materialismus-Streit, dem Darwinismus-Streit und dem Ignorabimus-Streit.16
14 Vgl. dazu vom Vf.: Dirk Evers, Apologetische Theologie im „Weltanschauungskampf“. Der Streit um Theologie und Naturwissenschaften vor und nach 1900, Materialdienst der Evang. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 72, H. 12 (2009), 443–455. 15 Horst Hillermann / Anton Hügli, Art. Monismus, HWP 6, 132–136, 133. 16 Vgl. dazu die drei Quellensammlungen mit ihren jeweiligen illustrativen Einführungen: Der Materialismus-Streit (PhB 618), hg. v. K. Bayertz / M. Gerhard / W. Jaeschke, Hamburg 2012; Der Darwinismus-Streit (PhB 619), hg. v. K. Bayertz / M. Gerhard / W. Jaeschke, Hamburg 2007; Kurt Bayertz / Myriam Gerhard / Walter Jaeschke, Der Ignorabimus-Streit (PhB 620), Hamburg 2007.
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Es sind die Nachwirkungen dieser Debatten, die bis heute mit Monismus und Dualismus verbunden sind und entsprechende weltanschauliche und identitätspolitische Subtexte transportieren. Auf einer sehr formalen Ebene geht es um die Frage, ob ontologisch grundlegend von einer einzigen ‚Substanz‘ oder zwei einander zunächst und an sich unvermittelt gegenüberstehenden ‚Substanzen‘ (was immer ‚Substanz‘ jeweils heißt) auszugehen ist. Im ersten Fall stellt sich die Frage, was es dann mit den, auch von monistischen Weltanschauungen kaum zu leugnenden Kategorien des Seelischen, Geistigen, Moralischen (und Religiösen) auf sich hat, im zweiten Fall, wie denn die wechselseitige Vermittlung beider Bereiche aussehen kann und wie sich entsprechende Wahrheitsansprüche zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis verhalten. Über diese Fragen wurden und werden also ‚weltanschauliche‘ und religionskritische bzw. institutionenkritische Positionen markiert, die die Debatten so leidenschaftlich machen. Es scheint immer irgendwie das Ganze und ein grundsätzliches Verständnis des Wirklichen auf dem Spiel zu stehen, wenn es um die Alternative Monismus oder Dualismus geht: Ist das empirisch Erfahrbare, das wissenschaftlich Feststellbare, die raumzeitliche Wirklichkeit und unsere physische Existenz in ihr alles, was wir haben, oder sind zusätzliche Bereiche der Wirklichkeit in Anschlag zu bringen, die dann aber sofort unter dem Verdacht eines heteronomen Herrschaftswissens stehen?
2.
Kurze hermeneutische Besinnung
Es ist im Folgenden mein Anliegen, die Fronten zwischen Monismus und Dualismus ein wenig aufzuweichen, ihre weltanschauliche Aufladung zu entspannen und die jeweils dahinter liegenden Interessen positiv zu würdigen, um mit Hilfe hermeneutischer Reflexionen auf die erkenntnisleitenden Interessen einen Schritt über ihre Entgegensetzung hinaus machen zu können. Das schließt ausdrücklich eine positive Würdigung eines monistischen Verständnisses von Wirklichkeit ein, das vor einem Auseinanderfallen der Wirklichkeit in zwei unvermittelte und unvermittelbare Aspekte warnt. Damit fordert es eine Sicht ein, in der das, was theologisch und religiös etwa mit Vorstellungen der Seele und des Seelischen oder mit der Kategorie des Geistes17 gemeint ist, nicht beständig als das Andere des naturwissenschaftlichen Zugriffs auf die Wirklichkeit bestimmt wird. Das ist auch theologisch zu würdigen, herrscht doch in der deutschsprachigen protestantischen Theologie eine quasi-dualistische Wirklichkeitsauffassung vor, wenn kategorisch
17 Vgl. dazu vom Vf.: Dirk Evers, „Der Geist, der lebendig macht …“. Pneumatologie und Empirie, in: Creator Spiritus. Das Wirken des Heiligen Geistes als theologisches Grundthema (Evangelische Impulse 8), hg. v. A. Philipps, Göttingen 2019, 89–107.
Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung
zwischen Objektbewusstsein und religiöser Deutung unterschieden wird. Unter Berufung auf Kants transzendentallogische Wendung soll die „Selbstthematisierung des Subjekts“ und seine (religiöse) Weltwahrnehmung von einer „Bezugnahme auf objektive Gegebenheiten“ abkoppelt werden, so dass theologische Aussagen als deutungstheoretische Analysen einer religiösen „Selbst- und Weltwahrnehmung des Subjekts“ verstanden werden und Theologie nun „nicht in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften tritt“ und damit von fruchtlosen apologetischen Auseinandersetzungen um eine Vermittlung von religiösem und naturwissenschaftlichem Wirklichkeitsverständnis absolviert wird.18 Das Problem des Zusammenhangs zwischen beiden Perspektiven meint man andererseits dadurch auffangen zu können, dass nach Kant ja auch „die Struktur der Gegenstandswelt das Resultat der mentalen Aktivität des Bewußtseins“ ist. Subjektivität und Geist ziehen wieder alle metaphysische Bedeutunsamkeit an sich, und Gott kann „gar nicht anders gedacht werden denn als innerer Grund von Subjektivität“19 . Will die Theologie die Wirklichkeit des Materiellen, Körperlichen, Leiblichen und damit einen theologischen Realismus20 wiedergewinnen, wird sie sich neu mit den – zugegebenermaßen schwierigen – Übergängen und Verschränkungen zwischen dem Mentalen und dem Materiellen beschäftigen müssen. Ich werde mich also im Folgenden nicht einem strikten Perspektivendualismus das Wort reden. Unsere Perspektiven auf das Wirkliche sind nicht dual, sondern plural und damit reichhaltiger, vielschichtiger, verschränkter und immer nur in dynamischen Konstellationen und Differenzierungen von Perspektiven der dritten und ersten Person sowie in kommunikativen und sozialen Zusammenhängen (zweiten Person) zu verstehen. Es gilt, nicht mit behaupteter Einheitlichkeit oder unreduzierbarer Dualität zu beginnen, sondern mit der Rekonstruktion unserer tatsächlichen Verstehensbemühungen, Begriffsbildungen und hermeneutischen Orientierungsleistungen, um von daher weder einem monistischen Naturalismus noch einem dualistisch gefärbten Deutungssubjektivismus das Wort zu reden, sondern im Sinne eines hermeneutischen Realismus21 zu rekonstruieren, worin berechtige Anliegen und zu kurz greifende Einseitigkeiten monistischer wie dualistisch orientierter Interpretationen des Wirklichen zu sehen sind und wie wir unser
18 Alle Zitate aus: Notger Slenczka, Flucht aus den dogmatischen Loci. Das Erbe des 20. Jahrhunderts. Neue Strömungen in der Theologie, zeitzeichen 14 (2013), 45–50, 48. 19 Ulrich Barth, Abschied von der Kosmologie. Welterklärung und religiöse Endlichkeitsreflexion, in: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 401–426, 417. 20 Vgl. dazu vom Vf.: Dirk Evers, Rationalitätsstandards in den Naturwissenschaften und das Projekt einer realistischeren Theologie, in: Christentum und Europa. XVI. Europäischer Kongress für Theologie (VWGTh 57), hg. v. M. Meyer-Blanck, Leipzig 2019, 592–609. 21 Vgl. Anton Friedrich Koch, Hermeneutischer Realismus, Tübingen 2016.
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irreduzibel plurales Verstehen von Wirklichkeit in seinen Grenzen und Möglichkeiten besser verstehen und auf unsere Lebensorientierungen sinnvoll beziehen können. Gerade für das Verständnis der materiellen, raumzeitlichen Wirklichkeit in ihrem Verhältnis zu mentalen Vorgängen gilt es, die hermeneutische Mahnung Schleiermachers zu beherzigen: „Das Anfangen aus der Mitte ist unvermeidlich“22 , weshalb das „Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.“23 Dazu machen wir uns im Folgenden grundlegende Schwierigkeiten des klassischen Dualismus sowie eines physikalistischen Monismus mit Bezug auf das Verhältnis von Leiblichem und Seelischem klar, um dann von daher eine komplexere und reichhaltigere Rekonstruktion des Auseinandertretens beider Aspekte sowie ihrer beständigen Vermittlung im Zusammenhang dynamischer, als Prozess und Geschehen verstandener Wirklichkeiten zu versuchen.
3.
Die Schwierigkeiten des Dualismus
Wie schon im historischen Rückblick angedeutet, liegt die Hauptherausforderung für den Dualismus in der Frage der Wechselwirkung: Wie kann eine Wirksamkeit des Mentalen im Bereich des Physischen gedacht werden und wie kann umgekehrt das Physische auf mentale Erscheinungen Einfluss nehmen? In der heutigen Debatte wird das Konzept einer Wechselwirkung zwischen Mentalem und Physischem auch als interaktionistischer Dualismus bezeichnet. Von ihm kann der Epiphänomenalismus unterschieden werden, der das Mentale zwar vom Physischen kategorial unterscheidet und damit als eine Art Dualismus gelten kann, der das Mentale aber als physisch unwirksame Begleiterscheinung der neuronalen Prozesse betrachtet. Diese Auffassung kann die besondere Rolle, die das Mentale jedenfalls in unserer Selbsterfahrung spielt, nur als Illusion betrachten.24 Das erscheint unplausibel. Dass zudem der Epiphänomenalismus mit der Evolutionsbiologie schwer vereinbar ist, hat schon Karl Popper gezeigt,25 und andere wie Friedrich Hermanni sind ihm darin gefolgt.26 Zwar hat die Evolutionsbiologie in den letzten Jahrzehnten wiederholt herausgestellt, dass und wie Eigenschaften,
22 Friedrich D. E. Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik 1 (KGA II/10–1), hg. v. A. Arndt, Berlin / New York 2002, 186. 23 Friedrich D. E. Schleiermacher, Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik (KGA II/4), hg. v. W. Virmond, Berlin 2013, 127. 24 Das ist auch die innere Spannung bei Thomas Metzingers No-Self-Philosophie. Vgl. dazu den Beitrag von Rainer Mogk in diesem Band. 25 Karl R. Popper / John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München 1982, 102–105. 26 Hermanni, Leib, 164.
Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung
die zunächst funktional irrelevant sind, entstehen und dann auch auf die Evolution zurückwirken können.27 Doch beim Epiphänomenalismus geht es um mehr, weil dem Mentalen grundsätzlich physische Folgenlosigkeit zugesprochen wird.28 Das ist eine ontologische, nicht nur eine biologische These. Der Epipänomenalismus vertritt also eine eigentümliche Sicht der Natur, wenn in ihr und durch sie etwas hervorgebracht worden sein soll, was sich einerseits durch seinen besonderen qualitativen Gehalt und eine eigentümliche Ungleichgültigkeit sich selbst gegenüber auszeichnet, die sich in Kategorien wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Wahrheit niederschlägt, andererseits aber völlig folgenlos sein soll. So bleibt als die denkerische Herausforderung für einen nicht-trivialen, interaktionistischen Dualismus, das kausale Hin und Her zwischen Physischem und Mentalem erklären zu müssen. Damit ergibt sich als Hauptschwierigkeit, dass jeder Dualismus gegen die Vorstellung einer prinzipiellen Geschlossenheit des Physischen verstößt. Der Dualismus impliziert, dass es im Zusammenhang des Physischen ‚causal joints‘, also kausale Gelenk- oder Verbindungsstücke geben muss, an denen das Mentale wirksam werden kann.29 Dabei kann offenbleiben, ob eine kausale Geschlossenheit auf der Ebene der Dinge gemeint ist oder eine methodische Geschlossenheit auf Seiten der Wissenschaft.30 Jedenfalls stellt das Physische in der Perspektive der neuzeitlichen Wissenschaften einen lückenlosen raum-zeitlichen und materiell-energetischen Zusammenhang dar, in dem keine Ansatzpunkte für eine Wirksamkeit des Mentalen zu identifizieren sind. Die Unterstellung eines solchen Zusammenhangs hat sich jedenfalls theoretisch und praktisch gut bewährt und ist zugleich die methodische Grundlage für die Naturwissenschaften, die in
27 Ein ganz banales Beispiel ist das Summen der Insekten. Dieses ist – vermutlich – nicht als solches selektiert worden, sondern eine ‚epiphänomenale‘ Begleiterscheinung des Flügelschlags von Insekten wie Bienen, Hummeln oder Mücken. Es könnte sogar einen evolutionären Nachteil dargestellt haben, weil durch diesen Ton auch Fressfeinde aufmerksam werden, was aber durch den Vorteil des Fliegens mehr als kompensiert wurde. Einige dieser Insekten haben dann begonnen, das eigene Summen als Signal z. B. zur Partnersuche zu verwenden. So hatte das ursprünglich nicht-funktionale Summen biologische Folgen, weil es eine physische Realität darstellt. Das will der Epiphänomenalismus in Bezug auf das Mentale aber gerade ausschließen. 28 Vgl. dazu den Vorschlag von Joachim Weinhardt in diesem Band, der gegen den Epiphänomenalismus für eine Gleichursprünglichkeit des Mentalen und Physischen plädiert. 29 Ein analoges Problem wird in der vor allem angelsächsisch geprägten Debatte um das Handeln Gottes traktiert: Wie und an welchen Stellen kann Gott den physischen Zusammenhang der Wirklichkeit beeinflussen und darin handelnd wirksam werden? Dies wird als Frage nach dem ‚causal joint‘, dem kausalen Gelenk- oder Verbindungsstück, bezeichnet (vgl. einführend und kritisch Sarah L. Ritchie, Dancing Around the Causal Joint. Challenging the Theological Turn in Divine Action Theories, Zygon 52, H. 2 (2017), 361–379). Eine solche religionsphilosophische Fragestellung hat noch einmal ihre eigenen Schwierigkeiten, auf die wir hier nicht eingehen können. 30 Vgl. Hermanni, Leib, 165.
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ihren empirisch kontrollierten und mathematisch modellierten Darstellungen der Wirklichkeit auf keine entsprechenden Lücken des Zusammenhangs stoßen. Der Dualismus steht deshalb vor zwei gleichermaßen unplausiblen Alternativen: Er verzichtet entweder auf eine Wechselwirkung zwischen dem Mentalen und dem Physischen – dann kann er die Relevanz des Mentalen für das Physische und umgekehrt nicht deutlich machen und wird zum Epiphänomenalismus; oder er behauptet interaktionistisch eine Wechselwirkung – dann kommt er in Konflikt mit den Naturwissenschaften, weil diese die fundamentale Geschlossenheit des raumzeitlichen Wirkungszusammenhangs des Physischen erfolgreich voraussetzen. Es bleibt dann unklar, wo und wie eine ‚nicht-physische‘ Gelenkstelle zwischen den ontologischen Bereichen identifiziert werden könnte. Damit führt der Dualismus in eine fundamentale Aporie.
4.
Die Schwierigkeiten des Monismus
Doch auch der Alternative, dem Monismus geht es nicht viel besser. Seine wohl stärkste und konsequenteste Form stellt in der gegenwärtigen Debatte die physikalistische Identitätstheorie dar.31 Nach dieser Position sind mentale Ereignisse mit bestimmten Gehirnvorgängen identisch, so dass das Mentale keinen eigenen, vom Physischen abgetrennten Bereich des Wirklichen darstellt, sondern als eine abgekürzte und auf bestimmte Aspekte konzentrierte Form der Beschreibung komplexer physischer Zustände verstanden werden muss. Ihre Plausibilität gewinnt diese Ansicht zunächst einmal dadurch, dass die modernen Naturwissenschaften mit großem Erfolg die physischen Zusammenhänge unserer Wirklichkeit mathematisch beschreiben und empirisch erkunden können. Das schließt inzwischen auch bestimmte neurophysiologische Prozesse von Gehirnfunktionen mit ein, die man etwa durch bildgebende Verfahren mit mentalen Ereignissen korrelieren kann. Es hat sich herausgestellt, dass begrenzte Hirnverletzungen zum Ausfall ganz bestimmter mentaler Fähigkeiten führen. Eine längere Unterversorgung des Gehirns als ganzem hat dann den so genannten Hirntod zur Folge, nach dem vermutlich überhaupt keine mentalen Vorgänge mehr stattfinden. Es legt sich deshalb nahe, das Mentale direkt als eine Funktion des Physischen zu verstehen und es mit bestimmten Vorgängen im Gehirn zu identifizieren, auch wenn wir eine andere Sprache benutzen, um die entsprechenden mentalen Phänomene zu beschreiben.
31 Vgl. zum Folgenden auch: John J. C. Smart, The Mind/Brain Identity Theory. The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2017), hg. v. Edward N. Zalta, Stanford 2017. Online verfügbar unter https://plato.stanford.edu/archives/spr2017/entries/mind-identity/, zuletzt geprüft am [30.09.2020].
Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung
Solche unterschiedlichen Beschreibungen von Phänomenen, denen letztlich rein physische Erscheinungen zugrunde liegen, kennen wir auch aus anderen Bereichen. So reden wir vom Licht und seinen Farben und unterstellen doch zugleich, dass es sich auch beim sichtbaren Licht ‚um nichts anderes als‘ elektromagnetische Strahlung handelt, die erst durch unsere Wahrnehmung als ‚farbig‘ beschrieben wird. Ein weiteres Beispiel ist die Entdeckung, dass Gene (also durch Vererbung weitergegebene und sich in den Eigenschaften der Nachkommen niederschlagende Erbanlagen) ‚nichts anderes sind als‘ DNA-Moleküle, die den genetischen Code enthalten. Analog behauptet die physikalistische Identitätstheorie, dass alle mentalen Erscheinungen im Grunde ‚nichts anderes sind als‘ neurophysiologische Gehirnvorgänge. Wenn wir von Gedanken oder Gefühlen reden, dann benutzen ein für unsere Alltagserfahrung nützliches und vielleicht sogar teilweise begrifflich und phänomenologisch unverzichtbares Vokabular, das sich aber letztlich auf rein physische Vorgänge bezieht. Diese Position ist monistisch, weil sie das Physische als die einheitliche und in sich vollständige Grundlage der Wirklichkeit ansieht, die allein durch wissenschaftliche Forschung angemessen erfasst werden kann. Entsprechende Thesen wurden seit den 1950er Jahren u. a. von U.T. Place, J.J.C. Smart und H. Feigl vertreten. Ihr Beispiel war das von Schmerzzuständen. Sie sollten nach ihrer Auffassung mit der Reizung von so genannten C-Fasern (langsam leitende Nervenfasern für das Schmerzempfinden) identisch sein. Sie vertraten die These, dass man alles über Schmerzzustände weiß, was man (wissenschaftlich begründet) wissen kann, wenn man weiß, mit welchen Zuständen der C-Fasern sie identisch sind. Die Identitätstheorie vertritt also eine monistisch-naturalistische Weltsicht, nach der es nur ‚natürliche‘, in der Perspektive der naturwissenschaftlichen Forschung zugängliche Dinge ‚gibt‘ (und also auch keine ‚Seelen‘ oder mentale Zustände, die nicht physisch determiniert sind) und es „letztlich […] die Wissenschaften [sind], die uns sagen, was es in der Welt gibt und wie das, was es gibt, beschaffen ist“32 . Und in der Perspektive naturwissenschaftlicher Forschung erscheint die Wirklichkeit als einheitlicher und geschlossener physischer Zusammenhang, ohne dass man auf Lücken oder Brüche im Gewebe der Wirklichkeit stieße, bei denen die Naturwissenschaften ihr Erkenntnisinteresse an andere Erkenntnisformen abgeben müssten. Alles Mentale ist dann letztlich auf das Physische zurückführbar. So wie wir es kennen, setzt das Mentale ja immer auch komplexe physische Systeme wie Nervenfasern und Gehirne voraussetzt, die überhaupt erst mentale Zustände erzeugen können. In der Evolution sind mentale Zustände erst dann zu unterstellen, wenn Lebewesen neuronale Apparate mit einer gewissen Komplexität aufweisen. Dann
32 Ansgar Beckermann, Naturwissenschaften und manifestes Weltbild. Über den Naturalismus, DZPhil 60, H. 1 (2012), 5–26, 6.
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aber erscheint die Biologie als eine spezielle Form der Physik, und die Neurowissenschaften wieder als eine besondere Form der Biologie, ohne dass man mit diesen Wissenschaften den Bereich des Physischen hinter sich ließe. Oder wie W.V. Quine es einmal formulierte: „Die Physik erforscht die wesentliche [sic!] Natur der Welt, und die Biologie beschreibt einen ortsspezifischen Auswuchs. Die Psychologie – die Humanpsychologie – beschreibt einen Auswuchs auf diesem Auswuchs.“33
Weil alles Mentale das Physische voraussetzt und erst spät erschien, als sich durch die Evolution immer komplexere Gestalten auszubilden begannen, muss es als besondere Funktion des Physischen verstanden wird, von dem es in jeder Beziehung abhängt.34 Radikalere Formen einer naturalistischen Identitätstheorie argumentie33 Willard V. Quine, J.J.C. Smart: Philosophie und wissenschaftlicher Realismus, in: Theorien und Dinge, Frankfurt a.M. 1991, 118–122, 119 Im Original: „Physics investigates the essential nature of the world, and biology describes a local bump. Psychology, human psychology, describes a bump on the bump“ (Willard V. Quine, Smart’s Philosophy and Scientific Realism, in: Theories and Things, Cambridge, Mass. 6 1994, 92–95, 93). 34 Ich kann an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass bei einem anderen Verständnis von ‚Natur‘ oder ‚natürlich‘ auch Zwischenpositionen möglich sind, bei denen das Mentale zwar das Physische voraussetzt, aber nicht von ihm determiniert ist. Dann setzt das Physische das Leben aus sich heraus und das Leben mentale Phänomene, ohne dass diese Phänomene höherer Ordnung als durch die physischen bzw. biologischen Zusammenhänge determiniert angesehen werden. In solchen Entwürfen spricht von oft von der Emergenz des Mentalen. Der Begriff der Emergenz ist schwierig und sein Verständnis umstritten (vgl. Paul Hoyningen-Huene, Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination, in: Kausalität und Zurechnung. Über Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen (Philosophie und Wissenschaft 5), hg. v. W. Lübbe, Berlin, New York 1994, 166–195; Achim Stephan, Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation, Paderborn 2 2005). Man unterscheidet eine schwache von einer starken Emergenz. Im ersten Fall bleiben die emergenten Phänomene von der sie hervorbringenden physischen Wirklichkeit direkt abhängig, ihr Entstehen ist aber (vorläufig?) unerklärbar. Im zweiten Fall kommt den emergenten Strukturen gegenüber der sie hervorbringenden physischen Grundlage eine gewisse Autonomie zu, mit der sie auch auf die physische Grundlage zurückwirken können. Die Übergänge zwischen (schwach) emergentistischen Varianten eines Monismus und einem (stark) emergentistischen Dualismus sind fließend. So versteht etwa der amerikanische Philosoph William Hasker seine Position als ‚emergent dualism‘ (William Hasker, The Case for Emergent Dualism, in: The Blackwell Companion to Substance Dualism, hg. v. J. J. Loose / A. J. L. Menuge / J. P. Moreland, Hoboken NJ 2018, 61–72). In seinem Buch The Emergent Self hat Hasker das Selbst des Menschen als eine emergente Substanz (Seele) beschrieben, die aus dem Physischen hervorgeht und es voraussetzt, dann aber doch eine kausal wirksame Größe ontologisch eigener Art darstellt (William Hasker, The Emergent Self, Ithaca NY 1999). Der Religionsphilosoph Philip Clayton hat dagegen eine sich naturalistisch verstehende emergentistische Großerzählung vorgelegt, die von den Atomen über Lebens- und Bewusstseinsphänomene bis hin zur Kategorie des Geistes und Gott reicht und Vorgänge der Hervorbringung von unableitbar Neuem unterstellt, das sich von den Ebenen ablöst, die es hervorbringen, und dann wieder auf die unteren
Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung
ren entsprechend in Richtung einer stärker materialistischen Position, die letztlich darauf aus ist, unsere Alltagskonzepte des Mentalen wissenschaftlich aufzulösen und durch naturwissenschaftliche Beschreibungen zu ersetzen. Als Analogie aus der Geschichte kann man etwa auf die Astrologie verweisen, die durch astronomische Beschreibungen ersetzt wurde. Man spricht von einem eliminativen Materialismus, dessen wichtigste Vertreter Paul und Patricia Churchland sowie Daniel Dennett sind.35 Für unsere nachfolgenden grundsätzlichen Überlegungen zum Monismus sind diese Differenzierungen allerdings wenig relevant. Gegen alle Formen einer Identitätstheorie kann man einwenden, dass unsere Auffassungen des Mentalen und die neuronale wissenschaftliche Beschreibung doch weiter voneinander entfernt sind und semantisch stärker auseinanderklaffen, als dies z. B. bei der Identifizierung von Schmerzzuständen mit Reizungen der C-Fasern unterstellt wird. Mit ‚Schmerz‘ verweisen wir in unserer Alltagssprache auf die mentalen Zustände von Personen, die schon aufgrund der unterschiedlichen Hirnstrukturen und Nervenbahnen jeweils neuronal durchaus verschieden realisiert sein dürften. Und auch andere Lebewesen wie höhere Tiere empfinden Schmerz, doch liegen bei ihnen mit Sicherheit von unseren durchaus verschiedene neuronale Zustände vor. Man hat deshalb schwächere Versionen der Identitätstheorie entwickelt, die sich auf die Behauptung beschränken, dass nicht mehr bestimmte Typen von mentalen Zuständen mit entsprechenden Typen neuronaler Zustände identisch sind (so genannten Typenidentität [type-identity]), sondern ganz grundsätzlich und ganz allgemein gelten soll, dass jeder irgendwie geartete psychische Zustand von einem konkreten physischen Zustand realisiert und mit ihm identisch ist, ohne dass hier eine Entsprechung im Typus vorliegen muss (so genannte Tokenidentität [token-identity]). Diese Variante verbindet sich oft mit dem so genannten Funktionalismus, der davon ausgeht, dass ein bestimmter, funktionaler mentaler Zustand wie z. B. Schmerz durch sehr verschiedene Arten von physischen Zuständen realisiert werden kann. Entscheidend ist nur, dass jeder mentale Zustand mit irgendeinem physischen Zustand identisch ist. Doch auch das führt in grundlegende Aporien. Wenn man keine Kriterien mehr angeben kann, wann und wie genau ein bestimmter psychischer mit einem be-
Ebenen zurückwirkt. Damit möchte Clayton auch ausdrücklich die Alternative zwischen materialistischem Monismus und Substanzendualismus unterlaufen, so dass das Physische und das Mentale nur zwei unter weiteren Arten von Phänomenen sind, die aus einem prozesshaft verstandenen, aber letztlich einheitlichen, selbstschöpferischen Naturzusammenhang hervorgehen. Vgl. u. a. Philip Clayton, Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus (RThN 16), Göttingen 2008 und die Kurzfassung in: Philip Clayton, Emergence from Physics to Theology: Toward a Panoramic View, Zygon 41, H. 3 (2006), 675–687. 35 Vgl. z. B. Patricia S. Churchland, Neurophilosophy. Toward a Unified Science of the Mind-Brain, Cambridge MA 1986 und Daniel C. Dennett, Consciousness Explained, Boston 1991.
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stimmten physischen Zustand identisch sein soll, dann trennen sich die Sprachspiele wieder und die Identitätstheorie wird zur bloßen Behauptung. Denn dann kann jeder physische Zustand, der mit einem psychischen Zustand identisch sein soll, so beschrieben werden, dass man ihn auch ohne seine psychische ‚Seite‘ versteht, und umgekehrt: Dann verraten auch die funktikonalen psychischen Zustände von sich aus nichts über die ihnen zugrundeliegenden physischen Prozesse. Dann aber kann die unterstellte Identität des Mentalen mit dem Physischen nichts zu einer Erklärung des Mentalen beitragen. Es bleiben deshalb im Grunde nur zwei Möglichkeiten: 1. Das Mentale wird mit neuronalen Vorgängen identifiziert. Dann ist es aber mit einem physischen Zustand so identisch, dass es keine eigene Wirksamkeit hat und im Grunde wegerklärt wird. Das ist nach meiner Überzeugung zumindest pragmatisch selbstwidersprüchlich, weil eine solche Sicht selbst einen mentalen Zustand darstellt, der aber mit einem physischen Zustand identisch sein soll. Dann käme das Mentale zu der Einsicht, dass es mentale Einsichten eigentlich nicht gibt, weil sie mit physischen Funktionen identisch sind – eine widersinnige Behauptung. 2. Das Mentale geht im Physischen gerade nicht auf, sondern hat seine eigenen Formen von Wirksamkeit. Dann kann es mit ihm aber auch nicht identisch sein und die Wirklichkeit muss in irgendeiner Weise dualistisch gedacht werden, so dass der Monismus an der Fremdartigkeit und Besonderheit des Mentalen, das eine Reduzierung auf funktionale physische Zustände nicht zulässt, scheitert.
5.
Was lehrt uns das Scheitern von Dualismus und Monismus?
Nach meiner Überzeugung zeigt sich als Fazit dieser Überlegungen, dass es sich bei der Alternative Monismus oder Dualismus nicht um ein zu lösendes philosophisches oder wissenschaftliches Problem handelt, sondern um eine Verwirrung von Perspektiven und Hinsichten. Die Frage nach dem Verhältnis von Geistigem und Physischem stellt nicht eine theoretisch zu bewältigende, komplizierte Denkaufgabe, die entweder innerhalb des Rahmens der Naturwissenschaften oder durch eine Erweiterung desselben gelöst werden könnte, sondern weist auf eine nur hermeneutisch zu bearbeitende Verwicklung verschiedener Verstehensperspektiven hin, die nicht rein theoretisch sind, sondern in denen methodische, empirische, existentielle, pragmatische und sprachlich-kulturelle Momente miteinander verwoben sind. Bekanntermaßen hat Ludwig Wittgenstein die Auflösung solcher Verwicklungen, die wie eine Art Falle unser konzeptionelles Denken in kontradiktorischen Gegensätzen gefangen halten können, als die eigentliche Aufgabe der Philosophie angesehen. Allerdings folge ich Wittgenstein an dieser Stelle nur bedingt, weil mir die ‚Verwicklung‘ weder auf der rein sprachlichen Ebene noch auf einer
Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung
bildlich-imaginativen36 angesiedelt zu sein scheint, sondern grundsätzlicher in den Verhältnissen begründet ist, durch die wir in das Wirkliche eingebettet sind, weil wir aus eben dem Wirklichen hervorgehen, ohne eine Funktion von ihm zu sein. Die Herausforderung, vor die uns die Debatte um Monismus und Dualismus stellt, ist deshalb als die Herausforderung zu bestimmen, unser Verstehen besser zu verstehen und die Möglichkeiten und Grenzen unseres Verstehens in ihrem Vollzug zu erkunden. Die Herausforderung ist also hermeneutischer Art, ist doch die Hermeneutik im weitesten Sinne die Reflexion auf die „Kunst des Verstehens“37 , die sich im Verstehen dadurch zu üben sucht, dass sie das Verstehen besser versteht. Es geht mir deshalb im Folgenden zunächst nicht darum, gerade heraus für ein bestimmtes Verständnis des Zusammenhangs von Mentalem und Physischem zu argumentieren, weil wir dann nur in die vorgeführten Aporien zurückfallen. Wir müssen zunächst unser Verstehen des Physischen und Mentalen sowie seine Möglichkeiten und Grenzen besser verstehen. Es muss deutlich werden, was wir jeweils in unsere Verstehensbemühungen investieren, wie wir verschiedene Perspektiven auf die Wirklichkeit als Bedingungen der Möglichkeit von bestimmtem (!) Verstehen entwerfen, was wir einerseits dabei abblenden und andererseits gerade durch dieses Abblenden gewinnen, und wie die unterschiedlichen Perspektiven in ihrem Zusammenspiel wiederum verstanden werden können. Das sich dadurch einstellende Verständnis des Zusammenhangs von Mentalem und Physischem ist dann nicht eine theoretisch alternativlose oder empirisch falsifizierbare Erklärung, sondern der Versuch, auf kohärente und phänomenologisch reichhaltige Weise das Wechselspiel beider Kategorien aus ihrem Zusammenhang heraus besser, und das heißt konstruktiv-kritisch, empirisch gehaltvoll und praktisch relevant, zu verstehen. Das bedeutet gerade nicht, dass die von uns vorgeführten, einander entgegenstehenden Problemlagen von Dualismus und Monismus auf eben derjenigen theoretischen Ebene auflösen könnten, auf der sie entstehen. Sie werden vielmehr eingebettet in den komplexen und vieldimensionalen Vollzug menschlichen Verstehens, der sich als die Fortschreibung von Sinn und als Lebensform oder Lebensorientierung beschreiben lässt. Dieser Vollzug umfasst Aspekte 1. des Verstehens von etwas, 2. des Sich-selbst-Verstehens und 3. des Sich-auf-etwas-Verstehens, die irreduzibel
36 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd.1: Tractatus logico-philosophicus [u. a.], Frankfurt am Main 11 1997, 225–580, 300 (§115): „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“ Und Wittgenstein, Untersuchungen, 299 (§109): „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“ 37 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Die Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte, Tübingen 2018.
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ineinandergreifen. Im konkreten Vollzug z. B. von naturwissenschaftlicher Forschung treten Momente von Selbstverstehen und Sich-auf-etwas-Verstehen in den Hintergrund, um ein kontrollierbares Verstehen von etwas zu ermöglichen, während bei der Reflexion darauf, was Verstehen für das Selbstverstehen bedeutet, sich diese Reflexion nicht im Modus des Verstehens von etwas vollziehen kann, weil man eben sich selbst zu verstehen sucht, mit sich auf eigentümliche Weise immer schon vertraut ist und aus dem Modus von Sich-Verstehnen nicht aussteigen kann. Man kann sich nicht auf dieselbe Weise verstehen, wie man etwas versteht. Und beide Vorgänge, das Verstehen von etwas und das Sichverstehen, setzen andererseits ein sich Verstehen auf Verstehensprozesse voraus, also so etwas wie die Kunst des Verstehens, die geschichtlich und biographisch gewachsen ist und uns oft unausdrücklich leitet. Fokussiert man nun im Sinne von 1. auf das Verstehen von etwas, so imponiert sich die Wirklichkeit in objektivierender Perspektive als ein relativ geschlossener Zusammenhang von Gleichförmigkeit und Verlässlichkeit. Faktisch ist dieser Zusammenhang allerdings auch und gerade auf dem Stand unsers heutigen Wissens nur relativ geschlossen, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen tauchen in ihm Aspekte auf, die dieser Geschlossenheit entgegenstehen. Dazu gehören, um nur einige Beispiele zu nennen, Phänomene der Thermodynamik, der Chaostheorie, der Theorie der nicht-linearen Systeme, aber auch die Quantentheorie, die sich nicht ohne weiteres als funktionaler Kausalzusammenhang rekonstruieren lässt, sondern z. B. statistische und korrelative Zusammenhänge unhintergehbar macht. Im Rahmen der Quantentheorie tauchen zudem Probleme auf wie das der Komplementarität der verwendeten Modelle (z. B. Welle–Teilchen; Energie–Zeit), der Diskontinuität von Zustandsänderungen und der nicht aus der Empirie herauskürzbaren Wechselwirkung zwischen dem Vorgang einer Messung und dem Objekt. Insgesamt, so hat schon Niels Bohr festgestellt, ist das alles „eine lehrreiche Erinnerung an die allgemeinen Bedingungen der menschlichen Begriffsbildungen, […] wo wir stets an die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt erinnert werden“38 . Ohne das in dieser Skizze weiter begründen und ausführen zu können, zeigen die Naturwissenschaften heute einen hohen Grad von Differenzierung hinsichtlich ihrer Gegenstandsbereiche und ihrer Methodik. Empirische Psychologie, Verhaltensforschung, Geologie, Biologie, Biochemie, Chemie, Teilchenphysik, Kosmologie, Strömungsphysik usw. sind nicht aufeinander reduzierbare Formen naturwissenschaftlicher Forschung. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert haben sich die Methoden und Konzepte des naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsverstehens pluralisiert und dadurch ins Bewusstsein gehoben, dass in ihnen nicht das Wirkliche an sich zur Darstellung kommt, sondern bestimmte Beschreibungshinsichten. Diese
38 Niels Bohr, Atomtheorie und Naturbeschreibung, Berlin 1931, 10.
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Beschreibungshinsichten sind allerdings selbst nicht Gegenstände der Forschung, sondern liegen ihr sozusagen immer im Rücken. Damit kommt der zweite Grund in den Blick, der dafür sorgt, dass naturwissenschaftliche Forschung Einheitlichkeit immer nur in bestimmten Hinsichten erreichen kann: naturwissenschaftliche Forschung kann nicht ihr eigener Gegenstand werden. Diesen zweiten Grund werde ich unten noch ausführlicher erläutern. Fokussiert man andererseits im Sinne von 2. auf ein phänomenales Selbstverstehen, so steht das Mentale mit seinen Gehalten und seinen Grunderfahrungen von Selbstvertrautheit bzw. Selbstdifferenz und Jemeinigkeit des Qualitativen im Zentrum der Beschreibung. Nun scheint sich ein Dualismus nahezulegen, weil sich dieses Selbstverstehen von vornherein im Modus des Mentalen vollzieht und sich darin als das von der äußeren Sinnenwelt, dem Bereich der Gegenständlichkeit Unterschiedene erfährt, das die Gegenstände als sein Gegenüber erst irgendwie hervorbringt. Doch zeigt sich darin andererseits, dass das Mental das Physische nicht loswerden kann, und deshalb jede Art von Solipsismus (Es existiert nur das eigene Ich) zwar theoretisch unwiderlegbar, aber sinnwidrig ist. Auch in der Perspektive der ersten Person ist uns keine letzte Einheit der Wirklichkeit gegeben. Da ist zum einen das Phänomen der Leiblichkeit39 , das die Bedingung der Möglichkeit konkreter mentaler Zustände darstellt und das Mentale unentwirrbar in den Zusammenhang der physischen Wirklichkeit einordnet, weil wir bis in unsere Selbstwahrnehmung hinein immer verkörperte, leibliche Wesen sind. Deshalb gehört heute zu einem qualifizierten Selbstverstehen auch die Auseinandersetzung mit den Einsichten und Erfolgen der Hirnforschung, die eine enge Korrelation zwischen mentalen und neuronalen Zuständen nahelegen, wenn etwa Hirnschädigungen zum Ausfall mentaler Fähigkeiten führen und wir uns bis in unseren Selbstbezug hinein als physisch überaus abhängige Wesen erfahren.40 Beide Perspektiven, die der dritten und die der ersten Person, können wir als Perspektiven nur verstehen und aufeinander beziehen, wenn wir hermeneutische Überlegungen des Sich-auf-etwas-Verstehens im Sinne von 3. mit einbeziehen. Ziel ist dabei weder eine erklärende Eingliederung des Mentalen in das Physische noch umgekehrt ein Übersteigen des Physischen hin auf ein von ihm abgehobenes Geistig-Mentales, sondern es muss darum gehen, das Patt von Monismus versus Dualismus hermeneutisch so aufzulösen, dass einerseits die Unterscheidungen der Phänomenbereiche und Verstehenshinsichten bewahrt bleiben, andererseits aber auch auf reflektierte Weise zwischen ihnen hin und her gewechselt werden kann, so dass der Widerständigkeit des Faktischen ebenso wie der Jemeinigkeit des
39 Vgl. den Beitrag von Thomas Fuchs in diesem Band. 40 Vgl. den Beitrag von Hansjürgen Volkmer in diesem Band.
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Mentalen Rechnung getragen und zwischen verschiedenen Beschreibungs- und Verstehenshinsichten interpretierend vermittelt werden kann. Dabei mahnen uns Geschichte und Anliegen des Dualismus, das Mentale nicht funktional-objektivierend aufzulösen und damit zu etwas zu machen, was es in unserem Selbstverstehen nicht ist. Andererseits kann das Verstehen der Geschichte des Monismus und der ihm wichtigen Anliegen uns anleiten, die Wirklichkeit nicht zu zerteilen und das Leibliche und Körperliche nicht als das gegenüber dem Geistigen Uneigentliche und schlechthin Nachgeordnete abzuwerten. Es gilt, sowohl das Eigentümliche und funktional nicht Auflösbare des Mentalen festzuhalten, als auch ein dualistisches Nebeneinander von Geist und Materie zu vermeiden. Letzteres führt zu schizophrenen Formen einer Spaltung in unserem Verständnis des Wirklichen, das sich bis in die unterschiedlichen Wissenskulturen von Natur-, Kulturund Geisteswissenschaften an unseren Universitäten fortsetzt. So verstanden sind die Debatten zwischen Monismus und Dualismus in ihrer oft zirkulären Struktur, mit der sie immer wieder auf die gleichen unauflöslichen Gegensätze zurückkommen, doch wichtig, weil sie – hermeneutisch verstanden – dazu Anlass geben, die verschiedenen Hinsichten von Verstehen wieder neu zu verstehen, angemessen zu ordnen und eine Öffnung der Diskurse in Richtung auf eine qualifizierte Pluralität zu suchen, die sich am Ideal einer beziehungsreichen Einheit des Wirklichen ausrichtet. Das soll nun noch abschließend inhaltlich konkretisiert und ansatzweise ausgeführt werden.
6.
Das Auseinandertreten von Geistigem und Leiblichem und ihre sprachlich-soziale Vermittlung – Versuch einer Zusammenschau in vier Schritten
6.1
Die körperliche Wirklichkeit und die mentalen Phänomene sind nicht einfach vorhanden, sondern entstehen.
Die Unterscheidung zwischen materiellen und geistigen Phänomenen ist eine Unterscheidung, die wir selbst treffen. Das ist zum einen wahr in einem trivialen Sinne, weil alle Kategorien und Begriffe, mit denen wir das Wirkliche verstehen, eben unsere Denkformen und Sprachformen sind, mit denen wir uns in unseren Wirklichkeiten orientieren. Wirklichkeit ist immer Wirklichkeit, wie sie für uns, nicht aber, wie sie an und für sich ist. Zum anderen ist es wahr in einem weniger trivialen Sinne, weil diese Unterscheidung überhaupt die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis darstellt. Denn insofern Erkenntnis immer die Form hat, dass etwas
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als etwas erkannt wird,41 ist immer – auf die eine oder andere Weise – zwischen Gegenstand (Sachverhalt) und Erkenntnis zu unterscheiden. Und insofern unsere Erkenntnis ein mentaler Akt und der Gegen-stand (Sach-verhalt) etwas ist, das mit dem mentalen Akt gerade nicht identisch ist, ist dem Vorgang Erkenntnis eine fundamentale Polarität eingeschrieben, deren einer Pol sich auf mentale Vorgänge bezieht und deren anderer Pol die diese Erkenntnis zwar bestimmende, von ihr aber gerade nicht erzeugte Sachkomponente bezeichnet. Die Differenz zwischen dem Mentalen und dem Körperlichen ist dann keine beliebige Unterscheidung, die wir treffen oder auch nicht treffen könnten, sondern sie ist eng verbunden mit der Art von erkennenden und sich verhaltenden Wesen, die wir sind, und den Zusammenhängen von Wirklichkeit, in denen wir uns orientieren. Die uns in diesem Beitrag besonders interessierende Differenz zwischen dem Materiellen und dem Mentalen ist dabei sowohl konstituiert, als auch vermittelt durch den Leib, mit dem wir in das Wirkliche eingebettet sind und der jede Form von Verstehen, einschließlich unseres Selbst-Verstehens, erst ermöglicht. Andererseits gilt, dass man die Unterscheidung von Erkenntnis und Erkanntem und die davon abgeleitete Unterscheidung von Mentalem und Körperlichen durchaus unterschiedlich verstehen und beschreiben kann. Ein Blick in andere Kulturen, aber auch in die abendländische Geistesgeschichte führt das sofort vor Augen. Vor allem vorneuzeitlich hat man die körperlich-leibliche Wirklichkeit als von mentalen Phänomenen wie Geistern oder geistigen Kräften durchdrungen gesehen.42 Das schlägt sich in unterschiedlichen Wirklichkeitsauffassungen, aber auch unterschiedlichen Sprachformen nieder, mit denen diese Unterscheidung getroffen wird. Für das abendländische Denken führten die Naturwissenschaften seit dem 16. Jahrhundert zu Transformationen. Hier ist nur zu erinnern an Descartes Unterscheidung von ausgedehnter Wirklichkeit (res extensa) und denkender Wirklichkeit (res cogitans), aber auch an die strikte Unterscheidung zwischen primären Prädikaten des Körperlichen, die der Physik zugänglich sind wie die Gestalt eines Körpers oder seine Masse, und der Zutat des Mentalen wie z. B. Farben und Gerüche. So weist schon Galileo Galilei darauf hin, dass in wissenschaftlicher Perspektive mit der Vorstellung eines materiellen Gegenstandes notwendigerweise die Vorstellung von begrenzter Ausdehnung und Form verbunden ist und dass er sich zu einer bestimmen Zeit an einem bestimmten Ort befindet, bewegt oder unbewegt ist etc. Dies sind seine primären Eigenschaften. „Aber dass körperliche Substanzen weiß oder rot, bitter oder süß, tönend oder stumm, wohl- oder übelriechend sein müssen, das als notwendige Begleitumstände anzuerkennen, fühle ich
41 Vgl. z. B. Ingolf U. Dalferth, Religiöse Rede von Gott (BEvTh 87), München 1981, 460–461. 42 Charles Taylor z. B. unterscheidet das vormoderne ‚poröse‘ vom modernen ‚abgepufferten‘ Selbst, vgl. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M. 2009, 72–73.
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mich in meiner Vorstellungskraft nicht gezwungen.“ Geschmack, Geruch, Farbe usw. sind „nichts anderes als bloße Namen“, sie haben „ihren Sitz allein in dem empfindenden Körper, so dass, wenn der beseelte Körper entfernt würde, auch alle diese Qualitäten aufgehoben und beseitigt wären“.43 Je umfassender der messende Umgang mit den Phänomenen der Raumzeit ausgeweitet wurde, bis er schließlich auch die elektrochemischen Vorgänge in unseren Gehirnen mit einschloss, umso kategorischer erschienen Mentales und Materielles voneinander geschieden.44 Deshalb ist es zunächst wichtig, sich klar zu machen, dass diese Unterscheidung von uns getroffen wird, aber nur relativ zu der entsprechend erfahrenen und beschriebenen Wirklichkeit sinnvoll ist. Weder vollziehen wir mit dieser Unterscheidung etwas nur nach, was das Wirkliche so vorgibt, noch erfinden wir mit dieser Unterscheidung etwas, was auch beliebig anders sein könnte. Diese falsche Alternative kann man vermeiden, wenn man sich klarmacht, dass alle unsere Unterscheidungen, einschließlich der so fundamentalen Unterscheidung zwischen dem Materiellen und dem Mentalen, Unterscheidungen inmitten von Wirklichkeit sind, die zwar ‚das Wirkliche‘ nicht einfach abbilden (dazu müssten sie dem Wirklichen gegenüber und also ihm enthoben sein), aber dennoch das Wirkliche als Wirklichkeit angemessen zur Geltung bringen.45 Die Unterscheidung zwischen
43 Galileo Galilei, Il saggiatore, in: Le opere de Galileo Galilei (Edizione Nazionale) VI, Firenze 1968, 197–372, 347–348. Deutsche Übersetzung in Anlehnung an: Gerhard Harig, Galileis ‚Dialog über die beiden hauptsächlisten Weltsysteme‘ – alte und neue Wissenschaft im Wettstreit, in: Schriften, Briefe, Dokumente: Band 2 Briefe und Dokumente, hg. v. A. Mudry, Berlin 1987, 247–287, 276. 44 Whitehead hat diese Auffassung des Wirklichen polemisch so beschrieben: „Sie spaltet die Natur in zwei Teile auf, nämlich in die im Bewusstsein erfasste Natur und in die Natur, die die Ursache des Bewusstseins ist. Die Natur, die die in der Wahrnehmung erfasste Tatsache darstellt, umfasst das Grün der Bäume, den Gesang der Vögel, die Wärme der Sonne, die Härte der Stühle und das Gefühl des Samts. Die Natur, die die Ursache der Wahrnehmung darstellt, ist das vermutete System von Molekülen und Elektronen, das das Gemüt so affiziert, dass es das Bewusstsein der natürlichen Erscheinungen hervorruft. Den Treffpunkt dieser beiden Naturen stellt das Gemüt dar, in das die kausale Natur hineinfließt und aus dem die erscheinende Natur hinausfließt“ (Alfred North Whitehead, The Concept of Nature. Tarner Lectures Delivered in Trinity College November 1919, Cambridge 1920, 30: „Another way of phrasing this theory which I am arguing against is to bifurcate nature into two divisions, namely into the nature apprehended in awareness and the nature which is the cause of awareness. The nature which is the fact apprehended in awareness holds within it the greenness of the trees, the song of the birds, the warmth of the sun, the hardness of the chairs, and the feel of the velvet. The nature which is the cause of awareness is the conjectured system of molecules and electrons which so affects the mind as to produce the awareness of apparent nature. The meeting point of these two natures is the mind, the causal nature being influent and the apparent nature being effluent“ (Deutsche Übersetzung D.E.)). 45 Ich unterscheide ähnlich wie Markus Gabriel zwischen Wirklichkeit und dem Wirklichen: „Überall dort, wo unser Nachdenken und Reden über etwas sinnvoll an eine potenzielle Divergenz von Wahrheit und Fürwahrhalten gekoppelt ist, schreibt die epistemische Auffassung unserem Denken ‚Wirklichkeit‘ zu. Von der Wirklichkeit als epistemischer Modalkategorie können wir nun das
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mentalen und materiellen Phänomenen ist eine Unterscheidung gewissermaßen aus einer Teilnehmerperspektive am Wirklichen, nicht aus einer reinen Beobachterperspektive. Eine durch empirische Messungen und naturwissenschaftliche Modellbildung geleitete, desengagierte Beobachterperspektive, wie wir sie in der empirischen Forschung versuchen einzunehmen, setzt unser Hervorgehen aus und unser Teilnehmen am Wirklichen immer schon voraus. Hermeneutisch ist es deshalb unsinnig, das Leib-Seele-Problem zu verstehen als die Frage, wie denn das Materielle das Mentale hervorzubringen in der Lage ist, weil auch die Kategorie des Materiellen eine mentale Kategorie ist, die andererseits verkörperte, leibliche und als solche ‚materielle‘ Wesen immer schon voraussetzt. Oder um es etwas salopp mit Hilary Putnam zu sagen: „If one must use metaphorical language, then let the metaphor be this: the mind and the world jointly make up the mind and the world.“46 Weder ist das Mentale ‚bloß‘ eine Funktion des Materiellen noch umgekehrt Materie ‚nur‘ eine Vorstellung des Mentalen. Beide Kategorien sind Momente komplexer, semiotisch, sprachlich und pragmatisch orientierter und sich im Prozess des Wirklichen vollziehender Ausdifferenzierungsprozesse. 6.2
Naturwissenschaftliche Erkenntnis ist ein Vorgang.
Die neuzeitlichen Naturwissenschaften wurden dadurch möglich, dass man sich mittels desengagierter Beobachtung, instrumenteller Kontrolle (Experiment, Labor, Messung …), funktionaler Analyse, mathematischer Formalisierung, modelltheoretischer Rekonstruktion und allgemeiner Theoriebildung in ein solches Verhältnis zur Wirklichkeit zu setzen lernte, dass die Dinge und Verhältnisse der Wirklichkeit uns – als in ihr verkörperte, verstehende Wesen – gerade die richtigen Rückmeldungen geben, um prognostische Vermutungen zu korrigieren oder zu bestätigen. Oder um es mit Hubert Dreyfus und Charles Taylor zu sagen: Wir haben Methoden der Realitätsbefragung entwickelt, die uns die Möglichkeit geben, „genau den Druck auf die Dinge auszuüben, der nötig ist, um unsere Ansichten zu korrigieren.“47 Im Prozess von Wahrnehmung und Verstehen haben wir eine Menge komplexer erkenntnistheoretischer und praktischer Fähigkeiten erlernt, die zur Stabilisierung unserer Orientierungen und zum Management von technischen Abläufen in den Zusammenhängen unserer Wirklichkeit beigetragen haben, so dass Menschen
Wirkliche unterscheiden. Das Wirkliche ist dasjenige, worüber wir wahrheitsfähige Überzeugungen haben können, was wir also in wahren bzw. falschen Gedanken erfassen, indem wir denken, es sei so-und-so“ (Markus Gabriel, Was ist (die) Wirklichkeit?, in: Was ist Wirklichkeit. Neuer Realismus und Hermeneutische Theologie, hg. v. M. Gabriel / M. D. Krüger, Tübingen 2018, 63–117, 106). 46 Hilary Putnam, Reason, Truth, and History, Cambridge 1981, XI. 47 Hubert L. Dreyfus / Charles Taylor, Die Wiedergewinnung des Realismus, Berlin 2016, 185.
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unter ihrem Einfluss und aufgrund ihrer überraschenden Zuverlässigkeit und Effektivität auch ihre allgemeinen Überzeugungen über die Wirklichkeit davon haben mitbestimmen lassen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass diese Methoden der Realitätsbefragung zu sehr komplexen Resultaten geführt haben. Zwar erwies sich manches als erstaunlich einfach und zugleich universal, als man erst einmal den entsprechenden Zugang gewonnen hatte, wie z. B. die klassische Mechanik, die Grundgesetze der Elektrodynamik oder die Zeit- und Raummessungen im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie. Doch anderes widersetzte sich, und manche Alltagsphänomene wie Strömungen oder das Wetter erwiesen sich als erstaunlich komplex. Der Darmstädter Wissenschaftsphilosoph Jan Schmidt hat jüngst noch einmal umfassend zusammengetragen, inwiefern die heutigen Naturwissenschaften gelernt haben, dass Gleichförmigkeit und strenge Gesetzmäßigkeit in der Natur die besondere Ausnahme bilden und dass Zufall, Unregelmäßigkeiten und Instabilitäten als Quelle von Werden, Ordnung und Leben deutlich werden.48 Überhaupt hat man die Vorstellung aufgeben müssen, durch ein naturwissenschaftliches Paradigma das Wirkliche insgesamt erklären zu wollen. Zwar gab es eine Zeit lang Projekte, die als ‚Theorien über alles‘ bezeichnet und als Suche nach der Weltformel propagiert wurden49 , doch die Irreduzibilität naturwissenschaftlicher Theorien aufeinander scheint heute deutlicher denn je. Schon die Zusammenführung der beiden großen Theorieformen der Physik, von Relativitätstheorie und Quantentheorie, stellt die Physik bis heute vor ganz grundsätzliche konzeptionelle Probleme, von den Übergängen von der Physik zur Chemie, von der Chemie zur Biologie, von der Biologie zur Hirnforschung etc. ganz zu schweigen. Hinzu kommt, dass wichtige naturwissenschaftliche Theoriebildungen wie die Kosmologie oder die Evolutionsbiologie sich auf kontingente historische Zusammenhänge beziehen, zu deren Rekonstruktion auch narrative Modelle herangezogen werden, die zu durchaus unterschiedlichen Modellbildungen führen. Man hat solche Modelle auch als Paradigmen bezeichnet, die so etwas wie kontingente, historisch gewachsene und in einer scientific community durchgesetzte Denkstile darstellen „die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen liefern“50 . Sind solche Zuschreibungen auch mit Vorsicht zu betrachten, so dürfte doch heute die kulturelle, (macht-)politische und soziale
48 Jan Cornelius Schmidt, Das Andere der Natur. Neue Wege zur Naturphilosophie, Stuttgart 2015. 49 Vgl. dazu kritisch das unterhaltsame Büchlein des Physik-Nobelpreisträgers Robert B. Laughlin, Abschied von der Weltformel. Die Neuerfindung der Physik, München 3 2007. 50 Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (International Encyclopedia of Unified Science II/2), hg. v. O. Neurath, Chicago, Ill. 2 1970, 11. Vgl. die kritische Diskussion von Kuhns Thesen zu Paradigmenwechseln in dem Sammelband: Criticism and the Growth of Knowledge, hg. v. I. Lakatos / A. Musgrave, Cambridge 1989.
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Einbettung der Naturwissenschaften unbestritten sein, die auch Einfluss nimmt auf Forschungsfelder und naturwissenschaftliche Modellbildung. Außerdem spielen in den Naturwissenschaften ästhetische Kategorien eine oft unterschätzte Rolle, wird doch Natur überhaupt immer auch ästhetisch wahrgenommen und erfahren51 und unterliegen mathematische Theorien auch ästhetischen Kategorien wie Einfachheit oder Symmetrie. Insgesamt können wir festhalten, dass ‚mentale‘ Kategorien in den Vorgang naturwissenschaftlicher Forschung eingehen, so dass sie als ein eigener Faktor naturwissenschaftlicher Erkenntnis nicht zu unterschätzen sind. Aus alledem ergibt sich die Notwendigkeit, beim Nachdenken mit und über die Naturwissenschaften im Blick zu behalten, wo und wie Unterstellungen über die Natur in den Vorgang Naturwissenschaften mit eingehen und entsprechend naturwissenschaftlich informierte ‚Weltbilder‘ prägen können. 6.3
Zur Unterscheidung zwischen dem Materiellen und dem Mentalen kommt es durch Differenzierungen im Vollzug des Wirklichen.
Die Differenz zwischen dem Mentalen und dem Materiellen ist dann hermeneutisch zu verstehen als Binnendifferenzierung im Vollzug und Zusammenhang unseres Umgangs mit Wirklichkeit. Das Mentale kann man in einer ersten Näherung verstehen als die Innenperspektive von verkörperten, leibhaften Wesen, die als komplexe, lebendige, selbstbezügliche Systeme sich von ihrer Umwelt unterscheiden und sich unter Ausbildung von Kommunikation zu ihr, zu sich selbst und untereinander verhalten. Für uns Menschen dürfte gelten, dass wir Bewusstsein und Selbstverhältnis entwickelt haben, indem wir begannen, uns miteinander auf ‚Wirklichkeit‘ zu beziehen, indem wir sie als von uns selbst unterschieden repräsentierten und uns gemeinschaftlich auf diese Differenz bezogen. Durch die dreifache Differenzierung von Gegenstand, Selbst und Gemeinschaft wird die Unterscheidung zwischen dem Mentalen und dem Materiellen als unsere Unterscheidung deutlich, die uns nicht einfach widerfährt, sondern die wir konzeptionell, sprachlich und reflexiv vollziehen. Erst damit ist die hermeneutische Sicht vollständig, dass wir unser Verstehen nicht reduzieren auf das, was wir (je und je und so und so) verstehen (dritte Person), oder darauf, dass wir uns immer irgendwie (mental) selbst verstehen (erste Person), sondern dass wir mitbedenken, dass wir in alledem als leibliche, soziale und sprachliche Wesen uns auf die Wirklichkeit verstehen (zweite Person). Wir sollten deshalb Debatten über das Verhältnis des Mentalen zum Materiellen nicht fixieren auf die ontologische Differenz von Mentalem und Materiellem, sondern sie einbetten in unsere sozial-kommunikativen Vollzüge des Sich-Verstehens auf
51 Vgl. dazu Magnus Schlette, Ästhetische Naturverhältnisse, in: Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, hg. v. T. Kirchhoff / N. C. Karafyllis et al. Tübingen 2 2020, 186–195.
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die Wirklichkeit. Die neuzeitlichen Naturwissenschaften und die Auseinandersetzungen um die Tragweite der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Theorien sind deshalb nicht losgelöst zu betrachten von den pluralen basalen Vollzügen, die menschliche Existenz mit der ihr eigentümlichen Frage nach sich selbst und anderen ausmachen. Damit trifft sich diese Sicht mit dem, was Anton Friedrich Koch als hermeneutischen Realismus beschrieben hat, der „an die Lebenswelt gebunden bleiben und kein reduktiver szientifischer Realismus werden [wird], der die lebensweltlichen Dinge auf den Teilchenzoo der Mikrophysik reduzieren und unser Verstehen von Sprache und Denken als eine etwas schlampige Form rekursiver Datenverarbeitung begreifen möchte. Der Realismus der Lebenswelt wird vielmehr ein hermeneutischer Realismus sein, der umgekehrt das präzise wissenschaftliche Beschreiben und Erklären als Grenzfall des kreativen Verstehens betrachtet […] Ein moderater wissenschaftlicher Realismus ist damit sehr wohl verträglich, dem zufolge die Naturwissenschaft, zuletzt die Physik, wesentliche Aspekte des Realen angemessen beschreibt und erklärt.“52
Materielles und Mentales können dann aber gerade nicht durch die (ontologische) Alternative Monismus oder Dualismus oder durch simplifizierende Vermittlungsmodelle, die die eine Kategorie irgendwie mit der anderen verschrauben wollen, angemessen verstanden werden, sondern nur im Bezug auf hermeneutische Differenzierungen und Verhältnisbestimmungen des Subjektiven, Intersubjektiven und Objektiven. Die drei Aspekte von empirisch orientierten und formal modellierten Formen des Verstehens in der Perspektive der dritten Person mit reichhaltigen Wahrnehmungen von mentalem, qualitativem Erleben im Selbstverhältnis der ersten Person sowie kommunikative, beide Perspektiven erst ermöglichende, artikulierende und zur Darstellung bringende Zusammenhänge der zweiten Person müssen in eine fruchtbare Balance zueinander gebracht werden53 durch Unterscheidungen, die sie differenzieren, aber nicht auseinander fallen lassen, und so produktive, kompetente Übergänge von der einen zur anderen Perspektive ermöglichen.
52 Koch, Realismus, 3. 53 Davidson hat von einer Triangulation dieser drei Aspekte gesprochen, vgl. Donald Davidson, Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford 2001, 128 u.ö.
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6.4
Alle drei Perspektiven sind irreduzibel, und alle drei ‚stoßen‘ nicht aneinander.
Perspektiven der dritten, ersten und zweiten Person fallen im Vollzug menschlichen Lebens ohnehin nicht auseinander, sind sie doch Momente des einen Lebensvollzugs, in dem sie sich wechselseitig bedingen und bereichern. Als je sich selbst empfindende und sich durch hierarchisch strukturierte ‚starke Wertungen‘ selbst entwerfende und sich zu sich selbst verhaltende Lebewesen54 sind Menschen zugleich biologische, auf materielle Körperlichkeit angewiesene, aber auch auf sich selbst angesprochene und am Du und Wir, also in Beziehungen55 , sich formende Personen. Ein schlichtes Beispiel für diese Irreduzibilität der menschlichen Lebensform ist das Phänomen des Grüßens. Dazu bedarf es physiologisch und wohl auch neurologisch beschreibbarer Vorgänge wie etwa des Armhebens und Winkens. Dass es sich jedoch dabei um eine Geste des Grüßens handelt, ist kulturell bedingt und ein kommunikativer Akt. Zugleich wird ein Gruß nur dadurch zu dem, was er ist, dass z. B. die Grüßende den Arm nicht zufällig oder aus anderen Gründen hebt, sondern eben deshalb, um jemanden anderen zu grüßen. Das Grüßen ist in einer Hinsicht ein materieller, körperlicher Vorgang, in anderer Hinsicht ein selbstbestimmter, intentionaler Akt und in dritter Hinsicht eine kulturelle kommunikative Geste. Es ist das alles zugleich. Man kann auf einen Aspekt scharfstellen und damit die beiden anderen in den Hintergrund treten lassen. Aber man kann und darf das Dreieck der Bezüge weder zu einen Dual aufspreizen noch monistisch in eine Perspektive aufgehen lassen. Jede der drei Perspektiven ist dabei in ihrer je eigenen Hinsicht grenzenlos, weil sie nie an einen Rand anstößt. Innerhalb einer jeder dieser perspektivischen Umgangsformen mit der Wirklichkeit stößt man auf keine Lücken oder Kanten, über die hinaus eine Fortsetzung unmöglich wäre. Sie sind nicht durch anderes, an das sie stoßen, sondern durch sich selbst, ihre Hinsichten und die Möglichkeiten, mit denen sie prozessieren, beschränkt. Als Vorgang und Perspektive sind sie aber zugleich grenzenlos.56 Eine anschauliche Analogie ist der Horizont einer 54 So Charles Taylors Bestimmung des Menschen als eines sich durch starke Wertungen orientierenden „self-interpreting animal“, in: Charles Taylor, Self-Interpreting Animals, in: Philosophical Papers I. Human Agency and Language, Cambridge, MA 1985, 45–76. 55 Das „Wir“ ist hier nicht als bloßes Aggregat von Individuen, sondern als eine durch Kommunikation konstituierte Gemeinschaft verstanden, in der Individuen durch Aneignung, Abstoßung, Darstellung und Verhüllung ihre eigene Identität allererst ausbilden. 56 Vgl. schon die auf Leibniz zurückgehende Unterscheidung von Schranke und Grenze bei Kant, der diese auf die Diskursivität unseres menschlichen Verstandes bezieht, während ich sie für die drei von mir vorgeführten perspektivischen Umgangsformen in und mit der Wirklichkeit in Anschlag bringe. Vgl. den §57 „Beschluß von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ in Kants Prolegomena: „In der Mathematik und Naturwissenschaft erkennt die menschliche Vernunft zwar Schranken,
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Perspektive, der einerseits deutlich macht, dass eine Perspektive nie total ist, der aber andererseits aber nie erreicht werden kann, weil er zurückweicht, wenn man sich auf ihn zubewegt. Er steht damit zugleich für die unbegrenzte Fortsetzbarkeit der Perspektive. Das bedeutet zweierlei. Zum einen kann keine Perspektive ihre Erkenntnis der Wirklichkeit abschließen oder vollenden, etwa weil sie den Gesamtumfang des ihr prinzipiell Zugänglichen ausgeschöpft hätte. Natürlich erleben wir innerhalb des Zusammenhangs der Wirklichkeit in jeder Perspektive Einschränkungen, etwa die der Nichtüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit in der Physik oder die immer nur eingeschränkte Selbsterkenntnis in der Perspektive der ersten Person, die sich nicht selbst zum Gegenstand machen kann, oder die Nicht-Garantierbarkeit eines Gelingens von Kommunikation in unseren sozialen Zusammenhängen. Doch bedeutet dies weder, dass wir damit an ein Ende der Physik, der Selbsterkenntnis oder der Kommunikation gelangt sind, noch dass wir diese Schranke durch einen Wechsel der Perspektive übersteigen und damit auf der anderen Seite der Schranke fortfahren könnten. Alle Perspektiven sind als Perspektiven nie total, aber zugleich unbegrenzt, und sie sind nur im Weiterschreiten das, was sie sind. Man kann z. B. Probleme in objektivierter, wissenschaftlicher Perspektive nur mit weiterer Wissenschaft vorantreiben und möglichweise neue Wege entdecken, sie zu lösen und mit ihnen umzugehen. Mentales in der Perspektive der ersten Person ist nur für sich selbst anschlussfähig, so dass menschliches Bewusstsein in seiner eigentümlichen Selbstbezogenheit und Privatheit, mit seinen qualitativen Gehalten, aber auch mit seiner Brüchigkeit immer das Bewusstsein eines bestimmten Individuums ist. Und auf Kommunikation kann man immer nur mit Kommunikation reagieren, so dass nach dem bekannten pragmatischen Axiom der Kommunikation von Watzlawick man nicht nicht kommunizieren kann, denn auch wer z. B. einen Gruß ignoriert, vollzieht damit einen kommunikativen Akt. Andererseits steckt in allen Perspektiven auf Grund ihrer Unbegrenztheit eine Tendenz zur Totalität. Jede Perspektive kann die jeweils anderen Perspektiven auf ihre Weise in den Blick nehmen. Denken und Sozialformen erscheinen auch in der Perspektive der dritten Person und können dann etwa als kognitive Leistungen eines Entscheidungsapparats oder soziobiologisch verankerte Verhaltenstendenzen beschrieben werden. Wissenschaft und Sprache erscheinen in der Perspektive der ersten Person als Hervorbringungen des Geistes. Und Wissenschaft und das Selbstverstehen von Personen erscheinen in kulturwissenschaftlicher Perspektive als politisch-machtförmige Diskursformen, die in sozialen Zusammenhängen aber keine Grenzen, d.i. zwar daß etwas außer ihr liege, wohin sie niemals gelangen kann, aber nicht daß sie selbst in ihrem innern Fortgange irgendwo vollendet sein werde“ (Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), in: Gesammelte Schriften Abt. 1: Werke. Bd. 4, Berlin 1911, 254–383, 352).
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der zweiten Person entstehen und diese bestimmen. Alle diese Wahrnehmungen der einen in der anderen Perspektive haben ihre wichtigen Wahrheitsmomente, solange man sich der perspektivischen Beschränkungen bewusst ist und sie nicht zu Letztbegründungen verfestigt. Weder zeigen die Neurowissenschaften, dass Gedanken letztlich ‚nichts anderes‘ sind als das Feuern von Neuronen, noch zeigen transzendentalphilosophische Überlegungen, dass die Neurowissenschaften zum Selbstverstehen von Personen ‚eigentlich‘ nichts beizutragen haben, oder diskurstheoretische Analysen, dass es sich bei den Naturwissenschaften ‚im Grunde‘ um Machtdispositive handelt, die die Forschungsergebnisse festlegen – eine Variante des Baconschen Ideals, dass Wissen Macht ist. So entstehen durch Abblendungen von Beschränktheiten der eigenen Perspektive und durch Unsichtbarmachung der anderen, auf die man doch gerade wegen ihrer Exteriorität eigentlich durchgängig bezogen und mit denen man faktisch vertraut ist, fast unvermeidbar die ‚Ismen‘ unserer gegenwärtigen Debatten. So entstehen die Formen des Naturalismus57 , die Ich und Freiheit zur Illusion erklären, die Formen subjektivitätstheoretischidealistischer Letztbegründung, nach der die Unhintergehbarkeit des präreflexiven Selbstbewusstseins den empirischen Wissenschaften zumindest bei allen Sinnfragen die Fackel voraustragen soll, oder die Formen diskurstheoretischer Allerklärung, nach denen Wirklichkeit – jedenfalls in entscheidender Hinsicht – immer diskursiv, also durch machtförmige sprachlich-gesellschaftlich-politische Dispositive, erzeugt ist, und die sowohl Subjekt als auch Natur58 als wesentlich sozial konstituiert verstehen. An mindestens einer Stelle tauchen Widersprüche und Engführungen auf, wenn man innerhalb einer Perspektive das durch sie ermöglichte Verstehen zur Totalperspektive entschränkt und die notwendige Abblendung der anderen Perspektiven als deren Auflösung versteht. Zum einen können die Perspektiven sich nicht selber verstehen und sich selbst in die eigene Perspektive wieder einholen. Das führt schon rein formal zu den bekannten Paradoxien des Selbstreflexiven, die besonders deutlich an formalen Systemen studiert werden können, die ihre eigene Semantik,
57 Vgl. dazu vom Vf.: Dirk Evers, Naturalismus als Haltung. Zum Streit zwischen religiöser und natürlicher Weltanschauung, in: Natur – Freiheit – Sinn. Drei Leitbegriffe religiöser Selbstpositionierung im Gespräch mit Paul Tillich (Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main 10), hg. v. H. Schulz, Leipzig 2020, 46–84. 58 Im Allgemeinen wird in der Diskursforschung zwar betont, dass nicht alle Wirklichkeit diskursiv erzeugt wird, zugleich aber behauptet, dass eine nicht-diskursive Wirklichkeit schlicht unzugänglich und deshalb letztlich bedeutungslos ist: Mit „einer für uns nicht existenten [sic] Welt außerhalb unseres Denkens gibt es [sic; …] etwas Außer-Diskursives, aber wir haben keinen Zugriff darauf: es ist ohne Bedeutung – noch – nicht sozial konstituiert“ (Silke van Dyk / Antje Langer et al. Discourse and beyond. Zum Verhältnis von Sprache, Materialität und Praxis, in: Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Band 1: Theorien, Methodologien und Kontroversen (DiskursNetz 1), hg. v. J. Angermüller / M. Nonhoff et al. Bielefeld 2014, 347–363, 352).
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also ihre eigene Bedeutungsdimension, innerhalb des Systems und mit seinen Mitteln darstellen wollen.59 Keiner Perspektive kann es gelingen, den in ihrem Rücken liegenden ‚blinden Fleck‘ der eigenen Beschreibungshinsichten in sich einzuholen oder ihre Diskurskritik auf sich selbst widerspruchsfrei anzuwenden. Andererseits aber kann auch nicht dadurch eine Totalperspektive erreicht werden, dass man die verschiedenen Verstehensvollzüge additiv zu einem Ganzen zusammenfügt. Als Vorgänge und Methoden, die immer an sich selbst anknüpfen und sich grenzenlos fortsetzen lassen, ohne vervollständigt werden zu können, prozessieren Verstehensvollzüge in der dritten, ersten oder zweiten Person in jeweils unterschiedlichen Formaten, die zueinander komplementär sind und nicht aneinanderstoßen. Gerade in ihrer grenzenlos operierenden Beschränktheit weisen sie über sich hinaus, weil man innerhalb einer Perspektive die Formierung der eigenen Perspektive nur eingeschränkt in den Blick bekommen und viele andere Problemstellungen, die andere Hinsichten betreffen, nicht einmal wahrnehmen kann. Deshalb ist es auch wichtig, das Verstehen von etwas, das Selbstverstehen und das Sich-auf-etwas-Verstehen wechselseitig auf ‚Distanz‘ zu halten, wobei damit gerade nicht die ‚Distanz‘ innerhalb einer der Perspektiven, sondern ihre hermeneutische Distinktheit gemeint ist, auf die sie selbst durch die Einsicht in ihre eigene Grenzenlosigkeit bei gleichzeitiger Beschränktheit hinweisen. Nur dann kann man sich auch in reflektierter Weise in der hermeneutischen Kunst60 üben, von einer Perspektive auf die andere überzugehen und sie zueinander in ein hermeneutischpragmatisches Verhältnis zu setzen. Diese ‚Kunst‘ ist als solche explizierbar, aber nicht formalisierbar, und nur als konkreter Dialog, etwa zwischen unterschiedlichen Disziplinen unter Bezug auf eine konkrete Fragestellung sinnvoll. Dabei ist zu beachten, dass das Operieren in jeweils einer der Perspektiven die beiden anderen immer auch im Rücken hat und es der je besonderen Perspektive etwa einer naturwissenschaftlichen oder geisteswissenscahftlichen Disziplin gerade in ihrer Besonderheit zugutekommt, wenn das beachtet wird.
7.
Ein ganz kurzes Fazit
In der hier entwickelten Sicht erscheint der Monismus als Ideal, das an der Intuition des unteilbaren, nicht in Körperliches und Geistiges aufzuspaltenden61 Wirklichen
59 Vgl. Kurt Gödel, Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I, Monatshefte für Mathematik und Physik 38, H. 1 (1931), 173–198. 60 Ich verweise noch einmal auf Dalferth, Kunst, besonders 135–165. 61 Whitehead beschreibt dies als das moderne Laster der Bifurkation (Gabelung oder Aufspaltung): „Die moderne Naturphilosophie ist durchzogen vom Fehlschluss der Bifurkation […] Ich sollte vielleicht ausdrücklich klarstellen, dass der Leser kein einziges meiner Worte verstehen wird, wenn er
Monismus als Ideal – Dualismus als Herausforderung
festhält und sich die Einheit des Wirklichen nicht ausreden lässt. Als regulatives Ideal sollte er aber das Wirkliche nicht mit unseren vielfältigen und wechselseitig nicht reduzierbaren Beschreibungen der Wirklichkeit verwechseln, die diese Einheit im Lebensvollzug zwar unterstellen, sie aber in unseren Rekonstruktionen – Gott sei Dank, möchte der Theologe hier bemerken – nicht einholen können. Vor diesem Hintergrund erscheint der Dualismus andererseits als Mahnung, diese als regulatives Prinzip wirksame Einheit nicht mit der beschränkten Einheitlichkeit z. B. einer empirisch-naturwissenschaftlichen Perspektive zu verwechseln, die nach unserer Analyse zwar methodisch grenzenlos, aber doch immer nur beschränkt operieren kann. Der Dualismus mahnt, dass Erklärungen der Wirklichkeit mit Hilfe empirisch-formaler Modelle, die ohnehin sehr verschieden sein können, nicht dazu gebraucht werden können und dürfen, uns als verstehende Wesen in funktionale und kausale Zusammenhänge aufzulösen. Er tritt dann auf den Plan, wenn wir wissenschaftliche Zusammenhänge und Dinge vermenschlichen und Menschen verdinglichen, und besteht dagegen auf der Irreduzibilität des Mentalen. Wenn wir den Monismus als regulatives Ideal auf Einheit hin verstehen und den Dualismus als mahnende Warnung, unsere Beschreibungshinsichten nicht mit dem Wirklichen selbst zu verwechseln und uns vor allen Dingen nicht selbst an das Formale und Funktionale auszuliefern, können wir aus den Debatten zwischen Monismus und Dualismus Gewinn ziehen, ohne uns durch ihre Unabschließbarkeit frustrieren zu lassen.
sich dem leicht erworbenen Laster der Bifurkation hingibt“ (Whitehead, Concept, 6: „The modern natural philosophy is shot through and through with the fallacy of bifurcation […] It is perhaps as well to state explicitly that if the reader indulges in the facile vice of bifurcation not a word of what I have here written will be intelligible“ [Übersetzung D.E.]). Vgl. auch oben Anm. 44.
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Zwischen dritter und vierter Kränkung Thomas Huxleys unvollständige Präparation des Epiphänomenalismus-Problems und ein Vorschlag zu seiner Lösung Seit einigen Jahren gibt es verschiedene Vorschläge, die drei von Sigmund Freud diagnostizierten narzisstischen Kränkungen der Menschheit1 um eine vierte zu ergänzen. Die meistgenannte Kandidatin für Nummer vier ist die Prognose, dass homo sapiens nicht dazu fähig sein werde, die weitere klimatische Entwicklung des Planeten zu moderieren. Es sei daher mit katastrophalen globalen Konflikten wirtschaftlicher und politischer Art zu rechnen.2 Auch der Epiphänomenalismus könnte als eine Menschheitskränkung durchgehen. Als ein Problem des menschlichen Selbstverständnisses in der westlichen Kultursphäre tritt er jedoch hinter der Klimakrise und den damit verbundenen globalen Katastrophenszenarien weit zurück. Zudem steht die epiphänomenalistische These in einem relativ engen Zusammenhang mit Freuds dritter Kränkung, so dass sie hier ihren Platz im Zwischenraum finden mag. Sigmund Freud beschreibt als dritte Menschheitskränkung die Erkenntnis, dass „das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“.3 Der bewusste Wille habe keine 1 Vgl. Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 5 (1917), (1–7) 3f. Die erste Kränkung besteht bekanntlich darin, dass die kopernikanische Revolution die Erde aus dem Zentrum der Welt verdrängt habe, die zweite in Darwins Evolutionstheorie, wonach der Mensch von den Tieren abstamme. 2 Vgl. etwa Reiner Klingholz, Sklaven des Wachstums. Die Geschichte einer Befreiung, Frankfurt a.M./ New York 2014, Kapitel 4, 71–108: „Die vierte Kränkung der Menschheit. Weshalb die Umweltbewegung die Umwelt nicht rettet“; - Bernd Herrmann, Umweltgeschichte wozu? Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, in: Ders., „... mein Acker ist die Zeit“. Aufsätze zur Umweltgeschichte, Göttingen 2011, (255–292), 281: „Damit wird eine vierte Kränkung unausweichlich: der ‚Selbstbedienungsladen Natur‘ wird sich künftig einem größeren Teil der Menschheit verweigern. Eine weltweite Konsumgesellschaft auf der Basis desjenigen Naturverbrauchs, wie er der euroamerikanischen Zivilisation zugrunde liegt, wird es nicht geben können.“ – Gerhard Vollmer, Auf der Suche nach der Ordnung. Beiträge zu einem naturalistischen Welt- und Menschenbild, Stuttgart 20132 , 44: „Die ökologische Kränkung“. 3 Vgl. Freud, aaO. 6f.: „Die beiden Aufklärungen, daß das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist, und daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus. Sie stellen miteinander die dritte Kränkung der Eigenliebe dar, die ich die psychologische nennen möchte.“
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Alleinherrschaft über die Handlungsoptionen einer Person, sondern höchstens ein Mitspracherecht. Das steht im Widerspruch zur libertaren Willensfreiheitstheorie,4 und so wurde die dritte Kränkung auch meist verstanden. Der Epiphänomenalismus entzieht aber auch solchen Willenstheorien den Boden, die sich schon von vorneherein auf eine schwache Form von Willensfreiheit zurückziehen. Wäre der Epiphänomenalismus nämlich richtig, hätte das Bewusstsein des Menschen nicht einmal ein Mitspracherecht hinsichtlich seiner Handlungen. Es wäre lediglich das Protokoll der sich schon vollziehenden Handlungen oder ihrer effektiven Einleitung. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit einem Essay von Thomas Huxley, auf den sich die heutige Geistphilosophie gerne als einen Mitbegründer des Epiphänomenalismus bezieht (1). Anschließend wird eine deutlichere Differenzierung zwischen Epiphänomenalismus und Willensfreiheitsthematik vollzogen als es bei Huxley der Fall war (2), um den Versuch einer empirisch-phänomenologisch fundierten Widerlegung der epiphänomenalistischen These vorzubereiten (3).
1.
Thomas Huxley: Das Bewusstsein als Dampfpfeife der Körpermaschine
Als wichtiger Gewährsmann des Epiphänomenalismus wird oft der englische Zoologe Thomas Henry Huxley (1825–1895) genannt,5 jedoch geht der Begriff nicht auf seine Schriften zurück.6 Huxley selbst bezeichnete diese Theorie als die hypothesis
4 Freud umschreibt den Libertarismus aaO. 5: „Der Mensch [...] fühlt sich souverän in seiner eigenen Seele. Irgendwo im Kern seines Ichs hat er sich ein Aufsichtsorgan geschaffen, welches seine eigenen Regungen und Handlungen überwacht, ob sie mit seinen Anforderungen zusammenstimmen. Tun sie das nicht, so werden sie unerbittlich gehemmt und zurückgezogen. Seine innere Wahrnehmung, das Bewußtsein, gibt dem Ich Kunde von allen bedeutungsvollen Vorgängen im seelischen Getriebe, und der durch diese Nachrichten gelenkte Wille führt aus, was das Ich anordnet, ändert ab, was sich selbständig vollziehen möchte. Denn diese Seele ist nichts einfaches, vielmehr eine Hierarchie von über- und untergeordneten Instanzen, ein Gewirre von Impulsen, die unabhängig voneinander zur Ausführung drängen, entsprechend der Vielheit von Trieben und von Beziehungen zur Außenwelt, viele davon einander gegensätzlich und miteinander unverträglich. Es ist für die Funktion erforderlich, daß die oberste Instanz von allem Kenntnis erhalte, was sich vorbereitet, und daß ihr Wille überallhin dringen könne, um seinen Einfluß zu üben. Aber das Ich fühlt sich sicher sowohl der Vollständigkeit und Verläßlichkeit der Nachrichten als auch der Wegsamkeit für seine Befehle.“ 5 Vgl. Sven Walter, Ist der Epiphaenomenalismus absurd? Ein frischer Blick auf eine tot geglaubte Position, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 62 (2008), 415–432, hier: 416; David Hommen, Mentale Verursachung, innere Erfahrung und handelnde Personen. Eine Verteidigung des Epiphänomenalismus, Münster 2013, 18. 6 William Robinson hat nachgewiesen, dass auch Huxleys Gegner William James den Begriff Epiphänomenalismus in seinen schriftlichen Ausführungen allenfalls in einem allgemeineren medizinischen
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of conscious automata, die weit in die Vergangenheit zurückreiche.7 Von Huxley stammt aber das Gleichnis für die epiphänomenalistische These, das standardmäßig in den Lehrbüchern angeführt wird: Das Bewusstsein verhalte sich zu den Gehirnvorgängen wie die Dampfpfeife einer Lokomotive zu ihrer Maschinerie. Sie zeige an, dass die Apparatur arbeite, habe aber keinerlei Einfluss auf sie. Entsprechend sei der Bewusstseinszustand bzw. der Bewusstseinsprozess stets durch biochemische Prozesse des Nervensystems verursacht, ohne dass das Bewusstsein selbst jemals zur Ursache eines neuronalen Vorgangs und damit von menschlichen Handlungen werde.8 1.1
Zur Vorgeschichte des Epiphänomenalismus
Bei der Herleitung seiner Theorie setzt Huxley bei Descartes (1596–1650) an, der mit der Definition der Tiere als seelenloser, unbewusster Automaten schulbildend wirkte. Den Menschen hingegen fasste er als zusammengesetztes Lebewesen an, bestehend aus einer ebenfalls unbewussten Maschine, dem Körper, und einer bewussten Seele, die über die Zirbeldrüse im Gehirn mit dem Körper interagiert.9 Die Körper-Maschinerie beschreibt Cartesius in der Abhandlung über den Menschen so:
Sinne gebraucht. Vgl. Robinson, Art.: Epiphenomenalism, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2019 Edition), https://plato.stanford.edu/archives/sum2019/entries/epiphenomenalism, gesehen am 29. März 2021. 7 Vgl. Thomas Henry Huxley: On The Hypothesis That Animals Are Automata, And Its History (1874), in: Ders., Methods and Results. Essays, London 1893, (199–250), 238, 241, 244, 246. 8 Vgl. Huxley, 240: „The consciousness of brutes would appear to be related to the mechanism of their body simply as a collateral product of its working, and to be as completely without any power of modifying that working as the steam-whistle which accompanies the work of a locomotive engine is without influence upon its machinery. Their volition, if they have any, is an emotion indicative of physical changes, not a cause of such changes.“ Es geht an dieser meistzitierten Stelle noch lediglich um das Bewusstsein der Tiere. Aber Huxley äußert sich im weiteren Verlauf seiner Untersuchung auch ebenso über den Menschen: „It is quite true that, to the best of my judgment, the argumentation which applies to brutes holds equally good of men; and, therefore, that all states of consciousness in us, as in them, are immediately caused by molecular changes of the brain-substance. It seems to me that in men, as in brutes, there is no proof that any state of consciousness is the cause of change in the motion of the matter of the organism. If these positions are well based, it follows that our mental conditions are simply the symbols in consciousness of the changes which takes place automatically in the organism; and that, to take an extreme illustration, the feeling we call volition is not the cause of a voluntary act, but the symbol of that state of the brain which is the immediate cause of that act. (Huxley, 243f.). 9 Vgl. René Descartes, Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648). Nach der ersten französischen Ausgabe von 1664 übersetzt und mit einer historischen Einleitung und Anmerkungen versehen von Karl E. Rothschuh, Heidelberg 1969, 109.
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„Alle Funktionen, die ich dieser Maschine [scl. dem Körper] zugeschrieben habe, z. B. die Verdauung der Nahrung, das Schlagen des Herzens und der Arterien, die Ernährung und das Wachstum der Glieder, die Atmung, das Wachen, Schlafen, die Aufnahme des Lichts, der Töne, der Gerüche, des Geschmacks, der Wärme und anderer solcher Qualitäten über die äußeren Sinnesorgane, den Eindruck ihrer Wahrnehmungen auf das Organ des Sensus communis und der Einbildungskraft, die Zurückhaltung oder Verankerung dieser Ideen im Gedächtnis, die inneren Bewegungen des Appetits und der Gemütsbewegungen und schließlich die äußeren Bewegungen aller Glieder, die sowohl den Bewegungen der Objekte, die sich den Sinnen darbieten, als auch den Gemütsbewegungen und den Eindrücken, die sich im Gedächtnis befinden in passender Weise so zu folgen, daß sie so vollkommen wie möglich die eines richtigen Menschen nachahmen: ich wünsche, sage ich, daß man bedenke, daß die Funktionen in dieser Maschine alle von Natur aus allein aus der Disposition ihrer Organe hervorgehen, nicht mehr und nicht weniger, als die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten von der Anordnung ihrer Gewichte und ihrer Räder abhängen. Daher ist es in keiner Weise erforderlich, hier für diese [scl. die Körper-Maschine] eine vegetative oder sensitive Seele oder ein anderes Bewegungs- und Lebensprinzip anzunehmen, als ihr Blut und ihre Spiritus, die durch die Hitze des Feuers bewegt werden, das dauernd in ihrem Herzen brennt und das keine andere Natur besitzt als alle Feuer, die sich in unbeseelten Körpern finden.“10
Direkt vor diesem Abschnitt hatte Descartes noch eine Erörterung der vernunftbegabten menschlichen Seele angekündigt.11 Die Abhandlung über den Menschen bricht aber mit dem zitierten Text ab, der Rest ist entweder verschollen oder wurde nie ausgeführt. Aus diesem cartesischen Vorstellungsrahmen trat schließlich Julien Offray de la Mettrie (1709–1751) heraus, indem er eine rein materialistische Theorie vom Menschen als Maschine entwickelte.12 Huxley weist darauf hin, dass schon Descartes beobachtet habe, dass manche Reiz-Reaktions-Verläufe einer Person stattfinden, ohne dass ihr auch nur ein Teil
10 Huxley, 235f., zitiert diesen Schluss des erhaltenen Teils von Descartes Traité de l’Homme in englischer Übersetzung. Hier ist er wiedergegeben nach: Descartes, Über den Menschen, S. 137f. Vgl. auch René Descartes, Die Welt: Abhandlung über das Licht. Der Mensch, Französisch-Deutsch, übersetzt und hg. v. Christian Wohlers (PhB 682), Hamburg 2015, S. 327. 11 Vgl. Descartes, Über den Menschen, 133. Außerdem aaO. 71: „Wenn Gott eine vernunftbegabte Seele mit dieser Maschine vereinigt, wie ich es später darzustellen beabsichtige, dann wird er ihr im Gehirn ihren Hauptsitz geben und wird ihr eine solche Natur geben, daß sie jeweils verschiedene Empfindungen haben wird je nach der Art und Weise, auf die die Poreneingänge auf der inneren Oberfläche des Gehirns durch die Mitwirkung der Nerven geöffnet werden“. 12 Sein Buch: L‘homme machine erschien erstmals 1748. Die aktuelle zweisprachige Ausgabe ist: Die Maschine Mensch. L‘homme machine. Französisch – deutsch (Philosophische Bibliothek 407), Hamburg 1990.
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dieses Vorgangs bewusst werde.13 Aufgrund dieser Erkenntnis kam Descartes zu der Vorstellung, dass jegliches tierische Verhalten den unbewussten Handlungen von Menschen gleiche.14 Diese Annahme sei von den Gelehrten von Port Royale sehr brutal an Tieren demonstriert worden,15 und es entfaltete sich eine breite naturphilosophische Diskussion über das Thema.16 Huxley hält nicht alle Thesen von Cartesius für richtig. Im Rahmen der Evolutionsbiologie sei es nicht sehr wahrscheinlich, dass das Bewusstsein schlagartig mit dem Menschen in der Welt erschienen sei. Wie alle menschlichen Eigenschaften schon in der Evolution der Tiere ihre Anlage hatten, so sei auch mit Vorstufen von Bewusstsein in der höheren Tierwelt zu rechnen.17 Mit anderen Worten, Huxley vertritt keinen eliminativen Materialismus, für den die Bewusstseinsphänomene überhaupt nicht existieren.18 Er bestreitet lediglich die Wirksamkeit des Bewusstseins auf die neuronalen Vorgänge. Sitz des Bewusstseins ist dann aber auch für ihn die – freilich sterbliche – Seele. Mentale Phänomene können jedoch nur durch bestimmte Aktionen des Nervensystems hervorgerufen werden.
13 Vgl. Huxley, 211f. Alle weitere Forschung zum Verhältnis von Nervensystem und Bewusstsein habe Descartes Einsichten lediglich differenziert, in helleres Licht gestellt und physiologisch erhärtet (vgl. aaO., 215f.). Zu Descartes Verständnis von menschlichem Bewusstsein vgl. Norman Malcolm, Gedankenlose Tiere, in: Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, hg. v. Dominik Perler und Markus Wild (stw 1741), (2005) 20165 , S. 77–94. 14 Vgl. Huxley, 218. 15 Huxley, S. 219. Er bezieht sich dabei vermutlich auf eine Mitteilung von Nicolas Fontaine, die zitiert ist bei Malcolm, S. 77f. 16 Huxley, 219. Er bezieht sich auf: David Renaud Boullier, Essai Philosophique Sur L’Ame Des Betes. Ou L’On Trouve Diverses Reflexions sur la Nature de la Liberté, sur celle de nos Sensations, sur L’Union De L’Ame Et Du Corps, sur L‘Immortalité De L‘Ame, Seconde Edition revue & augmentée, A laquelle on a joint un Traité Des Vrais Principes Qui Servent De Fondement À La Certitude De Morale, 2 Bde., Amsterdam 1737; Etienne Bonnot de Condillac, Traité des animaux – Abhandlung über die Lebewesen (1755), deutsche Erstübersetzung, Einleitung und Kommentar von Vanessa Kayling, Würzburg 2019. 17 Huxley, 236f.: „We know, that, in the individual man, consciousness grows from a dim glimmer to its full light, whether we consider the infant advancing in years, or the adult emerging from slumber and swoon. We know, further, that the lower animals possess, though less developed, that part of the brain which we have every reason to believe to be the organ of consciousness in man; and as, in other cases, function and organ are proportional, so we have a right to conclude it is with the brain; and that the brutes, though they may not possess our intensity of consciousness, and though, from the absence of language, they can have no trains of thoughts, but only trains of feelings, yet have a consciousness which, more or less distinctly, foreshadows our own. 18 Vgl. Ansgar Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin 20022 , S. 245–265.
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1.2
Zoologische und humanpathologische Indizien für den Epiphänomenalismus
Huxley ist sich darüber im Klaren, dass kein Mensch dem anderen streng beweisen könne, dass er ein Bewusstsein habe und kein unbewusster Organismus sei. Der Analogieschluss reicht ihm jedoch dazu aus, über dieses Problem hinwegzukommen.19 Jedoch verweist er im weiteren Fortgang seiner Abhandlung auf Fälle, in denen Menschen ein Verhalten an den Tag legen, das mit ihren tatsächlichen oder zu vermuteten Bewusstseinszuständen nicht im Einklang stehe. Die Schlussfolgerung, die er daraus ziehen wird, lautet: Wenn Personen in gewissen Fällen ein Verhalten zeigen, das ohne die passenden Bewusstseinszustände verläuft, dann spricht das dafür, dass die Bewusstseinszustände vielleicht überhaupt nie das menschliche Verhalten steuern. Seine Hauptargumentation bewegt sich auf drei Ebenen. Zunächst verweist Huxley darauf, dass querschnittsgelähmte Menschen keine Kontrolle mehr über solche Körperteile haben, die von Nerven versorgt werden, die unterhalb der Verletzungsstelle aus der Wirbelsäule abzweigen. Sie fühlen mindestens in den Füßen nichts mehr und können sie auch nicht willentlich bewegen. Bewusste Körperwahrnehmung und Körpersteuerung fallen hier also aus. Dem Bewusstsein dieser bedauernswerten Patienten sind nur noch die Körperregionen zugänglich, die von oberhalb der Rückenmarksverletzung innerviert sind. Zusammen mit der Beobachtung, dass das Bewusstsein bei Schlägen auf das Frontalhirn vollständig ausgeschaltet werden kann, ergibt sich die Annahme, dass genau dort das Bewußtsein seinen Sitz hat.20 Bei denselben Patienten kann man aber auch beobachten, dass ein Kitzelreiz an der Fußsohle dazu führt, dass das Knie gebeugt und der Fuß nach oben gezogen wird. Eine im gesunden Zustand bewusste Bewegung funktioniert also im Krankheitsfall auch ohne Bewusstsein. Es handelt sich in diesem Beispiel sogar um eine zweckgerichtete Verhaltensweise, indem sie bei gesunden Personen die Füße vor einer am Boden befindlichen Gefahr in Sicherheit bringt.21 Als nächstes verweist Huxley auf die neurochirurgischen Experimenten an Fröschen, die Friedrich Goltz 1869 publizierte und die er selbst replizierte.22 Ein Frosch, dessen Rückenmark durchschnitten wird, verhält sich wie der querschnittsgelähmte Patient. Er kann seine Vorderbeine, aber nicht mehr seine Hinterbeine spontan
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Vgl. Huxley, 219. Vgl. Huxley, 219–221. Huxley, S. 222. Huxley, S. 225, Fußnote: Huxley verweist auf Friedrich Goltz: Beiträge zur Lehre von den Functionen der Nervencentren des Frosches. Mit 8 Holzschnitten, Berlin 1869. „I have repeated Göltz’s experiments, and obtained the same results.“
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bewegen. Aber er reagiert auch dort mit Reflexen auf Fremdreize wie Berührung am Fuß oder Säurebenetzung auf der (in diesem Zustand unempfindlichen) Haut.23 Variiert man dieses Experiment und entfernt die vorderen zwei Drittel des Gehirns, unterbricht aber das Rückenmark nicht, so zeigt der Frosch zwar kein spontanes Verhalten mehr. Er bewegt sich nicht, obwohl er alle Glieder bewegen könnte. Hingegen zeigt sich seine Bewegungsfähigkeit, wenn man ihn ins Wasser wirft. Er schwimmt dann genauso gut wie ein unverletzter Artgenosse. Bei einer dritten Variation der neurologischen Experimente wird nur der vorderste Teil des Gehirns entfernt – der Teil, mit dem beim Menschen das Bewusstsein korreliert. Solche Frösche sind jahrelang lebensfähig, obwohl sie sich spontan nicht bewegen, auf keine optischen oder akustische Reize reagieren und nicht nach Futter suchen. Steckt man ihnen jedoch Futter in den Mund, so schlucken sie es. Doch auch diese Geschöpfe zeigen noch Reiz-Reaktions-Schemata. Wenn man sie auf die waagerechte Hand setzt und diese langsam dreht, bewegen sie sich so, dass sie nicht von der Hand herunterfallen. Wenn man den Frosch auf einen Tisch setzt – vor ihm ein aufgestelltes Buch und hinter dem Buch ein Licht – , und ihn an den Hinterbeinen berührt, dann hüpft er reflexartig von der Stelle weg, aber nicht gegen das Buch vor ihm, sondern rechts oder links an ihm vorbei. Bei diesem Frosch, der spontan nicht auf Lichtreize reagiert, wird also dennoch das optische Bild der Umwelt im nicht bewusstseinsfähigen Resthirn verarbeitet und bestimmt die Körpermotorik mit.24 Das dritte Argument für seinen Epiphänomenalismus avant le lettre bezieht Huxley aus einer Fallstudie von Ernest Mesnet (1825-1898). Der seiner Zeit berühmte französische Arzt hatte über das automatisierte Handeln eines hirnverletzten somnambulen Soldaten berichtet.25 Der Patient, ein 27jähriger Sergeant, wurde bei der Schlacht von Bazeilles (1870) von einer Kugel getroffen, die sein linkes Schläfenbein zertrümmerte. Er erlitt dabei eine rechtseitige Lähmung, die ein Jahr lang anhielt. Wenige Monate nach der Verletzung traten aber auch Gehirnstörungen auf, die fortdauerten. Mesnet schrieb seinen Bericht im vierten Jahr seit dem Kriegsvorfall. Herr F. führte seither zwei völlig verschiedene Leben: In zwei- bis vierwöchigen Intervallen verhielt er sich normal, in den dazwischenliegenden Zeiträumen von 15 bis 30 Stunden traten die Störungen auf. In den normalen Phasen fühlte er
23 Huxley, S. 222f. 24 Huxley, 223–225. 25 Ernest Mesnet, De l’automatisme de la mémoire et du souvenir, dans le somnambulisme pathologique. – Considérations médico-légales, in: L’Union médicale. Journal des intérêts scientifiques et pratiques, moraux et professionels du corps médical, Serie III, Bd. 18, 1874, 105–112, 117–122; Anne Stiles, Robert Louis Stevenson’s Jekyll and Hyde and the Double Brain, in: Studies in English Literature, 1500–1900, Bd. 46, 2006, 879–900, verweist auf die Verbreitung dieses Fallberichts und seine möglichen Einflüsse auf die gothic novels der Spätviktorianer.
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sich gesund, war aufmerksam und höflich. Die abnormen Phasen begannen mit Unruhe und einem heftigen Druckgefühl auf der Stirn, aber ohne Krämpfe oder Schreie, so dass jemand, der F. nicht kannte, den Wechsel nicht bemerkt hätte.26 Im gewohnten Umfeld verhielt sich der Patient auch in diesen Phasen meist völlig normal, aber in einer fremden Umgebung stieß er beim Gehen stets gegen die Gegenstände im Raum, betastete sie und ging dann um sie herum. Stach man ihn in diesen Zuständen mit einer Nadel oder verpasste ihm einen Elektroschock, so reagierte er darauf mit keinerlei Anzeichen von Schmerz. Ebenso nahm er keinerlei Gerüche wahr, denn wenn man ihm Asafoetida zu essen oder Essig zu trinken gab, aß und trank er sie, ohne sich von dem Geschmack abgestoßen zu zeigen. Mesnet erschien es so, als sei der Tastsinn noch der einzige Wahrnehmungskanal zu der Außenwelt für seinen Patienten. Huxley stellt sich hierbei die Frage, ob das Bewusstsein von F. in diesen Phasen völlig ausgeschaltet oder ob er sich wenigstens der ertasteten Gegenstände bewusst sei. Er hält diese Frage für nicht eindeutig entscheidbar. Vergleiche man aber Herrn F. mit dem Frosch ohne Vorderhirn, so könnte auch der Mensch als völlig bewusstlos handelnd interpretiert werden. Einmal erlebte der Patient ein Kriegsereignis nach und handelte aus dieser Situation heraus. Im Garten des Sanatoriums lud er seinen Spazierstock mit einer imaginären Patrone, als halte er ein Gewehr in der Hand. Dabei unterhielt er sich mit einem ebenfalls nicht vorhandenen Kameraden über die anzuwendenden Taktik gegen die gegnerischen Soldaten.27 Er versteckte sich wie ein Scharfschütze hinter einem Baum, beobachtete den Feind und folgte seinen Bewegungen mit dem Lauf seiner „Waffe“. Dieses Verhalten könnte, meint Huxley, genauso ohne Bewusstseinszustände vorgegangen sein wie das Essen und Trinken der für bewusste Personen abstoßenden Nahrungsmittel.28 Huxley findet noch viele weitere Details in Mesnets Bericht, die mit Goltz‘ entrindeten Fröschen vergleichbar sind. Mit einer besonders frappierenden Sequenz beendet er seine empirische Argumentationsreihe für den Epiphänomenalismus: „Again, the manner in which the frog, though apparently insensible to light, is yet, under some circumstances, influenced by visual images, finds a singular parallel in the case of the ex-sergeant. Sitting at a table, in one of his abnormal states, he took up a pen, felt for paper and ink, and began to write a letter to his general, in which he recommended himself for a medal, on account of his good conduct and courage. It occurred to Dr. Mesnet to ascertain experimentally how far vision was concerned in this act of writing. He therefore
26 Huxley, 226f. 27 Huxley, 228f. 28 Huxley, 230.
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interposed a screen between the man’s eyes and his hands; under these circumstances he went on writing for a short time, but the words became illegible, and he finally stopped, without manifesting any discontent. On the withdrawal of the screen he began to write again where he had left off. The substitution of water for ink in the inkstand had a similar result. He stopped, looked at his pen, wiped it on his coat, dipped it in the water, and began again with the same effect. On one occasion, he began to write upon the topmost of ten superimposed sheets of paper. After he had written a line or two, this sheet was suddenly drawn away. There was a slight expression of surprise, but he continued his letter on the second sheet exactly as if it had been the first. This operation was repeated five times, so that the fifth sheet contained nothing but the writer’s signature at the bottom of the page. Nevertheless, when the signature was finished, his eyes turned to the top of the blank sheet, and he went through the form of reading over what he had written, a movement of the lips accompanying each word; moreover, with his pen, he put in such corrections as were needed, in that part of the blank page which corresponded with the position of the words which required correction, in the sheets which had been taken away. If the five sheets had been transparent, therefore, they would, when superposed, have formed a properly written and corrected letter. Immediately after he had written his letter, F. got up, walked down to the garden, made himself a cigarette, lighted and smoked it. He was about to prepare another, but sought in vain for his tobacco-pouch, which had been purposely taken away. The pouch was now thrust before his eyes and put under his nose, but he neither saw nor smelt it; yet, when it was placed in his hand, he at once seized it, made a fresh cigarette, and ignited a match to light the latter. The match was blown out, and another lighted match placed close before his eyes, but he made no attempt to take it; and, if his cigarette was lighted for him, he made no attempt to smoke. All this time the eyes were vacant, and neither winked, nor exhibited any contraction of the pupils. From these and other experiments, Dr. Mesnet draws the conclusion that his patient sees some things and not others; that the sense of sight is accessible to all things which are brought into relation with him by the sense of touch, and, on the contrary, insensible to things which lie outside this relation. He sees the match he holds and does not see any other. Just so the frog „sees“ the book which is in the way of his jump, at the same time that isolated visual impressions take no effect upon him. As I have pointed out, it is impossible to prove that F. is absolutely unconscious in his abnormal state, but it is no less impossible to prove the contrary; and the case of the frog goes a long way to justify the assumption that, in the abnormal state, the man is a mere insensible machine29 “.
29 Huxley, 232–235.
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1.3
Der Mensch und sein wirkungsloses Bewusstsein
Den Übergang von experimentellen und medizinischen Befunden zur naturphilosophischen Diskussion des Bewusstseins leitet Huxley mit der These ein, dass es immer ein Ereignis im Nervensystem sei, das zu einem Bewusstseinszustand führe. Einen hinreichenden Beweis dafür könne man führen, indem man sich mit einer Nadel steche und den dadurch hervorgerufenen schmerzhaften Bewusstseinszustand zur Kenntnis nehme. Allenfalls für noch existierende Anhänger des Okkasionalismus oder der Prästabilierten Harmonie sei dieser Beweis nicht überzeugend. Alle anderen schließen mit demselben Recht, dass die neuronalen Vorgänge die Bewusstseinszustände verursachen, mit dem man sonst ganz allgemein Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge feststellt. Auf welche Weise genau das ursächliche Phänomen das Folgephänomen hervorbringe, bleibe in jedem Fall mehr oder weniger unbekannt. Dieser Punkt wird später mit dem Begriff der Erklärungslücke bezeichnet werden.30 Dennoch sei die Annahme, dass der biochemische Vorgang im Nervensystem die Ursache des mentalen Zustandes sei, genau so vernünftig, wie man einen Schlag auf ein massives Objekt als die Ursache für dessen Fortbewegung betrachte. Das Gehirn erzeuge also die bewussten Wahrnehmungen gerade so wie eine Eisenstange Hitze entwickelt, wenn sie gehämmert wird.31 Nun stellt sich für Huxley die Frage, ob nicht auch umgekehrt mentale Zustände auf neuronale zurückwirken können. Für die Tiere verweist er auf die vorderhirnamputierten Frösche, die sich ohne Bewusstsein nicht anders verhalten als mit Bewusstsein. Da also das tierische Bewusstsein keine zusätzlichen Wirkungen auf das Verhalten seiner Träger ausübe, ist für Huxley der Epiphänomenalismus im Tierreich begründet. Hier folgt jetzt der schon oben zitierte Vergleich mit der Lokomotive und ihrer für die Maschinerie folgenlosen Dampfpfeife.32 Man sollte erwarten, dass Huxley versucht, die Gültigkeit der epiphänomenalistischen Hypothese nun zügig auf den Menschen zu erweitern. Stattdessen beginnt er aber einen neuen Diskussionsfaden. Er behauptet nämlich, dass wir auch auf der Grundlage des Epiphänomenalismus den Tieren Willensfreiheit zuschreiben können. Denn ein Akteur sei dann frei, wenn es nichts gebe, was ihn daran hindere zu tun, was er zu tun wünscht. Das ist David Humes Begriff der Handlungsfreiheit.33 Auch wenn ein Windhund, der einen Hasen jagt, eine Maschine sei, so sei er doch frei, wenn ihn keine Leine von der Ausübung seines Jagdtriebes abhalte. Mit diesem Konzept von Willensfreiheit als Handlungsfreiheit erübrige sich auch die 30 31 32 33
Vgl. dazu den Beitrag von Birgitta Annette Weinhardt in diesem Band, S. 97, 100f., 109 Huxley, 238f. Vgl. o. S. 45. Vgl. David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hg. v. Raoul Richter (PhB 35), Hamburg 1973, S. 113.
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so lange Zeit erörterte Frage, wie eine bewusste Willensregung, die als solche nichts gemeinsam hat mit der Materie des Gehirns, auf diese Materie einwirken könne. Wenn Tiere mechanische Maschinen sind, lässt sich ihr Bewusstseinszustand von Freiheit als Folge der Übereinstimmung ihrer Handlungsmotive mit ihren Handlungsmöglichkeiten verstehen. Aber „the volitions do not enter into the chain of causation of their actions at all.“34 Einen weiteren Exkurs macht Huxley zum Thema der Tierseele und der Frage nach deren Sterblichkeit oder Unsterblichkeit. Seiner Meinung nach ist die Hypothese, dass Tiere bewusste Maschinen sind, sowohl mit biblischen Aussagen vereinbar, die das Tier als vergängliches Wesen bezeichnen,35 als auch mit dem Gedanken, dass die geliebten Haustiere mit den Menschen auferweckt werden könnten36 : „If the brutes have consciousness and no souls, then it is clear that, in them, consciousness is a direct function of material changes; while, if they possess immaterial subjects of consciousness, or souls, then, as consciousness is brought into existence only as the consequence of molecular motion of the brain, it follows that it is an indirect product of material changes. The soul stands related to the body as the bell of a clock to the works, and consciousness answers to the sound which the bell gives out when it is struck.“37
Damit schließt Huxley mit der Bearbeitung des Themas ab, wie es in der Überschrift formuliert worden sei. Er habe dabei noch nicht auf das Gebiet übergegriffen, auf dem er mit kirchlich-theologischen Angriffen rechnen müsse. Aber nun will er es doch aussprechen: Er halte es für richtig, dass der Automatismus der Tiere auch beim Menschen vorliege. Daher rechne er damit, dass die klerikalen Eiferer ihm Fatalismus, Materialismus und Atheismus vorwerfen werden.38 Diese Vorwürfe könne er aber zurückweisen: Er sei kein Fatalist, weil er den Begriff der Notwendigkeit nicht physikalisch, sondern logisch begründe, und kein Materialist, weil die Materie nicht ohne den Geist gedacht werden könne. Was aber die Existenz Gottes anbelange: „Of all the senseless babble I have ever had occasion to read, the demonstrations of these philosophers who undertake to tell us all about the nature of God would be the worst,
34 35 36 37 38
Huxley, S. 241. Huxley zitiert hier Psalm 49,12.20: „the beast that perisheth“. Mit einem Zitat von Alexander Pope, Essay on Man, Ep. I/2, 99–112. Huxley, 242. Huxley, 243f.
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if they were not surpassed by the still greater absurdities of the philosophers who try to prove that there is no God.“
Huxley stellt sich damit auf die Position eines deterministischen Monismus und Agnostizismus. Er verweist darauf, dass auch fromme, ja sogar orthodoxe Christen vor ihm „mehr oder weniger“ dieselbe These vom Menschen als einem bewussten Automaten vertreten haben: Die ganze Schule der prädestinatianischen Theologie, unter ihnen Augustinus, Calvin, Jonathan Edwards; unter den Philosophen der fromme Arnold Geulincx (1624–1669), der Begründer des Okkasionalismus, und die gesamte cartesische Schule; außerdem der Assoziationspsychologe David Hartley (1705–1757) und der Naturwissenschaftler und Philosoph Charles Bonnet (1720–1793).39 All diese Leute seien christliche Gelehrte gewesen. Von den Amtsträgern der Kirche jedoch, die ihn bekämpfen zu müssen glauben, ohne über entsprechende Fachkenntnisse zu verfügen, will Huxley sich nichts sagen lassen. „It really would be well if ecclesiastical persons would reflect that ordination, whatever deep-seated graces it may confer, has never been observed to be followed by any visible increase in the learning or the logic of its subject“.40
Aus dieser Präparation des Epiphänomenalismus durch Huxley sollen nun zwei Gesichtspunkte herausgegriffen und erörtert werden. Es handelt sich dabei um die notwendige Differenzierung zwischen Willensunfreiheit und Epiphänomenalismus und um einen empirisch und methodisch reflektierten Vorschlag für die Zurückweisung des Letzteren. Ich setze dabei die Gültigkeit einer nichtdualistischen, also monistischen Anthropologie voraus, obwohl der Epiphänomenalismus ursprünglich als eine Variante des cartesischen Substanzdualismus geführt wurde. Das war er aber schon bei Huxley nicht mehr, wie wir gesehen haben.41
2.
Der Zusammenhang von Willensunfreiheit, Epiphänomenalismus und Fatalismus
Freuds Bestreitung des autonomen Willens als Aufsichtsorgan über die vielfachen Neigungen der Seele, und damit die Bestreitung der Willensfreiheit, wurde von
39 Huxley, 245f. 40 Huxley, 249. 41 Vgl. o. S. 45 Auch Michael Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt am Main 20052 , verwendet den Begriff bei der Diskussion nichtdualistischer Positionen.
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der analytischen Philosophie und den empirischen Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten auf nachprüfbarere Gründe gestellt als dies im Rahmen der psychoanalytischen Theorie möglich war. Philosophisch betrachtet, lässt sich schon keine widerspruchsfreie Definition von libertarer Willensfreiheit konstruieren.42 So sind heute die meisten Philosophen, die sich mit dem Thema beschäftigen, Kompatibilisten. Sie vertreten nur eine „schwache Form“ von Willensfreiheit, die mit dem logischen Determinismus im Denken und mit einem naturgesetzlichen Determinismus in Gehirn und Außenwelt vereinbar (kompatibel) ist. Im kompatibilistischen Sinn ist eine Person willensfrei, wenn sie erstens handlungsfrei ist und zweitens qualifizierte Gründe für ihre Handlungen hat – seien es etwa ethisch einwandfreie oder rational gut reflektierte (oder beides zusammen).43 Aber trotz ihrer weiten Verbreitung steht die kompatibilistische Freiheitstheorie vor einem kaum bearbeiteten anthropologischen, genauer: existenziellen Problem. Wenn es keine libertare Entscheidungsfreiheit gibt, dann ist das Handeln einer Person durch den Gesamtvektor ihrer Gründe determiniert. Da Kompatibilisten auch einen naturgesetzlichen Determinismus der Außenwelt voraussetzen, liegt jeder zukünftige Zustand der Welt in jedem Detail jetzt schon fest, ja sogar schon zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Vergangenheit. Kompatibilistische Autoren verlieren diese Konsequenz regelmäßig aus den Augen, weil sie sich bei ihrer Analyse auf zeitlich begrenzte Entscheidungsvorgänge konzentrieren und die explizite Reflexion auf die Gesamtheit einer menschlichen Biografie übergehen.44 Angesichts einer schon immer festgelegte Zukunft kann sich das existenzielle Problem des Fatalismus stellen – je nach Persönlichkeitsstruktur. Auch Huxley sah sich mit seiner Theorie genötigt, den erwarteten Fatalismusvorwurf a limine zurückzuweisen. Dies gelang ihm aber nicht. Denn sein nicht expliziertes Argument basiert auf der Prämisse, dass er die Notwendigkeit des Weltlaufs nicht als physisch/ physikalische verstehe, sondern als logische.45 Ganz gleich, wie sein uns entzogener Untersatz gelautet haben mag: Eine Maschine arbeitet nicht logisch, sondern physikalisch determiniert. Die determinierenden Faktoren einer Maschine können zwar im Denken logisch analysiert werden. Aber nach Huxleys Voraussetzungen ist der
42 Die drei Grundbedingungen für echte (libertare) Willensfreiheit (Alternativismus, Urheberschaft und Intellegibilität) schließen sich wechselseitig aus. Vgl. Marco Stier, Verantwortung und Strafe ohne Freiheit, Paderborn 2011, S. 102–104. 43 Vgl. Pauen, Illusion, S. 77–81. 44 Vgl. dazu Birgitta Annette Weinhardt, Das Modell des illibertaren Indeterminismus: Lebensführung jenseits von Willensfreiheit und Fatalismus. Ein philosophisch-theologischer Entwurf im Dialog mit den Naturwissenschaften (Religion, Theologie und Naturwissenschaft/Religion, Theology, and Natural Science 31), Göttingen 2018, S. 85f.; 195–211. 45 Vgl. o. S. 53
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logisch-analytische Denkprozess nur ein Nachklang der physischen Maschine, ein folgenloser Pfeifton. Die Logizität des Nachdenkens über die Welt hat keinen Effekt auf die Welt und auf das Verhalten einer Person, die selbst deterministisch organisiert ist. Alles kann also auf den naturgesetzlichen Determinismus zurückgeführt werden, und mit diesem ist, auch nach Huxleys Ansicht, das Fatalismusproblem gegeben. In der bisherigen philosophischen und theologischen Diskussion hat man, wenn man das deterministisch-fatalistische Menschenbild zurückweisen wollte, die menschliche Willensfreiheit stark zu machen versucht. Der Kompatibilismus kann das Problem aber nicht lösen, und der Libertarismus lässt sich nicht begründen, es sei denn man beginnt mit der wenig rationalen Voraussetzung, dass es libertare Willensfreiheit geben müsse, weil unsere Alltagsintuition sie überall voraussetze. An dieser Stelle muss zwischen Willensunfreiheit und Epiphänomenalismus differenziert werden. Denn Willensunfreiheit führt nicht per se zum Fatalismus,46 sondern nur dann, wenn sie mit dem Determinismus der Außenwelt verbunden ist und zusätzlich mit dem Epiphänomenalismus. Die Tatsache, dass der Mensch keinen freien Willen hat, ist für sich alleine keine hinreichende Voraussetzung für ein fatalistisches Daseinsgefühl. Nun ist aber der Determinismus der Außenwelt nicht mehr plausibel. Es gibt echte Zufälle in der Welt, zunächst in den mikroskopischen Größendimensionen der Quantenereignisse. Aber solche Zufälle können nicht selten zu existenziell relevanten Auswirkungen in der menschlichen Erfahrungswelt führen.47 Daraus folgt, dass die Zukunft einer Person nicht determiniert ist, sondern dass sich für sie immer wieder Situationen ergeben, die jetzt und noch eine ganze Weile nicht feststehen. Das bedeutet für einen reflektierten Menschen, der sein Leben führen und sich nicht einfach treiben lassen will: Jede Situation, in der er sich zukünftig kompetent verhalten muss, um seine Ziele zu erreichen, ist umso weniger determiniert, je weiter sie zeitlich von der Gegenwart entfernt ist. Für die Gegenwart bedeutet dies: Kein Vorhaben, das ohne Verletzung der Naturgesetze erreicht werden kann, ist a priori zum Scheitern verurteilt. Der Erfolg wird wahrscheinlicher sein, wenn man sich bildet und dabei solche Kompetenzen erwirbt, die hilfreich für die Realisierung der Ziele sind. Man wird damit zukünftig adäquat reagieren können, wann immer sich passende Möglichkeiten einstellen. Die ontische Offenheit der Zukunft
46 Ted Honderich, Wie frei sind wir? Das Determinismus-Problem, Stuttgart 1995, geht wie die Kompatibilisten davon aus, dass es keine starke menschliche Willensfreiheit gibt und dass die Quantenzufälle für ein Menschenleben irrelevant sind. Da er aber den kompatibilistischen blinden Fleck nicht teilt, behandelt er das fatalistische Lebensgefühl eindrücklich. Seine Philosophie ist Lebenshilfe für Menschen, die mit dem Determinismus nicht fertig werden, ähnlich der epikureischen Philosophie, welche die Angst vor dem Tod therapierte. 47 Vgl. Birgitta Weinhardt, S. 162–183, 195–198.
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schützt vor Fatalismus, wenn auch gleichzeitig der Willensprozess durch Gründe determiniert ist, die mit deterministischen neuronalen Strukturen korrelieren. Die Bestimmungsgründe des Willens, an denen man arbeiten kann, können durchaus diejenigen sein, die von führenden Kompatibilisten empfohlen werden.48 Ich denke nicht, dass diese Perspektive für die Lebensführung weniger ermutigend ist als eine solche, die unter der Voraussetzung von libertarer Willensfreiheit überhaupt realistisch konstruiert werden könnte. Denn so viel steht auch dort fest: Man besitzt als Mensch nicht das Vermögen, sein Leben nach völligem Belieben zu gestalten. Es käme auch für libertar-willensfreie Menschen immer darauf an, die Möglichkeiten weise zu nutzen, die ihnen in den Weg gespielt werden, und sich intellektuell auf die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Möglichkeiten vorzubereiten. Nun kann man aber auch auf unfreie Weise lernen, klug zu werden, wenn uns erst die grundlegende Erkenntnis über die Struktur der Welt und das menschlichen Handeln ergriffen hat. Determiniert aber diese Erkenntnis das Bewusstsein einer Person, dann folgt daraus ein mentaler Selbstverstärkungsprozess: Die Person weiß, dass es einen Unterschied für sie machen wird, wenn sie ihre mentalen Fähigkeiten ab jetzt trainiert, um später lebensdienliche Handlungsoptionen identifizieren zu können. Diese motivationale Situation würde nun am Ende aber doch noch frustriert, wenn der Epiphänomenalismus gälte. Denn in diesem Fall würden die mentalen Zustände und Prozesse einer Person doch keinen Unterschied für ihr zukünftiges Leben haben, weil sie lediglich die wirkungslosen Protokolle ihrer unbewussten Zustände und Prozesse wären. Damit stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie der Epiphänomenalismus zurückgewiesen werden kann.
3.
Zur Widerlegung des Epiphänomenalismus – ein Vorschlag
Von welchen Voraussetzungen können wir sinnvoller Weise ausgehen? Eine durch das Tagungsthema gesetzte Prämisse liegt darin, dass der Substanzdualismus hier keine Rolle spielen soll. Hinter dieser Entscheidung wiederum stehen die von Dirk Evers dargestellten wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen.49 Dennoch ist auch in einem monistischen Menschenbild zumindest vorerst von einer Dualität auszugehen, nämlich von zwei Perspektiven auf den Menschen und an ihm. Das sind zunächst die zwei asymmetrischen Wahrnehmungsperspektiven: Aus der Dritte-Person-Perspektive haben wir einen epistemischen Zugang zur Leiblichkeit des Menschen, angefangen vom bloßen Augenschein bis hin zu hochauflösenden
48 Vgl. aaO., S. 202–211. 49 Vgl. u. S. 177f.
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medizinischen Diagnosegeräten. Das Nervensystem ist ein Teil dieses leiblichen Aspektes, der auch mehr oder weniger leicht objektivierbar ist. Aus der ErstePerson-Perspektive hingegen nehmen wir die geistige, mentale Seite des Menschen wahr – aber nur die je eigene, individuelle. Die Introspektion in das eigene Selbst ist exklusiv, und zwar in dem Maße, dass kein Mensch von einem zweiten zwingend davon überzeugt werden kann, dass dieser, der zweite, ebenfalls eine bewusste Innenseite hat. Huxley hat sich mit dieser Problematik nicht beschäftigt, aber der Analogieschluss50 von der eigenen mentalen Daseinsweise auf die des Anderen, der uns auch sonst in so Vielem ähnlich ist, scheint auch heute allgemein akzeptiert zu sein. Den beiden Erkenntnisperspektiven auf den Menschen korrelieren zwei Klassen von Erkenntnisgehalten. Es sind dies die Eigenschaftsreihen, die man gewöhnlich den Begriffen Körper und Geist zuordnet. In Frage steht nun, in welchem Verhältnis die geistige Prozessebene sich zur körperlichen verhält. Welche Methoden stehen zur Verfügung, um die Frage zu entscheiden, ob mentale Vorgänge einer Person eine Auswirkung für ihr Verhalten haben? Man könnte erstens von der alltagsweltlichen Intuition ausgehen, der es so scheint, als ob wir immer wieder wegen eines bestimmten Gedankens, eines Gefühls, einer Erkenntnis zu einer bestimmten Handlungsoption gekommen seien. Deswegen müsse auch dieser Gedanke, dieses Gefühl oder diese Erkenntnis die Ursache für unser Verhalten gewesen sein.51 Aber dass die alltagsweltlichen Intuitionen nicht immer das Wahre treffen, ist so häufig, dass wir uns nicht auf sie verlassen sollten. Wir könnten zweitens von den Vertretern des Epiphänomenalismus verlangen, sie mögen beweisen, dass alle mentale Zustände und Prozesse nicht handlungswirksam sind. Denn uns würde es genügen, wenn es wenigstens einige nicht epiphänomenale Bewusstseinsimpulse gäbe. Dass Menschen ausschließlich bewusst ausgelöste Handlungen durchführen und niemals automatisierte, wird niemand behaupten wollen. Würden sich die Reduktionisten auf dieses Beweisverfahren einlassen, könnten wir es uns bequem machen. Denn eine vollständige Induktion kann nicht erbracht werden.52 Wir sollten daher die epiphänomenalistische These sehr ernst nehmen. Die empirischen Beobachtungen, die sie unterstützen, sind seit Huxleys Zeiten immens
50 Vgl. o. S. 48. 51 Vgl. Hommen, Verursachung, 20–22. 52 Diese Beweisumkehrung ist natürlich aus ganz verschiedenen Gründen unsinnig. Dennoch findet man solche und ähnliche Forderungen auch gelegentlich in der Literatur. Für die Annahme des Determinismus (der hier nicht vorausgesetzt wird), fordert etwa Keil, S. 34: „Um den Determinismus wirklich auf den Prüfstand zu stellen, müsste man das Universum zweimal in exakt denselben Zustand versetzen können.“
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gewachsen. Hier sind etwa die schon klassischen Experimente von Benjamin Libet zu nennen, deren Befunde darauf hinweisen, dass die Bewusstseinsvorgänge den neurocorporalen Zuständen zeitlich nachklappen, mit denen sie korreliert sind. Libet aber, der eigentlich die menschliche Willensfreiheit empirisch beweisen wollte, führte eine Vetofunktion des Bewusstseins gegen die neuronale Handlungseinleitung ein, um dem Geist wenigstens einen Rest an Handlungskontrolle zu reservieren.53 Die Zahl der Interpretationen der Libet-Experimente ist Legion. Neuere Folgeexperimente sind elaborierter angelegt. Hier soll eine für unser Thema wichtige Untersuchung von John-Dylan Haynes erwähnt werden. In diesem Versuchsrahmen wird die Erste-Person-Perspektive der Probanden mit der Dritte-Person-Perspektive des Experimentators so verknüpft: Den Versuchsteilnehmern werden im Sekundenabstand Ziffern-Buchstaben-Kombinationen gezeigt. Sie sollen bei einer beliebigen Kombination zwei der Ziffern entweder addieren oder subtrahieren. Sobald sie in ihrer Erste-Person-Perspektive wahrnehmen, dass ihre Entscheidung zur Durchführung einer Berechnung gefallen ist, sollen sie dies durch einen Knopfdruck anzeigen. Sobald sie dann das Rechenergebnis festgestellt haben, geben sie das Resultat analog über eine vierstellige Tastatur bekannt. Die Tastatur ist so auf die gezeigten Ziffern-Buchstaben-Kombinationen abgestimmt, dass die Versuchsleiter in ihrer Dritte-Person-Perspektive sehen können, welche der beiden mathematischen Operationen gewählt und ob sie korrekt ausgeführt wurde.54 Das Hauptergebnis dieses Experiments lag darin, dass die Versuchsleiter in ihrer Dritte-Person-Perspektive auf visualisierte Gehirnaktivitäten der Probanden schon zuverlässig ablesen konnten, ob diese addieren oder subtrahieren würden, bevor sie aus ihrer Erste-Person-Perspektive heraus selbst den Zeitpunkt ihrer Entscheidung bekanntgaben. Es ging bei dieser Versuchsreihe ausdrücklich nicht um die Frage nach der Willensfreiheit, sondern um die Reihenfolge von mentaler Handlungsplanung, introspektiver Wahrnehmung dieser Planung und Handlung selbst. Auch Haynes‘ Ergebnisse müssen als Plausibilisierung des epiphänomenalistischen Verdachtes ernst genommen werden. Aber alle libetähnlichen Versuche sind mit der Schwierigkeit verbunden, dass komplexe Vorgänge im Nervensystem in einem sehr kurzen Zeitraum stattfinden und dabei zahlreiche Schleifen durchlaufen. Hinzu kommt der heterogene methodische Zugriff über die Introspektion der Versuchsteilnehmer einerseits und die technischen Messgeräte der Wissenschaftler andererseits. So lässt
53 Vgl. Benjamin Libet, Mind time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert (stw 1834), Frankfurt am Main, 2007. 54 Der hier stark elementarisierte Versuchsaufbau ist in der Originalpublikation leicht zugänglich: Chun Siong Soon / Anna Hanxi He / Stefan Bode / John-Dylan Haynes, Predicting free choices for abstract intentions, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 110 (2013), 6217–6222; www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1212218110.
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sich kaum eine hinreichende zeitliche und kausale Auflösung der psychoneuronalen Vorgänge herstellen, die den Standards von Experimenten an rein materiellen Objekten entsprechen. Auf den folgenden Seiten möchte ich daher einen anderen Zugang zur Beurteilung der Epiphänomenalismusthese zur Diskussion stellen. Der Ausgangspunkt dabei ist: Der Epiphänomenalismus beansprucht, eine allgemeine Theorie über den Zusammenhang von matter und mind zu sein. Wenn man zeigen könnte, dass zumindest einige relevante Handlungen nicht im Rahmen dieser Theorie erklärt werden können, gilt er als zurückgewiesen. Die empirischen Gründe für den Epiphänomenalismus können so weit akzeptiert werden, wie sie wirklich reichen. Aber als allgemeine Regel kommt jener nicht mehr in Frage. Um zu zeigen, dass manche Handlungen tatsächlich nicht ohne hinreichende kausale Aktivität des Bewusstseins vollzogen werden können, betrachten wir einen mehr oder weniger alltäglichen Vorgang, der vielleicht 10 bis 15 Minuten dauert.
Die beiden oberen Linien dieser Abbildung stehen für eine Person, die im Mittelpunkt der Betrachtung steht. An ihr vollziehen sich neurocorporale Prozesse wie Atmung und Herzschlag, aber sie ist auch in einer konkreten Handlung begriffen, die von mentalen Prozessen begleitet ist. Die beiden Linien geben den Perspektivendualismus wider. Das im Deutschen nicht geläufige Adjektiv „neurocorporal“ ist hier gewählt, weil die zweite Linie nicht nur für die neuronalen Vorgänge im Menschen stehen soll, sondern für alles, was am Menschen sinnlich wahrnehmbar ist oder gemacht werden kann; insbesondere also auch seine Bewegungen in Zeit und Raum.
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Dass die physischen Prozesse im Menschen auf seine mentalen Zustände einwirken, ist unbestritten. Diese Wirkungen sind durch die gestrichelten Bögen dargestellt. Umstritten ist hingegen, ob es Wirkungen von den mentalen Prozessen aus auf die somatischen Vorgänge gibt. Diese hypothetischen top-down-Wirkungen werden durch die punktierten Linien repräsentiert. Nun stellt sich die Frage, ob man im Verhalten einer Person Anzeichen dafür finden kann, dass eine mental intendierte und auch schon körperlich sichtbar gewordene Handlung nicht vollständig ausgeführt werden kann, weil ein für das Handeln notwendiger Bewusstseinszustand ausgefallen ist. Dafür steht in der Grafik das Fragezeichen. Der ausgefallene mentale Input wäre daran erkennbar, dass die auch leiblich zu vollziehende Handlung abgebrochen werden muss. Ein Beispiel: Eine Person (P) sitzt in ihrem Büro und schreibt an einer Abhandlung. Sie will eine Aussage mit einem Literaturbeleg untermauern. Daher sucht sie in der Computerdatenbank die Signatur eines Buches nach, von der sie weiß, dass es einen brauchbaren Beleg enthält und dass es in der Institutsbibliothek steht. Sie memoriert die Signatur und begibt sich in den Bibliotheksraum. Dort angekommen bemerkt sie jedoch, dass sie die Signatur vergessen hat. Sie konzentriert sich, um sie aus ihrem Gedächtnis doch noch aufzurufen, was ihr aber nicht gelingt. P entschließt sich also, ins Büro zurückzugehen, und sucht noch einmal nach der Signatur im Computer. Dieses Mal schreibt sie sie auf einen Zettel, den sie in die Bibliothek mitnimmt, und kommt auf diese Weise schließlich doch noch zu ihrem Literaturbeleg. Man kann sich vorstellen, dass einige dieser Teilhandlungen in epiphänomenalistischer Weise von P vollzogen worden sind. Schon alleine ihre Schritte in die Bibliothek werden größtenteils automatisiert von statten gegangen sein. Aber vielleicht wurde ihr ja auch schon der Titel des Buches einfach bottom up aus dem literarischen Erfahrungsgedächtnis ins Bewusstsein gespült. Und wenn im Gedächtnis sogar der Wortlaut des gesuchten Zitates mit Seitenzahl und sonstigen bibliografischen Angaben codiert gewesen wäre, hätte sich P den Weg in die Bibliothek sogar sparen können. Aber P musste nach der Signatur suchen, vergaß sie und musste noch einmal die Information aus dem externen System der Datenbank in sich aufnehmen. Dieser Vorgang ist notwendig mit Bewusstsein begleitet, wenn man nicht hypnotisiert, ein Zombie oder sonst in einem Ausnahmezustand befindlich ist. Will man einwenden, dass auch bei einem Menschen, der sich in dem üblichen Bewusstseinszustand befindet, stets neuronale Zustände mit mentalen korrelieren? Das wird aber gar nicht bestritten. Worauf es in dem Beispiel ankommt ist, dass die Handlungsreihe nicht vollzogen werden konnte, weil die Information aus der Datenbank im Bewusstsein nicht mehr aufgerufen werden konnte. Die irritierende Sekunde im Bibliotheksraum zeigt, dass die nichtmentalen Personenanteile den Handlungszweck nicht alleine verwirklichen konnten. Das Bewusstsein musste
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noch einmal bemüht werden. Seine Aktivität war eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die Handlung zum Ziel geführt werden konnte. Vergleichen wir einmal den, von manchen ersehnten, perfekten Androiden mit unserer Person P. Wenn er einen Literaturbeleg für einen Schriftsatz benötigt hätte, hätte er „im Netz“, an das er ständig gekoppelt ist, danach gesucht und in seinen Text eingefügt, um uns Menschen etwas mitzuteilen – sehr wahrscheinlich ohne Bewusstsein. Was er automatisch „kann“, ist für P viel umständlicher zu erreichenen. Denn sie muss bewusste Anstrengungen bzw. Bewusstseinsanstrengungen machen, um zu ihrem Ziel zu kommen. Der Android benötigt kein Bewusstsein. Im Vergleich mit ihm könnte daher unser Bewusstsein als lahme und fehleranfällige zweite Wahl für ein Instrument zur Lebensbewältigung erscheinen. Aber wir haben als Menschen nun einmal keine Wahl und müssen unser Leben vielfältig bewusst reflektieren, um erfolgreich handeln zu können. Wenigstens müssen wir aber nicht fürchten, dass die Mühe des angestrengten Denkens immer wirkungslos bleibt. In unserem Beispiel ist die Notwendigkeit eines Bewusstseinsaktes entstanden, weil eine Information aus einem externen System – der Datenbank – erhoben werden musste, damit der intendierte Handlungsverlauf aufrechterhalten werden konnte. Solche Vorgänge ereignen sich aber tagtäglich in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Wann immer wir mit anderen einen Familienausflug, ein berufliches Projekt oder andere komplexe Vorgänge planen, ist die bewusste, konzentrierte Übernahme von Informationen zwischen den Individuen notwendig für das Gelingen des jeweiligen Planes. Mesnets Patient, Hypnotisierte und Schlafwandler zeigen, dass ein Mensch auch ohne Bewusstsein zu manchen nichttrivialen Handlungen fähig sein kann. Aber schon zur Führung eines zusammenhängenden Alltagslebens ist er nicht imstande. Mindestens bewusste Sprech- und Hörakte zwischen menschlichen Personen sind notwendig für soziales Verhalten. Die neurokorporalen Signale, die im Sprecher vor sich gehen, können die neurokorporalen Vorgänge im Hörer nicht auslösen, wenn dieser sie nicht bewusst aufnimmt – oder es nicht vermag, sie sich bei Bedarf wieder bewusst zu machen. Damit rückt auch in der Epiphänomenalismus-Debatte die evolutionsbiologische These ins Zentrum, dass menschliche Sprache und menschliches Bewusstsein eng miteinander verknüpft sind. Beides hat zur Entstehung unserer Art wesentlich beigetragen. Die Sprache koordiniert das gemeinsame Handeln der Gruppe. Sprache muss erworben und gebraucht werden. Kommunzierende Bewusstseine antizipieren mögliches zukünftiges Handeln. Hochreflektierte, empathische und damit geistig anstrengende Gespräche sind aber auch heute dringend notwendig, um das Überleben unserer Art in erträglicher Weise zu ermöglichen, und damit ihrer letzten Kränkung zu entgehen.
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Neuronale Grundlagen bewusstseinsassoziierter Prozesse
Aus dem Nachdenken über unser Selbst ergibt sich zwangsläufig die Frage nach Ursprung und Wesen des Bewusstseins. Die wissenschaftlichen Ansätze und Meinungen zu diesem Phänomen haben eine lange Geschichte und sind vielfältiger Natur. Unter den Naturwissenschaften sucht die Hirnforschung nach einer Erklärung, wie Gehirnfunktionen zur Ausbildung des Bewusstseins beitragen. Mit Mitteln der empirischen Forschung wird versucht, die materielle Grundlage des Bewusstseins im Gehirn zu erkunden. Dürfen wir hoffen, eines Tages durch die Aufklärung der Funktionalitäten des Gehirns den menschlichen Geist zu verstehen? Wenn dies auch für die Forschung eine wichtige Triebfeder ist, sich mit den Funktionen des Gehirns auseinanderzusetzen, so ist diese Frage derzeit (noch) nicht beantwortet. Im Folgenden werden aus der Perspektive der molekularen Neurobiologie Prinzipien naturwissenschaftlichen Arbeitens herausgearbeitet, sowie an einigen Beispielen auseinandergesetzt, wieviel wir von Bewusstseinsvorgängen verstanden haben und wo die Grenzen unserer Erkenntnis derzeit liegen. Beginnend mit der Ausrufung des Jahrzehnts des Gehirns durch die Regierung der USA im Jahr 1990, rückte die Hirnforschung in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und erfuhr dadurch einen großen Aufschwung. Ohne Zweifel sind wir Zeugen einer eindrucksvollen Entwicklung, die auf bisher nie gekannte Weise das Zusammenwirken der Neuronen, deren inneren Aufbau und die synaptische Verschaltung beschreibt. Dies wurde durch neue technologische Entwicklungen befeuert, die mit der Hirnforschung synergistisch zusammenwirkten. Einige Schlüsseltechnologien haben wesentlich dazu beigetragen: Sequenziertechnologien zur Entschlüsselung des Genoms, die Messung und Stimulation der Aktivität von Neuronen im intakten Verband des Gehirns, sowie die bildgebenden Verfahren zur Erfassung der Gehirnaktivität im lebenden Organismus. 1990 wurde das „Humane Genomprojekt“ gegründet, an dem zwanzig Partnereinrichtungen aus sechs Ländern teilgenommen haben. Bis zum Jahr 2003 ist es diesem internationalen Konsortium gelungen, die Sequenz des kompletten Genoms genau eines Menschen zu entziffern. Die Arbeiten legten den Grundstein für das Wissen zu allen Genen und den von ihnen kodierten Proteinen beziehungsweise deren Aufbau. In der Folge wurde die Technik immer weiter verfeinert, so dass es heute möglich ist, innerhalb von Wochen diesen Prozess abzuschließen. Dies ermöglicht nicht nur die Sequenzierung und den Vergleich der Genome zahlreicher Individuen, sondern erweitert den Ansatz auf die genetische Charakterisierung
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vieler Arten. Das Wissen um alle Gene eines Organismus wird genutzt, durch genetische Eingriffe in Modellorganismen, wie zum Beispiel in Mäusen, die Rolle aller Gene für die Funktion des Gehirns zu untersuchen. Ferner trägt diese Technologie dazu bei, genetische Varianten von Menschen zu identifizieren, die mit dem Auftreten der unterschiedlichen Erkrankungen korrelieren. Aus den Ergebnissen haben wir gelernt, dass Erkrankungen des Gehirns, also zum Beispiel psychische Erkrankungen, ungeheuer komplex sind und dass die genetische Grundlage dieser Erkrankungen von Patient zu Patient sehr verschieden ist. Allein für die Schizophrenie werden gegenwärtig 180 Gene diskutiert, die an der Ausprägung dieser Erkrankung beteiligt sein könnten.1 Ein Hindernis zum Verständnis des Bewusstseins ist die ungeheure Komplexität des Gehirns. Das Gehirn ist auf verschiedenen Ebenen organisiert. In der kleinsten Dimension sind es die Genprodukte, also die beteiligten Proteine, deren Analyse den Aufbau und die Funktion von Nervenzellen mit höchster Auflösung erklären. Synaptische Verbindungen und deren Regulation erlauben es dann den Neuronen, Signale weiterzuleiten. In einer weiteren Stufe werden die Grundeinheiten der Gehirnfunktion, die Nervenzellen, in lokalen Mikroschaltkreisen angeordnet. Im Zentrum steht das Haupt- oder Prinzipalneuron, das über weit verzweigte Dendriten und deren postsynaptische Dornfortsätze Informationen von anderen Nervenzellen und ihren präsynaptischen Termini erhalten. Diese eingegangenen Signale werden dann integriert und über einen axonalen Fortsatz an andere Nervenzellen weitergegeben. Gleichzeitig ist das Prinzipalneuron von zahlreichen Interneuronen umgeben, die auf höchst komplexe Weise die Aktivität des Prinzipalneurons steuern. Sie bilden hemmende Synapsen an unterschiedlichen Stellen des Prinzipalneurons, entweder an den distalen oder proximalen Teilen der Dendritenbäume, am eigentlichen Zellkörper des Prinzipalneurons oder am Axoninitialsegment. Dadurch modulieren die Interneuronen die Fortleitung von Aktionspotentialen des Hauptneurons, indem sie je nach Lokalisation in die Integration von Signalen, der Entstehung neuer Aktionspotentiale oder in die rhythmische Aktivität von Prinzipalneuronen eingreifen.2 Zahlreiche solcher lokalen Mikroschaltkreise setzen sich zu Gehirnregionen zusammen, die wiederum durch axonale Verbindungen verknüpft sind. Somit verstehen wir, dass das Gehirn aus einem riesigen und komplexen Netzwerk von Neuronen besteht, die sich wechselseitig beeinflussen. Das Gehirn als zentraler Ort, der für die Generierung von Bewusstsein verantwortlich ist, steht jedoch nicht isoliert für sich allein. Aus dem ganzen Körper werden über
1 Huo, Y., et al., Functional genomics reveal gene regulatory mechanisms underlying schizophrenia risk. Nat Commun, 2019. 10(1): p. 670. 2 Hensch, T.K., Critical period plasticity in local cortical circuits. Nat Rev Neurosci, 2005. 6(11): p. 877–88.
Neuronale Grundlagen bewusstseinsassoziierter Prozesse
die Sinnesorgane Informationen zugeliefert, die auf vielfältige Weise im Gehirn verarbeitet werden. Darüber hinaus beeinflussen geschlechtsspezifische Unterschiede die Kognition, die geschlechtliche Identität und Orientierung sowie das Risiko für neuropsychiatrische Erkrankungen.3 Schließlich unterliegt das Gehirn mit seiner Funktion zahlreichen Einflüssen aus der Umwelt. Traumatische Ereignisse oder das soziale Umfeld wirken sehr stark auf das Nervensystem im Allgemeinen und das Gehirn mit seinen Bewusstseinsvorgängen im Besonderen ein und können dessen Funktionalität inklusive bewusster Vorgänge maßgeblich beeinflussen. Für das Verständnis dieser komplexen Vorgänge als Ursache bewusstseinsassoziierter Prozesse ist es daher notwendig, Verhaltensversuche so zu gestalten, dass gleichzeitig die molekularen, funktionellen und morphologischen Parameter von Neuronen im Experiment einbezogen und gemessen werden können. Dazu werden genetische Ansätze mit funktionellen, elektrophysiologischen und optogenetischen Untersuchungen kombiniert, die die Stimulation einzelner Neuronen im intakten Zellverband und die Messung neuronaler Aktivität im sich verhaltenden Tier erlauben.4 Es ist also möglich geworden, die dynamischen Veränderungen von Synapsen, sowohl in ihrer Gestalt und Zahl, als auch in ihrer Funktion zu beobachten, und diese hoch aufgelöste Information auf der Ebene einzelner Nervenzellen oder sogar Synapsen, über die übergeordnete Steuerung der Netzwerkaktivität bis hin zum Verhalten zu integrieren. Mehr noch ist es heute möglich, durch gezielte Manipulation kleiner Neuronengruppen spezifische Verhaltensmuster auszulösen. Schließlich haben große Fortschritte mit bildgebenden Verfahren dazu beigetragen, Gehirnaktivität in Korrelation mit spezifischen Bewusstseinsvorgängen zu lokalisieren. Insbesondere die funktionelle Magnetresonanztomographie hat dazu beigetragen, aktive Gehirnzentren im lebenden Menschen oder Tieren zu identifizieren. Diese Technik trug dazu bei, zum Beispiel neuropsychiatrische Erkrankungen als defiziente Netzwerkaktivität zu verstehen und diese Erkenntnisse durch gezielte Intervention, etwa durch Tiefenhirnstimulation oder Magnetfeldstimulation ausgesuchter Regionen, für therapeutische Zwecke zu nutzen. Es sind also enorme Fortschritte in der Hirnforschung zu verzeichnen, die zur Aufklärung mentaler Phänomene beigetragen haben. Bedeutet das, dass wir nun Bewusstsein oder Geist mit Mitteln der empirischen Forschung erklären können? Die Auffassungen dazu gehen in der Wissenschaftsgemeinde auseinander. Einige Neurobiologen vertreten eine optimistische Position und sind der Auffassung, dass
3 Bao, A.M. and D.F. Swaab, Sexual differentiation of the human brain: relation to gender identity, sexual orientation and neuropsychiatric disorders. Front Neuroendocrinol, 2011. 32(2): p. 214–26. 4 Kim, C.K., A. Adhikari, and K. Deisseroth, Integration of optogenetics with complementary methodologies in systems neuroscience. Nat Rev Neurosci, 2017. 18(4): p. 222–235.
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das Bewusstsein aus der experimentellen Erkenntnis erklärbar ist.5,6 Im Wesentlichen fußt dies auf der Annahme, dass uns die Beschreibung der Funktionalität von Neuronen den Schlüssel für die Erklärung des Bewusstseins in die Hand gibt. Andere Forscher sind skeptisch und äußern Bedenken, dass zum Beispiel Grenzen, die uns möglicherweise die Physik setzt, einer umfassenden Erklärung des Bewusstseins entgegenstehen.7 Insgesamt scheint klar, dass trotz einiger Ansätze, ein theoretisches Modell für Bewusstseinsfunktionen zu formulieren, das Gehirn als Gesamtsystem bisher nicht verstanden ist und dass es nach wie vor keine überzeugende übergeordnete Theorie zur Funktionsweise des Gehirns gibt. Was also fehlt, ist eine überzeugende allgemeine Theorie, die als Grundlage für die Hypothesenbildung der empirischen Forschung dienen kann, so wie dies beispielsweise die Darwin’sche Evolutionstheorie für das Verständnis der Entstehung der Arten leistet. Trotz dieses Mankos haben die Neurowissenschaftler nicht aufgehört zu experimentieren. Wie können wir dann die erzielten Ergebnisse einordnen, was können wir gesichert aussagen und wo sind die Grenzen? Wenn wir also den gegenwärtigen Stand definieren wollen, den die empirische Forschung zur Erklärung des Bewusstseins leisten kann, dann ist es zunächst notwendig, auf die Randbedingungen experimenteller Arbeit einzugehen. Die Grundlage des naturwissenschaftlichen Ansatzes ist die Bildung von Hypothesen, aus denen spezifische Vorhersagen abgeleitet werden. Diese Vorhersagen werden einer experimentellen Prüfung unterzogen, die sich dadurch auszeichnet, dass sie zu quantitativ darstellbaren Ergebnissen führt. Diese Ergebnisse bestätigen im positiven Falle die Hypothese und tragen zur Stärkung des Vertrauens in die Richtigkeit einer Hypothese bei. Ein Forscher wird sich stets bemühen, mehrere Vorhersagen in unabhängigen Experimenten zu untersuchen, um sich von der Richtigkeit der Hypothese zu vergewissern. Wenn sich eine einzige der Vorhersagen nicht experimentell bestätigen lässt, wird die Hypothese verworfen.8 Dies sei an einem Beispiel erläutert, welches einen Zusammenhang zwischen unterschiedlich aktiven Bereichen des Gehirns und dem Auftreten von Sprachstörungen bei Patienten herstellt, die an Schizophrenie erkrankt sind. Die Beispielhypothese besagt, dass Sprachstörungen bei Schizophrenie durch Störung der Gehirnaktivität verursacht werden.
5 Crick, F. and C. Koch, Consciousness and neuroscience. Cereb Cortex, 1998. 8(2): p. 97–107. 6 Edelman, G.M., Naturalizing consciousness: a theoretical framework. Proc Natl Acad Sci U S A, 2003. 100(9): p. 5520–4. 7 Gierer, A., Brain, mind and limitations of a scientific theory of human consciousness. Bioessays, 2008. 30(5): p. 499–505. 8 Schurz G. Das Problem der Induktion in: Karl Popper, Logik der Forschung. H. Keuth, Editor. 2013, Akademie Verlag: Berlin. P. 25–40.
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Daraus wird die Vorhersage abgeleitet, dass Patienten mit oder ohne Sprachstörungen unterschiedliche Aktivitäten in spezifischen Gehirnregionen aufweisen. In der Tat wurde mit Messungen der Gehirnaktivitäten durch funktionelle Magnetresonanztomographie beobachtet, dass Patienten mit Sprachstörungen im Vergleich mit solchen ohne Sprachstörungen eine reduzierte Gehirnaktivität im rechten Gyrus temporalis superior aufwiesen.9 Somit konnte dieses Experiment zumindest eine aus der Hypothese abgeleitete Vorhersage erfolgreich bestätigen. Das eben besprochene Beispiel ist typisch für eine Form von experimentellen Ansätzen, die auf korrelativen Betrachtungen beruhen. Diese werfen allerdings als Mittel für die Unterstützung von Hypothesen gelegentlich ernste Probleme auf. Eine wesentliche Schwäche einer korrelativen Betrachtung liegt darin, dass sie für die Aufklärung von Ursache-Wirkungsbeziehungen nicht aussagekräftig ist. Es bleibt also im Beispiel oben unklar, ob die Veränderung der Gehirnaktivität in den Probanden die Sprachstörungen verursacht, oder ob Sprachstörungen die veränderte Aktivität zur Folge haben. Dies ist ein wesentliches Problem, weil eine besonders wirksame Bestätigung einer Hypothese in der empirischen Forschung darauf beruht, dass wir die zu Grunde liegenden Mechanismen eines Phänomens präzise beschreiben können. Im ungünstigsten Fall kann eine rein korrelative Betrachtung sogar zu völlig abwegigen Ergebnissen führen. Es sei hier beispielhaft eine leicht ironisch diskutierte Publikation erwähnt, die eine hoch signifikante Korrelation zwischen Schokoladenkonsum und kognitiven Leistungen zum Gegenstand hatte.10,11 Die empirische Forschung nutzt daher ein erweitertes Instrumentarium, um sich der Stichhaltigkeit ihrer experimentellen Evidenzen zu versichern. Dazu gehört der Nachweis, dass ein beobachtetes Phänomen für einen postulierten Mechanismus notwendig und hinreichend ist. Dies dehnt die korrelative Betrachtung auf funktionelle Studien aus. Notwendig ist eine Struktur oder ein Mechanismus dann, wenn die Blockade bzw. Zerstörung der- oder desselbigen zu einem Funktionsverlust führt. Umgekehrt würde man durch die Stimulation eine Struktur oder eines Mechanismus das Auslösen von Funktionen erwarten, so dass gezeigt wäre, dass diese für den Funktionsgewinn hinreichend sind. Nun kann auch dies zu trivialen Ergebnissen führen. Zum Beispiel wäre der Erkenntnisgewinn zu Fragen des Bewusstseins gering, wenn wir das Gehirn als Ganzes zerstören und anschließend einen kompletten Funktionsverlust konstatieren würden. Der Nachweis von „notwendig“
9 Kircher, T.T., et al., Differential activation of temporal cortex during sentence completion in schizophrenic patients with and without formal thought disorder. Schizophr Res, 2001. 50(1–2): p. 27–40. 10 Messerli, F.H., Chocolate consumption, cognitive function, and Nobel laureates. N Engl J Med, 2012. 367(16): p. 1562–4. 11 Ortega, F.B., The intriguing association among chocolate consumption, country’s economy and Nobel Laureates. Clin Nutr, 2013. 32(5): p. 874–5.
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und „hinreichend“ ist also nur dann aussagekräftig, wenn die experimentelle Intervention möglichst geringfügig und hoch spezifisch für die gestellte Frage ist. Im günstigsten Falle bedeutet das, dass wir in einem reduktionistischen Ansatz ein Phänomen bis hinunter zur molekularen Ebene beschreiben. Am Beispiel der Frage nach den Ursachen von Sprachstörungen von Patienten mit Schizophrenie wäre demgemäß der experimentelle Ansatz so zu wählen, dass exakt die Areale, in denen ein Fehlen oder ein erhöhtes Auftreten von Aktivität beobachtet wird, stimuliert oder inhibiert werden. In der Folge sollte dann entweder ein Entstehen von Sprachstörungen bei Personen ohne Sprachstörungen oder ein Verhindern von Sprachstörungen bei Patienten mit Sprachstörungen beobachtet werden. Wie zuvor erwähnt, bedarf ein empirischer Ansatz messbarer Größen, die in einem Experiment geprüft werden können. Wenn wir also Aussagen über die neurobiologischen Grundlagen des Bewusstseins treffen wollen, ist es daher notwendig, auf der Basis einer allgemeinen Theorie Hypothesen zu entwickeln, die in Experimenten mit quantitativen Methoden überprüfbar sind. Ferner ist es obligat, die Kriterien „notwendig“ und hinreichend“ zu erfüllen und einen möglichst spezifischen Mechanismus zu beschreiben. Da aber weder das Verständnis des Gehirns als Gesamtsystem noch eine diesbezügliche Theorie verfügbar sind, können wir folgerichtig auch keine Aussagen über das Bewusstsein im Ganzen treffen. Trotzdem hat die empirische Forschung versucht, sich dem Phänomen Bewusstsein zu nähern. In der Folge soll also kritisch ausgelotet werden, wo die Grenzen unserer Erkenntnis zu Bewusstseinsvorgängen liegt und welche Aussagen wir noch treffen können. Um einen Ansatz zur Untersuchung des Bewusstseins zu finden, ist es zunächst notwendig, sich über die Natur des Bewusstseins klar zu werden. Ein früher formulierte Ansatz stammt von Peter Bieri, dass sich Bewusstsein in der Fähigkeit zu integriertem Verhalten, der Ausbildung kognitiver Fähigkeiten und dem Vermögen zu persönlichem Erleben manifestiert.12 Mit diesen Kerneigenschaften sind zahlreiche bewusstseinsassoziierte Prozesse verknüpft. Dazu gehören zum Beispiel Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Erinnerung und Lernen, Probleme lösen, Kreativität und Vorstellungskraft, Planen und Orientierung, Prozesse des Sozialverhaltens, Wille, Glaube und Emotionen. Es sind vor allem diese bewusstseinsassoziierten Prozesse, die vom Molekül, über die Synapsen, den beteiligten Neuronen, den Mikroschaltkreisen bis hin zum Verhalten mit integrativen, experimentellen Ansätzen untersucht worden sind. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass bewusstseinsassoziierte Prozesse eine Funktion der Neuronen des Gehirns sind. Dies manifestiert sich in genau spezifizierbaren Mechanismen, die für die
12 Bieri, P., Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel?, in Gehirn und Bewusstsein, W. Singer, Editor. 1994, Spektrum: Heidelberg. p. 172–180.
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bewusstseinsassoziierten Prozesse ursächlich sind. An Beispielen von Prozessen der Angst, Emotion, Entscheidung und Sozialverhalten und deren quantitativer Analyse soll dies auf den Ebenen der beteiligten Gehirnregionen, deren Verbindungen miteinander, den beteiligten Synapsen und Molekülen untermauert werden. Depression ist eine sehr häufige neuropsychiatrische Erkrankung. Zu den Symptomen gehören Anhädonie, Müdigkeit, auch Angst, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit, sowie kognitive Störungen. Bildgebende Verfahren haben dazu beigetragen, die dorsolateralen Bereiche des präfrontalen Cortex als einen Bereich zu definieren, der maßgeblich an der Kontrolle von Emotionen, insbesondere an der Kontrolle von Ablenkungen durch emotionale Stimuli beteiligt ist.13,14,15 Neuerdings werden Verfahren der transkraniellen Magnetstimulation (TMS) entwickelt und zur Therapie von Depressionen eingesetzt, die mit herkömmlichen Mitteln (Antidepressiva, Psychotherapie) nicht behandelbar sind. TMS wurde in einer Studie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Tübingen eingesetzt, um Mechanismen für kognitive Störungen und den Einfluss von Emotionen am Menschen zu untersuchen.16 Die Versuchspersonen saßen vor einem Computerbildschirm, der für zwei Sekunden eine Folge von sechs Buchstaben zeigte. Anschließend wurde dem Probanden ein Bild mit neutralem oder emotionalem Inhalt präsentiert. Danach sollte die Buchstabenfolge vom Probanden aufgezeichnet werden. Die Probanden wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine wurde einer TMS-Behandlung ausgesetzt, während die zweite als Kontrolle die Magnetspulen lediglich aufgesetzt bekamen, ohne dass ein Magnetfeld aufgebaut wurde. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Patienten mit Depressionen die Buchstabenfolge mit einer geringeren Präzision rekapitulierten, wenn sie einem emotionalen Bildstimulus ausgesetzt worden sind. Wenn nun der dorsolaterale, präfrontale Cortex mit TMS aktiviert wurde, verbesserten sich die kognitiven Leistungen der Patienten. Sie konnten die Buchstabenfolgen nach einem emotionalen Bild genauso akkurat wiedergeben, wie nach einem neutralen Bild. In einem weiteren Versuch wurden gesunde, nicht depressive Probanden herangezogen.17 Hier wurde die Polung des Magnetfeldes umgekehrt, so dass die exponierten Gehirnareale nicht mehr aktiviert, sondern inhibiert werden. Hier zeigte sich nun, dass
13 Ochsner, K.N. and J.J. Gross, The cognitive control of emotion. Trends Cogn Sci, 2005. 9(5): p. 242–9. 14 Erk, S., et al., Acute and sustained effects of cognitive emotion regulation in major depression. J Neurosci, 2010. 30(47): p. 15726–34. 15 Kanske, P., et al., How to regulate emotion? Neural networks for reappraisal and distraction. Cereb Cortex, 2011. 21(6): p. 1379–88. 16 Wolkenstein, L. and C. Plewnia, Amelioration of cognitive control in depression by transcranial direct current stimulation. Biol Psychiatry, 2013. 73(7): p. 646–51. 17 Wolkenstein, L., et al., Induction of a depression-like negativity bias by cathodal transcranial direct current stimulation. Cortex, 2014. 59: p. 103–12.
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die Inhibition des dorsolateralen, präfrontalen Cortex eine Verschlechterung des Kurzzeitgedächtnisses bewirkte, wenn der Proband einem Bild mit emotionalen Gehalt exponiert wurde. Zusammengefasst kann man also feststellen, dass die Aktivität des dorsolateralen, präfrontalen Cortex für das Kurzzeitgedächtnis notwendig ist, weil dessen Blockade die Gedächtnisleistung reduziert. Ferner ist die Aktivität dieser Gehirnregion für kognitive Leistungen hinreichend, denn die Stimulation dieser Region erhöht die Leistung des Kurzzeitgedächtnisses. Der beschriebene Ansatz zeigt eindrucksvoll, dass die Funktion einer spezifischen Gehirnregion für die Ausbildung eines bewusstseinsassoziierten Prozesses, des Kurzzeitgedächtnisses, verantwortlich ist. Allerdings ist die Magnetstimulation eines Gehirnareals nicht geeignet, einen Mechanismus des Bewusstseins bis zur synaptischen oder gar molekularen Ebene aufzuklären. Diese Form von Stimulation ist nicht hinreichend spezifisch, denn es wird ein vergleichsweise großes Areal mit zahlreichen Mikroschaltkreisen und Neuronen höchst unterschiedlicher Funktionalität adressiert. Um der Bedingung nach möglichst geringfügiger und spezifischer Intervention gerecht zu werden, sind experimentelle Ansätze erforderlich, die es erlauben, einzelne Gene in Nervenzellen an- oder abzuschalten, und die Konsequenz dieser Intervention für die neuronale Signalübertragung und letztlich für die Ausbildung bewusstseinsassoziierter Prozesse am lebenden Organismus zu untersuchen. Dies ist begreiflicherweise am Menschen aus ethischen Gründen nicht durchführbar. Hingegen sind solche Methoden im Tierversuch anwendbar. Zahlreiche Prozesse des zentralen Nervensystems sind zwischen Mensch und Tier in der Evolution konserviert und sichern damit die Übertragbarkeit der Ergebnisse des Tierversuchs auf den Menschen. Zum Beispiel sind es bei Menschen und Nagetieren die gleichen Gehirnregionen, die für die Entstehung und Steuerung von Furcht verantwortlich sind.18,19 Dazu gehören unter anderem der präfrontale Cortex, die Amygdala und der Hippocampus, die in einem Wechselspiel miteinander die unterschiedlichen Komponenten des Furchtverhaltens steuern.20 Corticale Strukturen sind für die übergeordnete Kontrolle des Verhaltens zuständig, der Hippokampus verarbeitet Informationen zu Kontext und Raum, während die Amygdala zur Integration von Stimuli mit negativen, emotionalen Gehalt beiträgt. Im folgenden Beispiel wird ein Experiment vorgestellt, das bewusstseinsassoziierte Prozesse vom Verhalten bis zur synaptischen und molekularen Ebene beschreibt. Im Zentrum steht das Molekül Neurofascin, ein Membranrezeptor, der in den
18 Janak, P.H. and K.M. Tye, From circuits to behaviour in the amygdala. Nature, 2015. 517(7534): p. 284–92. 19 Flores, A., et al., Lost in translation: how to upgrade fear memory research. Mol Psychiatry, 2018. 23(11): p. 2122–2132. 20 Mahan, A.L. and K.J. Ressler, Fear conditioning, synaptic plasticity and the amygdala: implications for posttraumatic stress disorder. Trends Neurosci, 2012. 35(1): p. 24–35.
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Prinzipalneuronen im Hippokampus gebildet wird und für die Stabilisierung der Synapsen von genau einer Klasse von Interneuronen an Prinzipalneuronen verantwortlich ist.21 Es handelt sich dabei um die so genannten Kandelaberzellen, die inhibitorische Synapsen ausschließlich am Axoninitialsegment von Prinzipalneuronen ausbilden. Diese Synapsen kontrollieren die Initiation von Aktionspotentialen, also die Fähigkeit eines Prinzipalneurons, Informationen an andere Neuronen in benachbarten Regionen weiterzugeben. Mit Hilfe von gentechnisch veränderten Viren kombiniert mit der Technik der RNS-Interferenz ist es möglich, die Anzahl von Neurofascinmolekülen in Prinzipalneuronen zu reduzieren. Dadurch werden Synapsen ausschließlich am Axoninitialsegment destabiliert. Synapsen von anderen Interneuronen, die an Dendriten oder dem Zellkörper zu finden sind, bleiben unbeeinflusst. Damit ist es möglich, auf hoch spezifische Weise exakt einen Typ von Synapsen zu beeinflussen, ohne die Integrität weiterer Interneuronsynapsen am gleichen Prinzipalneuron zu beeinträchtigen. Synaptische Verbindungen zwischen Kandelaberzellen und Prinzipalneuronen sind in zahlreichen Bereichen des Gehirns zu finden. Es ist daher wünschenswert, nur eine kleine Region zu adressieren, um für die Intervention einen höheren Grad an Spezifität zu erreichen. Ein großer Vorteil der verwendeten Viren liegt darin, dass eng umgrenzte Bereiche des Gehirns beeinflusst werden können. In der Regel bleibt die Manipulation mit solchen Viren auf einen kleinen Bereich von etwa 2 mm Durchmesser begrenzt. Es ist also nicht nur möglich, eine ganz kleine und spezifische Population von Synapsen zu beeinflussen, sondern darüber hinaus die Intervention auf ein genau definiertes Areal im Gehirn zu beschränken. Zusammengefasst erreichen wir in diesem Experiment ein Höchstmaß an Spezifität, indem bewusstseinsassoziierte Prozesse in genau einem Gehirnareal, an definierten Unterklassen von Synapsen und im Kontext der Funktion genau eines Moleküls untersucht werden können. Was sind nun die Folgen einer derartigen Manipulation für die Ausprägung von Furcht oder Angst? Für das Furchtverhalten spielen verschiedene Bereiche des Gehirns zusammen, wobei unterschiedliche Bereiche, wie oben dargelegt, unterschiedliche Funktionen für die Ausprägung von Furcht haben. Die räumlich eingeschränkte Manipulation mit Hilfe des viralen Ansatzes erlaubt es nun, diese Regionen getrennt zu manipulieren. In einem ersten Experiment wurden die Viren in den Hippokampus von Ratten verabreicht und die Tiere einem Verhaltenstest unterzogen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Tiere nach einer Reduktion der Neurofascinmoleküle in Gegenwart von Stress einen erhöhten Grad an Ängstlichkeit aufwiesen.22 Wir können hier also feststellen, dass genau eine Gehirnregion, darin 21 Kriebel, M., et al., The cell adhesion molecule neurofascin stabilizes axo-axonic GABAergic terminals at the axon initial segment. J Biol Chem, 2011. 286(27): p. 24385–93. 22 Zitman, F.M.P., et al., Dentate Gyrus Local Circuit is Implicated in Learning Under Stress–a Role for Neurofascin. Mol Neurobiol, 2016. 53(2): p. 842–850.
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genau spezifizierte Synapsen, die von genau einem Gen kontrolliert werden, an einem bewusstseinsassoziierten Prozess beteiligt sind, nämlich der Ängstlichkeit als eine Eigenschaft des emotionalen Erlebens. Dieser virale Ansatz wurde nun für die Modulation von Synapsen in einer weiteren Gehirnregion angewendet, um zu prüfen, ob sich diese in Hinblick für die Kontrolle des Angstverhaltens funktionell unterscheidet. Es zeigte sich nach viraler Intervention in der Amygdala, dass die Tiere im Vergleich zu unbeeinflussten Kontrolltieren zunächst keine Unterschiede in der Entstehung von Angstverhalten zeigten. Damit wird klar, dass verschiedene Gehirnregionen unterschiedliche Aufgaben in der Steuerung bewusstseinsassoziierter Prozesse übernehmen. Hingegen wiesen die Tiere nun einen Defekt in der Stressverarbeitung auf.23 Die Tiere werden in einer bestimmten Umgebung, hier einer kleinen Kammer, einem unangenehmen Ereignis, beispielsweise einem leichten elektrischen Schlag ausgesetzt. Das Tier lernt, dieses unangenehme Ereignis mit dem Aufenthalt in dieser Kammer zu verknüpfen. Wenn das Tier in diese Kammer gesetzt wird, reagiert es daher in Erwartung eines elektrischen Schlags mit Furcht, die sich in Immobilität äußert. Durch Konditionierung entwickelt das Tier also ein Furchtgedächtnis. Nun kann man die Frage stellen, ob das Tier diese Furcht überwindet, wenn es dieser Umgebung mehrere Male ausgesetzt wird, ohne dass elektrische Schläge verabreicht werden. Das Tier lernt aus dieser Erfahrung, dass die Umgebung nun doch sicher ist, es verliert seine Furcht und reagiert mit einer Abnahme der Immobilität. Dieser Prozess der Furchtextinktion wird im Zusammenspiel der Amygdala mit dem präfrontalen Cortex gesteuert. Wenn nun die Tiere über weniger Synapsen von Kandelaberzellen in der Amygdala verfügen, dann wird die Furchtextinktion gestört und die Schreckhaftigkeit der Tiere bleibt erhalten. Aus dem Experiment wird also klar, dass die übergeordnete Kontrolle des Furchtverhaltens, gesteuert vom präfrontalen Cortex, nach einem Verlust spezifischer Synapsen in der Amygdala verloren geht. Wir sehen hier also einen weiteren, hoch spezifischen Mechanismus, wie eine Gehirnregion die Ausprägung bewusstseinsassoziierter Prozesse reguliert. Aus unserer persönlichen Erfahrung sind wir geneigt, Entscheidungsprozesse als einen wichtigen Bestandteil unseres Bewusstseins wahrzunehmen. Insbesondere die Flexibilität unseres Verhaltens und die gezielte Reaktion auf veränderte Situationen sind ein wesentliches Merkmal integrativen Verhaltens. Auch diese werden im Wesentlichen durch Funktionen des präfrontalen Cortex gesteuert. Dies wurde in einem weiteren Experiment mit Ratten untersucht, in denen durch eine virale Intervention in der Amygdala, wie oben beschrieben, die Synapsen von Kandelaberzellen
23 Saha, R., et al., GABAergic Synapses at the Axon Initial Segment of Basolateral Amygdala Projection Neurons Modulate Fear Extinction. Neuropsychopharmacology, 2017. 42(2): p. 473–484.
Neuronale Grundlagen bewusstseinsassoziierter Prozesse
destabilisiert wurden.24 Anschließend wurden Entscheidungsprozesse im Sinne der Fähigkeit zu flexiblem Verhalten überprüft. Ratten, die ausgezeichnete Schwimmer sind, werden in ein großes Bassin verbracht, in welchem unter der Oberfläche trüben Wassers eine kleine Plattform verborgen ist. Zunächst schwimmen sie kreuz und quer, bis sie die Plattform gefunden haben, um sich dann darauf zu setzen. Sehr schnell lernen die Ratten an Hand räumlicher Zuordnungen, wo sich diese Plattform befindet, und schwimmen dann in späteren Versuchen in direkter Linie zu dieser Plattform hin. Dann wird die Plattform an eine neue Position verschoben und beobachtet, wie flexibel die Ratte darauf reagiert, also wie lange verharrt sie auf der Suche nach der Plattform im Areal der vorherigen Position. Ratten, die über weniger Synapsen von Kandelaberzellen in der Amygdala verfügten, benötigten sehr viel mehr Versuche, sich neu zu orientieren, wenn die Plattform umgesetzt worden ist. Diese Ratten handeln also weniger flexibel, sie sind in ihrer Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und sich auf neue Situationen einzustellen, beeinträchtigt.25 Zusammengefasst weisen die Experimente darauf hin, dass die Synapsen von Kandelaberzellen für die Steuerung unterschiedlicher Aspekte des Furchtverhaltens und der kognitiven Flexibilität in verschiedenen Gehirnregionen notwendig sind. Es ist also eindeutig, dass die Funktionalität der Synapsen der Neuronen im Gehirn an der Ausprägung bewusstseinsassoziierter Prozesse maßgeblich beteiligt ist. Ein weiterer bewusstseinsassoziierter Prozess ist das Risikoverhalten. Menschen sind auf höchst unterschiedliche Weise bereit, in ihrem Leben Risiken einzugehen. Dabei können wir durchaus zwischen risikobereiten Menschen und solchen mit einem Bedürfnis nach erhöhter Sicherheit unterscheiden. Das Risikoverhalten kann sich mit Erfahrungen in risikobehafteten Situationen verändern. Zum Beispiel sind wir geneigt, vorübergehend höhere Risiken einzugehen, wenn wir mit einer riskanten Entscheidung zufällig erfolgreich gewesen sind. Dies lässt sich in einem Versuch mit Ratten sehr überzeugend reproduzieren. Der Versuchsaufbau sieht vor, dass Ratten die Wahl zur Betätigung eines zweier Hebel haben. Diese sind mit der Ausgabe von Zuckerlösung verbunden. Der Hebel 1 bewirkt die Ausgabe einer definierten Menge Zuckerlösung, dies aber jedes Mal, wenn die Ratte diesen Hebel betätigt. Der Hebel 2 stellt in 75% aller Fälle ein Fünftel der Menge von Hebel 1 zur Verfügung, in 25% der Fälle aber das Dreifache. Wir haben also eine risikoarme Variante mit Hebel 1 und eine riskante mit Hebel 2. Den Ratten stehen beliebig viele Durchgänge zur Verfügung, bei denen sie sich immer wieder neu zwischen Hebel 1 und 2 entscheiden können. Menschliche Verhaltensweisen stellen sich in ähnlicher Weise auch bei Ratten dar. Es lassen sich ebenfalls risikobereite und 24 Saha, R., et al., Perturbation of GABAergic Synapses at the Axon Initial Segment of Basolateral Amygdala Induces Trans-regional Metaplasticity at the Medial Prefrontal Cortex. Cereb Cortex, 2018. 28(1): p. 395–410. 25 Ebd.
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risikoscheue Individuen differenzieren und die Neigung zu riskanten Entscheidungen steigt mit deren zufälligen Erfolg. An der Ausprägung des Risikoverhaltens ist eine kleine Gehirnregion im ventralen Bereich des Striatums beteiligt, dem Nucleus accumbens. Hier sind Neuronen lokalisiert, die auf den Neurotransmitter Dopamin reagieren. Sie steuern die Erwartung von Belohnungen, sind also für riskante Entscheidungen entscheidend. In einem Tierexperiment ist es nun möglich, genau diese dopaminergen Neuronen in dem eingeschränkten Bereich des Nucleus accumbens mit Methoden der Optogenetik spezifisch zu stimulieren und diese Neuronen zu vermehrter, elektrischer Aktivität zu zwingen.26 Die Experimente haben ergeben, dass sich das Verhalten risikoscheuer Tiere wenig veränderte. Die risikobereiten Tiere hingegen wiesen eine starke Änderung hin zu einem risikovermeidenden Verhalten auf. Das bedeutet, dass die Stimulation von Neuronen des Nucleus accumbens hinreichend ist, um die Risikobereitschaft zu verändern. Es ist also eine ganz spezifische und genau definierte Population von Neuronen, die unser Risikoverhalten steuert. Die Manipulation dieser Neuronen ist hinreichend, um die Risikobereitschaft eines Individuums zu reduzieren und damit Verhalten zu beeinflussen, das auf der Abwägung zwischen risikoreichen und risikoarmen Varianten beruht. Wiederum dokumentiert dieses Experiment, dass bewusstseinsassoziierte Prozesse von Neuronen und deren Synapsen gesteuert werden. Das Sozialverhalten ist ein weiterer bewusstseinsassoziierter Prozess von höchster Komplexität. Denn hier geht es nicht nur um die Betrachtung des Verhaltens isolierter Individuen, sondern um die vielfachen Wechselwirkungen zwischen Individuen. Also spielen hier Mechanismen in das Verhalten hinein, die ein Individuum von außen beeinflussen. Es ist nicht einfach, Sozialverhalten in einem adäquaten Modell an Tieren zu studieren und eine Brücke zum menschlichen Verhalten zu schlagen. Dies ist eine Domäne der translationalen Forschung, die den Versuch unternimmt, menschliche Erkrankungen in einem Tiermodell abzubilden. Das Tiermodell wird eingesetzt, um neue Wirkstoffe zur Behandlung von Patienten zu entwickeln. Die Validität eines Tiermodells hängt davon ab, dass es die Symptome und Krankheitsmechanismen abbildet, sowie die Wirkung eines Medikaments sicher vorhersagt. Im Tier werden durch gezielte, genetische Manipulation Mutationen in die entsprechenden Gene eingeführt, die beim Menschen für die Pathogenese ursächlich sind. Die Reproduktion eines menschlichen Gendefekts im Tier ermöglicht dann die Überprüfung von Krankheitsmechanismen im Tierexperiment. Solche Tiermodelle werden auch in der Forschung an neuropsychiatrischen Erkrankungen, insbesondere für die Untersuchung unterschiedlicher Formen von
26 Zalocusky, K.A., et al., Nucleus accumbens D2R cells signal prior outcomes and control risky decisionmaking. Nature, 2016. 531(7596): p. 642–6.
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Autismus eingesetzt. Ein wesentliches Merkmal von Autismus ist ein gestörtes Sozialverhalten. Weitere Symptome von Autismus sind eingeschränktes Interesse, stereotype Verhaltensweisen, kognitive Störungen oder Angst. Es handelt sich um eine höchst heterogene Erkrankung, die durch eine Vielfalt unterschiedlicher Ursachen hervorgerufen werden kann. Darunter sind jedoch einige Formen, die durch Mutation einzelner Gene hervorgerufen werden. Im Zentrum der Forschung stehen dabei Gene, die an dem Aufbau und der Funktion von Synapsen beteiligt sind. Man spricht hier inzwischen von Autismus als einer Synaptopathie, also einer Erkrankung, die durch fehlerhafte, synaptische Übertragung gekennzeichnet ist. Eines der betroffenen Gene ist Neuroligin-3, ein synaptischer Membranrezeptor, der den Kontakt zwischen prä- und postsynaptischen Membranen reguliert.27 Der Austausch eines einzigen Nukleotids im betreffenden Gen führt zu einem Austausch einer Aminosäure an Position 451 des dazugehörigen Proteins. Es steht hier nun ein Cystein- anstelle eines Argininrests. Auch Nagetiere verfügen über ein Gen für Neuroligin-3. Es wurden daher mittels eines genetischen Eingriffs Mäuse hergestellt, die exakt die gleiche Mutation aufweisen.28 Wie kann man aber nun Sozialverhalten von Mäusen untersuchen? Mäuse haben ein ganz ausgeprägtes Sozialverhalten, das sich in der Aufnahme körperlichen Kontakts äußert. Der Versuchsaufbau sieht kleine Käfige vor, in denen einzelne Mäuse eingesperrt sind.29 Eine Testmaus hat freien Zugang zu diesen Käfigen. In den Käfigen sitzen Mäuse, die entweder der Testmaus aus früheren Kontakten bekannt sind, oder Mäuse, zu denen sie bisher keinen Kontakt hatte. Die Testmaus kann nun zwischen Bekannten und Unbekannten wählen und durch Annäherung zum Käfig und Beschnuppern Kontakt aufnehmen. In der Tat verhält es sich so, dass eine Maus, die eine Mutation in dem Autismusgen trägt, im Vergleich zur einer normalen Maus eine geringere Affinität zur fremden Maus aufzeigt.30 Somit spiegelt sich also die menschliche Erkrankung in einem gestörten Sozialverhalten in dem Mausmodell für Autismus wider. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Vorhandensein eines intakten Neuroligin-3 in den Synapsen des Gehirns notwendig ist, um ein intaktes Sozialverhalten zu gewährleisten. Auch in diesem experimentellen Ansatz wurden wiederum optogenetische Methoden eingesetzt, um ein eng umgrenztes Gehirnareal zu stimulieren. Es handelt sich hier um den präfrontalen Cortex, in dem eine spezifische Unterklasse von Parvalbuminpositiven Interneuronen stimuliert wurde. In dieser Unterklasse werden die Korb-
27 Jamain, S., et al., Mutations of the X-linked genes encoding neuroligins NLGN3 and NLGN4 are associated with autism. Nat Genet, 2003. 34(1): p. 27–9. 28 Cao, W., et al., Gamma Oscillation Dysfunction in mPFC Leads to Social Deficits in Neuroligin 3 R451C Knockin Mice. Neuron, 2018. 97(6): p. 1253–1260 e7. 29 Moy, S.S., et al., Sociability and preference for social novelty in five inbred strains: an approach to assess autistic-like behavior in mice. Genes Brain Behav, 2004. 3(5): p. 287–302. 30 siehe Anm. 28.
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und Kandelaberzellen gemeinsam subsummiert. Während die Kandelaberzellen das Axoninitialsegment innervieren, bilden Korbzellen auf dem Zellkörper oder den proximalen Dendriten inhibitorische Synapsen. In Mäusen, die als Modell für den menschlichen Autismus dienen und eine Mutation im Neuroligin-3 enthalten, wurden daraufhin die Parvalbumin-positiven Interneuronen stimuliert und das Sozialverhalten beobachtet. Die Aktivierung dieser Neuronen war hinreichend, um das Sozialverhalten dieser Mäuse zu verbessern. Wir können also feststellen, dass das Gen Neuroligin-3 für das Sozialverhalten notwendig und die Aktivierung neuronaler Funktionalität im präfrontalen Cortex für die Kompensation dieses Defekts hinreichend ist. Somit ist das Sozialverhalten eng mit der Funktionalität des präfrontalen Cortex verknüpft. Insgesamt ergibt sich aus den genannten Beispielen ein Bild, dass das Gehirn an der Erzeugung bewusstseinsassoziierter Prozesse beteiligt ist. Dies wurde auf den Ebenen der Beziehungen zwischen den Gehirnregionen, den Eigenschaften der Mikroschaltkreise, der Funktion einzelner Neuronenklassen, der Funktion von Synapsen und Molekülen nachgewiesen. Die Experimente zeigen, dass die Funktion des Gehirns notwendig und hinreichend ist, um bewusstseinsassoziierte Prozesse wie zum Beispiel Gedächtnis, Risikobereitschaft, Emotionen/Angst, Sozialverhalten und Entscheidungsprozesse hervorzurufen. Krankheiten wie Depression oder Autismus lassen sich auf defiziente Aktivität oder dysfunktionale synaptische Übertragung spezifischer Neuronen zurückführen. Daraus darf man schließen, dass bewusstseinsassoziierte Prozesse aus einem komplexen Wechselspiel zwischen den verschiedenen Regionen des Gehirns entstehen. Wenn wir also das Bewusstsein als das Ergebnis oder Summe bewusstseinsassoziierter Prozesse verstehen, können wir aus der experimentellen Evidenz ableiten, dass das Gehirn in seiner stofflichen Natur Ursprung und Zentrum bewussten Handelns ist. Fraglich ist nun, ob wir damit nun Bewusstsein insgesamt hinreichend beschrieben haben, das sich aus der Fähigkeit zu integriertem Verhalten, der Ausbildung kognitiver Fähigkeiten und dem Vermögen zu persönlichem Erleben zusammensetzt. Die Betrachtung der genannten, experimentellen Beispiele lässt sehr stark vermuten, dass integriertes Verhalten und Kognition teilweise erklärt und insgesamt erklärbar sind. Auch ist Angst als ein Beispiel für persönliches, emotionales Erleben in der Funktionalität des Gehirns verankert. Trotzdem bleiben viele Fragen offen. Wie kommt es beispielsweise, dass wir uns als Individuum erleben? Was steckt dahinter, wenn wir Licht einer Wellenlänge von 700 nm als rote Farbe wahrnehmen? Eine Aussage darüber bleibt damit vorerst Spekulation.
Thomas Fuchs
Person und Gehirn Zur Kritik des Zerebrozentrismus
Einleitung Finden wir das, was eine Person ausmacht, in ihrem Gehirn? Zeigen sich ihre Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Wünsche in den farbigen Abbildungen von Hirnprozessen? Sind die Liebe, das Glück oder die Schuld, die ein Mensch empfindet, letztlich neuronale Zustände? – Viele werden diese Fragen heute ohne Zögern bejahen. Unter dem Eindruck der Fortschritte der Neurowissenschaften und mit Unterstützung der materialistischen Neurophilosophie schreitet die Identifizierung von Person und Gehirn voran. Der Blick in den Schädel wird damit vermeintlich zum Blick in das Innerste der Person, in ihre Wünsche und Ängste, ihr Glück und ihr Leiden. Das Gehirn erscheint als neues Subjekt, als Denker unseres Denkens, Täter unseres Tuns, ja als Schöpfer der erlebten Welt: „‚Sie’, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für die eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. Lewis Carrolls Alice aus dem Wunderland hätte es vielleicht so gesagt: ‚Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neurone’“ (Crick 1994, 17). „Letztlich ist subjektives Erleben ein biologisches Datenformat […], eine hochspezifische Weise der Präsentation von Information über die Welt, bei der diese so erscheint, als wäre sie das Wissen eines Ego. In Wirklichkeit aber existiert so etwas wie ‚das Selbst‘ nicht“ (Metzinger 2009, 23).
Beliebt zur Illustration dieser Sichtweise ist auch das von Hilary Putnam (1981) in die Gehirn-Geist-Debatte eingeführte Gedankenexperiment vom „Gehirn im Tank“ (brain in a vat): Selbst wenn wir nur geeignet stimulierte Gehirne in einer Nährlösung wären, so Putnam, würden wir davon doch gar nichts bemerken. Das Gehirn würde eine Welt halluzinieren, die der erlebten Welt vollkommen gliche – eine perfekte Illusion wie die computererzeugte Welt der Matrix im gleichnamigen Film. Auch Metzinger hält die gewöhnliche visuelle Wahrnehmung für eine Art online-Halluzination, einen vom Gehirn erzeugten Technicolor-Film: „Im Prinzip könnten wir dieses Erlebnis also auch ohne Augen haben, und wir könnten es sogar als entkörpertes Gehirn in einer Nährlösung haben“ (ebd., 40).
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Zum gleichen Ergebnis scheint auch das Gedankenexperiment einer GehirnTransplantation zu führen. Würde das Gehirn einer Person A in den Körper der Person B transplantiert, dann erhielte nicht etwa B ein neues Gehirn, sondern A einen neuen Körper – wo das Gehirn ist, da muss auch die Person sein. „Diese einfache Tatsache,“ so der Neurowissenschaftler Gazzaniga, „macht klar, dass Sie Ihr Gehirn sind. Die Neuronen, die in seinem gewaltigen Netzwerk verbunden sind […] – das sind Sie.“1 Das ist zwar alles andere als eine Tatsache. Doch scheint das Gehirn der einzige Teil des Körpers zu sein, den wir haben müssen, um wir selbst zu sein; der Rest ist austauschbar. Personen sind zerebrale Subjekte, und Bilder des Gehirns die modernen Ikonen der Person. Noch eine weitere Entwicklung trägt zur Identifizierung von Person und Gehirn bei, nämlich die rationalistische Konzeption personaler Identität, die auf John Locke (1694) zurückgeht. Danach basiert diese Identität einzig auf der bewussten Erinnerung und dem Selbstbewusstsein, nicht auf der körperlichen Existenz.2 Ich bleibe solange ich selbst, als ich mich an meine früheren Zustände erinnern und sie mir zuschreiben kann; anderenfalls wird meine Identität zunichte. Diese Psychologisierung der Person bedeutete eine radikale Abkehr von der aristotelischen Position, der zufolge Personen grundsätzlich lebendige, in einem physischen Leib verkörperte Wesen waren. Da nun das Gehirn zunehmend als Sitz von Gedächtnis und Bewusstsein galt, leistete Lockes Umdeutung auch der Gleichsetzung von Person und Gehirn Vorschub (Vidal 2011). All diesen dargestellten Auffassungen von Personalität ist eines gemeinsam: Sie beruhen auf der letztlich dualistischen Voraussetzung, es gebe nur Bewusstsein und Gehirn, Mentales und Physisches. Das Lebewesen, der lebendige Organismus als zugrundeliegende Einheit taucht hingegen nicht mehr auf. Bewusste Tätigkeiten werden nicht als Funktionen eines Organismus angesehen, sondern kurzerhand mit Gehirnprozessen gleichgesetzt. Der Körper bleibt in dieser Sicht ein bloßer Trägerapparat für das Gehirn, in dem die unkörperliche Innenwelt des Bewusstseins und damit auch die Person entsteht. Dieser neuroreduktionistische Personbegriff soll im Folgenden einer Kritik unterzogen werden. Die Gegenthese, die ich anschließend
1 „This simple fact makes it clear that you are your brain. The neurons interconnecting in its vast network, discharging in certain patterns modulated by certain chemicals, controlled by thousands of feedback networks – that is you. And in order to be you, all of those systems have to work properly“ (Gazzaniga 2005, 31). 2 Locke definiert in seinem Essay Concerning Human Understanding (1694) die Person als „a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self, the same thinking thing, in different times and places“ (Locke 1694/1979, § 9, 335). Personale Identität besteht folglich in der Kontinuität von Gedächtnis und Selbstbewusstsein: „… and as far as this consciousness can be extended backwards to any past action or thought, so far reaches the identity of that person“ (ebd.).
Person und Gehirn
ausführen werde, lautet: Das Gehirn ist nur ein Organ der Person, nicht ihr Sitz, oder mit anderen Worten: Personalität bedeutet verkörperte Subjektivität.
1.
Kritik des zerebralen Subjekts
Subjektivität und Intentionalität Beginnen wir mit Leibniz’ bekanntem Vergleich aus der „Monadologie“: „Denkt man sich eine Maschine, deren Einrichtung so beschaffen wäre, dass sie denken, empfinden und wahrnehmen könnte, so kann man sie sich derart proportional vergrößert denken, dass man in sie wie in eine Mühle eintreten könnte. Bei der Besichtigung ihres Inneren wird man dann aber nichts weiter finden als einzelne Teile, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus eine Wahrnehmung zu erklären wäre“ (Leibniz, 1714/ 1982, 33).
Das gilt heute unverändert: Wer das Gehirn eines Menschen untersucht, findet Nervenzellen und elektrochemische Prozesse, aber niemals seine Angst oder seinen Schmerz, seine Empfindungen oder Gedanken. Denn weder Neuronen noch Hirnzentren noch Gehirne als ganze sind Subjekte eines Erlebens. Die visuelle Hirnrinde ist zweifellos für das Sehen erforderlich, aber sie selbst sieht rein gar nichts, denn Sehen, Wahrnehmen, Empfinden sind Tätigkeiten von Lebewesen. Hunde, Katzen und Menschen sehen etwas, nicht ihre Gehirne. Wer das Sehen in einem Lebewesen sucht, der hat es bereits durch zu genaues Hinsehen verloren. Wenn Hirnforscher also behaupten, Bewusstsein sei doch zweifellos im Gehirn lokalisiert, so unterliegen sie einem Kategorienfehler. Menschen sind bewusst, nicht Gehirne. Dass wir „Bewusstsein“ nicht sehen können, sondern nur bewusste Menschen, bedeutet nicht, dass deren Erleben an einem verborgenen Ort in ihrem Inneren zu finden wäre. Bewusstsein ist überhaupt kein lokalisierbarer Gegenstand, auf den man zeigen könnte wie auf einen Stein oder Apfel, sondern eine Beziehung von Subjekt und Welt. Es ist ein Wahrnehmen-von ..., Sprechen-mit ..., Sich-Erinnern-an ..., Wünschen-von ..., das heißt, ein gerichteter Prozess, der eine Welt eröffnet. Diese intentionale Beziehung von Subjekt und Welt lässt sich nicht verdinglichen oder im Schädel einsperren. „Wo ist dann das Bewusstsein, das Wahrnehmen, das Denken?“ – die Frage ist, wie Leibniz’ Vergleich bereits gezeigt hat, falsch gestellt. Ein zweiter Einwand: Ist subjektives Erleben überhaupt objektivierbar? Lässt es sich in objektiven, z. B. neurobiologischen Termini beschreiben? – Thomas Nagel hat gezeigt, dass jede subjektive Erfahrung an eine zentrierte Perspektive gebunden
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ist, die sich in einer objektiven, physikalischen Beschreibung nicht rekonstruieren lässt (Nagel 1974). Wie fühlt es sich an, diese Schmerzen zu haben, diese Angst zu erleben? Lässt sich der Sachverhalt, dass ich gerade Schmerzen empfinde, auch als ein bestimmtes neuronales Aktivitätsmuster in meinem Gehirn beschreiben? Nein, denn schon die Umformulierung „Thomas Fuchs hat jetzt Schmerzen“ bringt die Tatsache, dass es mein Schmerz ist, und dass ich es bin, der unter ihm leidet, nicht mehr zum Ausdruck.3 Selbst wenn diese Aussage aus der 3.-Person-Perspektive in allen Fällen zuverlässig zuträfe (etwa auf der Grundlage gleichzeitiger Beobachtung meiner Gehirnvorgänge), es fehlte ihr das entscheidende Merkmal der Subjektivität, nämlich dass ich selbst eben jener T. F. bin, auf den sich die Aussage bezieht. Erst recht gälte dies für eine exakte Beschreibung aller physikalischen Prozesse in meinem Gehirn – nirgends wäre darin die Meinhaftigkeit, das „Schmerzhafte des Schmerzes“ wiederzufinden. Zwischen beiden Aussageweisen liegt ein ontologischer Sprung: Die Wirklichkeit meines Schmerzes ist von grundsätzlich anderer Art als die Wirklichkeit objektiver physiologischer Tatsachen – und in gewissem Sinn ist sie sogar „wirklicher“ als diese.4 Leiblichkeit Die bisher genannten Einwände gegen den Physikalismus beruhten auf der irreduziblen Intentionalität und Subjektivität personalen Bewusstseins. Doch damit ist die Reichweite des Personbegriffs noch nicht erschöpft. Dass personale Lebensvollzüge nicht mit Hirnprozessen identifiziert werden können, zeigt sich erst recht, wenn wir über das reine Bewusstsein hinaus die lebendige Realität der Person ins Auge fassen. Sie ist offensichtlich an ihre Leiblichkeit oder Verkörperung gebunden, freilich nicht nur in dem Sinn, dass Bewusstsein einen funktionsfähigen Körper voraussetzt, sondern dass eine Person sich in ihrem Leib realisiert und darstellt, ja dass wir sie in jeder Begegnung mit ihrer leiblichen Erscheinung geradezu identifizieren. Die meisten unserer Tätigkeiten sind an das Medium des Leibes gebunden. Um tasten, hören, sehen oder sprechen zu können, bedarf es offensichtlich nicht nur eines Gehirns, sondern auch eines tastenden, hörenden, sehenden, sprechenden Leibes. Dabei ist es nicht etwa so, dass wir den Leib dabei wie ein bloß äußerliches
3 Dies hat Hermann Schmitz ausführlich gezeigt, dessen grundlegender Analyse subjektiver Tatsachen bzw. Sachverhalte ich hier folge: „Ein Sachverhalt […] ist subjektiv, wenn höchstens einer, und zwar nur im eigenen Namen, ihn aussagen kann, während die Anderen zwar mit eindeutiger Kennzeichnung darüber sprechen, aber nie und nimmer das Gemeinte aussagen können“ (Schmitz 1995, 6). 4 „Subjektive Tatsachen sind sozusagen in höherem Maß als objektive Tatsachen tatsächlich; sie haben die Lebendigkeit des blutvoll und dringlich Wirklichen, während die bloß objektive, allein durch objektive Tatsachen konstituierte Welt so etwas wie ein Präparat ist, abgeblasst und zurechtgemacht für Erzählungen in der dritten grammatischen Person …“ (Schmitz 1995, 7).
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Instrument gebrauchen. Einen Walzer tanzend, setze ich nicht meinen Gliederapparat von außen her in Bewegung, sondern ich selbst bin es, der tanzt, indem ich in den Rhythmus der Musik einschwinge und meine Bewegungen kinästhetisch vollziehe. Einem geübten Tänzer, einem Schauspieler oder Pianisten wird es daher kaum einfallen, sich mit seinem Kopf oder Gehirn zu identifizieren. Mein Leib verfügt selbst über eine eigene, „operative Intentionalität“ (Merleau-Ponty 1966), seine Bewegungen sind sinnvoll, zielgerichtet und der Umwelt angepasst, ohne dass ich sie gleichsam von außen steuern müsste. Freilich sind dafür auch erworbene neuronale Bereitschaften erforderlich, nämlich Muster von Bewegungssequenzen im motorischen Kortex, im Kleinhirn und in den Basalganglien. Doch auch diese „steuern“ oder „determinieren“ meine Glieder nicht, als wären sie bloße Ausführungsorgane. Vielmehr sind die neuronalen Funktionen ihrerseits eingebettet in den ständigen Interaktionskreis von (1) körperlicher Eigenbewegung, (2) Rückwirkung und Widerstand der Umwelt und (3) kinästhetischer, taktiler und visueller Wahrnehmung. Der Körper mit seinen Sensoren und Effektoren ist der eigentliche „Spieler im Feld“, während das Gehirn eher als ein Mediator fungiert, der diese rückgekoppelten Interaktionen vermittelt und fortlaufend modifiziert (Fuchs 2011). Ich tanze und bewege mich als lebendiges, leibliches Wesen, vermittels meines Gehirns – aber ich setze nicht meine Glieder vom Gehirn aus in Gang. Meine Leiblichkeit prägt daher auch grundlegend meine persönliche Weise, in der Welt zu sein. Mich als dieser Leib vorzufinden, diese Gestalt und Konstitution zu haben, Kind oder Erwachsener, Mann oder Frau, klein oder groß, gesund oder behindert zu sein, ist der Ausgangspunkt aller Selbst- und Welterfahrung. Ebenso schlägt sich die individuelle Entwicklung nicht nur in einer „psychischen“ Charakter- oder Persönlichkeitsstruktur nieder. Der Leib ist vielmehr auch Träger und Ausdruck der individuellen Biographie; er hat seine eigene, im Leibgedächtnis niedergelegte Geschichte. Von Geburt an sedimentieren sich die Erfahrungen, die das Kind mit Menschen und Dingen macht, als Verhaltensentwürfe, Fähigkeiten und Gewohnheiten in seinem impliziten, leiblichen Gedächtnis (Fuchs 2008, 37ff.). Dieses in jedem Tun und Verhalten implizit wirksame Gedächtnis macht den individuellen Habitus eines Menschen aus, seine persönliche Weise, in der Welt zu leben und mit anderen umzugehen. Der Leib ist daher keine Hülle, hinter der sich die Person verbirgt, und die nur symbolisch von ihr Anzeige gibt. Vielmehr sind ihre Einstellungen, Verhaltensweisen und Gewohnheiten immer zugleich Haltungen, Bewegungsmuster und Dispositionen ihres Leibes – bis in den charakteristischen Stil des Gangs, der Gestik und Mimik, der Artikulation und Prosodie hinein. Wir erkennen einen Menschen an seiner Haltung und seinem Verhalten wieder; seine Leiblichkeit ist Teil seiner Persönlichkeit, seiner Identität. Nicht nur „innere“, psychische oder mentale Eigenschaften, sondern auch der individuell geprägte Leib konstituiert die Person.
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Verkörperte Personen sind wir daher auch für einander. Wir nehmen den anderen nicht als einen dinglichen Körper wahr, aus dessen äußeren Bewegungen wir auf einen wie in einer Kapsel verborgenen „Bewohner“ im Inneren schließen. Als Leib wird der Körper vielmehr zur lebendigen Erscheinung der Person, in ihm stellt sie sich dar und wird uns „leibhaftig“ gegenwärtig. Im Blick der Augen sehe ich den anderen selbst; seine Hand in der Begrüßung ergreifend, gebe ich ihm die Hand, und in seinen Worten vernehme ich ihn selbst. Wäre die Person irgendwo im Inneren des Körpers, dann würden wir nur leere Blicke sehen und statt Worten nur Töne hören, in denen sich niemand ausspricht, sondern die wir nur als Anzeichen für eine an sich unzugängliche Innenwelt interpretieren könnten. Personen aber sind das Ur-Phänomen: das, was sich zeigt, und was in seinem Erscheinen selbst anwesend ist. Interpersonalität Gänzlich abwegig wird die Identifizierung von Personalität und Gehirn, wenn wir die Person in ihrer konstitutiven Relationalität, also in ihren sozialen Beziehungen betrachten. Die Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse eines Menschen, seine sozialen Rollen etwa des Geschlechts, Berufs oder Stands sind untrennbar mit dem Begriff der Person verbunden. Nicht zufällig entstammt der Begriff der Theaterwelt – ursprünglich bezeichnete persona bekanntlich die Maske oder Rolle im Theater und, davon abgeleitet, die Rolle eines Individuums in der Gesellschaft. Ob diese Relationalität wie etwa bei Buber oder Löwith radikal gefasst wird – d. h. der Mensch wird überhaupt erst durch Teilnahme an sozialen Beziehungen zur Person – oder nur als ein zentrales Merkmal von Personalität gilt, in jedem Fall entzieht sich der Begriff einer Beschränkung auf das Individuum: „Personsein ist das Einnehmen eines Platzes, den es gar nicht gibt ohne einen Raum, in dem andere Personen ihre Plätze haben“ (Spaemann 1996, 193). Personen gibt es nur im Plural. Und personale Identität beruht nicht auf einer selbstgenügsamen Innerlichkeit, sondern sie ist notwendig relationaler Natur: „Die Anderen brauche ich nicht erst anderswo zu suchen, ich finde sie innerhalb meiner Erfahrung“ (Merleau-Ponty 1974, 166), nämlich in den Beziehungsmustern und Reaktionsweisen, die meine Persönlichkeit ausmachen. Die intersubjektive Grundstruktur der Person gilt gerade auch für das Merkmal, das häufig als besonderer Beleg für ihre Individualität angesehen wird, nämlich das Selbstbewusstsein. Auch dieses ist eine Errungenschaft, die die Gemeinschaft und Interaktion mit anderen voraussetzt. „Ich bin nur in Kommunikation mit dem Anderen“, schreibt Jaspers; „ein einziges isoliertes Bewusstsein wäre ohne Mitteilung, ohne Frage und Antwort, daher ohne Selbstbewusstsein […] es muss im anderen Ich sich wiedererkennen“ (Jaspers 1973, 50, 55). Das gilt bereits für die Entwicklung in der frühen Kindheit: Im Verlauf des ersten Lebensjahrs lernt der Säugling zu-
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nächst zu begreifen, dass andere „wie ich“ sind, und zwar indem er sie imitiert und vorsprachlich mit ihnen kommuniziert (Trevarthen 2001, Meltzoff/Prinz 2002). Sich auf diese Weise in anderen wiederzuerkennen ist die Voraussetzung für die Fähigkeiten der Perspektivenübernahme und der eigentlichen Selbstreflexion, die das Kind im Lauf der weiteren, praktischen und sprachlichen Interaktionen erwirbt: Es lernt, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen (Tomasello 2002, 2009; Fuchs 2012a). Diese interaktive Dynamik schlägt sich in der Struktur von Personalität bleibend nieder, insofern das entwickelte Selbstbewusstsein die Beziehungen mit anderen zwar verinnerlicht hat, aber Intersubjektivität doch immer als konstitutives Moment in sich enthält. Denn das Selbstverhältnis impliziert, sich aus der Perspektive des „generalisierten Anderen“ (Mead 1973) zu sehen und mit sich selbst so zu sprechen, wie jemand anderes zu einem sprechen würde. In diesem Sinn hatte schon Platon die Gedanken als „das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, das ohne Stimme vor sich geht“, verstanden.5 Perspektivenbeweglichkeit und Reflexionsfähigkeit sind also Resultat einer ursprünglich interaktiven Bewegung – gewissermaßen ein organisierter Niederschlag von Interaktionserfahrungen. Insofern ist die Grundstruktur von Personalität nicht rein individualistisch oder substanzialistisch, sondern nur als dynamische, offene Struktur zu begreifen: Selbstbewusstsein ist ein „Selbstgespräch“, das implizit die anderen immer mit einbezieht. Es ist offensichtlich, dass diese komplexe, zugleich selbstbezügliche und intersubjektive Struktur von Selbstbewusstsein sich einer Reduktion auf lokale Hirnaktivitäten entzieht, auch wenn in der Hirnforschung gerne von „Selbstmodulen“ oder „Selbstmodellen“ und entsprechenden Hirnarealen die Rede ist.6
2.
Kritik des Lokalisationismus
Die bisherige Kritik am zerebralen Subjekt galt dem Kategorienfehler der Identifizierung eines Teils mit dem Ganzen, nämlich des Gehirns mit der Person. Bennett und Hacker (2003) haben ihn als mereologischen Fehlschluss bezeichnet. Der Psychiater Erwin Straus formulierte es einmal kurz und treffend: „Der Mensch denkt, nicht das Gehirn“ (Straus 1956, 112). Was aber sehen wir dann in den bunten Bildern des Gehirns, auf denen bestimmte Strukturen erhöhte neuronale Aktivitäten zeigen? Stellen sie uns nicht zumindest die materiellen Korrelate unserer mentalen Vorgänge dar? 5 Platon, Sophistes 263 E. 6 Vgl. zum „Selbstmodul“ etwa Blakeslee 1996, zum „Selbstmodell“ Metzinger 1999. Die inhärenten Grenzen der Modellierung von Selbstbewusstsein durch die Hirnforschung thematisiert Lindemann (2007, 407ff.).
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Hier haben wir es mit einem zweiten, lokalisatorischen Fehlschluss zu tun, nämlich der Identifizierung von Bewusstseinstätigkeiten mit lokalen Gehirnaktivitäten. Im visuellen Kortex werden vermeintlich optische Wahrnehmungen erzeugt, im Mandelkern sitzt die Angst, im Temporallappen die Erinnerungen. Immer neue Areale finden sich für alle Arten von seelisch-geistigen Phänomenen – Schmerzen, Trauer, Empathie, Schadenfreude, rassische Vorurteile, bewusste Täuschung, ja selbst Persönlichkeitszüge.7 Dieses Forschungsprogramm beruht in erster Linie auf bildgebenden Verfahren, die die spezifischen Hirnaktivitäten sozusagen in vivo wiedergeben. Die suggestiv wirkenden Abbildungen der Gehirnaktivität „beim Wahrnehmen“, „beim Fühlen“ oder „Denken“ legen es allzu nahe, solche Tätigkeiten mit den lokalen Aktivitäten zu identifizieren. Kritik der Bildgebung Doch die Evidenz der Bilder ist trügerisch. Zunächst messen die Techniken gar nicht die neuronale Aktivität selbst, sondern nur indirekte Parameter, bei der funktionellen Magnetspintomographie (fMRT) etwa den erhöhten Blutfluss und Sauerstoffverbrauch in bestimmten Hirnarealen. Tatsächlich handelt es sich auch gar nicht um „Bilder des Gehirns“, sondern um Visualisierungen statistischer Konstrukte, gebildet aus den Mittelwerten von meist etwa 10 bis 20 Probanden, da sich aufgrund der äußerst geringen Aktivitätsunterschiede individuell kaum aussagekräftigen Ergebnisse gewinnen lassen. Zudem wird zur Kontrastierung die Grundaktivität des Gehirns im Voraus ermittelt und dann von den gemessenen Werten subtrahiert, damit im Bild nur die lokal erhöhten Aktivierungen hervortreten. Dabei ist freilich keineswegs geklärt, ob die untersuchten Erlebnisphänomene tatsächlich den am meisten aktivierten Strukturen entsprechen. Zwar ist das Gehirn unbestreitbar regional spezialisiert, d. h. verschiedene Areale und Zentren erfüllen unterschiedliche Funktionen. Dennoch sind zur gleichen Zeit auch alle anderen Hirnregionen (an denen im Bild scheinbar nichts geschieht) aktiv und in unterschiedlicher Weise am gesamten Erleben beteiligt. Was die Bilder tatsächlich zeigen, und was dabei im Gehirn geschieht, bedarf also sorgfältiger Interpretation. Dazu kommt, dass die Aufnahmen in Laborsituationen entstehen, und dabei die Beziehung der Bewusstseinsprozesse zum Umweltkontext in der Regel ebenso ausgeblendet bleibt wie ihr zeitlicher Verlauf. Diese Aspekte – Relationalität, Intentionalität und Zeitlichkeit – sind aber essenzielle Merkmale von Bewusstsein. Nimmt man all diese methodischen Einschränkungen zusammen, so können Daten zu lokalen Stoffwechselaktivitäten des Gehirns zwar bis zu einem gewissen Grad seine funktionelle Spezialisierung wiedergeben, jedoch nicht mehr
7 Vgl. im Überblick Fuchs 2016, 68f.
Person und Gehirn
als Indikatoren für psychische Vorgänge liefern. Bildlich gesprochen: Man sieht nur den Rauch, nicht das Feuer, und selbst vom Rauch nur eine Momentaufnahme. Wenn Hirnforscher dennoch behaupten, im Gehirn „Gedanken lesen zu können“ (Haynes et al. 2007, Haynes 2012), so ist zunächst schlicht festzuhalten, dass Stoffwechselprozesse keine Gedanken sind. Zwar ist es inzwischen möglich, die spezifische Verteilung von Hirnaktivität bestimmten Kategorien von Objekten, Farben oder Ähnlichem zuzuordnen, an die eine Person gerade denkt. Dazu werden die Objekte der Person zuerst wiederholt präsentiert, dann die im fMRT erhobenen Daten durch massiven Computereinsatz so gemittelt, dass sich im weiteren Verlauf mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen von mehreren alternativen Denkinhalten schließen lässt. Ähnliches gilt auch für die mögliche Unterscheidung einfacher Denkoperationen wie etwa Addieren versus Subtrahieren, Bejahen oder Verneinen (vgl. Schleim 2008, 84ff.). Doch handelt sich dabei immer nur um Korrelationen, die gemäß den Aussagen der Probanden zuvor schon hergestellt wurden, und die über recht grobe Kategorisierungen nicht hinausgehen – ein Verfolgen von Gedanken ist nicht möglich. Holismus des Bewusstseins Doch abgesehen von den genannten methodischen Problemen verbirgt sich in der Lokalisierung von Bewusstseinstätigkeiten ein noch grundlegenderer Trugschluss. Denn keine von den jeweils spezialisierten Regionen ist für sich in der Lage, die komplexen Integrationsleistungen zu erbringen, wie sie Bewusstsein zugrunde liegen. Vielmehr ist an jedem subjektiven Erlebnis immer ein weit über das gesamte Gehirn ausgebreitetes Netz von Neuronenverbänden beteiligt, und dies in engster Verknüpfung mit dem übrigen Organismus. Das entspricht auch der Komplexität des Erlebens selbst: Alle speziellen Funktionsbezeichnungen wie Sehen, Hören, Denken, Fühlen etc. lösen Einzelfunktionen des Bewusstseins heraus, während tatsächliche subjektive Erlebnisse immer holistisch bleiben. So sind alle Wahrnehmungen nicht nur in ein leibliches Hintergrunderleben eingebettet, sondern auch mit Gefühlen, Erinnerungen und Sprachkonzepten verbunden. Einen „puren“ Schmerz, ein „reines“ Sehen oder Hören gibt es nicht. Bewusstes Erleben setzt sich aber nicht aus Teilkomponenten zusammen; es ist umgekehrt ein primär einheitlicher Prozess, der sich je nach den Erfordernissen der Situation in spezifische Tätigkeiten und Leistungen differenziert. Deshalb ist die Rede von „neuronalen Korrelaten des mentalen Zustands X“ irreführend: Sie impliziert nämlich, dass sich Phänomene wie Wahrnehmungen, Gefühle oder Denkvorgänge von der Bewusstseinstätigkeit insgesamt isolieren ließen. Doch diese Phänomene sind keine abtrennbaren Zustände, sondern sie setzen ein Subjekt voraus, das wahrnimmt, fühlt oder denkt. Was aber das „Korrelat“ dieses Subjekterlebens ist, welche Hirnzentren und -aktivitäten dafür mindestens
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erforderlich sind, ja ob es nicht über das Gehirn hinaus den ganzen Organismus einbezieht, lässt sich mittels Bildgebungsstudien gar nicht entscheiden. Mit der Feststellung lokaler Aktivitätsunterschiede hat man daher einen mentalen Zustand als solchen weder lokalisiert noch mit neuronalen Prozessen identifiziert.8 Wir sehen, dass auch die zunehmende Erforschung der funktionellen Spezialisierung des Gehirns es nicht erlaubt, daraus auf eine Lokalisierung von Bewusstseinsaktivitäten als solchen zu schließen. Bewusstsein ist keine lokale, sondern eine integrale Funktion eines Organismus, insofern er in ständigen Interaktionen mit seiner Umwelt verknüpft ist. Diese Konzeption sei abschließend im Überblick vorgestellt (vgl. ausführlich Fuchs 2016).
3.
Personalität als verkörperte Subjektivität
Unsere Erlebnisse werden wir im Gehirn nicht finden, ja nicht einmal für sie hinreichende neuronale Korrelate, so unabdingbar die Gehirnaktivität dabei ist. Wie ist das Verhältnis von Person und Gehirn dann angemessen zu begreifen? – Wir sagten, der Mensch denkt, fühlt, nimmt wahr und handelt, nicht das Gehirn. Und der Mensch ist zunächst ein lebendiger Organismus, ein Wesen aus Fleisch und Blut. Dies entspricht auch dem klassischen Verständnis der Person als einer leibseelischen Einheit. Personen gibt es nur als verkörperte Subjekte, d. h. als Lebewesen. Für die gegenwärtigen Neurowissenschaften spielt der Körper allerdings eine ganz untergeordnete Rolle. Er bleibt eine Art physiologischer Trägerapparat für das Gehirn, in dem die unkörperliche Innenwelt des Bewusstseins entstehen soll. Doch dieser „Zerebrozentrismus“ vernachlässigt die Wechselbeziehungen und Kreisläufe, in denen das Gehirn steht – so als würde man das Herz ohne Kreislauf untersuchen oder die Lunge ohne den Atemzyklus. Der Grund dafür liegt darin, dass die Neurowissenschaften keinen Begriff vom lebendigen Organismus haben. Sie sind immer noch gefangen in der Computermetaphorik des Geistes, als ob aus neuronalen Rechenprozessen Bewusstsein herausspringen könnte, wenn sie nur genügend komplex sind. Was hier fehlt, hat bereits im 19. Jahrhundert Ludwig Feuerbach erkannt: „Weder die Seele denkt und empfindet, noch das Hirn denkt und empfindet; denn das Hirn ist eine physiologische Abstraktion, ein aus der Totalität herausgerissenes, vom Schädel, vom Gesicht, vom Leib überhaupt abgesondertes, für sich selbst fixiertes Organ. Das Hirn ist aber nur solange Denkorgan, als es mit einem menschlichen Kopf und Leibe verbunden ist“ (Feuerbach 1835/1985, 177).
8 Vgl. zur Kritik auch Noe und Thompson 2004.
Person und Gehirn
Denken und empfinden kann also nur der lebendige Mensch. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich in den Kognitions- und Neurowissenschaften eine neue Richtung entwickelt, die diese Zusammenhänge in den Vordergrund rückt, die „Embodied cognitive neuroscience“.9 Sie betrachtet Subjektivität als verkörpert im gesamten Organismus und als eingebettet in die Umwelt. Bewusstsein sitzt danach nicht im Gehirn, sondern erstreckt sich über den empfundenen Leib bis in die für uns jeweils relevante Umgebung. Gehirn, Körper und Umwelt Wie können wir uns das näher vorstellen? Die Grundlage des bewussten Erlebens besteht in zwei kontinuierlichen Interaktionsbeziehungen, nämlich (a) der von Gehirn und Körper, und (b) der von Gehirn, Körper und Umwelt. a) Alles Bewusstsein beruht primär auf der ständigen Interaktion des Gehirns mit dem übrigen Organismus, auf den Signalen etwa von den Gliedern, Muskeln, Herz, Kreislauf und Eingeweiden, nicht zuletzt auf dem biochemischen Milieu von Blut und Liquor, in welches das Gehirn eingebettet ist. Signale aus diesen peripheren Systemen werden in Hirnstamm, Zwischenhirn und höheren Hirnzentren verarbeitet, während umgekehrt neuronale und neuroendokrine Signale die Peripherie und das innere Milieu des Körpers fortlaufend regulieren. Diese kreisförmige Interaktion von Gehirn und Gesamtorganismus bildet nun die Basis für ein leibliches Hintergrunderleben, das uns ständig begleitet, was immer wir gerade wahrnehmen, denken oder tun. Es ist ein „Empfinden des Lebens selbst“ (Damasio 1995, 207), mit der Tönung des Wohl- oder Missbehagens, der Lust oder Unlust, Frische oder Erschöpfung und anderer grundlegender Stimmungen. In diesen basalen Lebensgefühlen „… spiegelt sich der augenblickliche Zustand des Körpers in verschiedenen Dimensionen wider, beispielsweise auf einer Skala, die von der Lust bis zum Schmerz reicht; ihren Ursprung haben sie nicht in der Großhirnrinde, sondern auf der Ebene des Hirnstamms“ (Damasio 2011, 33). Zwar ist unsere Aufmerksamkeit zumeist auf gerichtete Gefühle, Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Gedanken gerichtet, was uns dazu verleiten kann, diese Funktionen für die eigentliche Bewusstseinstätigkeit zu halten. Doch alle höheren intentionalen Leistungen bleiben immer eingebettet in das basale leibliche Selbsterleben. Die Aufrechterhaltung der Homöostase, also des inneren Milieus und damit der Lebensfähigkeit des Organismus, ist die primäre Funktion des Bewusstseins, wie
9 Vgl. besonders Varela et al. 1992, Gallagher 2005, Thompson 2007.
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es sich in Trieb, Hunger, Durst, Lust oder Unlust manifestiert. Wir können dies auch so formulieren: Prozesse des Lebens und Prozesse des Erlebens sind untrennbar miteinander verknüpft.10 Als bewusste Wesen sind wir leibliche, verkörperte Wesen. In gleicher Weise sind auch Stimmungen und Gefühle als Kern unseres subjektiven Erlebens an die ständige Interaktion von Gehirn und übrigem Organismus gebunden. Sie beziehen nahezu alle Systeme des Körpers mit ein: autonomes Nervensystem, hormonelles System, Herz, Kreislauf, Atmung, Eingeweide, und mimische und gestische Ausdrucksmuskulatur. Sich zu ängstigen ist nicht möglich ohne das Gefühl einer leiblichen Spannung oder eines Zitterns, ohne das Klopfen des Herzens oder die Beengung der Atmung, und Analoges gilt für Zorn, Freude oder Trauer. Jedes Gefühl ist untrennbar verknüpft mit Veränderungen dieser Körperlandschaft, und ohne diese leibliche Resonanz könnten wir Gefühle im vollen Sinn nicht erleben.11 b) Ebenso wie in den Organismus selbst ist das Gehirn auch eingebettet in die sensomotorischen Interaktionen des Organismus mit der Umwelt. Alles Wahrnehmen und Handeln bedarf des Körpers, aber nicht etwa nur als eines Apparats zur Signalübertragung oder Bewegungsausführung, sondern weil nur der zugleich sensible wie bewegliche Körper die erforderlichen Rückkoppelungen und damit die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung herstellen kann. Jakob von Uexküll (1920/1973) hat vom „Funktionskreis“ gesprochen: Was ein Lebewesen wahrnimmt, ist abhängig von seiner Bewegung, und umgekehrt. Das gilt für die Bewegungen der Hand, die ein Objekt ertastet, ebenso wie für das Abtasten von Gegenständen mit dem beweglichen Blick: Im Sehen ist die tatsächliche oder mögliche Eigenbewegung des Körpers immer mitberücksichtigt (Noë 2004). Wahrnehmen ist daher kein bloßer Innenzustand des Gehirns, sondern eine fortlaufende Interaktion mit der Umwelt. Erst recht sind natürlich alle Handlungen verkörpert: Wenn ich spreche, beruht dies nicht nur auf einem sich abspulenden Bewegungsprogramm in meinem Gehirn, sondern auch auf den ständigen Rückmeldungen meiner Kehlkopfmuskulatur, auf dem Hören meiner eigenen Stimme und auf den Reaktionen meiner Zuhörer. Sprechen ist keine Fähigkeit oder Tätigkeit des Gehirns, sondern die eines verkörperten Subjekts. Allgemein gilt: Das Gehirn stellt mit seinen Netzwerken gewissermaßen „offene Schleifen“ bereit, die aber erst durch den Körper und passende Objekte der Umwelt zum jeweiligen Funktionskreis geschlossen werden, d. h. zu unserem bewussten Erleben und Handeln.
10 Thompson 2007, 128ff.; Fuchs 2012b. 11 Damasio 2000; Fuchs 2016, 145f.
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Bewusstes Erleben entsteht also nur im übergreifenden System von Organismus und Umwelt, auf der Basis des Zusammenspiels vieler Komponenten, zu denen das Gehirn und der gesamte Körper mit seinen Sinnen und Gliedern ebenso gehören wie die passenden Gegenstände der Umgebung. Das Gehirn ist das Organ, das diese Interaktionen vermittelt, kurz: ein Vermittlungs-, ein Beziehungsorgan. Doch im Gehirn selbst gibt es kein Erleben, kein Bewusstsein, keine Gedanken. Zum Vergleich kann man an eine andere zentrale Lebensfunktion denken, nämlich die Atmung: Finden wir sie im Inneren der Lunge? Sicherlich nicht, denn Atmung ist der gesamte Prozess, in dem der Organismus Umgebungsluft aufnimmt, umwandelt und wieder abgibt, ein Kreisprozess also, der ohne die Umwelt, die Atmungsorgane, den Blutkreislauf, den Stoffwechsel von Sauerstoff und Kohlendioxid im gesamten Organismus nicht möglich wäre. Auch die Lunge ist ein Beziehungsorgan, das seine Funktion nur eingebettet in Kreisprozesse ausüben kann. Unabdingbar für die Entstehung von Bewusstsein ist das Gehirn, weil in ihm alle oben genannten Kreisprozesse verknüpft werden – so wie die Gleise in einem Hauptbahnhof. Wird dieser zerstört, dann bricht der Zugverkehr, analog dem bewussten Erleben, freilich zusammen. Dennoch, um den Vergleich fortzuführen, wird der Zugverkehr weder vom Bahnhof erzeugt noch ist er dort zu lokalisieren. Der Verkehr bedient sich vielmehr umgekehrt des Gleissystems mit seinen vielfältigen Weichen, Kreuzungen und seiner zentralen Koordinationsstelle im Hauptbahnhof, damit die Transportprozesse möglichst reibungslos ablaufen und Personen ihre Ziele erreichen. Analog stellt die Bewusstseinstätigkeit das „Integral“ der gesamten, je aktuellen Beziehungen zwischen Gehirn, Organismus und Umwelt dar. Bewusstsein ist immer In-der-Welt-Sein. Hirntransplantation Die Lebendigkeit des verkörperten Subjekts wirft schließlich auch ein kritisches Licht auf das Gedankenexperiment der Gehirntransplantation. Die dabei implizierte Identifikation von Gehirn und Person beruht auf der Annahme, deren Identität bestehe in nichts anderem als ihren psychischen Dispositionen, Erinnerungen und Informationen über sich selbst, wie sie in den neuronalen Strukturen des Gehirns gespeichert seien. Das Transplantationsargument setzt also eine cartesianische, entkörperte Sicht der Person voraus. Doch wie wir sahen, besteht Selbstsein primär in einem präreflexiven, leiblichen Hintergrundgefühl, das nicht auf neuronalen Prozessen in der Hirnrinde, sondern auf dem Lebensprozess des gesamten Organismus beruht. Die Einbettung des Gehirns in biochemische, neuroendokrine und humorale Prozesse der vitalen Selbstregulation lässt sich nicht nach dem Muster digitaler Informationsverarbeitung in einem Computer begreifen. Diese zirkulären, lebendigen Prozesse aber sind es, aus denen basales Selbsterleben resultiert.
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Was im Gedankenexperiment vorausgesetzt wird, nämlich die Kontinuität phänomenaler Selbsterfahrung nach der Hirntransplantation, ist daher alles andere als selbstverständlich. Wir wissen nicht im Geringsten, welche Folgen eine Trennung von Gehirn und Körper und damit eine Unterbrechung der Kontinuität von Leben und Erleben hätte. Ob sich die Bewusstseinsfunktionen nach Abtrennung des Hirnstamms vom Rückenmark und Reimplantation in einen neuen Körper überhaupt regenerieren würden, ist höchst fraglich. Für eine erfolgreiche Transplantation müssten zudem die komplexen Rückkoppelungsschleifen zwischen Gehirn und Körper auf vitaler und sensomotorischer Ebene exakt wiederhergestellt werden. Und selbst dann wären gravierende Störungen des Selbsterlebens zu erwarten, denn die gesamten endokrinen, autonomen, interozeptiven und emotionalen Reaktionen des fremden Körpers würden nicht mehr zu den neuronalen Dispositionen des Gehirns passen. Eine schwere Selbstentfremdung und Desorientierung bis zur psychotischen Verwirrtheit wäre die wahrscheinliche Folge. Darüber hinaus sind alle körperlichen Fähigkeiten, die auf dem prozeduralen Leibgedächtnis beruhen – Laufen, Greifen oder Sprechen, nicht zu reden von Klavierspielen oder anderen komplexen Fähigkeiten – an höchst subtile GehirnKörper-Koordinationen gebunden und müssten sämtlich neu erlernt werden. Denken wir schließlich an die verstörenden Auswirkungen auf das Identitätserleben, die von einer fremden Körpergestalt, einer anderen Stimme, einem fremden Gesicht und den befremdeten Reaktionen der anderen zu erwarten wären. All dies zusammengenommen lässt nur den Schluss zu, dass eine Gehirntransplantation nicht etwa die Identität der Person erhalten, sondern vielmehr ein neues, schwer gestörtes Individuum erzeugen würde, das weder mit dem Spender noch mit den Empfänger der Transplantation in einer eindeutigen Kontinuität stünde. Die Person ist verkörpert in ihrem Leib, und eine Trennung von Gehirn und Körper würde sie nicht erhalten, sondern zerstören.
Resümee Will die Neurobiologie ins Innere der Person blicken, so sucht sie am falschen Ort. Nicht, dass die neuronalen Prozesse für das bewusste Erleben verzichtbar wären, im Gegenteil. Aber sie sind nicht der Ort, an dem wir Bewusstsein vorfinden. Der Mensch fühlt, sieht, denkt und handelt – nicht das Gehirn, nicht der Geist oder das Bewusstsein. Wir sind weder Gehirne noch Geister, sondern Lebewesen, also lebende und erlebende Wesen, verkörpert in ihrem Leib. Es gibt uns nicht noch einmal in unserem Inneren. Das Gehirn verfügt weder über geistige Zustände noch über Bewusstsein, denn das Gehirn lebt nicht – es ist nur das Organ eines Lebewesens, einer lebendigen Person. Die Gedankenexperimente von einem Gehirn im Tank oder einer Gehirn-
Person und Gehirn
transplantation können wir getrost ad acta legen: Nur ein mit einem fühlenden und beweglichen Körper verbundenes Gehirn ist in der Lage, als zentrales Organ für mentale Prozesse zu dienen, denn nur durch die ständigen Interaktionen von Gehirn, Körper und Umwelt entstehen und stabilisieren sich die Strukturen des bewussten Erlebens. Es ist irrig, das Subjekt oder die Person mit dem Gehirn zu identifizieren und nur in ihm das „Persönliche“ zu suchen. Was eine Person wesentlich ausmacht, ist ihre Verkörperung ebenso wie ihr Sein-in-Beziehungen, und diese intentionalen und sozialen Beziehungen zur Welt sind weder Erzeugnisse des Gehirns noch in ihm aufzufinden. Zweifellos sind die Fähigkeiten der Person ebenso wie ihre Realisierung als bewusste Lebensäußerungen in besonderem Maß an die Gehirnfunktionen gebunden. Das Gehirn ist insofern eine zentrale Bedingung der Möglichkeit personalen Daseins in der Welt. Doch die Person ist nicht ein Teil des Körpers, sondern die leibseelische Einheit, der lebendige Mensch. Personen haben Gehirne, sie sind sie nicht.
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Das Verhältnis von Geist und Gehirn im Spannungsfeld von Metaphysik, Wissenschaft und Theologie Reflexionen im Anschluss an Gerhard Roth und Nicole Strüber Der vorliegende Text beschäftigt sich zunächst mit einer neurobiologischen Darstellung des menschlichen Gehirns und seinen Funktionen im Leben einer Person. Gerhard Roth und Nicole Strüber kommen dabei wiederholt auf philosophische (und theologische?) Vorstellungen zum Verhältnis von Geist und Gehirn zu sprechen, wie sie von Geisteswissenschaftlern, aber auch von Psychiatern geäußert werden. Aus Sicht der Verfasserin handelt es sich bei den von Roth/Strüber zurückgewiesenen Positionen um metaphysische Aussagen, die auch aus evangelisch-theologischer Sicht abzulehnen sind. Im Folgenden wird zunächst die Argumentation von Roth/ Strüber dargestellt (1). Anschließend soll ausgelotet werden, in welches Verhältnis die naturwissenschaftliche Metaphysikkritik mit der theologischen gesetzt werden könnte (2).
1.
Der Zusammenhang von Geist und Gehirn aus neurobiologischer Perspektive
Gerhard Roth gilt als einer der bekanntesten deutschen Hirnforscher, der sich in die Geist-Gehirn-Debatte medial wirkungsvoll eingeschaltet hat. Er vertrat schon länger eine naturalistische Position, lehnte aber den materialistischen Reduktionismus bzw. den Epiphänomenalismus stets ab.1 Das gilt auch für das neuere, zusammen mit Nicole Strüber verfasste Buch Wie das Gehirn die Seele macht.2
1 Vgl. dazu Birgitta Annette Weinhardt, Das Modell des illibertaren Indeterminismus, 125–130; Vgl. auch Roth, Worüber dürfen Hirnforscher reden, 79–81. 2 Das ist insofern bemerkenswert, da dieser Buchtitel wohl eher zu einer reduktionistischen Leseweise passen würde.
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Birgitta Annette Weinhardt
1.1
Positionelle Selbstverortung der Autoren: Nichtreduktionistischer Materialismus
Roth/Strüber vertreten einen naturalistischen Standpunkt, den man als einen nichtreduktionistischen Materialismus bezeichnen könnte.3 Sie beschreiben ihre Position als „eine ‚naturalistische‘ Sicht des Seelischen, der zufolge sich Psyche und Geist in das Naturgeschehen einfügen und dieses nicht transzendieren […] Gleichzeitig versuchen wir, die Fallstricke eines unfruchtbaren neurobiologischen Reduktionismus zu vermeiden.“4 Dabei wehren sie sich gegen die Bücherflut von Geisteswissenschaftlern, aber auch von Psychiatern und Psychotherapeuten, die ein dualistisches Weltbild vertreten. Denn damit werde vorausgesetzt, dass die mentalen Vorgänge aus dem Naturgeschehen herausfallen und nicht naturalistisch erklärt werden könnten.5 Roth/Strüber fordern also, dass für das Mentale keine übernatürlichen Zustände angenommen werden sollten. Geistige Phänomene seien im Rahmen der Naturgesetze zu erklären, nicht aber als bloße Epiphänomene abzuqualifizieren. Zur Entwicklung einer nichtreduktionistisch-naturalistischen Position müssen sie also die Argumente aus zwei konträren Positionen entkräften: Zum einen diejenigen, die eine reduktionistische Lesart unterstützen; zum anderen solche, die eine Tendenz zum ‚Übernatürlichen‘ nahelegen.6 Dazu führen sie vier Argumente an. 1.2
Eine nichtreduktionistische Emergenztheorie
Zunächst weisen Roth/Strüber darauf hin, dass Bewusstseinsinhalten stets unbewusste Prozesse vorausgehen. Sie sehen durch diese zeitlich gerichtete Verknüpfung von Geist und Gehirn sowohl den interaktiven Dualismus als auch den psychophysischen Parallelismus als widerlegt an. Denn „das zeitliche Nachlaufen des Bewusstseins gegenüber unbewussten neuronalen Prozessen ist mit einer strengen zeitlichen Parallelität von Geist und Gehirn nicht vereinbar, sondern legt eine Verursachung des Geistes durch Hirnprozesse nahe.“7 Dieses Argument gegen die genannten beiden Spielarten des Dualismus wird üblicherweise mit zwei Gegenargumenten zurückgewiesen, mit denen sich Roth/ Strüber daher ebenfalls auseinandersetzen müssen. Beim ersten Gegenargument
3 Vgl. Marcus Birke, Art.: Materialismus 1, in: Metzler Lexikon für Philosophie, www.spektrum.de/ lexikon/ philosophie/materialismus-1/1272 (18.07.2020). 4 Roth/Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 2018, 18. 5 Vgl. aaO. 22. 6 AaO. 23f. 7 AaO. 269f.
Das Verhältnis von Geist und Gehirn im Spannungsfeld
handelt es sich um die fundamentale Erklärungslücke in der Neurophilosophie, welche darin besteht, dass die Art des Übergangs von neuronalen Prozessen und mentalen Zuständen noch nicht gefunden wurde und vielleicht auch nie gefunden werden kann.8 Dieses Argument ist eng verknüpft mit dem Qualia-Problem. Es besagt, dass selbst wenn aus der Dritten-Person-Perspektive alle Inhalte des Bewusstseins erschlossen werden könnten, die Erlebnisqualität aus dieser Beobachterperspektive nicht selbst miterlebt werden könne. Daher sei die Erste-Person-Perspektive irreduzibel bezüglich der aus der Dritten-Person-Perspektive zugänglichen materiellen Vorgänge.9 Roth/Strüber gestehen bezüglich der Erklärungslücke zwar zu, dass ein gewisses Problem bestehe, jedoch nur, wenn man die klassische reduktionistische Position vertrete, die sie selbst ja nicht teilen. Denn der Reduktionismus fordere, „dass wir aus neuronalen Eigenschaften die Eigenschaften geistiger bzw. bewusster Prozesse vollständig ableiten könnten. Dies ist zumindest derzeit nicht möglich. Wir können zwar mit einiger Sicherheit sagen, was im Gehirn bzw. in der Großhirnrinde ablaufen muss, damit zum Zeitpunkt X Bewusstsein entsteht oder eine Versuchsperson z. B. sagt ‚Jetzt sehe ich den bewegten Punkt auf dem Bildschirm‘, aber dazu sind wir nur in der Lage, nachdem wir in zahllosen Untersuchungen das zeitliche Zusammentreffen von Ereignissen festgestellt haben. Hätten wir die psychologischen Erkenntnisse über bewusstes Erleben nicht, so könnten wir sie aus der bloßen Kenntnis der neuronalen Prozesse nicht ableiten. Außerdem ergibt sich aus der Korrelation allein keine Kausalbeziehung. Falls wir feststellen sollten, dass Gamma-Oszillation in bestimmten Netzwerken auftreten müssen, damit dort verarbeitete Inhalte bewusst werden, so haben wir damit noch nicht den Übergang von der neuronalen Aktivität zum Bewusstsein erklärt und erst recht nicht das Phänomen des Bewusstseins selbst. Bewusstsein kommt in der Beobachtung der Gamma-Oszillation nicht vor, sondern nur im subjektiven Erleben eines Menschen.“10
Allerdings sei die nicht vollständig mögliche Ableitung mentaler Prozesse von unbewussten neuronalen Prozessen kein durchschlagendes Argument gegen die naturalistische Erklärung der Geist-Gehirn-Korrelation an sich. Denn diese Korrelation
8 Vgl. Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, 428–444; Ders. Das Leib-Seele-Problem, 105–111. 9 Vgl. Roth/Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 271; Vgl. dazu auch die ausführliche Diskussion von Nagel, What is it like to be a bat? Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, hg.v. Ulrich Diehl, Ditzingen 20204 . 10 Roth/Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 270f. Vgl. auch Soon, Chun Siong/He, Anna Hanxi/ Bode, Stefan/Haynes, John-Dylan, Predicting free choices for abstract intentions, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 110, 2013, 6217–6222; Herff et al., Brain-to-text: decoding spoken phrases from phone representations in the brain.
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Birgitta Annette Weinhardt
sei lediglich ein Beispiel für die Emergenz neuer, bisher unbekannter Eigenschaften eines komplexen Systems. Solche Emergenzvorgänge seien in naturalistischen Theorien akzeptiert und nicht selten. Üblicherweise werden schwach emergente Eigenschaften von starken so unterschieden: „Schwach emergente Eigenschaften sind solche Eigenschaften, die auf höheren Ebenen des Systems aufgrund von Wechselwirkungen der Komponenten untereinander entstehen, nicht aber auf der Ebene selbst zu finden sind. Bei genügender Kenntnis und hinreichend einfachen Systemen lassen sich solche schwach emergenten Eigenschaften vorhersagen, z. B. die Eigenschaften des Kochsalzes aus denen seiner Komponenten Natrium und Chlorid. Stark emergente Systemeigenschaften sind nach klassischer Auffassung hingegen solche, die sich auch aus der genausten Kenntnis der Eigenschaften der Systemkomponenten nicht vorhersagen lassen. Ob es solche stark emergenten Eigenschaften überhaupt gibt, ist unklar, denn wir können nicht wissen, ob wir irgendetwas niemals wissen werden.“11
Roth/Strüber deuten also an, dass die mentalen Prozesse zumindest bislang als schwach emergente Strukturen des Gehirns angesehen werden müssen, denn ob es überhaupt stark emergente Strukturen gebe, sei ungewiss. Grundsätzlich jedoch entspreche das Auftauchen des Geistes in der Evolution etwa dem Entstehen von lebendigen Organismen aus unbelebter Materie oder der Entwicklung von Tieren mit Nervensystemen aus einfacheren Vorstufen.12 An dieser Stelle entsteht jedoch ein erstes Kohärenzproblem in der Argumentation. Denn Roth/Strüber definierten den Reduktionismus ja als eine vollständige apriorische Ableitbarkeit der bewussten Prozesse aus neuronaler Aktivität.13 Unvollständig ableitbar bzw. stark emergent (weil nicht vorhersagbar) sind die mentalen Zustände des Menschen jedoch nach der letzten zitierten Passage möglicherweise gar nicht. Die Zurückweisung des Reduktionismus gelingt hier also nicht durchschlagend, weil er gleichbedeutend ist mit vollständiger Ableitbarkeit und vollständiger Vorhersagbarkeit, die niemals definitiv ausgeschlossen werden können. Insofern sind hier „die Fallstricke eines […] Reduktionismus“14 noch nicht vermieden. Möglicherweise deswegen setzen die Autoren mit einem zweiten Argumentationsgang gegen ‚die Geisteswissenschaftler‘ ein. Diese bestreiten die Möglichkeit
11 Roth/Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 273. Vgl. Clayton, Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus. 12 Vgl. Roth/Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 272. 13 Vgl. aaO. 270. 14 AaO. 18.
Das Verhältnis von Geist und Gehirn im Spannungsfeld
einer Emergenz des immateriellen Geistes aus dem materiellen Gehirn mit dem Argument, dass ein solcher qualitativer Sprung nicht vorstellbar sei. 1.3
Immaterielle Natur
Um den genannten Einwand zu entkräften, kommen Roth/Strüber auf den Materiebegriff zu sprechen. Dieser sei lediglich auf „diejenigen physikalischen Phänomene beschränkt, die eine Masse haben“.15 Es gebe aber auch physikalische Größen, die keine Ruhemasse besitzen und daher nicht materiell seien, wie etwa das Licht: „Licht ist […] wie alle elektromagnetischen Wellen in diesem Sinne ‚immateriell‘, d. h. ohne Ruhemasse. Gleichzeitig zeigt Licht eine Wechselwirkung mit ‚materiellen‘ Phänomenen, etwa im Zusammenhang mit Absorption, Reflexion, Steuerung, Brechung und dem von Einstein erstmals beschriebenen ‚Photoeffekt‘, also dem Herauslösen von Elektronen aus einem bestrahlten Körper.“
Die Ruhemasselosigkeit des Lichtes und weitere seiner Eigenschaften seien bis heute nicht vollständig erklärbar. Trotzdem nehme niemand an, dass es sich beim Licht um ein übernatürliches Phänomen handle. Denn es sei selbstverständlich den Naturgesetzen unterworfen wie beispielsweise „dem der Gravitation oder jenem der Erhaltung von Energie, Impuls und Drehimpuls“. Damit sei auch die Vorstellung obsolet geworden, dass der Geist, um seiner Immaterialität willen, ein übernatürliches Phänomen sei.16 „Wir können entsprechend Geist und Bewusstsein als ‚immaterielle bzw. masselose physikalische Zustände‘ ansehen.“17 Die Natur besteht nach Roth/Strüber also nicht nur aus Materie, sondern auch aus immateriellen Entitäten. Die bekämpfte „Übernatur“ wäre dann nicht das Immaterielle überhaupt, sondern lediglich eine solche immaterielle Entität, die nicht den Naturgesetzen unterworfen wäre. Auch bleibt es etwas in der Schwebe, was der Ausdruck ‚den Naturgesetzen unterworfen‘ genau bedeuten soll. Ist jedes Gesetz, dem die mentalen Vorgänge unterworfen sind, ein Naturgesetz? Oder gelten für den Geist zwar die Naturgesetze, aber zusätzlich auch noch weitere, mentale Gesetze? Ist etwa der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ein Naturgesetz, zumindest für Erdenbewohner? Tatsächlich gestehen die beiden Autoren dem Geist eine gewisse Eigengesetzlichkeit zu:
15 AaO. 274. 16 Ebd. 17 AaO. 274f. Vgl. dazu auch Mahner, Naturalismus. Die Metaphysik der Wissenschaft, 17f.
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„Wir können entsprechend Geist und Bewusstsein als ‚immaterielle bzw. masselose physikalische Zustände‘ ansehen, da sie die universellen Naturgesetze nicht verletzen und eindeutig mit physikalischen Zuständen wechselwirken, wie sie im Gehirn vorkommen. Dass darüber hinaus Geist und Bewusstsein sehr merkwürdige Eigenschaften besitzen, die durch ‚mentale‘ Bereichsgesetzlichkeiten bestimmt werden, ist keineswegs ungewöhnlich, sondern eher zu erwarten. Und auch wenn diese Bereichsgesetzlichkeiten zur Zeit noch nicht alle bekannt sind, stellt dies kein grundlegendes Problem für die naturwissenschaftliche Beschreibung des Bewusstseins dar.“18
Hier fordern Roth/Strüber lediglich, dass der Geist die universellen Naturgesetze nicht verletzen dürfe. Die Bereichsgesetze des Geistes müssten nach dem Duktus der Argumentation spezielle Naturgesetze sein. Man könnte also die Beziehung zwischen materiellem Gehirn, elektromagnetischen neuronalen Feldern (GammaOszillationen) und Geist als eine monistische emergente Gesamtstruktur auffassen. Die Frage aber, inwiefern die Geist-Materie-Korrelation nicht doch reduktionistisch ist, bleibt weiterhin offen. Um den Nicht-Reduktionismus zu erreichen, müsste nachgewiesen werden, dass es sich beim Geistfeld um eine starke Emergenz handelt. 1.4
Ein Rückgriff auf Kants transzendentale Kritik des Erkenntnisvermögens
Um das Argument der Erklärungslücke endgültig zu entkräften, greifen Roth/ Strüber auf die Erkenntnistheorie Immanuel Kants19 zurück. Unabhängig von der Frage, ob der Geist eine stark oder schwach emergente Eigenschaft des Gehirns sei, müsse nach Kant geradezu eine Erkenntnislücke bestehen bleiben. Daher beruhe die Argumentation mit ihr „auf einem logischen und erkenntnistheoretischen Fehlschluss“.20 Da alle Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken Konstrukte des Gehirns seien, müsse man annehmen, dass es sich auch bei allen Untersuchungsergebnissen der Hirnforschung über Gehirne und ihr Aktivitäten um Konstrukte des Gehirns handle.
18 Roth/Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 274f. 19 Vgl. aaO. 276. Der Anschluss an Kant ist recht locker und kann auch nicht durch die von Roth/ Strüber in diesem Zusammenhang zitierten Autoren weiter konkretisiert werden. Roth/Strüber spielen vage auf die bekannte Unterscheidung der Phainomena von den Noumena an und auf Kants grundlegende These, dass man nicht von den Erscheinungen auf die Dinge an sich schließen dürfe, ohne kategoriale Fehler zu begehen. Vgl. Immanuel Kant, Die Kritik der reinen Vernunft, A 26-30/B 37-45, A 108f./B 164, A 130, A 190f./B 235f., A 249-256/B 306-312. 20 Roth/Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 275.
Das Verhältnis von Geist und Gehirn im Spannungsfeld
„Um die Annahme zu vermeiden, dass unser Gehirn sich dabei selbst von außen betrachtet und damit eine echte Teilmenge von sich selbst ist – dies wäre ein schwerer logischer Widerspruch –, müssen wir zwischen der bewusst erfahrenen Erlebniswelt, der Wirklichkeit (actuality) und einer bewusstseinsunabhängigen Welt, der Realität (reality) unterscheiden.“21
Wie Kant, der zwischen den Dingen für uns (phainomena) und den Dingen an sich (noumena) unterschied, gehen Roth/Strüber davon aus, dass uns mit unserem Bewusstsein, sowohl in der Ersten- als auch in der Dritten-Person-Perspektive direkt nur zwei Bereiche der Wirklichkeit zugänglich seien. Wirklichkeit I wäre demnach die in der Ersten-Person-Perspektive vollzogene Introspektion („Selbst“wahrnehmung), Wirklichkeit II die durch die äußeren Sinne wahrgenommene Außenwelt inklusive des eigenen Körpers. Die Realität (die Wirklichkeit an sich) ist unerkennbar. Über sie kann man deswegen nach Roth/Strüber lediglich spekulieren, jedoch keine gesicherten Erkenntnisse gewinnen, da sie die Grenzen unserer Erfahrungen überschreite. „Diese prinzipielle Unerkennbarkeit gilt selbstverständlich auch für dasjenige reale Gehirn, das vermutlich unsere Erlebniswelt hervorgebracht hat, und das schon allein aus logischen Gründen nicht mit unserem wirklichen Gehirn identisch sein kann. Der Produzent (das reale Gehirn) kann keine echte Teilmenge seines Produkts (unserer bewusst erfahrbaren Welt) sein!“22
Man könnte kritisch darauf hinweisen, dass der Begriff „Gehirn“ hier sowohl für das wirkliche Gehirn als auch für das reale Gehirn veranschlagt wird. Dies suggeriert eine größere Nähe des im Labor betrachteten Gehirns zur Realität im Vergleich mit den erlebten subjektiven Zuständen. Wäre es nicht unverfänglicher, den ganzen Menschen oder die Person als die Realität anzunehmen, an welcher die beiden Perspektiven entspringen?23 Roth/Strüber bemängeln, dass viele Philosophen die Kant‘sche erkenntnistheoretische Unterscheidung beim Argument der Erklärungslücke ignorieren. Dabei würden sie nicht bemerken, dass die drei fundamentalen Bereiche der bewussten Erlebniswelt, also der Wirklichkeit – nämlich Umwelt, Körper und Geist – ebenfalls Konstrukte des Gehirns bzw. der Person seien. Die Unterscheidung dieser drei Bereiche müsse von jedem Menschen im Laufe seiner kindlichen Entwicklung überhaupt erst gelernt werden. Deswegen dürfe man auch all das, was wir als geistig
21 AaO. 275f. 22 AaO. 276. 23 Vgl. dazu auch den Beitrag von Thomas Fuchs in diesem Band.
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erleben, nicht mit der Realität verwechseln, zu der wir prinzipiell keinen Zugang haben. Problematisch sei deswegen die Betonung der Unmöglichkeit, „das Entstehen ‚immaterieller‘ geistiger Entitäten aus dem ‚materiellen‘ Gehirn nachzuvollziehen.“ Denn dieser Anspruch enthalte die Vorstellung, dass man von der Erlebniswelt des wirklichen Gehirns auf die Ebene des realen Gehirns wechseln könne, was jedoch generell unmöglich sei. Damit wird das Argument der Erklärungslücke für Roth/Strüber hinfällig: „Die angebliche ‚fundamentale Erklärungslücke‘ ist also kein Mysterium, sondern folgt aus der erkenntnistheoretisch notwendigen Trennung von Wirklichkeit und Realität und der Konstruktivität unseres Gehirns.“24
Es dürfte hier den Autoren tatsächlich gelungen sein, die Möglichkeit einer erkenntnistheoretisch nicht schließbaren Erklärungslücke begründet zu haben. Vielleicht ist sogar der reale Zusammenhang von dem, was wir als Wirklichkeit in den beiden Perspektiven auf das materielle Gehirn und auf den introspektiv zugänglichen Geist getrennt wahrnehmen, nicht einmal als Modell in der Wirklichkeit abbildbar. Die empirische Wahrnehmung und die introspektiv erlebte Mentalität könnten zwei inkompatible Teilmodelle der einen Realität sein, die sich von uns nicht zur Deckung bringen lassen. Es gibt auch andere wissenschaftliche Theorien, die solche Bruchstellen enthalten und trotzdem akzeptiert sind. Ein einfaches Beispiel wäre die Frage nach dem realen zeitlichen Anfang im Standardmodell der Kosmologie. Etwas komplexer ist der Bruch im Modell der Quantentheorie, der als Zusammenbruch der Wellenfunktion bekannt ist.25 Ein letztes Argument für ihren nichtreduktionistischen Materialismus begründen Roth/Strüber durch einen Rückgriff auf die Synergetik. 1.5
Das Hakensche Versklavungsprinzip der Synergetik
Die Synergetik als Wissenschaft von offenen, nichtlinearen Systemen wurde wesentlich von Hermann Haken mitbegründet, der ursprünglich bei der Entwicklung der Lasertechnik maßgeblich beteiligt war. Auch das Versklavungsprinzip, auf das sich die Autoren beziehen, geht auf diese frühen Forschungen zurück. Die Synergetik befasst sich heute mit den Gesetzmäßigkeiten aller möglichen komplexen Systeme, seien es physikalische, biologische oder auch neurobiologische Systeme wie das Gehirn. Solche Systeme sind dadurch gekennzeichnet, dass sie aus Mikrostrukturen
24 Roth/Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 278. 25 Vgl. Ijjas, Der Alte mit dem Würfel, 144–146; Weinhardt, B., Das Modell des illibertaren Indeterminismus, 165–178.
Das Verhältnis von Geist und Gehirn im Spannungsfeld
bestehen (etwa aus Neuronen), die in einer Makrostruktur miteinander verbunden sind (etwa dem Gehirn) und die sich in verschiedenen Zuständen befinden können.26 Ein einfaches physikalisches Beispiel besteht in einem runden Gefäß, das mit Öl gefüllt ist. Wenn das Gefäß und die Flüssigkeit dieselbe Temperatur haben, ist der Zustand dieses Systems der eines gleichmäßigen Flüssigkeitsspiegels im Gefäß. Wenn das Gefäß aber von unten erhitzt wird, geht das Öl in eine andere Anordnung über: Es bilden sich wabenförmige Zellen in dem Gefäß, in deren Mitte die Ölmoleküle nach oben steigen und an deren Rändern sie wieder nach unten sinken. Wird nun der Rand des Gefäßes noch zusätzlich erhitzt, ordnen sich die Waben in Spiralen um, die eine unterschiedliche Zahl von Armen zeigen.27 Die Zustände des Systems hängen in diesem Beispiel von der Temperatur ab. Die Mikrostrukturen des Systems (Moleküle) ordnen sich in je unterschiedlichen Konfigurationen an, und es ist bei der Berechnung der Zustandsänderungen des Gesamtsystems nicht notwendig, alle Mikrostrukturen in die Rechnung einzubeziehen. Es reicht aus, viel einfachere Gleichungen aufzustellen, welche die Relation zwischen Temperatur und jeweiligem Zustand ausdrücken. Dabei gilt, dass es nicht für jeden Temperaturzustand einen stabilen Zustand gibt. Ferner handelt es sich in diesem Beispiel um ein selbstorganisierendes System, das bei einer Veränderung des Kontrollparameters, hier der Temperatur, spontan in eine relativ stabile Makrostruktur übergeht. Haken hat für die Vorgänge in derartigen Systemen den Begriff des Versklavungsprinzips formuliert, den auch Roth/Strüber für ihre Beschreibung von Gehirnvorgängen benutzen. Versklavung bedeutet nach Haken, dass die Teilelemente des Systems sich im Phasenübergang an den Ordnungsparametern orientieren, die für den nächsten stabilen Zustand gelten. Allerdings entstehen diese Ordnungsparameter (oder „Ordner“) aus den Naturgesetzmäßigkeiten, die zwischen den Teilelementen gelten. Die Zustände des Makrosystems ergeben sich also aus den natürlichen Eigenschaften der elementaren Einheiten. Es gibt eine zirkulare Kausalität zwischen Elementen, Teilstrukturen und Gesamtsystem.28 Die Weise, wie Haken seine synergetischen Grundbegriffe auf die „ewige Frage“ nach dem Verhältnis von „Geist und Materie“29 anwendet, entspricht nicht ganz der Roth/Strüberschen Vorstellung, macht dieselbe aber denkmöglich. Haken schreibt:
26 27 28 29
Vgl. Haken/Haken-Krell, Gehirn und Verhalten, 65–67. Vgl. aaO. 69f. Vgl. aaO. 80f. AaO. 258.
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„Es ist unsere Überzeugung, daß alle Wirkungen des Gehirns, die heutzutage als immateriell angesehen werden, mit materiellen Vorgängen verknüpft sind. [...] Andererseits glauben wir auf keinen Fall, daß die Eigenschaften des Geistes ein bloßes Ergebnis der materiellen Gehirnvorgänge sind. Unsere Ansicht beruht vielmehr auf dem Konzept der Ordner30 und dem Versklavungsprinzip, einschließlich der kausalen Zirkularität. Mit anderen Worten, unsere Interpretation ist, daß sich die abstrakten Vorgänge, die durch Ordner und deren Wechsel regiert werden, die materiellen Vorgänge, die durch die Teile, zum Beispiel die Neuronen, des Systems beschrieben werden, gegenseitig bedingen. Es mag sehr wohl sein, daß diese Feststellungen im Prinzip nicht prüfbar oder von philosophischer Natur sind.“31
Die Ordnungsparameter sind nach Haken fast ausnahmslos immateriell. Für das Leib-Seele bzw. Körper-Geist-Verhältnis stelle sich daher die Frage, wie eine immaterielle Größe beispielsweise die Muskelbewegung steuern könne. Für die rein mathematische Beschreibung liege hier kein Problem vor: Die zugrundeliegende Formel enthalte lediglich den Ordnungsparamenter und die Bewegungsgleichungen.32 Aber diese mathematische Beschreibung könne ebenso gut gedeutet werden in dem Sinne von „der Geist ist die Ursache für das Verhalten der Materie“ wie umgekehrt als „Materie bestimmt den Geist“. Zudem wäre noch die zirkuläre Deutung möglich: „Geist und Materie bedingen sich gegenseitig, oder Geist und Materie sind zwei Seiten der gleichen Münze“. Es gibt, so lautet Hakens Schlussbemerkung zum Thema, erst dann ein Problem, „wenn wir von der Mathematik zur Ontologie von Gehirn und Geist übergehen“.33 Die Ontologisierung der Hakenschen Sichtweise auf das Gehirn durch Roth/ Strüber interpretiert das Bewusstsein als Ordnungskraft der Gehirnvorgänge. Das Bewusstsein sei ein „physikalisches System ohne Ruhemasse (ähnlich den elektromagnetischen Wellen).“ Es sei aus mentalen Feldern aufgebaut, „die sich raumzeitlich organisieren und so eine virtuelle Gesamtwelt erschaffen, nämlich unseren Körper, die Welt um ihn herum und den Geist in seinen vielfältigen Erscheinungsformen.“ Die Grundlage für diese Felder seien „selbstorganisierende elektromagnetische Felder, wie sie sich im EEG zeigen“. Der bewusste Geist emergiert nach Roth/Strüber aus diesen elektromagnetischen Feldern, könne sie aber auch nach dem Versklavungsprinzip teilweise dominieren. Die Großhirnrinde erschaffe sich so „mit Geist und Bewusstsein eine höhere Organisationsebene, mit deren Hilfe sie ihre eigenen Aktivitäten ordnet. Dies ähnelt einer Gesellschaft, die eine Gruppe 30 Anstelle des Ordner-Begriffs wird in der Synergetik heute eher der Begriff Ordnungsparameter verwendet (Anm. der Autorin). 31 Haken/Haken-Krell, Gehirn und Verhalten, 259. 32 Vgl. aaO. 260. 33 AaO. 261.
Das Verhältnis von Geist und Gehirn im Spannungsfeld
von Lenkungskräften ausbildet, von denen sie sich dann ‚regieren‘ lässt.“ So wie eine Regierung eine gewisse Autonomie über die Regierten erhalte („manchmal eine zu hohe“), könne der Geist als partiell autonom gegenüber den biologischen und elektrodynamischen Funktionen des Gehirns gedacht werden.34 Roth/Strüber entscheiden sich also für eine nicht-materielle Interpretation von Hakens synergistischer Theorie. Es fehlen aber Argumente dafür, dass die von Hakens Theorie ebenfalls gedeckte reduktionistische Interpretation einfach fallen gelassen werden könnte. 1.6
Resümee: Die Denkmöglichkeit einer nicht-reduktionistischen Geist-Gehirn-Theorie
Um Roth/Strübers Argumente abschließend zu diskutieren, stellen wir diese noch einmal in aller Kürze zusammen. Das erste Argument35 lautet, dass das Bewusstsein als eine emergente Eigenschaft der Gehirnstruktur gedacht werden könne. Der Nichtreduktionismus wäre jedoch nur begründet, wenn es sich dabei um eine starke Emergenz handelte. Die Autoren halten aber einen Nachweis der starken Emergenz dauerhaft für unmöglich. Das zweite Argument36 behauptet, dass die Natur nicht nur aus Materie, sondern auch aus immateriellen Entitäten bestehe, wie etwa physikalischen Quantenobjekten. Der bekannte Eigenschaftsdualismus des Lichtes in der Quantenphysik dient dafür als Beispiel. Das Bewusstsein wird von den beiden Autoren in eine Analogie zu solchen Quantenobjekten gesetzt, die in manchen Situationen als Welle, in anderen als Teilchen erscheinen. Wie ist diese Analogie jedoch zu verstehen? Es ist offensichtlich, dass das Bewusstsein keine Entität ist, die in dieselbe Klasse wie Licht und andere Quantenobjekte gehört. Denn die Quantentheorie beschreibt Objekte, die in bestimmten Fällen physikalische Welleneigenschaften, in anderen Fällen Teilcheneigenschaften zeigen. Das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Gamma-Oszillation ist also keine genaue Entsprechung zum Wellen- und Teilchencharakter von bekannten Quantenobjekten. Die Analogie zwischen dem Bewusstsein und dem Licht müsste daher entweder so gefasst werden, dass die Gamma-Oszillation (elektromagnetische Welle, unbewusst, immateriell), der mentale Bewusstseinsstrom (immateriell) und eine neuronale Struktur (nicht bewusst) zusammen die drei Erscheinungsreihen einer Gesamtentität darstellen. Damit wäre ein Theoriemodell von Geist, Gehirn
34 Roth/Strüber, 279f. 35 Vgl. o. S. 96–99. 36 Vgl. o. S. 99f.
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und Gamma-Oszillation konstruiert. Diese Drei-Ebenen-Struktur ist bisher noch analogielos. Es handelt sich dabei also um eine neue Entität. Wie man sieht, ist die Roth/Strüber’sche Hypothese mit starken ontologischen Implikationen behaftet, die als solche natürlich nicht von vornherein ausgeschlossen werden können. Vielleicht verlangt die Lösung des Geist-Gehirn-Rätsels tatsächlich nach völlig neuen Modellen der Wirklichkeit. Es sollte jedoch deutlich ausgesprochen werden, dass dieser Weg zu einem nicht-reduktionistischen Verständnis des Bewusstseins mit einem anspruchsvollen Postulat verknüpft ist. Selbst wenn die Hypothese plausibilisiert werden könnte, würde damit zunächst lediglich die Möglichkeit einer physikalischen Emergenz des Geistes wie in Argument 1 modelliert. Damit dieser Prozess jedoch nicht reduktionistisch wäre, müsste zudem noch gezeigt werden, dass es sich um eine starke Emergenz handelt, was nach Roth/Strüber jedoch nicht angenommen werden kann. Das dritte Argument37 geht auf Immanuel Kants kritizistische Erkenntnistheorie zurück. So lange die sogenannte Subjekt-Objekt-Differenz noch nicht zur vollständigen Zufriedenheit Aller überwunden ist, dürfte es sich bei Kants Erkenntnistheorie um eine der vorsichtigsten Alternativen handeln. Man kann sie als Ausdruck der Maxime akzeptieren, möglichst nicht vorschnell einem Erkenntnisoptimismus zu verfallen, sondern sich die Erkenntnisbemühung möglichst schwer zu machen. Nun erscheint uns der Mensch in der Dritten-Person-Perspektive lediglich physisch, und dies gilt jeweils für die eigene Person wie die der anderen. Die Erscheinung des Menschen in der Ersten-Person-Perspektive hingegen ist stets nur die der eigenen Person. Das bedeutet, wir haben zwei verschiedene sinnliche Zugänge zur Physis und zur Mentalität, wenn man die innere Selbstwahrnehmung einmal als einen besonderen Sinn bezeichnet. Wir könnten also im Experiment auf unser eigenes Gehirn sehen, etwa durch bildgebende Verfahren, und wir könnten uns gleichzeitig innerlich selbst wahrnehmen. Wir haben jedoch kein Meta-Organ, das diese beiden Perspektiven zusammenführen kann. Dass es an uns als realen Individuen einen Zusammenhang beider Perspektiven gibt, legen die Wahrnehmungsreihen in der Wirklichkeit jedoch nahe. Die Kant’sche Erkenntnistheorie könnte es erlauben, einen noumenalen Gehirn-GeistZusammenhang zu modellieren, aber in die Erscheinung fiele er niemals. Der Streit zwischen Epiphänomenalismus und alternativen Theorien könnte also eine echte und damit dauerhafte Aporie sein. Wir sind daher nicht weitergekommen als bei Argument zwei. Kommen wir noch zum vierten Argument.38 Roth/Strüber bezogen sich auf das Haken’sche Versklavungsprinzip, wonach in einem komplexen System von
37 Vgl. o. S. 100–102. 38 Vgl. o. S. 102–105.
Das Verhältnis von Geist und Gehirn im Spannungsfeld
Zeit zu Zeit einzelne Subsysteme das Gesamtsystem und die anderen Subsysteme vollständig determinieren. Sie stellen sich vor, dass im Zustand des Bewusstseins das gesamte Gehirn von der Gehirnstruktur gesteuert werde, die bewusst erlebt wird. Nach Haken selbst könnte diese Steuerung aber sowohl epiphänomenal, parallelistisch oder top-down stattfinden. Die ontologische Interpretation der mathematischen Systembeschreibung ist nicht eindeutig. Auch hier entscheiden sich Roth/Strüber für die nicht-reduktionistische Variante, ohne dabei offen zu legen, dass es sich hier um eine ontologische Setzung handelt, wenn auch – in den Augen der Verfasserin – um eine sympathische.
2.
Ergebnisse und Ausblicke
Wenn wir diese Überlegungen noch einmal verdichten und weiterführen, kommen wir zu folgenden Ergebnissen und Ausblicken. 2.1
Ein bedenkenwertes neurobiologisches nicht-reduktionistisches Modell
Roth/Strüber ist es gelungen aufzuzeigen, dass die neurobiologische Theoriebildung zur Geist-Gehirn-Thematik nicht unbedingt zu einem reduktionistischen Menschenbild führen muss. Es ist sehr begrüßenswert, dass sich Naturwissenschaftler um eine philosophische und damit eine gesamtgesellschaftliche Anschlussfähigkeit ihrer Forschung bemühen. Unter Rückgriff auf erkenntnistheoretische Reflexionen und auf die Synergetik konnten Roth/Strüber dem Bewusstsein eine wesentliche Funktion in der menschlichen Lebensführung zuweisen. Ob aber diese oder ähnliche Hypothesen einmal empirisch oder theoretisch plausibilisiert werden können, wird sich noch zeigen müssen. Der Verweis auf Kant zeigt, dass es sich bei dem vorliegenden Problem vielleicht sogar um ein definitiv unentscheidbares handeln könnte, also um eine echte Aporie. Die Geist-Gehirn-Debatte könnte damit als weltanschaulich umkämpftes Thema der Menschheit dauerhaft erhalten bleiben. Wichtiger scheint mir zu sein, dass hinter dem Epiphänomenalismusproblem auch die Frage nach der Ontologie auftaucht. Denn ohne minimale ontologische Hypothesen kommt auch eine Naturwissenschaft wie die Neurobiologie nicht aus. Mit dieser Feststellung dürfte wohl auch einer der wichtigsten Punkte für den interdisziplinären Dialog bezeichnet sein. Wenn die Naturwissenschaftler keine Reduktionisten und die Geisteswissenschaftler keine Metaphysiker mehr sein wollen – könnte es dann einmal wieder gemeinsame Begriffe von der Wirklichkeit geben, und damit eine geteilte Ontologie?
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2.2
Metaphysikkritik und Ontologie in der evangelischen Theologie
Die Verabschiedung des „Übernatürlichen“ bei Roth/Strüber bezieht sich auf die platonische Seelenmetaphysik, die über die antike christliche Theologie und Anthropologie in Europa heimisch wurde und bis in die frühe Neuzeit hinein als selbstverständlich galt.39 Demnach überdauert die unsterbliche Seele den körperlichen Tod des Menschen, und während des irdischen Lebens steuert sie willensfrei die Handlungen der Personen. Seit dem 18. Jahrhundert wurde diese platonisch-metaphysische Seelenvorstellung massiv durch materialistische Ärzte und Philosophen angegriffen. Dem setzte sich die Philosophie des Idealismus entgegen. Mit dem Abklingen der idealistischen Philosophie nahm die Kritik an der unsterblichen Seele wieder zu und setzte sich auch in den Naturwissenschaften weitgehend durch.40 Interessanterweise kam es auch in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts zu einem ersten antimetaphysischen Umschwung, der sich allerdings nicht auf die Anthropologie bezog, sondern sich gegen platonisch-metaphysische Verfremdungen in der Gotteslehre richtete. Es waren der Theologe Albrecht Ritschl und seine Schüler, die seit ca. 1870 für die Ausscheidung metaphysischer, d. h. antik-philosophischer Theorien aus der Systematischen Theologie eintraten. Dieser metaphysikkritische Blick verdankte sich bei dieser Gruppe allerdings nicht primär dem Fortschritt der modernen Naturwissenschaften, sondern entsprang Einsichten der historischen Kritik. In ihrem Licht konnte man die biblischen Texte mehr und mehr ohne die späteren dogmatischen Eintragungen wahrnehmen, die sie in einer Jahrhunderte langen kirchlichen Auslegungsgeschichte erfahren hatten. Immerhin nahm Ritschl selbst die naturwissenschaftliche Kritik an der unsterblichen Seele so ernst, dass er den leiblichen und seelischen Tod des Menschen nicht mit dem mythologischen Sündenfall nach Gen 3 begründen wollte. Dabei kommt er auf eine von Theologen vertretene Vorstellung zu sprechen, wonach Adam und Eva tatsächlich als sterbliche Wesen erschaffen worden seien, denen die Unsterblichkeit erst dann verliehen worden wäre, wenn sie das göttliche Gebot nicht übertreten hätten.
39 Vgl. Roth/Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, 36–46. 40 Vgl. dazu den Beitrag von Dirk Evers über die Identität des Menschen in der Auferstehung in diesem Band.
Das Verhältnis von Geist und Gehirn im Spannungsfeld
Solche Vorstellungen hält er jedoch für spekulativ und daher nicht theologisch vertretbar.41 Einige Jahrzehnte später setzte sich in der evangelischen Theologie dann die Lehre von der vollständigen Vergänglichkeit des Menschen durch. Hier zeigt es sich, dass die Erkenntnisse der Naturwissenschaft und die Einsichten der historisch-kritischen Exegese sich gegenseitig so verstärken, dass neue systematisch-theologische Theorien entstanden. Auch an anderen Stellen erscheinen seither manche biblischen Vorstellungen mit modernen Theorien oft kompatibler zu sein als mit metaphysischen Paradigmen, die in der Antike und im Mittelalter in die christliche Theologie eingeflossen sind. Aus evangelisch-theologischer Perspektive spricht deswegen nichts dagegen, die von Roth/Strüber bevorzugte nicht-reduktionistische Hypothese über den Zusammenhang von Geist und Gehirn als naturwissenschaftliche Bezugsebene für die Theologie zu akzeptieren. So könnten die spezifisch theologischen Aussagen über den menschlichen Geist bzw. die menschliche Seele in einem zeitgemäßen Vorstellungsrahmen ausgedrückt und allgemeinverständlich kommuniziert werden. Die oben gestellte Frage nach der von Naturwissenschaften und Theologie geteilten Ontologie wäre also folgendermaßen zu beantworten: Die evangelische Theologie hat kein Interesse daran, den von Roth/Strüber abgelehnten „übernatürlichen“ Geist, also die unsterbliche Seele, zu verteidigen. Menschliche Personen sind in beiden Wissenschaftsperspektiven Entitäten, die einen ganzheitlichen Anfang und ein ganzheitliches Ende haben. Die gemeinsame Entität von Naturwissenschaften und Theologie wäre damit der biologisch betrachtete Mensch in der ihm von Natur aus zugehörigen, aber geschichtlich kontingent ausgeprägten Sozialität. In der Neurobiologie sind derzeit zwei mögliche Leitvorstellungen über den Zusammenhang von Geist und Gehirn des biologischen Menschen möglich, nämlich die reduktionistische und die nicht-reduktionistische, da es bei der Verhältnisbestimmung der beiden Entitäten eine Erklärungslücke gibt. So lange die Lücke nicht geschlossen ist, muss sowohl die reduktionistische als auch jede nicht-
41 Vgl. Albrecht Ritschl, Dogmatikvorlesung 1866/67 (erscheint 2022), § 54: Der Tod: Es „darf gegenüber einem solchen Geheimniß, wie der Tod ist, an den Grundsatz erinnert werden, daß es auch eine scientia et ars nesciendi giebt. [...] Aber man soll sich enthalten, diese Ansicht durch theoretische Consequenzen zu erproben; also etwa, daß wenn die Menschen nicht gesündigt hätten, sie die Unsterblichkeit des Leibes in allmählicher Entwicklung erworben hätten, oder daß auch die Thiere erst seit Adams Sündenfall sterblich geworden seien. Durch solche unbeweisbare Hypothesen, an denen wir gar kein, geschweige ein religiöses Interesse haben, würde man nur die biblische religiöse Ansicht lächerlich machen. Wenn auch jene sittliche Schätzung des Todes und unsere Naturwissenschaft sich nicht decken, so ist es eine ganz falsche Forderung an unsere Erkenntnißthätigkeit, daß wir in jedem Falle die Spannung zwischen den Gesetzen der Naturerkenntniß und denen der sittlichen Welt lösen sollen. Wir haben eben an dem Leibe nicht nur ein Organ, sondern auch eine Schranke insofern, als wir auch in der Wissenschaft nicht allwissend sein können.“
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reduktionistische Interpretation als wahrheitsfähige Hypothese betrachtet werden. Für die Neurobiologie als reine Naturwissenschaft wäre es gleichgültig, welche dieser beiden Hypothesen sich gegebenenfalls durchsetzen würde – was für Roth/ Strüber interessanterweise nicht zutrifft. Die Theologie hingegen hat es grundsätzlich mit dem kommunikativen Verhältnis zwischen Gott und menschlichen Personen zu tun, so dass sie unter der Voraussetzung einer reduktionistischen mind-brain-Relation um eine ihrer Grundannahmen gebracht wäre. Ferner richtet sich die jüdisch-christliche Hoffnung auf die Auferweckung der Toten und die damit verbundene Herstellung endgültiger Gerechtigkeit und unbeschädigten Lebens für alle Personen. Für die auf das Christentum bezogene Theologie bedeutet dies – wissenschaftstheoretisch ausgedrückt – mit einer weiteren Hypothese zu arbeiten, nämlich mit der ontischen Möglichkeit von auferweckten Personen. Es fragt sich, ob die im Sprachspiel der Wissenschaft als ontische Hypothese ausgedrückte Hoffnung auf die eschatische Welt Gottes ebenfalls dem Metaphysik-Verdacht verfallen muss. Meines Erachtens müsste dies weder im Rahmen des kritischen Rationalismus noch des Post-Strukturalismus von vorneherein bejaht werden. Denn einerseits entspricht der Inhalt dieser Hypothese der stark ausgeprägten Kontingenzerwartung42 beider Positionen. Andererseits steht aber sowohl die genannte Erkenntnistheorie als auch die postmoderne Philosophie in der Wirkungslinie der Überwindung des Positivismus, so dass hier ebenfalls kein durchgängiger Gegensatz zur Theologie besteht. Diese steht also vor der Aufgabe, die eschatologiebegründenden Texte des Neuen Testaments lebensweltlichhermeneutisch so auszulegen, dass sie nicht als metaphysikverdächtige Dogmen missverstanden werden, sondern den ontischen Möglichkeitsraum zwischen bisheriger Erfahrung und zukünftiger, kontingenter Wirklichkeit erschließen.
Literatur Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin 20083 Beckermann, Ansgar: Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung in die Philosophie des Geistes, Paderborn 20112 Birke, Marcus: Art.: Materialismus 1, in: Metzler Lexikon für Philosophie, www.spektrum.de/ lexikon/ philosophie/materialismus-1/1272 (18.07.2020)
42 Vgl. Braver, Kontinentale Philosophie, in: Schrenk (Hg.), Handbuch Metaphysik, (65–73) 72f.; Holzinger, Markus, Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie, Bielefeld 2007, 266.
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Braver, Lee: Kontinentale Philosophie, in: Schrenk, Markus (Hg.) Handbuch Metaphysik, 65–73, Stuttgart 2017 Clayton, Philip: Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus, Göttingen 2008 Haken, Hermann / Haken-Krell, Maria: Gehirn und Verhalten. Unser Kopf arbeitet anders, als wir denken, Stuttgart 1997 Herff, Christian / Heger, Dominic / Pesters, Adriana de / Telaar, Dominic / Brunner, Peter / Schalk, Gerwin / Schultz, Tanja: Brain-to-text: decoding spoken phrases from phone representations in the brain. Front Neurosci. 2015 Jun 12;9:217. doi: 10.3389/fnins.2015.00217. PMID: 26124702; PMCID: PMC4464168 Holzinger, Markus: Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie, Bielefeld 2007 Ijjas, Anna: Der Alte mit dem Würfel. Ein Beitrag zur Metaphysik der Quantenmechanik, Göttingen 2011 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Werke in zehn Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Band 3/4 Mahner, Martin: Naturalismus. Die Metaphysik der Wissenschaft, Aschaffenburg 2018 Nagel, Thomas: What is it like to be a bat? Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, hg.v. Ulrich Diehl, Ditzingen 20204 Ritschl, Albrecht: Dogmatikvorlesung 1866/67, Tübingen 2022 Roth, Gerhard: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?, in: Geyer, Christian (Hg.) Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main 2004, 66–85 Roth, Gerhard/Strüber, Nicole: Wie das Gehirn die Seele macht, Frankfurt am Main 20182 Soon, Chun Siong/He, Anna Hanxi/Bode, Stefan/Haynes, John-Dylan: Predicting free choices for abstract intentions, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 110, 2013, 6217–6222 Weinhardt, Birgitta Annette: Das Modell des illibertaren Indeterminismus. Lebensführung jenseits von Willensfreiheit und Fatalismus. Ein philosophisch-theologischer Entwurf im Dialog mit den Naturwissenschaften, Göttingen 2018
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Wer bin ich? Philosophische und theologische Einwände zur epiphänomenalistischen, neurowissenschaftlich geprägten Bewusstseinstheorie Thomas Metzingers
1.
Die Fragestellung
„Cogito ergo sum“ – „ich denke, also bin ich“ – alles kann nach René Descartes bezweifelt werden, nur nicht, dass ich es bin, der da zweifelt. Mit diesem Ansatz schien die neuzeitliche Philosophie einen archimedischen Punkt gefunden zu haben. Bei der Suche nach letzter Gewissheit werden wir auf unser Ich, das zwar zweifeln, aber nicht bezweifelt werden kann, verwiesen.1 Bildet also dieses „Ich denke“ in einem wichtigen Strang der neuzeitlichen Philosophie den Ausgangspunkt jeder gesicherten theoretischen Erkenntnis, kommt mit Immanuel Kant auf dem Weg der praktischen Vernunft noch das Postulat der Unsterblichkeit hinzu. Zwar liegt für Kant die Unsterblichkeit der Seele jenseits des Erkennens der reinen Vernunft, doch ergibt sich aus der Unbedingtheit der Forderungen der Moral ein unendlicher Fortschritt, also eine unendliche Zeit zur Verwirklichung des höchsten Guts.2 Das Ich, das nach dem unbedingten Sittengesetz in der Welt handeln muss, kann nicht im Tod enden. So beginnt am Ich alles gewisse Denken und nimmt alles Handeln seinen Ausgang. Und dieses Ich muss über den Tod hinaus bestehen bleiben.
1 Auch Kant geht von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption aus: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; […] Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori zu bezeichnen.“ (Kant: KrV, B131f.). 2 „Also ist das höchste Gut praktisch nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich; mithin diese, als unzertrennlich mit dem moralischen Gesetz verbunden, ein Postulat der reinen praktischen Vernunft (worunter ich einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt)“ (Kant: KpV, AA 05, 122).
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Rainer Mogk
Auch etliche einflussreiche theologische Konzepte setzen im 19. und 20. Jahrhundert nicht bei Aussagen über Gott an sich an, sondern beim Sichersten und Nahsten, beim Ich des Menschen.3 Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (Friedrich Schleiermacher), das Selbstgefühl (Wilhelm Herrmann) oder der Weg zur Eigentlichkeit (Rudolf Bultmann) bilden nun die Basis einer darauf aufgebauten Theologie. Vom eigenen Ich her kommt der Mensch zur Rede von Gott.4 Diese theologischen Ansätze beim Ich, genauer gesagt beim Selbst im Sinne des Selbstbewusstseins5 , das aus der Innenperspektive bzw. dem eigenen Erleben stammt, erzeugen eine hohe Plausibilität und Allgemeingültigkeit, denn jede und jeder kann diesen archimedischen Punkt an bzw. in sich selbst verifizieren. Und weil „ich“ meine Sinneseindrücke und Gedanken scheinbar direkt und unmittelbar für mich erlebe, legt es sich durchaus nahe, dass es sich hierbei um ein nicht physikalisch reduzierbares Faktum menschlicher Existenz handelt. Doch was wird aus dieser Grundlage, wenn unter dem Einfluss neuerer Erkenntnisse der Neurowissenschaften das Selbst als eine nachträgliche Konstruktion des Gehirns begriffen wird, das in uns eine Einheit, Kontinuität und Meinigkeit erscheinen lässt, die es „an sich“, über bloß stoffliche Vorgänge hinaus, gar nicht gibt? Kann „ich“ noch in einer besonderen Beziehung zu Gott stehen, wenn das Selbst nur eine Illusion sein sollte? Gibt es „mich“ überhaupt noch, wenn „ich“ etwas anderes ist als die Person, als die ich mich gemeinhin wahrnehme?
3 „Die Konzentration der neuzeitlichen Philosophie auf den Menschen als Subjekt aller Erfahrung wie auch der philosophischen Reflexion selber mußte sich auch auf die Theologie auswirken.“ (Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 12). Auch die Fokussierung der Theologie auf das Heil des Individuums hat für Pannenberg dabei eine Rolle gespielt. 4 Katholischerseits geht z. B. Klaus Müller in ähnliche Richtung (s. ders.: Wenn ich „ich“ sage: Studien zur fundamentaltheologischen Relevanz selbstbewußter Subjektivität. Frankfurt am Main 1994 und ders.: Glauben - fragen - denken. Band 3: Selbstbeziehung und Gottesfrage, Münster [2010]). 5 Wir verwenden nun hauptsächlich den Begriff „Selbst“. Während „Ich“ auch bloß das Subjekt eines Prädikats sein könnte, ist im „Selbst“ immer schon das sich-zu-sich-selbst-Verhalten mitgesetzt. Kritisch gegen die Rede vom Ich bzw. Selbst wendet sich Ansgar Beckermann: „Descartes vertritt nicht die These, sein Ich sei eine denkende Substanz; vielmehr behauptet er, er selbst (Descartes) sei eine denkende Substanz.“ (Ansgar Beckermann: Die Rede von dem Ich und dem Selbst. Sprachwidrig und philosophisch höchst problematisch. In: ders: Aufsätze Band 1: Philosophie des Geistes. Bielefeld 2012, 300). Doch gibt auch Beckermann zu, dass vielleicht die meisten Philosophen mit Ich bzw. Selbst den Wesenskern einer Person meinen (ebd., 301). Uns geht es an dieser Stelle nicht um eine ontologische Festlegung dessen, was das Selbst genau sein soll, sondern darum, dasjenige zu bezeichnen, das nicht nur Träger von Handlungen, Empfindungen, Gefühlen und Gedanken ist, sondern das sich auch zu sich selbst verhält (im Sinne der Kierkegaardschen Definition von Selbst in „Krankheit zum Tode“).
Wer bin ich?
Weil solche neurowissenschaftlich geprägten Bewusstseinstheorien dem subjektiven Empfinden diametral widersprechen, wollen wir zunächst darlegen, wie man überhaupt darauf kommt, das Selbst als illusionär zu betrachten. Danach werden wir Thomas Metzingers Ego-Tunnel als ein naturwissenschaftlich geprägtes, aber auch philosophisch durchdachtes Selbstkonzept vorstellen und diskutieren. Es wird also ein reduktionistisches, genauer epiphämomenalistisches Denkmodell behandelt. Abschließend wird angedeutet, an welchem Punkt aus philosophischer Sicht der Epiphänomenalismus zu kurz greift. Von Seiten der theologischen Anthropologie werden mit Pannenberg idealistische Argumente vorgebracht, die Gott und die Mitmenschen für die Konstitution des Selbst für notwendig erachten.
2.
Hinführung zum Bewusstseinsproblem: Experimente zum Körperbewusstsein und zu Körperillusionen
Fasse ich mit meinem Finger auf eine heiße Herdplatte, habe ich den Eindruck, direkt den Schmerz an meinem Finger zu empfinden. Natürlich bin ich darüber aufgeklärt, dass für mein Schmerzempfinden elektrische Impulse in Nervenbahnen vom Finger bis ins Gehirn fließen müssen. Und sollte diese Nervenbahn durch eine örtliche Betäubung unterbrochen sein, würde ich nichts spüren. Doch bin immer „ich“ es, der „meinen“ Schmerz empfindet. Ich kann auch mit Worten beschreiben, wie sich der Schmerz für mich anfühlt. Und doch scheint es da etwas Besonderes zu geben, was dieses Ich ausmacht, das meinen Schmerz erlebt. Wir werden auf dieses Problem zurückkommen. Nun aber fragen wir zunächst: Wie wird unser Körper in unserem Gehirn wahrgenommen? Dazu möchte ich drei interessante Experimente anführen, die auch schon Metzinger behandelt. 2.1
Rubber Hand Illusion
Bei dem „Rubber Hand Illusion“6 genannten Experiment geht es darum, dass eine künstliche Gummi-Hand, die neben der verdeckten echten Hand liegt, durch entsprechende synchrone Stimulation mit zwei Pinseln nach einiger Zeit als zum
6 Matthew Botvinick und Jonathan Cohen: Rubber hands ‘feel’ touch that eyes see. In: Nature, Band 391, 1998, 756. Fortführung bei Manos Tsakiris und Patrick Haggard: The rubber hand illusion revisited: visuotactile integration and self-attribution. In: Journal of Experimental Psychology. Human Perception and Performance. Band 31/1, 2005, 80–91.
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eigenen Körper dazugehörig empfunden wird. Das Gehirn gleicht dabei Widersprüche zwischen den Sinneseindrücken der Augen und dem Tastsinn der Hände aus. Die Repräsentation dieses Phänomens im Gehirn kann nachgewiesen werden. Für uns ist dabei wichtig, dass eine falsche Hand als die Meinige empfunden werden kann. 2.2
In einem anderen Körper sein
Es ist aber nicht nur möglich, eine künstliche Hand als zum eigenen Körper zugehörig zu empfinden, sondern man kann sich sogar auch als in einem virtuellen Körper befindlich wahrnehmen. Mittels 3-D-Brille sieht sich ein Proband zwei Meter vor sich stehend von hinten. Sein Rücken und der seines virtuellen Doubles vor ihm werden synchron stimuliert. Wieder entsteht im Gehirn der merkwürdige Eindruck, sich auch in diesem anderen Körper vor sich zu befinden.7 2.3
Out of Body Experience
Doch es ist sogar noch mehr möglich: Der Eindruck, oberhalb seines eigenen Körpers zu schweben – bisher als eine seltene Störung unter Drogen, bei Kreislaufversagen und bei Nah-Tod-Erfahrungen beschrieben – konnte mittels elektrischer Stimulationen im Gehirn erzeugt werden.8 Dabei sieht sich die Person in einem anderen Körper, als sie sich zu befinden fühlt, wobei der Sitz des Selbst im gefühlten Körper zu sein scheint. 2.4
Folgerungen
Offensichtlich sind also multisensorische Körpersignale für das Ich-Bewusstsein und seine Verortung wichtig. Die scheinbar selbstverständliche Lokalisation des Selbst in unserem eigenen Körper kann – auch künstlich – gestört werden. Das spricht dafür, dass es sich um eine Leistung des Gehirns handelt, verschiedene Sinneseindrücke zu einem Ganzen zusammenzusetzen und diesen Körper mit dem Gefühl der Meinigkeit zu versehen.
7 Bigna Lenggenhager, Tej Tadi, Thomas Metzinger und Olaf Blanke: Video Ergo Sum: Manipulating Bodily Self-Consciousness. In: Science, Band 317, 2007, 1096–1099. 8 Olaf Blanke, Stephanie Ortigue, Theodor Landis und Margitta Seeck: Stimulating illusory own-body perceptions. In: Nature. Band 419, 2002, 269–270 sowie: Olaf Blanke, Bigna Lenggenhager und Lukas Heydrich: Mein Körper und ich. In: Geist und Gehirn. 2009, 60–63.
Wer bin ich?
3.
Das Selbst als Illusion – Kernthesen aus Thomas Metzingers „Der Ego-Tunnel“9 (2009/2014)
Und genau diese Funktion, ein Ganzes für uns selbst zur Verfügung zu stellen, macht das Selbst aus. Das Gehirn aktiviert ein sogenanntes „phänomenales Selbstmodell“, also ein bewusstes Modell des Organismus als Ganzes.10 Wie beim Arbeitsspeicher eines Computers werden größere Datenmengen gleichzeitig verfügbar gemacht. Ähnlich wie ein Apfel, der vor mir auf dem Tisch liegt und den ich sehe oder befühle, in meinem Gehirn abbildet wird und ich ihn mir auch noch vorstellen kann, wenn er nicht mehr vor mir liegt, gibt es irgendwie auch eine Repräsentation meines Selbst insgesamt, indem die Daten mir im „Jetzt“, also als in der erlebten Gegenwart erscheinen und sich mit dem Gefühl der Meinigkeit verbinden. Doch wie diese Daten uns erscheinen bzw. welcher innere Zustand diesen Gehalt trägt, können wir selbst nicht mehr wahrnehmen. Ich „sehe“ ja auch nur den Apfel, aber nicht seine Repräsentation in meinem Gehirn. Ich „sehe“ also nicht, wie und welche Neuronen welche Impulse im Gehirn senden, damit ich den Apfel erkenne. Darum wird dieses phänomenale Selbstmodell fast völlig transparent genannt. Das heißt: diese bewusste Repräsentanz ist für uns unsichtbar. Und nur indem unser bewusstes Selbstmodell transparent ist, kann es überhaupt das robuste bewusste Erleben, ein Selbst zu sein, in uns verursachen.11 Im Fall der oben beschriebenen Störungen können wir erahnen, dass und wie das Gehirn das Selbst erst erzeugt12 . Die Kernthese Metzingers dazu lautet: „Letztlich ist subjektives Erleben ein biologisches Datenformat, eine innere Form des Gegebenseins, eine hochspezifische Weise der Präsentation von Information über die Welt, bei der diese so erscheint, als wäre sie das Wissen eines Ego. In Wirklichkeit aber existiert so etwas wie ‚das‘ Selbst nicht.“13
9 Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. München 2 2014. Thomas Metzinger ist Professor für theoretische Philosophie an der Universität Mainz und sieht seine Wurzeln in der Analytischen Philosophie und in der Phänomenologie (s. Metzinger, Ego-Tunnel, 16f.) 10 Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 20. 11 Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 25. „Die zentrale These dieses Buches ist, dass das bewusste Erleben, ein Selbst zu sein, genau dadurch entsteht, dass ein großer Teil des Selbstmodells in unserem Gehirn […] transparent ist.“ (ebd., 299). 12 Und auch im Tiefschlaf wird das Selbstbewusstsein abgeschaltet. 13 Metzinger: Ego-Tunnel, 25; vgl. ebd., 299. „Das Selbst ist kein ontologischer, autonomer, transtemporal stabiler und fundamentaler Baustein der Wirklichkeit, der seine Existenz aus eigener Kraft aufrechterhalten kann.“ (Thomas Metzinger: Das Selbst. In: Markus Schrenk (Hg.): Handbuch Metaphysik. Stuttgart und Weimar 2017, ausführlichere Online-Rohfassung [https://www.
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Um zu veranschaulichen, wie das Gehirn arbeitet, können wir uns einen Flugsimulator vorstellen. Hierbei werden dem Piloten Bilder und Bewegungen vorgespielt, damit er den Eindruck bekommt, er flöge selbststeuernd durch die Gegend. So wie ein Simulator erzeugt das Gehirn uns den Eindruck, wir würden als Selbst unseren Körper bzw. unser Leben lenken. „Das Gehirn ist wie ein totaler Flugsimulator, ein selbstmodellierendes Flugzeug, das nicht durch einen Piloten gesteuert wird, sondern in seinem eigenen inneren Flugsimulator ein komplexes internes Bild von sich selbst generiert hat.“14 Nur hat dieser Pilot, Ego genannt, weil er in den Simulator hineingeboren wurde, keine Möglichkeit zu merken, dass er sich darin befindet.15 Das Gefühl der Agentivität, also der Eindruck, dass ich etwas tun will und dann auch tue, entsteht aus dem Vorgang, bei dem das Bewusstsein der Absicht mit einer inneren Darstellung der eigenen aktualen Körperbewegung verbunden wird.16 Bei der Agentivität handelt es sich also ebenfalls um eine Illusion. In Wirklichkeit geht neurologisch betrachtet die Entscheidung, etwas zu tun, der gedachten Absicht voran. Hierzu wird auf einschlägige neurologische Versuche, insbesondere auf Libet-Experiment, verwiesen. Streng genommen gibt es aber auch ein Selbst, das über sich selbst getäuscht würde, gar nicht,17 ebenso wenig wie eine Essenz in uns oder etwas Unzerteilbares bzw. Substantielles, das über die Zeit hinweg gleich bliebe – weder im Gehirn noch in einer metaphysischen Sphäre.18 Wir besitzen kein kleines „Männchen“, das in unserem Kopf sitzt.19 Wir sind mit den Worten Metzingers „selbstlose EgoMaschinen“20 ; „[…] das Ego ist lediglich ein komplexes physikalisches Ereignis – ein Aktivierungsmuster in unserem zentralen Nervensystem.“21 Es baut sich vielmehr ein selektiver Wahrnehmungstunnel auf, der sogenannte Ego-Tunnel. Die Tunnel-Metapher besagt, dass wir mit unseren Sinnen nur einen Bruchteil der Informationen aus unserer Außenwelt aufnehmen. Unser Erleben ist also „weniger ein Abbild der Wirklichkeit als vielmehr ein Tunnel durch die Wirklichkeit.“22 Wir stehen also nicht in direktem Kontakt zur Außenwelt oder
14 15 16 17 18 19 20 21 22
philosophie.fb05.uni-mainz.de/files/2013/04/Das_Selbst_penultimate-1.pdf {28.2.20}], 2). Diese Argumentationsfigur erinnert an Hans Vaihingers Philosophie des Als-Ob. Metzinger: Ego-Tunnel, 164. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 162ff. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 193. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 302. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 15 u. 301 Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 300 u. 24. Metzinger: Ego-Tunnel, 301. Metzinger: Ego-Tunnel, 300. Metzinger: Ego-Tunnel, 23.
Wer bin ich?
uns selbst, sondern „wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel.“23 Mit dem Ego-Tunnel versucht Metzinger, die verschiedenen naturwissenschaftlichen Beobachtungen in einem neuen Beschreibungsmodell zusammenzuführen. Um aufzuhellen, warum es dann überhaupt Bewusstsein beim Menschen gibt, verweist Metzinger auf evolutionäre Vorteile. Der evolutionäre Sinn des Bewusstseins bestehe darin, bestimmte Klassen von Tatsachen für einen Organismus global verfügbar zu machen. So kann der Mensch seine Aufmerksamkeit auf sie richten, über sie nachdenken, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden und in einer flexiblen Weise, die automatisch den Gesamtkontext berücksichtigt, auf sie reagieren.24 Er kann durch Empathie andere verstehen und komplexe Gesellschaften bilden.25 Dieses von ihm vorgelegte neue Selbstkonzept feiert Metzinger als eine nie dagewesene Bewusstseinsrevolution,26 die die „Entzauberung des Selbst“27 betreibt. Diese Revolution, die stärker als alle bisherigen naturwissenschaftlichen Revolutionen das Bild von uns selbst verändern wird und die die Schere zwischen Ahnungslosen und wissenschaftlich Erkennenden vergrößern wird28 , stehe freilich erst am Anfang. Das jahrhundertelange philosophische Suchen nach einer Theorie des Geistes wandle sich in ein empirisches Projekt.29 Aber erst in Zukunft wird es möglich sein, Empfindungen, Einfühlung, Dankbarkeit und sogar religiöse Ekstase über Neuronen hervorzurufen oder wieder zu löschen.30 Wenn also alle Bewusstseinszustände letztlich physikalisch-neuronale Vorgänge sind, wird man sie auf dieser Ebene auch erzeugen und steuern können. Metzinger weiß durchaus, dass diese neue Sicht dem natürlichen Empfinden der Menschen widerspricht, ja widersprechen muss, insofern ein Selbstbewusstsein seine Erzeugung nicht wahrnehmen kann bzw. auf einem naiven Realismus basiert. Wir erleben uns als in direktem Kontakt mit dem Inhalt unseres Bewusstseins.
23 24 25 26 27
Metzinger: Ego-Tunnel, 24. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 93ff. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 21. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 17. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 308. In Anlehnung an Max Webers Rede von der „Entzauberung der Welt“. 28 Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 309f. 29 Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 312, 40. Spätestens diese – von Zukunftsfantasien mit hoher Selbstgewissheit, Predigtstil und dick aufgetragenem Pathos getragenen – Aussagen lassen den Naturalismus von einem wissenschaftlichem Unterfangen in eine Weltanschauung kippen (Mutschler stellt Ähnliches auch bei Daniel Dennett fest [s. Hans-Dieter Mutschler: Bewusstsein. Was ist das? Leipzig 2018 {= ThLZ.F 34}, 61]). 30 Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 40.
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Aber auch die Vorstellung, wir müssten sterben, kränkt nach Metzinger unser Selbstwertgefühl. Deswegen entwickeln wir Metaphysik und religiöse Vorstellungen einer Unsterblichkeit der Seele.31 Für die Zukunft empfiehlt Metzinger Meditation im Sinne fernöstlicher Spiritualität, die zur Lösung des Menschen von seinem Selbst beitragen kann, statt der für ihn nun obsolet gewordenen christlich-jüdischen Religionen und ihrer Vertreter, die sich ängstlich an ihre überkommene Metaphysik klammerten.32 Sportlehrer für den weltanschaulich neutralen Meditationsunterricht werden künftig statt Religionslehrern gebraucht werden.33
4.
Zwischenbilanz
Metzinger geht davon aus, dass das Christentum auf einer natürlichen Verbindung des Menschen zu Gott auf Grundlage einer unsterblichen Seele basiert. Diese Basis ist für ihn nun hinfällig geworden. Doch noch weiter geht seine reduktionistische bzw. epiphänomenalistische34 Behauptung, dass es das Selbst des Menschen nicht gibt. Der Mensch ist nur eine Ego-Maschine ohne Selbst. An diesen beiden Punkten möchte ich nun mit der kritischen Auseinandersetzung ansetzen.
5.
Theologisch-philosophische Entgegnungen
5.1
Zur Unsterblichkeit der Seele
Kurz gesagt basiert die – für die Theologie durchaus lange Zeit dominierende – Lehre von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele auf dem Einfluss der griechischen Philosophie in der Alten Kirche und im Mittelalter35 . Dem Alten Testament lag der Gedanke einer unsterblichen Seele noch fern. Erst gegen Ende der alttestamentlichen Zeit entsteht eine Hoffnung auf Totenauferweckung36 . Und auch
31 32 33 34 35 36
Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 304f. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 373, 378 u. 385. Vgl. Metzinger: Ego-Tunnel, 361. Metzinger selbst nennt seine Position anti-realistisch (Metzinger: Selbst, 2). Katholischerseits erfolgte die Dogmatisierung auf dem Fünften Laterankonzil (1512–17). Vgl. Jörg Jeremias: Theologie des Alten Testaments. Göttingen 2015/2017 (= GAT 6), 454ff. und Bernd Janowski: Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder. Tübingen 2019, 50ff., 83ff. u. 491ff.
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die neutestamentliche Eschatologie gründet sich nicht auf dem Gedanken eines unsterblichen Seelenkerns in jedem Menschen. Unsterblichkeit kommt allein Gott zu (1. Tim 6,16). Und Gott weckt Jesus Christus von den Toten auf und nichts im Menschen selbst hat ewigen Bestand. Damit trifft Metzingers Kritik zwar einen Hauptstrom des Christentums, geht aber an neueren evangelischen theologischen Anthropologien vorbei. Diese betonen eher die Einheit des Menschen, statt auf eine unsichtbare und unsterbliche Seele als Wesenskern des Menschen zu setzen.37 Doch Metzingers Thesen zur Streichung des Selbst gehen ganz entschieden weiter: Er bestreitet nicht nur die Unsterblichkeit der Seele sondern auch das Selbst. Theologische Anthropologie hingegen scheint auf einem menschlichen Subjekt als Gegenüber zu Gott zu beruhen. Wenn es kein Selbst gibt, so gibt es auch nichts, das in einer verantwortlichen Beziehung zu Gott stehen könnte. Meiner Ansicht nach ist die weitere Diskussion mit Metzinger in zwei Richtungen zu führen: Erstens: Überzeugt seine Eliminierung des Selbst in philosophischer Hinsicht? Zweitens: Welche Vorstellungen vom Selbst könnte die Theologie ins Gespräch bringen? 5.2
Philosophische Einwände gegen den Epiphänomenalismus
Immer wieder sind von philosophischer Seite Einwände gegen den Epiphänomenalismus vorgebracht worden. Ich konzentriere mich auf eine – wie ich finde – starke Argumentationsrichtung: Sie lenkt das Augenmerk auf die besondere Qualität der Erste-PersonPerspektive, auf die sogenannten Qualia. In Variation des klassischen Gedankenexperiment „Mary‘s Room“ von Frank Cameron Jackson (1982) bieten wir folgende Überlegung38 an: Maria ist eine brillante Wissenschaftlerin, die leider seit ihrer Geburt vollkommen taub ist. Sie hat sich auf die Neurophysiologie des Hörens spezialisiert: Sie kennt alle physikalischen Informationen, die verfügbar sind, über das, was passiert, wenn jemand Musik hört: Sie kennt die Frequenzen und Obertöne aller Instrumente eines Orchesters. Sie versteht, wie die Schallwellen im Konzertsaal reflektiert, vom Ohr aufgenommen, ins Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet werden. Sie kann auch erklären, wie wir mithilfe unseres zentralen Nervensystems ein Zusammenziehen der Stimmbänder und Ausstoßen von Luft aus der Lunge zustandebringen, das zur 37 Eine Ganztodtheorie vertreten u. a. Werner Elert, Paul Althaus, Karl Barth, Paul Tillich und Eberhard Jüngel. 38 Nach einer Idee von Ulrich Eibach (vgl. auch ders.: Gott im Gehirn? Ich – eine Illusion? Neurobiologie, religiöses Erleben und Menschenbild aus christlicher Sicht. Witten 3 2010).
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Äußerung des Satzes „Diese Musik klingt wirklich wunderschön“ führt. Was aber wird passieren, wenn Maria mit einem Mal selbst Beethovens 5. Sinfonie hören kann? Wird sie jetzt etwas Neuartiges empfinden? Wird sie etwas Neues über Musik lernen oder nicht? Wenn man bejaht, dass für Maria noch etwas Neues über Töne und Musik hinzukommt in dem Fall, dass sie Beethovens Sinfonie selbst hört, dann scheint es Qualia, also rein subjektive Eigenschaften von Erlebnissen, zu geben, die Maria nur selbst erleben und nicht schon wissen kann. Ganz offensichtlich scheint Maria beim ersten eigenen Hören von Beethoven etwas Neues über die Welt, in ihrem Fall konkret über unser Musikerleben zu erfahren. Sie spürt vielleicht eine nie dagewesene innere Erschütterung in sich oder meinetwegen klingt Beethoven für sie auch nur banal und öde so, wie sie sich Straßenlärm vorgestellt hat. Aber auf jeden Fall war ihr vorheriges Wissen unvollständig, obwohl sie doch alle physikalischen Informationen über das Hören und über die Musik besaß. Es gibt also durchaus gewichtige Gründe, die Reduktion des Selbst auf neurologische Abläufe für nicht überzeugend zu halten.39 Ähnlich argumentiert auch Thomas Nagel in seinem viel zitierten Aufsatz „What is it like to be a bat?“, der darauf hinausläuft, dass wir nicht wissen können, wie es zum Beispiel für eine Fledermaus selbst ist, mit ihren anderen Wahrnehmungsorganen die Welt zu erleben.40 Es geht nicht darum zu bestreiten, dass innere Erlebnisse eine neurologische Grundlage haben. Nur muss das nicht bedeuten, dass auf dieser Grundlage nicht etwas entsteht, das darüber hinausgeht – wie das Erlebnis des Musikhörens für Maria selbst. Auch bei manchen Neurowissenschaftlern wird inzwischen der naive Optimismus, geistige Zustände vollständig physikochemisch beschreiben zu können, kritisch gesehen: „Das ist Metaphysik, aber nicht empirische Neurobiologie. Beispielsweise hohe Dopamin- und Endorphinkonzentrationen in bestimmten Gehirnregionen einem Zustand zuzuordnen bedeutet nicht, das psychische Phänomen Lust als physikochemisches Phänomen treffend zu können. Außerdem
39 Metzinger gibt durchaus den bleibenden Unterschied zwischen Erste-Person- und Dritte-PersonWissen zu, nennt es aber „kein metaphysisches Mysterium, sondern nur zwei grundverschiedene Weisen des Wissens oder Gegebenseins.“ (ders.: Ego-Tunnel, 101). „Es gibt eine einzige Wirklichkeit, eine Art von Tatsachen, aber zwei Arten von Wissen.“ (ebd.). 40 Für Nagel ist jedes subjektive Phänomen mit einer einzelnen Perspektive verbunden, „und es scheint unvermeidlich, dass eine objektive Theorie von dieser Perspektive abstrahieren wird.“ (Thomas Nagel: What is it like to be a bat? Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Englisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Ulrich Diehl. Stuttgart 2016 [= Reclams Universalbibliothek 19324], 13 bzw. 17).
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bedeutet eine Beschreibung noch keine wissenschaftliche Erklärung: man kann z. B. Geldscheine physikalisch als Papierstücke beschreiben, aber ihre Erklärung ist nur mit Hilfe der Wirtschaftswissenschaften möglich.“41 Sogar Metzinger gibt zu, dass wir noch nicht erklären können, warum wir so fest davon überzeugt sind, dass es unser Selbst gibt. Obwohl er keinen Grund sieht, ein Selbst anzunehmen, sagt er: „Ein philosophischer Anti-Realismus könnte vielleicht nur dann erfolgreich sein, wenn er die rein theoretische Strategie jeweils durch eine überzeugende Erklärung unserer Cartesianischen Intuition ergänzt, des gegen alle bloß intellektuellen Überlegungen resistenten Gefühls, dass irgendeine Art von einfach existieren muss.“42 Es scheint aber nicht nur das gefühlte Selbst erklärungsbedürftig, sondern vermutlich lässt sich eine streng reduktionistische Position in Bezug auf das Selbst nicht widerspruchsfrei formulieren: Das Subjekt, das es nicht geben soll, wird bei genauerer Betrachtung immer wieder bereits vorausgesetzt: Schon Metzingers Hinweis, dass es das Selbst, das über sich selbst getäuscht wird, eigentlich nicht gibt, weist in diese Richtung.43
6.
Theologische Ansatzpunkte
Was könnte nun die Theologie über die philosophischen Argumente gegen den Epiphänomenalismus hinaus zur Vorstellung vom Selbst beisteuern? Für mich sind die philosophischen Einwände schwerwiegend: Das Selbst ist aufgrund der unaufhebbaren Differenz zwischen Dritte-Person- und Erste-PersonPerspektive mehr als nur eine temporäre Konstruktion des Gehirns zur Wahrnehmungsfilterung. Denn alle physikalischen Abläufe im Gehirn können immer nur die Dritte-Person-Perspektive verstehbar machen. Und so scheint es sich zu lohnen, diesen Übergang von Erster- zu Dritter-PersonPerspektive noch einmal genauer anzusehen.44
41 Felix Tretter, Boris Kotchoubey u. a.: Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“ (2014), www. psychologie-heute.de/home/lesenswert/memorandum-reflexive-neurowissenschaft/ [1.10.17], 6. 42 Metzinger: Selbst, 8. 43 Vgl. Mutschler: Bewusstsein, 64ff. oder auch Ansgar Beckermann: Es gibt kein Ich, doch es gibt mich. In: Martina Fürst u. a. (Hg.): Gehirne und Personen. Beiträge zum 8. Internationalen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie in Graz. Bd 1. Frankfurt u. a. 2009, 15f. 44 Auch hier sehen Neurologen heute weiter Klärungsbedarf und verabschieden sich von Vereinfachungen (Memorandum Reflexive Neurowissenschaften, 5).
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Denn genau diesen Perspektivenwechsel als Problem zu begreifen, kennzeichnet wiederum menschliches Bewusstsein.45 Es legt sich die Vermutung nahe, dass es sich bei der Erste-Person-Perspektive, also beim Sich-selbst-aus-sich-selbst-heraus-Erleben um etwas handelt, das zwar im Gehirn stattfindet, aber nicht auf physikalische Vorgänge reduziert werden kann. Wir stoßen hier m.E. auf einen rätselhaften Übergang in einen geistigen Bereich.46 An dieser Stelle kann die Theologie anzusetzen versuchen. Ich möchte das skizzenhaft und exemplarisch an Überlegungen von Wolfhart Pannenberg zeigen. 6.1
Der Selbstwiderspruch im Selbst
Pannenberg bestimmt den Menschen als exzentrisches Wesen. „Die exzentrische Selbsttranszendenz, das Sein beim andern seiner selbst (d. h. ursprünglich beim andern seines Leibes), konstituiert das Ich oder die Person. Zugleich aber setzt sich das Ich in seiner Identität mit auch wieder dem andern entgegen.“47 Die Konstitution des Selbst geschieht also durch das Im-anderen-seiner-selbstbei-sich-selbst-sein. Wenn das Selbst erst im anderen seiner selbst zu sich selbst
45 Metzinger nennt dies mehr spaßeshalber (in Anlehnung an den Turing-Test) den Metzinger-Test: Ein künstliches Bewusstsein müsste das theoretische Problem der Subjektivität erkennen und diskutieren können (Ego-Tunnel, 293). 46 Metzinger nennt solche Überlegungen, „das Problem des Bewusstseins zu einem unlösbaren Mysterium hochzustilisieren“ (Ego-Tunnel, 37). Metzinger sagt voraus, dass bis 2050 das globale neuronale Korrelat des Bewusstseins gefunden sein wird (ebd., 80). Auch andere Hirnforscher waren in dieser Zeit (2004) sehr optimistisch: „In absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, wird die Hirnforschung den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits soweit erklären können, dass Voraussagen über diese Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind. Dies bedeutet, dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.“ (In: Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. In: Gehirn und Geist 6/2004, 36). Heute sind auch Naturwissenschaftler eher zurückhaltend: „Die heutige Bilanz fällt aus unserer Sicht allerdings eher enttäuschend aus. Eine Annäherung an gesetzte Ziele ist nicht in Sicht.“ (Memorandum Reflexive Neurowissenschaft, 1; vgl. dazu Christina aus der Au: Theologie und Naturwissenschaften, Leitartikel [www.theologie-naturwissenschaften.de/startseite/leitartikelarchiv/theologie-undneurowissenschaften/#c1548 {7.10.20}]). Nagel hingegen hält fest: „For if the facts of experience – facts about what it is like for the experiencing organism – are accessible only from one point of view, then it is a mystery how the true character of experiences could be revealed in the physical operation of that organism.“ (ders.: Fledermaus, 24). 47 Pannenberg: Anthropologie, 82. Den Begriff der Exzentrizität übernimmt Pannenberg von Helmuth Plessner.
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kommt, bleibt es widersprüchlich, denn sich selbst bewusst werden kann man nur, wenn man nicht nur sich selbst wahrnimmt: „Das Sein beim andern als einem andern eröffnet die Dimension des Selbstbewußtseins mit seiner Unterschiedenheit von sich selber und seiner Einheit mit sich, die jedoch widerspruchsvoll bleibt, weil das Ich auf beiden Seiten des Unterschieds auftritt, sowohl von seinem Leibe verschieden als auch mit ihm identisch. In diesem Widerspruch, der das Ich ist, bleibt seine Einheit zugleich eine offene Frage.“48
Während Metzingers Überzeugung vom selbstlosen Ego-Tunnel ihn mit fernöstlich angehauchter Meditationspraxis zur Überwindung des Selbst sympathisieren lässt, will Pannenberg – wie ich gleich andeuten werde – sozusagen den umgekehrten Weg gehen: Vom Unendlichkeitsgefühl zum Selbstbewusstsein. 6.2
Vom symbiotischen Lebensgefühl zum Selbstbewusstsein
Metzinger deutet, wie oben skizziert, phylogenetisch den evolutionären Vorteil des Selbstbewusstseins an, nimmt aber die Ontogenese nicht in den Blick. Von der Entwicklung des Selbstbewusstseins im Individuum aus können wir aber zu einem anderen Verständnis der Grundlagen des Selbstbewusstseins kommen. Am Anfang steht für Pannenberg beim Säugling das symbiotische unendliche Lebensgefühl, bevor sich bei ihm Vorstellungen von Außenwelt, von Anderen und vom Ich herausbilden. In dieser Argumentation verbinden sich entwicklungspsychologische Einsichten mit idealistischen Argumenten von Hegel und Fichte. „Das Lebensgefühl als Ausdruck der Geistgegenwart mit der der Subjekt-Objekt-Differenz vorgängigen und sie übergreifenden Präsenz der noch unbestimmten Ganzheit des Lebens liegt also der Ausbildung des Bewußtseinsfeldes schon zugrunde, innerhalb dessen eine Übersicht über seine voneinander unterschiedenen Inhalte möglich wird.“49
Damit ist dem endlichen Selbstbewusstsein noch einmal eine andere notwendige Grundlage vorgeordnet. „In der Erfassung des Endlichen ist aber immer schon ein unthematisches Bewußtsein des Unendlichen – als des Anderen des Endli-
48 Pannenberg: Anthropologie, 82 (s. ebd., 151 mit explizitem Anschluss an Plessner). 49 Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd 2, Göttingen 1991, 223.
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chen – mitenthalten.“50 Letztlich basiert – verkürzt gesprochen – das Selbst auf dem Unendlichen.51 „Nicht das Ich, sondern der göttliche Geist ist der letzte Grund der Zusammengehörigkeit des im Bewußtsein Unterschiedenen, der Zusammengehörigkeit auch des Ich mit den Dingen seiner Welt und insbesondere mit den lebendigen Wesen seinesgleichen.“52
Dieses Unendliche bildet dann einen philosophisch erarbeiteten Rahmenbegriff für das, was Gott genannt werden kann. Und Gott wird wiederum christlicherseits noch näher bestimmt dadurch, wie er sich in der Geschichte bzw. seiner Offenbarung zeigt.53 Damit weist Pannenberg auf, dass bei genauerem Nachdenken das Unendliche bzw. Gott zur Herausbildung des Selbstbewusstseins nötig ist. 6.3
Das menschliche Selbst in Sozialität und Gottbezogenheit
So gelingt eine vertiefte Erkenntnis des Selbst nicht nur in Reflexion auf das Selbstbewusstsein für sich selbst oder über seine neurologischen Entsprechungen, sondern dadurch, dass man bedenkt, wie sich das Selbst durch andere herausbildet bzw. herausbilden kann. „Nur im andern Menschen begegnet ein Leben, das in seinem Lebensgefühl so oder so vom Wissen um den unendlichen Grund der Welt durchdrungen ist und von der darin begründeten Verheißung der Ganzheit des Lebens, die je individuell und doch zugleich allen gemeinsam ist.“54
50 Pannenberg: STh 2, 225. 51 Pannenberg beruft sich hierbei auf eine Argumentation aus Schleiermachers Reden und interpretiert Descartes neu: „Obwohl die Meditationen bei der Gewißheit des cogito einsetzen, hat diese Gewißheit ihren Grund doch nicht in sich selber, da die Vorstellung des eigenen Ich schon die des Unendlichen voraussetzt. […] Der Gedanke des Ich ist jedoch keineswegs durch sich selbst gegeben, sondern er setzt seinerseits die Idee des Unendlichen voraus, ist selber eine Einschränkung des Unendlichen, wie das für alle anderen Vorstellungen von Endlichem ebenfalls gilt.“ (Wolfhart Pannenberg: Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988 (KVR 1532), 22f.). 52 Pannenberg: STh 2, 225. 53 „Die Intuition des Unendlichen ist nicht als solche schon ein Gottesbewußtsein, mag ein solches auch für uns, die wir vom Standpunkt eines voll ausdifferenzierten Erfahrungswissens aus darauf reflektieren, darin enthalten scheinen. (Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie. Bd 1, Göttingen 1988, 127). 54 Pannenberg: STh 2, 227.
Wer bin ich?
6.4
Das menschliche Selbst in seiner Ambivalenz
Pannenberg bezieht in seiner theologischen Anthropologie nicht nur das Selbst auf das Unendliche, das dann mit dem christlichen Gott identifiziert wird, sondern er stellt auch die Ambivalenz des menschlichen Selbst heraus: In seinem Selbst nimmt der Mensch teil an etwas, das ihm letztlich Gott verliehen hat, nämlich in der Fähigkeit, im anderen seiner selbst zu sich selbst zu kommen. Gleichzeitig versucht aber der Mensch, sich selbst ohne Gott zu realisieren. So verfällt er in die Selbstbezogenheit und erweist sich als Sünder. Auch am Selbst finden sich „Würde und Elend des Menschen“55 , sprich seine Gottebenbildlichkeit und sein Sündersein. Pannenberg drückt das so aus: „In der Gewißheit, selber die Wahrheit der Inhalte seines Bewußtseins und also , die Wahrheit aller Realität in sich selber zu haben, und in dem Bemühen, solchen vermessenen Anspruch in seinem Weltverhältnis zu realisieren, verkehrt das Ich seine eigene Konstitution, indem es das Gegenstandsbewußtsein, das Sein beim andern, vom dem her es selber ursprünglich konstituiert ist, dem eigenen Sein im Unterschied zum andern unterordnet, statt seine Einheit im Vollzug seiner exzentrischen Bestimmung zu finden und seine Besonderheit in diesem Prozeß aufgehoben sein zu lassen.“56
6.5
Zusammenfassung der Argumentation Pannenbergs
Der Anspruch Pannenbergs ist es, von Seiten der Theologie eine bessere Erklärung für das Selbstbewusstsein zu liefern, die die Ambivalenz des Menschen festhält und vor allem unter Zuhilfenahme idealistischer Denkfiguren das Unendliche und damit Gott für die Entstehung des Selbst plausibel machen will. Ein regelrechter Gottesbeweis aus dem Rätsel des Bewusstseins wird m.E. aber nicht angestrebt.57
55 Pannenberg: STh 2, 203. 56 Pannenberg: Anthropologie, 82. 57 Auch Personalität und Menschenwürde werden nicht an das Vorhandensein von Bewusstsein geknüpft. „Person ist der Mensch in seiner Ganzheit, die das Fragmentarische seiner vorhandenen Wirklichkeit überschreitet.“ (Pannenberg: Anthropologie, 228; vgl. ebd., 235).
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7.
Ertrag und Ausblick in Form von Thesen für die Theologie
1. Die Theologie kommt m.E. ohne eine unsterbliche Seele aus.58 2. Sie kann von daher mit den Neurowissenschaften festhalten, dass das Selbst auf das Gehirn und den Körper als eine notwendige Bedingung angewiesen ist. Dem Selbst liegen immer physikalische Vorgänge zu Grunde. 3. Aus philosophischen Gründen wird die Theologie sich aber mit kritischen Einwände gegen den physikalischen Reduktionismus, das heißt gegen den Epiphänomenalismus wenden, denn das Selbst kann nicht vollständig aus physikalischen Vorgängen erklärt werden (nicht hinreichend). 4. Dieses Mehr oder Andere der Erste-Person-Perspektive lässt sich m.E. schwer fassen, verweist aber auf eine andere, geistige Sphäre. 5. Die Theologie lenkt den Fokus auf das andere des Selbst, konkreter auf Gott und Mitmensch als Grundlage für das Selbstbewusstsein. Ohne diese Pole richtig einzubinden, realisiert sich das Selbst fehlerhaft. 6. Für die Theologie besteht die Ganzheit des Selbst also nur von Gott her und die vollständige Realisierung des Selbst wird christlicherseits erst erhofft.59
8.
Schlussbemerkung
Wer bin ich? Dass ich mir selbst meiner selbst so sicher bin, weil ich mich unmittelbar fühle, bildet vielleicht doch den Ausgangspunkt der Überlegungen zum Selbst. Aber als tragfähiges Fundament für eine Permanenz des Selbst über das Ende des Körpers hinaus reicht das nicht aus. Hier erweisen sich neurobiologische Argumente als hilfreich. Die Aufgabe des Selbst bzw. seine vollständige Reduktion auf physikalische Vorgänge greift indes zu kurz und bleibt selbstwidersprüchlich. Doch das, was über das naturwissenschaftlich Beschreibbare hinausgeht, weist auf etwas hin, das in Bezug auf das Selbst erst durch Gott vollendet werden kann. Allein auf sich selbst bezogen, scheitert die Realisation des Selbst. Das Selbst bleibt auf seine Mitmenschen und Gott angewiesen.
58 Eine differenziertere Betrachtung der Rezeption und Modifikation platonischer Vorstellungen in der Alten Kirche findet sich bei Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie. Bd 3, Göttingen 1993, 614ff. 59 „Wir haben unser Selbst, unsere Identität, immer nur im Vorgriff auf das Ganze unseres Lebens.“ (Pannenberg: STh 3, 605 [Selbstzitat von 1980]). Diese letzte These führt weit über das bisher Dargelegte hinaus und kann nur noch angedeutet werden.
Markus Mühling
Leibliche Interindexikalität Die Frage nach mind und matter im Wahrwertnehmen des Evangeliums Das Verhältnis von mind und matter zu bestimmen ist eine klassische Aufgabe der Neuzeit. Die analytische Philosophie des Geistes hat sich quasi als Unterdisziplin entwickelt, die dieser Frage gewidmet ist, die phänomenologische Tradition hat ihr Übriges dazu beigetragen, und innerhalb der Theologie bestimmen sich anhand dieser Verhältnisbestimmung ganze Paradigmen, was Theologie überhaupt sein kann. Der folgende Beitrag zeigt, dass mind und matter keine Relate sind, die in ein Verhältnis zu setzen sind, sondern dass sie erstens immer schon im primitiven Begriff des Leibes oder der Person verbunden sind, so dass schon ihre begriffliche Trennung eine Abstraktion darstellt. Die Folge ist, dass schon die Fragestellung, wie mind und matter zu relationieren sind, auf falschen Prämissen beruht. Zweitens zeigt der Beitrag, dass die Frage immer schon unter weltanschaulicher Gebundenheit verhandelt wird, ob das nun bewusst ist oder nicht. Die Basis der Argumentation ist dabei eine auf phänomenalem Wahrwertnehmen basierende narrative Ontologie. Das Zentrum des Aufsatzes ist die Klärung der Frage, was „mind“ oder „Selbstbewusstsein“ im Kern ausmacht. Und die Antwort besteht in der These, dass dies im Wesentlichen nicht Reflexivität, Kognitivität, Wille, Affektivität, sondern Interindexikalität ist, die nicht anders als leiblich zu verstehen ist.
1.
Wahrwertnehmen
Beginnen wir beim entselbstverständlichten, leiblichen Wahrwertnehmen. Eine entselbstverständlichte Analyse leiblichen Wahrnehmens kann sich Einsichten der Leibphänomenologie, z. B. Merleau-Pontys, aber auch der ökologischen Psychologie James J. Gibsons1 und anderer interdisziplinärer Einflüsse bedienen. Sie bietet die Basis jedes theologischen Nachdenkens. Eine solche Analyse kann hier nicht
1 Vgl. Gibson, James Jerome, The Ecological Approach to Visual Perception, New York – London 2015.
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Markus Mühling
im Detail erfolgen.2 Es können lediglich die Ergebnisse festgehalten werden. Diese bestehen in 13 Kennzeichen: 1. Primär ist die ursprüngliche Einheit des Wahrnehmens, die nur schwer benennbar ist, da sie präkognitiv ist, und in der Geschichte unterschiedlich, mehr oder weniger willkürlich benannt wurde, so z. B. von Merleau-Ponty als „Fleisch“.3 2. Aus dem Wahrnehmen emergieren fortlaufend Wahrgenommenes und Wahrnehmendes, mit relativem Primat des Wahrgenommenen, aber in interner Relationiertheit. 3. Wahrnehmung ist dynamisch oder ein Prozess. 4. Echte Alterität und Eigenes sind im Wahrnehmen konstitutiv relational verbunden. 5. Wahrnehmen ist nur leiblich, genauer, interleiblich denkbar: Man nimmt das Wahrgenommene nicht ohne Selbstwahrnehmung wahr, wobei man sich selbst aber immer nur als vom Wahrgenommenen wahrgenommen wahrnimmt. 6. Wahrnehmung ist fallibel, d. h. sie kann sich in Resonanz oder Dissonanz mit der Wirklichkeit vollziehen. 7. Im Wahrnehmen ist prinzipiell Wahrnehmungsvertrauen oder Wahrnehmungsglaube mitgesetzt, der das ihm gegenüber sekundäre Wahrnehmungsmisstrauen ermöglicht. 8. Wahrnehmung vollzieht sich in der Zeitlichkeit von Protention und Retention einer je spezifischen Gegenwart. 9. Wahrnehmen schließt das Erleben und Erwarten von nur retrospektivem Überrascht-Werden und damit von Kontingenz, Zufall und Neuheit ein.4 10. Wahrnehmen ist immer zugleich Wertnehmen oder Wahrwertnehmen, das auf den relational konstituierten, aber real bestehenden affordances des situativ Wahrgenommenen beruht und zur Schlussfolgerung der Aufgabe der fact-value Unterscheidung führt. Medium für das Wertnehmen ist das Gefühl.5 11. Wahrnehmen vollzieht sich auf Weglinienperspektiven oder Wegbildungsperspektiven, die gleichursprünglich mit Wahrnehmendem und Wahrgenommenem erscheinen und gebildet werden und beständig im Werden bleiben. 12. Wahrnehmen ist insofern unmittelbar, als es nicht von Interpretationen als kognitiven Akten oder Vollzügen höherer Lebewesen wie dem erwachsenen und gesunden Menschen abhängig ist.
2 Eine solche detaillierte Analyse habe ich geboten in Mühling, Markus, Post-Systematische Theologie I. Denkwege – Eine theologische Philosophie, Leiden – Paderborn 2020, Kap. 5, 39–68. 3 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 183–185. 4 Vgl. Mühling, Markus, The T&T Clark Handbook of Christian Eschatology, New York – London 2015, 32–36. 5 Vgl. Mühling, Markus, Gefühle, Werte und das ausgedehnte Selbst, Kerygma und Dogma 63 (2017), 115–131.
Leibliche Interindexikalität
13. Dieses zurecht als unmittelbar bezeichnete Wahrnehmen vollzieht sich aber immer in vermittelter Unmittelbarkeit. Die vermittelnde Instanz schließt dabei die Retention bisheriger Wahrnehmung, aber auch die Protention erwarteter und überraschender Wahrnehmung mit ein, erschöpft sich aber nicht darinnen, besteht in primären und sekundären Narrationen. Entselbstverständlichung und der Verzicht auf Realitätsschnitte (auf regionale, vorläufige, implizite Ontologien) ist nur bedingt möglich. Die Frage ist daher nicht, ob man ohne eine Ontologie auskommt, sondern von welcher man her ansetzt.
2.
Geschichten als Vermittlung
Die ursprüngliche Einheit des Wahrwertnehmens besteht in dynamischen Geschichten. Die Analyse des Wahrwertnehmens treibt zum Entwurf einer narrativen Ontologie, einer Lehre vom narrativen Werden, die nicht mit einer literaturwissenschaftlichen Narratologie zu verwechseln ist. Eine narrative Ontologie ist zugleich eine relationale Ontologie, kann aber deren spezifische Schwächen vermeiden. Sie ist zugleich eine Weglinienontologie. „Narrativ“ und „Ontologie“ sind zusammengestellt: Die Wirklichkeit besteht aus Narrationen, das ist die Kernthese. Unterschieden werden können primäre Geschichten, die gelebt werden, aber nicht unbedingt erzählt werden müssen oder können, sekundäre Geschichten, die menschlicher Zeichenverwendung entspringen, sowie eine transzendentale Narrativität, die die Antwort auf die Bedingung der Möglichkeit nach dem geschaffenen Gewebe der Geschichten gibt. Wie auch immer: Es geht darum, dass Geschichten, stories, logisch primitiv sind; d. h. also, dass Sachverhalte, die üblicherweise als vorausgesetzt gelten, wenn man von Geschichten spricht, tatsächlich narrativ-ontisch konstituiert werden: Narrationen konstituieren Ereignisse, die Zeit, den Raum, Zeichen, Metaphern, Begriffe, Modelle, Theorien, dramatische Kohärenz, Kausalität, Regelmäßigkeit, Kontingenz, Interindexikalität und Subjektivität sowie Wahrheit.6 Die Welt besteht also basal aus Geschichten und nichts als Geschichten.
6 Vgl. dazu die Kap. 7–20 aus Mühling, M., PST I, 85–460.
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3.
Weglinienperspektiven
Wahrwertnehmen vollzieht sich aber nicht nur vermittelt durch Geschichten, es erfolgt auch immer auf oder besser in Weglinienperspektiven.7 Weglinienperspektiven stehen unter der Alternative von transport und wayfaring, network oder meshwork, Intentionalität oder Attentionalität, klassifikatorischem Wissen und narrativem Wissen (storied knowledge), logischer Kohärenz und dramatischer Kohärenz sowie epistemischer und wahrhafter Kontingenz. Dabei erweist sich jeweils ersteres als Abstraktion von letzterem. Nicht Standpunkte sind in der Wirklichkeit real, sondern die Bewegung auf Wegen. Diese sind mitnichten Additionen von Standpunkten, sondern Standpunkte sind Abstraktionen von Weglinienperspektiven. In realen Bewegungen nehmen wir keine Standpunkte ein, sondern wir verlassen solche permanent. Die Perspektive, die wir im Wahrnehmen einnehmen ist also eine Perspektive während des Weges. Daher nenne ich sie eine Weglinienperspektive. Dabei erscheinen Wahrnehmender und Weg gleichursprünglich. Dies kann in zwei gegensätzlichen Modellen beschrieben werden: Im transport8 sind die Punkte oder Ziele definierend, die Wege oder Relationen nur Verbindungen zwischen diesen. Da im transport die Punkte idealerweise in unendlicher Geschwindigkeit erreicht würden, kennt transport nur eine Scheinbewegung, während es in Wirklichkeit statisch ist. Dem transport entspricht die Bildung eines networks. Die Ziele werden intentional, d. h. absichtsvoll vor dem eigentlichen Gehen durch ein Subjekt gewählt. Das, was während der Wege erscheint, ist entweder mediale Stütze der Zielerreichung oder aber Zielhemmung. Transport kann hinreichend mit klassifikatorischem Wissen beschrieben werden, also z. B. mit Begriffsschemata wie der arbor porphyriana, Taxonomien wie der Linne’schen, Datenbanken, Digitalisierungen, etc. Dies erfordert logische Kohärenz, d. h. der Ausschluss von Antinomien, so dass jede Kontingenz letztlich nur eine scheinbare ist, ein epistemischer Defekt. Im wayfaring sind die gewundenen Wege, Linien oder Fäden vorgängig. Erst aus deren Verknotungen und Überkreuzungen entstehen Relate, Punkte oder temporäre Ziele, die der Besinnung für das Weitergehen dienen. Diese wirkliche Dynamik des wayfaring bildet ein meshwork. Die temporären Ziele werden attentional erreicht, d. h. sie entstehen und prägen sich während des Weges passiv ein und inaugurieren eine revidierbare Reaktion. Wayfaring kann nicht mit klassifikatorischem Wissen hinreichend beschrieben werden, sondern nur narrativ (storied
7 Vgl. dazu ausführlich Mühling, M., PST I, Kap. 8., 123–154. 8 Zur Unterscheidung von transport und wayfaring vgl. Ingold, Tim, Lines. A Brief History, London – New York 2007, 53, 75–84, 91f, 96f, 100–102.
Leibliche Interindexikalität
knowledge).9 Ihm ist die Antinomie der Negation inhärent,10 so dass Widersprüche zuzulassen sind, sofern sie auf späteren Wegliniensequenzen aufgehoben werden können: Dies kann als dramatische Kohärenz11 bezeichnet werden. Entsprechend ist echte Kontingenz und echte Überraschung zuzulassen.
Für bestimmte wissenschaftliche Analysen können transportartige Netzwerke, d. h. Systeme, eine pragmatisch-instrumentelle Abstraktion darstellen. Werden sie aber mit ontologischen Wirklichkeitsbehauptungen ausgestattet, verkommen sie zu nicht ungefährlichen Mythen. Die Fragestellung, ob ein naturalistischer Monismus oder ein Körper-Geist Dualismus in einer seiner verschiedenen Spielarten angemessen ist, setzt in beiden Fällen die Reduktion auf transport, bzw. netzwerkartige Modellierungen und vorschnelle Realitätszuschreibungen zu diesen voraus. Wenn wir aber umgekehrt von der Einheit des Wahrwertnehmens ausgehen, stellt sich die Frage, wie und warum 9 Vgl. Ingold, Tim, A Storied World, in Ingold, Tim (Hg.), Being Alive, Oxon – New York 2011, 141–176, 67. 10 Vgl. Koch, Anton Friedrich, Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006, 258. 11 Vgl. dazu Mühling, M., PST I, 317–332.
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es zur Aufspaltung in Subjekt und Objekt kommt, bzw. warum Objektivitätsbeschreibungen ohne Subjektivität immer unstatthafte Reduktionen sind.
4.
Interindexikalität
Nicht nur die Relate von mind und matter sind nicht basal oder vorgängig gegeben, schon für die Subjekt-Objekt-Distinktion ist dies nicht der Fall. Sie ist im Wahrnehmen nicht vorausgesetzt, sondern erscheint aus dem seinerseits vorgängigen Wahrwertnehmen. Dann aber verbietet sich ebenso ein ontologischer Dualismus von Subjekt und Objekt wie von „Geist“ und „Materie“. Ein solcher würde nämlich gar keine konstitutive Relationalität von Subjekt und Objekt annehmen, sondern nur deren sekundäre, nicht-konstitutive Relationierung, wie immer man diese Relationen auch bezeichnen mag (Kausalität, agent-causality, Wirkkausalität, teleologische Kausalität etc.). Wie und wann aber erscheint im Gewebe der Weglinienperspektiven diese Distinktion? Antwort: Die Subjekt-Objekt-Unterscheidung erscheint, indem man sich indexikalisch auf anderes der Geschichten, in die man verwoben ist, beziehen kann und von Anderem indiziert wird.
Warum ist anstelle anderer Begriffe wie „Selbstbewusstsein“, „Geist“, etc. die Fähigkeit zur Indexikalität besonders wichtig? Die Antwort ist einfach eine phänomenale: Niemand kann sinnvoll bezweifeln, dass er selbst Teil einer Geschichte, Teil eines Geschehensablaufs ist. Niemand kann bezweifeln, dass er selbst sich auf anderes und andere bezieht und sich immer schon als von anderen indiziert vorfindet. Indexikalität kann so als Relation verstanden werden, in der es erstens einen Bezug auf anderes immer schon gibt, d. h. man ist wesentlich auf anderes bezogen und in der man zweitens diese Position in der Geschichte dank seines Leibes indexikalisch angeben kann, und zwar mit Indexausdrücken wie „hier“, „ich“, und die Differenz mit Ausdrücken wie „dort“, „du“ etc. auszudrücken vermag. Die selbstreferentiellen und die fremdreferentiellen Indexausdrücke implizieren sich dabei gegenseitig. Man könnte damit, wie wir es schon getan haben, sagen, dass die indexikalische Bezugnahme als wesentlich narratives Vermögen leiblich ist und sein muss: Sekundäre Geschichten ohne primäre Geschichten wären genauso ein sinnloser Ausdruck wie Möglichkeiten ohne Wirklichkeiten, wie ein Geist ohne Körper, ein Ich ohne Es und Du etc. Es spielt dabei keine Rolle, dass diese Verankerung selbst keine scharfe Verankerung auf einem Standpunkt ist und sein kann, sondern eine dynamische der sich entwickelnden Weglinien, also im Sinne eines „Treibankers“. Indexikalität bedingt also nicht nur Leiblichkeit, sondern immer die dynamische Perspektivität der Weglinien. Nur wenn diese Perspektivität als von sich entwickeln-
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den dynamischen Weglinien (und nicht von Standpunkten aus) gesehen wird, ist Indexikalität möglich. Denn Standpunkte würden den Wechsel von Standpunkten ermöglichen. Sie würden ermöglichen, dass ich Deinen Standpunkt einnehmen kann, und Du meinen, entweder real oder zumindest probeweise, theoretisch oder rekonstruktiv. Und zumindest theoretisch, wenn auch nicht praktisch, wäre dies dann nicht nur für Dich und mich denkbar, sondern für alle denkbaren Standpunkte. Dann aber wäre das Gewebe des Geschehens auf ein Netzwerk reduziert. Hätte man alle Standpunkte getauscht, dann wäre es, auch wenn es unendlich viele Standpunkte geben mag, zumindest für ein unendliches Wesen, einen Laplace’schen Dämon, möglich, das Netzwerk vollständig zu beschreiben. Als endliche Wesen können wir das nicht. Aber könnte es uns nicht gelingen, das Netzwerk des transport durch Regeln oder Naturgesetze zu beschreiben? Und wäre das nicht genauso gut, wie alle möglichen Standpunkte einzunehmen? Wenn wir einen dieser Wege wählen, geschieht Folgendes: Die Indexikalität verschwindet – oder ist nur eine scheinbare. Bei Perspektiven als Weglinienperspektiven hingegen ist das nicht möglich. Indexikalität und wayfaring im Gewebe sind damit konstitutiv reziprok aufeinander bezogen. Damit dies sichergestellt ist, kann Indexikalität nur Interindexikalität sein: Die Verankerung der Indexikalität im Leib muss so gedacht werden, dass der Leib seinerseits identifizierbar für andere ist; nur dann ist die Irreduzibilität der Weglinienperspektiven gegeben. Das heißt aber auch: Eine Welt mit nur einem Leib würde nicht ausreichen. Plurale Leiber müssen wechselseitig indexikalisch aufeinander bezogen sein. Weiterhin bedeutet es, dass dann mindestens zwei Leiber wechselseitig ontisch konstitutiv aufeinander bezogen sind – und zwar vollständig unabhängig von der empirischen Füllung dieses reziprok konstitutiven Verhältnisses, also unabhängig von der sozialen, biologischen oder neurologischen Füllung. Damit ist aber auch die Interleiblichkeit festgehalten.
5.
Eine noch stärkere Bedeutung von Interindexikalität
Aber lässt sich diese These auch in die noch stärkere These verwandeln? Mit Anton F. Koch12 können wir fragen: Kann es keine Dinge geben, ohne dass sie indexikalisch bezeichnet sind? Kann es keine Dinge geben, ohne dass sie Objekt für Subjekte sind? Sind Dinge immer Erscheinungen? Kann es keine Dinge geben, ohne die Möglichkeit derer indexikalischen Bezeichnung? Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würden nur Idealisten
12 Die folgenden Ausführungen sind eine Modifikation von Anton Kochs starker Subjektivitätsthese, vgl. Koch, A.F., Versuch, 330.
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diese Fragen bejahen können. Dem ist aber nicht so. Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment, das einerseits eine Erweiterung von Max Blacks Zwei-Kugel Welt darstellt,13 andererseits aber schon die klassische Trinitätslehre beschäftigt hatte: Als Prämissen nehmen wir die Vereinbarkeit zweier Identitätskonzeptionen an, die numerische Identität und die Identität des Ununterscheidbaren. Zwei Ereignisse wären demnach dann identisch, wenn exakt das Gleiche über sie aussagbar wäre, sie also die gleichen Eigenschaften hätten. Idealerweise fällt die Identität des Ununterscheidbaren nicht mit der numerischen Identität zusammen. Entwerfen wir, angeregt durch die klassische Trinitätslehre, eine Welt, in der alle Relate dieselben einstelligen Eigenschaften haben und durch eine Ordnungsrelation (eine asymmetrische, transitive und irrelexive Relation) geordnet sind, in der es aber gleichzeitig unendlich viele Relate gibt, dann hilft die Ordnungsrelation nicht mehr weiter: Sie ermöglicht zwar noch einen geschichtlichen Charakter der Reihe, aber die Ereignisse können dennoch nicht mehr voneinander unterschieden werden, weil jetzt jedes Relat sowohl Erst- als auch Zweitrelat ist. Nehmen wir an, wir betrachten diese Reihe aperspektivisch aus einer „Gottesperspektive“, und könnten sie also wie die B-Reihe der Zeit im Ganzen überblicken, dann können wir uns dennoch nicht auf ein einzelnes Ereignis dieser Reihe beziehen, weil die Ereignisse voneinander trotz der bestehenden Ordnungsrelation ununterscheidbar würden. Wir könnten also nicht mehr sagen, ob es sich bei einem Ereignis um eins, zwei, oder 389790 Ereignisse handelt. Ist das Problem dennoch lösbar? Man kann an einer Identität der ununterscheidbaren Eigenschaften bei einer numerischen Differenz nur festhalten, wenn man die Ereignisse oder Relate der Reihe durchzählen könnte. Das aber ist nur möglich, wenn man bei einem bestimmten Ereignis beginnen könnte zu zählen, gerne auch in beide Richtungen. Dazu aber ist es notwendig, sich auf ein bestimmtes Ereignis der Reihe beziehen zu können. Es wäre egal, welches Ereignis oder Relat dies wäre. Aber es müsste sichergestellt sein, dass es genau eines ist und dass man immer wieder auf genau dieses eine zeigen könnte. Das ist aber gerade nicht gegeben. Die Situation ändert sich aber sofort, wenn wir die indexikalische Bezugnahme auf ein Ereignis zulassen – und diese setzt offensichtlich voraus, dass man selbst ein Glied, Relat oder Ereignis der Reihe ist, d. h. schon in einer Weise leiblich dazu relationiert ist. Die ganze Reihe ist dann gegeben, und relativ zu dem Relat, das ich selbst bin, können alle Relate dank der Ordnungsrelation als individuiert gelten – und zwar auch dann, wenn jener indexikalische Akt, d. h. „ich“, die ganze Reihe überhaupt nicht überschauen kann. Das ist ja für eine unendliche Reihe auch nicht gegeben.
13 Vgl. Black, Max, The Identity of Indiscernibles, Mind 61 (1952), 153–164, 156.
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An dieser Stelle tritt nun eine Komplikation auf: Gäbe es nur einen Anker der Indexikalität, der die gesamte unendliche Reihe überschauen könnte, wäre diese wieder auf ein Netzwerk reduziert. Das ist nur dann ausgeschlossen, wenn der Anker der Indexikalität seinerseits von anderen Ankern von anderen Weglinienperspektiven aus bezeichenbar ist und auf ihn Bezug genommen wird. Damit ist deutlich, dass auch in der starken Variante Indexikalität immer Interindexikalität sein muss. Die starke Indexikalitätsthese lautet dann: Primäres, raumzeitbegründendes narratives Geschehen ist nur möglich, wenn es in diesem Geschehen an irgendeiner Sequenz mindestens zwei Interindexikalitätsanker (Personen, Leiber, „ich“ und „du“) gibt, die sich indexikalisch aufeinander und auf anderes Geschehen beziehen können und so sekundäre Geschichten begründen.
6.
Die Frage nach dem Panpsychismus als Alternative zum Emergentismus
In den letzten Jahren haben Emergenztheorien eine Renaissance erlebt, wenn es um die Zuordnung von matter und mind geht. Man betrachtet dabei Strukturbildungen von matter als basal, die eine notwendige Bedingung für das Erscheinen von mind darstellen, wenn auch hier ein qualitativer Sprung stattfindet.14 Allerdings haben diese Erklärungen den Schönheitsfehler, dass sie eigentlich nichts erklären, sondern „Emergenz“ etwas Rätselhaftes bleibt, das man, ähnlich der mittelalterlichen Haecceitas15 einführt, um nicht schweigen zu müssen. Dieses Problem ist dabei grundsätzlich nicht lösbar, denn es beruht auf der falschen Annahme der Basalität von mind und matter, die ihrerseits auf dem Gedanken der Basalität von transport beruht. Sieht man aber Weglinienperspektiven, wayfaring und damit leibliche Interindexikalität als bestimmend, verändert sich das Problem: In unserer faktischen Welt ist die Interindexikalität ja gegeben, so dass wenigstens die schwache Interindexikalität gültig ist. Sie ist allerdings nicht erst vom Menschen erfüllt. Die Biosemiotik zeigt, dass sie bereits bei nichtmenschlichen Primaten erfüllt ist.16 Und wer mag schon sagen, für welche Wirbeltiere dies noch gelten könnte? Ist man aber bereit, die Fähigkeit zur Interindexikalität auf Wirbeltiere auszuweiten, dann kann gleich gefragt werden, warum man an dieser Stelle stehen bleiben sollte.
14 Vgl. z. B. Clayton, Philip, Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus, Göttingen 2008 und zur Geschichte der Emergenztheorien Boost, Maximilian, Naturphilosophische Emergenz. Vermittler im Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion, Würzburg 2012. 15 Vgl. zu einer zeitgenössischen Fassung der scotistischen Haecceitas Swinburne, Richard, Thisness, Australian Journal of Philosophy 73 (1995), 389–400. 16 Vgl. dazu Mühling, M., PST I, 239–246.
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Beide Varianten der Interindexikalitätsthese würden ja nicht tangiert werden, wenn man ihre Bedingungen maximal überschreitet, wenn man also behaupten würde, dass alles, was wird, nicht nur indizierbar ist, sondern, in welchem Sinne auch immer, potentiell fähig ist zu indizieren. Diese maximale Überschreitung wäre damit die Frage nach dem, was traditionell Panpsychismus genannt wird.17 Und überraschenderweise wurde in jüngerer Zeit der Panpsychismus als Alternative zu Emergenztheorien des Geistes vertreten. Für dessen Plausibilität wird sowohl theologisch als auch philosophisch geworben, sogar von Naturalisten. So hat David Chalmers eine Argumentation vorgelegt, die Panpsychismus zwar nicht behauptet, aber für möglich hält. Kennzeichnend ist jeweils ein Analogieschluss: Vom menschlichen Selbstbewusstsein wird auf informationsverarbeitende Systeme wie Thermostate geschlossen, und von diesen schließlich auf alles Materielle.18 Diese Argumentation, die epistemisch Fremdbewusstsein für eine Zuschreibung auf Basis eines Analogieschlusses vom Eigenen auf das Fremde versteht, ist freilich nicht neu. Sie erscheint im Zusammenhang mit einer Begründung des Panpsychismus auch bei Karl Heim.19
17 Einen kurzen Überblick über panpsychistische Positionen geben Seager, William/AllenHermanson, Sean, Art. Panpsychism, The Stanford Encyclopedia of Philosophy 2015, https:// plato.stanford.edu/archives/fall2015/entries/panpsychism/. 18 Chalmers, David J., The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, New York 1996, Pos. 6361 – Pos. 6402: „If there is experience associated with thermostats, there is probably experience everywhere: wherever there is a causal interaction, there is information, and wherever there is information, there is experience. One can find information states in a rock […] or even in the different states of an electron. […] The view that there is experience wherever there is causal interaction is counterintuitive. But it is a view that can grow surprisingly satisfying with reflection, making consciousness better integrated into the natural order. […] If the view is correct, consciousness does not come in sudden jagged spikes […] Rather, it is a more uniform property of the universe, with very simple systems having very simple phenomenology, and complex systems having complex phenomenology. […] An interesting question is whether active causation is required for experience. […] One possibility […] is that simple systems do not have phenomenal properties, but have protophenomenal properties. […] If so, then thermostats might have […] a related sort of property that we do not fully understand (a sort of protoexperience, perhaps). […] Perhaps the central reason why [panpsychism] is misleading […] is that it suggests a view in which the experiences in simple systems […] are fundamental, and in which complex experiences are somehow the sum of such simpler experiences. While this is one way things could go, there is no reason that things have to go this way: complex experiences may be more autonomous than this suggests. […] With these caveats noted, it is probably fair to say that the view is a variety of panpsychism. I should note, however, that panpsychism is not at the metaphysical foundation of my view […]. Personally, I am much more confident of naturalistic dualism than I am of panpsychism. […] But I hope to have said enough to show that we ought to take the possibility of some sort of panpsychism seriously […].“ 19 Heim, Karl, Der Christliche Gottesglaube und die Naturwissenschaften. Grundlegung des Gesprächs zwischen Christentum und Naturwissenschaft, Hamburg 3 1976, 91: „Es ist durchaus keine objektive Wissenschaft, sondern ein ganz subjektiv menschlicher Standpunkt, anzunehmen, nur
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In dieser Argumentation treffen Heim und Chalmers sich mit der These der in der Gegenwart so beliebten Theorien einer „Theory of Mind“ (ToM), die besagt, dass es zum Verstehen des Anderen höherer kognitiver Fähigkeiten bedürfe, so dass jedes Kind (ab einem Alter von etwa 4 Jahren) eine Theorie entwickeln müsse, dass der Andere so wie man selbst ist – mit einer spezifischen, nicht einsehbaren „Innenseite“ – bzw. dass man in der Lage sein müsse, den „Geist“ des Anderen im eigenen zu simulieren.20 Wie immer man sich die unterschiedlichen Arten von Subjektivität nun auch gestuft vorstellen mag, das Argument des Analogieschlusses, das sowohl von Heim als auch den unterschiedlichen ToMs und Chalmers benutzt wird, ist allerdings falsch. Es setzt nämlich voraus, was es zu erweisen sucht, wie schon Scheler gezeigt hat. Vorausgesetzt ist nämlich fälschlicherweise erstens, dass die Kenntnis der eigenen Subjektivität unproblematisch und direkt gegeben sei, während zweitens die Subjektivität des Anderen nur inferentiell möglich sei, also nicht der Wahrnehmung zugänglich sei, sondern sich nur in Analogie zur eigenen Erfahrung als eine Vermutung darstelle.21 Ich muss also die sichtbaren Bewegungen des Anderen interpretieren als Repräsentationen für etwas nicht Sichtbares, den Geisteszustand des Anderen. Hier wird von Strukturen des Werdens von matter auf mind geschlossen. Das geht aber nur, wenn ich schon weiß, dass es diese Relation zwischen dem Geist des Anderen und seinem Körper gibt. Ich muss also schon wissen, dass der Andere eine Person (im Strawson’schen Sinne eines primitiven Begriffs22 ) ist, und nicht eine sehr ausgefeilte Puppe oder ein Roboter.
bei uns Menschen habe das Seelenleben ein Maximum erreicht […]. Es ist objektiv betrachtet mindestens wahrscheinlicher, daß alle Naturgebilde gleichermaßen einen seelischen Hintergrund haben, daß aber andere Wesen, die sich äußerlich von uns unterscheiden, auch innerlich anders als wir geartet sind und daß darum der Unterschied zwischen einem Seelenleben und etwa dem Innenleben der Pflanze so groß ist, daß wir uns von unserer beschränkten menschlichen Erfahrung aus überhaupt keine Vorstellung mehr davon machen können. […] Dürfen wir die ‚Naturbeseelung’ auf die organische Welt beschränken? Hört sie also mit dem einfachsten Lebewesen, etwa mit der Urpflanze auf? Oder müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß auch hinter der anorganischen Natur etwas steht, was irgendeine Ähnlichkeit mit unserem Seelenleben hat? […] Wenn wir eingesehen haben, wie fragwürdig jenes anthropozentrische Schlußverfahren ist, dann erscheint es uns als ein willkürlicher Kurzschluß, anzunehmen, daß die wunderbaren Gebilde der anorganischen Welt nur eine gegenständliche Vorderseite, aber keinen seelischen Hintergrund haben sollen.“ „Ist es wirklich denkbar, daß die Doppelseitigkeit der Wirklichkeit, bei der überall dem Außenbild ein unsichtbares Innenbild entspricht, an der Grenze der organischen Welt plötzlich aufhört?“ 20 Vgl. Gallagher, Shaun/Zahavi, Dan, The Phenomenological Mind, London – New York 2 2013, 182. 21 Vgl. Scheler, Max, Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 6 1973, 238. 245. 22 Vgl. Strawson, Peter F., Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London– New York 1959, 101–116.
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Tatsächlich allerdings kennen wir den Anderen gar nicht durch inferentielle Analogieschlüsse, sondern nehmen ihn direkt als Person wahr: „Was wir an fremden Menschen, mit denen wir leben, wahrnehmen, das sind ‚zunächst’ weder ‚fremde’ Körper […], noch sind es fremde ‚Iche’ und ‚Seelen’, sondern es sind einheitliche Ganzheiten, die wir anschauen – ohne daß dieser Anschauungsinhalt zunächst ‚zerlegt’ ist in die Richtung der ‚äußeren’ und ‚inneren’ Wahrnehmung.“23
Affektive Zustände oder Ereignisse wie auch andere „geistige“ Zustände und Ereignisse werden also tatsächlich direkt wahrgenommen, weil sie auf einer Ausdruckseinheit 24 beruhen: „Dass jemand mir freundlich oder feindlich gesinnt ist, erfasse ich in der Ausdruckseinheit des ‚Blickes’, lange bevor ich etwa die Farbe, die Größe der ‚Augen’ anzugeben vermag.“25
Erst wenn diese Ausdruckseinheit wahrgenommen ist, kann man kognitiv durch Interpretationen in „Innen“ und „Außen“ trennen. Schelers phänomenologische Überlegungen werden bestätigt durch die Forschungen an der Entwicklung von Kleinkindern.26 Für uns ist hier wichtig, dass schon von der ersten Stufe der primären Intersubjektivität an diese als Indexikalität, genauer als Interindexikalität ausgebildet ist. Phänomenal kann ich mich nicht auf etwas konkretes Anderes beziehen, ohne mich von Anderem als indiziert, als adressiert, oder angesprochen zu erfahren. Dass ich mich als adressiert von Anderem erfahre, ist also mindestens gleichursprünglich mit meiner Fähigkeit, mich auf Anderes beziehen zu können. Im phänomenalen und empirischen Sinne ist die passive Indiziertheitserfahrung sogar vorgängig vor der aktiven Indexikalitätserfahrung. Auch das eigene Indizieren ist immer als reactio auf das pathos meiner immer schon als von Anderem indizierten Vorfindlichkeit zu verstehen.27 Indexikalität ist also immer Interindexikalität. Gleichzeitig erhellt dieser Befund die Frage nach dem Panpsychismus, die wir aufgeworfen hatten: Sowohl Chalmers als auch Heim leiten ihr Sympathisieren
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Scheler, M., Wesen und Formen der Sympathie, 255. Vgl. Scheler, M., Wesen und Formen der Sympathie, 213. 238. 246. Scheler, M., Wesen und Formen der Sympathie, 238. Vgl. z. B. Gallagher, S./Zahavi, D., Phenomenological Mind, 208–211; Liszkowski, Ulf/ Carpenter, Malinda/Striano, Tricia/Tomasello, Michael, 12- and 18-Month-Olds Point to Provide Information for Others, Journal of Cognitive Development 7 (2006), 173–187. 27 Vgl. dazu Waldenfels, Bernhard, Bodily Experience between Selfhood and Otherness, Phenomenology and the Cognitive Sciences 3 (2004), 235–248.
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mit der Panpsychismusthese aus dem implizit dualistischen Analogieschlussverfahren vom Erleben eigener Subjektivität auf das fremder Subjektivität ab. Es gibt aber kein vorgängiges Erleben eigener Subjektivität. Vielmehr sind Eigensubjektivitätserleben und Fremdsubjektivitätserleben, Jemeinigkeit und Jedeinigkeit nichts anderes als zwei Seiten derselben Medaille oder derselben Weglinienperspektive der Intersubjektivität. Der Terminus Intersubjektivität ist dann freilich insofern missverständlich, weil er suggerieren könnte, man müsse erst von Subjektivität sprechen können, bevor man von einem „zwischen“ dieser Subjekte sprechen könnte. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt. Daher wäre zu überlegen, ob es nicht sinnvoller ist, Worte zu finden (Personalität, Interindexikalität o.a.), die diesen Sachverhalt besser zum Ausdruck bringen können. Wichtig für die Frage nach dem Panpsychismus ist nun aber, dass die Grundlage für Interindexikalität und Intersubjektivität einerseits bestätigt wird, andererseits entfällt: Zwar ist uns die belebte andere Person gleichursprünglich mit uns selbst gegeben, nicht aber bloße objektive Weltdinge. Damit wird bei der phänomenalen Betrachtung der Panpsychismus auch wieder unwahrscheinlicher. Denn es gibt keine oder nur wenige – und dann hoch präparierte – narrative Kontexte, in die wir zusammen mit Quanten, Atomen und Bakterien eingebettet sind und daher ist eine alltagsphänomenale Bezugnahme hier nur schwer möglich. Makroskopische Gegenstände, Pflanzen und Tiere erscheinen zwar in sekundär-narrative Kontexte genauso eingebettet wie wir. Aber wir interagieren in ihnen auf jeweils eine andere Weise als mit Personen: So, dass eben keine intersubjektive sekundäre Narration entsteht, die länger als eine kurze Sequenz Bestand haben könnte. Für kurze Sequenzen ist das möglich: Ich mag den Gegenwind beim Fahrradfahren unmittelbar als feindlich wahrnehmen und ihn verwünschen. Aber die Einbettung dieser Sequenz in eine größere Narration führt mich sekundär und interpretativ dazu, davon Abstand zu nehmen. Ist aber entwicklungsgeschichtlich und phänomenal Interindexikalität vorgängig, dann bedeutet dies, dass es höherer kognitiver Fähigkeiten bedarf – nämlich solcher, die es erlauben, eine längere Geschichte, in die man involviert ist, detailliert zu verstehen und zu analysieren –, um erstens eine Indiziertheitserfahrung von einer bloßen, nichtpersonalen Kausalität zu unterscheiden, um zweitens zu lernen, dass es Dinge ohne „Innenseite“ geben könnte, und drittens um die Subjekt-Objekt Distinktion zu vollziehen. Damit ist natürlich noch nichts über die Ontologie gesagt. Die Frage lautet nun: Soll man eine phänomennahe Ontologie vertreten, deren Schritte vom Wahrwertnehmen zu den Realitätsannahmen kurz ist? Dann käme man von der hier präferierten narrativen Ontologie. Oder soll man eine phänomenferne Ontologie vertreten, die ihre Realitätsbehauptungen mittels aufwändigerer kognitiver Operationen und in einem höheren Abstraktionsgrad aufstellen soll? Wählt man den ersten Fall, ist die Person oder der Leib existent, von dem matter und mind Abstraktionen darstellen, die es als solche nicht gibt. Damit erledigen sich dann auch die
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Optionen zwischen einem reduktionistischen Monismus, zwischen einem emergentistischen Monismus, zwischen einem panpsychistischen Monismus, einem Aspektdualismus und einem klassisch cartesischen Dualismus, weil schon die Fragestellung obsolet ist. Wählt man hingegen die zweite Option, ist die Fragestellung sinnvoll, und die genannten Optionen kämen wieder ins Rennen. Für mich besteht kein Zweifel, dass nur die erste Möglichkeit sinnvoll ist. Das lässt sich aber aus einem Vergleich der beiden Möglichkeiten nicht zeigen. Hier kommt im weitesten Sinne der religiös-weltanschauliche Horizont mit ins Spiel. So könnte man mit dem Ockham zugeschriebenen Sparsamkeitsprinzip (entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem) argumentieren. Dann würde man die erste Möglichkeit der phänomennahen narrativen Ontologie bevorzugen müssen, die schon die Frage der Verhältnisbestimmung zwischen mind und matter als falsche Abstraktion erkennt. In der Tat halte ich dies auch für richtig. Der Grund besteht aber weniger in einem Glauben an Ockhams merkantiles Sparsamkeitsprinzp als darin, dass sich diese Möglichkeit aufgrund des Charakters des christlichen Glaubens nahelegt. Dies gilt es abschließend kurz zu zeigen.
7.
Wahrwertnehmen im Evangelium
Der Christliche Glaube ist keine Lehre und kein System, sondern eine Weise des Wahrwertnehmens. Indem Christen die dreifache Geschichte des Evangeliums als Kanon ihrer Lebensgeschichte anerkennen, erfahren Sie sich als adressiert vom dreieinigen Gott der sowohl transphänomenal ist, als auch inkarniert phänomenal. Damit ist Interindexikalität (die Rede in der 2. Person) auch theologisch vorgängig vor der Rede in der 1. Person und der 2. Person. Der Mehrwert gegenüber einer rein transportartigen Beschreibung in der 3. Person besteht daher nicht einfach in der Anerkennung einer Innenseite und einem subjektiven Erleben. Die sekundärnarrativen Geschichten des Evangeliums müssen zwar nicht eine kohärente Metageschichte eines Netzwerks ergeben oder eine Großerzählung, die von den Vertrauenden restlos verstanden würden – sie können genau dies gar nicht ergeben –, aber sie müssen eine dramatische Kohärenz ergeben, wenn sinnvolles Wahrwertnehmen und Handeln für Person und Gemeinschaft möglich sein soll. Die Wahrnehmung aller Phänomene des Alltags vollzieht sich damit im Lichte dieser wahrwertnehmungsermöglichenden Geschichten des Evangeliums: 1. Vertrauender Glaube ist dann vorhanden, wenn man selbst und der oder das konkrete Andere, der oder das uns auf unseren Weglinienperspektiven begegnet, nicht einfach als Gegebenheit, sondern als Geschöpf wahrgenommen wird, d. h. als Gabe und Aufgabe für uns. Das schließt in der Wahrnehmung Haltungen wie Dankbarkeit ein. Die Wahrnehmung besteht hier in der Erfahrung, dass Erfahren selbst etwas vorgängig Gegebenes ist und notwendig nicht durch Menschen im
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Verbund mit vorpersonalem Seienden konstruiert wird. M.a.W.: Es ist die Erfahrung der Geschöpflichkeit. Sie kann als Erfahrung der creatio ex nihilo beschrieben werden, d. h. als Erfahrung der Tatsache, dass die Erfahrung des Selbst als eines Erfahrenden, und der Möglichkeit aller erfahrbaren Phänomene, ohne welthafte Voraussetzungen inauguriert ist.28 2. Vertrauender Glaube ist dann vorhanden, wenn wir uns selbst und den oder das konkrete Andere nicht einfach als gelungene Gabe und Aufgabe, sondern als gestörte und zurechtgebrachte und weiter rechtfertigungsbedürftige Gabe und Aufgabe wahrwertnehmen. Das schließt wertende Haltungen wie das Klagen und partikulare Bitten mit ein. Es handelt sich dabei um die Erfahrung, sola gratia gerettet zu sein, ohne jede welthafte Voraussetzung und des Fehlgeleitetseins eigener Anstrengung zum Trotz. Diese Versöhnungserfahrung führt schließlich zu einem dritten Aspekt: 3. Vertrauender Glaube ist dann vorhanden, wenn wir uns selbst und den oder das konkrete Andere in berechtigter Hoffnung auf ein unzweideutiges Werden wahrwertnehmen. Das schließt Haltungen wie ein dauerhaftes Bitten mit ein. Es handelt sich um die Erfahrung eines Lebens in Hoffnung – und nicht in Furcht – auf die Vollendung der Welt. Auch diese Art der Vollendung teilt das Charakteristikum einer Erfahrung von Gabe sola gratia, d. h., die Hoffnung richtet sich auf etwas, das nicht vorhersagbar ist oder Gegenstand einer Extrapolation auf Basis natürlicher oder sozialer Prozesse sein könnte. In der Geschichte des Evangeliums nimmt man sich selbst, andere Personen und Vorpersonales – also alles Phänomenale – (1) als geschaffen, (2) als gefallen und zurechtgebracht und (3) als zur Vollendung erhofft wahr. In dieser Verschränkung der Geschichten wird man auch die Selbstidentifikation des dreieinigen Gottes finden können. Dies zu zeigen aber wäre eine weiterführende Aufgabe. Für unsere Zwecke hier genügt es gezeigt zu haben, dass der Grundcharakter des Glaubens als Schöpfungsglaube, Versöhnungsglaube und Erlösungshoffnung auf einer Verschränkung der Geschichten beruht – nämlich der eigenen Lebensgeschichte mit der Geschichte des Evangeliums. Und wer immer in dieser Weise verschränkt ist, dass er die Geschichte des Evangeliums als Kanon seiner eigenen Lebensgeschichte anerkennt, wird nicht nur im Alltag begegnende Phänomene nicht einfach im christlichen Sinne interpretieren, sondern in vermittelter Unmittelbarkeit wahrwertnehmen. Und wer immer in dieser Weise mit der Geschichte des Evangeliums verschränkt ist, wird dann auch in der Frage der Ontologie die phänomennahe, narrative Ontologie bevorzugen – nicht zuallererst, weil sie die
28 Vgl. Dalferth, Ingolf U., Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 139–141. Dalferth bestimmt hier den Begriff einer Welt als den Horizont der Möglichkeiten von Aktualitäten.
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Frage der Verhältnisbestimmung von mind und matter als auf falschen Annahmen beruhend entlarvt, sondern zuallererst, weil nur so der eigene Glaube und sein Wahrwertnehmen durchsichtig bleiben. Black, Max, The Identity of Indiscernibles, Mind 61 (1952), 153–164 Boost, Maximilian, Naturphilosophische Emergenz. Vermittler im Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion, Würzburg 2012 Chalmers, David J., The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, New York 1996 Clayton, Philip, Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus, Göttingen 2008 Dalferth, Ingolf U., Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003 Gallagher, Shaun/Zahavi, Dan, The Phenomenological Mind, London – New York 2 2013 Gibson, James Jerome, The Ecological Approach to Visual Perception, New York – London 2015 Heim, Karl, Der Christliche Gottesglaube und die Naturwissenschaften. Grundlegung des Gesprächs zwischen Christentum und Naturwissenschaft, Hamburg 3 1976 Ingold, Tim, Lines. A Brief History, London – New York 2007 Ingold, Tim, A Storied World, in Ingold, Tim (Hg.), Being Alive, Oxon – New York 2011, 141–176 Koch, Anton Friedrich, Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006 Liszkowski, Ulf/Carpenter, Malinda/Striano, Tricia/Tomasello, Michael, 12- and 18-Month-Olds Point to Provide Information for Others, Journal of Cognitive Development 7 (2006), 173–187 Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986 Mühling, Markus, Gefühle, Werte und das ausgedehnte Selbst, Kerygma und Dogma 63 (2017), 115–131 Mühling, Markus, Post-Systematische Theologie I. Denkwege – Eine theologische Philosophie, Leiden – Paderborn 2020 Mühling, Markus, The T&T Clark Handbook of Christian Eschatology, New York – London 2015 Scheler, Max, Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 6 1973 Seager, William/Allen-Hermanson, Sean, Art. Panpsychism, The Stanford Encyclopedia of Philosophy 2015, https://plato.stanford.edu/archives/fall2015/entries/panpsychism/ Strawson, Peter F., Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London– New York 1959 Swinburne, Richard, Thisness, Australian Journal of Philosophy 73 (1995), 389–400 Waldenfels, Bernhard, Bodily Experience between Selfhood and Otherness, Phenomenology and the Cognitive Sciences 3 (2004), 235–248
Ursula Schumacher
Mit Aristoteles gegen Platon? Aristotelisch inspirierte, nichtphysikalistische Ansätze zur Überwindung eines Dualismus in der mind-brain-Debatte
1.
Einführung
In einem schon nahezu zum ‚Klassiker‘ der neueren Debatte avancierten Beitrag zur Polarität von Dualismus und Materialismus konstatiert Peter Van Inwagen, dass christliche Jenseitsvorstellungen nur zu häufig von einem mehr oder weniger bewussten Leib-Seele-Dualismus geprägt sind: „Most Christians seem to have a picture of the afterlife that can without too much unfairness be described as ‚Platonic‘“.1 Diese Feststellung ließe sich ohne Weiteres aus der Eschatologie auf die Anthropologie an sich übertragen und benennt den fraglos zutreffenden Befund, dass ein anthropologischer Dualismus – ob nun platonischer oder cartesischer Prägung2 – im abendländischen Denken eine enorme Erfolgsgeschichte erlebt hat und trotz existierender Anfragen eine kaum gebrochene Präsenz in der Alltagsanthropologie besitzt. Bereits an dieser Stelle dürfte eine kurze Definition dessen geboten sein, was hier unter ‚Dualismus‘ verstanden wird: Bezeichnet ist damit eine anthropologische Auffassung, die von einer starken Unterscheidung materiell-leiblicher und immateriell-seelischer Teile im Menschen geprägt ist und beide näherhin als nicht aufeinander rückführbare und jeweils für-sich-seiende, also je einen eigenen Seinsakt aufweisende Entitäten deutet. Dabei wird in der Regel ein klarer Primat des immateriellen, seelischen bzw. geistigen Teils im Menschen angenommen, insofern mit diesem der Status des Personseins, der Vollzug intellektueller Akte sowie eine die menschliche Identität sichernde Fortdauer während des Lebens und nach der im Tod geschehenden Trennung vom verfallenden Körper in Verbindung gebracht wird.3 Folgerichtig legt sich für ein dualistisches Denken auch die Annahme nahe, dass Untersuchungen von Gehirnprozessen in keiner Weise geeignet sind, Auf-
1 Van Inwagen, Dualism, 475. 2 Immer wieder wird angemerkt, dass schlagwortartige Zuschreibungen bestimmter dualistischer Auffassungen an Platon oder Descartes nicht unproblematisch sind, insofern sie eine eher der Rezeption entstammende simplifizierende Auffassung in das Denken dieser Philosophen hineintransponieren, vgl. etwa Anstey, Anima. Das kann hier nicht diskutiert werden, sei aber auch keinesfalls bestritten. 3 Vgl. Stump, Dualism, 505.
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schluss über den seelisch-geistigen Teil des Menschen zu geben.4 Um es noch einmal in einer prägnanten Formulierung von Lynne Rudder Baker zusammenzufassen: „According to mind/body dualism, if Jane is a human person living in Canada, she has a body, but Jane’s existence does not depend on her having the body that she has or on her having any body at all: If mind/body dualism is correct, even though she is now embodied, Jane could exist as a purely immaterial being“.5
Theologie- bzw. philosophiehistorisch betrachtet lassen sich derartige dualistische Auffassungen mit neuplatonischen Positionierungen assoziieren. Seit Platon werden diese im Vergleich der Seele-Körper-Verhältnisbestimmung mit dem Zueinander von Mensch und Schiff oder Mensch und Kleidung ausgedrückt:6 Es geht in diesen Fällen offensichtlich um eine Verhältnisbestimmung, die einer instrumentalen Logik folgt.7 Impliziert ist damit zudem, dass Körper und Seele je als eigene Substanzen zu betrachten sind, die lediglich zu einer äußeren, näherhin „funktional akzidentelle[n] Verbindung“8 zusammenkommen. Gewissermaßen als theologischer ‚Lackmustest‘ für das Vorliegen eines solchen anthropologischen Dualismus kann exemplarisch die Bewertung des Todes oder auch die nähere Bestimmung der Gottebenbildlichkeit des Menschen betrachtet werden: Eine dualistische Anthropologie wird den Tod und die dabei geschehende Trennung von Leib und Seele nicht als „corruptio substantialis“,9 also nicht als einen Abbruch, eine Beendigung von Menschsein qualifizieren; und bei der näheren Ausdeutung des Begriffs der Gottebenbildlichkeit wird sie keine Notwendigkeit sehen, auf irgendwelche Aspekte menschlichen Daseins von der rein immateriell-seelischen Ebene abgesehen zu rekurrieren. Freilich: Der Preis, der für den Leib-Seele-Dualismus zu zahlen ist, ist hoch – und zwar bereits aus theologischen Gründen. Mit einer gewissen Süffisanz benennt Van Inwagen einen der zentralen theologischen Problempunkte: „Christians who are particularly well-instructed … will know that they are supposed to believe in something … called the Resurrection of the Dead; if pressed, they will perhaps say that the burden of the doctrine of Resurrection of the Dead is that eventually God will give everyone a body again – one of those mysterious and apparently pointless procedures
4 Vgl. Stump, Dualism, 520, unter Verweis auf Dennett, Daniel C.: Consciousness Explained, Boston 1991, 33–37, und Shoemaker, Sydney: Identity, Cause, and Mind, Cambridge 1984, 141. 5 Baker, Christian, 489. 6 Thomas benennt diese Bilder in ScG II, c. 57, n. 2.4. 7 Vgl. Heinzmann, Anima, 239. 8 Heinzmann, Anima, 239. 9 Heinzmann, Anima, 244.
Mit Aristoteles gegen Platon?
for which God no doubt has some good reason that He has mercifully chosen not to bother us with“.10
Aus diesem, aber auch aus verschiedenen weiteren Gründen – wie etwa der Rückbesinnung auf das holistische Menschenbild der Bibel oder einer wachsenden Wertschätzung der Leiblichkeit menschlichen Daseins – geriet eine dualistische Anthropologie im Verlauf der theologischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zunehmend in die Defensive und in den Ruch eines eher philosophie- als theologiegeschichtlich zu rechtfertigenden, letztlich gnostischen Relikts. Nicht erst die (ohnehin eher schleppende11 ) Rezeption der Ergebnisse neurowissenschaftlicher Forschung ließen also die Aufgabe einer Überwindung dualistischer anthropologischer Konzepte als ein theologisches Desiderat erscheinen. Und im Kontext katholischer Theologie lag eine Strategie zur Einlösung dieses Desiderats im Postulat einer Rückbesinnung auf zentrale Aspekte der aristotelisch geprägten Anthropologie des Thomas von Aquin. Diesen Grundansatz teilt nun auch das ebenfalls antidualistisch ausgerichtete, eher randständige Segment der mind-brain-Debatte, dem im Folgenden die Aufmerksamkeit gelten soll, und es ist wohl kein Zufall, dass die einschlägigen Wortmeldungen im Wesentlichen aus dem katholischen bzw. sogar aus einem explizit thomistisch orientierten Bereich stammen. Freilich: Man muss nicht katholisch sein, um Thomas von Aquin wertzuschätzen, und man muss erst recht nicht katholisch sein, um Aristoteles bzw. den aristotelischen Hylemorphismus zu rezipieren. Faktisch wird seit Jahrzehnten und im Gefolge einer Einschätzung von Hilary Putnam selbst eine recht intensive Debatte um die Frage geführt, ob Aristoteles adäquat als Funktionalist ante litteram qualifiziert werden kann.12 So bemerkenswert diese Diskussion ganz ohne Zweifel ist, sie kann und braucht an dieser Stelle nicht weiter verfolgt zu werden, weil das hier zu behandelnde Segment der mind-brainDebatte sich ausdrücklich nicht dem Funktionalismus zuordnet, sondern als einen eigenständigen Ansatz versteht, der zudem nichts weniger beabsichtigt, als über den thomanisch-aristotelischen Hylemorphismus in der mind-brain-Debatte einen dritten Weg neben Physikalismus und Substanzdualismus zu weisen.
10 Van Inwagen, Dualism, 475. 11 Vgl. Kläden, Leib, 15 12 „[K]eineswegs eine Ausnahme“ stelle der Aristotelesrekurs in der gegenwärtigen mind-brain-Debatte dar, so Gasser, Einleitung, 17; Dilcher geht noch weiter und konstatiert, dass „die Klärung der Beziehung der aristotelischen Seelenlehre zum Funktionalismus nahezu in den Rang einer Kardinalfrage aufgerückt“ ist, Dilcher, Lockungen, 21. Zur Diskussion vgl. exemplarisch Anstey, Anima, 238–241; Berti, Aristotele; Dilcher, Lockungen; Granger, Aristotle; Heinaman, Aristotle; Liske, Philosophie, 36f mit Anm. 9 und 10 (Lit.); Nelson, Aristotle; Perler, Aristoteles sowie die Beiträge in dem wertvollen Sammelband von Nussbaum/Rorty, A. O., Essays.
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Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei dieser Position jedoch um eine Minderheitsmeinung: „Sie ist in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes nur am Rande präsent und vielfach überhaupt nicht als Alternative zu den geläufigen Positionen anerkannt“.13 Da – im Wesentlichen seit Mitte der 1990er Jahre – inzwischen aber eine gewisse Anzahl einschlägiger Beiträge vorgelegt wurde, dürfte sich eine Bestandsaufnahme hinsichtlich der Argumentation und Bewertung dieser Position als lohnenswert erweisen. Dazu sei im Folgenden zunächst in Grundzügen die anima-forma-corporis-Lehre des Thomas von Aquin in Erinnerung gerufen (2), bevor es die Ansätze zu skizzieren gilt, die sie in die gegenwärtige mind-brain-Debatte einzuzeichnen suchen (3). Abschließend sind einige Überlegungen zur Diskussion vorzulegen (4).
2.
Anima forma corporis: Die hylemorphistische Leib-Seele-Verhältnisbestimmung des Thomas von Aquin
In einer durch den großen Mediävisten Michael Schmaus betreuten Dissertation hat Richard Heinzmann en détail herausgearbeitet, dass die Frühscholastik in Gestalt der überaus einflussreichen Theologie Hugos von St. Viktor einen „extremen spiritualistischen Dualismus“14 ebenso kannte wie andererseits auch einige diesem gegenüber kritische Bemühungen um eine ganzheitlichere Anthropologie, namentlich etwa vertreten von Gilbertus Porretanus, Petrus Abaelardus15 oder auch von Thomas‘ Lehrer Albertus Magnus.16 Thomas von Aquin steht also bereits in einer gewissen Tradition, wenn er sich unter Heranziehung des aristotelischen Hylemorphismus um eine anthropologische Alternative zum neuplatonischen Dualismus bemüht. Andererseits kann Heinzmann jedoch auch konstatieren, dass Letzterer im 13. Jahrhundert noch eindeutig das theologische Feld beherrschte: „Das neuplatonisch-augustinische Verständnis des Menschen galt als das spezifisch christliche“.17 Von einer solchen dualistischen Anthropologie, die die Leib-Seele-Verbindung nur äußerlich-akzidentell denkt, grenzt Thomas sich nun in aller Entschiedenheit ab.18 Den einzigen Weg, stattdessen eine substantielle Verbindung zwischen leiblichem und geistigem Prinzip im Menschen denken zu können, sieht er durch den
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Goebel, Wiederkehr, 401, ebenso Oderberg, Dualism, 71f. Heinzmann, Unsterblichkeit, 247; vgl. ebd. 75–82. Vgl. Heinzmann, Unsterblichkeit, 15–24.58f.247. Runggaldier, Seele, 11–13.33, notiert freilich, dass Albert in diesem Anliegen noch nicht so weit geht wie sein Schüler. 17 Heinzmann, Anima, 242. 18 Vgl. etwa ScG II, c. 57.
Mit Aristoteles gegen Platon?
aristotelischen Hylemorphismus und näherhin in der anima-forma-corporis-Lehre eröffnet.19 Der Hylemorphismus geht bekanntlich von einer doppelten Konstitution der körperlich-endlichen Seienden aus: Der Begriff der ‚Materie‘ (ὕλη) bezeichnet dabei das Prinzip der Wandelbarkeit und Potentialität, d. h. das Noch-nicht-Sein, das Sich-Verändern-Können von etwas, bis dahin, dass die reine Materie, die prima materia, als pure Potentialität für der eigenständigen Existenz nicht fähig erachtet wird und die Rede davon daher lediglich die Funktion eines philosophischen Grenzbegriffs hat. Es bedarf kaum des Hinweises, dass unter dem aristotelischen Materiebegriff somit deutlich Anderes zu verstehen ist als das, was ein alltagssprachlich gängiger, von der cartesischen res extensa beeinflusster und wesentlich die Konnotation von Stofflichkeit und Ausgedehntheit implizierender Begriff von Materialität meint. Die Form (μορφή) auf der anderen Seite ist das Seins-, Wesens- und Wirkprinzip von etwas, kurz, „das, wodurch etwas ist, was es ist“. Edmund Runggaldier weist zu Recht darauf hin, dass dieser Formbegriff nicht in einen statisch-starren Essentialismus einmünden muss, sondern dass die hylemorphistisch gedachte forma vielmehr „dynamisch als eine ἀρχή verstanden werden [kann], welche die Bedingungen des Entstehens und Vergehens, der Entwicklung und Entfaltung, der Zuund Abnahme sowie der Wirk- und Affizierfähigkeiten der Individuen einer Art benennt“.20 Um diese Wirkdynamik zu bezeichnen, spricht Eleonore Stump im Blick auf das Formprinzip treffend von einem „configurational state“;21 im Hintergrund steht hier das von Aristoteles mit dem Begriff der Form in Verbindung gebrachte Konzept der ἐντελέχεια als Ausdruck für das Strebevermögen, das alle Entitäten auf ein ihnen entsprechendes Ziel hinstreben lässt und bei Lebewesen den gesamten Daseinsvollzug bezeichnet. Beim Menschen ist die forma substantialis einer thomanisch-aristotelischen, hylemorphistisch konzipierten Anthropologie zufolge nun die Seele.22 Das impliziert, dass diese Seelenform einerseits als Seinsprinzip des Menschen zu qualifizieren ist, ontologisch betrachtet also für den menschlichen Seinsakt aufkommt. Andererseits ist jedoch auch festzuhalten, dass die Seelenform gemäß Thomas von
19 Zur thomanischen anima-forma-corporis-Lehre vgl. etwa Anzenbacher, Problem; Bernath, Anima; Heinzmann, Anima; Hellmeier, Anima; Kläden, Leib, 51–123; Kluxen, Anima; Rapp, Thomas; Seidl, Einheit. 20 Runggaldier, Deutung, 219. 21 Stump, Dualism, 509. 22 Bernd Goebel weist auf eine zentrale terminologische Problematik hin, wenn er konstatiert, dass es keinen spezifischen Ausdruck für die hylemorphistisch konzipierte, also wesenhaft auf die Einung mit dem ‚Leib‘ (im Gegensatz zum ‚Körper‘) verwiesene Seele gibt, vgl. Goebel, Wiederkehr, 415. Im Folgenden wird daher nach Möglichkeit versucht, im Sinne einer Begriffsdifferenzierung den Begriff der ‚Seelenform‘ zu verwenden.
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Aquin „in gar keiner Weise als vor dem Leibe existierend gedacht werden“ kann,23 sondern vielmehr erst durch die Einung mit ihm überhaupt ins Dasein tritt. Die hylemorphistisch gedachte Seele ist ihrer Natur nach eben kein vollständiges bzw. vollselbständiges Seiendes, sondern nur metaphysische Konstituente eines solchen, nämlich des Menschen.24 Damit ergibt sich für die hylemorphistische Leib-Seele-Verhältnisbestimmung der Befund einer unhintergehbaren reziproken Verwiesenheit: „Was in unseren Formulierungen corpus bzw. Leib heißt, ist nichts anderes als die Verwirklichung der Seele selbst, und was anima und Seele heißt, ist die Wirklichkeit des Leibes“.25 In aller Deutlichkeit prägt diese Annahme einer grundlegenden gegenseitigen Verwiesenheit des geistigen und des leiblichen Prinzips im Menschen exemplarisch die Erkenntnistheorie: Unter Voraussetzung einer empiristischen, nicht nativistischen Konzeption von Erkenntnis wird hier für die ureigene geistige Tätigkeit der hylemorphistisch gedachten Seele, den wesentlich durch Abstraktionsprozesse erfolgenden Erkenntnisakt, ein Verwiesensein auf Sinneseindrücke und folglich auf den Leib als absolute Notwendigkeit veranschlagt.26 Für eine Befassung mit der thomanischen Dualismuskritik ist schließlich noch ein Aspekt der Anthropologie des Aquinaten von Bedeutung, in dem er eine entscheidende und bewusste Modifikation der aristotelischen Seelenlehre vornimmt.27 Aristoteles lehnt zwar den platonischen Dualismus ab – in einer Hinsicht setzt seine Anthropologie diese Dualismuskritik jedoch nicht mit letzter Konsequenz um: Der platonische Körper-Seele-Dualismus erscheint bei Aristoteles nämlich nur um eine Ebene verschoben und bleibt in gewisser Hinsicht erhalten in der Verhältnisbestimmung von νοῦς ποιητικός, der – einer zwar nicht unumstrittenen, aber etablierten Deutung zufolge – überindividuell gedachten Verstandesseele einerseits, und der leib-seelischen menschlichen Einheit andererseits, die nur die niederen Seelenpotenzen einschließt. Treffend ist daher der ‚aktive Geist‘ des Aristoteles als „‚Stachel im Fleisch‘ der anti-dualistischen Aristoteles-Interpretation“28 bezeichnet worden. Thomas geht hier – in Abgrenzung vom extremen Aristotelismus seiner Zeit und nicht zuletzt aufgrund von Notwendigkeiten einer christlichen Eschatologie – weiter, „nimmt … in seiner Konzeption der anima intellectiva den nous mit hinein
23 Kluxen, Anima, 102. Thomas formuliert: „Ex pluribus enim actu existentibus non fit unum simpliciter“, Q. d. de anima, a. 11, c. 24 Vgl. STh I, q. 75, a. 2, ad 1. 25 Heinzmann, Anima, 252. 26 Vgl. dazu Heinzmann, Anima, 252; STh I, q. 76, a. 5, c. 27 Vgl. Heinzmann, Thomas, 48; Kläden, Leib, 126. 28 Voigt, Dualismus, 119; vgl. auch Herzberg, Hylemorphismus, 93.
Mit Aristoteles gegen Platon?
in die Wesensform des Menschen und vermeidet damit einen anthropologischen Dualismus“.29 Testfall – und zugleich Crux – dieser hylemorphistischen Leib-Seele-Konzeption ist nun die Eschatologie, näherhin die von Thomas geteilte Annahme einer nachtodlich vom Leib getrennten Seele, der anima separata. Und diesbezüglich ist nun eine deutliche Spannung zwischen zwei anthropologischen Anliegen und den entsprechenden Aussagereihen im Denken des Aquinaten auszumachen. Einerseits hält Thomas nämlich an der prinzipiellen Bezogenheit der Seele auf den Leib fest, als dessen Form sie überhaupt erst ins Dasein trat. Auf der anderen Seite geht er aber auch von einer wesenhaften Inkorruptibilität der Seele aus, der eine Subsistenz aus sich heraus zukommt – wenn auch nicht von Ewigkeit her, sondern als Schöpfungsgabe Gottes und nur aufgrund eines erstursächlichen Getragenseins durch Gott. Letzteres hat ihm nun aber die Kritik einer nur „halbherzig“30 vorgenommenen Platonismusabwehr sowie seinerseits einen Dualismusvorwurf eingetragen: „Wenn im Hylemorphismus die menschliche Seele … eine klare metaphysische Vorrangstellung gegenüber dem Körper (beziehungsweise der Materie) einnimmt, so trägt dies einen dualistischen Zug in hylemorphistische Ansätze hinein“.31 Um nun zu einer Bewertung dieses Dualismusvorwurfs zu gelangen, hilft ein genauerer Blick (1) auf die Daseinsweise der anima separata und (2) auf ihre Erkenntnisvollzüge. (1) Was zunächst die Gegebenheitsweise der anima separata angeht, so lässt Thomas keinen Zweifel daran, dass die Leiblosigkeit für die hylemorphistisch gedachte Seele eine widernatürliche, ihrer wesenhaften Entelechie zuwiderlaufende Situiertheit darstellt,32 insofern ihr auch nach dem Tod eine unverlierbare Verwiesenheit auf den Leib verbleibt.33 Diese Ausrichtung auf den Leib als unerfüllter Teilaspekt des wesensgemäßen Strebens der Seele impliziert nicht nur eine Intensivierung bzw. Vervollkommnung der Beseligung durch die Auferstehung der Leiber;34 es lassen sich sogar Belegstellen anführen, in denen Thomas der leibfreien Seele das Personsein abspricht.35 Den durchaus aufschlussreichen Implikationen für den
29 Kläden, Leib, 126. 30 Beinert, Problematik, 674. 31 Gasser, Theorien, 558. Vgl. Lynne R. Baker: „If Smith’s life after death … entailed that Smith have an immaterial soul that can exist apart from any body, then Christian doctrine, as I understand it, would require mind/body dualism“, Baker, Christian, 497. 32 „…esse separatum a corpore est praeter rationem suae naturae“, STh I, q. 89, a. 1, c., vgl. auch ScG IV, c. 79, n. 10. 33 „…anima est pars humanae speciei et ideo, licet sit separata, … tamen retinet naturam unibilitatis“, STh I, q. 29, a. 1, ad 5. 34 Vgl. STh I-II, q. 4, a. 5, c., ad 4; ScG IV, c. 79, n. 11. 35 „…anima est pars humanae speciei et ideo, licet sit separata, quia tamen retinet naturam unibilitatis, non potest dici substantia individua quae est hypostasis vel substantia prima… Et sic non competit ei neque definitio personae, neque nomen“, STh I, q. 29, a. 1, ad 5; vgl. auch Q. d. de potentia, q. 9, a. 2, ad
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thomanischen Personbegriff kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden;36 um auf den vorher benannten theologischen ‚Lackmustest‘ für Dualismus zurückzukommen, so lässt sich als Zwischenergebnis damit aber festhalten, dass der Tod des Menschen der thomanischen Anthropologie gemäß eine corruptio substantialis, das „Ende des Menschen als solchen“37 oder wenigstens der Existenz menschlicher Personalität als vollkommene und naturgemäße Gegebenheitsweise von Menschsein bewirkt und mithin einer – dualistischen Anthropologien nur zu oft innewohnenden – Tendenz zur Verharmlosung des Todesgeschehens entgeht. In seiner Dualismusskepsis ist Thomas zudem auch insofern konsequent, als er die Gottähnlichkeit eher dem leibgeistig verfassten Menschen als der anima separata zuspricht.38 Vor diesem Hintergrund reduziert sich für Richard Heinzmann die thomanische Rede von einer incorruptibilitas der anima separata auf einen bloßen „Grenzbegriff zwischen Sein und Nichtsein“.39 (2) Nicht ganz so eindeutig ist der Befund, wenn es um die Erkenntnisweise der anima separata geht. Diese erfolgt nicht mehr leiblich vermittelt, sondern nach Art der Erkenntnis reingeistiger Substanzen, als deren niederrangigste die leibfreie Seele zu betrachten ist, und folglich auf eine an sich höherwertige Weise (melior modus40 ) als im irdischen Leben. Nun ist andererseits die menschliche Seele für eine Erkenntnis nach Art der Engel nicht geschaffen,41 und dies mit gutem Grund: Als niederste in der Hierarchie der reingeistigen Substanzen vermag sie
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14. Andererseits hindert diese Einschränkung Thomas nicht daran, für die leibfreie Seele bereits Strafe bzw. Seligkeit anzunehmen (vgl. etwa ScG IV, c. 91), was die von Stump, Resurrection, eingehend geführte Argumentation zugunsten der Annahme einer Identitätskontinuität zwischen Mensch und anima separata deutlich stützt. Nur vor diesem Hintergrund kann Stump wohl von der nachtodlichen Fortdauer von „person in some sense of the term“ sprechen, Stump, Resurrection, 158; die dem entgegenstehende explizite Negation der Personalität der anima separata im Corpus Thomisticum ist m.E. im Sinne einer Negation der Vollverwirklichung einer alles wesensgemäß Erforderliche einschließenden menschlichen Natur (nicht im Sinne einer Negation von Identitätskontinuität) zu verstehen. Wolfgang Kluxen formuliert: „dem Unzerstörbaren im Menschen kann die ‚Person‘ verloren gehen, und das tut dem ‚Sein selbst‘ keinen Abbruch“, Kluxen, Anima, 99; die Tatsache, dass die anima separata Thomas zufolge nicht mehr als Person zu betrachten ist, dürfte für den thomanischen Personbegriff jedenfalls implizieren, dass er weder mit der Gegebenheit von Subsistenz (einer vernunftbegabten Natur) noch von Individualität einfachhin als deckungsgleich betrachtet werden kann. Heinzmann, Anima, 252. „…anima corpori unita plus assimilatur Deo quam a corpore separata, quia perfectius habet suam naturam. Intantum enim unumquodque Deo simile est, in quantum perfectum est“, Pot, q. 5, a. 10, ad 5. Heinzmann, Anima, 256. STh I, q. 89, a. 1, c. „…intelligere sine conversione ad phantasmata est ei praeter naturam“, STh I, q. 89, a. 1, c.
Mit Aristoteles gegen Platon?
auf diesem Weg nur eine cognitio confusa in communi, also eine unklare und allgemeine Erkenntnis, zu erlangen, während sie auf dem Abstraktionsweg ausgehend von den sinnlich vermittelten phantasmata eine vollkommene und ihrer Natur entsprechende Erkenntnis der Dinge erreicht.42 Nichtsdestotrotz stellt die Erkenntnis anhand von species ex influentia divini luminis participatas, also anhand von durch das göttliche Licht mitgeteilten Erkenntnisbildern, den per se wertvolleren Erkenntnisweg dar.43 Damit ist nun aber festzuhalten, dass Thomas die Annahme, die Verbindung mit dem Leib gereiche der Seele zur Vervollkommnung, einerseits nicht prinzipiell zurücknimmt, sie andererseits aber durch Überlegungen zur prinzipiell höherwertigen Erkenntnisweise der anima separata doch in gewisser Weise relativiert, indem er „die besondere Weise des Erkennens bei der anima separata als eine Befreiung zu einem höheren und eigentlicheren Modus“44 deutet. Es legt sich die Einschätzung nahe, dass sich hier ein Einfluss des – für Thomas ja trotz der intensiven Aristotelesrezeption bleibend relevanten – neuplatonischen Denkens manifestiert. Trägt also die Konzeption der anima separata ein dualistisches Element in die thomanische hylemorphistische Anthropologie hinein? Eine gewisse Spannung zwischen zwei Aussagereihen ist wenigstens hinsichtlich der Erkenntnis der leibfreien Seele nicht von der Hand zu weisen; in äußerster Prägnanz zeigt sich diese in der folgenden Formulierung aus der Summa Theologiae: „Die abgeschiedene Seele ist zwar unvollkommener, wenn man die Natur betrachtet, an der sie [hier auf Erden] mit der Natur des Körpers teilhat; trotzdem ist sie in gewissem Sinne freier zum Erkennen, sofern sie [hier auf Erden] durch die Schwere und die Ansprüche des Körpers an der Klarheit des Denkens gehindert wird“.45
Auf der anderen Seite gibt es, wie dargestellt, auch gute Gründe, hier nicht die Grenze zu einem anthropologischen Dualismus überschritten zu sehen; jedenfalls ist für und mit Thomas der bleibende Bezug der Seele auf den Leib, deren Form sie ist, eindeutig festzuhalten und folglich auch eine klare Begründung für die Sinnhaftigkeit der Hoffnung auf eine leibliche Auferstehung gegeben. Vor diesem Hintergrund ist m.E. wenigstens unter Voraussetzung eines starken Dualismus-
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STh I, q. 89, a. 1, c. Vgl. An, a. 20, ad 11; ad 15. Bernath, Anima, 198. „…anima separata est quidem imperfectior, si consideretur natura qua communicat cum natura corporis: sed tamen quodammodo est liberior ad intelligendum, inquantum per gravedinem et occupationem corporis a puritate intelligentiae impeditur“, STh I, q. 89, a. 2, ad 1. Deutsche Übersetzung nach: Wesen und Ausstattung, 388f.
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begriffs zu der Frage, ob die anima-separata-Lehre Thomas zum Dualisten macht, mit Eleonore Stump festzuhalten: „the answer is clearly ‚no‘“.46
3.
Der thomanisch-aristotelische Hylemorphismus in der mind-brain-Debatte
3.1
Der Anspruch: Ein alternatives Paradigma
Nachdem nun die thomanische Leib-Seele-Verhältnisbestimmung knapp in Erinnerung gerufen und im Hinblick auf ihr möglicherweise inhärente Dualismustendenzen betrachtet wurde, kann der Blick auf einige Versuche gerichtet werden, sie für die gegenwärtige mind-brain-Debatte fruchtbar zu machen und dadurch eine grundlegende Alternative zu den darin ansonsten vertretenen und von den Befürwortern einer hylemorphistischen Lösung als in gewisser Weise aporetisch eingeschätzten Positionen zu eröffnen. Die dabei aufzubrechende Aporie ist der Einschätzung von Tobias Kläden gemäß wie folgt zu beschreiben: „Es drängt sich der Eindruck auf, als seien innerhalb des durch die DualismusPhysikalismus-Dichotomie definierten Spektrums an Positionen alle wesentlichen Argumente ausgetauscht und ein prinzipieller Fortschritt aufgrund des Festhaltens an fundamentalen zugrunde liegenden Prinzipien auch nicht zu erwarten“.47
Näherhin liegt das Grundproblem darin, dass die in der Diskussion herangezogenen Denkkategorien unhintergehbar durch den Gegensatz von Physischem und Mentalem als zwei ontologisch verschiedenen Entitäten geprägt sind, dass folglich also ein dualistischer semantischer Ballast das verwendete Begriffsinstrumentarium prägt, wofür Searle den Terminus eines „Begriffsdualismus“ geprägt hat.48 Und dies gilt ganz unabhängig davon, ob ein Dualismus kritisch bewertet oder zustimmend rezipiert wird: „Sowohl dualistische als auch physikalistische Positionen setzen eine dualistische Analyse des Menschen im Sinne einer Innen-Außen-Dichotomie voraus, indem sie mentale
46 Stump, Dualism, 517. 47 Kläden, Leib, 312. 48 Vgl. Searle, Wiederentdeckung, 40.
Mit Aristoteles gegen Platon?
Phänomene einem ‚Innenbereich‘ des Menschen zuschreiben, der von dem physischen, ‚äußeren‘ Phänomenbereich logisch zu unterscheiden ist“.49
Um jedes Missverständnis auszuschließen: Die konstatierte Schwierigkeit liegt nicht in der Differenzierung von Mentalem und Physischem an sich, sie liegt in der Annahme zweier metaphysisch getrennter Welten und der Überzeugung, „dass jede Entität entweder in den Bereich des Mentalen oder in den Bereich des Physischen fallen muss“.50 An dieser Stelle wird nun der Hylemorphismus als Lösung ins Feld geführt. Das hylemorphistische Potential, eine Zwischenposition zwischen Dualismus und Materialismus zu erschließen, begründet Kläden damit, dass im Kontext einer hylemorphistischen Anthropologie weder das Mentale als vollselbständige Entität gedacht wird, noch eine physikalistische Reduktion erfolgt. Der Hylemorphismus behauptet weder eine Identitätsrelation noch eine dualistische Trennung von Mentalem und Physischem, sondern stattdessen eine Einheit beider anthropologischer Prinzipien.51 Michael-Thomas Liske seinerseits erklärt die prinzipielle Denkmöglichkeit einer Alternative zu den in der mind-brain-Debatte vertretenen Positionen damit, dass das Physische im Physikalismus als (wenigstens) hinreichende Bedingung für das Mentale und im Dualismus als weder hinreichende noch notwendige Bedingung für das Mentale betrachtet wird – was die Möglichkeit einer dritten Position impliziert, die im Bereich des Physischen notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für das Mentale gegeben sieht.52 Die anthropologische Leib-Geist-Einheit ist, wie gesehen, nicht im Sinne einer nachträglichen Vereinigung zweier zunächst eigenständiger Prinzipien zu denken, sondern vielmehr als eine ursprüngliche, nichtsekundäre Verbindung. Damit ist einerseits durchaus eine Unterscheidung von Akt und Potenz, Form und Materie als Konstituenten von Menschsein ermöglicht – und zwar aufgrund jeweils eigener ontologischer Merkmale –, andererseits aber eine mereologische Deutung dieses leibgeistigen Kompositums, das der Mensch ist, zurückgewiesen. Das hylemorphistische Menschenbild unterläuft so in gewisser Weise die inkriminierte dualistische Begriffsvorprägung, indem es bei der Ebene konkreter Individuen als der ontologisch primären ansetzt und dabei eine unhintergehbare, reziproke53
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Kläden, Leib, 311. Kläden, Leib, 315. Vgl. Kläden, Leib, 313f. Vgl. Liske, Philosophie, 21–23; Liske, Zwischenposition, 200. Es ist wichtig, dass die Bedingungsrelation tatsächlich in beide Richtungen verläuft: Nicht nur Geistiges wird in einer formenden und disponierenden Einwirkung auf das Leibliche gesehen, sondern auch das Leibliche als eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung für das Geistige bewertet, Goebel, Wiederkehr, 415.
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Verwiesenheit von Leib und Seele annimmt. Und vor diesem Hintergrund konnte die Einschätzung formuliert werden, dass der Hylemorphismus als einziger Ansatz in der mind-brain-Debatte einen Weg eröffnet, „to preserve both the unity of the human person and the reality of mind and brain as distinct aspects“.54 3.2
Die Seele hylemorphistisch gedacht: Funktions- und Strukturprinzip menschlichen Daseins
Ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der hier zu skizzierenden, hylemorphistisch geprägten Positionen in der mind-brain-Debatte ist die Konzeption der Seele als Form des Leibes, die daher im Folgenden noch ein wenig genauer darzustellen ist. Grundlegend dafür ist das mit der Seelenform in Verbindung gebrachte Konzept der Entelechie, die aristotelisch-thomanisch als zielgerichtete Lebensenergie eines Organismus zu deuten ist und damit bereits einen holistischen Betrachtungsansatz in die Anthropologie hineinträgt, insofern sie einen Gesamtbegriff für den Daseinsvollzug des Menschen darstellt. Nach Aristoteles ist vor diesem Hintergrund die Frage nach der Einheit von Seele und Leib bereits falsch gestellt,55 da im Hinblick auf den Menschen bzw. das Lebewesen sein Eins-Sein oder Sein mit seinem Lebendig-Sein und dieses wiederum mit seinem Seele-in-Leib-Sein ineinsfällt. Im Kontext dieses vom Streben geprägten Daseinsvollzugs kann die Seelenform nun näherhin als Funktions- bzw. Organisationsprinzip, als Ermöglichungsgrund der spezifischen Handlungsweisen des Lebewesens qualifiziert werden, insofern sie das Leibliche im Sinne einer entsprechend handlungskonstitutiven Ermöglichung dieser Tätigkeiten konfiguriert. Quitterer beruft sich zur Erläuterung dieser hylemorphistischen Annahme auf den Neurowissenschaftler Antonio Damasio, der bei allem materiellen Wandel, dem das Gehirn und seine Bestandteile unterworfen sind, ein (nicht fiktives, sondern reales und kausal wirksames) einheitlich bleibendes Prinzip als gegeben ansieht, das gewissermaßen wie ein Bauplan Form und Funktion des Gehirnapparats und Leibes bestimmt.56 Im Hintergrund dieser organismischen, funktionslogischen Betrachtungsweise der Seelenform steht die Annahme, dass ihr Wirken auf der Ebene der Formal-, nicht auf jener der Wirkursache anzusiedeln ist. Gemeint ist damit ein Wirkeinfluss im Bereich der „Ermöglichungsbedingungen, die gegeben sein müssen, damit überhaupt bestimmte Vollzüge ablaufen können“57 – ohne dass diese Ermöglichungsbedingungen 54 Dodds, Hylomorphism, 151. 55 Vgl. Aristoteles, De An. II 1, 412b 7–9. 56 Vgl. Quitterer, Relevanz, 112 u.ö. mit Verweis auf Damasio, Antonio: Ich fühle also bin ich, München 2000; vgl. auch Quitterer, Selbst, 89f.95–97. 57 Quitterer, Seele, 312.
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bereits als hinreichend für das Zustandekommen einer entsprechenden Wirkung angesehen werden könnten. Damit ist die der Seelenform attribuierbare Kausalität, wie Quitterer konstatiert, nun aber augenscheinlich von den naturwissenschaftlichen Wirkkonzeptionen verschieden, die kausale und gerade nicht funktionale Wirkzusammenhänge beschreiben.58 Nichtsdestoweniger wird im Rahmen der Explikation besagter nichtfunktionalistischer, hylemorphistisch geprägter Positionen in der mind-brain-Debatte mitunter der Versuch einer kausallogischen Übersetzung des Konzepts der Formalursächlichkeit in naturwissenschaftlich relevante Kausalitätsmodelle unternommen. Das dabei aufgegriffene Wirkmodell ist das einer top-down-Kausalität (im Gegensatz bzw. ergänzend zur bottom-up-Kausalität),59 also einer Spielart ursächlicher Zusammenhänge, die nicht das Ganze aus dem Wirken der Teile, sondern umgekehrt das Wirken der Teile aus dem Ganzen zu erklären sucht und folglich bei der Erklärung von Wirkungen nicht von einzelnen physikalischen Zusammenhängen, sondern von Funktionen her ansetzt.60 Bei der Ausdeutung solcher Funktionszusammenhänge erweist sich nun aber, wie Quitterer ausführt, die explikative Kraft des hylemorphistischen Modells: So sind die benannten Funktionszusammenhänge ontologisch weder ereignishaft-aktualistisch noch in Substanzkategorien, sondern am adäquatesten durch das Konzept von Formalursächlichkeit zu erfassen.61 Und auch eine konzeptionell integrative Bedeutung des hylemorphistischen Seelenbegriffs kann in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden: Seine „explanatorische Eigenart … besteht … darin, dass biologisch grundlegendere und einfachere Prozesse in komplexere funktionelle Zusammenhänge des Gesamtorganismus eingebettet und dadurch weiter bestimmt werden“.62 Ein Beispiel, das diesen letzteren Aspekt treffend illustriert, ist das der Nahrungsaufnahme: Prinzipiell könnte durchaus angenommen werden, dass dieser Prozess bei der Pflanze und beim Menschen ein im Wesentlichen vergleichbares Phänomen bezeichnet; während jedoch bei der Pflanze die damit verbundene Funktion ausschließlich auf den Erhalt und die Fortdauer des Organismus gerichtet ist, ist der im Blick auf seine biologische Funktion vergleichbare Vorgang beim Menschen vielmehr integriert in weitere und deutlich komplexere Funktionskontexte, die auch eine Beteiligung mentaler und kultureller Dimensionen einschließen.63
58 Vgl. Quitterer, Erklärungspotential, 280, vgl. Quitterer, Seele, 315. 59 Vgl. Quitterer, Relevanz, 114; Dodds, Hylomorphism, 142–144. 60 Dodds, Hylomorphism, 142 verweist illustrierend auf das Verhältnis zwischen Neuronen und Gehirnaktivität; Stump bezieht sich auf das Beispiel der DNA, deren Wirkpotential sich nicht einfach aus der Summe der sie konstituierenden Atome erklären lässt, Stump, Dualism, 510f. 61 Vgl. Quitterer, Relevanz, 115f. 62 Quitterer, Erklärungspotential, 279, vgl. Quitterer, Seele, 316f. 63 Vgl. Quitterer, Erklärungspotential, 278f.
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Damit kann zum Beschluss dieser Skizze zum Seelenbegriff noch eine sehr grundlegende Frage aufgegriffen werden, nämlich die, wie sich die hylemorphistisch konzipierte Seele und das, was in der mind-brain-Debatte als mind diskutiert wird – also ein mentaler, nicht auf physische Abläufe reduzierbarer Aspekt geistiger Prozesse –, zueinander verhalten. Es dürfte ersichtlich geworden sein, dass Seelenform und mind nicht einfach gleichzusetzen sind, da erstere deutlich mehr bezeichnet als letzteres: Die hylemorphistisch verstandene Seele ist Träger von Sein sowie Organisations- und Funktionsprinzip im Menschen. Auf der anderen Seite ist sie aber auch das, wodurch dem Menschen geistige Prozesse möglich werden, was also im Materie-Form-Kompositum für die Funktionsmöglichkeiten und die Gegebenheit von Mentalem aufkommt: „A human being, who is a composite of matter and form, can engage in cognitive functions in virtue of his form, the soul“.64 Die Seelenform konstituiert also mind, schließt aber begriffliche Implikationen ein, die bei dem Begriff mind nicht zwingend mitgedacht werden. 3.3
Leib-Seele-Interaktion hylemorphistisch gedacht: Zum Problem mentaler Verursachung
Der Hylemorphismus lehnt, wie gesehen, eine reduktionistische Verhältnisbestimmung von Mentalem und Physischem im Menschen ab, hält also an einer realen Verschiedenheit von ‚Leib‘ und ‚Seele‘ fest. Damit stellt sich aber die Frage, ob der Hylemorphismus – wie ein Leib-Seele-Dualismus – vom Interaktionsproblem betroffen ist, also von der Schwierigkeit, angesichts des Postulats einer kausalen Geschlossenheit der physikalischen Welt eine reziproke Einwirkung von Mentalem und Physischem aufeinander zu erklären bzw. zu rechtfertigen. Ein erster Lösungsansatz aus hylemorphistischer Sicht könnte nun auf die formalursächliche, d. h. organisierende und strukturgebende Wirkweise der Seelenform verweisen, um dem Problem mentaler Verursachung zu entkommen. Analog dazu kann auch ein Ansatz diskutiert werden, der anstelle einer kausalen Verursachung von physischen Ereignissen einen lediglich dispositionellen Einfluss mentaler Gegebenheiten annimmt, wobei „Disposition“ definiert wird als „eine (relativ) dauerhafte Eigenschaft …, die einem Gegenstand auch dann eignet, wenn sie sich nicht empirisch nachweisen lässt, die aber unter entsprechenden Bedingungen stets zu einem zu beobachtenden charakteristischen Verhalten führt“.65 Gegenüber diesem möglichen Zugang zur Entschärfung des Interaktionsproblems legt sich nun allerdings eine grundlegende Rückfrage nahe – denn bleibt bei
64 Stump, Dualism, 519. 65 Liske, Philosophie, 30.
Mit Aristoteles gegen Platon?
einer Beschränkung auf die Kategorie von Formalursächlichkeit bzw. Dispositionalität nicht letztlich unklar, wie sich unterhalb der Ebene der substantiellen Form Geist und Gehirn, Mentales und Physisches zueinander verhalten und aufeinander einwirken? Fakt ist ja, dass eine Disposition noch keine hinreichende Ursache für eine Handlung darstellt, insofern über die dispositionelle Grundlage hinaus eine bestimmte, kausal auslösende Gegebenheit für das Eintreten der Handlung erforderlich ist.66 Es gilt also, will man einer Klärung der Interaktionsproblematik näher kommen, die Frage noch genauer in den Blick zu nehmen, wo in einer hylemorphistischen Anthropologie und in deren Konzeption des Zueinanders von Leib und Geist Wirkursächlichkeit zu lozieren ist. Und hier könnte ein vertiefter Lösungsansatz für das Interaktionsproblem ansetzen: „Ursache von Bewegungen im Sinne einer zeitlich vorausgehenden causa efficiens ist im Begründungszusammenhang der aristotelischen Philosophie das Lebewesen als Ganzes – die Substanz im ersten Sinn“.67 Das Individuum als solches ist also wirkursächlich betrachtet Grund und Auslöser menschlicher Akte; schon Thomas besteht (mit Aristoteles) darauf, dass jede Aktivität vom Menschen als Ganzem und nicht von einem bestimmten Teil des Menschen vollzogen wird, dass also nicht das Auge sieht oder die Seele denkt, sondern der Mensch mit dem Auge sieht und mit der Seele denkt.68 Damit aber, so die Pointe, stellt sich aus hylemorphistischer Sicht das Interaktionsproblem als Auswirkung eines „mereological fallacy“69 dar, der von einer getrennten Zuordnung von Handlungen an bestimmte Teile des Menschen ausgeht. Noch einmal kausallogisch formuliert: „[W]hat lies at the bottom of all the familiar problems (sc. die Interaktionsfrage betreffend) is the assumption that body and soul are two distinct entities of radically different natures, having entirely distinct causal powers rooted in these distinct natures“.70 Diese Überzeugung lehnt der Hylemorphismus nun aber zusammen mit der Prämisse ab, „dass jede Entität entweder in den Bereich des Mentalen oder in den Bereich des Physischen fallen muss“;71 vielmehr konzipiert er den Menschen, wie gesehen, als eine Entität, die in einer unhintergehbaren Verbindung von Mentalem und Physischem subsistiert und die mithin – folgt man dem Prinzip agere sequitur
66 Vgl. Liske, Philosophie, 32f. 67 Quitterer, Seele, 311. 68 „Dicimus enim quod homo videt per oculum, et palpat per manum… Potest igitur dici quod anima intelligit, sicut oculus videt, sed magis proprie dicitur quod homo intelligat per animam“, STh I q. 75, a. 2, ad 2. 69 Buchheim, Sômatikê, 87. 70 Klima, Man, 192 71 Kläden, Anima, 268.
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esse – auch in der Doppelpoligkeit sowohl physischer als auch mentaler Gegebenheiten wirkt. In diesem Sinne lässt sich festhalten, dass sich „das Problem der kausalen Interaktion zwischen Geist und Gehirn bzw. der mentalen Verursachung auflöst, weil nicht zwei Entitäten um eine kausale Rolle konkurrieren müssen oder der modus operandi zwischen ihnen zu klären ist“.72 Die Wirkursächlichkeit wird stattdessen bei dem einen Wirksubjekt, der substantia prima, dem menschlichen Individuum angesiedelt und gewissermaßen in einer leibgeistigen ‚Doppelpoligkeit‘ realisiert, eine Konzeption, die als Aspekt-„Dualismus“73 (oder vielleicht besser: Aspekt-Dualität) bezeichnet werden kann. Auch gegenüber diesen Überlegungen lassen sich freilich Anfragen formulieren. Eine erste davon könnte ins Feld führen, dass damit eine reale (und nicht nur epistemische) Distinktion zwischen Leib und Seele preisgegeben wäre, womit letztlich eine klare Abgrenzung zum Funktionalismus unmöglich würde. Dagegen argumentiert Klima mit dem Hinweis darauf, dass eine ontologische Realdistinktion zwischen Mentalem und Physischem bereits durch die Tatsache verbürgt wird, dass Leib und Seele als zwei Konstituenten von Menschsein für realiter und nicht nur epistemisch verschiedene Gegebenheiten und Aspekte von Menschsein – raumzeitliche Existenz und menschliches Leben – aufkommen.74 Ein weiterer Einwand könnte auch in der Rückfrage liegen, ob mit der skizzierten Überlegung das Interaktionsproblem wirklich bereits als gelöst gelten kann. Noch einmal anders formuliert: Ist es tatsächlich zutreffend, dass die Kategorie einer Wirkursächlichkeit gänzlich aus einem hylemorphistisch konzipierten mindbrain-Zueinander herauszuhalten und allein der übergeordneten Ebene der substantia prima zuzuschreiben ist? Diese Frage ist im Sinne Thomas von Aquins zweifelsohne mit Ja zu beantworten, insofern es um eine Betrachtung der Seele als forma corporis geht.75 Gilt dies aber auch, wenn nicht der formalursächliche Aspekt, sondern das konkrete Handeln des Menschen im Blick ist? Letzteres scheint nun, betrachtet man die einschlägige Überlegung in den Quaestiones disputatae de anima ein wenig genauer, nicht mehr eindeutig der Fall zu sein. Dort schreibt Thomas nämlich: 72 Kläden, Leib, 324, vgl. Klima, Man, 192; Liske, Zwischenposition, 218; Runggaldier, Alternative, 230. 73 Kläden, Leib, 323. Liske verweist überzeugend darauf, dass die Bezeichnung „EigenschaftsDualismus“ hingegen unzutreffend ist, da nicht „in zwei getrennten Seinsbereichen parallel Entitäten der gleichen Kategorie“ angenommen werden, insofern die Seelenform in ihrem konfigurierenden Wirken nicht als zum Materiellen parallele Kategorie gedeutet werden kann, Liske, Zwischenposition, 216. 74 Vgl. Klima, Man, 193. 75 „Et sic posuerunt quidam spiritum et humorem esse medium inter animam et corpus, et quidam lucem, et quidam potentias animae, vel aliquid aliud huiusmodi. Sed nullum istorum est necessarium, si anima est forma corporis“, Q. d. de anima, a. 9, c.
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„So fällt also zwischen die Seele, insofern sie Beweger und Handlungsprinzip ist, und den gesamten Leib etwas Mittleres; denn durch irgendeinen ersten, zuerst bewegten Teil bewegt sie die anderen Teile zu ihren Wirkungen, wie sie durch das Herz die anderen Glieder zu ihren vitalen Funktionen bewegt. Aber insofern sie dem Leib das Sein gibt, gibt sie das substantiale und spezifische Sein allen Teilen des Körpers unvermittelt“.76
Liegt mit dieser Unterscheidung zwischen der Seele als forma corporis und der Seele als motor corporis nun aber nicht doch ein ungeklärtes Zueinander von causa formalis und causa efficiens und folglich eine ungelöste Interaktionsproblematik vor? Gegen diesen Einwand ließe sich die folgende Reflexion vorbringen: Ein wirkursächlicher Einfluss der Seele als motor corporis erfolgt durch einen Kausalkonnex, der sich von der prima pars primo mota absteigend entfaltet. Diese kann als die von der hylemorphen substantia prima erstbewegte physische Komponente gedacht werden, die in der skizzierten Doppelpoligkeit des der substantia prima attribuierten Wirkens zugleich mit der mentalen Dimension einen Wirkimpuls erfährt, ihrerseits aber als erstes Glied in einer physischen Kausalkette steht, die Thomas mit zunehmender Komplexität eines Lebewesens als wachsend denkt. Diese Überlegung leitet bereits über zu einer dritten Anfrage, welche dem Hylemorphismus vorhält, letztlich annehmen zu müssen, dass der Aspekt-Dualismus die gesamte Wirklichkeit imprägniere. Mündet der Hylemorphismus in einen obskuren Panpsychismus, der „protomentale“ Eigenschaften auch im Bereich der unbelebten Wirklichkeit annehmen muss?77 Dieser Annahme dürfte zumindest der vorher thematisierte Unterschied entgegenzuhalten sein, der zwischen der als forma corporis gedeuteten Seele und dem besteht, was in der mind-brain-Debatte mit dem Begriff mind gekennzeichnet wird, also dem nicht auf Physisches reduzierbaren Aspekt geistiger Prozesse: Die hylemorphistische Konzeption einer bestimmten Entität und die dabei angenommene Gegebenheit einer Form impliziert ja noch nicht die Gegebenheit von Geist, insofern die Geistseele nur beim vernunftbegabten Wesen mit seiner forma substantialis gleichzusetzen ist. Der vielleicht zentrale Erschwernisgrund für die Rezeption einer hylemorphistischen Anthropologie ist vermutlich jedoch der folgende: Die Dichotomie von Geistigem und Physischem als zwei metaphysisch differenten Gegebenheiten, denen sich alles Seiende restlos zuordnen lässt, ist im abendländischen Denken und
76 „Sic ergo inter animam secundum quod est motor et principium operationum et totum corpus, cadit aliquid medium; quia mediante aliqua prima parte primo mota movet alias partes ad suas operationes, sicut mediante corde movet alia membra ad vitales operationes: sed secundum quod dat esse corpori, immediate dat esse substantiale et specificum omnibus partibus corporis“, Q. d. de anima, a. 9, c. (eigene Übersetzung). 77 Vgl. dazu Kläden, Leib, 325.
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auch in der anthropologischen Reflexion extrem tief verwurzelt.78 Man kann dies als kategorielle „Armseligkeit“ bewerten und entsprechend hinterfragen.79 Seiner hohen vorreflexen Plausibilität wegen stellt dieser fest etablierte Kategoriendualismus in jedem Fall aber ein kaum zu überschätzendes Rezeptionshindernis für die Annahme einer leibgeistig subsistierenden Entität und die daraus resultierende psychophysisch aspektdualistische Konzeption menschlichen Handelns dar. 3.4
Einzeichnung des hylemorphistischen Ansatzes ins Raster der mind-brain-Debatte
Abschließend gilt es, in aller Kürze Überlegungen zu der Frage darzustellen und zu diskutieren, wo und wie der hylemorphistische Ansatz in das Raster der verschiedenen in der mind-brain-Debatte vertretenen Positionen eingezeichnet wird. (1) Mit den Grundannahmen eines eliminativen Materialismus lässt sich der Hylemorphismus nicht verbinden; ein entsprechender Taxonomievorschlag spielt auch in der Diskussion keine Rolle. (2) Deutlich größer erscheint die Kompatibilität hylemorphistischer Kategorien mit den Positionen eines nichtreduktiven Physikalismus; die intensive Diskussion um die Frage, ob sich der Funktionalismus auf Aristoteles zurückführen lässt, wurde bereits erwähnt.80 Faktisch weist der Hylemorphismus eine gewisse Offenheit für ein Verständnis des Mentalen als Funktion des Physischen auf; oft und zu Recht wurde jedoch auch angemerkt, dass eine funktionalistische Deutung wenigstens bestimmte Aspekte des aristotelischen Hylemorphismus nicht zu integrieren vermag81 – was natürlich kein Argument gegen den Funktionalismus, sondern nur gegen dessen Rückbezug auf den aristotelischen Hylemorphismus darstellt. (3) Auch die Frage, ob der Hylemorphismus mit einem (verkappten) Dualismus zusammenfällt, wird – wie gesehen – diskutiert. Aus zwei Gründen scheint diese Einschätzung nachvollziehbar: Der Hylemorphismus hält erstens an der irreduziblen Dualität von physisch-materieller und geistig-subjektiver Dimension im Menschen fest, und zweitens setzt er in seinen traditionellen Spielarten einen Primat des seelisch-geistigen Prinzips voraus, sodass 78 Vgl. Searle, Wiederentdeckung, 39–41. 79 Im Sinne eines Belegs der „Armseligkeit dieser Kategorien“ empfiehlt Searle den Gedanken an Dinge wie „Zahlungsbilanzprobleme, an ungrammatische Sätze, an Gründe für Mißtrauen gegenüber der Modallogik, an meine Fähigkeit, Ski zu fahren, an die kalifornische Staatsregierung und an in Fußballspielen erzielte Tore“, vgl. Searle, Wiederentdeckung, 39. 80 Dazu vgl. vorher Anm. 12. 81 Über den nous poietikos hinaus kann die Zurückweisung einer funktionalistischen Deutung auch auf den Primat der Seele als Gestaltungs- und Organisationsprinzip und auf das Entelechieprinzip rekurrieren, das von der organismischen Einheit eines Lebewesens her denkt, vgl. zu dieser Kritik Anstey, Anima, 238–241; Berti, Aristotele, 62; Kläden, Leib, 320–322; Liske, Philosophie, 38f; Perler, Naturalismus; Runggaldier, Alternative, 234–237.
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im Blick auf den thomanischen Hylemorphismus etwa von einem „subsistence dualism“82 bzw. einem „Aspekt-Dualismus“83 gesprochen werden konnte. Und doch dürfte bei der Rede vom ‚Dualismus‘ eine gewisse Zurückhaltung geboten bleiben: Eine diesbezügliche Einschätzung hängt nämlich ganz wesentlich von der jeweils zugrundegelegten Dualismusdefinition ab, und es ist auch in Erinnerung zu rufen, dass sowohl Aristoteles als auch Thomas sich in bewusster Abgrenzung vom (neu-)platonischen Dualismus positionierten und selbst verstanden. (4) Schließlich hat man im Blick auf den Hylemorphismus sogar ein Gefälle zum Panpsychismus oder spiritualistischen Monismus hin konstatiert;84 diesbezüglich gilt es freilich, relativierend den thematisierten Unterschied zwischen Form und Geist zu berücksichtigen. Dieses deutliche Schillern zwischen den verschiedenen Polen der mindbrain-Debatte ist nun aber schon an sich ein ebenso auffallender wie bemerkenswerter Befund, weil es belegt, dass sowohl dualistische als auch physikalistische Positionen im Hylemorphismus Rezeptionsangebote finden und gewisse ihrer Zentralintuitionen als gewahrt ansehen können. Bezüglich der Taxonomiefrage resultieren daraus drei weitere Möglichkeiten: (5) Der Hylemorphismus kann, wie von einigen seiner Vertreter faktisch unternommen, als Alternative zum Paradigma Physikalismus – Dualismus ins Feld geführt werden, insofern er den Menschen als leib-geistige Entität und das menschliche Wirken folglich als doppelpolig psychophysische Akte betrachtet. (6) Integrativer gewendet ließe sich von daher auch eine Einschätzung des Hylemorphismus als Ansatz in der mind-brain-Debatte vertreten, dem der Aufweis gelingt, dass Dualismus und Physikalismus einander entgegen aller gängigen Vorannahmen gar nicht ausschließen: „[A] certain kind of (restricted rather than global) materialism – one that takes mental states to be implemented in bodily states – is compatible with a certain sort of dualism – one that is non-Cartesian in character“,85 so formuliert Stump diese Einschätzung.
4.
Diskussion
Es verbleibt noch eine letzte Möglichkeit, die Taxonomiefrage zu beantworten, die bereits in den Raum der Kritik hineinführt: (7) Sie vertritt die Auffassung, dass der Hylemorphismus es an Präzision ermangeln lässt und statt einer Festlegung
82 Stump, Dualism, 520. 83 Kläden, Leib, 323. 84 Lüke etwa klassifiziert die anima-forma-corporis-Lehre – freilich zusammengenommen mit Rahners Deutung von Materie als „gefrorenem Geist“ – als spiritualistischen Monismus, vgl. Lüke, Gehirn, 71f. 85 Stump, Dualism, 522.
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unentschieden zwischen Dualismus und Physikalismus hin- und herpendelt, also teils materialistisch-physikalistische, teils dualistische Konzepte vertritt, ohne sich in gebotener Weise festzulegen. So hat Bernard Williams formuliert: „Hylomorphism earns its reputation as everybody’s moderate metaphysics of mind, I believe, by in fact wobbling between two options“.86 Zweifelsohne kann man diese Auffassung vertreten. Es wurde diskutiert, ob sich dabei möglicherweise tatsächlich eine letzte Ungeklärtheit der Frage auswirkt, was genau die Seele als forma substantialis im Menschen in ontologischer Hinsicht ist.87 Andererseits ist, wie gesehen, auch die Einschätzung möglich, dass das scheinbare Schwanken des Hylemorphismus zwischen physikalistischen und dualistischen Intuitionen keine Festlegungsschwäche ist, sondern im Sinne einer Verbindung von unvereinbar erscheinenden Gegensätzen in der mind-brain-Debatte gerade die Stärke dieses Ansatzes darstellt. Zugunsten dieser letzteren Bewertung kann wohl auch die Überlegung ins Feld geführt werden, dass die leibgeistig hybride Menschennatur – wie bereits ein Blick auf Alltagsintuition und Selbstwahrnehmung zeigt – grundsätzlich und unhintergehbar sowohl physikalistische als auch dualistische Intuitionen generiert. Das Changieren des Hylemorphismus zwischen beiden macht ihn daher vielleicht gerade zu einer ontologischen Position, die diesem grundlegenden Phänomen einer Dialektik des menschlichen Daseinsvollzugs gerecht wird. An den Hylemorphismus ist auch der Vorwurf herangetragen worden, er erledige zu rasch, was aufgrund eines starken Befundes menschlicher Selbsterfahrung nicht als erledigt angesehen werden darf: die Unterscheidung zwischen Physischem und Geistigem sowie das „Leib-Seele-Problem als Problem der mentalen bzw. der kausalen Verursachung“.88 Der zuerst genannte Kritikpunkt scheint kaum nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass der Hylemorphismus faktisch eine deutliche, sogar ontologische Differenz zwischen Akt und Potenz, Form und Materie annimmt und somit der ins Feld geführten Alltagserfahrung durchaus Rechnung zu tragen erlaubt. Was den zweiten Aspekt der Kritik, die Erledigung des Interaktionsproblems, angeht, so kann, wie vorher gezeigt, in der Tat infrage gestellt werden, ob es auf hylemorphistischem Weg wirklich als gelöst gelten darf. Ob allerdings eine dualistische Position (die das zuerst genannte Anliegen einlöst) diesbezüglich die besseren Karten hat, darf wohl als fraglich gelten. Im Letzten spiegelt die genannte Kritik daher wohl vor allem eines wider: die bereits konstatierte Tatsache,
86 Williams, Hylomorphism, 197. Barnes verweist darauf, dass die Kritik am Hylemorphismus häufig eine Äquivokation und entsprechende Unstimmigkeit im Begriff der Form moniert, vgl. Barnes, Paradoxes, 502–504, vgl. auch Herzberg, Hylemorphismus, 91. 87 Vgl. dazu Barnes, Paradoxes, 501–504; Barnes schlägt unter Verweis auf Suárez‘ Disputationes Metaphysicae (disputatio XV: „De causa formali substantiali“) vor, die Seele nicht als forma substantialis, sondern als substantia incompleta zu qualifizieren, vgl. Barnes, Paradoxes, 507. 88 Beuttler, Leib, 10.
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dass der Hylemorphismus mit seinem psychophysisch-doppelpoligen Verständnis menschlichen Handelns die fest etablierte ontologische Überzeugung unterläuft, dass jede Entität entweder dem physischen oder dem geistigen Bereich zuzuordnen sein muss. Der vielleicht grundlegendste Kritikpunkt verweist darauf, dass die Übernahme einer hylemorphistischen Position in der mind-brain-Debatte die Festlegung auf ein obsoletes metaphysisches System impliziert. Es steht außer Frage, dass hier eine grundlegende philosophische Reflexion auf die Vorzüge und Nachteile des Hylemorphismus bzw. eine Übersetzungsarbeit zur Reformulierung hylemorphistischer Konzepte in zeitgenössischen philosophischen Begriffen erforderlich ist; in der jüngeren analytischen Philosophie, für die eine gewisse Renaissance der Rezeption hylemorphistischen Denkens konstatiert werden kann,89 wird genau diese Übersetzungsarbeit bereits geleistet, ohne dass die Bemühung um Versuche „einer Reanimierung der aristotelischen Ontologie, der aristotelischen Seelen- und der aristotelischen Geistmetaphysik“ bereits als abgeschlossen betrachtet würde.90 Festzuhalten ist in jedem Fall, dass sich metaphysische Aussagen allgemein und die hylemorphistische Annahme einer Gegebenheit von Form und Materie konkret im vorempirischen Bereich bewegen und daher nicht empirisch falsifiziert werden können: „Since neither principle [sc. Form und Materie] is in itself a ‚what‘ or an actually existing entity, neither principle can be investigated directly by empirical science which is equipped by its method to study ‚whats‘ but not ‚that by whiches‘“.91 Dieser transempirische Status metaphysischer Aussagen eröffnet nun selbstverständlich keinen Blankoscheck im Sinne einer Beliebigkeit entsprechender Behauptungen: Vielmehr erweist sich die Vertretbarkeit einer metaphysischen Position an deren explanatorischer Relevanz und Stärke. Und diesbezüglich wurden im Rahmen von Versuchen einer Rehabilitierung des Hylemorphismus bereits einige Überlegungen angestellt, die hier wenigstens in aller Kürze erwähnt seien. Ausführlich referiert wurde bereits die Einschätzung, dass der Hylemorphismus mit seinem Ansatzpunkt bei der substantia prima als bedenkenswerte Gestalt eines anthropologischen Einheitsdenkens bewertet werden kann, die die alltagsintuitive Unterscheidung von Mentalem und Physischem ebenso zu wahren erlaubt wie die unter Voraussetzung eines starken Dualismus problematisch werdenden Anliegen aus dem Bereich der christlichen Anthropologie bzw. Eschatologie und die mithin eine bedenkenwerte Explikationskraft im Kontext der mind-brain-Debatte entfalten kann. Die von Quitterer verschiedentlich hervorgehobene Eignung des Hylemorphismus dafür, im Zuge einer funktional-organismischen Betrachtung
89 Vgl. Gasser, Theorien, 536; siehe zudem Galvan, ilemorfismo. 90 Goebel, Wiederkehr, 419. 91 Dodds, Hylomorphism, 146; vgl. Quitterer, Seele, 319; Kläden, Leib, 310.
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des Menschen einen philosophischen Erklärungszugriff für top-down-Kausalität zu eröffnen,92 klang ebenfalls bereits an. Darüber hinaus entfaltet Runggaldier Überlegungen dahingehend, eine hylemorphistische Anthropologie zur Erklärung von Identitätskontinuität bzw. zur Lösung der diesbezüglich im Rahmen einer dualistischen Anthropologie verbleibenden Aporien ins Feld zu führen.93 Und auch auf die Stärke einer hylemorphistischen Ontologie im Bereich der Reflexion von Fragen praktischer Philosophie hat Runggaldier verwiesen: Eine Ontologie, die nicht nur mit den Kategorien von Ereignissen und Tropen, also individuellen Qualitäten, sondern auch mit einem Kontinuantenkonzept – im Falle des Hylemorphismus: mit dem Begriff der Substanz – operieren kann, verfügt am ehesten über das nötige Begriffsinventar, um Fragen aus dem Bereich von Subjektivität und Ethik zu diskutieren.94 Die bisherige Reflexion des Hylemorphismus als Alternative in der mind-brain-Debatte hat also vielleicht noch keine umfassend befriedigende Reflexion der ontologischen Implikationen, wohl aber einige bemerkenswerte Ansätze zur Begründung einer möglichen explanatorischen Relevanz und Stärke des Hylemorphismus erbracht. Freilich: Man muss einen weiten Weg mitgehen, um den Hylemorphismus als Alternative zu Dualismus und Physikalismus und als Lösung für das Leib-SeeleProblem zu akzeptieren, und zur Begründung der Sinnhaftigkeit dieses Weges werden wohl noch weitere, eingehendere Überlegungen anzustellen sein. Die vorangehende bündelnde Skizze der entsprechenden Argumentation hat aber auch einige Vorzüge erkennen lassen, die der hylemorphistischen Option abzugewinnen sein dürften. So sehr eine hylemorphistische Anthropologie daher der zählebigen dualistischen Annahme, dass alle Entitäten entweder dem materiellen oder dem geistigen Kosmos zuzuweisen sein müssen, entgegensteht, so wenig sollte sie doch als anthropologische Option vorschnell ausgeschlossen werden.
5.
Literatur
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92 Vgl. bes. Quitterer, Erklärungspotential, 279; Quitterer, Seele, 316f. 93 Vgl. v.a. Runggaldier, Deutung, 209–219; Runggaldier, Alternative, 242f; siehe zudem auch Quitterer, Hylemorphismus, 118; Quitterer, Substanz, 73. 94 Vgl. Runggaldier, Alternative, 225-227.243-246.
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Die Identität des Menschen in der Auferstehung – eine hermeneutische Perspektive mit Ausblick in die Ewigkeit
Die Alternative von Monismus und Dualismus gewinnt besondere theologische Bedeutung im Zusammenhang der christlichen Hoffnung über den Tod hinaus. Der Dualismus von Leib und Seele hat sich oft verbunden mit der Vorstellung eines geistig-seelischen Wesenskerns des Menschen, der unzerstörbar den Tod überdauert und für die Identitätserhaltung zwischen dem irdischen und dem jenseitigen Leben sorgt. Der Monismus dagegen neigt zum Naturalismus und zur Zurücknahme der Wirklichkeit auf reine raumzeitliche Immanenz. Monistisch betrachtet ist ein Leben mit dem identisch, was ihm in seiner Lebenszeit widerfährt und wie es sich selbst im Verlauf dieses Lebens aktiv gestaltet. Zwischen Anfang und Ende ist ein Leben die Summe seiner Widerfahrnisse und seines Tuns. Und wie zum Beginn eines Lebens dieses durch eine besondere Formierung rein immanenter Strukturen entsteht, so vergeht es am Ende durch deren Auflösung. Dieser Beitrag soll sich deshalb mit der Frage beschäftigen, ob und wie sich eine Hoffnung über das Ende menschlicher Existenz hinaus explizieren lässt, ohne dafür einen problematischen Dualismus in Anspruch zu nehmen. Damit begeben wir uns in eine gegenwärtig geführte theologische Debatte, die ich zunächst kurz skizziere.
1.
Unsterblichkeit der Seele oder ‚Ganztod‘?
In jüngster Zeit haben sich in der protestantischen Theologie die Stimmen vermehrt, die eine Rückkehr zur Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele vorschlagen, um der christlichen Hoffnung über den Tod hinaus einen Ankerpunkt zu geben.1 Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass weite Teile der deutschsprachigen protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts eben diese Vorstellung abgelehnt hatten. Dazu gehören so prominente Vertreter wie Karl Barth2 , Paul Althaus, Eberhard
1 Dass damit „in der protestantischen Theologie der Gegenwart auf breiter Front ein Abrücken von der Ganztodtheorie zu beobachten sei“ (Matthias Reményi, Auferstehung denken. Anwege, Grenzen und Modelle personaleschatologischer Theoriebildung, Freiburg, Basel, Wien 2016, 162), scheint mit allerdings doch eine stark übertriebene Feststellung zu sein. 2 Vgl. schon für den frühen Barth Karl Barth, Die Auferstehung der Toten. Eine akademische Vorlesung über 1. Korinther 15, München 1924. Später in der Kirchlichen Dogmatik: Mit Seele ist
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Jüngel3 , Wolfhart Pannenberg4 oder Jürgen Moltmann5 . Im Detail variantenreich wird der Tod des Menschen von ihnen verstanden als das unwiderrufliche Ende des irdischen Lebens des ganzen Menschen. Die christliche eschatologische Hoffnung auf ein ewiges Leben kann dann nur dadurch angemessen zur Geltung gebracht werden, dass Gott den gestorbenen Menschen neu ins Dasein ruft und in seine Ewigkeit aufnimmt. Zu den Argumenten für diese Ablehnung der Vorstellung einer unsterblichen Seele gehört zum einen der Hinweis, dass dies am ehesten der neutestamentlichen Vorstellung einer Auferstehung von den Toten entspricht. Zum anderen kann nur so mit der Unerbittlichkeit des menschlichen Todes angemessen umgegangen werden, dass die Theologie nicht in philosophisch begründete Unsterblichkeitsvorstellungen ausweicht, die sich einer problematischen Metaphysik verdanken, sondern die dem christlichen Glauben besondere, in Christi eigener Auferstehung begründete Hoffnung herausstellt. Allein das Gottesverhältnis des Menschen vermag dann die Auferstehung zu begründen. Stellvertretend sei Paul Althaus zitiert: „Der Tod ist die Grenze dessen, was wir als Leben kennen; aber er ist nicht die Grenze unseres Gottesverhältnisses, sondern ein Moment desselben. Wir wissen nichts von einer Unsterblichkeit der ‚Seele‘, aber von der Unsterblichkeit unseres Gottesverhältnisses.“6 Anknüpfungspunkt für die Auferweckung ist dann nicht die unsterbliche menschliche Seele, sondern das Gedenken, das Erinnern Gottes selbst. Eberhard Jüngel hat damit eine theologisch begründete Bejahung der Endlichkeit des Menschen verbunden. Der biologische Tod ist zu verstehen als das definitive Ende einer Lebensgeschichte und „eben darin Ausdruck der Endlichkeit des menschlichen Lebens“7 . Nach dem Tod eines Menschen gilt: „Der Gestorbene ‚ist‘ nur noch in der Weise des Gewesenseins“8 . Damit soll die Radikalität des Todes in einem christlichen Realismus so ernst genommen werden, dass einem illusionären Ausweichen vor dem Todesschicksal des Menschen der Boden entzogen wird. Nicht die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, sondern die Gewissheit des Glaubens, dass das gelebte Leben in Gott geborgen ist und deshalb als gelebtes nicht mehr verloren gehen kann, hat eine christliche Theologie zum Ausdruck zu bringen. „Das endliche
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biblisch gemeint „der ganze lebende Mensch, das Leben seines Leibes, er selbst als der in diesem Leibesleben Existierende. Und nicht ihre Unsterblichkeit, sondern ihre künftige Errettung in der Auferstehung der Toten ist der Inhalt der dem Menschen gegebenen Verheißung und Hoffnung“ (Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik III/2. Die Lehre von der Schöpfung. 2. Teilband: Das Geschöpf, Zürich 2 1959, 455). Zu Althaus und Jüngel s.u. Z.B. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 1993, 652. Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Darmstadt 2 2005, 88–96. Paul Althaus, Die letzten Dinge. Lehrbuch der Eschatologie, Gütersloh 8 1961, 110. Eberhard Jüngel, Tod, Gütersloh 2 1983, 145. Ebd.
Die Identität des Menschen in der Auferstehung
Leben wird als endliches verewigt. Aber eben nicht durch unendliche Verlängerung: eine Unsterblichkeit der Seele gibt es nicht. Sondern durch Teilhabe an Gottes eigenem Leben. In seinem Leben wird das unsrige geborgen sein.“9 Das entspricht der Position von Jüngels Lehrer Karl Barth, für den die Hoffnung des christlichen Glaubens nicht die Hoffnung auf „ein in irgend eine unendliche Zukunft hinein fortgesetztes und in dieser Zukunft irgendwie verändertes Leben ist, sondern die ‚Verewigung‘ gerade dieses unseres endenden Lebens“10 . Vor allem von katholisch-theologischer Seite wurde diese Position kritisch betrachtet und seit Karl Rahner polemisch als „Ganztodhypothese“ bezeichnet.11 Nun erhebt sich also auch innerhalb der protestantischen Dogmatik Protest, der eine Wiederbesinnung auf die Vorstellung einer unsterblichen Seele fordert. Hauptargument ist der Hinweis darauf, dass ohne eine unsterbliche Seele die Identität und Kontinuität eines Menschen nach dem Tod nicht bewahrt werden kann. Viele alte und neue Vertreter einer Unsterblichkeit der Seele sehen den Begriff der Seele als notwendigen Garanten dafür, dass eine Kontinuität menschlicher Existenz über den Tod hinaus und damit die christliche Auferstehungshoffnung überhaupt gedacht werden kann. Steht die Seele schon in diesem Leben dafür gut, dass der Mensch als ein beständig über sich hinausgehendes Wesen nicht zerfällt, sondern als in aller Veränderung mit sich selbst identisches Wesen existiert, so muss dann auch die Seele als der Anknüpfungspunkt bestehen bleiben, der einen Übergang zum ewigen Leben möglich macht. Eine „Ganzvernichtung“12 (so der Ausdruck von Kirsten Huxel) mache dagegen die Frage nach der Identität des Menschen, der auferweckt wird, unbeantwortbar, weil ohne die Seele als identitätsstiftendes Element keine Kontinuität zwischen dem verstorbenen und dem auferweckten Menschen unterstellt werden kann. „Identität ohne Kontinuität […]: das ist ein im wörtlichen Sinne uneigentliches Individuum – eine leere Metapher“13 , schreibt auch Theodor Mahlmann. Die Ganztodthese, so wird argumentiert, kann die Auferstehung nur als eine völlige Neuschöpfung verstehen, die sich analog zur ersten Schöpfung aus dem Nichts vollziehen muss, eine nova creatio ex nihilo14 . Polemisch fragt Reményi, ob nicht die Vorstellung einer vollständigen Neuschöpfung in Spannung stehe zur
9 A.a.O., 152. 10 Barth, KD III/2, 759–760. 11 Karl Rahner, Das Leben der Toten, in: Schriften zur Theologie IV: Neuere Schriften, Zürich, Einsiedeln, Köln 4 1964, 429–437, 430. 12 Kirsten Huxel, Unsterblichkeit der Seele versus Ganztodthese. Ein Grundproblem christlicher Eschatologie in ökumenischer Perspektive, NZSTh 48 (2006), 341–366, 361. 13 Theodor Mahlmann, Auferstehung der Toten und ewiges Leben, in: Die Zukunft der Erlösung. Zur neueren Diskussion um die Eschatologie, hg. v. K. Stock, Gütersloh 1994, 108–131, 117f. 14 Jürgen Moltmann spricht im Anschluss an Ernst Bloch von der neuen Schöpfung als einem „novum ex nihilo“ (Neues aus dem Nichts), vgl. 1965, 328 (Anm. 48).
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Treue Gottes: „Denn wie steht es um die Treue Gottes zu seiner Schöpfung, wie um seine Schöpfermacht, wenn er durch den Tod gezwungen [!] sein sollte, alle seine Geschöpfe ein zweites Mal zu erschaffen?“15 Außerdem bliebe völlig unerklärlich, „wie ohne ein Moment der Kontinuität die Identität und Selbigkeit der gestorbenen mit der auferstandenen Person gewährleistet werden sein sollte“16 . Dieses Moment der Kontinuität stellt die Seele bereit, die das „Fürsichsein“ eines Menschen repräsentieren und damit dessen „personale Identität sichern soll“17 . Unklar bleibt allerdings, wie über die rein formale Identitätserhaltung eines Fürsichseins hinaus diese unsterbliche Seele inhaltlich bestimmt ist und in welchem Verhältnis dieser Identitätsmarker steht zu dem, was wir sonst im Alltag als ‚seelisch‘ verstehen: Ichbewusstsein? Zeitempfinden? Identitätsgefühl? Gefühlszustände überhaupt? … Und muss der Seelenbegriff nicht inhaltlich gefüllt werden, wenn damit ein bestimmtes Individuum bezeichnet werden soll, das den eigenen Tod irgendwie individuell-substanzhaft überdauert? Und ist nicht auch in diesem Fall die Auferstehung als ein zweites Erschaffen des Geschöpfs zu verstehen, wenn auch nicht aus dem ‚Nichts‘, weil eine allenfalls rumpfhafte, auf ihr ‚Fürsichsein‘ reduzierte ‚Seele‘ zu einem neuen Leben erweckt werden soll? Außerdem muss auch das traditionelle Konzept einer unsterblichen Seele eine beständige und wiederholte creatio ex nihilo unterstellen, die mit der ursprünglichen Schöpfung am Anfang nicht abgegolten ist, insofern die an sich selbst bestehende, unsterbliche Seele nicht durch natürliche Vorgänge entstehen, sondern nur durch einen Schöpfungsakt jeweils bei der Bildung eines menschlichen Embryos ex nihilo ins Dasein treten kann – wenn man den Gedanken einer Präexistenz der unsterblichen Seele vermeiden möchte.18 Dem Unsterblichkeitsgedankens wohnen jedenfalls eigene Spannungen und Aporien inne, die seine Befürworter zumeist generös überspielen. Auch der Hinweis, dass Unsterblichkeitsvorstellungen in der christlichen Frömmigkeit verbreitet und geradezu essentiell in ihrer Trostfunktion seien, ist nach meiner Auffassung nur bedingt richtig. Wichtiger für ein christliches Verständnis von Tod und Auferstehung ist die Ambivalenz, die sich mit einem an Jesu Tod und Auferstehung orientierten Verständnis des Endes eines Lebens als einem Übergang
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Reményi, Auferstehung, 162. A.a.O., 161. Ebd. In der Enzyklika ‚Humani generis‘ von 1950 wird gegen die Evolutionstheorie ausdrücklich festgehalten, „daß […] die Seelen unmittelbar von Gott geschaffen werden“ (Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum – Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Lateinisch – Deutsch, hg. v. P. Hünermann / H. Denzinger, Freiburg im Breisgau 38 1999, 1096 (DH 3896)). Vgl. dazu auch unten Anm. 31. Das führt zu ganz neuen systematischen Problemen bis hin zu der Frage, wann genau denn diese Seele zum Embryo in seiner Entwicklung hinzutritt und worin sie inhaltlich besteht.
Die Identität des Menschen in der Auferstehung
verbindet und in deren Kontext Unsterblichkeitsvorstellungen eingezeichnet sind. Das soll der folgende Abschnitt noch kurz erläutern, bevor wir uns der Frage nach der Identitätserhaltung in diesem Übergang zuwenden.
2.
Theologie und Frömmigkeiten zwischen Unsterblichkeitshoffnung und Todesrealismus
In Bezug auf die christliche Hoffnung über den Tod hinaus laufen sowohl in der theologischen Tradition als auch in der christlichen Frömmigkeit oft spannungsreiche Konzeptionen nebeneinander her. Das beginnt schon damit, dass die Unsterblichkeit der Seele dogmatisch eingeführt wurde, um Identität und Kontinuität zwischen dem gelebten Leben mit seinem individuellen Tod und der allgemeinen Auferweckung mit dem Endgericht am Ende aller Tage zu garantieren. Die vorchristliche, platonische Vorstellung von der Unzerstörbarkeit der Seele schien das zu leisten und diente der Konstruktion eines Zwischenzustands zwischen Tod und Auferstehung. Sie hatte im Grunde „nur eine Hilfsfunktion zur Überbrückung der Kluft zwischen dem individuellen Tod und der universalen Auferstehung am Jüngsten Tage“19 . Doch war es nicht das primäre Anliegen der Unsterblichkeitsvorstellung, einer positiven Hoffnung über den Tod hinaus Anhalt zu geben. Das ist eher eine neuzeitliche Perspektive. Sie nahm in ihrer vorneuzeitlichen christlichen Fassung dem Tod gerade nicht seinen Schrecken, sondern verstärkte ihn, weil die Unsterblichkeit der Seele auch und gerade für die Verlorenen galt, die nach der Auferstehung in der ewigen Verdammnis ewig sterben sollten, ohne jemals ganz tot sein zu können. Unsterblichkeit verhinderte den Tod als Ausweg und konnte durch das Gericht zum Fluch werden: der Fluch, weder richtig leben noch richtig sterben zu können – eine wahrhaft trostlose Perspektive.20 Seit den Ursprüngen des Christentums aber gab es neben der Unsterblichkeitsvorstellung stets auch die Betonung der Vergänglichkeit des Menschen, mit der sich Mahnung, aber auch Trost verbanden. Ich erinnere an Matthias Claudius: „Der Mensch lebt und bestehet / nur eine kleine Zeit, / und alle Welt vergehet /mit ihrer Herrlichkeit“, und an Motive aus dem 90. Psalm: „Unser Leben währet siebzig Jahre, / und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, / und was daran köstlich scheint, / ist doch nur vergebliche Mühe; / denn es fähret schnell dahin,
19 Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. III. Der Glaube an Gott, den Vollender der Welt, Tübingen 1979, 458. 20 Das dürfte ein weiterer Grund sein, weshalb Origenes seine Theologie in Richtung einer Wiederbringung aller Dinge (eigentlich: aller Seelen!) entwickelte. Vgl. dazu vom Vf.: Dirk Evers, Origen and Karl Barth on Universal Salvation. An Essay in Constructive Theology, Adamantius 25 (2019), 39–54.
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/ als flögen wir davon. […] Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, / auf dass wir klug werden.“ Solche Motive bringen die Endlichkeit und das definitive Ende menschlichen Lebens zum Ausdruck, und sie verstehen solche Einsicht als gerade für den Glauben und die Hingabe an Gott wichtige, ja fundamentale Klugheit. Es ist die Einsicht, dass auch und gerade das, was uns als Person ausmacht, von sich aus kein natürliches Recht auf Unversehrtheit oder gar Ewigkeit besitzt. Deshalb redet der Apostel Paulus auch vom Sieg Christi über den Tod (vgl. 1.Kor 15,54), weil es nach Paulus’ Vorstellung gerade nicht ausgemacht ist, dass der Mensch von sich aus und mit seinem Identitätskern seinen Tod überlebt. Die biblische Auferstehungshoffnung dürfte, genauso wie das auch von Jesus bekannt wurde, von daher einen ‚echten‘, vollständigen Tod des Menschen zur Voraussetzung haben.21 Dazu kommt der Gedanke, dass eine unendliche Fortsetzung des Lebens auch unabhängig von Endgerichtsvorstellungen eine alles andere als trostreiche Aussicht sein kann. Man denke etwa an weit verbreitete Motive von Seelen, die nach dem Tod weiterleben müssen. Darauf reagieren Bibel und Tradition mit dem Motiv der ewigen Ruhe eines in Gott abgeschlossenen Lebens: „Denn wir, die wir glauben, gehen ein in die Ruhe“ (Heb 4,3). In der Ewigkeit ruht der sein Leben gelebt habende Mensch von seinen Werken, so dass das Menschen seit Jahrhunderten begleitende Requiem genau darum bittet: „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, / und das ewige Licht leuchte ihnen: Requiem aeternam dona eis, Domine: et lux perpetua luceat eis.“ Motive, die heute polemisch gegen die ‚Ganztodvorstellung‘ vorgebracht werden, finden sich deshalb auch durchaus nicht erst bei modernistischen Protestanten des 20. Jahrhunderts. So behauptet das Graduale in der Totenmesse gar, dass der Gerechte nicht als unsterbliche Seele, sondern im ewigen Gedenken Gottes fortlebt.22 Der Ganztodgedanke hat also seinen eigenen, durchaus starken Anhalt an biblischen, frömmigkeitsprägenden und dogmatischen Traditionen. Die Spannung zwischen beiden Vorstellungskreisen (Endlichkeit und Unsterblichkeit) gehört deshalb in die weder theoretisch noch praktisch, weder im Denken noch als Lebenshaltung ein für alle Mal auflösbare oder abschließbare Auseinandersetzung des Menschen mit Last und Segen (!) der Sterblichkeit.23 Der Tod ist ein Übel, weil im Grunde jeder Tod zur Unzeit kommt und durch Zerstörung beendet,
21 Vgl. als theologische Interpretation des Todes Jesu vom Vf.: Dirk Evers, Das Kreuz Jesu Christi als Wende. Hermeneutische Überlegungen zu Jesu Leiden und Sterben, in: Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik, hg. v. J. Herzer / A. Käfer / J. Frey, Tübingen 2018, 211–235. 22 „In memoria aeterna erit justus: In ewigem Gedenken wird der Gerechte sein“, oft übersetzt als: „In ewigem Gedenken lebt der Gerechte“. 23 Vgl. Hans Jonas, Last und Segen der Sterblichkeit, in: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt (Main) 1994, 81–100.
Die Identität des Menschen in der Auferstehung
was gerade nicht so ohne weiteres wert ist, dass es zugrunde geht. Der Tod ist andererseits notwendig, weil er die Aufeinanderfolge der Generationen ermöglicht. Der Tod ist auch ein Gut, weil die Endlichkeit die dem Geschöpf Mensch angemessene, wohltuende, es auf seine jeweilige Gegenwart konzentrierende und barmherzig begrenzende Existenzform ist. Der Tod ist Erlösung, weil er uns aus der Last des Erdenlebens befreit. Der Tod ist andererseits im Grunde neutral, weil er, solange wir sind, noch nicht da ist, und wenn er dann eintritt, wir nicht mehr da sein werden, so dass schon Epikur behauptete, dass uns der Tod im Grunde nichts angehe. Das alles sind mögliche und erfahrungsgesättigte Einstellungen und Haltungen zum Tod, und oft koexistieren sie mehr oder weniger spannungsvoll miteinander und nebeneinander. Die Antwort auf die Frage nach der Identität eines menschlichen Lebens auch und gerade angesichts des Todes kann deshalb nach meiner Überzeugung nicht in einer Aufhebung dieser Spannungen und Fragen in ein stimmiges System oder in einer diese Fraglichkeit vermeintlich erledigenden, abschließenden Lösung bestehen. Entscheidend ist vielmehr, die Fragestellungen einzuordnen in den anthropologischen Rahmen des nach sich selbst und nach der Wahrheit seines gemeinschaftlichen und individuellen Lebens fragenden Menschen.24 Nur dann können diese Spannungen verständlich und in der Perspektive des christlichen Glaubens bearbeitbar und für die Hoffnungsperspektiven des Glaubens anschlussfähig gemacht werden. Dabei besteht der Beitrag des Ganztodverständnisses im Herausstreichen einer letzten ‚metaphysischen Heimatlosigkeit‘25 , die Menschen nicht aus sich selbst heraus, durch eigenes Handeln, durch theoretische Einsicht oder durch praktische Gestaltung ihrer Lebensform, überwinden können, sondern gegen die sich die Gewissheit eines unverlierbaren Gottesbezugs im Glauben als Geschenk allenfalls einstellen kann und die doch immer auch gefährdet bleibt. Und die Betonung der Endlichkeit des Lebens und der Wirklichkeit des Todes warnt vor (religiösem) wishful thinking, das sich aus der Realität des Faktischen in eine kontextlose Unsterblichkeit einfach verabschiedet und meint, sich an den real existierenden
24 Ob nur in Bezug auf die anatomisch moderne Form des Menschen von einer Art Verlorenheit und einem Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit, verbunden mit der grundlegenden Möglichkeit, mit seinem Leben scheitern zu können, die Rede sein kann, ob also die Grundstruktur menschlicher Existenz, die Heidegger als ‚Dasein‘ bezeichnete und in seinem frühen Werk als Sorge und Sein zum Tode charakterisierte, auch auf Frühformen des Menschen oder gar auf Teile des Tierreichs ausgeweitet werden kann oder sollte, muss an dieser Stelle offen bleiben. Wenn wir hier und im Folgenden von der Identität eines individuellen Menschen reden, dann sind damit ohne strenge Abgrenzung Menschen ‚so wie wir‘ gemeint, die nach sich selbst und einem gelingenden Leben fragen. 25 Dieses Stichwort für die Moderne prägte schon Schelsky, vgl. Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1965, 439–480, 468.
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Verhältnissen nicht mehr bewähren zu müssen oder scheitern zu können. Dass andererseits die Identität eines menschlichen Lebens sich letztlich nur unter Bezug auf Gottes schöpferisches Handeln und als eine überempirische Einheit des Menschen bestimmen lässt, die ihn als Gottes Ebenbild mit Gott verbindet, macht die Vorstellung einer menschlichen und also durchaus sterblichen Seele deutlich. Sie weist auf ihre Weise auf das Phänomen hin, dass wir unsere Identität ebenso wie unser Leben überhaupt von woanders her empfangen und dass diese ‚Empfängnis‘ oder ‚Natalität‘, wie Hannah Arendt dies nannte,26 nicht nur unserem Handeln und der Bildung unseres Soseins vorausliegt, sondern auch über den physischen Tod hinausweist, in dem unsere elementare Passivität, unser fundamentales Angewiesensein in letzter Radikalität deutlich wird. Das schließt allerdings nach meiner Überzeugung die Annahme der natürlichen Unsterblichkeit einer metaphysisch verstandenen Seele gerade aus. Nota bene: Das heißt eben nicht, dass der Mensch nicht eine Seele hat oder – besser – ein seelisches Wesen ist, solange er lebt. Es geht mir an dieser Stelle allein um die Problematik der Unsterblichkeit der Seele. Der deutsche Ausdruck ‚eine Seele haben‘ macht schon deutlich, dass der Mensch gerade nicht mit einer Seele identisch ist, so dass sie auch kaum als Identitätsträger über den Tod hinaus in Frage kommt. Es wird dadurch eher deutlich, dass das, was im Leben eines Menschen das Seelische ausmacht, eine Gabe, ein Geschenk ist, das eine Person nicht einfach aus sich selbst heraus hervorbringt, sondern im Zusammenhang der Gemeinschaft von Menschen und – in theologischer Perspektive – in, mit, unter und zum Teil auch gegen diesen Zusammenhang letztlich von Gott empfängt. Doch wie kann dann die Identität eines individuellen Lebens über den physischen Tod hinaus gedacht werden?
3.
Identität als Integral
Die im Folgenden entfaltete These lässt sich kurz so zusammenfassen: Eine über den Tod hinaus Bestand habende Identität einer menschlichen Person besteht weder in der Kontinuität und Stetigkeit eines Personkerns (metaphysische, unsterbliche Seele) noch ist sie begründet in der Summe der Ereignisse eines Lebens (monistischer Naturalismus), sondern sie bezieht sich auf das komplexe Integral eines gelebten, endlichen und als solches notwendigerweise Fragment bleibenden Lebens. Der Tod im Sinne eines wirklichen Todes, den auch die ‚Seele‘ als Person- oder Identitätskern nicht ‚überlebt‘, ist dabei nicht die Infragestellung eschatologischer Identität, sondern deren Bedingung. Darin spiegelt sich im Übrigen ein Verständnis
26 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 12 2001, pass.
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von Eschatologie wieder, das mit Debatten um die dialektische Theologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu deren Neubelebung geführt hat. Nachdem Troeltsch das „eschatologische Bureau“27 schon für geschlossen erklärt hatte, wurde nun die Eschatologie transzendentaltheologisch28 gewendet: Eschatologie ist nicht als eine Lehre über letzte Sachverhalte oder Gegenstände (die Eschata) zu verstehen, sondern als eine Entfaltung der Möglichkeitsbedingungen einer christlichen Sicht der Wirklichkeit überhaupt. Transzendental sind ja nach Kant diejenigen Denkfiguren, „die sich nicht […] mit den Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen […] überhaupt“29 beschäftigen. So verstanden ergänzt die Eschatologie nicht unser Verständnis der Wirklichkeit um diejenigen Sachverhalte und Gegenstände, die jenseits der Schranken von Raum und Zeit liegen, sondern eine eschatologische Perspektive ermöglicht es allererst, die Verhältnisse von Raum und Zeit richtig wahrzunehmen. Die Identität eines menschlichen Lebens, das wäre die These, kann überhaupt nur bestimmt werden im Zusammenhang eines eschatologisch formierten Verstehens der Wirklichkeit, also eines Verstehens, das die Wirklichkeit eingebettet sieht in ihr Woher und ihr Woraufhin, das in christlicher Perspektive mit Gott als Schöpfer und Vollender bezeichnet wird. Vielleicht können mathematische Analogien helfen, den Gedanken zu veranschaulichen. Dazu weisen wir zunächst die beiden Konzepte zurück, die nach meiner Überzeugung untauglich sind, unsere Intuitionen bezüglich der Identität menschlicher Existenz zwischen Natalität und Dasein zum Tode aufzunehmen, weil sie unser begrenztes irdisches Leben und unsere immer nur fragmentarische Identität bloß additiv zu ergänzen suchen oder einer solchen Ergänzung mit Verweis auf die Wirklichkeit des Faktischen schlicht widersprechen. Zum einen halten wir fest, dass die Identität eines individuellen Menschen nicht in der Stetigkeit der Funktion eines zu verschiedenen Zeitpunkten t0 · · · tn · · · tf verschiedene Zustände annehmenden x besteht.30 Das wäre das Konzept einer unsterblichen Seelenmonade, die in jedem Zeitpunkt ihrer Existenz mit sich selbst identisch bliebe und darin Träger ihrer wechselnden Zustände ist. Für den Unsterblichkeitsgedanken wird die Trajektorie dieser Funktion über den physischen Tod hinaus stetig verlängert. Weil es sich um einen nicht zusammengesetzten,
27 Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911/12 mit einem Vorwort von M. Troeltsch, München, Leipzig 1925, 36. 28 Michael Welker, Theologische Annäherungen an die Rede vom „Ewigen Leben“, EvTh 76, H. 5 (2016), 336–344, 338. 29 KrV B25. 30 Die Variable t steht für die auf einander folgenden Zeitmomente eines Lebens mit t0 als dem anfänglichen, relativ unbestimmten Grenzwert seines Beginnens (Embryonalentwicklung) und mit tf als dem ebenfalls unscharfen finalen Vergehen des Lebens (Hirntodkriterium etc.). Die Variable x steht für das bestimmte Individuum.
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ausdehnungslosen Bezugspunkt des Fürsichseins handelt, kann sich der Unsterblichkeitsgedanke leicht damit verbinden, weil etwas nicht Zusammengesetztes auch nicht zerfallen oder sich auflösen kann.31 Gegen dieses Konzept ist die inhaltliche Leere dieser Vorstellung geltend zu machen. Identität wird modelliert als reine Selbstbezüglichkeit, die durch alle Wechselverhältnisse durchträgt. Sie reduziert sich letztlich auf eine entlang der Zeitlinie wandernde, punktförmige Selbstidentität, wie sie auch der „subjektivitätstheoretische[n] Denkform“32 zugrunde liegt. So blendet dieses Modell aus, dass konkrete menschliche Identität immer nur in Prozessen und Beziehungen entsteht und unter deren Auflösung vergeht. Es ist deshalb mit empirischen und phänomenologischen Perspektiven kaum zu verbinden. Weit davon entfernt, nur ausdehnungsloser Punkt unhintergehbaren Selbstbezugs zu sein, bildet sich das, was ‚Seele‘ genannt zu werden verdient, als ein durch und durch beziehungsreiches Wesen in einer menschlichen Biographie, und es beginnt sich oft gegen Ende eines Lebens zu reduzieren, etwa wenn wir durch die Möglichkeiten der heutigen Medizin das physische Lebensende weiter hinausschieben, dabei aber seelische, intellektuelle und geistige Funktionen verlieren. Und was wir überhaupt als seelische, intellektuelle oder geistige Funktionen bei Menschen beschreiben, fungiert nie für sich allein, sondern immer nur im Zusammenspiel mit leiblichen und physiologischen Vorgängen menschlichen Lebens und umfasst ein komplexes Spektrum von Phänomenen wie Fühlen, Denken, Wollen, Entscheiden, Begreifen, Kommunizieren etc. Und zum Seelischen gehören auch ekstatische Phänomene und Negationsphänomene wie seelische Erschütterung, Außersichgeraten, Irritation, Selbstzweifel, Selbstverlust (!), Schizophrenie, Depression und anderes, die zwar eine logische Struktur von Selbstbezüglichkeit zeigen, aber auch zugleich die Fragilität und Irritationsfähigkeit ihrer inhaltlichen Bestimmtheit. Vor allem aber wäre die christliche Hoffnung über den Tod hinaus mit einer bloßen, dann doch wieder irgendwie raum-zeitlich zu verstehenden Kontinuität der Trajektorie
31 Das impliziert auch, dass eine solche identitätslogisch fungierende Seele nicht entstehen und sich bilden kann, was eine jeweils auf die individuelle Seele bezogene creatio ex nihilo voraussetzt, s. oben Anm. 18. Das ist die Konzeption des römischen Lehramts, findet sich in analoger Form aber auch bei Leibniz, der von den Monaden als „metaphysischen Punkten“ spricht (Gottfried W. Leibniz, Systeme nouveau pour expliquer la nature, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Bd. 4: Philosophische Schriften. 1663–1671, hg. v. C. I. Gerhardt, Hildesheim 1978, 471–516, 483, im Original gesperrt), die nur erschaffen werden können und nicht durch Zerfall vergehen. Vgl. dazu vom Vf.: Dirk Evers, Gott und mögliche Welten. Studien zur Logik theologischer Aussagen über das Mögliche (RPT 20), Tübingen 2006, 85–90. Kant hingegen hat dem Beweis einer Beharrlichkeit der Seele aus ihrer Einfachheit heraus, wie er von Mendelssohn entwickelt worden war, eine Absage erteilt, vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl.) 1787, in: Gesammelte Schriften Abt. 1: Werke. Bd. 3, Berlin 1911, 413–418. 32 Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 340.
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eines x kaum zum Ausdruck zu bringen, da dies die Vorstellung eines Seelenorts und eines zeitlich sich erstreckenden Seelenzustands implizieren würde und die Frage offen bliebe, was über die bloße Kontinuität von rein logischer Selbstbezüglichkeit hinaus mit der ‚Seele‘ fortgesetzt wird: Eine Erinnerung an das Vergangene oder ein irgendwie gefülltes Bewusstsein, wer und was man war und ist (auch wenn sich das etwa durch Demenz schon vor dem Sterben bereits aufzulösen begann)?33 Worin also besteht die (nach Kant zu postulierende, aber unbeweisbare) ‚Beharrlichkeit‘ der Seele inhaltlich?34 Zum anderen kann in theologischer Perspektive die Identität einer menschlichen Person auch nicht mit der Summe ihrer Taten, Erlebnisse, Freuden (abzüglich der Leiden?) etc. identifiziert werden. Dies wäre eine naturalistische Perspektive, die eine personale Identität mit der Akkumulation dessen identifiziert, was einer Person widerfährt und was sie als ihr zugeschriebene Handlungen hervorbringt. Pt Mathematisch dargestellt: x = tf0 T (t) + E (t) + F (t) [−L (t)] · · · . Optimiert werden kann diese Summe etwa im Sinne eines hedonistischen Nützlichkeitskalküls, das Freud und Leid als Folgen von Handlungen und Widerfahrnissen bilanziert. In Bezug auf den Tod als das diese Summe abschließende Ereignis muss in einer streng monistisch-naturalistischen Perspektive damit auch das Leben als abgeschlossen und erledigt betrachtet werden. Deistische und andere rationalistisch-dualistische Vorstellungen verbinden allerdings gerade damit den Gerichtsgedanken nach dem Tod, bei dem den Individuen Belohnung und Strafe zuteilwerden je nachdem, wie die Bilanz ihres Lebens am Ende aussieht. Hier ist die Begründung des Seelengedankens ins Ethisch-Moralische verschoben, so dass die Aussicht in die Ewigkeit moralisch-praktisch dazu dient, den gegenwärtigen Lebenswandel entsprechend zu bestimmen. In christlich-theologischer Perspektive jedenfalls dürfte die numerische Summe von Lebensaugenblicken als Bestimmung davon, was ein Individuum und sein Leben ausmacht, weder in naturalistischer noch in moralischer Fassung in Frage kommen. Nach meiner Überzeugung kann in christlich-theologischer, aber wohl auch in manch anderer Perspektive, eine Identität von Menschen, die über die Begrenztheit unserer biologischen Existenz hinausweist, nicht in Begriffen einer stetigen Fortsetzung oder summarischen Feststellung von biographischen Ereignissen verstanden, sondern nur durch Raum und Zeit übergreifende Konzepte zum Ausdruck gebracht werden, die normative und konstruktive Aspekte mit einschließen. Die
33 Vgl. zu der Problematik den Sammelband: Personal Identity and Resurrection. How Do We Survive Our Death?, hg. v. G. Gasser, Brookfield 2016. 34 ‚Beharrlichkeit‘ als Dauer in der Zeit kommt eigentlich nur Gegenständen zu, die Seele ist aber für Kant gerade kein Gegenstand, sondern das, was gegenständliche Wahrnehmung hervorbringt und begleitet. Vgl. die schon erwähnten Abschnitte zu den Paralogismen der reinen Vernunft: Kant, KrV B, 399–426. Hier kommt eine transzendentallogische Wendung zum Tragen.
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Identität von Menschen ist in einem qualifizierten Sinne nicht einfach gegeben, sondern aufgegeben, und die Lebensentscheidungen von Menschen orientieren sich oft an dem, was sie für ihr Leben und damit auch für die Bildung ihrer Identität anstreben.35 Menschen bestimmen ihr Selbstverständnis durchaus in Spannung zum Faktischen, in Selbstdifferenz, in einer komplexen Vielfalt von Selbstbestimmungen und realen wie imaginierten Fremdbestimmungen. Menschen existieren in Eigen- und Fremdwahrnehmung oft in Differenz zum ‚wahren‘ Menschsein, wie immer man dieses auch bestimmen mag.36 Unsere ‚wahre‘ Identität ist uns deshalb nur zu oft verborgen. Wir meinen es manchmal zu wissen oder zumindest zu ahnen, was es mit uns und unserem Leben auf sich hat, wenn wir im Spiel ganz bei uns sind, oder wenn wir lieben, weil wir geliebt werden, oder wenn wir Kinder bedingungslos sie selbst sein lassen. Doch wir sind uns im Grunde gerade dann auch entzogen. Für eine christliche Perspektive auf die eigene Identität sowie die Identität von anderen Menschen ist deshalb eine letzte Urteilsenthaltung ins Spiel zu bringen, die nicht nur die Endlichkeit und Irrtumsfähigkeit alles menschlichen Urteilens unterstellt, sondern vor allen Dingen dem Bestimmtwerden durch Gott in einer Verschränkung der protologischen mit der eschatologischen Perspektive entscheidende Bedeutung zuspricht. Positiv ist deshalb zum dritten die Identität eines Menschen theologisch zu betrachten als das komplexe, in menschlicher Perspektive nie vollständig bestimmte und bestimmbare Integral eines Lebens über alle seine Zeitpunkte (t0 · · · tn · · · tf ) zwischen Entstehen und Vergehen, das geprägt ist durch Widerfahrnisse und Handlungen, Hoffnungen und Befürchtungen, Gelingen und Scheitern in den vielfältigen Beziehungen und Verhältnissen, in denen R t Menschen ihr Leben gestalten. Noch einmal mathematisch dargestellt: x = t0f VWidf. VHandl. VHoffn. . . . Mathematische Integrale (sofern sie bestimmt sind) weisen Funktionen Werte oder (bei unbestimmten Integralen) wieder andere Funktionen zu, durch die bestimmte Eigenschaften einer Funktion ‚integriert‘ oder, anschaulich gesprochen, zu einer Einheit zusammengefasst werden. Menschliche Identität im Sinne eines solchen komplexen, aspektreichen Integrals eines Lebens ist als eine protologisch begründete, soteriologisch formierte und dann eschatologisch vollzogene Identitätsbildung zu verstehen. In Anlehnung an Eberhard Jüngel würde ich dafür plädieren, dass
35 Die ganze emotional-moralische Grundstruktur menschlicher Existenz kann als ein Geflecht von concerns beschrieben werden (vgl. Robert C. Roberts, Emotions. An Essay in Aid of Moral Psychology, Cambridge 2003), und auch die für Menschen leitende Bestimmung der eigenen Identität dürfte in phänomenologischer Perspektive so etwas wie ein concern based construal sein. 36 Vgl. Dalferths Unterscheidung von Dasein, Sosein und Wahrsein menschlichen Lebens: Ingolf U. Dalferth, Die Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte, Tübingen 2018, 505 u.ö.
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damit notwendig der Gerichtsgedanke einhergeht.37 Es kann gerade nicht um eine rein affirmative Verewigung im Sinne einer schlichten Bestätigung des Gewesenen gehen – auch, weil es in theologischer Perspektive eine ultimative Hinnahme des Bösen nicht geben kann. Die unabgegoltenen inneren und äußeren Brüche und Verfehlungen eines Lebens müssen zum Austrag kommen, soll das Integral eines Lebens bestimmt werden können. Bei so genannten kompakten im Unterschied zu offenen mathematischen Intervallen erfolgt die Integrierung innerhalb bestimmter Grenzen. Ich habe das Integral menschlicher Identität hier zunächst einmal als ein solches kompaktes, als ein beschränktes und abgeschlossenes Integral zwischen Empfängnis/Geburt und Tod dargestellt. Das mag als erster Zugang zu der Frage nach der Identität eines bestimmten endlichen Lebens sinnvoll sein und entspricht dem, was in der Tradition als je individuelle Eschatologie ins Zentrum gestellt wurde. Es ist aber wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, dass die christliche Eschatologie „eine Kombination der Lehre vom Weltende mit der vom Lebensende“ darstellt und damit als „das sonderbarste und widerspruchreichste Stück christlicher Theologie“ gelten kann.38 Auf jeden Fall steht eine unter den Bedingungen der wissenschaftlichen Moderne reflektierte theologische Verbindung kosmologischer Perspektiven vom Weltende, individuell-biographischer Perspektiven von Auferweckung und ewigem Leben und geschichtlich-politischer Zusammenhänge (Reich Gottes und Gerechtigkeit)39 unter einer Perspektive von eschatologischer Vollendung noch aus. So viel wird man aber wohl nach den Debatten der letzten Jahre über den
37 Man sollte die Pointe von Jüngels ‚Ganztodvorstellung‘ nicht mit seiner Formel einer Verewigung des gelebten Lebens identifizieren, die er von Barth übernommen hat, sondern mit seinen Ausführungen zum jüngsten Gericht als Akt der Gnade zusammenlesen (vgl. Eberhard Jüngel, Das jüngste Gericht als Akt der Gnade, in: Anfänger. Herkunft und Zukunft christlicher Existenz, Stuttgart 2003, 37–73). Jüngel selbst hat beide Konzepte allerdings eher unverbunden nebeneinander stehen gelassen und Übergänge nur angedeutet, vgl. z. B.: „Die Verewigung des menschlichen Lebens konzentriert dieses vielmehr zu seiner Ganzheit und intensiviert es zu seiner Herrlichkeit“ (Eberhard Jüngel, Art. Ewigkeit II. Philosophisch/religionsphilosophisch. III. Dogmatisch, RGG⁴ 2, 1771–1776, 1776). Ähnliche Formulierungen tauchen dann in Jüngels Ausführungen zum jüngsten Gericht wieder auf. Die von Jüngel projektierte Eschatologie ist nicht mehr erschienen. Dass der Gerichtsgedanke nicht nur ein für die individuelle Eschatologie unverzichtbarer Gedanke ist, sondern auch und gerade für den sozialen Zusammenhang menschlichen Lebens und – noch fundamentaler – für die Rede von der Gerechtigkeit Gottes von entscheidender Bedeutung ist, sei hier ausdrücklich festgehalten. Siehe dazu jetzt auch Günter Thomas, Gottes Lebendigkeit. Beiträge zur Systematischen Theologie, Leipzig 2019, vor allem Kap. VIII. und IX. 38 Emanuel Hirsch, Leitfaden zur christlichen Lehre, Tübingen 1938, 174. 39 Das war etwa die Perspektive, unter der Paul Tillich seine Eschatologie entworfen hat, vgl. besonders den Abschnitt III. im fünften Teil seiner Systematische Theologie: Paul Tillich, Systematische Theologie III, hg. v. C. Danz, Berlin, Boston 5 2017, 871–899.
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sozialen Aspekt der Bildung menschlicher Identität, über die Frage nach der Versöhnung im Zusammenhang eines finalen Gerichts40 und über den Fragmentcharakter menschlicher Existenz sagen können, dass eine Integralbildung in Bezug auf ein je solitäres Individuum unzureichend ist, sondern letztlich in jedes Integral eines menschlichen Lebens über die individuellen Widerfahrnisse und Handlungen (Selbstverständnis, Eigenverantwortung etc.) hinaus auch soziale Bezüge (Ereignisse aufbauender und selbstvergessener Liebe und deren Gegenteil etc.) sowie der Gottesbezug gelebter Existenz (zum Schöpfer, zum Erlöser, zum erneuernden Geist in Glaube, Hoffnung, Liebe etc.) mit eingehen müssen. Die hoffentlich gelingende, integrierende eschatologische Identitätsbildung, die – so die Hoffnung des christlichen Glaubens – durch das Kreuz Christi vermittelt zur (allerdings schmerzhaften) Selbstannahme und Versöhnung führen soll, stellt den Übergang dar, durch den Menschen miteinander am ewigen Leben Gottes selbst teilhaben können. Es bleibt also nicht das beharrliche menschliche ‚Ich‘ als Personkern eschatologisch erhalten, vielmehr wird das ewig gültige Integral unseres Lebens von Gott gebildet, der unsere fragmentarische, von Entstellungen, Selbsttäuschungen und Ausflüchten geprägte Person dem allgemeinen Gericht aussetzt und dadurch erst integriert, so dass wir im Grund auch erst eschatologisch in einem eigentlichen Sinne ‚Ich‘ sagen müssen und können. Und nur dieses ‚Ich‘ wird dann im Zusammensein mit allen anderen auch teilnehmen können an den ewigen Selbstbewegungen Gottes und damit ein ewiges Leben führen.
40 Vgl. auch noch einmal Jüngel, der den Täter-Opfer-Zusammenhang herausstellt: „Das jüngste Gericht […] legt die Traumata frei und führt mit den Opfern auch die Täter, gerade indem es ihre wohlverdiente Schande offenbart, der Heilung entgegen. Das jüngste Gericht ist das therapeutische Ereignis schlechthin“ (Jüngel, Das jüngste Gericht, 65). Den sozialen und politischen Aspekt des Jüngsten Gerichts hat, vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen im zerfallenden Jugoslawien, der in Yale lehrende Systematiker Miroslav Volf herausgearbeitet, vgl. Miroslav Volf, The Final Reconciliation. Reflections on a Social Dimension of the Eschatological Transition, Modern Theology 16, H. 1 (2000), 91–113.
Register
Personenregister A Adhikari, Avishek 65 Albertus Magnus 148, 167, 169 Allen-Hermanson, Sean J. 138, 144 Althaus, Paul 121, 171, 172 Anstey, Peter R. 166 Anzenbacher, Arno 166 Arendt, Hannah 178 Aristoteles 10, 78, 145, 147–150, 154, 156, 159, 162, 163, 165, 167–170 Au, Christina aus der 124, 169 Aurelius Augustinus 54 B Baker, Lynne Rudder 146, 151, 166 Bao, Ai-Min 65 Barnes, Gordon P. 164, 167 Barth, Karl 121, 171–173, 175, 183 Barth, Ulrich 19 Baumgarten, Alexander Gottlieb 16 Bayertz, Kurt 17 Bayle, Pierre 15 Beckermann, Ansgar 23, 47, 97, 110, 114, 123 Beinert, Wolfgang 151, 167 Bennett, Maxwell Richard 83, 91 Bernath, Klaus 149, 153, 167 Berti, Enrico 147, 162, 167 Beuttler, Ulrich 164, 167 Bieri, Peter 68 Birke, Marcus 96, 110 Black, Max 136, 144 Blakeslee, Thomas R. 83, 91 Blanke, Olaf 116 Bode, Stefan 59, 97, 111
Bohr, Niels Henrik David 28 Bonnet, Charles 54 Boost, Maximilian 137, 144 Botvinick, Matthew 115 Braver, Lee 110, 111 Buber, Martin Mordechai 82 Buchheim, Thomas 13, 159, 167 Bultmann, Rudolf 114 C Calvin, Johannes 54 Cao, Wei 75 Carpenter, Malinda 140, 144 Carroll, Lewis 77 Chalmers, David J. 138–140, 144 Churchland, Patricia 25 Churchland, Paul 25 Claudius, Matthias 175 Clayton, Philip 24, 25, 98, 111, 137, 144 Cohen, Jonathan 115 Crick, Francis 66, 77, 91 D Dalferth, Ingolf Ulrich 27, 31, 40, 143, 144, 180, 182 Damasio, Antonio Rosa 87, 88, 91, 156 Danz, Christian 183 Davidson, Donald Herbert 36 Deisseroth, Karl 65 Dennett, Daniel Clement 25, 119, 146 Denzinger, Heinrich 174 Descartes, René 7, 8, 31, 45–47, 91, 113, 114, 126, 145, 166 Dilcher, Roman 147, 167 Dodds, Michael J. 156, 157, 165, 167
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Register
Drews, Arthur 16 Dreyfus, Hubert Lederer 33 Dyk, Silke van 39 E Ebeling, Gerhard 175 Eccles, John Carew 20 Edelman, Gerald M. 66 Edwards, Jonathan 54, 92 Eibach, Ulrich 121 Elert, Werner 121 Epikur 177 Eucken, Rudolf 15 Evers, Dirk 8, 10, 11, 13, 17–19, 39, 57, 108, 171, 175, 176, 180 F Fechner, Gustav Theodor 13 Feigl, Herbert 23 Feuerbach, Ludwig Andreas 86, 91 Fichte, Johann Gottlieb 125 Flores, África 70 Freud, Sigmund 43, 44, 181 Frith, Chris 92 Fuchs, Thomas 9, 29, 77, 80, 81, 83, 84, 86, 88, 91, 92, 101 G Gabriel, Markus 32, 33 Galilei, Galileo 31, 32 Gallagher, Shaun 87, 92, 139, 140, 144 Galvan, Sergio 165, 167 Gasser, Georg 147, 151, 165, 167, 168, 181 Gazzaniga, Michael Saunders 78, 92 Geulincx, Arnold 54 Gibson, James Jerome 129, 144 Gierer, Alfred 66 Gilbert, Sam 92 Gilbertus Porretanus 148 Gödel, Kurt Friedrich 40 Goebel, Bernd 148, 149, 155, 165, 167 Goltz, Friedrich Leopold 48, 50
Granger, Herbert 147, 167 Gross, James J. 69 H Hacker, Peter Michael Stephan 83, 91 Haggard, Patrick 115 Haken, Hermann 102–104, 106, 107, 111 Haken-Krell, Maria 103, 104, 111 Hartley, David 54 Hasker, William 24 Haynes, John-Dylan 59, 85, 92, 97, 111 He, Anna Hanxi 50, 51, 59, 97, 111, 147 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 125 Heidelberger, Michael 13, 179 Heim, Karl 138–140, 144 Heinaman, Robert 147, 167 Heinzmann, Richard 146, 148–150, 152, 167 Hellmeier, Paul D. 149, 167 Hensch, Takao K. 64 Hermanni, Friedrich 13, 20, 21, 167 Herrmann, Bernd 43 Herrmann, Wilhelm 114 Herzberg, Stephan 150, 164, 167 Heydrich, Lukas 116 Hillermann, Horst 17 Hirsch, Emanuel 183 Hommen, David 44, 58 Honderich, Ted 56 Hoyningen-Huene, Paul 24 Hügli, Anton 17 Hugo von St. Viktor 148 Hume, David 52 Hünermann, Peter 174 Huo, Yongxia 64 Huxel, Kirsten 173 Huxley, Thomas 8, 44–55, 58 Hyde, Thomas 15, 49
Register
I Ijjas, Anna 102, 111 Ingold, Tim 132, 133, 144 Inwagen, Peter van 145–147, 169 J Jackson, Frank Cameron 121 Jaeschke, Walter 17 Jamain, Stéphane 75 James, William 44 Janak, Patricia H. 70 Janowski, Bernd 120 Jaspers, Karl Theodor 82, 92 Jeremias, Jörg 120 Jonas, Hans 14, 15, 176 Jüngel, Eberhard 121, 172, 182–184 K Kanske, Philipp 69 Kant, Immanuel 16, 19, 37, 38, 100, 101, 106, 107, 111, 113, 179–181 Keil, Geert 58 Kierkegaard, Sören 114 Kim, Christina K. 65 Kircher, Tilo T. J. 67 Kläden, Tobias 147, 149–151, 154, 155, 159–163, 165, 168 Klima, Gyula 159, 160, 168 Klingholz, Reiner 43 Kluxen, Wolfgang 149, 150, 152, 168 Koch, Anton Friedrich 19, 36, 133, 135, 144 Koch, Christof 66 Kotchoubey, Boris 123 Kriebel, Martin 71 Kuhn, Thomas Samuel 34 L La Mettrie, Julien Offray de Lakatos, Imre 34 Landis, Theodor 116 Langer, Antje 39
46
Laughlin, Robert Betts 34 Leibniz, Gottfried Wilhelm 37, 79, 92, 180 Lenggenhager, Bigna 116 Libet, Benjamin 59, 118 Lindemann, Gesa 83, 92 Liske, Michael-Thomas 147, 155, 158–160, 162, 168 Liszkowski, Ulf 140, 144 Locke, John 78, 92 Löwith, Karl 82 Lüke, Ulrich 163, 168 M Mahan, Amy L. 70 Mahlmann, Theodor 173 Mahner, Martin 99, 111 Markschies, Christoph 14 McMahan, Jeff 92 Mead, George Herbert 83, 92 Meltzoff, Andrew N. 83, 92 Merleau-Ponty, Maurice 81, 82, 92, 130, 144 Mesnet, Ernest 49–51 Messerli, Franz H. 67 Metzinger, Thomas 9, 77, 83, 92, 115–125 Micraelius, Johannes 15 Mogk, Rainer 9, 10, 20, 113 Moltmann, Jürgen 172, 173 Moy, Sheril S. 75 Mühling, Markus 10, 129–133, 137, 144 Müller, Klaus 114 Musgrave, Alan 34 Mutschler, Hans-Dieter 119, 123 Myriam, Gerhard 17 N Nagel, Thomas 79, 80, 92, 97, 111, 122, 124 Nelson, John O. 147, 168 Noe, Alva 86 Nussbaum, Martha Craven 147, 168
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188
Register
O Ochsner, Kevin M. 69 Ockham, Wilhelm von 142 Oderberg, David S. 148, 168 Origenes 175 Ortega, Francisco B. 67 Ortigue, Stephanie 116 P Pannenberg, Wolfhart 10, 114, 115, 124–128, 172 Passingham, Richard E. 92 Pauen, Michael 54, 55 Perler, Dominik 47, 147, 162, 168 Petrus Abaelardus 148 Place, Ullin Thomas 23 Platon 10, 14, 83, 108, 128, 145, 146, 148, 150, 153, 163, 167, 175 Plewnia, Christian 69 Pope, Alexander 53 Popper, Karl Raimund 20, 66 Prinz, Wolfgang 83, 92 Putnam, Hilary 33, 77, 92, 147 Q Quine, Willard van Orman 24 Quitterer, Josef 156, 157, 159, 165–169 R Rahner, Karl 173 Rapp, Christof 149, 169 Rees, Geraint 92 Reményi, Matthias 171, 173, 174 Ressler, Kerry J. 70 Ritchie, Sarah Lane 21 Ritschl, Albrecht 108, 109, 111 Roberts, Robert C. 182 Robinson, William 44, 45 Rorty, Amélie Oksenberg 147, 168 Rosch, Eleanor 93
Roth, Gerhard 9, 95–111 Runggaldier, Edmund 148, 149, 160, 162, 166, 168–170 S Saha, Rinki 72, 73 Sakai, Katsuyuki 92 Scheler, Max 139, 140, 144 Schelsky, Helmut 177 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 20, 114, 126 Schleim, Stephan 85, 92 Schlette, Magnus 35 Schmaus, Michael 148 Schmidt, Jan Cornelius 34 Schmitz, Hermann 80, 92, 93 Schröder, Tilman Matthias 16 Schumacher, Ursula 10, 145 Schurz, Gerhard 66 Seager, William 138, 144 Searle, John 154, 162, 169 Seeck, Margitta 116 Seidl, Horst 149, 169 Shoemaker, Sydney 146 Slenczka, Notger 19 Smart, John Jamieson Carswell 22–24 Soon, Chun Siong 59, 97, 111 Spaemann, Robert 82, 93 Spinoza, Baruch 16 Stephan, Achim 24 Stier, Marco 55 Straus, Erwin Walter Maximilian 83, 93 Strawson, Peter Frederick 139, 144 Striano, Tricia 140, 144 Strüber, Nicole 9, 95–111 Stump, Eleonore 145, 146, 149, 152, 154, 157, 158, 163, 169 Suárez, Francisco 164 Swaab, Dick F. 65 Swinburne, Richard 137, 144
Register
T Tadi, Tej 116 Taylor, Charles 31, 33, 37 Thomas von Aquin 147, 148, 150, 151, 166–169 Thomas, Günter 183 Thompson, Evan 86–88, 92, 93 Tillich, Paul 39, 121, 183 Tomasello, Michael 83, 93, 140, 144 Tretter, Felix 123 Trevarthen, Colwyn 83, 93 Troeltsch, Ernst 179 Tsakiris, Manos 115 Tye, Kay M. 70 U Uexküll, Jakob von
Volf, Miroslav 184 Volkmer, Hansjürgen 8, 29, 63 Vollmer, Gerhard 43 W Waldenfels, Bernhard 140, 144 Walter, Sven 44 Weinhardt, Birgitta Annette 7, 9, 52, 55, 56, 95, 102, 111 Weinhardt, Joachim 8, 21, 43 Welker, Michael 179 Whitehead, Alfred North 32, 40, 41 Williams, Bernard 164, 170 Wittgenstein, Ludwig Josef Johann 26, 27 Wolff, Christian 15 Wolkenstein, Larissa 69
88, 93
V Varela, Francisco 87, 93 Vidal, Fernando 78, 93 Voigt, Uwe 150, 170
Z Zahavi, Dan 139, 144 Zalocusky, Kelly A. 74 Zitman, Femke F. P. 71
189
190
Register
Sachregister A Abbild 32, 74, 84, 102, 117, 118 Ableitung 97 Amygdala 70, 72, 73 Analogie 25, 37, 48, 58, 105, 106, 138–141, 179 anima separata 151–153 anima-forma-corporis 10, 148, 149, 163, 168 Anthropologie 7, 8, 10, 54, 55, 108, 114, 115, 120, 121, 124, 125, 127, 145–153, 155, 156, 159, 161, 162, 165–167, 177 Aporie 22, 25, 27, 106, 107, 154, 166, 174 Auferweckung 10, 53, 108, 110, 120, 121, 151, 153, 167, 171–176, 183 Aufmerksamkeit 50, 68, 87, 119 Außenwelt 44, 50, 55, 56, 101, 118, 125 B Bewusstsein 7–9, 19, 25, 28, 32, 35, 38, 44, 45, 47–50, 52, 53, 57–74, 76, 78–80, 82, 84–87, 89–91, 96–101, 104–107, 111, 116, 118, 119, 123, 124, 127, 137, 144, 168, 169, 177, 181 Biographie 28, 81, 180, 181, 183 C Cortex 66, 67, 69, 70, 72, 73, 75, 76 D Dualismus, Eigenschafts- 105 Dualismus, Perspektiven- 13, 19, 60, 142, 160–163 Dualismus, Substanz- 7, 8, 10, 13–15, 17, 18, 20–22, 26, 27, 29, 30, 36, 41, 54, 57, 78, 96, 133, 141, 142, 145–148, 150–155, 158, 162–166, 169, 171, 181
E Emergenz 24, 25, 96, 98–100, 104–106, 111, 130, 137, 138, 142, 144 Entelechie 10, 151, 156, 162 Entität 99, 102, 105, 106, 109, 145, 149, 154, 155, 159–163, 165, 166 Entscheidung 55, 57, 59, 69, 72–74, 76, 118, 182 Epiphänomenalismus 8, 10, 20–22, 43–45, 48–50, 52, 54, 56–61, 95, 106, 113, 115, 120, 121, 123, 128 Ereignis 7, 11, 22, 52, 65, 72, 97, 118, 131, 136, 140, 157, 158, 166, 178, 181, 184 Erkenntnis 8, 10, 17, 18, 23, 30, 31, 33, 35, 36, 38, 43, 47, 57, 58, 63, 65–68, 93, 97, 100–102, 106, 107, 109, 110, 113, 114, 126, 150–153, 179 Erklärungslücke 52, 97, 100–102, 109 Erleben, subjektives 9, 36, 38, 68, 72, 76, 77, 79, 80, 84, 85, 87–91, 97, 102, 114, 117–119, 121, 122, 124, 130, 141, 142 Erlebniswelt s. a. Erleben, subjektives, 101, 102 Erscheinung 9, 20, 23, 32, 77, 80, 82, 100, 104–106, 117, 132, 134, 135 Eschatologie 10, 110, 121, 145, 150, 151, 165, 172, 173, 179, 183 Essentialismus 149 Evolution 20, 21, 23–25, 34, 43, 47, 66, 70, 92, 93, 98, 111, 119, 125, 137, 144, 174 Experiment 33, 48, 49, 52, 59, 60, 65–68, 70–76, 106, 111, 115, 118 F Fallibilität 130 Falsifikation 165 Fragmentarität 127, 178, 179, 184 Funktionalismus 25, 147, 160, 162
Register
G Ganztod 121, 171, 173, 176, 177, 183 Gedankenexperiment 77, 78, 89, 90, 121, 136 Gehirnaktivität 59, 63, 65–67, 84, 86, 157 Gehirnstimulation 63, 65, 67–70, 74–77, 115, 116 Gensequenzierung 63 Gericht 11, 175, 176, 181, 183, 184 Geschöpf 49, 142, 143, 172, 174, 177 Gott 11, 14, 15, 19, 21, 24, 31, 41, 46, 53, 110, 114, 115, 120, 121, 126–128, 142, 143, 151, 172–176, 178–180, 182–184 Gottebenbildlichkeit 127, 146, 178 H Handlung 44, 45, 47, 53, 55, 57–62, 88, 108, 114, 156, 159, 161, 181, 182, 184 Handlungsfreiheit 52, 55, 124 Harmonie, prästabilierte 16, 52 Hermeneutik 8, 13, 14, 18, 20, 26, 27, 29, 30, 33, 35, 36, 40, 110, 143, 171, 176, 180, 182 Hirnforschung 8, 29, 34, 54, 63, 65, 83, 92, 100, 111, 117, 124 Hylemorphismus 10, 147–151, 154–156, 158, 159, 161–167, 169 hypothesis of conscious automata 45, 54 I Idealismus 7, 39, 108, 115, 125, 127 Identität, personale 10, 37, 77, 78, 81, 82, 89, 90, 124, 128, 145, 152, 155, 166, 171, 173–184 Identitätskonzeptionen 136 Identitätstheorie 13, 22–26 Illusion 20, 39, 54, 55, 77, 114, 115, 117, 118, 121, 169 Indexikalität 134, 135, 137, 140 Induktion 58, 66 Integral 11, 89, 178, 182–184
Intentionalität 37, 79–81, 84, 87, 91, 132 Interpretation 19, 30, 50, 59, 82, 84, 104, 105, 107, 110, 126, 130, 139, 140, 143, 150, 168, 176 Intersubjektivität 36, 82, 83, 140, 141 Introspektion 58, 59, 101, 102 Intuition 40, 56, 58, 123, 126, 163–165, 179 Irreduzibilität 20, 27, 34, 37, 41, 80, 97, 135, 162 K Kategorienfehler 79, 83 Kausalität 16, 21, 24, 28, 32, 41, 60, 61, 97, 103, 104, 107, 131, 134, 141, 156–160, 164, 166 Kohärenz 27, 98, 131–133, 142 Kompatibilismus 55–57 Komplementarität 28 Konstruktionen 84, 100–102, 114, 123, 175 Kontingenz 110, 111, 130–133 Kontinuität s. a. personale Identität, 10, 173, 175, 178, 180 Korrelation 16, 22, 28, 29, 49, 57–59, 61, 64, 65, 67, 83, 85, 86, 97, 100, 124 Kosmologie 19, 28, 34, 102, 183 L Lebenswelt 36, 91 Leibgedächtnis 81, 90 Leiblichkeit 7, 9, 10, 13–16, 20, 21, 29, 31, 33, 35, 57, 58, 61, 78, 80–82, 85–91, 97, 104, 108, 110, 129, 130, 134–136, 141, 145–156, 158–169, 171, 180 Libertarismus 44, 55–57 M Magnetresonanztomographie 65, 67 Materialismus 7, 10, 15–17, 25, 46, 47, 53, 77, 91, 95, 96, 102, 108, 110, 145, 155, 162, 164, 168
191
192
Register
Materialismusstreit 7 Materie 10, 13–16, 19–21, 30–33, 35–37, 53, 60, 63, 83, 97–100, 102–105, 134, 138, 145, 149, 151, 155, 156, 158, 160, 162–166 Metaphysik 9, 14, 16, 17, 19, 38, 95, 99, 107–111, 117, 118, 120, 122, 126, 150, 151, 155, 161, 165, 167, 169, 172, 176–178, 180 Metaphysikkritik 95, 108 Monadologie 79, 92 Monismus 7, 8, 13–20, 22–27, 29, 30, 36, 37, 40, 41, 54, 57, 92, 133, 142, 163, 171, 178, 181 N Natalität 178, 179 Naturalismus 19, 23–25, 39, 43, 95–99, 111, 119, 133, 137, 138, 144, 162, 168, 171, 178, 181 Naturgesetz 9, 55, 56, 96, 99, 100, 103, 135 Naturwissenschaft 7–9, 13, 16–19, 21–23, 25, 26, 28, 29, 31, 33–37, 39–41, 54, 55, 63, 66, 91, 95, 100, 107–111, 115, 119, 124, 128, 137, 138, 144, 157, 167 Neuschöpfung 173 O Okkasionalismus 16, 52, 54 Ontogenese 125 Ontologie 9, 10, 14, 16, 18, 21, 22, 24, 35, 36, 80, 104, 106–109, 114, 117, 129, 131, 133, 134, 141–143, 149, 154, 155, 157, 160, 164–167 P Panpsychismus 137, 138, 140–142, 144, 161, 163 Personalität 9, 14, 78, 79, 82, 83, 86, 127, 141, 152
Perspektivenvielfalt 8, 14, 26, 27, 29, 33, 36–41, 57, 59, 80, 83, 97, 101, 102, 106, 109, 123, 134, 137, 141, 142, 180, 181, 183 Phänomenologie 23, 27, 29, 44, 52, 92, 117, 122, 129, 140, 178, 180, 182 Physikalismus 20, 22, 23, 53, 55, 80, 99, 100, 102, 105, 106, 114, 119, 123, 124, 128, 147, 154, 155, 157, 162–164, 166, 168 Q Qualia 9, 97, 121, 122 Quantentheorie 28, 34, 56, 102, 105, 141 R Rationalismus, kritischer 110 Raumzeit 18, 20, 22, 32, 104, 137, 160, 171 Realismus, hermeneutischer 19, 36 Realismus, naiver 119 Realismus, szientifischer 36 Realismus, theologischer 19 Realität 21, 33, 34, 80, 101, 102, 127, 131, 141, 169, 177 Reduktionismus 7–9, 58, 68, 78, 83, 95–98, 100, 105–107, 109, 110, 115, 120, 122, 123, 128, 142, 158 Relationalität 10, 82, 84, 130, 131, 134 Relativitätstheorie, allgemeine 34 Relativitätstheorie, spezielle 34 S Schöpfer s. a. Gott, 16, 17, 77, 179, 184 Schöpfung 13, 14, 143, 151, 172–174 Seele 7, 10, 11, 13–18, 23, 24, 33, 44–47, 53, 54, 83, 84, 86, 91, 95–98, 100, 102, 104, 108–111, 113, 120, 121, 128, 140, 145, 146, 148–154, 156–162, 164–176, 178, 180, 181 Selbst 9, 10, 35, 58, 63, 77, 81, 82, 89, 114–117, 119–128, 134, 136, 141, 143, 169, 172, 177
Register
Selbstbewusstsein 39, 78, 82, 83, 92, 114, 117, 119, 125–129, 134, 138 Selbstwahrnehmung 29, 101, 106, 130, 164, 182 Solipsismus 29 Sozialverhalten 68, 69, 74–76 Sprache 22, 26, 27, 30, 33, 35, 36, 38, 39, 83, 149 Subjekt 10, 19, 28, 39, 77–79, 83, 85, 86, 88, 89, 91, 92, 106, 114, 121, 123, 125, 132, 134, 135, 141 substantia prima 151, 160, 161, 165 Synergetik 63, 102–105, 107 T Tod 10, 14, 56, 108, 109, 113, 116, 145, 146, 151, 152, 171–181, 183 Transzendentalphilosophie 19, 39, 100, 113, 131, 179, 181 Transzendentaltheologie 179 U Umwelt 35, 43, 49, 65, 81, 84, 86–89, 91, 101 Unsterblichkeit 11, 53, 108, 109, 113, 120, 121, 148, 167, 171–178, 180 Ursache 8, 32, 45, 52, 58, 65, 67–69, 74, 75, 104, 117, 151, 156–160
V Verdammnis s. Gericht Verkörperung s. a. Leiblichkeit, 9, 29, 33, 35, 78–80, 82, 86–91 Vernunft 16, 37, 46, 100, 111, 113, 152, 161, 180, 181 Versklavungsprinzip 102–104, 106 Verwiesenheit 150, 151, 156 Vetofunktion des Bewusstseins 59 Vorhersagbarkeit 66, 67, 98 W Wahrheit 18, 21, 32, 33, 39, 110, 127, 131, 133, 144, 177 Wahrnehmung 10, 19, 23, 32, 33, 36, 39, 43, 44, 46, 48, 50, 52, 57, 59, 68, 77, 79, 81, 84, 85, 87, 88, 92, 100, 102, 106, 118, 123, 130, 131, 139, 140, 142, 181, 182 Wechselwirkung 13, 16, 20, 22, 28, 74, 98, 99 Weltanschauung 16–18, 39, 119 Weltbild 23, 35, 96 Willensfreiheit 44, 52, 54–57, 59, 77, 108, 111 Wirklichkeit 9, 13–15, 17–20, 22, 23, 27–33, 35, 39, 41, 77, 80, 101, 102, 106, 107, 110, 117, 118, 130–134, 161, 171, 179 Z Zufall 34, 130 Zwischenzustand
10, 175
193