Philosophische Werke in einem Band 9783787327911, 9783787327799

Nachdem zwischen 1993 und 2007 in zweisprachiger, umfangreich kommentierter Edition Dantes »Philosophische Werke« in sie

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German Pages 322 [362] Year 1999

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Philosophische Werke in einem Band
 9783787327911, 9783787327799

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Philosophische Bibliothek

Dante Alighieri Philosophische Werke in einem Band

Meiner

Dante Alighieri (1265 – 1321)

DA N T E A L IG H I ER I

Philosophische Werke in einem Band

Übersetzt von Thomas Ricklin, Dominik Perler und Francis Cheneval Herausgegeben und mit einer neuen Einleitung von Ruedi Imbach

F E L I X M E I N ER V ER L AG H A M BU RG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 679

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2779-9 ISBN eBook: 978-3-7873-2791-1

Gesetzt aus der Dante MT

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2015. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53, 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz : Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruck­papier : alte­r ungs­beständig nach DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlor­­frei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Einleitung: Ein anderer Dante? Von Ruedi Imbach . . . . . . . . . vii Dantes Weg zur Philosophie  x | Dantes Konzeption der Philosophie  xiv | Dantes Philosophie der Sprache xxi | Die Selbstbegrenzung der Philosophie  xxix | Weitere Aspekte der Lehre im Gastmahl  xxxiii

Dante Alighieri Das Schreiben an Cangrande della Scala . . . . . . . . . . . . . . . 1 (Epistola XIII ) Abhandlung über das Wasser und die Erde . . . . . . . . . . . . . 19 (Questio de aqua et terra) Über die Beredsamkeit in der Volkssprache (Erstes Buch). 43 (De vulgari eloquentia I) Das Gastmahl (Convivio) Erstes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Zweites Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Drittes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Viertes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Zu dieser Ausgabe Die Übersetzungen aus dem Italienischen bzw. Lateinischen stammen von Thomas Ricklin (Das Schreiben an Cangrande della Scala, Das Gastmahl), Dominik Perler (Abhandlung über das Wasser und die Erde) und Francis Cheneval (Über die Beredsamkeit in der Volkssprache). Sie wurden den zweisprachigen Ausgaben in der Philosophischen Bibliothek (Bände 463, 464, 465, 466a-d) entnommen, durchgesehen und neu gesetzt. Zugrunde liegen die dort abgedruckten und detailliert bibliographierten Ausgaben der Originaltexte. Bei den in Klammern stehenden Zahlen im Text handelt es sich um die in lateinischen und italienischen Ausgaben gebräuchliche Paragrapheneinteilung, nach der üblicherweise zitiert wird: Conv I, ii, 12 = Gastmahl, Buch eins, Kapitel zwei, Paragraph zwölf. Dadurch wird ein gezieltes Auffinden von Textstellen in originalsprachigen Ausgaben ermöglicht. In eckigen Klammern stehen erläuternde oder gliedernde Hinzufügungen der Übersetzer sowie die Konjekturen im Originaltext.

Einleitung: Ein anderer Dante?

So ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet. Immanuel Kant

Die im Titel gestellte Frage weist auf das voraussichtliche und gerechtfertigte Erstaunen des Lesers hin, wenn er Schriften Dantes, des weltberühmten Dichters der Commedia, in der Philosophischen Bibliothek antrifft. Selbst wenn dieser fragliche Leser weiß, daß Dante nicht nur das poema sacro verfaßt hat, ist er berechtigt, die Frage zu stellen, ob die sogenannten Opera minora philosophisch wahrhaft von Bedeutung seien. Die hier in deutscher Übersetzung abgedruckten Werke, die zusammen mit der Vita nova1, den Briefen 2 und der Monarchia3 die Opera minora Dantes ausmachen, stammen aus ver  Zu diesem in den Jahren 1292 – 1295 entstandenen Werk vgl. die Darstellung bei U. Prill, Dante, Stuttgart/Weimar 1999, S. 34 – 56; zur Deutung vgl. J. A Scott, Perché Dante?, Rom 2010, S. 16 – 67. Zur Einführung in Dante als Denker und Dichter empfehle ich K. Flasch, Ein­ ladung, Dante zu lesen, Frankfurt 2011. Die darin enthaltene Darstellung der Philosophie Dantes (S. 205 – 223) ist konzis, aber substantiell und bewundernswürdig. Für das Verständnis von Dantes Philosophie sind die Arbeiten von Bruno Nardi immer noch unentbehrlich, vor allem Saggi di filosofia dantesca, Milano 1930; Dante e la cultura medievale. Nuovi saggi di filosofia dantesca, Firenze 1942; Nel mondo di Dante, Roma 1994; Dal ‚Convivio‘ alla ‚Commedia‘, Roma 1960. 2   Es sind dreizehn Briefe erhalten, dazu Prill, Dante, S. 194 f. 3   Vgl. dazu die von Ch. Flüeler und mir besorgte Studienausgabe: Stuttgart 1989 (Reclam 8531). Auf diese Ausgabe wird im Folgenden verwiesen. Seit kurzer Zeit liegen zwei neue, reich kommentierte Ausgaben des lateinischen Textes vor: Monarchia, a cura die Paolo Chiesa e 1

viii Einleitung

schiedenen Epochen von Dantes Leben (1265 – 1321). Während das unvollendete Convivio (Gastmahl; in italienischer Sprache) und der ebenfalls nicht abgeschlossene Traktat De vulgari eloquentia (Von der Beredsamkeit in der Volkssprache) wohl zwischen 1304 und 1306 (also bereits im Exil) entstanden sind 4, können die lateinische Monarchia, das Schreiben an Cangrande della Scala sowie die Questio de aqua et terra (Abhandlung über das Wasser und die Erde) dem Zeitraum von 1316 (ev. 1312) bis 1320 zugeschrieben werden.5 Diese Werke spiegeln also den intellektuellen Weg des Dichters, dessen Schaffen zweifelsohne in der Commedia (von 1307 bis 1320 entstanden) seinen Höhepunkt erreicht hat. Im Hinblick auf dieses Hauptwerk können deshalb, und daran zweifelt niemand, die erwähnten Schriften sei es als Stufen auf dem Weg zur Komödie betrachtet (Con­v ivio und De vulgari eloquentia), sei es als Ergänzungen bezüglich einer besonderen Thematik des Gedichtes eingestuft werden. Dies ist offensichtlich im Falle des Schreibens, da darin Dante Hinweise zum Verständnis und der Deutung der Commedia gibt; diese These kann ebenfalls im Hinblick auf die beiden Andrea Tabarroni, con la collaborazione di Diego Ellero, Salerno 2013; Monarchia a cura di Diego Quaglioni, in: Dante Alighieri, Opere II, Edizione diretta da Marco Santagata, Milano 2014, S. 807 – 1415. 4   Die ausschlaggebenden Biographien Dantes sind: G. Petrocchi, Vita di Dante, Rom und Bari 1984; M. Santagata, Dante. Il romanzo della sua vita, Milano 2012. 5   Die vier Traktate (Schreiben, Beredsamkeit in der Volkssprache, Gastmahl und Abhandlung) werden in den sieben Bänden der Philosophischen Bibliothek sehr ausführlich eingeleitet und kommentiert. Es sei auf die zwei vorzüglichen neuen Ausgaben von De vulgari eloquentia hingewiesen: A cura di Mirko Tavoni, Dante Alighieri Opere, vol. I, Milano, Mondadori 2011, S. 1067 – 1547; A cura die Enrico Fenzi con la collaborazione di Luciano Formisano e Francesco Montuori, Salerno 2012. Ebenfalls erwähnenswert ist der neue Kommentar zum Convivio von Gianfranco Foriavanti, in: Dante Alighieri Opere II, Milano 2014, S. 3 – 805.



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anderen späteren Werke (Monarchia und Questio) behauptet werden.6 Ganz anders verhält sich allerdings die Sache, wenn wir in Betracht ziehen, daß möglicherweise Dante selbst der Auffassung war, seine Schriften lieferten einen Beitrag zu dem, was er unter Philosophie verstand. Daß dies im Falle des Convivio offensichtlich ist, kann kaum bezweifelt werden: Die ausführliche Einleitung zu dieser Schrift (erstes Buch), in der Dante drei eigene Gedichte philosophisch interpretiert (zweites bis viertes Buch), legt dafür ein beredtes Zeugnis ab. Er rechtfertigt in diesen Prolegomena, warum seine Schrift, deren Adressaten Laien sind, die sich also nicht an das universitäre Publikum richtet, in der italienischen Volkssprache abgefaßt wurde. Die später entstandene Monarchia, wo mittels einer streng philosophisch argumentierenden Methode die konsequente Trennung von politischer und religiöser Ordnung und Herrschaft gefordert wird, hilft zweifelsohne den theologischen, sozialen und gesellschaftlichen Gehalt der Commedia besser zu verstehen, aber sie verfolgt, auch nach Dantes Auffassung, unabhängig von dieser Funktion ein selbständiges Ziel politischer Reflexion und ist nicht nur an die Leser des Gedichtes gerichtet. Noch einmal verschieden von dieser Blickrichtung ist die Frage, ob Dantes Schriften für die Geschichte der Philosophie als solcher eine gewisse Relevanz besitzen, das will sagen, ob sein Denken einen beachtenswerten Beitrag zu zentralen philosophischen Problemen geleistet hat und ob seine Texte das Verständnis der Philosophie, ihres Gegenstandes und ihrer Aufgabe wesentlich verändert hat.

  Z. Baranski, Dante e i segni. Saggi per una storia intellettuale di Dante Alighieri, Napoli 2000, betont und verteidigt diese Deutung mit durchaus beachtenswerten Argumenten. 6

x Einleitung

Dantes Weg zur Philosophie Wenn wir nun das Werk Dantes vor dem Hintergrund der Theorie und Praxis des scholastischen Diskurses im 13. Jahrhundert betrachten, so entdecken wir ganz entscheidende Unterschiede, die uns darüber belehren, daß sich einerseits Dante eindeutig auf die scholastische Tradition albertinischer, thomistischer und artistischer Prägung7 bezieht und daß sein Schrifttum ohne diesen Hintergrund überhaupt nicht denkbar ist; andererseits ist nicht übersehbar, daß bei Dante das von ihm Rezipierte in einer sehr spezifischen Weise verändert und transformiert wird. Die Questio, dieses letzte Werk aus dem Jahre 1320, wo bekanntlich gefragt wird, ob das Wasser in seinem Bereich in irgendeinem Teil höher liege als die Erde, kann ohne weitere Umschweife als ein „scholastischer Diskurs“ bezeichnet werden, und wir können diese Schrift in diesem Zusammenhang vernachlässigen.8 Was den XIII. Brief betrifft, ist festzuhalten, daß Dante darin eindeutig zu einer philosophischen Lektüre des poetischen Hauptwerkes einlädt, indem er die Commedia der Gattung der Moralphilosophie zuordnet9, aber ich möchte im Folgenden nachweisen, wie in den explizit philosophischen Traktaten des Gastmahls und Von der Beredsamkeit in der Volkssprache Dante ein anderes, im Vergleich zur Schulphilosophie   Zum Philosophieverständnis des Thomas von Aquin vgl.: Thomas von Aquin, Prologe zu den Aristoteleskommentaren, hg. von F. Cheneval und Ruedi Imbach, Nachdruck Frankfurt/M. 2014; zum scholastischen Diskurs vgl. C. Koenig-Pralong, „Le discours scolastique médiéval“, in: Revue de théologie et de philsophie 139 (2007) 353 – 368. 8   Vgl. dazu die ausführliche Einleitung von Dominik Perler im Band PhB 464 (mit Literaturangaben); vgl. ebenfalls dazu Baranski, Dante e i segni, S. 199 – 219. 9   Vgl. in diesem Band S. 10 sowie die Einleitung und den Kommentar von Thomas Ricklin in PhB 463. 7



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und zur universitären Tradition alternatives Philosophieverständnis entwickelt hat. Der erste offenkundige Aspekt dieser Transformation betrifft das Subjekt des philosophischen Diskurses, das bei Dante in mehrfacher Hinsicht in den Vordergrund rückt. Das wird nicht nur daran sichtbar, daß jetzt die philosophische Rede zu einem großen Teil in der ersten Person Singular artikuliert wird, sondern auch der Weg dieses Subjektes zur Philosophie eigens zum Thema gemacht wird. Im 2. Traktat des Gastmahls wird die Entdeckung der Philosophie ausführlich erzählt, und zwar im Zusammenhang mit der Lebensgeschichte Dantes. An die Stelle des bei Thomas und in der scholastischen Tradition präzise beschriebenen philosophischen schulmäßigen Lehrgangs, der mit der Logik beginnt und in der Metaphysik seine Voll­ endung findet, stoßen wir bei Dante auf die Biographie des Autors, der durch den Verlust seiner Geliebten, Beatrice, in eine tiefe Verzweiflung gestürzt wird und dann bei der Philosophie Trost sucht: Und deshalb, nochmals von vorn beginnend, sage ich, daß, als die erste Freude meiner Seele, von der oben gehandelt worden ist, für mich verloren war, ich von soviel Traurigkeit geschlagen zurückblieb, daß es für mich keinerlei Trost gab. Nach einiger Zeit allerdings besann sich mein Verstand, der mit sich zu Rate ging, um zu genesen, zumal weder mein eigener noch der Trost anderer etwas nützte, auf die Art, durch die ein anderer Trostsuchender versucht hatte, sich zu trösten; und ich machte mich daran, jenes wenig bekannte Buch des Boethius zu lesen, worin er, eingekerkert und verjagt, sich selbst getröstet hatte. Und da ich zudem hörte, daß Cicero ebenfalls ein Buch geschrieben hatte, in welchem er, von der Freundschaft handelnd, die Trostworte des hervorragendsten Laelius zum Tod seines Freundes Scipio gestreift hatte, machte ich mich daran, jenes zu lesen. (II, xii, 1 – 7; S. 144)

xii Einleitung

Zweifellos ist die hier beschriebene Biographie nicht die schlichte Erzählung von Geschehenem, sondern eine konstruierte Lebensbeschreibung10, aber das ist für unsere Perspektive nicht das Entscheidende. Wichtiger ist das Faktum, daß die Philosophie als eine mit der Existenz des Philosophierenden direkt verknüpfte Aktivität begriffen wird: Dante wendet sich der Philosophie zu, um Trost zu finden, aber er versteht recht schnell, wie der Text festhält, daß die Philosophie eine „allerhöchste Sache“ ist (I, xii, 5; S. 144). Und dies veranlaßt ihn, das erste Stadium des autodidaktischen Lesens zu überwinden und dorthin zu gehen, wo die Philosophie professionell betrieben wird: Er besucht die Ordensschulen und nimmt an den Disputationen der Philosophen teil.11 Die Spuren dieser Begegnung mit der akademischen und professionellen Philosophie finden sich auf allen Seiten seiner Schriften, aber Dantes Texte zeigen, daß das dort Gehörte und Gelernte verwandelt wird, namentlich wenn gesagt wird: „ich stellte mir die Philosophie wie eine edle Frau vor“ (II, xii, 6; S. 144). Diese Formulierung ist nicht allein deshalb bemerkenswert, weil sie eine eindeutige Anspielung auf die Vita Nova enthält, sondern weil sie die bereits in der Consolatio philosophiae des Boe­thius vollzogene Identifikation der Philosophie mit einer Frau aufgreift und ihr neue Dimensionen verleiht.12 Dante be  Zur Bedeutung der Autofiktion bei Dante vgl. F.-R. Hausmann, „Fast alles, was wir von Dante wissen, wissen wir von Dante selbst: Plädoyer für einen kritischen Umgang mit Dantes Biographie“, in: Bright is the Ring of Words, Festschrift für H. Weinstock, Bonn 1996, S. 109 – 125; G. Sasso, Le autobiografie di Dante, Napoli 2008; M. Santagata, L’io e il mondo. Un interpretazione di Dante, Bologna 2011, und vor allem das bedeutsame Werk von A. R. Ascoli, Dante and the Making of a Modern Author, Cambridge 2008. 11   Vgl. dazu den Kommentar von Ricklin, Das Gastmahl II, PhB 466b, S. 229 – 233. 12   Vgl. Th. Ricklin, „Femme-philosophie et hommes-animaux: essai 10



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schreibt im zweiten Traktat des Convivio ausführlich und dramatisch den Kampf zwischen der alten und der neuen Liebe, zwischen Beatrice und der Philosophie, und schildert den Sieg der Philosophie, er formuliert desweiteren das Lob der Philosophie als Lob der edlen Frau, donna gentile, benützt die Sprache der Liebeslyrik, um die Philosophie zu preisen. Dieses ausführliche Lob der Philosophie, dem ein guter Teil des dritten Traktates des Convivio gewidmet ist, scheint mir noch aus einem anderen Grunde bemerkenswert. Bonaventura, der große franziska­ nische Gelehrte und Zeitgenosse des Thomas, hatte in seinen Pariser Vorträgen der siebziger Jahre den traditionellen Vergleich der Philosophie mit einer Magd gleichsam auf die Spitze getrieben.13 Mit scharfen Worten tadelte er einen allzu freimütigen Umgang mit der Philosophie, die als „ehebrecherische Studien“ beschimpft und als „niedere Mägde“ eingestuft werden.14 Es ist ganz eindeutig, daß hier mit den Mägden die Philosophie und mit der Herrin aller Wissenschaften die Theologie gemeint ist. Der Vergleich der Philosophie mit einer Frau wird in einem anderen Passus noch weiter getrieben: Dies ist der größte Greuel: uns ist die Tochter des Königs als Braut angeboten, wir aber ziehen es vor, mit der häßlichsten

d’une lecture satirique de la Consolatio Philosophiae de Boèce“, in: Boèce ou La chaîne des savoirs, hg. von A. Galonnier, Louvain 2003, S. 131 – 146. Karlheinz Stierle betont zu Recht die Bedeutung von Boethius für das Selbstverständnis Dantes: ders.: Dante Alighieri: Dichter im Exil, Dichter der Welt, München 2014, S. 47, 55 13   Vgl. R. Imbach, „Non diligas meretricem et dimittas sponsam tuam. Aspects philosophiques des Conférences sur les six jours de la création de Bonaventure“, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 97 (2013) 367 – 396. 14   S. Bonaventurae Collatio IV, § 16, in: Collationes in Hexaëmeron et Bonaventuriana quaedam selecta, ad fidem codicum mss. edidit Ferdinandus Delorme, Ad Claras Aquas, Florentiae, 1934, S. 58 f.

xiv Einleitung

Hure zu verkehren; und wir wollen nach Ägypten zurückkehren zu den schändlichsten Speisen und wollen nicht durch die himmlische Speise aufgerichtet werden.15

Dantes Identifikation der Philosophie mit der edelsten aller Frauen gewinnt vor diesem Hintergrund noch einmal neue Dimensionen. Er beschreibt seinen Weg zur Philosophie nicht nur als einen Prozeß des Verliebens und die Beziehung zu ihr als Freundschaft und als Liebe, sondern die Frau, in die er sich verliebt, ist keine Hure, sondern „die Tochter Gottes, die Königin über alles und die erhabene und schönste Philosophie“ (II, xii, 9; S. 145). Wenn wir fragen, wie wir uns diese Geliebte vorstellen sollen, drängt sich ein erneuter Blick auf das Gastmahl auf.

Dantes Konzeption der Philosophie Wie Francis Cheneval überzeugend nachgewiesen hat16, handelt es sich beim Gastmahl eigentlich um eine Einführung in die Philosophie, wie sie im 13. Jahrhundert an den Universitäten geschrieben wurde.17 Die diesbezügliche Literaturgattung will es, daß darin vor allem drei bedeutende Aspekte behandelt werden, es sollen nämlich darin eine diffinitio philosophie, eine commendatio philosophie (Lob der Philosophie) und eine divisio philosophie (Wissenschaftseinteilung) vorgelegt werden. Während Dante die beiden ersten Programmpunkte im dritten Traktat ausführt, widmet er einen ansehnlichen Teil des zweiten Traktats der Wissenschaftseinteilung, zu der ihm die allegorische  Collatio II, § 7, Obras de San Buenaventura, III, Madrid 1972, S. 202.   Einleitung zu PhB 466a, S. LXXXVIII – XCIX. 17   Vgl. C. Lafleur / J. Carrier, L’enseignement de la philosophie au XIIIe siècle. Autour du ‚Guide de l’étudiant‘ du ms. Ripoll 109, Actes du col­ loque international édités avec un complément d’études et de textes par Claude Lafleur avec la collaboration de Joanne Carrier, Turnhout 1997. 15 16



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Deutung des Anfangs jenes Gedichts, das dem Traktat vorangestellt wird, die Möglichkeit bietet: „Ihr, die ihr denkend den dritten Himmel bewegt“. Der Ausdruck ‚Himmel‘, so lehrt das 13. Kapitel (S. 145 f.), meint die Wissenschaften, und diese Identifikation verführt Dante dazu, eine originelle Wissenschaftseinteilung vorzu­ legen, in der Dante eine Korrespondenz zwischen dem Himmelsgewölbe mit seinen Sphären und den Wissenschaften ausführlich entwickelt. Wie Thomas Ricklin nachgewiesen hat18, gibt es durchaus Vorlagen zu diesem Versuch, das Weltgebäude als Schlüssel zu einer Wissenschaftseinteilung zu benutzen. Dennoch erlaubt dieser Teil von Dantes Schrift einen lehrreichen Einblick in die Besonderheit und Eigenheit seines Philosophiekonzepts. Dantes der Tradition verpflichtetes Verständnis des Kosmos liefert dazu den Leitfaden: Auf die sieben Planetenhimmel folgen nach dieser Konzeption der Fixsternhimmel, der Kristallhimmel und das Empyreum, so daß sich ein Gefüge von zehn Himmeln ergibt, deren Verhältnis zu den Wissenschaften Dante folgendermaßen zusammenfaßt: Die sieben ersten [Himmel] entsprechen den sieben Wissenschaften des Trivium und des Quadrivium, also Grammatik, Dialektik, Rhetorik Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Der achten Sphäre, d.h. dem Fixsternhimmel entspricht die Naturwissenschaft, die Physik heißt, und die erste Wissenschaft, die Metaphysik heißt; und der neunten Sphäre entspricht die Wissenschaft der Moral; und dem ruhenden Himmel entspricht die göttliche Wissenschaft, die Theologie genannt wird. (II, xiii, 8; S. 147)

In diesem Rahmen ist es nicht möglich, Dantes Entfaltung dieser Wissenschaftseinteilung in all ihren signifikativen Aspek18

  Das Gastmahl II, PhB 466b, S. 237 – 274.

xvi Einleitung

ten zu präsentieren, ich hebe, in einer kaum zu legitimierenden Willkür, nur wenige Punkte hervor, die mir bedeutsam scheinen: 1. Dem Mondhimmel entspricht die Grammatik. Seinen eigenen methodischen Regeln folgend, erwähnt Dante zwei Eigenschaften des Himmels, die eine Ähnlichkeit mit der Grammatik aufweisen. Am Mond, so meint Dante, fallen uns im Vergleich mit den anderen Sternen nicht nur die Mondflecken, sondern auch die Mondphasen auf: Und diese beiden Eigenschaften hat die Grammatik: denn wegen ihrer Unendlichkeit können die Strahlen der Vernunft in ihr an kein Ende gelangen, vor allem bezüglich der Vokabeln; und sie leuchtet mal von hier und mal von da, insofern als gewisse Vokabeln, gewisse Deklinationen und gewisse Konstruktionen jetzt in Gebrauch sind, die es früher nicht waren oder es bereits waren und wieder sein werden. (II, xiii, 10; S. 147)

In diesen Sätzen zur Veränderlichkeit der Sprachen kommt nicht nur Dantes Interesse am Phänomen der Sprache zum Ausdruck, sondern überhaupt seine Sensibilität für die menschliche Endlichkeit und Geschichtlichkeit. Wie kaum ein anderer Philosoph des Mittelalters hat Dante über diesen Aspekt der Sprache nachgedacht, wie die Rede Adams im 26. Gesang des Paradiso bestätigt, wo in eindeutiger Weise einerseits der Mensch als Spracherfinder und andererseits die notwendige Variabilität der Sprachen betont wird.19 In seiner lateinischen Schrift De vulgari eloquentia, die ausschließlich dem Problem der Sprache gewidmet ist, wird die Problematik der nachbabelischen Sprachentwicklung ausführlich untersucht, und der italienische Philosoph legt die Vervielfältigung der Sprachen nicht nur, wie es üblich ist, als eine  Paradiso XXVI, 124 – 142. Vgl. dazu R. Imbach, Dante, la philosophie et les laïcs, Fribourg/Paris 1996, S. 207 – 214. 19



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göttliche Strafe aus, sondern versucht dafür eine vernünftige Erklärung zu geben, die er in der menschlichen Natur entdeckt: Da aber alle unsere Sprachen –[…]– nach jener Verwirrung, die nichts anderes war als das Vergessen der früheren [Sprache], nach unserem Gutdünken neu gebildet wurden und da der Mensch ein äußerst unstetes und veränderliches Lebewesen ist, können sie weder dauerhaft noch beständig sein, sondern müssen sich wie anderes, was zu uns gehört, zum Beispiel Sitten und Gebräuche, aufgrund des Abstandes von Ort und Zeit verändern. (I, ix, 6; S. 58)

Dante liefert hier eine innovative Deutung der allen Philosophen seit Aristoteles geläufigen These, die menschliche Sprache sei ad placitum entstanden. Seine Auslegung ist vor allem deshalb bedeutsam, weil sie einerseits von einer besonderen Sensibilität für den geschichtlichen Wandel zeugt und andererseits dieser Faktizität durchaus etwas Positives abzugewinnen vermag. 2. Die Logik, die Dialektik, kann mit dem Merkurhimmel verglichen werden. Dante war von der Logik fasziniert. Was an einer Stelle des Inferno Guido da Montefeltro Dante an den Kopf wirft, ist auch ein Einwurf Dantes an seinen Leser: Forse, tu non pensavi ch’io logico fossi, / Du hast wohl nicht daran gedacht, daß auch ich Logiker bin.20

Wie sehr ihm Logik am Herzen liegt, läßt sich hundertmal in seinem Werk bestätigen, wohl am eindrücklichsten in der Monarchia. Besonders auffallend ist der Gebrauch der Logik im dritten Buch des politischen Traktats, wo Dante die biblischen Argumente zugunsten der päpstlichen plenitudo potestatis, der Idee der Päpstlichen Weltregierung, mit dem Nachweis logi Inferno XXVII, 123. Ich zitiere die Übersetzung von Kurt Flasch, Frankfurt/M. 2011. 20

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scher Fehler in der Argumentation der Gegner zurückweist.21 Vielleicht noch überraschender ist ein anderes Beispiel der Präsenz der Logik im Werk Dantes. Im ersten Teil des 26. Gesangs des Paradiso wird der dritte Teil des theologischen Magisterexamens Dantes vorgestellt. Nachdem ihn die Apostel Jakob und Petrus vorher über den Glauben und die Hoffnung befragt haben, prüft ihn Johannes hier über die Liebe. Dante beantwortet die Prüfungsfrage mit einem kurzen Diskurs, der zu den wichtigsten Passagen der Komödie überhaupt gehört, weil darin die These entwickelt wird, Gott sei als das höchste Gut die Ursache der größten Liebe; er ist der unbewegte Beweger der bewegten Welt und des sich bewegenden Menschen. Wer diese Verse, in denen nach Dantes eigener Aussage die Übereinstimmung von Vernunft und Glaube zum Ausdruck kommt, mit Genauigkeit liest, stellt fest, daß die entsprechenden Terzinen sich als ein Syllogismus lesen lassen, der ohne Schwierigkeit rekonstruiert werden kann.22 3. Die Ausführungen zur Arithmetik, die mit der Sonne verglichen werden kann, verdeutlichen einmal mehr, wie sehr Dante dieses Gestirn schätzt, das ja bekanntlich im letzten Vers der Commedia Erwähnung findet, wenn er von der Liebe spricht, die die Sonne und die anderen Gestirne bewegt. An der Stelle des Gastmahls, wo von der Arithmetik die Rede ist, wird hervorgehoben, daß die Arithmetik alle anderen Wissenschaften erhelle, genauso wie die Sonne alle anderen Sterne erleuchte (II, xiii, 15 – 17; S. 148 f.). Daß er sich mit der Frage der Sonnenstrahlen auseinandergesetzt hat und sie richtig verstanden wissen will, das belegt neuerdings eine aufschlußreiche Stelle aus dem dritten Buch der Monarchia. Der Passus, auf den   Vgl. dazu Monarchia III, viii, S. 206 – 210 und den Kommentar S. 322 f. 22   Zu diesem Passus vgl. R. Imbach, S. Maspoli, „Philosophische Lehrgespräche in Dantes Commedia“, in: Gespräche lesen. Philosophische Dia­ loge im Mittelalter, hg. von K. Jacobi, Tübingen 1999, S. 318 – 321. 21



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ich anspiele, bezieht sich auf die allegorische Auslegung von Sonne und Mond zugunsten der weltlichen Herrschaft des Papstes.23 Die überraschend ausführliche Kritik an diesem Argument besteht vornehmlich aus einer Kritik am Mißbrauch allegorischer Deutungen und endet schließlich mit einer Bemerkung zu dem, was wir die Selbständigkeit des Mondes nennen können. Der Mond, so argumentiert Dante hier, ist nicht nur ontologisch von der Sonne unabhängig, sondern auch seine Bewegung hängt nicht von der Sonne ab. Vor allem aber besitzt er selbst ein gewisses Licht.24 Wenn Dante hier eine fragwürdige kosmologische Erklärung heranzieht, um die theokratische Lehre zu bekämpfen, so bestätigt dies vor allem, daß er an Fragen der Astronomie in besonderem Maße interessiert war. Dies wird nicht nur durch die Diskussion zur Erklärung der Mondflecken bestätigt, mit denen sich Beatrice in einer ausführlichen Rede im 2. Gesang des Paradiso beschäftigt und wo sie Dantes frühere diesbezügliche Thesen kritisiert, sondern vor allem durch das Urteil, das Dante in der Wissenschaftseinteilung des Gastmahls über die Astronomie ablegt, wenn er sagt, so wie der Saturn der höchste aller Planeten sei, komme auch der Astronomie unter den sieben freien Künsten der erste Rang zu: Zur Begründung dieses Vorranges beruft sich Dante auf Aristoteles, nach dem der Rang einer Wissenschaft durch den Adel ihres Gegenstandes und den Grad ihrer Gewißheit bestimmt wird. Da die Astronomie von der vorzüglichsten aller Bewegungen – der Himmelsbewegung – handelt, kommt ihr also dieser Rang zu und sie stützt sich auf die sichersten wissenschaftlichen Prinzipien (II, xiii, 28; S. 151). 4. Ein letzter Aspekt von Dantes Wissenschaftseinteilung verdient unsere Beachtung. Wie ich bereits erwähnt habe, werden die drei höheren Himmelssphären mit der Physik, der 23 24

 Monarchia III, ix, 3; S. 190 f.   Ebd., iv, 17 – 20; S. 197.

xx Einleitung

Meta­physik, der Moralphilosophie und der Theologie verglichen. Physik und Metaphysik werden dem Fixsternhimmel zugeordnet, während die filosofia morale nach Dantes Urteil mit dem Kristallhimmel zu vergleichen ist. Um die Bedeutung dieser Anordnung richtig einzuschätzen, muß daran erinnert werden, daß der Kristallhimmel alle Himmelbewegungen ordnet, d. h. letztlich auch für das gesamte Werden und Vergehen in der irdischen, sublunaren Welt, das von der Himmelsbewegung abhängt, verantwortlich ist. Ein Stillstand des primo mobile, des Kristallhimmels, hätte deshalb unabsehbare Folgen: tatsächlich wäre hier unten kein Werden und Leben von Lebewesen und von Pflanzen; es gäbe weder Nacht noch Tag, noch gäbe es Wochen, Monate und Jahre, sondern das ganze All wäre in Unordnung und die Bewegung der anderen Himmel wäre vergebens. (II, xiv, 17; S. 155)

Die Tragweite des Vergleichs des Kristallhimmels mit der Moralphilosophie wird mittels dieser Präzisierung in ihrer Bedeutung verständlicher: Die Moralphilosophie wird an Stelle der Metaphysik zur Ersten Philosophie erhoben. Welch entscheidende Konsequenzen dieser Vorrang der praktischen Philosophie gegenüber der theoretischen Philosophie mit sich bringt, wird aus der Erklärung deutlich, die Dante vorträgt: Und nicht anders wären, würde die Moralphilosophie aufhören, die anderen Wissenschaften eine gewisse Zeit lang verborgen, und es gäbe weder Werden von Glück noch glückliches Leben. (II, xv, 18; S. 155)

Die gesamte Philosophie wäre, so müssen wir folgern, umsonst erfunden worden. Wenn wir berücksichtigen, daß das Syntagma filosofia morale im Sinne Dantes die politische Philosophie nicht nur einschließt, sondern daß die politische Philosophie die praktische Philosophie vollendet, dann wird deutlich, daß sich hier ein einschneidender Wandel der Philosophiekon-



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zeption vollzieht, dessen Quintessenz im Satz „Die Sittlichkeit ist die Schönheit der Philosophie“ (III, xv, 11; S. 212) prägnant zum Ausdruck kommt. Nach Dante, das müssen wir festhalten, ist nicht die Metaphysik die höchste Wissenschaft, sondern die Praktische Philosophie. Es ist nicht übertrieben, hier von einem eindeutigen Primat der praktischen Vernunft zu sprechen.

Dantes Philosophie der Sprache Wiewohl der erwähnte Aspekt seiner Philosophie nicht überschätzt werden kann, möchte ich im folgenden einen anderen, nicht weniger faszinierenden Aspekt in den Vordergrund stellen, ich meine Dantes Neubesinnung auf das Problem der Sprache, d.h. aber auf den Gegenstand der trivialen Künste, in denen die richtige, die wahre und die schöne Rede behandelt wird. Welches ist der originelle Beitrag Dantes zur sprachphilosophischen Reflexion? Ich möchte sechs Aspekte hervorheben: 1. Dante hat explizit die Sprache der Philosophie zu einem philosophischen Thema gemacht. Das Gastmahl, Dantes erste explizit philosophische Schrift, ist zwar keineswegs der erste philosophische Traktat, der in der Volkssprache verfaßt wurde25, aber es ist der erste und für lange Zeit einzige Traktat, der das Problem des Philosophierens in der Volkssprache zum Gegenstand philosophischen Nachdenkens erhebt. Dieses Interesse hängt damit zusammen, daß Dante sich fragt, wer die Adressaten seiner philosophischen Belehrung seien und ausdrücklich festhält, daß er sich an jene wendet, denen aufgrund der „Sorge um die Familie und um die Gemeinschaft“ der Weg zu den Universitäten und den Ordensschulen, wo das „Brot der   Zu diesem Thema vgl. R. Imbach, Laien in der Philosophie des Mittelalters, Amsterdam 1989; R. Imbach, C. König-Pralong, Le défi laïque. Existe-t-il une philosophie laïque au Moyen Age?, Paris 2013. 25

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Engel“ in lateinischer Sprache aufgetischt wird, versperrt ist (I, i, 7; S. 80). Dante ergänzt diese prinzipielle Überlegung zum Adressatenkreis der Philosophie durch eine Rechtfertigung für die Verwendung der italienischen Muttersprache. Zwar erkennt Dante an dieser Stelle den Vorrang des Lateinischen an, weil es eine bleibende und unvergängliche Sprache ist (I, v, 7; S. 91), aber eine lateinische Schrift hätte dem Vorhaben einer Belehrung der vielen Menschen nicht gedient, weil das Latein wiederum nur von einer kleinen Minderheit verstanden worden wäre (I, vii, 12; S. 96). Daraus darf die Konsequenz gezogen werden, daß die italie­ nische Volkssprache ein mögliches Vehikel philosophischer Lehre und philosophischen Lehrens sein kann und soll. Er hat mit dem Convivio also nicht nur die Schulphilosophie in eine andere Sprache übersetzt, sondern hat in diesem Prozeß der Übertragung zugleich das Selbstverständnis der Philosophie transformiert. In der Tat, wenn wir unter Philosophie nicht nur ein solitäres Nachdenken, wenn wir unter Philosophie auch eine Lehre verstehen, die vermittelt werden soll und kann, dann gehört die Erörterung der Möglichkeiten und Bedingungen der Vermittlung ebenfalls zum philosophischen Geschäft. Daß die Frage der Sprache der Philosophie dabei nicht vernachlässigt werden darf, hat Dante in diesem Werk in exemplarischer und einzigartiger Weise gezeigt. 2. Es mag durchaus richtig sein, daß Dante einen anerkennenswerten Beitrag zur Popularisierung der Philosophie geleistet hat. Dies schließt indessen noch keineswegs ein, er habe auch Beachtenswertes im Bereich der Philosophie der Sprache geleistet. In einer ersten Antwort auf diesen durchaus berechtigten Einwand kann darauf hingewiesen werden, daß Dante den sprachlichen Zeichen nicht nur einen eigenen Traktat widmen will, sondern sie in De vulgari eloquentia ausdrücklich als den „edlen Gegenstand“ seines Traktates bezeichnet (I, iii, 3; S. 48). Die Sprache erscheint nicht nur, wie beispielsweise bei



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Aristoteles, als Substitut der Gegenstände, die wir nicht immer mitbringen können, oder als Ausdruck der Gedanken, wie das semantische Dreieck desselben Stagiriten nahelegt, sondern gewinnt einen Eigenwert, der auch die augustinische Sprach­ skepsis26 überwindet. Ein Passus im Convivio (I, xiii, 4; S. 111), wo Dante daran erinnert, daß er sein Dasein der Sprache seiner Eltern verdanke, mag verdeutlichen, welche Bedeutung Dante der sprachlichen Verständigung zumißt: Diese meine Volkssprache war die Vermählerin meiner Erzeuger, die sich in dieser [Sprache] verständigten, so wie das Feuer die Vorbereitung des Eisens für den Schmied ist, der das Messer macht; wodurch offensichtlich ist, daß [die Volkssprache] meiner Zeugung beigestanden hat und so eine Ursache meines Seins ist.

Philosophisch gesehen sind möglicherweise diese beiden Hinweise noch zu oberflächlich, um die Relevanz und Besonderheit der sprachphilosophischen Reflexion Dantes zu belegen. Auch wenn eingeräumt wird, Dante habe die Sprache des Menschen als einen besonders wichtigen Gegenstand des Philosophierens eingestuft, was nicht bestritten werden kann, bleibt zu prüfen, ob er tatsächlich neue Fragen gestellt und originelle Thesen vertreten hat. 3. Nach Dante ist die Sprache der „herausragende Akt des menschlichen Geschlechts“ (egregius actus humani generis; I, iv, 3; S. 49). Im zweiten und dritten Kapitel der Schrift Von der Beredsamkeit in der Volkssprache will Dante die These beweisen, daß von allen Seienden allein der Mensch Sprache hat (S. 46 – 48). Dantes Beweisgang beruht auf drei Voraussetzungen. Die erste dieser Voraussetzungen besteht in einem hierarchischen Wirklichkeitsverständnis, dem gemäß der Mensch zwischen einer  Dieser Aspekt wird stark betont von K. Kahnert, Entmachtung der Zeichen? Augustin über Sprache, Amsterdam 2000. 26

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seits Engeln als rein geistigen Substanzen und den Tieren andererseits steht. In der Monarchia wird dieser Sachverhalt mit dem Bild des Horizontes ausgedrückt: Der Mensch ist gleichsam der Horizont zwischen der niederen und der oberen Welt.27 Die zweite Voraussetzung ist in Dantes Konzeption der kosmischen Ordnung zu suchen: Er geht davon aus, daß im geordneten Universum alles seinen ihm zukommenden Platz sowie seine in das Gesamtziel des Ganzen eingefügte Aufgabe besitzt. Dieser Gedanke einer streng teleologisch durchstrukturierten Wirklichkeit kommt im Werk Dantes immer wieder vor. Er ist zusammengefaßt im berühmten Satz aus De anima III, 9; 432b 21, den Dante oft zitiert: „Die Natur tut nichts vergebens, es fehlt ihr nichts Notwendiges, noch gibt es Überfluß an Unnützem“.28 Als Drittes ist Dantes Auffassung der Sprache zu nennen. Sie wird I, ii, 3 erklärt, wenn Dante sagt: „Wenn wir sprechen, dann wollen wir andern den Begriff unseres Geistes erklären“ (S. 46). Dieses Sprachverständnis, das die Beziehung zum andern als Adressaten in den Vordergrund stellt, ist für Dante von grundlegender Bedeutung. Es geht ursprünglich auf Platon zurück, aber Dante hat diese Konzeption wahrscheinlich direkt von Thomas übernommen, der sagt: „Mit einem anderen sprechen, das ist nichts anderes als den Begriff des Geistes einem anderen mitteilen“.29  Monarchia III, xv, 3; S. 241 – 243.   Zur Bedeutung des Aristoteles im Schrifttum Dantes vgl. Einleitung zu Band 466d, S. XII – XXVIII. 29   Summa theologiae I, q. 107, art. 1. Vgl. ebenfalls Gastmahl I, v, 12; S. 97. Zur Sprache der Engel vgl. B. Roling, Locutio angelica. Die Diskussion der Engelsprache als Antizipation einer Sprechakttheorie in Mittelalter und Früher Neuzeit, Leiden 2008; I. Rosier-Catach, „Le parler des anges et le nôtre“, in: S. Caroti u. a., Ad ingenii acuitionem. Studies in honour of Alfonso Maierù, Louvain-la-Neuve 2006, S. 377 – 401; „Il n’a été qu’à l’homme donné de parler. Dante, les anges et les animaux, in: J. Biard / F. Mariani, Ut philosophia poiesis. Questions phi27

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Auf der Grundlage dieser drei Voraussetzungen vollzieht sich der Gedankengang Dantes in zwei Schritten: Zuerst wird gezeigt, daß für die Engel und die Tiere die Sprache nicht notwendig ist (Kapitel ii, S. 46); danach weist Dante nach, daß die Sprache für die Menschen notwendig ist (Kapitel iii, S. 48). Im Gegensatz zum größten Teil der theologischen Tradition sagt Dante, es sei nicht angebracht, eine Sprache der Engel zu postulieren. Für die Mitteilung ihrer Gedanken genüge ihr Intellekt oder aber das Sehen der Gedanken der anderen im göttlichen Intellekt. Die Besonderheit von Dantes These wird deutlich, wenn sie verglichen wird mit den Argumentationen der Theologen zugunsten einer Sprache der Engel: Nach der Auffassung von Thomas und Bonaventura beispielsweise genügt ein Willensakt, um eine Kommunikation mit einem andern Engel zu provozieren.30 Die Sprache ist das Mitteilenwollen der Engel. Thomas nennt diesen Willen zur Mitteilung des Gedankens die „Sprache der Engel“. Dante, der offensichtlich dem Aspekt des Willensaktes in diesem Zusammenhang weniger Beachtung schenkt, leugnet die Möglichkeit einer Kommunikation der Engel keineswegs, aber er weigert sich, diese Übermittlung von Gedanken Sprache (locutio) zu nennen, weil zum Sprechen notwendigerweise ein sinnlich wahrnehmbares Zeichen gehört. Bei den Tieren liegt die Sache anders.31 Die Tiere einer gleichen Art haben identische, determinierte Aktionen und Reaklosophiques dans l’œuvre de Dante, Pétrarque et Boccace, Paris 2008, S. 13 – 37; „Une forme particulière de langage mental, la locutio angelica, selon Gilles de Rome et ses contemporains“, in: J. Biard, Le langage mental du Moyen Âge à l’âge classique, Mouvain 2009, S. 60 – 93.  30   Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, q. 107, art. 1. 31   Zur Sprache der Tiere in der mittelalterlichen Philosophie vgl. U. Eco, R. Lambertini, C. Marmo, C. Tabarroni, „On animal language in the medieval classification of signs“, in: On the Medieval Theory of Signs, hg. von U. Eco und C. Marmo, Amsterdam 1989, S. 3 – 41.

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tionen, so daß durch diese Identität eine minimale Verständigung gewährleistet ist. Unser Autor greift den traditionellen Gedanken auf, daß das Verhalten der Menschen nicht durch die Art bestimmt ist, und wertet ihn aus, um zu beweisen, daß Tiere, deren Laute nur Lust und Unlust zum Ausdruck bringen, keine Sprache brauchen. Wenn also sowohl die Tiere wie die Engel keine Sprache brauchen, wie läßt sich die Notwendigkeit der Sprache bei den Menschen nachweisen? Die Körperlichkeit verhindert die intellektuelle Transparenz, die bei den Engeln vorausgesetzt wird. Die menschlichen Aktionen und Reaktionen dagegen sind nicht rein instinktiv, wie bei den Tieren, sondern hängen vom Verstand ab. Wenn Dante in diesem Kontext von ratio spricht, dann versteht er diesen Ausdruck als terminus technicus für das diskursive Erkenntnisvermögen, das den Menschen als solchen auszeichnet. „Homo … ratione movetur“ (I, iii, 1; S. 48) – dies bedeutet, daß das menschliche Handeln ein Zusammenspiel von Erkennen und Wollen einschließt: Unterscheidung (discretio), Urteil (iudicium) und Wahl (electio) als drei Schritte, die zum Handeln führen, schließen die Freiheit ein, so daß ein Mensch die Gedanken eines anderen nicht voraussehen und erraten kann. Freiheit einerseits und Körperlichkeit andererseits machen also die Sprache für die Kommunikation unter den Menschen notwendig. Aus der Stellung des Menschen zwischen ­Engel und Tier, aus seiner Stellung als animal rationale, ergibt sich Dantes Verständnis der Sprache als sinnlich-vernünftiges Zeichen: „rationale signum et sensuale“ (I, iii, 2; S. 48). Auch wenn Dante diese Doppelbestimmung der Sprache als sinnliches und vernünftiges Zeichen, das den Gedanken des einen Menschen einem andern zu vermitteln fähig ist, von der Tradition übernimmt und die augustinische Auffassung des Zeichens32 voraussetzt, setzt er andere Akzente. Die Sprache 32

  Vgl. S. Vecchio, Le parole come segni. Introduzione alla linguis­



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der Menschen ist nicht nur, wie es bei Thomas und in der Tradition manchmal scheint, eine im Vergleich zur Transparenz der reinen Geister unvollkommenere Form der Kommunikation, sondern sie wird positiv als die dem Menschen gänzlich angemessene und entsprechende Möglichkeit der Kommunikation interpretiert, eine Möglichkeit, die Dante schon deshalb anders bewertet, weil er sie zum Gegenstand eines selbständigen Traktates macht: Das Sprechen ist der „herausragende Akt des menschlichen Geschlechts“ (I, iv, 3; S. 49). Wenn Dante die sprachlichen Zeichen zum konkreten Untersuchungsgegenstand seiner Schrift erhebt, dann ist auch sein Gesichtspunkt sowie seine Intention eine ganz andere als die­ jenige der Theologen und Philosophen seiner Zeit, deren Lehren er aufgreift und verwandelt. Die Theologen haben die Pro­ bleme der Sprache im Kontext theologischer Fragen, namentlich der Trinitätstheologie, der Angelologie und der Sakramentenlehre, erörtert; die Philosophen haben sie im Zusammenhang mit der Auslegung vornehmlich Aristotelischer Schriften diskutiert. Dante verselbständigt das Thema der Sprache, löst es von seinem theologischen und vom bisherigen philosophischen Kontext ab. Er transformiert diese Thematik gleichsam in ein Stück konkreter Anthropologie, denn seine Reflexion über die Sprachfähigkeit des Menschen steht ganz im Dienst eines kulturellen und politischen Programms. 4. Dante verleiht der trivialen Forschung eine gesellschaft­ liche und politische Dimension. Es ist fast überflüssig, an diesen wohl berühmtesten Aspekt der Schrift zu erinnern. Dante entwickelt die Idee eines vulgare illustre, das will heißen einer italienischen Hochsprache, die die Vorteile des Latein mit denjenigen der Volkssprache verbinden soll. Das Ziel dieser Hochtica agostiniana, Palermo 1994; S. Meier-Oeser, Die Spur des Zeichens: das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Berlin 1997, S. 1 – 34.

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sprache ist ein zweifaches: Das geregelte Italienische soll nicht nur den Status einer edlen Sprache der Dichtung erreichen, sondern auch als mögliches Vehikel der Wissensvermittlung in den Blick kommen.33 5. Im Zuge der Reflexion zur Sprache in ihren verschiedenen Dimensionen der Kommunikation stößt Dante auf eines seiner wichtigsten Themen, den durch die Vernünftigkeit des Menschen ermöglichten und geforderten Kosmopolitismus. In einer der ergreifendsten und schönsten Stellen seines Werkes erinnert er zum einen an die Macht der Liebe zu Florenz, seiner Heimat, zum anderen aber gibt er zu bedenken, daß das Studium der Dichter und Denker sowie die Universalität der Vernunft ganz andere Horizonte eröffnen, die den in Florenz geborenen Dichter zum Bürger der Welt machen: (3) Wir hingegen, denen die Welt Heimat ist wie den Fischen das Meer, obschon wir aus dem Arno tranken, bevor wir Zähne hatten, und Florenz so sehr lieben, daß wir, weil wir es liebten, ungerechte Verbannung erdulden, wollen bei der Urteilsfindung mehr das Gewicht der Vernunft als dasjenige der Sinne berücksichtigen. Und obschon es für unsere Lust und für die Befriedigung unserer Sinnlichkeit auf Erden keinen lieblicheren Ort als Florenz gibt, wälzten wir die Bände der Dichter und anderen Schriftsteller durch, in denen die Welt im Ganzen und in ihren Teilen beschrieben wird, und dachten über verschiedene Lagen der Orte auf der Welt und ihre Beziehung zu beiden Polen und zum Äquator nach. Dabei erwägen wir und gelangen zur festen Ansicht, daß es viele edlere und köstlichere Gegenden und Städte als die Toskana und Florenz gibt, von wo wir stammen und Bürger sind, und daß viele Völker und Stämme sich einer erfreulicheren und nützlicheren Sprache bedienen als die Italiener. (I, vi, 3; S. 51 f.)   Zur Interpretationsgeschichte des Werkes vgl. I. Pagani, Le teoria linguistica di Dante, Napoli 1982. 33



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Die Vernunft lehrt den Menschen, sogar das, was er am meisten liebt, in seiner Begrenztheit zu sehen und zu überschreiten auf das hin, was allen Menschen gemeinsam ist. 6. Ein Hinweis auf einen der schwierigsten Sätze der Schrift über die Volkssprache eröffnet den Blick auf einen weiteren faszinierenden Gedanken: „nam in homine sentiri humanius credimus quam sentire“, „denn wir glauben, für den Menschen sei das Wahrgenommenwerden menschlicher als das Wahrnehmen“ (I, v, 1; S. 51). Dieser Satz wird in einem präzisen Kontext formuliert. Es geht um die Frage, zu wem der erste Mensch zuerst gesprochen habe. Dante begründet die These, daß die ersten Worte Gott galten, mit diesem Satz: Der erste Akt des Menschen ist das Sprechen; er vollzieht gleich am Anfang den würdigsten seiner Akte. Aber noch wunderbarer als das Sprechen ist das Gehörtwerden: Das Sprechen ist auf einen anderen ausgerichtet, aber es erreicht seine Vollendung, wenn der Sprechende gehört wird. Das Gehörtwerden ist die Vollendung des Sprechens. Die Selbstbegrenzung der Philosophie Dante kennt zweifelsohne die thomistische Lehre vom Glück des Menschen sowie die Theorie einiger radikaler Aristoteliker, nach der das vollendete Glück in der philosophischen Betrachtung erreicht werden kann 34: Nach der Lehre des Thomas verwirklicht sich das von Aristoteles angekündigte Glück erst im Jenseits, nach dem Tod in der visio beatifica. Auch mit der Auffassung der artistae, wie sie beispielsweise in der kleinen   Vgl. dazu die Einleitung, S. 8 – 42, zu: Thomas d’Aquin, Boèce de Dacie, Le bonheur, textes introduits, traduits et annotés par Ruedi Imbach et Ide Fouche, Paris 2005. Zur thomistischen Glückslehre vgl. ebenfalls Thomas von Aquin, Über das Glück (Summa theologiae I-II, q. 1 – 5), Übersetzt, mit einer Einleitung und einem Kommentar herausgegeben von Johannes Brachtendorf, Hamburg 2013 (PhB 647). 34

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Schrift des Boethius von Dacien De summo bono vertreten wird, war er zweifelsohne vertraut, aber der italienische Philosoph teilt weder den diesseitigen Optimismus des Boethius noch die auf das Jenseits vertagte Hoffnung des Thomas. Er hat sich für einen dritten Weg entschieden, indem er seine Leser zu einer erkenntnistheoretischen Prüfung einlädt, die sowohl die Position des Thomas als auch jene der radikalen Aristoteliker korrigiert. In der Philosophie des Thomas besteht eine unüberwindliche Spannung zwischen dem unbegrenzten menschlichen Verlangen nach einer vollendeten Erkenntnis des vollkommenen Erkenntnisgegenstandes und dem gegenwärtigen, an die sinnliche Wahrnehmung gebundenen menschlichen Erkenntnisvermögen. Dante teilt die thomistische Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten, aber er will, hier den Philosophen folgend, mit größerer Klarheit die Kompetenzen der Philosophie und der Theologie voneinander trennen. In die Zuständigkeit des Philosophen gehört nur und ausschließlich das, was die Vernunft zu erfassen vermag. Wiewohl er aber die klare methodische Trennung von Philosophie und Theologie der Philosophen akzeptiert, lehnt er sowohl deren Optimismus als auch deren Elitismus ganz entschieden ab. Er glaubt nicht, daß die vollkommene Erkenntnis, von der die Philosophen träumen, in diesem Leben möglich ist, und er sucht nach einer Philosophie, die das Glück hienieden nicht einer kleinen handverlesenen Gruppe von Auserwählten reserviert. Der Ausweg aus dem Dilemma gelingt ihm mittels einer zweifachen Korrektur, einerseits an der thomistischen These vom unendlichen Verlangen nach Erkenntnis und andererseits an der Auffassung, daß die Philosophie das Privileg einer kleinen Gruppe Auserwählter sei. Die beiden Korrekturen kennzeichnen Dantes Philosophie als originelle Leistung. Zum ersten Punkt: Alle Scholastiker kennen und zitieren den Anfang der Metaphysik: „omnes homines natura scire desiderant.“ Thomas, den Dante besonders gut kannte, deutet diesen Satz derart, daß nach ihm dieses Verlan-



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gen ein unbegrenztes natürliches Verlangen ist, das nur durch die Erkenntnis Gottes gestillt werden kann. Dante revidiert die hier gemachte Voraussetzung, indem er darauf hinweist, daß es Gegenstände gibt, die der Mensch nicht erkennen kann (was Thomas durchaus zugestehen würde), aber er fügt hinzu, daß der Mensch, von Natur aus, auch nicht danach verlange, sie zu erkennen 35: Wo zu wissen ist, daß diese Dinge auf eine gewisse Art unseren Intellekt blenden, insofern sie bestätigen, daß es bestimmte Dinge gibt, die unser Intellekt nicht sehen kann, nämlich Gott, die Ewigkeit und die erste Materie; die ganz sicher gesehen werden und mit allem Glauben wird geglaubt, daß sie sind, aber was sie sind, können wir nicht begreifen und niemand kann sich, außer beinahe träumend und nicht anders, ihrer Kenntnis nähern. (Gastmahl III, xv, 6; S. 211)

Diesem ersten Gedankenschritt würde auch ein Thomist zustimmen. Die erste Materie liegt diesseits der Erkennbarkeit, Gott jenseits, der menschliche Intellekt verhält sich zu den höchsten metaphysischen Gegenständen wie der Nachtvogel zum Sonnenlicht. Statt wie Thomas zu behaupten, der Mensch verlange trotzdem nach deren Erkenntnis, formuliert Dante einen Zweifel:  Zu den im Folgenden behandelten Problemen vgl. P. Porro, „Tra il ‚Convivio‘ e la ‚Commedia‘: Dante e il ‚forte dubitare‘ intorno al desiderio naturale di conoscere le sostanze separate“, in: A. Speer, D.  Wirmer (Hrsg.), 1308. Eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit, Berlin/New York 2010 („Miscellanea Mediaevalia“, 35), S. 629 – 660; „Avegna che pochi, per malecamminare, compiano la giornata“ L’ideale della felicità filosofica e i suoi limiti nel Convivio dantesco, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 59 (2012), S. 389 – 406. Der eben erschienene Band Il Convivio di Dante, a cura di Johannes Bartuschat e Andrea Robiglio (Ravenna 2015), enthält wichtige Beiträge zum Gastmahl. 35

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Tatsächlich können manche hier zweifeln, wie sich dies verhalte, daß die Weisheit den Menschen glückselig machen kann, wo sie doch dem Menschen gewisse Dinge nicht vollkommen zeigen kann; zudem ist es von Natur aus das Verlangen des Menschen zu wissen und ohne die Erfüllung dieses Wunsches kann er nicht glückselig sein. (III, xv, 7; S. 211)

Offensichtlich hat Dante die Aporie in der thomistischen Philosophie erkannt, aber er antwortet darauf anders als der Domi­ nikaner: Darauf kann man deutlich antworten, daß das natürliche Verlangen in jedem Ding dem verlangenden Ding entsprechend bemessen ist: ansonsten würde es sich selbst widersprechen, was unmöglich ist; und die Natur hätte es vergeblich geschaffen, was ebenfalls unmöglich ist. Widersprüchlich wäre es, daß etwas Vervollkommnung verlangend, seine Unvollkommenheit verlangte; insofern es immer verlangen würde zu verlangen, und sein Verlangen nie zu erfüllen; in diesen Fehler verfällt der verfluchte Geizige und er bemerkt nicht, daß er verlangt, immer zu verlangen und dabei der Zahl nacheilt, die unmöglich zu erreichen ist. Auch hätte die Natur es vergeblich geschaffen, denn es wäre auf kein Ziel hingeordnet. Und deswegen ist das menschliche Verlangen in diesem Leben an jenem Wissen bemessen, das man hier erreichen kann, und diese Grenze überschreitet es nicht, außer er begeht einen Fehler, der außerhalb der Absicht der Natur liegt. (Convivio III, xv, 8 – 9; S. 211 f.)

Dieser Text erforderte einen ausführlichen Kommentar36, der namentlich die implizierte Lehre, die Natur tue nichts ver­ gebens, zu erklären hätte. Ich halte hier lediglich die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Hauptthese fest, die be Vgl. den ausführlichen Kommentar von Cheneval PhB 466c, S. 397 – 431. 36



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hauptet, der Mensch habe kein Bedürfnis nach metaphysischem Wissen: Deswegen, da es unserer Natur nicht möglich ist, Gott zu kennen und von bestimmten anderen Dingen 〈 z u wissen 〉, was sie sind, verlangen wir von Natur aus nicht, dies zu wissen. Und damit ist der Zweifel ausgeräumt. (Convivio III, xv, 10; S. 212)

Man kann selbstverständlich diese Absage an die Metaphysik ablehnen, aber sie sollte in keinem Falle übersehen werden, da sie einer der kennzeichnendsten Aspekte von Dantes Um­ ortung und Umgestaltung der scholastischen Tradition darstellt. Daß diese Umwertung direkt mit der Neubewertung der praktischen Philosophie als erster Philosophie zusammenhängt, dies manifestiert die Fortsetzung des zitierten Textes, wo aus dem Gesagten der bereits zitierte Satz geschlossen wird, die Sittlichkeit sei die Schönheit der Philosophie.

Weitere Aspekte der Lehre im Gastmahl Eine ganze Reihe weiterer Themen, die im Gastmahl verhandelt werden, verdienen Beachtung. Ich nenne drei: 1. Im Zusammenhang mit der Frage, welches die Autorität des Kaisers sei, diskutiert Dante die Frage: Welches ist eigentlich die Aufgabe eines Kaisers? Dante behandelt dieses Thema in recht ausführlicher Form in den Kapiteln iv und v des vierten Buches und vertritt die politisch folgenreiche These, eine Weltmonarchie sei für das Wohl der Menschheit notwendig. Mir erscheint in dieser Diskussion, die er in der Monarchia breit entfalten wird, vor allem der Gedanke bemerkenswert, daß für das Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft das Zusammenwirken des Philosophen mit dem politischen Herrscher erforderlich sei: „Es möge sich die philosophische Autorität mit der kaiserlichen vereinigen, um gut und voll-

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kommen zu herrschen“ (IV, vi, 18; S. 239). Dante entwirft hier das Modell einer Zusammenarbeit von Philosophie und Politik und behauptet, die politische Macht ohne philosophische Beratung sei blind und die philosophische Orientierung ohne die Politik sei erfolglos (Conv., IV, vi, 17; S. 238). Die Vorstellung einer Komplementarität von Politik und Philosophie darf als brauchbare Alternative zum platonischen Gedanken eines Philosophenkönigs gesehen werden. Dante betont nicht allein die eminent politische Dimension der Philosophie als solcher, sondern hebt zugleich die Notwendigkeit einer philosophischen Begleitung alles politischen Handelns hervor. 2. Ebenso beachtlich ist Dantes Kritik am Reichtum. Der Autor selber bezeichnet seinen diesbezüglichen Exkurs (xi – xiii) als eine Disputation gegen den Reichtum (IV, xii, 20; S. 262). Die Unvollkommenheit des Reichtums betrifft sowohl seinen Erwerb wie auch seinen Zuwachs und seinen Besitz (xi, 4; S. 254). Es ist bemerkenswert, daß Dante sich in seiner Diskussion in erster Linie auf philosophische Quellen beruft, nämlich außer Aristoteles auf Cicero, Senecas Briefe an Lucilius und das zweite und dritte Buch der Consolatio des Boethius, der vor allem die Hinfälligkeit der durch den Reichtum geweckten Hoffnungen kritisiert hat. Er begnügt sich nicht nur mit der Auskunft Senecas, der im wichtigen Brief 87, in dem die ausführliche Kritik am Reichtum entfaltet wird, festhält, daß die sittliche Vollkommenheit den Menschen über die mit dem Geld verbundene Sorge der Sterblichen erhebt, sondern setzt an die Stelle des Begehrens nach Gold und Geld die philosophische Sehnsucht, die wie ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv das gesamte Con­v ivio begleitet, ein Leitmotiv, das im ersten Satz der Schrift zum ersten Mal intoniert wird. 3. Der gesamte vierte Traktat kann als ein Disput über die ­nobilitade (Edelkeit, Adel) gelesen werden und trägt auch manche Züge einer eigentlichen Streitfrage im scholastischen Sinne. Es ist deswegen nicht erstaunlich, daß Dante in dieser Debatte



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zuerst zwei falsche Auffassungen der Edelkeit widerlegt, bevor er seine eigene Konzeption vorträgt (ab Kapitel xvi). Die erste dieser beiden Fehlmeinungen, die dem Kaiser Friedrich II. zugeschrieben wird (IV, iii, 6; S. 227), behauptet, Edelkeit bestehe in altem Reichtum und guten Sitten. Der zweite Irrtum, der von der großen Mehrheit der Zeitgenossen geteilt wird, besteht darin, die nobilitade mit der Zugehörigkeit zu einem reichen, altehrwürdigen Geschlecht (IV, iii, 8; S. 227) zu verwechseln. Bei der Findung der wahren Auffassung der Edelkeit ist entscheidend, daß sie nach Dante etwas sein muß, daß das edle Subjekt in sich besitzen muß, damit ist jede Art der menschlichen Fremdbestimmung ausgeschlossen. Sie ist also weder etwas Ererbtes noch etwas, das andere Menschen verleihen. Ebenso wie die ökonomische ist deswegen die gesellschaftliche Auffassung der Edelkeit zu verwerfen. Dante argumentiert desweiteren für eine dynamische Konzeption, wenn er diese Qualität besonderer Art von den Wirkungen her verstehen will: Und auf dem kürzesten Weg ist diese Definition, die wir suchen, anhand der Früchte erkennbar: Diese Früchte sind die moralischen und die intellektuellen Tugenden, deren Samen unsere Edelkeit ist. (IV, xvi, 10; S. 277)

Wenn die Edelkeit, die umfassender ist als die Tugenden, da in ihr auch physische Vorzüge enthalten sein können, schließlich als von Gott eingepflanzter „Samen des Glücks“ im Menschen definiert wird (xx, 9; S. 286), so darf diese Umschreibung nicht theologisch mißdeutet werden, als handelte es sich um eine bloße Gnadengabe Gottes im herkömmlichen Sinne. Dante ist darum besorgt, nachdem er ausführlich die ererbte, die soziale oder die ökonomische Konzeption des Adels verworfen hat, mit großer Akribie, sowohl philosophisch wie theologisch, die Genese des edlen Subjekts zu erklären und zu beschreiben. Zwar kann sie als „Samen des Glücks, von Gott in die wohlgesetzte Seele gegeben“, beschrieben werden (IV,

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xx, 9; S. 286), aber sie verlangt eine Verwirklichung, die nur in der Aktualisierung des Besten im Menschen bestehen kann. Dante erörtert deshalb ausführlich die beiden Möglichkeiten der intellektuellen Selbstverwirklichung des Menschen, d.h. das aktive und das kontemplative Leben. In einer einzigartigen Auslegung der Osterperikope (xxii, 14 – 15; S. 293), die erzählt wie die drei Frauen das leere Grab entdeckt haben und von einem Engel angesprochen wurden, entscheidet sich Dante eindeutig für den Vorrang der Theorie: Aber es muß festgestellt werden, daß das wahre Glück nicht hier, d.h. in diesem Leben verwirklicht wird, es wird nur in der Schau Gottes gefunden werden. Aber auch diese Aussage Dantes, die mit der theologischen Tradition übereinstimmt, ist m. E. nicht sein letztes Wort. In völliger Übereinstimmung mit seinen Aussagen im dritten Traktat, wo er erklärt, daß das Verlangen des Menschen auf das beschränkt ist, was er erreichen kann, fokussiert Dante sein Interesse auf das, was hier und jetzt für den edlen Menschen möglich ist, nämlich die ethische Selbstverwirklichung. Wenn Dante in den letzten Kapiteln des Traktates mit breiter Ausführlichkeit darstellt, wie dieser Samen des Glücks in den vier Lebensaltern jeweils verschieden aktualisiert und rea­ lisiert werden kann und soll (IV, xxiii – xxix; S. 294 – 320), dann liegt es auf der Hand, daß er hier eine dezidiert ethische Konzeption der nobilitade verteidigt, die als Selbstverwirklichung des Individuums zu interpretieren ist. Sie wird im diesseitigen Leben zuerst durch die moralischen Tugenden, die ausführlich beschrieben werden, und dann die intellektuellen erreicht: Und so wird deutlich, daß wir unsere Seligkeit, dieses Glück, von dem wir sprechen, zuerst sozusagen unvollkommen im aktiven Leben finden können, d. h. in den Handlungen der moralischen Tugenden, und dann sozusagen vollkommen in den Handlungen der intellektuellen Tugenden. Diese beiden Hand-



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lungen sind zielgerichtete und gerade Wege, die zur höchsten Seligkeit führen, die man hier nicht erlangen kann. (IV, xxii, 18; S. 294)

Sie sind darüber hinaus verknüpft mit dem bereits angedeuteten Primat der praktischen Philosophie und damit der praktischen Vernunft. Es zeigt sich also, daß nach Dante die Gabe der nobilitade im ethisch-politischen Handeln verwirklicht und vollendet werden muß. Wenn Dante behauptet, der zur ethischen Selbstverwirk­ lichung fähige Mensch sei in seiner Würde dem Engel nicht unterlegen, oder wenn er in der zu deutenden Kanzone von den edlen Menschen sagt, „sie sind fast wie Götter“, wird die Würde des Menschen thematisiert. Dies wird ganz offensichtlich, wenn Dante die edle Seele gleichsam als „einen anderen fleischgewordenen Gott“ bezeichnet (IV, xxi, 8) und andererseits an jenen Psalm (8, 5 – 7) erinnert, der den Menschen rühmt: „Du hast ihn wenig geringer als die Engel gemacht“. Sogar die ontologische Hierarchie wird durch ethische Vollkommenheit, zu der der Mensch fähig ist, aufgehoben oder zumindest relativiert: (Ich behaupte), „daß die Edelkeit der Menschen hinsichtlich der Vielzahl ihrer Früchte jene der Engel übertrifft, obschon die Edelkeit der Engel in ihrer Einheit göttlicher ist. (IV, xvii, 6; S. 283)

* * * Im Gastmahl wird Beatrice von der Philosophie abgelöst. Aber in der Commedia kehrt sie zurück: Sie begleitet Dante im dritten Jenseitsreich, bevor Bernhard von Clairvaux sie ersetzt. Dantes Weg von der Poesie zur Philosophie endet offensichtlich in Begleitung der Theologie, die durch Beatrice versinnbildlicht wird. Daß indes dieser Weg Dantes Verliebtsein in die Philosophie einschließt, kann niemand bezweifeln; daß er zudem die geliebte Philosophie nie verleugnet, kann ebenfalls nicht bezweifelt werden, aber er mußte eine andere Sprache finden,

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um die philosophische Einsicht, daß die Endabsicht der Vernunft aufs Moralische geht, seiner Leserschaft adäquat vermitteln zu können.

DAS SCHREIBEN AN CANGR ANDE DELLA SCALA

(Epistola XIII ) Übersetzt von Thomas Ricklin

(1) Dem erhabenen und siegreichen Herrscher, dem Herrn Cangrande della Scala, Generalvikar der allerheiligsten kaiserlichen Herrschaft in der Stadt Verona und im Staat Vicenza, wünscht der ihm ergebenste Dante Alighieri, Florentiner der Geburt, nicht der Lebensweise nach, ein glückliches, viele Jahre währendes Leben und beständiges Wachstum des ruhmreichen ­Namens. (2) Das berühmte Lob Eurer Durchlaucht, das die wachsame Fama fliegend ausstreut, scheidet die Verschiedenen derart in entgegengesetzte Gruppen, daß es die einen in der Hoffnung auf Erfolg aufrichtet, die anderen in Angst vor Vernichtung niederwirft. Eine derartige, die Taten der Zeitgenossen überbietende Verherrlichung, die gleichsam weiter ist als die Existenz des Wahren, hielt ich einst für unbegründet. (3) Um aber durch die anhaltende Unsicherheit nicht weiter auf die Folter gespannt zu werden, machte ich mich, wie sich die Königin des Südens nach Jerusalem aufgemacht hat, wie Pallas zum Helikon aufgebrochen ist, nach Verona auf, um mit eigenen Augen das Gehörte zu prüfen. Und da sah ich Eure Großtaten, sah zugleich die Wohltaten und erlebte sie; und wie sehr ich früher geargwohnt hatte, einiges von dem Gerede sei übertrieben, so erkannte ich danach, daß die Taten selbst hervorragend waren. So kam es, daß ich, der ich zuvor durch bloßes Hören unter gewissen Vorbehalten wohlwollend eingestellt war, durch das Gesehene bald darauf zum ergebensten [Diener] und Freund wurde. (4) Ich glaube nicht, wie einige vielleicht einwenden könnten, daß ich mich, indem ich mir die Bezeichnung Freund zulege, der Anmaßung schuldig mache, denn Ungleiche werden nicht weniger als Gleiche durch das Sakrament der Freundschaft verbunden. Wenn es nämlich beliebt, die erfreuenden

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und die nützlichen Freundschaften zu untersuchen, so wird sich dem Untersuchenden zeigen, daß durch diese oft hervorragende Personen mit niedrigeren verbunden werden. (5) Und wenn der Blick auf die wahre und eigentliche Freundschaft gerichtet wird, wird sich dann nicht herausstellen, daß häufig in ihrem Schicksal dunkle, in ihrer Ehre aber strahlende Männer die Freunde höchster und angesehenster Fürsten waren? Wieso nicht, da ja auch die Freundschaft zwischen Gott und Mensch durch die Unermeßlichkeit nicht im mindesten behindert wird? (6) Falls jemandem diese Behauptung unwürdig erscheint, höre er auf den Heiligen Geist, der verkündet, daß gewisse Menschen an seiner Freundschaft teilhaben; im Buch der Weisheit heißt es nämlich zur Weisheit: „Denn ein unendlicher Schatz ist [sie] für die Menschen; die ihn benützen, werden der Freundschaft Gottes teilhaftig.“ (7) Aber die Unerfahrenheit des Volkes fällt Urteile, ohne zu unterscheiden; und wie es die Sonne für fußgroß hält, so täuscht es sich auch bezüglich der Lebensweise in nichtiger Leichtgläubigkeit. Uns aber, denen es gegeben ist, das Beste, das in uns ist, zu kennen, steht es nicht an, den Spuren der Herde zu folgen, im Gegenteil, wir sind gehalten, ihren Irrtümern entgegenzutreten. Denn jene, die in hohem Maße der Einsicht und des Verstandes mächtig und mit einer gewissen göttlichen Freiheit ausgestattet sind, werden durch keine Gewohnheiten eingeschränkt; dies ist weiter nicht erstaunlich, da nicht sie durch die Gesetze, sondern die Gesetze vielmehr durch sie gelenkt werden. (8) Es ergibt sich also, was ich oben gesagt habe: Es ist keineswegs anmaßend, daß ich ein ergebenster [Diener] und Freund bin. (9)  Da ich also Eure Freundschaft gleich dem teuersten Schatz [allem] vorziehe, wünsche ich sie in gewissenhafter Voraussicht und sorgender Unruhe zu erhalten. (10) Daher, da in den Sätzen der Moral gelehrt wird, daß Freundschaft durch Entsprechung ausgeglichen und gepflegt wird, habe ich mir gelobt, um die mehr als einmal erfahrenen Wohltaten zurück-



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zuerstatten, der Entsprechung gemäß zu verfahren; und zu diesem Zweck habe ich meine armselige Habe oft und lange durchgesehen, habe sie wechselseitig ausgesondert und bin dann das Ausgesonderte nochmals durchgegangen auf der Suche nach etwas Euch Würdigem und Angemessenem. (11) Und da habe ich nichts gefunden, was Eurer herausragenden Stellung angemessener wäre als das erhabene Buch der Komödie, das durch den Titel des Paradieses geziert wird; und dieses [Buch], durch den vorliegenden Brief gleichsam wie durch ein eigentliches Epigramm gewidmet, überschreibe ich Euch, bringe ich Euch dar, ja vertraue ich Euch an. (12) Dies aber einfach stillschweigend verstreichen zu lassen, duldet die glühende Zuneigung nicht, denn es kann scheinen, daß durch dieses Geschenk der Gabe mehr Ehre und Ruhm zuteil wird als dem Beschenkten; aber im Gegenteil, mir schien für die genügend Aufmerksamen mit dem Titel [des Buches] bereits eine Vorahnung der noch auszuweitenden Herrlichkeit Eures Namens ausgedrückt zu sein; soviel zu diesem Thema. (13) Aber der Eifer Eures Wohlwollens, nach dem ich dürste und dabei [mein] Leben gering achte, wird weiter zum anfangs festgesetzten Ziel drängen. Da die Briefformel erschöpft ist, will ich mich daher beeilen, zur Einführung des dargebrachten Werkes in der Rolle des Auslegers einiges zusammenfassend [darzulegen]. (14) Wie der Philosoph im zweiten Buch der Metaphysik sagt, „verhält sich ein Ding zum Sein, wie es sich zur Wahrheit verhält“; der Grund dafür ist, daß die Wahrheit von einem Ding, das sich in der Wahrheit wie in einem Subjekt befindet, die vollkommene Ähnlichkeit des Dings ist, so wie es ist. (15) Von jenen [Dingen] aber, die sind, sind einige derart, daß sie ein absolutes Sein in sich haben; einige sind so, daß sie ein von einem anderen durch eine gewisse Beziehung abhängiges Sein haben, so daß sie gleichzeitig sind und sich zu anderem verhalten, wie die Relativa; wie Vater und Sohn, Herr und Knecht, Doppeltes und Halbes, Ganzes und Teil und dergleichen mehr, insofern

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sie sich so verhalten. (16) Weil das Sein solcher [Dinge] von anderem abhängt, deswegen folgt, daß ihre Wahrheit von einem anderen abhängt; ist nämlich die Hälfte unbekannt, wird auch das Doppelte niemals erkannt, und gleiches gilt auch von den anderen [Beispielen]. (17) Jene also, die zu einem Teil eines Werkes eine Einführung geben wollen, müssen einige Angaben machen zum Ganzen, dessen Teil es ist. Da auch ich vom oben erwähnten Teil der ganzen Komödie etwas in der Art einer Einführung vorlegen möchte, hielt ich es für angebracht, etwas über das ganze Werk vorauszuschicken, damit der Zugang zum Teil leichter und vollkommener sei. (18) Sechs [Punkte] sind es also, die zu Beginn eines jeden gelehrten Werkes zu untersuchen sind, nämlich der Gegenstand, die Ursache, die Form, das Ziel, der Titel des Buches und die Gattung der Philosophie. Von diesen sind drei, in denen jener Teil, den Euch zu widmen ich beschlossen habe, sich vom Ganzen unterscheidet, nämlich Gegenstand, Form und Titel; in den anderen [Punkten] hingegen unterscheidet er sich nicht, wie dem Betrachtenden deutlich ist; und deshalb sind diese drei bei der Erwägung des Ganzen gesondert zu untersuchen: danach wird genügend Klarheit herrschen für die Einführung des Teils. (19) Hierauf werden wir die anderen drei nicht nur hinsichtlich des Ganzen, sondern auch hinsichtlich dieses einen dargebrachten Teils untersuchen. (20) Zur Verdeutlichung des zu Sagenden muß man deshalb wissen, daß dieses Werk nicht eine einfache Bedeutung hat, vielmehr kann es polysem genannt werden, das heißt mehrdeutig. Denn die erste Bedeutung ist jene, die es durch den Buchstaben hat, die andere ist jene, die es durch das vom Buchstaben Bezeichnete hat. Und die erste wird die buchstäbliche genannt, die zweite aber die allegorische oder moralische. (21) Damit dieses Verfahren einsichtiger werde, kann es anhand der folgenden Verse veranschaulicht werden: „Als Israel aus Ägypten zog, das Haus Jakob aus dem barbarischen Volk, da wurde Juda sein Hei-



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ligtum, Israel sein Machtbereich.“ Wenn wir das nämlich allein dem Buchstaben nach anschauen wollen, wird für uns der Auszug der Söhne Israels aus Ägypten zur Zeit Mose bezeichnet; wenn der Allegorie nach, wird für uns unsere durch Christus erfolgte Erlösung bezeichnet; wenn der moralischen Bedeutung nach, wird für uns die Umkehr der Seele von der Trauer und dem Elend der Sünde zum Stand der Gnade bezeichnet; wenn der anagogischen [Bedeutung ] nach, wird der Auszug der heiligen Seele aus der Knechtschaft dieser Verderbnis in die Freiheit der ewigen Herrlichkeit bezeichnet. (22) Und obgleich diese mystischen Bedeutungen mit verschiedenen Namen benannt werden, kann man sie im allgemeinen alle allegorisch nennen, da sie von der buchstäblichen oder historischen [Bedeutung ] verschieden sind. Denn ‚Allegorie‘ kommt von griechisch ‚alleon‘, was auf lateinisch ‚alienum‘ [anders] oder ‚diversum‘ [verschiedenes] heißt. (23) Aufgrund des Gesehenen ist offenkundig, daß der Gegenstand, um den herum weitere Bedeutungen kreisen, notwendigerweise ein doppelter sein muß. Und deshalb ist der Gegenstand dieses Werkes zu untersuchen, insofern er dem Buchstaben nach aufgefaßt wird; danach der Gegenstand, insofern er allegorisch ausgelegt wird. (24) Der Gegenstand des ganzen Werkes, nur buchstäblich aufgefaßt, ist also der Zustand der Seelen nach dem Tod, absolut genommen; denn von diesem handelt und um diesen [rankt sich] der Gang des ganzen Werkes. (25)  Wenn das Werk hingegen allegorisch aufgefaßt wird, ist der Mensch Gegenstand, insofern er aufgrund der Willensfreiheit durch Verdienst und Schuld der belohnenden und bestrafenden Gerechtigkeit unterworfen ist. (26) Die Form aber ist zweifach: die Form der Abhandlung und die Form des Abhandelns. Die Form der Abhandlung ist dreifach, gemäß einer dreifachen Unterteilung. Die erste Unterteilung ist jene, durch die das ganze Werk in drei Bücher gegliedert wird. Die zweite ist jene, durch die jedes Buch in

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Gesänge gegliedert wird. Die dritte ist jene, durch die jeder Gesang in Verse gegliedert wird. (27) Die Form oder die Art des Abhandelns ist poetisch, erfindend, beschreibend, ausschweifend, übertragend und zugleich einteilend, unterteilend, billigend, mißbilligend und beispielhaft. (28)  Der Titel des Buches lautet: „Es beginnt die Komödie des Dante Alighieri, Florentiner der Geburt, nicht der Lebensweise nach.“ Um dies zu verstehen, muß man wissen, daß ‚comedia‘ [Komödie] von ‚comos‘, ‚Dorf‘ und ‚oda‘, was Gesang heißt, herzuleiten ist, weshalb Komödie gleichsam ‚dörflicher Gesang‘ [ bedeutet]. (29)  Und die Komödie ist eine Art poetische Erzählung, die sich von allen anderen unterscheidet. Sie unterscheidet sich nämlich von der Tragödie im Stoff dadurch, daß die Tragödie zu Beginn bewundernswert ist und ruhig, am Ende oder zum Schluß aber ekelerregend und erschreckend; und deshalb heißt sie aufgrund von ‚tragos‘, was ‚Bock‘ bedeutet und ‚oda‘ gleichsam ‚Bocksgesang‘, das ist: ekelerregend wie ein Bock; wie bei Seneca in seinen Tragödien deutlich wird. Die Komödie aber beginnt mit dem Abstoßenden einer Sache, aber ihr Stoff wird glücklich abgeschlossen, wie bei Terenz in seinen Komödien deutlich wird. Und deshalb pflegten gewisse Redner in ihren Begrüßungen an Stelle des Grußes „Tragischer Anfang und komisches Ende“ zu sagen. (30) Ähnlich unterscheiden sie sich in der Art des Sprechens: erhaben und verfeinert die Tragödie; die Komödie aber lose und derb, wie es Horaz in seiner Dichtkunst will, wo er den Komikern erlaubt, gelegentlich wie Tragiker zu sprechen und ebenso umgekehrt: Doch manchmal steigert auch die Komödie die Stimme Und wütend eifert Chremes mit aufgerissenem Munde; Ebenso klagt häufig der Tragiker in der Sprache des Fußvolks Telephus und Peleus, usw. (31) Und daraus geht hervor, weshalb das vorliegende Werk Komödie genannt wird. Denn, wenn wir auf den Stoff achten wollen, so ist er zu Beginn erschreckend und ekelerregend, weil die



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Hölle [dargestellt wird], zum Schluß beglückend, begehrenswert und anmutig, weil das Paradies [dargestellt wird]; was die Art des Sprechens betrifft, so ist diese lose und derb, weil es die Redeweise des gemeinen Volks ist, in der sich auch die Weiber unterhalten. (32) Es gibt auch andere Gattungen der poetischen Ausdrucksweise, nämlich das Hirtenlied, die Elegie, das Spottgedicht und den Weihespruch, wie ebenfalls bei Horaz in seiner Dichtkunst deutlich werden kann; aber darüber ist hier nichts zu sagen. (33) Nun kann deutlich werden, wie der Gegenstand des dargebrachten Teils zu bestimmen ist. Denn wenn der Gegenstand des ganzen, buchstäblich aufgefaßten Werkes der Zustand der Seelen nach dem Tod ist – nicht eingeschränkt, sondern schlechthin verstanden – so ist offenkundig, daß in diesem Teil derselbe Zustand Gegenstand ist, aber eingeschränkt, nämlich der Zustand der glückseligen Seelen nach dem Tod. (34) Und wenn der Gegenstand des ganzen, allegorisch aufgefaßten Werkes der Mensch ist, insofern er aufgrund der Willensfreiheit durch Verdienst und Schuld der belohnenden und bestrafenden Gerechtigkeit unterworfen ist, ist offenkundig, daß in diesem Teil der Gegenstand eingeschränkt wird, und er ist dann der Mensch, insofern er durch Verdienst der belohnenden Gerechtigkeit unterworfen ist. (35) Und ebenso wird die Form des Teils durch die für das Ganze bestimmte Form deutlich; denn wenn die Form der Abhandlung im Ganzen dreifach ist, so ist sie in diesem Teil nur zweifach, nämlich die Unterteilung in Gesänge und Verse. (36)  Die Form der ersten Unterteilung kann ihm nicht eigen sein, denn dieser Teil ergibt sich aus der ersten Unterteilung. (37) Klarheit besteht auch über den Titel des Buches; denn der Titel des ganzen Buches lautet: „Es beginnt die Komödie usw.“, wie oben; der Titel dieses Teils ist aber: „Es beginnt das dritte Buch der Komödie Dantes usw., das Paradies genannt wird.“ (38) Nachdem diese drei [Punkte], in denen sich der Teil vom

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Ganzen unterscheidet, untersucht sind, sind nun die anderen drei, in denen kein Unterschied zum Ganzen besteht, zu prüfen. Die Ursache des Ganzen und des Teils ist also jener, der genannt ist, und er scheint sie vollständig zu sein. (39) Das Ziel des Ganzen und des Teils könnte mehrfach sein, nämlich naheliegend und entfernt; aber, von einer genauen Untersuchung absehend, ist zu sagen, daß das Ziel des Ganzen und des Teils darin besteht, die Lebenden in diesem Leben aus dem Zustand des Elendes herauszuholen und sie zum Zustand des Glücks hinzuführen. (40) Die Gattung der Philosophie aber, nach der hier im Ganzen und im Teil vorgegangen wird, ist die der Moralphilosophie oder Ethik; denn nicht zum theoretischen Betrachten, sondern zum Handeln sind Ganzes und Teil erfunden. (41) Denn wenn an einer Stelle oder in einem Abschnitt etwas in der Weise der theoretischen Betrachtung untersucht wird, geschieht dies nicht um der theoretischen Betrachtung willen, sondern um des Handelns willen; weil, wie der Philosoph im zweiten Buch der Metaphysik sagt, „die praktischen [Philosophen] manchmal in Bezug auf etwas gerade Gegenwärtiges theoretische Betrachtungen anstellen“. (42) Aufgrund des Vorausgeschickten ist [nun] die buchstäbliche Auslegung als eine Art Vorwort anzugehen, und hierzu ist vorweg zu bemerken, daß die buchstäbliche Auslegung nichts anderes ist als die Offenlegung der Form des Werkes. (43) Dieser Teil also, d. h. das dritte Buch, das Paradies genannt wird, wird zuerst in zwei Teile gegliedert, nämlich in die Vorrede und den ausführenden Teil. Der zweite Teil beginnt an der Stelle: „Es erhebt sich für die Menschen an verschiedenen Orten.“ (44) Zum ersten Teil muß man wissen: Obwohl er allgemein gesprochen Anfang genannt werden könnte, darf er im strengen Sinn aber nur Vorrede genannt werden; was der Philosoph im dritten Buch der Rhetorik anzudeuten scheint, wo er sagt, daß „die Einleitung der Beginn der rhetorischen Rede ist, so



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wie die Vorrede in der Dichtung und das Vorspiel im Flötenvortrag“. (45) Es ist ebenfalls vorauszuschicken, daß diese Vorankündigung, die allgemein Anfang genannt werden kann, von den Dichtern und den Rednern je anders gestaltet wird. (46) Die Redner nämlich beschränken sich darauf ein Vorwort zum noch zu Sagenden zu geben, um den Geist des Zuhörers vorzubereiten; die Dichter aber tun nicht nur dies, vielmehr tragen sie danach eine Anrufung vor. (47) Und dies ist für sie angemessen, denn sie benötigen eine ausgedehnte Anrufung, da gegen die gewöhnliche Art der Menschen etwas von den höheren Substanzen zu erbitten ist, gleichsam wie eine göttliche Gabe. (48) Also gliedert sich die vorliegende Vorrede in zwei Teile, denn im ersten wird vorausgeschickt, was zu sagen ist, im zweiten wird Apollo angerufen; und der zweite Teil beginnt an der Stelle: „Oh guter Apollo, zum letzten Werk.“ (49) Zum ersten Teil ist zu bemerken, daß es zum guten Anfang dreier Dinge bedarf, wie Cicero in der Neuen Rhetorik sagt, nämlich daß jemand den Hörer wohlwollend, aufmerksam und empfänglich macht; und dies vor allem in der bewundernswerten Gattung der Rechtsangelegenheiten, wie Cicero selbst sagt. (50) Da also der Stoff, um den sich die vorliegende Abhandlung dreht, bewundernswert ist und deshalb auf das Bewundernswerte zurückzuführen ist, werden diese drei Dinge zu Beginn des Anfangs, bzw. der Vorrede angestrebt. Denn er [der Autor] sagt, er werde das erzählen, was er im ersten Himmel gesehen habe und in Erinnerung behalten konnte. (51)  In dieser Aussage sind alle drei enthalten; denn durch die Nützlichkeit des zu Sagenden wird das Wohlwollen geweckt; durch die Bewundernswürdigkeit die Aufmerksamkeit; durch die Möglichkeit die Empfänglichkeit. Auf die Nützlichkeit spielt er an, wenn er sagt, er werde das vortragen, was die menschliche Sehnsucht in außerordentlicher Weise weckt, nämlich die Freuden des Paradieses; die Bewundernswürdigkeit berührt er, wenn er verspricht, von ebenso Hohem wie Erhabenem zu sprechen,

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nämlich von der Verfaßtheit des himmlischen Königreiches; die Möglichkeit legt er dar, wenn er sagt, er werde das erzählen, was er in Erinnerung habe behalten können; wenn er es nämlich kann, werden es auch andere können. (52) Dies alles wird in jenen Worten berührt, wo er sagt, er sei im ersten Himmel gewesen und er wolle vom himmlischen Königreich alles erzählen, was er wie einen Schatz in seiner Erinnerung habe behalten können. Nachdem also die Schönheit und Vollkommenheit des ersten Teils der Vorrede untersucht worden ist, ist nun zum Text überzugehen. (53) Er sagt also, daß „die Herrlichkeit des ersten Bewegers“, der Gott ist, „in allen Teilen des Universums erstrahlt“, aber derart, daß sie „in einem gewissen Teil mehr, in einem anderen weniger“ [erstrahlt]. (54) Daß sie aber überall erstrahlt, macht die Vernunft und die Autorität deutlich. Die Vernunft folgendermaßen: Alles, was ist, hat das Sein entweder von sich oder von anderem: aber es steht fest, daß Sein von sich aus haben nur einem zukommt, nämlich dem Ersten oder Prinzip, das Gott ist, weil Sein haben nicht gleichzusetzen ist mit notwendiges für sich Sein, und notwendiges für sich Sein nur einem zukommt, nämlich dem Ersten oder Prinzip, das die Ursache von allem ist; also hat alles, was ist, außer dem Einen selbst, das Sein von anderem. (55) Wenn also nicht irgend etwas, sondern das Letzte im Universum genommen wird, so ist offenkundig, daß dieses das Sein von einem anderen hat; und jenes, von dem es dieses hat, hat es von sich oder von einem anderen. Wenn von sich, so ist es das Erste; wenn von einem anderen, hat auch jenes es gleichfalls von sich aus oder von einem anderen. Und da es auf diese Weise bei den wirkenden Ursachen ein Fortschreiten ins Unendliche gäbe, wie im zweiten Buch der Metaphysik bewiesen wird, muß man zum Ersten, das Gott ist, gelangen. (56) Und so hat alles, was Sein hat, das Sein mittelbar oder unmittelbar von ihm; denn durch das, was die zweite Ursache von der ersten empfängt, beeinflußt sie das Verursachte wie etwas,



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das einen Strahl empfängt und weiter sendet, weswegen die erste Ursache in höherem Maße Ursache ist. (57) Und dies wird im Buch über die Ursachen gesagt: „Jede höhere Ursache beeinflußt mehr das durch sie Verursachte als die zweite allgemeine Ursache.“ Dies aber bezüglich des Seins. (58) Bezüglich des Wesens aber, führe ich folgenden Beweis: Jedes Wesen, außer dem ersten, ist verursacht, andernfalls gäbe es mehrere, die ein durch sich notwendiges Sein wären, was unmöglich ist: denn das Verursachte ist entweder von der Natur oder vom Intellekt [verursacht], und was von der Natur [verursacht ist], ist folglich vom Intellekt verursacht, denn die Natur ist das Werk der Intelligenz; alles also, was verursacht ist, ist entweder mittelbar oder unmittelbar von einem Intellekt verursacht. (59) Da nun das Vermögen dem Wesen folgt, dessen Vermögen es ist, wenn es ein denkfähiges Wesen ist, ist dieses einzig und allein das Verursachende. Und wie man zuvor zur ersten Ursache des Seins selbst gelangen mußte, so nun auch [zur ersten Ursache] des Wesens und des Vermögens. (60) Daraus wird deutlich, daß jedes Wesen und [ jedes] Vermögen aus der ersten [ Ursache] hervorgeht und daß die unteren Intelligenzen wie von einem Strahlenden empfangen und die von oben kommenden Strahlen an das unter ihnen Liegende weitergeben in der Art und Weise von Spiegeln. Dies scheint Dionysios, wo er über die Himmlische Hierarchie spricht, klar genug zu behandeln. (61) Und deswegen heißt es im Buch über die Ursachen: „Jede Intelligenz ist voller Formen.“ Es ist also deutlich, wie die Vernunft zeigt, daß das göttliche Licht, das heißt göttliche Güte, Weisheit und Vermögen, überall erstrahlt. (62)  Ähnlich, aber gelehrter macht es die Autorität. Der Heilige Geist nämlich sagt durch Jeremias: „Himmel und Erde erfülle ich“; und im Psalm: „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist? Wohin fliehen vor deinem Angesicht? Würde ich in den Himmel steigen, so bist du dort; würde ich in die Hölle hinuntersteigen, du bist da. Würde ich meine Flügel nehmen usw.“

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Und die Weisheit sagt, daß „der Geist des Herrn den Erdkreis erfüllt hat“. Und Jesus Sirach im zweiundvierzigsten [Kapitel]: „Von der Herrlichkeit des Herrn ist sein Werk erfüllt.“ (63) Das wird auch durch die Schriften der Heiden bezeugt; daher sagt Lukan im neunten Buch: „Jupiter ist, was immer du siehst, wohin auch immer du dich wendest.“ (64) Es ist also treffend gesprochen, wenn er sagt, daß der göttliche Strahl oder die göttliche Herrlichkeit „in das Universum eindringt und erstrahlt“: er dringt ein bezüglich des Wesens; er erstrahlt bezüglich des Seins. (65) Was er aber bezüglich „mehr oder weniger“ anfügt, ist offensichtlich wahr; denn wir sehen ein Wesen auf einer hervorragenderen Stufe, ein anderes aber auf einer niedrigeren, wie sich beim Himmel und den Elementen zeigt, von denen jener unvergänglich ist, diese aber vergänglich. (66)  Und nachdem er diese Wahrheit vorausgeschickt hat, fährt er fort, indem er das Paradies umschreibt. Und er sagt, daß er in jenem Himmel gewesen ist, der im Überfluß von der Herrlichkeit Gottes oder vom Licht empfängt. (67) Diesbezüglich ist zu wissen, daß jener Himmel der höchste Himmel ist, der sämtliche Körper enthält und in keinem enthalten ist; in ihm bewegen sich alle Körper, er verharrt im Ersten in ewiger Ruhe; er wirkt auch auf alles, was er enthält, und empfängt von keiner körperlichen Substanz Wirkkraft. (68) Und er wird Empyreum genannt, das heißt, der durch das Feuer seiner Hitze brennende Himmel; nicht weil in ihm Feuer oder Hitze stofflicher Art wären, sondern geistiger Art, das heißt heiliges Verlangen oder Liebe. (69) Daß er aber mehr göttliches Licht empfängt, kann mit zwei Argumenten bewiesen werden: Erstens, weil er alles enthält und in nichts enthalten ist; zweitens, wegen seiner endlosen Ruhe oder [seines] Friedens. (70) Das erste wird folgendermaßen bewiesen: Das Enthaltende verhält sich zum Enthaltenen in der natürlichen Lage, so wie das Formende zum Formbaren, wie im



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vierten Buch der Physik steht; aber in der natürlichen Lage des ganzen Universums ist der erste Himmel das alles Enthaltende; also verhält er sich zu allem wie das Formende zum Form­baren, was heißt, er verhält sich in der Art der Ursache. Und da jede verursachende Kraft ein gewisser Strahl ist, der von der ersten Ursache, die Gott ist, herkommt, ist offenkundig, daß jener Himmel, der in höherem Maße die Bestimmtheit der Ursache hat, mehr vom göttlichen Licht empfängt. (71) Was das zweite betrifft, so wird es folgendermaßen bewiesen: Alles, was sich bewegt, bewegt sich wegen etwas, das es nicht hat, das der Endpunkt seiner Bewegung ist; so bewegt sich der Mondhimmel wegen einem seiner Teile, der jenen Ort nicht hat, auf den hin er sich bewegt; und weil jeder seiner Teile sich zu anderem bewegt, ohne daß jeder Ort erreicht wird, was unmöglich ist, so kommt es, daß er sich immer bewegt und niemals ruht, und dies ist sein Streben. Und was ich vom Mondhimmel sage, gilt für alle außer für den ersten. Alles, was sich bewegt, weist einen Mangel auf und hat nicht gleichzeitig sein ganzes Sein. (72) Jener Himmel also, der von keinem bewegt wird, hat in sich, in jedem seiner Teile, auf vollendete Weise, was er kann, so daß er zu seiner Vervollkommnung nicht der Bewegung bedarf. Und da jede Vollkommenheit Strahl des Ersten ist, das auf der obersten Stufe der Vollkommenheit steht, ist offenkundig, daß der erste Himmel mehr vom Licht des Ersten, das Gott ist, empfängt. (73)  Doch dieses Argument scheint auf die Zerstörung des Vordersatzes zu zielen, so daß es schlechthin und gemäß der Argumentationsform nicht beweiskräftig ist. Aber wenn wir seinen Inhalt betrachten, [so] beweist es schlüssig, denn es handelt von etwas Endlosem, in dem der Mangel endlos bestehen kann: Folglich, da Gott ihm keine Bewegung gegeben hat, wird deutlich, daß er ihm keinen mangelhaften Stoff gegeben hat. (74) Und aufgrund dieser Voraussetzung ist das Argument wegen des Inhalts gültig; und es handelt sich um eine ähnliche Argumentationsart, wie wenn

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ich sagte: „Wenn ein Mensch existiert, so hat er die Fähigkeit zu lachen“; denn in allen umkehrbaren [Sätzen] ist ein ähnliches Argument aufgrund des Inhalts gültig. So also ist klar: wenn er sagt: „In jenem Himmel, der mehr vom göttlichen Licht empfängt“, versteht er dies als Umschreibung des Paradieses oder des empyreischen Himmels. (75) In Übereinstimmung mit den vorangehenden Argumenten sagt der Philosoph im ersten Buch Über den Himmel, daß der Himmel „einen um so vorzüglicheren Stoff im Vergleich zu diesen niedrigeren [Körpern] hat, je weiter er von diesen, die hier [sind], entfernt ist“. (76)  Dem könnte auch hinzugefügt werden, was der Apostel im Epheserbrief über Christus sagt: „Dieser ist über alle Himmel hinaufgestiegen, um alles zu erfüllen.“ Dies ist der Himmel der Freuden des Herrn; von diesen Freuden wird durch Ezechiel gegen Luzifer gesagt: „Du, Zeichen der Ebenbildlichkeit, voller Weisheit und vollendet schön, du warst in den Freuden des göttlichen Paradieses.“ (77) Und nachdem er durch seine Umschreibung gesagt hat, daß er an jenem Ort des Paradieses gewesen ist, fährt er fort und sagt, er habe etwas gesehen, von dem einer, der hinuntergestiegen ist, nicht berichten kann. Und er gibt die Ursache dafür an, wenn er sagt, „daß der Intellekt sich sosehr versenkt“ in dieses, „sein Verlangen“, das Gott ist, „daß die Erinnerung nicht folgen kann“. (78) Um dies zu verstehen, muß man wissen: Wenn der menschliche Intellekt in diesem Leben wegen der ähnlichen Natur und der Nähe, die er zur getrennten intellektuellen Substanz hat, emporgehoben wird, wird er so sehr emporgehoben, daß die Erinnerung nach der Rückkehr schwindet, weil [dies] das menschliche Maß überstiegen hat. (79) Und dies wird uns durch den Apostel im Korintherbrief nahegelegt, wo er sagt: „Ich kenne einen Menschen, der – ob im Körper oder außerhalb des Körpers, weiß ich nicht, Gott weiß es – bis in den dritten Himmel entführt wurde und die Geheimnisse Gottes sah, von denen der Mensch nicht sprechen darf.“ Siehe also,



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nachdem der Intellekt mit dem Aufstieg den menschlichen Verstand überstiegen hatte, erinnerte er sich nicht an das, was außerhalb seiner geschehen war. (80) Und dies wird uns im Evangelium des Matthäus nahegelegt, wo drei Jünger vor sein Angesicht hinfielen und danach nichts berichteten, als hätten sie vergessen. Und in Ezechiel ist geschrieben: „Ich sah und warf mich auf mein Angesicht.“ Und wo dies den Mißgünstigen nicht genügt, mögen sie in Richard von St. Viktors Buch Über die Kontemplation, in Bernhards Buch Über die Besinnung [und] in Augustins Buch Über die Größe der Seele lesen, und sie werden nicht mehr mißgünstig sein. (81) Wenn sie aber wegen der Sünde des Sprechenden gegen die Fähigkeit zu einer so großen Emporhebung ankläffen, mögen sie Daniel lesen, wo sie entdecken werden, daß auch Nebukadnezar gotterfüllt etwas gegen die Sünder gesehen und dem Vergessen übergeben hat. (82) Denn jener, „der seine Sonne über den Guten und den Bösen aufgehen und es auf Gerechte und Ungerechte regnen lässt“, offenbart seine Herrlichkeit den Lebenden, wie schlecht auch immer sie leben mögen, manchmal barmherzig zur Bekehrung, manchmal streng zur Bestrafung, mehr oder weniger, [ ganz] wie er will. (83) Er sah also, wie er sagt, etwas, „das er als Zurückkehrender nicht wiederzugeben weiß noch vermag“. Es ist aber sorgfältig festzuhalten, daß er sagt „er weiß nicht und vermag nicht“: er weiß nicht, weil er vergessen hat; er vermag nicht, denn, auch wenn er sich erinnert und den Inhalt behält, so versagt doch die Sprache. (84) Vieles nämlich sehen wir mit Hilfe des Intellekts, wofür die Lautzeichen fehlen, was Platon in seinen Büchern durch die Verwendung von Metaphorismen ausreichend nahelegt; vieles nämlich sah er mittels des intellektuellen Lichtes, was er mit seiner eigenen Rede nicht auszudrücken vermochte. (85)  Danach sagt er, er werde das erzählen, was er vom himmlischen Königreich behalten konnte, und dies, sagt er, sei der Stoff seines Werkes; wie dies beschaffen ist und wie groß, wird im ausführenden Teil deutlich werden.

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(86) Hierauf, wenn er sagt: „Oh guter Apollo usw.“, trägt er seine Anrufung vor. Und dieser Teil gliedert sich in zwei Teile: Im ersten bittet er anrufend; im zweiten redet er wegen der vorgebrachten Bitte auf Apollo ein, wobei er eine Entschädigung ankündigt; und der zweite Teil beginnt an der Stelle: „Oh göttliche Kraft.“ (87) Der erste Teil gliedert sich in zwei Teile: im ersten erbittet er göttlichen Beistand, im zweiten betont er die Notwendigkeit seiner Bitte, das heißt, er rechtfertigt an der Stelle: „Bis hierher das eine Joch des Parnass usw.“ (88) Dies ist der Inhalt des zweiten Teils der Vorrede im allgemeinen. Im einzelnen aber will ich ihn jetzt nicht darlegen; es bedrängt mich nämlich Not in familiären Belangen, so daß ich von diesem und anderem, was dem Gemeinwesen nützlich ist, ablassen muß. Aber ich erhoffe von Eurer Durchlaucht, daß sich anderswo eine Gelegenheit zur Fortführung dieser nütz­ lichen Auslegung ergeben werde. (89) Zum ausführenden Teil aber, der vom Prolog abgegrenzt wurde, wird gegenwärtig weder etwas zur Einteilung noch etwas zum Gehalt gesagt werden, außer dies, überall wird von Himmel zu Himmel aufsteigend vorgegangen und von den glückseligen, in den einzelnen Sphären angetroffenen, Seelen berichtet werden und daß jene wahre Glückseligkeit im Erfahren des Prinzips der Wahrheit besteht, wie durch Johannes deutlich wird an der Stelle: „Dies ist das ewige Leben, daß sie dich, wahrer Gott, erkennen usw.“; und durch Boethius im dritten Buch Über die Tröstung: „Dich schauen ist das Ziel.“ Und deshalb, um die Herrlichkeit der Glückseligkeit in jenen Seelen darzustellen, wird von denen, da sie die ganze Wahrheit sehen, viel erfragt werden, was sehr nützlich und erfreulich ist. (90) Und weil, nachdem das Prinzip oder das Erste, nämlich Gott, gefunden wurde, nichts ist, was darüber hinaus gesucht werden könnte, denn er ist das Alpha und das O[mega], das heißt Anfang und Ende, wie die Vision des Johannes zeigt, wird die Abhandlung in Gott selbst vollendet, der von Ewigkeit zu Ewigkeit gelobt sei.

ABHANDLUNG ÜBER DAS WASSER UND DIE ERDE

(Questio de aqua et terra) Übersetzt von Dominik Perler

Über die Form und die Lage zweier Elemente, nämlich des Wassers und der Erde (1)  Allen insgesamt und den einzelnen, die den vorliegenden Brief prüfen werden, entbietet Dante Alighieri aus Florenz, der geringste unter den wahrhaft Philosophierenden, seinen Gruß in dem, der Anfang der Wahrheit ist und Licht. (2)  Euch allen sei folgendes offenkundig: Als ich mich in Mantua aufhielt, wurde eine gewisse Frage aufgeworfen, die mehrmals eher gemäß dem Schein als gemäß der Wahrheit abgehandelt wurde und unentschieden blieb. (3)  Da ich seit meiner Kindheit unaufhörlich in der Liebe zur Wahrheit genährt wurde, ertrug ich es nicht, die erwähnte Frage unerörtert zu lassen, sondern hielt es für angebracht, diesbezüglich das Wahre aufzuzeigen, nicht ohne die Gegenargumente aufzulösen – aus Liebe zur Wahrheit wie auch aus Abscheu vor der Falschheit. Und damit nicht die Mißgunst der vielen, die in Abwesenheit der beneideten Männer Lügen zu erfinden pflegen, hinter dem Rücken das gut Gesagte verdrehe, schien es überdies angemessen, in diesem eigenhändig niedergeschriebenen Dokument das zurückzulassen, was von mir festgesetzt wurde, und den Ablauf der ganzen Disputation mit der Feder nachzuzeichnen. [ Fragestellung ] (4)  Die Frage also handelte von der Lage und der Figur oder Form zweier Elemente, nämlich des Wassers und der Erde. Und Form nenne ich hier das, was der Philosoph in den Kategorien als die vierte Art der Qualität festsetzt. (5) Und die Frage wurde

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im Sinne des Prinzips der zu ergründenden Wahrheit auf folgendes eingegrenzt: Es sollte untersucht werden, ob das Wasser in seiner Sphäre, d. h. in seiner natürlichen Kugeloberfläche, in irgendeinem Teil höher liegt als die Erde, die aus den Wassern emporragt und die wir gewöhnlich den vierten bewohnbaren [Teil] nennen. (6) Und mit vielen Gründen, von denen ich einige wegen ihres geringen Gewichts weggelassen habe, wurde dafür argumentiert. Fünf davon, die eine gewisse Schlüssigkeit zu haben schienen, habe ich festgehalten. [ Argumente für die These, daß das Wasser höher liegt als die Erde ] (7) Das erste [Argument] lautete folgendermaßen: Es ist unmöglich, daß zwei Kugeloberflächen, die ungleich voneinander entfernt sind, denselben Mittelpunkt haben. Die Kugeloberfläche des Wassers und die Kugeloberfläche der Erde haben eine ungleiche Entfernung voneinander. Also [haben sie nicht denselben Mittelpunkt]. Dann wurde weiter argumentiert: Da der Mittelpunkt der Erde der Mittelpunkt des Universums ist, wie von vielen bestätigt wird, und da alles, was in der Welt eine von ihr verschiedene Lage hat, höher liegt als sie, wurde gefolgert: Die Kugeloberfläche des Wassers liegt höher als die Kugeloberfläche der Erde, weil eine Kugeloberfläche überall den gleichen Abstand zu ihrem Mittelpunkt hat. (8) Der Obersatz des Hauptsyllogismus schien klar aufgrund dessen, was in der Geometrie bewiesen wird; der Untersatz aufgrund der Sinneswahrnehmung, denn wir sehen, daß die Kugeloberfläche der Erde an einer gewissen Stelle von der Kugeloberfläche des Wassers eingeschlossen, an einer anderen aber von ihr ausgeschlossen wird. (9) Das zweite Argument lautete: Einem edleren Körper gebührt ein edlerer Ort. Das Wasser ist ein edlerer Körper als die Erde. Also gebührt dem Wasser ein edlerer Ort. Und weil ein Ort um so edler ist, je höher er liegt wegen seiner größeren Nähe zum edelsten Umfassenden, d. h. dem ersten Himmel,



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ergibt sich, daß der Ort des Wassers höher liegt als der Ort der Erde und daß folglich das Wasser höher liegt als die Erde, weil sich die Lage des Ortes und dessen, was sich am Ort befindet, nicht unterscheiden. (10) Ober- und Untersatz des Hauptsyllogismus in diesem Argument wurden gleichsam als offenkundig hingenommen. (11) Das dritte Argument lautete: Jede Meinung, die der Sinneswahrnehmung widerspricht, ist eine schlechte Meinung. Zu meinen, das Wasser liege nicht höher als die Erde, heißt der Sinneswahrnehmung widersprechen. Also ist dies eine schlechte Meinung. (12) Von der ersten Prämisse wurde gesagt, sie gehe aus dem Kommentar des Averroes zum dritten Buch Über die Seele hervor; die zweite Prämisse oder der Untersatz aus der Erfahrung der Seeleute, die auf See unter sich Berge sehen. Und dies bekräftigen sie mit dem Hinweis, daß sie diese sehen, wenn sie den Mastbaum besteigen, jedoch nicht vom Schiffsdeck aus. Das scheint deshalb der Fall zu sein, weil die Erde sehr viel tiefer liegt und vom Meeresrücken niedergedrückt wird. (13)  Viertens wurde folgendermaßen argumentiert: Wenn die Erde nicht tiefer läge als das Wasser, wäre die Erde vollkommen ohne Wasser, mindestens auf dem unbedeckten Teil, von dem die Rede ist. Und so gäbe es keine Quellen, keine Flüsse, keine Seen. Doch wir sehen das Gegenteil. Daher ist das Gegenteil, das daraus folgt, wahr, nämlich daß das Wasser höher liegt als die Erde. (14) Die Implikation wurde dadurch bewiesen, daß das Wasser natürlicherweise nach unten fließt. Und da das Meer der Anfang aller Gewässer ist, wie aus der Meteorologie des Philosophen hervorgeht, gilt: Wenn das Meer nicht höher läge als die Erde, würde sich das Wasser nicht zur Erde bewegen, denn bei jeder natürlichen Bewegung des Wassers muß der Anfang höher liegen. (15) Weiter wurde fünftens argumentiert: Das Wasser scheint in höchstem Maße der Mondbewegung zu folgen, wie bei Flut und Ebbe des Meeres deutlich wird. Da nun die Mondlauf bahn

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exzentrisch ist, scheint es vernünftig, daß das Wasser in seiner Sphäre die Exzentrizität der Mondbahn nachahmt und folglich exzentrisch ist. Und da dies nur der Fall sein kann, wenn es höher liegt als die Erde, wie im ersten Argument gezeigt wurde, folgt dasselbe wie zuvor. (16) Mit diesen Argumenten also und anderen, um die man sich nicht zu kümmern braucht, versuchen jene, die behaupten, das Wasser liege höher als die unbedeckte oder bewohnbare Erde, zu zeigen, daß ihre Meinung wahr ist, obwohl die Sinneswahrnehmung und die vernünftige Überlegung für das Gegenteil sprechen. Was die Sinneswahrnehmung betrifft, sehen wir nämlich auf der ganzen Erde die Flüsse zum Meer hinabfließen, sowohl zum südlichen wie zum nördlichen, zum östlichen wie zum westlichen. Dies wäre nicht der Fall, wenn die Anfänge der Flüsse und die Läufe der Flußbette nicht höher lägen als die Oberfläche des Meeres. Was aber die vernünftige Überlegung betrifft, so wird diese weiter unten deutlich und mit vielen Argumenten bewiesen werden. [ Argumentationsverlauf ] (17)  Bei der Darlegung oder Festsetzung von Lage und Form zweier Elemente – wie oben erwähnt wurde – wird folgende Ordnung befolgt werden. Zuerst wird bewiesen werden, daß das Wasser unmöglich in einem Teil seiner Kugeloberfläche höher liegt als die emporragende oder unbedeckte Erde. Zweitens wird bewiesen werden, daß die emporragende Erde überall höher liegt als die gesamte Oberfläche des Meeres. Drittens wird dem Bewiesenen widersprochen und der Einwand widerlegt werden. Viertens wird die Ziel- und Wirkursache dieser Erhebung oder des Emporragens der Erde aufgezeigt werden. Fünftens wird eine Lösung zu den oben angeführten Argumenten dargelegt werden.



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[ Erster Teil: Das Wasser liegt nicht höher als die Erde ] (18)  Hinsichtlich des ersten Punktes sage ich also: Wenn das Wasser, in seiner Oberfläche betrachtet, an einer Stelle höher läge als die Erde, so wäre dies aus Notwendigkeit auf eine der beiden folgenden Weisen der Fall: entweder weil das Wasser exzentrisch wäre, wie das erste und das fünfte Argument annahmen; oder weil es – durchaus konzentrisch – an einer Stelle, wo es über die Erde hinausragt, ausgebuchtet wäre. Anders wäre dies nicht möglich, wie einem sorgfältigen Beobachter zur Genüge klar ist. Aber keines von beidem ist möglich, also auch nicht das, aus dem das eine oder andere folgte. (19) Die Implikation ist, wie man sagt, durch den [Argumentations]ort von der ausreichenden Unterteilung der Ursache offensichtlich. Die Unmöglichkeit des Folgesatzes wird sich durch die folgenden Darlegungen zeigen. (20)  Zur Erhellung dessen also, was zu sagen ist, müssen zwei Annahmen getroffen werden: erstens, daß das Wasser sich natürlicherweise nach unten bewegt; zweitens, daß das Wasser natürlicherweise ein unsteter Körper ist und nicht durch eine eigene Grenze begrenzbar. (21) Und würde jemand diese beiden Prinzipien oder eines von beiden bestreiten, so wäre die Untersuchung nicht für ihn bestimmt, denn mit jemandem, der die Prinzipien einer Wissenschaft bestreitet, kann man nicht in dieser Wissenschaft diskutieren, wie aus dem ersten Buch der Physik hervorgeht. Diese Prinzipien werden nämlich durch Sinneswahrnehmung und durch Induktion gefunden, denen es zukommt, solche [Prinzipien] zu finden, wie aus dem ersten Buch der Nikomachischen Ethik hervorgeht. (22)  Um also das erste Glied des Folgesatzes zu zerstören, sage ich: Es ist unmöglich, daß das Wasser exzentrisch ist. Dies beweise ich folgendermaßen: Wenn das Wasser exzentrisch wäre, würde dreierlei Unmögliches folgen. Das Erste lautet: Das Wasser könnte sich natürlicherweise nach oben und un-

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ten bewegen. Das Zweite lautet: Das Wasser würde sich nicht auf derselben Geraden wie die Erde nach unten bewegen. Das Dritte lautet: ‚Schwerkraft‘ würde äquivok von diesen ausgesagt. All dies scheint nicht nur falsch, sondern unmöglich zu sein. (23) Die Implikation wird folgendermaßen dargelegt: Der Himmel sei eine Oberfläche, die mit drei Kreuzen gekennzeichnet wird, das Wasser mit zwei, die Erde mit einem. Und der Mittelpunkt von Himmel und Erde sei der Punkt A, Z der Mittelpunkt des exzentrischen Wassers aber der Punkt B, wie aus der gezeichneten A B Figur hervorgeht. Ich sage also: Wenn sich in A Wasser befinden wird und freien Fluß hat, wird es sich natürlicherweise zu B bewegen, denn alles Schwere bewegt sich natürlicherweise zum Mittelpunkt der eigenen Kugeloberfläche. Und da die Bewegung von A zu B eine Bewegung nach oben ist, weil A schlechthin der tiefste Punkt von allen ist, wird sich das Wasser natürlicherweise nach oben bewegen. Dies war das erste Unmögliche, von dem gesagt wurde, es folge. (24) Außerdem sei eine Erdscholle in Z gegeben, und an demselben Ort sei eine Quantität Wasser, und es sei kein Hindernis vorhanden. Da also, wie gesagt wurde, alles Schwere sich zum Mittelpunkt der eigenen Kugeloberfläche bewegt, wird sich die Erde auf einer Geraden nach A bewegen, und das Wasser auf einer Geraden nach B. Aber dies wird auf zwei verschiedenen Geraden erfolgen müssen, wie aus der gezeichneten Figur hervorgeht. Dies ist nicht nur unmöglich, sondern Aristoteles würde sogar lachen, wenn er es hörte. Und dies war das Zweite, das dargelegt werden sollte. (25) Das Dritte aber lege ich folgendermaßen dar: Schwer und leicht sind Eigenschaften von einfachen Körpern, die sich geradlinig be-



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wegen; und Leichtes bewegt sich nach oben, Schweres aber nach unten. Ich verstehe unter schwer und leicht nämlich das, was bewegbar ist, wie es der Philosoph in Über Himmel und Erde festlegt. Wenn sich also das Wasser nach B bewegte, die Erde aber nach A, weil beide schwere Körper sind, werden sie sich zu verschiedenen Punkten nach unten bewegen. Diese können nicht eine einzige Zielbestimmtheit haben, denn der eine [Punkt] ist schlechthin unten, der andere aber relativ. Und da eine Verschiedenheit in der Bestimmtheit der Ziele eine Verschiedenheit in dem zur Folge hat, was auf sie zugeordnet ist, ist es offenkundig, daß es für das Wasser und die Erde eine unterschiedliche Bestimmtheit der Schwerkraft geben wird. Und da eine Verschiedenheit der Bestimmtheit bei einer Gleichheit des Namens eine Äquivokation verursacht, wie durch den Philosophen in den Kategorien deutlich wird, folgt, daß ‚Schwerkraft‘ äquivok von Wasser und Erde ausgesagt wird. Dies war das dritte zu erläuternde Glied der Implikation. (26) So wird also durch einen echten Beweis klar, daß das Wasser nicht exzentrisch ist. Das war das erste Glied des Folgesatzes in der Haupt­ implikation, das zerstört werden mußte. (27)  Um das zweite Glied des Folgesatzes in der Hauptimplikation zu zerstören, sage ich: Es ist auch unmöglich, daß das Wasser ausgebuchtet ist. H Dies beweise ich folgendermaßen: Der Himmel sei mit vier Kreuzen gekennzeichnet, das Wasser mit drei, die F D Erde mit zwei. Und der Mittelpunkt der Erde, des konzentrischen Wassers und des Himmels sei D. Und dies sei G vorausgesetzt: Das Wasser kann nur dann mit der Erde konzentrisch sein, wenn die Erde an einer Stelle über die zentrale Kugeloberfläche hinaus ausge-

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buchtet ist – wie den mathematisch Gebildeten klar ist –, sofern die [Erde] an einer Stelle aus der Kugeloberfläche des Wassers hervorragt. Und deshalb sei eine Ausbuchtung des Wassers in H, eine Ausbuchtung der Erde aber in G. Dann werde eine Gerade von D zu H gezogen und eine andere von D zu F. Es ist offenkundig, daß die Gerade, die von D zu H führt, länger ist als jene, die von D zu F führt, und daß deshalb der höchste Punkt der einen höher liegt als der höchste Punkt der anderen. Und da beide in ihrem höchsten Punkt die Oberfläche des Wassers erreichen, sie jedoch nicht überschreiten, ist es klar, daß das Wasser der Ausbuchtung sich über jener Oberfläche befinden wird, auf der F liegt. Da es dort nun kein Hindernis gibt, wenn das vorher Vorausgesetzte wahr ist, wird das Wasser der Ausbuchtung abfließen, bis es sich bezüglich D mit einer zentralen oder regelmäßigen Kugeloberfläche ausgleicht. Und so wird es unmöglich sein, daß eine Ausbuchtung bleiben wird, oder daß sie überhaupt besteht, was zu beweisen war. (28)  Und außer diesem durchschlagenden Beweis kann auch mit Wahrscheinlichkeit gezeigt werden, daß das Wasser außer­halb der regelmäßigen Kugeloberfläche keine Ausbuchtung aufweist, denn wenn etwas durch ein einziges bewirkt werden kann, wird es besser durch eines als durch vieles bewirkt. Aber das ganze Vorausgesetzte kann durch eine einzige Ausbuchtung der Erde erfolgen, wie sich weiter unten zeigen wird. Also gibt es im Wasser keine Ausbuchtung; denn Gott und die Natur bewirken und wollen immer das, was besser ist, wie durch den Philosophen im ersten Buch Über Himmel und Erde und im zweiten Buch Über die Entstehung der Tiere deutlich wird. (29)  So also besteht im Hinblick auf den ersten Punkt ausreichende Klarheit, nämlich daß es unmöglich ist, daß das Wasser an einer Stelle seiner Kugeloberfläche höher liegt, d. h. weiter als die Oberfläche dieser bewohnbaren Erde vom Mittelpunkt der Welt entfernt. Dies war der erste Schritt im Argumentationsverlauf.



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(30) Wenn es also unmöglich ist, daß das Wasser exzentrisch ist, wie durch die erste Figur gezeigt wurde, und daß es eine Ausbuchtung aufweist, wie durch die zweite bewiesen wurde, ist es notwendigerweise konzentrisch und eben, d. h. an jeder Stelle seiner Kugeloberfläche gleich weit vom Mittelpunkt der Erde entfernt, wie von selbst klar wird. [ Zweiter Teil: Die Erde liegt höher als das Wasser ] (31) Nun argumentiere ich folgendermaßen: Was auch immer über eine Stelle der gleich weit vom Mittelpunkt entfernten Kugeloberfläche hinausragt, ist weiter von diesem Mittelpunkt entfernt als irgendeine Stelle der Kugeloberfläche. Aber alle Küsten, jene des Ozeans ebenso wie jene der Mittelmeere, ragen über die Oberfläche des anstoßenden Meeres hinaus, wie ins Auge springt. Also sind alle Küsten weiter vom Mittelpunkt der Erde entfernt, denn der Mittelpunkt der Erde ist der Mittelpunkt des Meeres, wie sich gezeigt hat, und die Oberflächen der Küsten sind Teile der ganzen Meeresoberfläche. Und da alles, was vom Mittelpunkt der Erde weiter entfernt ist, höher liegt, folgt, daß alle Küsten über das ganze Meer hinausragen. Und wenn dies für die Küsten gilt, so noch viel mehr für andere Gegenden der Erde, denn die Küsten sind tiefer gelegene Teile der Erde. Und dies veranschaulichen die Flüsse, die zu ihnen hinabfließen. (32) Der Obersatz dieser Argumentation wird in den geometrischen Theoremen bewiesen. Und der Beweis ist ostensiv, obwohl er wie in den Ausführungen weiter oben seine Beweiskraft durch [eine Rückführung auf ] Unmögliches erhält. (33) Und so wird der zweite Argumentationsschritt deutlich. [ Dritter Teil: Einwand und Widerlegung des Einwandes ] (34)  Doch gegen das Festgelegte wird folgendermaßen argumentiert: Der schwerste Körper strebt überall gleich und mit

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größter Kraft zum Mittelpunkt. Die Erde ist der schwerste Körper. Also strebt sie überall gleich und am stärksten zum Mittelpunkt. Und aus diesem Schlußsatz folgt, wie ich darlegen werde, daß die Erde an jeder Stelle ihrer Kugeloberfläche gleich weit vom Mittelpunkt entfernt ist; dies besagt „gleich“; und daß sie allen Körpern zugrunde liegt; dies besagt „am stärksten“. Daher würde folgen, wenn – wie gesagt – das Wasser konzentrisch wäre, daß die Erde überall umströmt und bedeckt wäre. Das Gegenteil davon sehen wir. (35) Daß dies aus dem Schlußsatz folgt, lege ich folgendermaßen dar: Treffen wir aufgrund des Gegenteils oder der Umkehrung des Folgesatzes, daß an jeder Stelle ein gleicher Abstand besteht, eine Festsetzung und sagen wir, es bestehe kein [ gleicher] Abstand. Und setzen wir fest, daß an einer Stelle die Erdoberfläche zwanzig Stadien entfernt ist, an einer anderen zehn [Stadien]. Und so wird eine ihrer Hemisphären eine größere Quantität haben als die andere. Es spielt keine Rolle, ob sie sich im Abstand weniger oder mehr unterscheiden, solange sie sich unterscheiden. Da also die größere Quantität Erde ein größeres Gewicht hat, drückt die größere Hemisphäre wegen ihres vorherrschenden Gewichts auf die kleinere Hemisphäre, bis sich die beiden Quantitäten angeglichen haben und sich durch diese Angleichung auch das Gewicht angleicht. Und so wird sich [die Oberfläche] überall auf einen Abstand von fünfzehn Stadien einstellen, wie wir bei der Abwägung und Angleichung von Gewichten auf einer Waage sehen. (36) Dadurch wird deutlich, daß es unmöglich ist, daß die Erde, die in gleicher Weise den Mittelpunkt anstrebt, in ihrer Oberfläche unterschiedlich oder ungleich von ihm entfernt ist. Also ist das Gegenteil davon notwendig, nämlich daß sie den gleichen Abstand hat, da sie einen Abstand hat. Und so wurde die Implikation erläutert, was den Teil „gleicher Abstand“ betrifft. (37) Daß auch folgt, [die Erde] liege allen Körpern zugrunde, was sich aus dem Schlußsatz ergeben sollte, lege ich folgendermaßen dar: Die mächtigste Kraft erreicht am



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stärksten das Ziel, denn sie ist dadurch die mächtigste, daß sie am schnellsten und am leichtesten das Ziel erreichen kann. Die mächtigste Schwerkraft ist in jenem Körper, der den Mittelpunkt am stärksten anstrebt, und das ist die Erde. Also erreicht sie am stärksten das Ziel der Schwerkraft, das der Mittelpunkt der Erde ist. Also wird sie allen Körpern zugrunde liegen, wenn sie am stärksten den Mittelpunkt anstrebt. Dies war zweitens zu erklären. (38) So also ist es offensichtlich unmöglich, daß das Wasser mit der Erde konzentrisch ist. Dies widerspricht dem Festgesetzten. (39)  Dieses Argument scheint aber nicht beweiskräftig zu sein, denn der Obersatz des Hauptsyllogismus scheint keine Notwendigkeit zu besitzen. Es wurde nämlich gesagt: „Der schwerste Körper strebt überall gleich und am stärksten zum Mittelpunkt“. Dies scheint nicht notwendig zu sein, denn obwohl die Erde im Vergleich zu anderen Körpern der schwerste Körper ist, kann sie dennoch im Vergleich zu sich selbst, d. h. bezüglich ihrer Teile, der schwerste und nicht der schwerste [Körper] sein, denn die Erde kann an einer Stelle schwerer sein als an einer anderen. (40) Denn da die Angleichung eines schweren Körpers nicht durch die Quantität als Quantität, sondern durch das Gewicht erfolgt, wird es dort eine Angleichung des Gewichts geben können, obwohl dort keine Angleichung der Quantität erfolgt. Und so ist dieser Beweis ein Scheinbeweis und existiert nicht. (41) Aber ein solcher Einwand ist nicht stichhaltig. Er beruht nämlich auf einer Unkenntnis von der Natur der homogenen und einfachen [Körper]. Die homogenen und einfachen Körper  – homogen ist z. B. gereinigtes Gold, einfach sind Feuer und Erde – werden in ihren Teilen von der ganzen natürlichen Eigenschaft gleichmäßig qualitativ bestimmt. (42) Da die Erde ein einfacher Körper ist, wird sie daher in ihren Teilen gleichmäßig qualitativ bestimmt, sofern man von ihr gemäß der Natur und an sich spricht. Da die Schwerkraft auf natürliche Weise

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der Erde innewohnt und die Erde ein einfacher Körper ist, ist es deshalb notwendig, daß sie in allen ihren Teilen eine gleichmäßige Schwerkraft besitzt, in jeweiliger Entsprechung zur Quantität. Und so zerfällt das Argument des Haupteinwandes. (43) Daher ist zu erwidern, daß das Argument des Einwandes sophistisch ist, denn es ist relativ und schlechthin trügerisch. (44) Deshalb muß man wissen, daß die allgemeine Natur ihr Ziel nicht verfehlt. Obwohl die partikuläre Natur manchmal wegen der Unfügsamkeit der Materie das angestrebte Ziel verfehlt, kann die allgemeine Natur dennoch in keiner Weise von ihrer Absicht abweichen, denn der allgemeinen Natur liegen in gleicher Weise der Akt und das Vermögen jener Dinge zugrunde, die existieren können und nicht existieren können. (45) Es ist aber die Absicht der allgemeinen Natur, daß alle Formen, die im Vermögen der ersten Materie bestehen, in den Akt zurückgeführt werden und ihrer Art gemäß im Akt sind; derart daß die erste Materie gemäß ihrer Ganzheit jeder materiellen Form untersteht, obwohl sie gemäß einem Teil jeder entgegengesetzten Privation außer einer zugrunde liegt. (46) Da nämlich alle Formen, die im Vermögen der Materie sind, als Ideen im Himmelsbeweger in Akt sind, wie der Kommentator [Averroes] in Über die Erdsubstanz sagt, gilt: Wenn alle jene Formen nicht immer in Akt wären, würde der Himmelsbeweger die vollständige Ausstrahlung seiner Güte verfehlen, was man nicht behaupten darf. (47) Und da alle materiellen Formen des Entstehbaren und Vergänglichen (außer den Formen der Elemente) eine Materie sowie ein gemischtes und zusammengefügtes Subjekt erfordern, worauf die Elemente (insofern sie Elemente sind) als auf ihr Ziel ausgerichtet sind, und da es keine Vermischung geben kann, wo das Mischbare nicht gleichzeitig existieren kann, wie an sich klar ist, muß es im Universum notwendigerweise einen Teil geben, wo alles Mischbare, nämlich die Elemente, zusammentreffen könnte. Dies wäre aber nicht möglich, wenn die Erde nicht an einer Stelle emporragte,



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wie einem Betrachter klar ist. (48) Da also jede Natur der Absicht der allgemeinen Natur gehorcht, war es notwendig, daß der Erde außer der einfachen Natur, die im Abwärts-Streben besteht, eine andere Natur innewohnt, durch die sie sich der Absicht der allgemeinen Natur fügt, derart nämlich, daß sie es erträgt, an einer Stelle von der Himmelskraft emporgehoben zu werden, wie das Gehorchende vom Befehlenden, wie wir dies beim begehrenden und erzürnbaren [Trieb] im Menschen sehen. Obwohl diese manchmal aus eigenem Antrieb vom leidenschaftlichen Gefühl bewegt werden, sind sie doch manchmal, wenn sie vom eigenen Antrieb zurückgehalten werden, der Vernunft gefügig, wie aus dem ersten Buch der Nikomachischen Ethik hervorgeht. (49) Und deshalb gilt: Obwohl die Erde gemäß ihrer einfachen Natur gleichmäßig zum Mittelpunkt strebt, wie im Argu­ ment des Einwandes gesagt wurde, läßt sie sich doch gemäß einer bestimmten Natur an einer Stelle emporheben, wenn sie sich der allgemeinen Natur fügt, so daß eine Vermischung möglich ist. (50) Und demnach wird die Konzentrizität von Erde und Wasser gewahrt. Und nichts Unmögliches folgt für die korrekt Philosophierenden, wie aus der Figur deutlich wird, in der der Himmel der Kreis A sei, auf dem sich A befindet, das Wasser der Kreis, auf dem B sich B befindet, die Erde der C Kreis, auf dem C liegt. Hinsichtlich des wahren Sachgehaltes macht es keinen Unterschied, ob das Wasser nur wenig oder weit von der Erde entfernt scheint. Und es ist zu wissen: Diese [Figur] ist die richtige, denn sie entspricht der Form und Lage der beiden Elemente; die zwei anderen, oben [beschriebenen Figuren] sind falsch. Sie wurden nicht vorge-

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legt, weil es sich so verhält, sondern damit der Lernende begreife, wie [Aristoteles] im ersten Buch der Ersten Analytiken sagt. (51) Und daß die Erde aufgrund einer Ausbuchtung und nicht aufgrund der zentralen Kugeloberfläche emporragt, geht unbezweifelbar hervor, wenn man die Figur der emporragenden Erde betrachtet. Denn die Figur der emporragenden Erde ist die Figur eines Halbmondes. Auf keine Weise könnte sie derart sein, wenn sie gemäß einer gleichmäßigen oder zentralen Kugeloberfläche emporragte. (52) Denn es ist notwendig, wie in den mathematischen Theoremen gezeigt wurde, daß die regelmäßige Kugeloberfläche einer Sphäre aus einer ebenen oder sphärischen Oberfläche – wie dies bei der Wasseroberfläche der Fall sein muß – immer mit einem bogenförmigen Horizont emporragt. (53)  Und daß die emporragende Erde eine solche Halbmondform besitzt, wird auch durch die Naturforscher deutlich, die sich mit ihr befassen, durch die Astrologen, die die Klimabereiche beschreiben, und durch die Kosmographen, die die Regionen der Erde durch alle Zonen hindurch einteilen. (54)  Denn – wie gewöhnlich von allen eingeräumt wird – dieser bewohnbare [Erdteil] erstreckt sich der Länge nach von den Gaden, die über die westlichen, von Herkules bestimmten Grenzen festgelegt wurden, bis zum Ganges-Delta, wie Orosius schreibt. Diese Länge ist so groß, daß, wenn die Sonne über dem Äquator für jene untergeht, die an einem Ende sind, sie für jene aufgeht, die am anderen Ende sind, wie von den Astrologen aufgrund der Mondfinsternis herausgefunden wurde. Also müssen die Endpunkte der genannten Länge um 180 Grad voneinander entfernt sein, was der halbe Umfang der ganzen Kugeloberfläche ist. (55) Der Breite nach aber erstreckt sie sich, wie wir im allgemeinen von denselben übernehmen, von jenen, deren Scheitelpunkt der Äquatorkreis ist, bis zu jenen, deren Scheitelpunkt jener Kreis ist, der rund um den Pol der Welt vom Polarkreis umschrieben wird; dieser ist vom Pol der Welt ungefähr 23 Grade entfernt. Und so beträgt diese Aus-



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dehnung in der Breite etwa 67 Grade und nicht mehr, wie einem Betrachter deutlich wird. (56) Und so geht hervor, daß die emporragende Erde die Figur eines Halbmondes aufweisen muß, oder jedenfalls fast, denn diese Figur ergibt sich aus der Breite und Länge dieses Umfanges, wie klar ist. (57) Hätte sie aber einen kreisförmigen Horizont, hätte sie eine kreisförmige Figur mit konvexer Gestalt. Und so würden sich Länge und Breite nicht im Abstand der Endpunkte unterscheiden, wie dies auch den Frauen offenkundig sein kann. (58) Und so wird der dritte Punkt im Argumentationsverlauf deutlich. [ Vierter Teil: Ziel- und Wirkursache der Erderhöhung ] (59) Nun verbleibt noch, die Ziel- und Wirkursache dieser Erd­ erhöhung zu untersuchen, die ausreichend bewiesen wurde. Hier handelt es sich um einen Argumentationsverlauf gemäß der Kunst [der Logik], denn die Frage, ob etwas ist, muß der Frage, weshalb etwas ist, vorausgehen. Und hinsichtlich der Zielursache genügen die Aussagen im vorhergehenden Abschnitt. (60) Um aber die Wirkursache zu untersuchen, muß zuvor festgehalten werden, daß die vorliegende Abhandlung die Materie der Naturwissenschaft nicht verläßt, d. h. das bewegbare Seiende, nämlich Wasser und Erde, die natürliche Körper sind. Und deshalb muß eine Gewißheit gemäß der Materie der Naturwissenschaft angestrebt werden, die hier Gegenstand der Untersuchung ist. Denn in bezug auf jedes Untersuchungsobjekt ist in dem Maße Gewißheit anzustreben, als die Natur der Sache es zuläßt, wie aus dem ersten Buch der [Nikomachischen] Ethik hervorgeht. (61) Da uns also der Weg zur Untersuchung der Wahrheit in bezug auf natürliche Gegenstände angeboren ist (nämlich ausgehend von dem, was uns bekannter, der Natur aber weniger bekannt ist, hin zu jenem, was für die Natur gewisser und bekannter ist, wie aus dem ersten Buch der Physik hervorgeht), und da uns dabei die Wirkungen bekannter sind

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als die Ursachen (von ihnen nämlich werden wir zur Erkenntnis der Ursachen hingeführt, wie klar ist, denn die Sonnenfinsternis hat zur Erkenntnis geführt, daß sich der Mond zwischen [der Erde und der Sonne] befindet, und daher hat das Philosophieren mit dem Staunen begonnen), aus diesen Gründen muß der Weg der Erforschung natürlicher Gegenstände von den Wirkungen zu den Ursachen führen. (62) Obwohl dieser Weg eine ausreichende Gewißheit bietet, verfügt er doch nicht über eine so große Gewißheit wie der Weg der Erforschung in der Mathematik, der von den Ursachen, d. h. vom Übergeordneten, zu den Wirkungen, d. h. zum Untergeordneten, führt. Und deshalb muß jene Gewißheit angestrebt werden, die durch einen solchen Beweis erreicht werden kann. (63) Ich sage also, daß die Wirkursache dieser Erhebung nicht die Erde selbst sein kann, denn wenn ‚erhoben werden‘ bedeutet, daß irgend etwas nach oben getragen wird, und wenn es der Natur der Erde widerspricht, nach oben getragen zu werden, und wenn – absolut gesprochen – nichts die Ursache dessen sein kann, was der Natur widerspricht, so folgt daraus, daß die Erde nicht die Wirkursache dieser Erhebung sein kann. (64) Und ähnlich kann auch nicht das Wasser [die Wirkursache] sein, denn weil das Wasser in jedem Teil – absolut gesprochen – ein homogener Körper ist, muß es überall die gleichen Eigenschaften besitzen. Und so gäbe es keinen Grund, weshalb es sich an einer Stelle mehr erheben sollte als an einer anderen. (65) Aus demselben Grund sind auch Luft und Feuer als Wirkursachen ausgeschlossen. Und da nichts weiter verbleibt als der Himmel, muß hier die Wirkung auf ihn als die eigentliche Ursache zurückgeführt werden. (66) Da es aber mehrere Himmel gibt, muß noch untersucht werden, auf welchen sie als auf die eigentliche Ursache zurückgeführt werden muß. (67)  Nicht auf den Himmel des Mondes, denn wenn der Mond selbst das Instrument seiner Kraft oder seines Einflusses wäre und er nur durch den Polarkreis sowohl gegen den antarktischen als auch gegen den ark-



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tischen Pol hin vom Äquator abwiche, müßte [die Erde] sich in gleicher Weise diesseits und jenseits des Äquators erheben, was nicht der Fall ist. Es ist kein stichhaltiger Einwand, daß jene Abweichung wegen einer durch die Exzentrizität verursachten größeren Nähe zur Erde nicht erfolgen konnte. Denn wenn diese Kraft zum Erheben im Mond existiert hätte, hätte sie dort mehr erhoben als hier, da die näher Handelnden mit größerer Kraft tätig sind. (68)  Derselbe Grund schließt alle Planetenkreise als Wirkursachen aus. Und da das erste Bewegbare, nämlich die neunte Sphäre, an jeder Stelle gleichförmig ist und folglich an jeder Stelle die gleichen Eigenschaften besitzt, gibt es keinen Grund, weshalb es an einer Stelle [die Erde] mehr erheben sollte als an einer anderen. (69)  Da es indessen keine weiteren beweglichen Körper gibt außer dem Fixsternhimmel, der die achte Sphäre ist, muß die Wirkung auf diesen zurückgeführt werden. (70) Um diesbezüglich Klarheit zu gewinnen, ist zu wissen: Obwohl der Fixsternhimmel in der Substanz eine Einheit bildet, weist er doch in seiner Wirkkraft eine Vielheit auf. Deshalb mußte er jene Verschiedenheit in den Teilen aufweisen, die wir sehen, so daß durch verschiedene Instrumente verschiedene Wirkkräfte Einfluß ausüben. Und wer dies nicht beachtet, sollte anerkennen, daß er sich außerhalb der Grenzen der Philosophie bewegt. (71) Bei diesem [Himmel] sehen wir einen Unterschied in bezug auf die Größe der Sterne, das Licht, die Figuren und die Bilder der Konstellationen. Diese Unterschiede können nicht vergeblich bestehen, wie allen, die in der Philosophie genährt wurden, ganz klar sein muß. Daher gibt es je eine andere Wirkkraft für diesen und jenen Stern, je eine andere für diese und jene Konstellation, je eine Wirkkraft für die Sterne, die diesseits des Äquators sind, und eine andere für jene, die jenseits sind. (72)  Da also das irdische Aussehen dem oberen ähnlich ist, wie Ptolemäus sagt, folgt: Da jene Wirkung nur auf den Fixsternhimmel zurückgeführt werden kann, wie gesehen

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wurde, besteht eine Ähnlichkeit des virtuell Handelnden in jener Himmelsgegend, die die unbedeckte Erde umgibt. (73) Und da sich diese unbedeckte Erde vom Äquator bis zu jener Linie erstreckt, die der Polarkreis rund um den Erdpol beschreibt, wie weiter oben gesagt wurde, kommt die Erhebungskraft offensichtlich jenen Sternen zu, die in der Himmelsgegend sind, die zwischen diesen zwei Kreisen eingeschlossenen ist – sei es, daß diese [Erhebungskraft] durch Anziehung erhebt, wie ein Magnet Eisen anzieht, sei es durch Druck, indem sie pressenden Dampf erzeugt, wie dies in bestimmten Gebirgen der Fall ist. (74)  Nun wird aber gefragt: Wenn diese Himmelsgegend doch eine kreisförmige Bewegung beschreibt, warum erfolgte die Erhebung dann nicht kreisförmig? Und ich antworte: Sie erfolgte nicht kreisförmig, weil die Materie für eine so große Erhebung nicht ausreichte. (75) Aber dann könnte weiter argumentiert und gefragt werden: Warum erfolgte die Erhebung einer Hemisphäre eher auf dieser als auf jener Seite? Darauf ist so zu erwidern, wie der Philosoph es im zweiten Buch Über den Himmel unternimmt, wo er untersucht, weshalb der Himmel sich von Osten nach Westen bewegt und nicht umgekehrt. Dort sagt er nämlich, daß solche Fragen aus großer Dummheit oder großer Anmaßung entstehen, weil sie unser Denkvermögen übersteigen. (76) Und deshalb ist auf diese Frage zu antworten, daß jener Sachwalter, der glorreiche Gott, der die Lage der Pole angeordnet hat, die Lage des Weltmittelpunktes, den Abstand der äußersten Kugeloberfläche des Universums von dessen Mittelpunkt und ähnliches, daß er dies sowie auch jenes aufs Beste bestellt hat. Als er nämlich sagte: „Die Wasser sollen an einem Ort zusammenfließen, und trockenes Land soll erscheinen“, da erhielt der Himmel sogleich die Kraft zu handeln und die Erde die Fähigkeit zu erleiden. (77) Aufhören sollen sie also, aufhören sollen die Menschen, nach dem zu fragen, was sie übersteigt, und sie sollen bis dorthin fragen, wo sie es können, damit sie sich dem Unsterblichen



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und Göttlichen gemäß ihrem Vermögen nähern, und sie sollen von dem ablassen, was größer ist als sie. Sie sollen auf den Freund Hiob hören, der sagt: „Wirst du etwa die Spuren Gottes verstehen und den Allmächtigen bis zur Vollkommenheit ergründen?“ Sie sollen auf den Psalmisten hören, der sagt: „Wunderbar ist für mich dein Wissen geworden. Bekräftigt ist es, und ich werde es nicht erreichen können.“ Sie sollen auf Jesaja hören, der sagt: „So weit wie Himmel und Erde auseinander liegen, sind meine Wege von euren entfernt“, wobei er in der Rolle Gottes zum Menschen sprach. Sie sollen auf die Stimme des Apostels im Römerbrief hören: „Erhabenes göttliches Wissen und Weisheit Gottes, wie unverständlich sind seine Urteile und wie unergründbar seine Wege!“ Und schließlich sollen sie auf die Stimme des Schöpfers selbst hören, der sagt: „Wohin ich gehe, könnt ihr nicht kommen.“ (78) Und dies genügt für die Erforschung der angestrebten Wahrheit. [ Fünfter Teil: Widerlegung der Gegenargumente ] (79) Nach dieser Betrachtung ist es leicht, die oben angeführten Gegenargumente zu widerlegen. Dies wurde als fünfter Schritt vorgenommen. (80) Wenn also gesagt wurde: „Es ist unmöglich, daß zwei Kugeloberflächen, die ungleich voneinander entfernt sind, denselben Mittelpunkt haben“, gebe ich zu, daß dies wahr ist, wenn es sich um regelmäßige Kugeloberflächen ohne Ausbuchtung oder Ausbuchtungen handelt. Und wenn im Untersatz gesagt wird, daß die Kugeloberfläche des Wassers und die Kugeloberfläche der Erde derart sind, entgegne ich, daß dies nur auf die Ausbuchtung zutrifft, die in der Erde besteht. Und deshalb ist das Argument nicht schlüssig. (81) Zum zweiten: Wenn behauptet wurde: „Einem edleren Körper gebührt ein edlerer Ort“, sage ich, daß dies gemäß der eigentlichen Natur wahr ist, und ich räume den Untersatz ein. Wenn man aber schließt, daß deshalb das Wasser an einem höheren Ort sein

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muß, sage ich, daß dies gemäß der eigentlichen Natur beider Körper wahr ist. Wie oben gesagt wurde, ist es aufgrund der vorherrschenden Ursache aber der Fall, daß die Erde an dieser Stelle höher liegt. Und so ging das Argument im ersten Satz fehl. (82) Zum dritten: Wenn man behauptet: „Jede Meinung, die der Sinneswahrnehmung widerspricht, ist eine schlechte Meinung“, sage ich, daß dieses Argument auf einer falschen Vorstellung beruht. Die Seeleute stellen sich nämlich vor, daß sie die Erde nicht sehen, wenn sie sich auf See auf dem Schiffsdeck befinden, weil das Meer höher liegt als die Erde. Dies ist aber nicht der Fall, sondern vielmehr das Gegenteil; sie könnten [die Erde] nämlich besser sehen. Dies geschieht aber, weil der direkte Strahl eines sichtbaren Gegenstandes zwischen dem Gegenstand und dem Auge von der Krümmung des Wassers gebrochen wird. Weil nämlich das Wasser überall eine Kreisform um den Mittelpunkt bilden muß, hat es notwendigerweise in einem gewissen Abstand das Hindernis einer Krümmung zur Folge. (83) Zum vierten: Wenn man argumentierte: „Wenn die Erde nicht tiefer läge“ usw., sage ich, daß dieses Argument auf einer falschen Annahme beruht und deshalb nichtig ist. Die Ungebildeten und jene, die die Schriften der Physik nicht kennen, glauben nämlich, daß das Wasser zu den Berggipfeln und auch zu den Quellen in Form von Wasser hinauffließt. Dies ist aber äußerst kindisch, denn die Gewässer entstehen dort, wie durch den Philosophen in der Meteorologie deutlich wird, wo die Materie in Form von Dampf aufsteigt. (84)  Zum fünften: Wenn man sagt, daß das Wasser ein Körper ist, der die Mondbahn nach­a hmen kann, und deshalb schließt, daß es exzentrisch sein muß, weil die Mondbahn exzentrisch ist, erwidere ich, daß dieses Argument nicht zwingend ist. Denn obwohl etwas in einer Hinsicht etwas anderes nachahmt, ahmt es dieses nicht notwendigerweise in allem nach. Wir sehen nämlich, daß das Feuer die Kreisbewegung des Himmels nachahmt, und dennoch ahmt es ihn nicht in seiner nicht geradlinigen Bewegung



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nach, auch nicht darin, daß es das nicht besitzt, was seiner Qualität entgegengesetzt ist. Und deshalb ist das Argument nicht schlüssig. (85) Und so [lautet die Antwort] auf die Argumente. (86)  So werden also die Entscheidung der Streitfrage und die Abhandlung über die Form und die Lage zweier Elemente festgesetzt, wie oben vorgeschlagen wurde. [ Schluß ] (87)  Diese philosophische Frage wurde unter der Herrschaft des unbesiegten Herrschers Cangrande della Scala, des Herrn für das Heilige Römische Reich, von mir, Dante Alighieri, dem geringsten unter den Philosophen, in der berühmten Stadt Verona, in der Kapelle der glorreichen Helena, vor dem gesamten Veroneser Klerus entschieden. Nur jene nahmen nicht teil, die aus allzu inbrünstiger Nächstenliebe die Befragungen anderer nicht zulassen. Diese Armen im Heiligen Geist, die von der Tugend der Demut getrieben werden, halten sich von den Diskussionen anderer Leute fern, um nicht den Anschein zu erwecken, daß sie deren Überlegenheit billigen. (88) Und dies erfolgte im Jahre 1320 nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus, an einem Sonntag, dem Tag, den unser erwähnter Erlöser durch seine ruhmreiche Geburt und durch seine wunderbare Auferstehung uns zur Verehrung anvertraut hat. Es war der siebte Tag nach den Iden des Januar und der dreizehnte vor den Kalenden des Februar.

ÜBER DIE BEREDSAMK EIT IN DER VOLK SSPR ACHE

(De vulgari eloquentia) Erstes Buch Übersetzt von Francis Cheneval

i. Da wir feststellen, daß vor uns überhaupt niemand die Lehre von der Beredsamkeit in der Volkssprache behandelt hat, und einsehen, daß eine solche Beredsamkeit schlechthin für alle äußerst notwendig ist – denn auf sie stützen sich nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder, soweit es die Natur gestattet –, deshalb wollen wir das Unterscheidungsvermögen derjenigen irgendwie erleuchten, die wie Blinde durch die Straßen gehen und oft das, was vor ihnen ist, hinter sich wähnen. Mit Hilfe des vom Himmel her inspirierenden Wortes werden wir versuchen, das Sprechen der gewöhnlichen Leute zu fördern, indem wir nicht nur Wasser unseres eigenen Geistes schöpfen, um solch großen Becher zu füllen, sondern von andern übernehmend und zusammenfügend das Vorzüglichere mischen, damit wir ganz süßes Honigwasser ausschenken können. (2) Da aber eine jede Wissenschaft ihren Gegenstand nicht beweisen, sondern erschließen soll, sagen wir in gebotener Kürze zur Kenntnis ihres Gegenstandes, daß wir Volkssprache diejenige nennen, an die sich die Kinder durch die Pflegenden gewöhnen, sobald sie beginnen, Laute zu unterscheiden; oder um es noch kürzer zu sagen: Wir nennen jene Sprache Volkssprache, die wir ohne jegliche Regel durch Nachahmen der Amme annehmen. (3)  Es gibt darüber hinaus für uns ein anderes Sprechen, zweiter Art, das die Römer Grammatik nannten. Dieses Sprechen zweiter Art haben die Griechen und andere [ Völker], aber nicht alle. Zu ihrer Beherrschung gelangen nur wenige, denn wir werden in ihr nur mit Zeitaufwand und durch Beharrlichkeit im Studium geformt und gebildet. (4) Von diesen beiden ist die Volkssprache die edlere: Einmal, weil sie als erste vom Menschengeschlecht gebraucht wurde, sodann, weil der ganze Erdkreis sie benutzt, auch wenn sie

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nach unterschiedlicher Aussprache und Wortschatz aufgeteilt ist, und schließlich, weil sie uns natürlich ist, während jene eher künstlich ist. (5) Und von dieser edleren zu handeln, ist unsere Absicht. • ii. Sie ist unser wahres erstes Sprechen. Ich sage aber nicht „unser“, wie wenn es ein anderes Sprechen gäbe als die [Sprache] des Menschen, denn von allen Seienden wurde das Sprechen allein dem Menschen gegeben, da es nur für ihn notwendig war. (2) Weder für die Engel noch für die Tiere, die unter uns stehen, war es notwendig zu sprechen, vielmehr wäre es ihnen überflüssigerweise gegeben worden: Davor allerdings schreckt die Natur zurück. (3) Wenn wir nämlich genau betrachten, was wir mit dem Sprechen beabsichtigen, wird klar, daß es nichts anderes ist, als andern einen Begriff unseres Geistes zu enthüllen. Da aber die Engel zur Mitteilung ihrer ehrwürdigen Ideen eine ganz unmittelbare und unaussprechliche Fähigkeit des Intellekts haben, wodurch einer dem andern gänzlich durch sich selbst bekannt wird, oder zumindest durch jenen strahlendsten Spiegel, in dem alle in vollendeter Schönheit vergegenwärtigt sind und auf den alle unersättlich schauen, scheinen sie keines Sprachzeichens zu bedürfen. (4) Und wenn ein Einwand bezüglich der gefallenen Geister vorgebracht wird, kann in zweifacher Weise geantwortet werden: Erstens, daß wir sie übergehen müssen, weil wir über das, was zum vollkommenen Sein einer Art erforderlich ist, handeln und die abgefallenen [Geister] auf die göttliche Fürsorge nicht warten wollten; zweitens und besser, daß diese Dämonen, um sich gegenseitig ihre Gemeinheit mitzuteilen, nichts anderes brauchen, als daß ein jeder von jedem weiß, daß er ist und welchen Grad [der Vollkommenheit] er besitzt. Dies aber wissen sie, denn sie kannten sich bereits vor ihrem Fall.



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(5) Ebenso war es auch nicht nötig, die Tiere, die unter uns stehen, mit der [Fähigkeit] zum Sprechen auszustatten, da sie ausschließlich vom Instinkt der Natur geleitet werden, denn die Akte und Eindrücke aller Wesen derselben Art sind gleich, und so können [die Tiere] durch die eigenen [Akte und Eindrücke] die der andern erkennen. Für diejenigen aber, die verschiedenen Arten angehören, war das Sprechen nicht nur unnötig, sondern es wäre geradezu schädlich gewesen, da es unter ihnen keinen freundschaftlichen Verkehr geben konnte. (6) Und wenn bezüglich der Schlange, die zur ersten Frau gesprochen hat, oder bezüglich der Eselin von Balaam eingewendet werden sollte, daß sie geredet haben, dann antworten wir darauf, daß ein Engel in dieser und ein Teufel in jener in solcher Weise am Werk waren, daß diese Tiere selbst ihre Organe derart bewegten, daß daraus ein deutlicher Laut, einem wahren Sprechen ähnlich, hervorging; damit ist nicht gesagt, [der Laut] der Eselin sei etwas anderes gewesen als ein Schreien und [der Laut] der Schlange etwas anderes als ein Zischen. (7)  Wenn aber jemand dagegen argumentieren sollte, was Ovid im fünften Buch der Metamorphosen von sprechenden Elstern sagt, antworten wir, daß er bildlich spricht und etwas anderes darunter versteht. Und wenn eingewendet werden sollte, daß die Elster und andere Vögel sprechen, antworten wir, daß dies falsch ist, denn ein solcher Akt ist nicht Sprechen, sondern eine gewisse Nachahmung des Klanges unserer Stimme; oder daß sie danach streben, uns nachzuahmen, insofern wir Laute von uns geben, aber nicht insofern wir sprechen. Wenn daher demjenigen, der „Elster“ sagt, auch „Elster“ entgegenhallte, wäre dies nichts anderes als eine Wiedergabe oder eine Nachahmung eines Klanges dessen, der zuerst geredet hat. (8) Und so ist klar, daß nur dem Menschen das Sprechen gegeben wurde. Warum dies für ihn aber notwendig war, wollen wir kurz abzuhandeln versuchen. •

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iii. Da der Mensch nicht vom Instinkt der Natur, sondern von der Vernunft bewegt wird, und diese Vernunft bezüglich Unterscheidung, Urteil und Wahl bei den einzelnen so sehr verschieden ist, daß beinahe jeder sich seiner eigenen Art zu erfreuen scheint, vermuten wir, daß niemand den andern durch die eigenen Handlungen und Widerfahrnisse, wie es beim unverständigen Tier der Fall ist, versteht. Auch nicht durch geistige Schau, wie der Engel, vermag der eine in den andern zu dringen, da der menschliche Geist von der Dichte und Undurchsichtigkeit des sterblichen Körpers verdunkelt wird. (2) Das Menschengeschlecht brauchte also, um sich Gedanken mitzuteilen, ein Zeichen, das sowohl vernünftig als auch sinnlich ist. Es sollte ja etwas von der einen Vernunft aufnehmen und auf die andere übertragen; deswegen mußte es vernünftig sein. Sinnlich mußte es sein, da nur durch ein sinnliches Mittel etwas von der einen Vernunft auf die andere übertragen werden kann. Wäre [das Zeichen] nämlich nur vernünftig, so könnte es nichts übertragen; wäre es nur sinnlich, hätte es weder von der Vernunft [etwas] aufnehmen noch in der Vernunft ablegen können. (3) Dieses Zeichen ist jener edle Gegenstand, von dem wir sprechen: Es ist ein sinnliches Etwas, insofern es ein Laut ist; es ist vernünftig, insofern es etwas nach Übereinkunft bezeichnet. • iv. Nur dem Menschen wurde es gegeben zu sprechen, wie aus dem Gesagten hervorgeht. Nun halte ich es für nötig zu untersuchen, welchem Menschen das Sprechen zuerst gegeben wurde, was er zuerst gesagt hat, zu wem und wo und wann [zuerst] gesprochen wurde und gewiß auch in welchem Idiom die ersten Worte geäußert wurden. (2) Gemäß dem, was am Anfang der Genesis gesagt wird, wo die heiligste Schrift vom Beginn der Welt handelt, scheint es, daß die Frau, jene überaus vermessene Eva nämlich, früher als



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alle [andern] gesprochen hat, als sie dem aufdringlichen Teufel antwortete: „Wir nähren uns von der Frucht der Bäume im Paradies, aber von der Frucht des Baumes, der in der Mitte des Paradieses steht, verbot uns Gott zu essen oder ihn auch nur anzurühren, damit wir nicht sterben.“ (3) Doch obschon es die Frau ist, die gemäß der Schrift als erste gesprochen hat, ist es dennoch vernünftiger anzunehmen, der Mann habe als erster gesprochen; es ist unangemessen zu meinen, ein solch herausragender Akt des menschlichen Geschlechts wäre nicht zuerst vom Mann, sondern von der Frau vollzogen worden. Vernünftigerweise glauben wir also, daß es Adam zuerst gegeben wurde zu sprechen, von Ihm, der ihn selbst kurz zuvor geformt hatte. (4) Was aber die Stimme des ersten Sprechenden verlauten ließ, ist nach meiner Auffassung dem Mann von gesundem Verstand augenfällig: [Es war das Wort] „Gott“ oder „El“, sei es als Frage oder als Antwort. Es scheint absurd und [ist] für die Vernunft abschreckend, daß der Mensch auch nur irgend etwas [anderes] früher als Gott genannt hätte, da der Mensch von ihm und zu ihm hin erschaffen wurde. So wie nämlich nach der Verfehlung des menschlichen Geschlechts jeder den Anfang seines Sprechens mit „Ach“ beginnt, ist es vernünftig, daß, wer vor dem Sündenfall existierte, [seine Rede] mit Freude begonnen hat; und da es außerhalb Gottes keine Freude gibt, sondern alle [Freude] in Gott und Gott selbst ganz Freude ist, folgt, daß der erste Sprechende zuerst und vor allem andern „Gott“ gesagt hat. (5) Da wir oben sagen, der erste Mensch habe in Form einer Antwort gesprochen, ergibt sich die Frage, ob die Antwort Gott gegolten hat: Hat sie Gott gegolten, so könnte es scheinen, Gott habe zuvor gesprochen, was dem Vorausgeschickten zuwiderläuft. (6)  Darauf aber antworten wir, daß er sehr wohl dem fragenden Gott hat antworten können, ohne daß deswegen Gott mittels dessen gesprochen hat, was wir Sprechen nennen. Wer

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zweifelt denn, daß alles, was ist, sich dem Wink Gottes beugt, von dem es erschaffen, von dem es erhalten und von dem es auch gelenkt wird? Wenn also die Luft durch die Herrschaft der niedrigeren Natur als Gehilfin und Werk Gottes zu solch großen Veränderungen bewegt wird, daß sie Donner ertönen läßt, mit Feuer blitzt, Wasser quillt, Schnee verweht und Hagel zerstückelt, wird sie dann nicht auf Befehl Gottes dazu bewegt, bestimmte Worte ertönen zu lassen, wenn Jener bestimmt, der viel Größeres bestimmt hat? Warum nicht? (7) Daher glauben wir, daß zu diesem [Punkt] und zu einigen anderen das [Gesagte] ausreicht. • v. Da wir nicht ohne Begründung, die sich sowohl auf das bisher Gesagte wie auch auf das noch Folgende stützt, glauben, der erste Mensch habe sein Sprechen zu allererst an Gott selbst gerichtet, behaupten wir vernünftigerweise, daß jener zuerst Sprechende, kaum war er von der lebensspendenden Kraft angehaucht worden, sofort gesprochen hat. Denn wir glauben, im Menschen sei das Wahrgenommenwerden menschlicher als das Wahrnehmen, insofern man als Mensch wahrgenommen wird und wahrnimmt. Wenn also jener Handwerker, der Prinzip der Vollkommenheit und Liebe ist, den ersten von uns [Menschen] mit jeglicher Vollkommenheit ausgestattet hat, scheint es uns vernünftig, daß das edelste Lebewesen nicht angefangen hat wahrzunehmen, bevor es wahrgenommen worden ist. (2)  Wenn aber jemand dagegen hält, indem er einwendet, daß es für Adam nicht nötig war zu sprechen, da nur ein einziger Mensch existierte und Gott all unsere Geheimnisse ohne Worte noch vor uns selber wahrnimmt, antworten wir mit der Ehrfurcht, die nötig ist, wenn wir über den ewigen Willen zu urteilen haben: Obschon Gott den Gedanken des ersten Sprechenden unabhängig von dessen Akt des Sprechens kannte, ja vielmehr im voraus wußte – was in bezug auf Gott dasselbe



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ist –, wollte er dennoch, daß Adam auch selbst spreche, damit er durch die Entfaltung einer so großen Gabe, die er umsonst verliehen hatte, selbst verherrlicht werde. Und daher müssen wir glauben, die Freude über die geordnete Verwirklichung unserer Handlungen sei göttlichen Ursprungs. (3) Und daher können wir jenen Ort, an dem das erste Sprechen stattgefunden hat, genau ermitteln: Wurde nämlich der Mensch außerhalb des Paradieses geschaffen, war es außerhalb; wurde er aber innerhalb [ geschaffen], so steht fest, daß der Ort des ersten Sprechens im Innern [des Paradieses] war. • vi. Da sich das menschliche Leben vieler und verschiedener Idiome bedient, so daß viele mit Worten andere nicht besser verstehen als ohne Worte, ist es für uns angebracht, jene Sprache aufzuspüren, von der geglaubt wird, daß sie jener Mann gebraucht hat, der weder Kindes- noch Jugendalter, noch Mutter und Muttermilch gekannt hat. (2) In dieser Hinsicht, aber auch sonst, ist Hintertupfingen die volkreichste Stadt, denn die meisten Söhne Adams stammen von dort. Denn wer von solch verdorbener Vernunft ist, daß er seinen Geburtsort für den köstlichsten unter der Sonne hält, der schätzt auch vor allen seine eigene Sprache, das heißt seine Muttersprache, und glaubt folglich, daß sie jene Adams gewesen ist. (3) Wir hingegen, denen die Welt Heimat ist wie den Fischen das Meer, obschon wir aus dem Arno tranken, bevor wir Zähne hatten, und Florenz so sehr lieben, daß wir, weil wir es liebten, ungerechte Verbannung erdulden, wollen bei der Urteilsfindung das Gewicht der Vernunft stärker als dasjenige der Sinne berücksichtigen. Und obschon es für unsere Lust und für die Befriedigung unserer Sinnlichkeit auf Erden keinen lieblicheren Ort als Florenz gibt, wälzten wir die Bände der Dichter und anderer Schriftsteller durch, in denen die Welt im Ganzen und in ihren Teilen beschrieben wird, und dachten über verschie-

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dene Lagen der Orte auf der Welt und ihre Beziehung zu beiden Polen und zum Äquator nach. Dabei erwägen wir und gelangen zur festen Ansicht, daß es viele edlere und köstlichere Gegenden und Städte als die Toskana und Florenz gibt, von wo wir stammen und Bürger sind, und daß viele Völker und Stämme sich einer erfreulicheren und nützlicheren Sprache bedienen als die Italiener. (4) Zu unserem Gegenstand zurückkehrend also sagen wir, daß gleichzeitig mit der ersten Seele eine bestimmte Form des Sprechens von Gott erschaffen wurde. Ich spreche von „Form“ sowohl bezüglich der Wörter von Dingen wie auch bezüglich der Gefüge von Wörtern und des Aussprechens der Gefüge [von Wörtern]: Dieser Form nämlich würde sich jede gesprochene Sprache bedienen, wenn sie nicht durch die Schuld der menschlichen Vermessenheit zerschlagen worden wäre, wie unten gezeigt werden soll. (5) In dieser Form des Sprechens redete Adam; in dieser Form des Sprechens redeten alle seine Nachfahren bis zum Turmbau von Babel, der als der „Turm der Verwirrung“ gedeutet wird; diese Form des Sprechens haben die Söhne Hebers geerbt, die nach ihm die Hebräer genannt werden. (6) Ihnen allein blieb sie nach der Verwirrung erhalten, damit sich unser Erlöser, der aus ihnen gemäß der menschlichen Natur hervorgehen sollte, nicht an der Sprache der Verwirrung, sondern an der Sprache der Gnade erfreute. (7) Das hebräische Idiom also erzeugten die Lippen des ersten Sprechenden. • vii. O wie schmerzlich ist es doch, die Schande des menschlichen Geschlechts zu vergegenwärtigen. Da wir aber nicht vermeiden können, sie zu behandeln, durcheilen wir sie, obschon Röte ins Gesicht steigt und die Seele sich sträubt. (2) O stets zur Sünde geneigte menschliche Natur! O seit Anbeginn nimmer ablassende Schlechtigkeit! War es denn nicht



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genug zu deiner Züchtigung, daß du, durch die erste Sünde des Lichts beraubt, von der Heimat der Freuden verbannt wurdest? Hatte es nicht genügt, daß durch die allgemeine Zügellosigkeit und Verwilderung deines Geschlechts mit Ausnahme eines einzigen auserwählten Hauses alles, was unter deiner Macht stand, durch eine Überschwemmung zugrunde ging und daß für deine Untaten die Tiere des Himmels und der Erde schon gebüßt hatten? Sicher, das wäre genug gewesen. Aber wie man sprichwörtlich zu sagen pflegt: „Aller guten Dinge sind drei“, wolltest du elende lieber ein elendes Pferd besteigen. (3) Siehe denn Leser, wie der Mensch, die früheren Züchtigungen vergessend oder verachtend, die Augen von den Narben, die ihm geblieben waren, abwendete und zum dritten Mal aus Anmaßung in überheblicher Dummheit die Schläge herausforderte. (4)  Der unbelehrbare Mensch schmiedete also in seinem Herzen, angestiftet durch den Giganten Nemrod, den vermessenen Plan, mit seiner Kunst nicht nur die Natur zu übertreffen, sondern auch den Ursprung der Natur selbst, der Gott ist, und er begann in Sennaar, das später Babel, das heißt „Verwirrung“, genannt wurde, einen Turm zu bauen; durch ihn hoffte der Törichte, den Himmel zu ersteigen mit der Absicht, seinem Schöpfer nicht gleichzukommen, sondern ihn zu übertreffen. (5) O grenzenlose Milde des himmlischen Reiches! Welcher Vater würde so viele Beleidigungen vom Sohn ertragen? Aber er zeigte sich nicht mit feindlichem, sondern mit väterlichem Stock, der bereits ans Schlagen gewohnt war, und er bestrafte den aufrührerischen Sohn mit milder, aber nachhaltiger Zurechtweisung. (6) Beinahe das ganze menschliche Geschlecht war zu dieser Missetat zusammengekommen: Die einen befahlen, andere planten, wiederum andere errichteten die Mauern, ein Teil vermaß mit der Richtlatte, ein Teil verputzte mit Kellen, ein Teil war damit beschäftigt, Steine zu brechen, ein anderer, sie auf

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dem See- oder dem Landweg zu befördern, und die verschiedenen Gruppen waren mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt, als sie vom Himmel mit solcher Verwirrung geschlagen wurden, daß sie, die sich alle zum Werk ein und derselben Sprache bedient hatten, in verschiedene Sprachen aufgeteilt das Werk aufgaben und nie mehr zum selben Geschäft zusammenkamen. (7) Denn nur denjenigen, die eine Tätigkeit ausübten, blieb dieselbe Sprache: nämlich den Baumeistern eine, allen Steinrollern eine, allen Steinmetzen eine; und so geschah es den einzelnen Arbeitern. In so viele Idiome aber teilte sich das menschliche Geschlecht auf, wie Berufe am Werk beteiligt waren; und je höheren Ranges ihre Tätigkeit war, desto rauher und barbarischer sprechen sie jetzt. (8)  Jene aber, welchen das geheiligte Idiom geblieben ist, waren weder anwesend noch billigten sie das Unternehmen, sondern verlachten in tiefer Abscheu die Torheit der Arbeitenden. Aber dieser zahlenmäßig geringste Teil war, wie ich vermute, vom Geschlechte des Sem, des dritten Sohnes Noas, von dem das Volk Israel abstammt, das sich der ältesten Sprache bis zu seiner Zerstreuung bediente. • viii. Aufgrund der im vorangehenden Kapitel in Erinnerung gerufenen Sprachverwirrung ist es nicht leichtfertig, wenn wir annehmen, danach seien die Menschen zum ersten Mal in alle Erdzonen und bebaubaren Gegenden und Ecken der Zonen zerstreut worden. Und weil die ursprüngliche Wurzel des Menschenstamms in den östlichen Gegenden gepflanzt wurde, und sich unser Stamm von dort aus durch weit verzweigte Verästelungen nach beiden Seiten vielfach ausgebreitet hat und sich zuletzt bis zu den Grenzen des Westens erstreckte, trank der Mund vernunftbegabter Wesen vielleicht damals zum ersten Mal aus den Flüssen von ganz Europa oder zumindest aus einigen.



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(2) Die Menschen brachten eine dreigliedrige Sprache mit, sei es, daß sie damals als Fremdlinge zum ersten Mal [in Eu­ ropa] ankamen oder als Eingeborene nach Europa zurückkehrten; und von ihnen erlosten sich die einen die südliche, die andern die nördliche Gegend von Europa; und die dritten, die wir heute Griechen nennen, besetzten zum Teil Europa, zum Teil Asien. (3) Aus einem einzigen, in der Rache der Verwirrung empfangenen Idiom, nahmen danach verschiedene Volkssprachen ihren Ursprung, wie wir weiter unten zeigen werden. (4)  Denn das ganze [Gebiet], das von den Mündungen der Donau oder von den Mäotischen Sümpfen bis zu den west­lichen Grenzen Englands reicht und durch die Grenzen der Italiener, der Franzosen und des Ozeans abgeschlossen wird, erhielt nur ein Idiom, und obschon es danach von den Slawen, Ungarn, Deutschen, Sachsen und Engländern und mehreren andern Nationen in verschiedene Volkssprachen verzweigt wurde, verblieb fast allen nur dies als Zeichen desselben Anfangs, daß ­nahezu alle der Erwähnten mit iò bejahend antworten. (5)  An dieses Sprach[gebiet] angrenzend, nämlich von den Grenzen der Ungarn ostwärts, dehnte sich ein anderes Idiom über das ganze [Territorium] aus, das von diesem Gebiet an ­Europa genannt wird, und es ist auch noch weiter vorgedrungen. (6) Das ganze [Gebiet], das von Europa außer den erwähnten übrig bleibt, beherrscht ein drittes Idiom, das freilich heute dreigliedrig erscheint: Denn einige sagen oc, einige oïl und andere sì zur Bestätigung, nämlich die Spanier, Franzosen und Italiener. Ein offenkundiges Zeichen dafür, daß die Volkssprachen dieser drei Völker von ein und demselben Idiom abhängen, ist, daß sie vieles mit demselben Wort zu benennen scheinen, wie Gott, Himmel, Liebe, Meer, Erde, ist, lebt, stirbt, liebt und vieles andere. (7) Von diesen aber bewohnen diejenigen, die oc sagen, ausgehend von den Grenzen der Genuesen den westlichen Teil

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Süd­europas. Jene, die sì sagen, wohnen östlich der vorher erwähnten Grenzen bis hin zu jenem Vorgebirge Italiens nämlich, wo die Adriatische Bucht beginnt, und Sizilien. Diejenigen aber, die oïl verwenden, sind in gewisser Weise nördlich von diesen angesiedelt, denn im Osten haben sie die Alemannen und im Westen und Norden sind sie vom Englischen Meer umgeben und werden von den Bergen Aragoniens begrenzt; ebenso sind sie im Süden Nachbarn der Provenzalen und vom Abhang des Apennins eingeschlossen. • ix. Nun aber gilt es, unsere Vernunft auf die Probe zu stellen, da wir Dinge erforschen wollen, bei denen wir von keiner Autorität unterstützt werden, nämlich die Verschiedenheit, die sich aus dem anfänglich einen und selben Idiom ergeben hat. Und da bekanntere Wege unbeschadeter und schneller durchschritten werden, wollen wir nur unser eigenes Idiom weiter verfolgen, während wir die andern beiseite lassen: Denn was in dem einen Idiom vernünftige Ursache ist, das ist auch in den andern Ursache. (2) Das Idiom also, zu dessen Behandlung wir schreiten, ist dreigliedrig, wie oben gesagt wurde; denn einige sagen oc, einige sì, andere aber oïl. Daß dieses [Idiom] am Anfang der Verwirrung nur eines war, was als erstes zu beweisen ist, zeigt sich, da wir in vielen Wörtern übereinstimmen, wie die Lehrer der Beredsamkeit zeigen. Diese Übereinstimmung aber steht zu jener Verwirrung im Widerspruch, die beim Bau von Babel vom Himmel stürzte. (3) Die Meister der drei Sprachen nämlich stimmen in vielen [ Wörtern] überein, und am meisten beim Wort ‚amor‘.



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Gerhard von Bornelh: Si-m sentis fezelz amics, per ver encusera amor. (Wenn ich mich als treuer Freund fühlte, wahrhaftig ich würd Amor verklagen.) Der König von Navarra: De fin amor si vient sen et bonté. (Von reiner Liebe kommt Weisheit und Güte.) Messer Guido Guinizelli: Né fe’ amor prima che gentil core, né gentil [cor] prima che amor natura. (Weder schuf die Natur die Liebe vor dem edlen Herzen, noch das edle Herz vor der Liebe.) (4) Warum aber das ursprüngliche [Idiom] sich dreigeteilt hat, wollen wir untersuchen; und warum sich jede dieser Varianten selbst noch in sich unterscheidet, nämlich das Sprechen der rechten [Seite] Italiens von derjenigen der linken – denn anders sprechen die Paduaner und wieder anders die Pisaner –; und weshalb jene, die näher beieinander wohnen, bis heute im Sprechen voneinander abweichen wie die Mailänder und Veronesen, Römer und Florentiner und in der Tat auch diejenigen, die der Herkunft nach demselben Geschlecht angehören wie die Bewohner von Neapel und von Gaëta und die Bewohner von Ravenna und von Faenza, und was noch mehr verwundert, jene, die in derselben Stadt wohnen wie die Bologneser der Vorstadt San Felice und die Bologneser der Stadtmitte. (5) Warum alle diese Unterschiede und Verschiedenheiten in der Sprache vorkommen, wird durch ein und denselben Grund klar werden. (6) Wir behaupten nämlich, daß keine Wirkung ihre Ursache übertrifft, insofern sie Wirkung ist, denn nichts kann be-

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wirken, was es nicht ist. Da aber alle unsere Sprachen – außer jener, die Gott zusammen mit dem ersten Menschen erschaffen hat – nach jener Verwirrung, die nichts anderes war als das Vergessen der früheren [Sprache], nach unserem Gutdünken neu gebildet wurden und da der Mensch ein äußerst unstetes und veränderliches Lebewesen ist, können sie weder dauerhaft noch beständig sein, sondern müssen sich wie anderes, was zu uns gehört, zum Beispiel Sitten und Gebräuche, aufgrund des Abstandes von Ort und Zeit verändern. (7) Und ich meine, es sollte darüber, daß wir „der Zeit“ gesagt haben, kein Zweifel aufkommen, sondern ich glaube vielmehr, daß daran festzuhalten ist: Denn wenn wir unsere anderen Handlungen prüfen, so scheinen wir von unseren frühesten Mitbürgern weit mehr abzuweichen als von weit entfernten Zeitgenossen. Deshalb bezeugen wir kühn, daß die frühesten Bewohner von Pavia, wenn sie nun auferstehen würden, mit den heutigen in verschiedener oder gegensätzlicher Sprache reden würden. (8) Was wir sagen, ist nicht erstaunlicher, als wenn wir einen Jüngling wahrnehmen, der erwachsen geworden ist und den wir nicht haben aufwachsen sehen. Denn was sich nur nach und nach bewegt, wird von uns am wenigsten wahrgenommen, und je mehr Zeit es erfordert, die Veränderung einer Sache wahrzunehmen, für desto unveränderlicher halten wir jene Sache. (9) Wir wundern uns also nicht, wenn die Menschen, die sich nur wenig von den Tieren unterscheiden, der Meinung sind, das Gemeinschaftsleben in einer bestimmten Stadt habe sich immer in einer unveränderlichen Sprache vollzogen, da die Veränderung der Sprache einer Stadt auch über einen äußerst langen Zeitraum nur gering und das Leben der Menschen seiner Natur gemäß sehr kurz ist. (10) Wenn sich also, wie gesagt wurde, bei demselben Geschlecht die Sprache im Laufe der Zeit nach und nach verändert



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und in keiner Weise stillstehen kann, ist es notwendig, daß sie sich bei getrennt und entlegen Wohnenden auf verschiedene Weise verändert, wie auch die Sitten und Gewohnheiten sich auf verschiedene Weise verändern, die weder von der Natur noch durch Übereinkunft festgesetzt werden, sondern gemäß menschlichem Gutdünken und entsprechend den örtlichen Gegebenheiten entstehen. (11) Dies bewegte die Erfinder der Grammatik: Die Grammatik ist nämlich nichts anderes als eine gewisse in verschiedenen Zeiten und Orten unveränderliche Identität des Sprechens. Da diese durch allgemeine Übereinstimmung vieler Leute geregelt wurde, scheint sie keinem einzelnen Willen unterworfen und kann folglich nicht veränderlich sein. Sie erfanden also [die Grammatik], weil wir sonst die Lehren und Taten der Alten oder derjenigen, die sich durch die Verschiedenheit der Orte von uns unterscheiden, wegen der Veränderung der vom freien Wollen einzelner abhängigen, unbeständigen Rede nicht oder mindestens nur unvollkommen verstehen könnten. • x. Da unser gegenwärtiges Idiom, wie oben gesagt wurde, dreiteilig ist, zögern wir beim Vergleich, insofern es dreistimmig geworden ist, und wägen mit großer Scheu ab und wagen nicht, diesen oder jenen Teil im Vergleich vorzuziehen, es sei denn aufgrund des Umstandes, daß die Begründer der [lateinischen] Grammatik ‚sic‘ als Adverb der Bejahung angenommen haben; was den Italienern, die sì sagen, einen gewissen Vorrang zu geben scheint. (2) Ein jeder der Teile nämlich hat zahlreiche Zeugnisse vorzuweisen: Die Sprache oïl nimmt für sich in Anspruch, daß alles, was in volkssprachlicher Prosa festgehalten oder erfunden worden ist, ihr angehöre, wegen der leichteren und erfreulicheren Beschaffenheit ihrer Volkssprache, nämlich die Bibel zusammen mit den Heldentaten der Trojaner und der Römer

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und die schönsten Epen des König Artus und so viele andere Geschichts- und Lehrbücher. (3) Die andere aber, nämlich die [Sprache] des oc, führt zu ihren Gunsten an, daß die volkssprachlichen Poeten zuerst in ihr gedichtet haben, gleichsam in einer vollkommeneren und süßeren Sprache, wie zum Beispiel Peire d’Alverne und andere ältere Meister. (4) Die dritte aber, die Sprache der Italiener, nimmt auf Grund von zwei Vorzügen für sich in Anspruch, die überlegene zu sein: Erstens: In ihr sind die Poeten zu Hause, die am süßesten und feinsten in der Volkssprache gedichtet haben, zum Bei­spiel Cino da Pistoia und sein Freund. Zweitens: Sie stützt sich offenbar mehr auf die gemeinsame [lateinische] Grammatik. Letzteres scheint denen, die vernünftig prüfen, ein sehr gewichtiges Argument. (5) Wir aber geben darüber kein Urteil ab und beschränken unsere Abhandlung auf die italienische Volkssprache. Wir bemühen uns, die Unterschiede zu beschreiben und miteinander zu vergleichen, die in ihr entstanden sind. (6) Wir sagen also zuerst, daß Italien in eine rechte und linke [Hälfte] zweigeteilt ist. Wenn aber jemand nach der Trennungslinie fragt, so antworten wir kurz, diese sei der Gebirgszug des Apennin. Zu den beiden Küsten hin durch lange Hohlziegel rinnt das Wasser, so wie es ein Dachgiebel aus Ton je nach verschiedenen Dachrinnen abfließen läßt, wie Lukan im zweiten [Buch] beschreibt: Die rechte Seite hat das Tyrrhenische Meer als Abflußbecken, die linke aber ergießt sich in das Adriatische [Meer]. (7) Und die Regionen der rechten [Seite] sind Apulien, aber nicht das ganze, Rom, das Herzogtum [Spoleto], die Toskana und die Mark Genua; [die Regionen] der linken [Seite] aber: ein Teil Apuliens, die Mark Ancona, die Romagna, die Lombardei und die Mark Treviso mit Venedig. Das Friaul und Istrien können nur dem linksseitigen Italien angehören und die Inseln



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des Tyrrhenischen Meers, nämlich Sizilien und Sardinien, nur dem rechtsseitigen Italien oder sind dem rechtsseitigen Italien zuzuordnen. (8) Auf beiden Seiten und in den ihnen zufallenden [Gebieten] unterscheiden sich die Sprachen der Menschen: Auf diese Weise unterscheidet sich die Sprache der Sizilianer von jener der Apulier, die der Apulier von jener der Römer, die der Römer von jener der Bewohner von Spoleto, ihre Sprache von jener der Toskaner, [die Sprache] der Toskaner von jener der Genuesen, die der Genuesen von jener der Sarden, und die der Kalabresen von jener der [Bewohner von] Ancona, diese von jener der [Bewohner der] Romagnola, [deren Sprache] von jener der Lombarden, die der Lombarden von jener der Trevisaner und der Venezianer, diese von jener der Aquileier, und [die Sprache] dieser von jener der Istrier. Diesbezüglich, glauben wir, kann kein Italiener anderer Meinung sein als wir. (9) Daher scheint allein schon Italien in mindestens vierzehn Volkssprachen aufgeteilt zu sein. All diese Volkssprachen unterscheiden sich auch noch in sich selbst, wie zum Beispiel in der Toskana jene der [Bewohner von] Siena und die der [Bewohner von] Arezzo, in der Lombardei jene der [Bewohner von] Ferrara und die der [Bewohner von] Piacenza; und wir stellen sogar in ein und derselben Stadt eine gewisse Vielfalt fest, wie wir oben im unmittelbar vorangehenden Kapitel dargelegt haben. Wenn wir also die ersten und die zweitrangigen sowie die weiteren Verschiedenheiten der Volkssprache Italiens ermitteln wollten, so dürften wir bereits für diesen kleinsten Winkel der Welt nicht nur auf tausend Verschiedenheiten der Sprache kommen, sondern auf viele mehr. • xi. Wie groß die Zahl der Variationen der italienischen [ Volkssprache] auch sein mag, wir wollen die anmutigere und erlauchte Sprache Italiens aufspüren. Und damit wir für unsere

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Jagd einen wegsamen Pfad haben, wollen wir zuerst die verschlungenen Sträucher und Dornen im Wald ausreißen. (2) Wie also die Römer wähnen, sie seien allen andern überlegen, wollen wir sie bei dieser Ausrottung oder Zerpflückung verdientermaßen den andern vorziehen und verkünden, daß sie in keiner Erörterung der volkssprachlichen Beredsamkeit zu berücksichtigen sind. Wir behaupten nämlich, daß die Volkssprache, besser der traurige Jargon der Römer, von allen italienischen Volkssprachen die abscheulichste sei; und dies ist nicht verwunderlich, da sie durch Verunstaltung der Sitten und Gebräuche mehr als alle andern Ekel zu verursachen scheinen. Sie sagen nämlich: Messure, quin to dici? (Mein Herr, was sagst Du?). (3) Nach diesen wollen wir die Bewohner der Mark Ancona aussondern, die Chignamente state siate? (Wie ist es Euch ergangen?) sagen; mit diesen werfen wir auch die Spoletaner weg. (4) Und es soll nicht übergangen werden, daß zum Spott dieser drei Geschlechter viele Lieder erfunden worden sind: Unter denen wir ein richtig und vollkommen gebundenes angetroffen, das ein gewisser Florentiner mit Namen Castra gedichtet hat: Es fing folgendermaßen an: Una fermana scopai da Cascioli, / cita cita se ’n grande aina. (Eine Frau aus Fermo entdeckte ich bei Cascioli, schnell, schnell eilte sie in großer Hast.) (5) Nach diesen wollen wir die Mailänder und Bergamasken sowie deren Nachbarn wegschaffen, zu deren Verspottung, wie wir uns erinnern, jemand gesungen hat: Enter l’ora del vesper, ciò fu del mes d’ochiover. (Zur Abendstunde, es war im Monat Oktober). (6) Nach diesen wollen wir die Aquileier und die Istrier durchsieben, die Ces fas-tu? (was machst du?) mit entsetzlicher Beto­



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nung ausrülpsen. Und mit diesen werfen wir alle Berg- und Bauernmundarten hinaus, wie die der Bewohner des Casentino und von Fratta, die durch die Unregelmäßigkeit der Betonung im Vergleich zu den Stadtbewohnern schon immer Mißklänge zu erzeugen schienen. (7) Auch die Sarden wollen wir hinauswerfen, die nicht selbst Italiener, aber den Italienern anzugliedern sind, da sie als einzige ohne eigene Volkssprache zu sein scheinen und die Grammatik nachahmen wie die Affen die Menschen: denn sie sagen domus nova (neues Haus) und dominus meus (mein Herr). • xii. Nachdem wir die italienischen Volkssprachen in gewisser Weise gesiebt haben, wollen wir vergleichen, was im Sieb zurückgeblieben ist, und kurz diejenige heraussuchen, die mehr Ehre besitzt und mehr Verehrung verdient. (2) Und zuerst wollen wir am Sizilianischen den Geist auf die Probe stellen, denn die sizilianische Volkssprache scheint vor den andern Ruhm für sich in Anspruch zu nehmen, weil alles, was die Italiener dichten, sizilianisch genannt wird, und weil wir dort viele einheimische Gelehrte finden, die gehaltvoll gedichtet haben, wie zum Beispiel in jenen Liedern Ancor che l’aigua per lo foco lassi (Wenngleich das Wasser gegen das Feuer einbüßt),  und Amor, che lungiamente m’hai menato (Amor, der du mich lange Zeit geführt hast). (3) Aber wenn wir richtig schauen, worauf das Zeichen hindeutet, ist von diesem Ruhm der Trinakrischen Erde offenbar nur die Schmach der italienischen Fürsten übriggeblieben, die plebejisch, nicht heroisch dem Hochmut frönen. (4) Die erlauchten Helden aber, Kaiser Friederich und sein

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wohlgeborener Manfred, bewiesen den Adel und die Geradheit ihrer Seele und folgten dem Menschlichen, das Tierische verachtend, solange es das Schicksal erlaubte. Darum bemühten sich Edelmütige und Begnadete um die Erhabenheit solch großer Fürsten, so daß das, was auch immer die hervorragenden Geister Italiens ihrer Zeit hervorbrachten, zuerst am Hof dieser großen gekrönten Häupter in Erscheinung trat; und weil Sizilien Königssitz war, kam es, daß, was auch immer unsere Vorfahren in der Volkssprache verfaßten, sizilianisch genannt wird. Das wollen auch wir beibehalten, und das werden auch unsere Nachfahren nicht ändern können. (5) „Racha, racha!“ Heutzutage rufen die Trompete des letzten Friederich, die Schelle des zweiten Karl, die Hörner des Johannes und des Azzo, der mächtigen Markgrafen, auch die Flöten der andern Potentaten, gar nichts anderes mehr als: „Kommt, Schinder, kommt Doppelspieler, kommt Genossen der Habgier!“ (6) Es ist aber besser, zur Sache zurückzukehren, als nutzlos zu reden. Und wir sagen, daß die sizilianische Volkssprache, wenn wir sie danach beurteilen wollen, wie sie die einheimischen Leute minderen Standes sprechen, nach deren Mundart das Urteil zu fällen ist, der Ehre des Vorzugs am wenigsten würdig ist, da sie nicht ohne einen gewissen Zeitaufwand ausgesprochen wird; wie zum Beispiel da: Tragemi d’este focora se t’este a bolontate. (Befreie mich von diesem Feuer, wenn es dein Wille ist.) Wenn wir aber jene [Sprache] nehmen wollen, so wie sie aus dem Mund der vornehmsten Sizilianer hervorgeht, wie aus den erwähnten Liedern entnommen werden kann, unterscheidet sie sich in nichts von jener lobenswertesten [ Volkssprache], wie wir weiter unten zeigen werden. (7) Auch die Apulier verwenden, sowohl wegen ihrer Derbheit als auch wegen des Kontakts mit ihren Nachbarn, den Rö-



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mern und den Bewohnern der Mark, eine häßlich barbarische Sprache. Sie sagen nämlich: Bòlzera che chiangesse lo quatraro. (Ich wollte, daß der Knabe weinte.) (8)  Obwohl aber die ortsansässigen Apulier im allgemeinen ekelhaft sprechen, haben doch einige Herausragende unter ihnen gehoben gesprochen und in ihre Lieder eine höfischere Wortwahl einfließen lassen, was bei genauem Lesen ihrer Gedichte deutlich wird, wie zum Beispiel: Madonna, dir vi voglio (Herrin, ich will Euch sagen),  und Per fino amore vo si letamente (In reiner Liebe geh ich froh). (9) Deshalb muß denen, die das oben Gesagte zur Kenntnis nehmen, einleuchten, daß weder das Sizilianische noch das Apulische die schönste Volkssprache Italiens ist, da wir gezeigt haben, daß die einheimischen Sprachmeister von ihrer eigenen [ Volkssprache] abwichen. • xiii. Nach diesen kommen wir zu den Toskanern, die wegen ihres Wahns unerträglich sind und für sich den Titel der erlauchten Volkssprache in Anspruch nehmen. Und nicht nur die Meinung des niederen Volkes ist diesbezüglich unsinnig, sondern wir erfahren von sehr vielen berühmten Männern, daß sie daran festhielten, zum Beispiel Guido von Arezzo, der sich niemals der höfischen Volkssprache zuwandte, Bonagiunta von Lucca, Gallo von Pisa, Mino Mocato von Siena und Brunetto von Florenz, deren Gedichte, wenn wir uns die Zeit nehmen, sie genau zu untersuchen, nicht für höfisch, sondern nur für städtisch befunden werden. Und da die Toskaner mehr als die

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andern in dieser Trunkenheit schwelgen, scheint es würdig und nützlich, die städtischen Volkssprachen der Toskaner einzeln in ihrem Prunkgehabe bloßzustellen. (2) Es sprechen die Florentiner und sagen: Manichiamo introcque, che noi non facciamo altro. (Fressen wir, solange wir nichts anderes zu tun haben.) Die Pisaner: Bene andonno li fatti de Fiorensa per Pisa. (Gut gingen die florentinischen Angelegenheiten für Pisa.) Die Einwohner von Lucca: Fo voto a Dio ke in grassarra eie lo comuno de Lucca. (Ich schwöre bei Gott, daß die Stadt Lucca in der Butter­ woche ist.) Die Einwohner von Siena: Onche renegata avess’io Siena. Ch’ee chesto? (Ich soll Siena verleugnet haben. Was ist das?) Die Einwohner von Arezzo: Vuo’tu venire ovelle? (Willst du irgendwohin kommen?) Von Perugia, Orvieto, Viterbo und Civita Castellana beabsichtigen wir wegen der Nähe zu den Römern und Spoletanern nichts zu sagen. (3) Aber obschon fast alle Toskaner in ihrer Schauersprache abgestumpft sind, so meinen wir doch, daß einige den Vorrang der Volkssprache erfaßt haben, nämlich die Florentiner Guido, Lapo und ein anderer, und Cino von Pistoia, den wir nun unwürdigerweise als letzten nennen, aus einem nicht unwürdigen Grund dazu gezwungen. (4) Wenn wir also die Toskanischen Sprachen untersuchen und erwägen, auf welche Weise die hochgeehrten Männer von



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der eigenen [Sprache] abgewichen sind, so besteht kein Zweifel, daß die Volkssprache, die wir suchen, eine andere ist, als diejenige, die das Toskanische Volk zu sprechen imstande ist. (5) Wenn aber jemand glauben sollte, was wir von den Toskanern behaupten, gelte nicht für die Genuesen, der möge sich vor Augen halten, daß die Genuesen, wenn sie aus Unachtsamkeit den Buchstaben z weglassen würden, entweder ganz verstummen oder sich eine neue Sprache erwerben müßten. Das z ist nämlich der wichtigste Teil ihres Sprechens, und dieser Buchstabe wird nicht ohne große Härte ausgesprochen. • xiv. Jetzt passieren wir die belaubten Schultern des Apennin und wollen, von Osten her, die linke Seite Italiens gründlich auskundschaften, wie wir es gewohnt sind. (2) Wenn wir also die Romagna betreten, so sagen wir, daß sich in Italien zwei Volkssprachen finden, die sich in gewissen sich entsprechenden Gegensätzen unterscheiden. Eine von ihnen scheint wegen der Weichheit der Wörter und der Aussprache derart weibisch, daß sie einen Mann, auch wenn [seine Stimme] männlich klingt, dennoch als Frau erscheinen läßt. (3) Diese [Sprache] sprechen alle Romagnolen und besonders die Forlier, deren Stadt, obgleich sie die letzte ist, dennoch der Mittelpunkt der ganzen Provinz zu sein scheint. Diese bejahen mit deusci (bei Gott ja) und oclo mea (mein Augapfel) sowie corada mea (mein Herzchen), um zu schäkern. Von ihnen, hören wir, sind einige in ihrer Dichtung von der eigenen [ Volkssprache] abgewichen, nämlich die Faventiner Tommaso [di Faeza] und Ugolino Bucciòla. (4) Und die andere [ Volkssprache] ist, wie gesagt wurde, in Wörtern und Betonung derart borstig und ungeglättet, daß sie wegen ihrer ungehobelten Rauheit eine sprechende Frau nicht nur entstellt, sondern daß Du, Leser, zweifeln würdest, ob es sich nicht um einen Mann handelt.

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(5) Dies ist die Sprache all jener, die magara (vielleicht) sagen, nämlich die Brescianer, die Veronesen und die Vicentiner; und auch die Paduaner, die häßlich alle Partizipien auf -tus und alle Nomina auf -tas verkürzen, wie mercò und bontè. Mit diesen führen wir die Trevisaner an, die wie die Brescianer und ihre Nachbarn das konsonantische u verkürzend als f aussprechen, wie zum Beispiel nof anstatt novem und vif anstatt vivo, was wir als äußerst barbarisch ablehnen. (6) Auch die Venezianer erweisen sich der Ehre der gesuchten Volkssprache nicht würdig; und wenn jemand von ihnen dem Irrtum verfallen würde, sich dessen zu brüsten, so erinnere er sich, ob er je gesagt habe: Per le plaghe di Dio tu no verras. (Bei Gottes Wunder, du wirst nicht kommen.) (7) Unter all diesen hörten wir einen, der danach strebte, sich von der Muttersprache abzuwenden, und sich um die höfische Volkssprache bemühte, nämlich Aldebrandino Mezzabati. (8) Für alle im vorliegenden Kapitel zum Urteil antretenden [ Volkssprachen] entscheiden wir daher, daß weder das Romagnolische noch, wie gesagt, sein Gegenüber, noch das Venezianische jene erlauchte Volkssprache ist, die wir suchen. • xv. Was aber vom italienischen Wald noch übrig ist, wollen wir eilend zu durchforschen versuchen. (2) Wir sagen also, daß diejenigen vielleicht nicht schlecht urteilen, die behaupten, die Bologneser redeten in schönerer Sprache, da sie von den sie umgebenden [ Bewohnern von] Imola, Ferrara und Modena etwas in die eigene Volkssprache aufnehmen, was, so vermuten wir, alle mit ihren Nachbarn tun, wie Sordello es hinsichtlich seiner Stadt Mantua zeigt, die an Cremona, Brescia und Verona angrenzt: Dieser, in der Beredsamkeit so treffliche Mann, hat nicht nur beim Dichten, son-



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dern auch bei jeglicher Art des Sprechens die Volkssprache des Vaterlandes verlassen. (3) Die vorhergenannten Bürger übernahmen nämlich von den [Bewohnern von] Imola die Sanftheit und die Weichheit, von denjenigen von Ferrara aber und Modena eine gewisse Geschwätzigkeit, die den Lombarden eigen ist: Diese, glauben wir, war den Einheimischen aus der Vermischung mit den Langobardischen Ankömmlingen geblieben. (4) Und dies ist die Ursache, warum wir unter den [Bewohnern von] Ferrara, Modena oder Reggio niemanden finden, der gedichtet hat: An die eigene Geschwätzigkeit gewöhnt, können sie in keiner Weise ohne eine gewisse Herbheit zur königlichen Volkssprache kommen. Was noch viel mehr auf die [Bewohner von] Parma zutrifft, die monto statt multo sagen. (5) Wenn also die Bologneser von zwei Seiten her etwas empfangen, wie gesagt wurde, so scheint es vernünftig, daß ihre Sprache dank der Vermischung der Gegensätze, wie gesagt, in lobenswertem Wohlklang gemäßigt bleibt; was unserem Urteil gemäß sich ohne Zweifel so verhält. (6) Wenn daher diejenigen, die hinsichtlich der volkssprachlichen Redeweise [die Bologneser] voranstellen, nur die städtischen Volkssprachen Italiens vergleichend betrachten, so stimmen wir bereitwillig mit jenen überein; wenn sie aber meinen, die Bolognesische Volkssprache sei schlechthin vorzuziehen, so sind wir anderer Meinung und weichen von ihnen ab. Sie ist nämlich nicht das, was wir höfisch und erlaucht nennen: Denn wäre sie es, so wären der herausragende Guido Guinizelli, Guido Ghislieri, Fabruzzo und Honesto und andere Dichter Bolognas nie von der eigenen [ Volkssprache] abgewichen: diese Gelehrten waren erlaucht und geübt in der Unterscheidung der Volkssprachen. Es schrieb der herausragende Guido: Madonna, lo fino amore ch’io vi porto. (Meine Herrin, die reine Liebe, die ich Euch bringe).

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Guido Ghislieri: Donna, lo fermo core. (Herrin, das starke Herz). Fabruzzo: Lo meo lontano gire. (Mein weites Schweifen). Onesto: Più non attendo il tuo soccorso, Amore. (Länger wart ich nicht auf deine Hilfe, Liebe.) Diese Ausdrücke sind völlig verschieden von denen, die in der Stadtmitte Bolognas geläufig sind. (7) Da wir annehmen, daß betreffs der verbleibenden Städte an den Grenzen Italiens niemand Zweifel hegt – und wenn jemand zweifelt, halten wir ihn unserer Erwägung nicht für würdig –, so bleibt in unserer Erörterung wenig zu sagen. Begierig, das Sieb niederzulegen, um das darin Verbliebene schnell durchzusehen, sagen wir daher, daß die Städte Trient und Turin und auch Alessandria den Grenzen Italiens so nahe liegen, daß sie keine reinen Sprachen haben können; und hätten sie auch eine in höchstem Maße schöne Volkssprache, wie sie die in höchstem Maße häßliche besitzen, so müßten wir doch wegen der Vermischung mit den andern verneinen, daß sie wahrhaftig die italienische [Sprache] sei. Wenn wir das erlauchte Italienisch erjagen, können wir daher, wonach wir auf der Jagd sind, nicht bei jenen finden. • xvi. Jetzt haben wir Waldgebirge und Weiden Italiens durchjagt, aber den Panther, den wir suchen, nicht aufgespürt. Um ihn zu finden, wollen wir vernünftiger vorgehen, um ihn, der seine Duftmarke überall hinterläßt, aber nirgends erscheint, mit letztem Eifer in unser Netz zu kriegen.



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(2) So nehmen wir also unsere Jagdwaffe wieder auf und sagen: In jeder Gattung der Dinge muß es eines geben, mit dem alle Wesen dieser Gattung verglichen und gemessen werden und von dem wir das Maß aller anderen nehmen. So wird bei Zahlen alles durch die Eins gemessen. Es heißt „viel“ oder „wenig“, je nachdem es sich von der Eins entfernt oder sich ihr annähert. So werden alle Farben durch das Weiß bestimmt, denn sie heißen mehr oder weniger „hell“, je nachdem sie vom Weiß abweichen oder sich ihm nähern. Und was wir von denen aussagen, die Quantität und Qualität aufweisen, glauben wir auch von jedweder Kategorien, sogar von der Substanz aussagen zu können: nämlich daß jedes [Seiende], insofern es zu einer Gattung gehört, meßbar sei durch das in derselben Gattung Einfachste. (3)  Deshalb muß in unseren Handlungen, mögen sie auch in viele Arten aufgeteilt sein, jenes Kriterium gefunden werden, durch das sie selbst gemessen werden. Denn insofern wir als Menschen schlechthin handeln, haben wir die Tugend, wie wir sie allgemein verstehen: denn gemäß jener beurteilen wir den Menschen als gut oder schlecht; insofern wir als Bürger handeln, haben wir das Gesetz, nach dem der Bürger gut oder schlecht genannt wird; insofern wir als Italiener handeln, haben wir gewisse einfachste Kriterien der Sitten, Gebräuche und des Sprechens, mit denen die italienischen Handlungen gewogen und gemessen werden. (4)  Die edelsten Handlungen der Italiener also sind keiner Stadt Italiens eigen, sondern sie sind allen gemeinsam: Unter diesen kann nun jene Volkssprache gefunden werden, nach der wir oben jagten, die in jeder Stadt ihre Fährte hinterläßt und in keiner wohnt. (5) Sie kann dennoch in einer mehr als in einer andern ihre Spur hinterlassen, so wie die einfachste Substanz, die Gott ist, im Menschen ihre Spur mehr hinterläßt als im Tier, im Tier mehr als in der Pflanze, in dieser mehr als im Gestein, in diesem mehr als im Element, im Feuer mehr als in der Erde; und die

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einfachste Quantität, das Eine, hinterläßt ihre Spur mehr in der ungeraden Zahl als in der geraden; und die einfachste Farbe, das Weiß, hinterläßt seine Spur mehr im Gelb als im Grün. (6) Deshalb haben wir erlangt, was wir suchten, und nennen jene Volkssprache die erlauchte, richtungweisende, königliche und höfische in Italien, die jeder italienischen Stadt zukommt und doch keiner eigen zu sein scheint und mit der alle städtischen Volkssprachen der Italiener gemessen, gewogen und verglichen werden. • xvii. Warum wir das Gefundene zusätzlich erlaucht, richtungweisend, königlich und höfisch nennen wollen, muß jetzt aber dargelegt werden; wir machen dadurch klarer, was es selbst ist. (2) Zuerst also wollen wir enthüllen, was wir meinen, wenn wir es als erlaucht bezeichnen und warum wir „erlaucht“ sagen. Wenn wir nämlich „erlaucht“ sagen, verstehen wir darunter etwas Erleuchtendes und etwas als Erleuchtetes Erstrahlendes: Auf diese Weise nennen wir Männer erlaucht, weil sie entweder durch Macht erleuchtet andere mit Gerechtigkeit und Nächstenliebe erleuchten, oder weil sie wie Seneca und Numa Pompilius vortrefflich ausgebildet vortrefflich führen. Und die Volkssprache, von der wir sprechen, ist sowohl hoch erhaben in Führung und Macht und erhöht die Ihren mit Ehre und Ruhm. (3) Sie erscheint nämlich in Führung erhaben, da wir sie aus so vielen rohen Wörtern der Italiener, aus so vielen wirren Satzgefügen, aus so viel fehlerhafter Aussprache, aus so vielen bäurischen Betonungen, als so herausragende und so erlesene, so vollkommene und so urbane [ Volkssprache] erwählt sehen, wie Cino von Pistoia und sein Freund in ihren Liedern zeigen. (4)  Daß sie aber durch Macht erhöht ist, ist offensichtlich. Was ist von größerer Macht als das, was die menschlichen Herzen umstimmen kann, indem es den Unwilligen willig und den Willigen unwillig macht, wie die [ Volkssprache] selbst es getan hat und tut?



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(5) Daß sie aber durch die Ehre sich auszeichnet, ist augenfällig. Überragen denn nicht jegliche Könige, Markgrafen, Grafen und Machthaber ihre Diener dank ihrer Berühmtheit? Dies bedarf kaum eines Beweises. (6)  Wie sehr [diese Volkssprache] aber ihre Vertrauten berühmt macht, wissen wir selbst, die wir ob der Süße solchen Ruhms unser Exil vergessen. (7) Daher müssen wir sie mit Recht als erlaucht preisen. • xviii. Es geschieht nicht ohne Grund, daß wir jene erlauchte Volkssprache mit einem zweiten Beiwort schmücken, indem wir sie richtungweisend nennen. Denn so wie das ganze Tor sich nach seiner Angel richtet, sich mit der Angel wendend entweder nach innen oder nach außen schwingt, so wendet und kehrt, so bewegt sich und ruht die ganze Schar der städtischen Volkssprachen nach dem Maß jener [Volkssprache], die wie ein wahres Familienoberhaupt zu sein scheint. Reißt sie nicht täglich die dornigen Sträucher des italienischen Waldes aus? Setzt sie nicht täglich Pflanzen oder besorgt den Garten? Was tun denn ihre Ackersleute anderes als Wegnehmen und Hinzufügen, wie gesagt wurde? Darum verdient es [diese Volkssprache] durchaus, mit einer so edlen Bezeichnung geschmückt zu werden. (2) Daß wir [diese Volkssprache] königlich nennen, hat seinen Grund darin, daß sie, hätten wir in Italien einen Königshof, die Hofsprache wäre. Denn wenn der Hof das gemeinsame Haus des ganzen Königreichs und der ehrwürdige Lenker aller Teile des Königreichs ist, so ist es angemessen, daß, was allen gemeinsam und keinem einzelnen eigen ist, in ihm verkehrt und wohnt; und keine andere Stätte ist einer solchen Bewohnerin würdig: diese freilich ist jene Volkssprache, von der wir sprechen. (3) Deshalb sprechen jene, die an den königlichen Höfen verkehren, immer die erlauchte Volkssprache; daher kommt es,

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daß unsere erlauchte [ Volkssprache] wie eine Fremde umherirrt und nur in niedrigen Stätten Zuflucht findet, weil wir keinen Königshof haben. (4) Sie ist aber auch mit Recht höfisch zu nennen, da das höfische Benehmen nichts anderes ist als eine ausgewogene Regel der Handlungen: Und da die Waage für ein solches Abwägen sich nur an den herausragendsten Höfen zu befinden pflegt, so ist all das, was in unseren Handlungen ausgewogen ist, höfisch zu nennen. Da aber diese [ Volkssprache] am herausragendsten Hof der Italiener abgewogen wird, verdient sie es, höfisch genannt zu werden. (5) Aber wenn wir sagen, daß sie am herausragendsten Hof Italiens abgewogen wird, so scheint dies dummes Geschwätz zu sein, da wir keinen Hof haben. Worauf leicht zu antworten ist. Denn obschon es einen vereinten Hof, wie den Hof des Königs von Deutschland, in Italien nicht gibt, so fehlen doch seine Teile nicht; und wie die Teile jenes [Hofes] durch einen Fürsten geeint werden, so werden die Teile dieses [Hofes] durch das gnädige Licht der Vernunft geeint. Daher wäre es falsch zu sagen, Italien habe keinen Hof, denn obschon wir keinen Fürsten haben, so haben wir doch einen Hof, mögen auch seine körperlichen Teile zerstreut sein. • xix. Als jene Volkssprache aber, die als erlaucht, richtungweisend, königlich und höfisch aufgezeigt wurde, bezeichnen wir diejenige, die italienische Volkssprache genannt wird. Denn so wie es eine Volkssprache gibt, die Cremona eigen ist, so gibt es eine, die der Lombardei eigen ist; und so wie eine zu finden ist, die der Lombardei eigen ist, so ist eine zu finden, die der ganzen linken Hälfte Italiens eigen ist; und so wie all diese gefunden werden können, so kann auch jene gefunden werden, die ganz Italien eigen ist. Und so wie diese Cremonesisch und jene Lombardisch und die dritte halb-italienisch genannt wird, so wird diese, diejenige, die ganz Italien eigen ist, italienische Volks-



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sprache genannt. Dieser nämlich bedienten sich die erlauchten Gelehrten, die in Italien in der Volkssprache gedichtet haben, zum Beispiel Sizilianer, Apulier, Toskaner, Romagnolen, Lombarden und Männer der beiden Marken. (2) Und da es unsere Absicht ist, die Lehre der volkssprachlichen Beredsamkeit zu vermitteln, wie wir zu Beginn dieses Werkes versprochen haben, beginnen wir bei ihr [der erlauchten Volkssprache] selbst, gewissermaßen der hervorragendsten, und werden in den unmittelbar folgenden Büchern erörtern, wen wir für würdig halten, sie zu gebrauchen, und wozu, auf welche Weise, wo, wann und an wen sie zu richten sei. (3) Ist dies einmal geklärt, werden wir die niedereren Volkssprachen zu erhellen trachten, stufenweise hinabsteigend bis zu dem, was einer einzigen Familie eigen ist.

DAS GASTMAHL

(Convivio) Übersetzt von Thomas Ricklin

Erstes Buch i. Wie der Philosoph zu Beginn der Metaphysik sagt, wünschen alle Menschen von Natur aus zu wissen. Der Grund hiervon könnte sein und ist, daß jedes Ding, von der Vorsehung der ersten Natur geprägt, zu seiner eigenen Vervollkommnung neigt; weswegen, da die Wissenschaft, in der unser höchstes Glück besteht, die letzte Vervollkommnung unserer Seele ist, wir alle von Natur aus dem Verlangen nach ihr unterworfen sind. (2) In Wahrheit sind viele [Menschen] dieser edelsten Vervollkommnung wegen verschiedener Ursachen, die im Menschen selbst und außerhalb seiner, ihn vom Habitus zur Wissenschaft entfernen, beraubt. (3) Im Innern des Menschen können zwei Mängel und Hindernisse sein: Das eine von seiten des Körpers, das andere von seiten der Seele. Seitens des Körpers [besteht ein Hindernis], wenn die Teile ungenügend veranlagt sind, so daß er nichts empfangen kann, wie es bei Tauben und Stummen und ihnen Ähnlichen der Fall ist. Seitens der Seele [besteht ein Hindernis], wenn die Bosheit in ihr die Oberhand gewinnt, so daß sie sich zur Anhängerin lasterhafter Freuden macht, in denen sie so viel Täuschung erfährt, daß sie dadurch alles für niederträchtig hält. (4) Außerhalb des Menschen können ebenso zwei Ursachen ausgemacht werden, deren eine sich aus Notwendigkeit ergibt, die andere aus Faulheit. Die erste ist die Sorge um die Familie und um die Gemeinschaft, die gebührenderweise die größte Zahl der Menschen an sich fesselt, so daß sie nicht in der Ruhe des Betrachtens leben können. Die andere ist der Mangel des Ortes, an dem die Person geboren und ernährt worden ist, so daß eine solche [Person] jetzt nicht nur jedes Studiums beraubt sein dürfte, sondern auch weit entfernt von gelehrten Leuten.

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Das Gastmahl

(5) Zwei dieser Ursachen, d.h. die erste der [inneren und die erste der] äußeren Seite, sind nicht zu tadeln, sondern zu entschuldigen und der Vergebung würdig; die zwei anderen – die eine allerdings mehr – sind des Tadels und der Verabscheuung würdig. (6)  Deutlich kann, wer es recht bedenkt, also sehen, daß wenige übrigbleiben, die zum von allen gewünschten Habitus gelangen können, und daß die Verhinderten, die bezüglich dieser Speise immer hungernd leben, beinahe unzählbar sind. (7) Ach glücklich sind jene wenigen, die an jener Tafel sitzen, wo man das Brot der Engel ißt, und beklagenswert sind jene, die ihre Nahrung mit den Schafen gemein haben! (8) Weil aber jeder Mensch jedem Menschen von Natur aus ein Freund ist und jeden Freund der Mangel bei dem, den er liebt, schmerzt, sind jene, die an dieser erhabenen Tafel gespiesen werden, nicht ohne Barmherzigkeit gegenüber jenen, die sie ständig in einem tierischen Brei Gras und Eicheln essen sehen. (9) Und weil die Barmherzigkeit Mutter der Wohltätigkeit ist, geben jene, die wissen, immer freimütig von ihrem guten Reichtum den wahren Armen und sie sind wie eine lebendige Quelle, an deren Wasser sich der oben erwähnte natürliche Durst labt. (10) Und ich also, der ich nicht an der glückseligen Tafel sitze, sondern vom Brei der großen Menge weggelaufen, zu Füßen jener, die sitzen, zusammenlese, was von ihnen herunterfällt, und der ich das unglückliche Leben jener, die ich hinter mir gelassen, kenne, habe, wegen der Süße, die ich in dem Stück für Stück Zusammengelesenen spüre, durch Barmherzigkeit bewegt, mich selbst nicht vergessend, für die Unglückseligen gewisse Dinge auf bewahrt, die ich, einige Zeit ist es bereits her, ihren Augen vorgeführt habe; und dadurch habe ich veranlaßt, daß sie nach mehr verlangen. (11) Da ich ihnen nun auftragen will, gedenke ich, ein allgemeines Gastmahl zu veranstalten mit jenen Dingen, die ich ihnen gezeigt habe, und mit jenem Brot, das die Voraussetzung für derart beschaffene Speise ist, ohne das sie nicht essen können. (12) Und dies [ist jenes] dieses Bro-



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tes würdige Gastmahl, das aus Speisen besteht, von denen ich denke, daß es vergebens ist sie [nicht] aufzutragen. Aber zu ihm setze sich kein durch seine Organe schlecht ausgestatteter, weil er weder Zähne noch Zunge noch Gaumen hat; noch ein ständiger Gefährte der Laster, denn sein Magen ist voll von entgegengesetzten giftigen Säften, so daß er nie Speise bei sich behalten könnte. (13) Es komme aber jeder, der [wegen der Sorge] um die Familie und um die Gemeinschaft im menschlichen [ Verlangen] hungrig geblieben ist, und er setze sich mit den anderen in ähnlicher Weise Verhinderten an einen Tisch; und zu ihren Füßen sollen sich all jene lagern, die wegen ihrer Faulheit eines höheren Platzes nicht würdig sind: und diese und jene sollen meine Speise, die ich ihnen zubereiten werde, zusammen mit dem Brot nehmen, um sie zu kosten und zu verdauen. (14) Die Speise dieses Gastmahls wird aus vierzehn Gängen bestehen, d.h. aus vierzehn sowohl aus Liebe als auch aus Tugend gebildeten Kanzonen, die ohne dieses Brot wegen gewisser Dunkelheiten Schatten hatten, so daß vielen eher ihre Schönheit als ihre Güte aufgefallen ist. (15) Aber dieses Brot, d.h. die vorliegende Auslegung, wird das Licht sein, das jede Farbe ihrer Aussagen hervortreten lassen wird. (16) Und wenn im vorliegenden Werk, das Gastmahl heißt – und ich will, daß es so genannt wird –, mannhafter vorgegangen wird als im Neuen Leben, so ist es dennoch nicht meine Absicht, jenes in irgendeinem Teil aufzugeben, sondern vielmehr durch dieses jenem zu helfen; es erscheint jenes also vernünftigerweise als feurig und leidenschaftlich, diesem [hingegen] kommt es zu, ausgeglichen und kraftvoll zu sein. (17) Denn anders ziemt es sich, je nach Alter zu sprechen und zu handeln; passend und lobenswert sind im einen Alter gewisse Gewohnheiten, die in einem andern ungehörig und tadelnswert sind, wie weiter unten, im vierten Traktat dieses Werkes mit entsprechenden Gründen vorgeführt werden wird. Und in jenem habe ich früher, auf der Schwelle zu meiner Jugend, gespro-

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chen und in diesem später, [nachdem diese] bereits überschritten war. (18) Und da meine wahre Absicht eine andere war, als die eingangs genannten Kanzonen von außen zeigen, beabsichtige ich, diese durch allegorische Auslegung im Anschluß an die buchstäblich dargelegte Geschichte aufzuzeigen; so wird sowohl der eine wie der andere Gehalt den Eingeladenen das Essen schmackhafter machen. (19)  Alle diese [Eingeladenen] bitte ich, daß, falls das Gastmahl nicht so brillant wäre, wie es seiner Ankündigung entsprechen würde, sie die Mängel nicht meinem Wollen, sondern meinem Vermögen zur Last legen; denn mein Trachten strebt hier nach vollkommener und wahrer Freigebigkeit. •

ii. Zu Beginn jedes wohlgeordneten Gastmahls pflegen die Diener, das dafür vorgesehene Brot zu nehmen und es von jedem Makel zu reinigen. Weswegen ich, der ich in der vorliegenden Schrift den Platz [der Diener] einnehme, diese Auslegung, die in meinem Speiseplan als Brot gilt, zuallererst von zwei Makeln zu reinigen gedenke. (2) Der eine [Makel] besteht darin, daß von sich selbst zu sprechen, nicht erlaubt zu sein scheint; der andere besteht darin, daß es nicht vernünftig scheint, in der Auslegung allzu tiefschürfend zu sprechen; und das Unerlaubte und das Nichtvernunftgemäße reinigt das Messer meines Urteils folgendermaßen. (3) Es ist seitens der Rhetoren nicht erlaubt, ohne zwingenden Grund von sich selbst zu sprechen, und der Grund dafür, daß es dem Menschen verboten ist, liegt darin, daß man über niemanden sprechen kann, ohne daß der Redende jene, von denen er spricht, lobt oder tadelt; und diese zwei Gründe sind im Mund dessen, der von sich selbst spricht, unanständigerweise vorhanden. (4) Und um einen hier auftauchenden Zweifel auszuräumen, sage ich, daß es schlimmer ist zu tadeln als zu loben, wobei allerdings weder das eine noch das andere zu tun ist. Der Grund hierfür ist, daß ein Ding, das an sich zu tadeln ist, häßlicher ist, als jenes [Ding ], das per



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Akzi­dens [zu tadeln] ist. (5) Sich selbst zu verachten, ist an sich genommen tadelnswert, weil ein Mensch seinem Freund seinen Mangel bündig vorrechnen muß, und niemand ist in höherem Maße Freund als ein Mensch sich selbst; weswegen er sich selbst in der Kammer seiner Gedanken zurechtweisen und seine Mängel beweinen muß und nicht öffentlich. (6) Weiter: Wegen des Unvermögens und Nichtwissens bezüglich einer guten Selbstführung wird der Mensch in den meisten Fällen nicht gescholten, aber wegen des Nichtwollens wird er es immer, denn anhand unseres Wollens und unseres Nichtwollens wird die Schlechtigkeit und die Gutheit beurteilt; so bestätigt, wer sich selbst tadelt, die Kenntnis seines Mangels [und] bestätigt, daß er nicht gut ist: deswegen ist es an sich zu unterlassen, von sich selbst tadelnd zu sprechen. (7) Vom Selbstlob ist als Schlechtem per Akzidens Abstand zu nehmen, insofern man nicht loben kann, ohne daß jenes Lob hauptsächlich Tadel ist. Lob ist es an der Oberfläche der Worte, Tadel ist es für jenen, der in ihren Eingeweiden sucht: denn die Worte dienen dazu das zu zeigen, was man nicht weiß, weswegen, wer sich selbst lobt, zeigt, daß er nicht glaubt für gut gehalten zu werden; was ihm nicht geschieht ohne schlechtes Gewissen, das er, sich selbst lobend, aufdeckt und sich, dies aufdeckend, tadelt. (8) Und weiter ist das Eigenlob und der Selbsttadel aus dem gleichen Grund zu fliehen wie die Falschaussage; denn es gibt keinen Menschen, der ein wahrer und gerechter Bewerter seiner selbst ist, zu sehr täuscht ihn die Eigenliebe. (9) Daher kommt es, daß jeder in seinem Urteil die Maße des falschen Händlers verwendet, der mit dem einen [Maß] verkauft und mit dem anderen kauft; und jeder sucht mit einem großen Maß sein schlechtes Tun und mit einem kleinen das Gute; so daß Zahl, Menge und Gewicht des Guten ihm als größer erscheinen, als wenn es mit dem richtigen Maß gewogen würde, und [die Maße] des Schlechten kleiner. (10) Weswegen er, von sich selbst mit Lob oder dem Gegenteil sprechend, entweder Fal-

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sches sagt in Hinsicht auf die Sache, von der er spricht, oder er sagt Falsches in Hinsicht auf seine Aussage, die beide Falschheit haben. (11) Und da Beipflichten gleich Bekennen ist, begeht, wer jemanden in seinem Beisein lobt oder tadelt, eine Frechheit, weil der derart eingeschätzte weder beipflichten noch verneinen kann, ohne der Schuld des Selbstlobes oder Tadels zu verfallen: außer im Falle der angemessenen Ermahnung, die nicht ohne die Schmähung des Fehlers, den richtigzustellen sie beabsichtigt, auskommt; und im Falle der angemessenen Ehrung und Verherrlichung, was aber nicht ohne Erwähnung der tugendhaften Werke oder der tugendhaft erworbenen Würden geschehen kann. (12) Zur ursprünglichen Absicht zurückkehrend erkläre ich, wie es oben gestreift worden ist, daß das Sprechen von sich selbst bei zwingenden Gründen tatsächlich erlaubt ist: und unter anderen zwingenden Gründen sind zwei am offensicht­ lichsten. (13) Der eine ist [dann gegeben], wenn, ohne über sich selbst zu verhandeln, eine große Verleumdung oder Gefahr nicht beendet werden kann; und dann ist es aus dem Grund erlaubt, daß die Wahl des weniger schlechten der zwei Wege gleichsam die Wahl des guten ist. Und diese Notwendigkeit bewegte Boethius dazu, von sich selbst zu sprechen, um unter dem Vorwand der Tröstung die andauernde Schmach seines Exils zu entschuldigen – indem er zeigte, daß dieses ungerecht war –, zumal kein anderer Verteidiger sich erhob. (14) Der andere [Grund] ist [dann gegeben], wenn aus dem Verhandeln über sich selbst auf dem Weg der Lehre größter Nutzen für andere folgt; und dieser Grund bewegte Augustinus dazu, in seinen Bekenntnissen von sich selbst zu sprechen, damit er durch den Gang seines Lebens, der vom [nicht] Guten zum Guten, vom Guten zum Besseren und vom Besseren zum Besten führte, Beispiel gebe und Lehre, die man von keiner wahrhaftigeren Zeugenaussage empfangen konnte. (15) Weswegen, wenn der eine und der andere dieser Gründe mich entschuldigt, das



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Brot meines Kommentars von seinem ersten Makel genügend gereinigt ist. Mich bewegt die Furcht vor Verleumdung und mich bewegt der Wunsch, Lehre, die ein anderer zuverlässig nicht geben kann, zu vermitteln. (16) Ich fürchte die Verleumdung, so vieler Leidenschaft gefolgt zu sein, wie sie jener als in mir herrschend wahrnimmt, der die oben genannten Kanzonen liest; diese Verleumdung findet, durch dieses Sprechen über mich, das zeigt, daß nicht Leidenschaft sondern Tugend die bewegende Ursache gewesen ist, ihr definitives Ende. (17) Ich beabsichtige, auch die eigentliche Aussage dieser [Kanzonen] aufzuzeigen, die von einigen nicht gesehen werden kann, wenn ich sie nicht darlege, denn sie ist unter der Figur der Allegorie versteckt: und dies zu h ­ ören, wird nicht nur zu erfreulichem Vergnügen gereichen, sondern auch zur sorgfältigen Belehrung bezüglich dieser Art des Sprechens und bezüglich des entsprechenden Verständnisses anderer Schriften. •

iii. Nachhaltiger Rüge würdig ist jenes Ding, das, darauf angelegt, einen Mangel zu beheben, selbst einen solchen einführt; so wie jener, der ausgeschickt wurde, eine Schlägerei zu trennen, und der, bevor er diese trennte, eine andere anzettelte. (2) Und da mein Brot von der einen Seite her gereinigt ist, ziemt es sich für mich, es von der anderen zu reinigen, um dieser Rüge zu entgehen; denn mein Schreiben, das man gleichsam einen Kommentar nennen kann, ist darauf angelegt, den Mangel der oben genannten Kanzonen zu beheben, und es selbst wird in gewissen Teilen vielleicht ein bißchen hart. Diese Härte ist hier gewollt, um größeren Mängeln zu entgehen, und nicht aus Unwissen. (3) Ach, hätte es dem Lenker des Universums doch gefallen, daß es die Ursache meiner Entschuldigung nie gegeben hätte! Daß sich weder andere mir gegenüber verfehlt hätten, noch daß ich ungerechterweise Strafe hätte erleiden müssen, die Strafe – sage ich – des Exils und der Armut. (4) Da es den Bür-

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gern der schönsten und berühmtesten Tochter Roms, Florenz, gefallen hatte, mich aus ihrem süßen Schoß hinauszuwerfen – wo ich geboren und ernährt wurde bis zum Höhe­punkt meines Lebens und in welchem ich, in gutem Frieden mit ihr, von ganzem Herzen wünsche, meine ermüdete Seele auszuruhen und die mir gegebene Zeit zu beenden –, bin ich durch beinahe alle Regionen, in die sich diese Sprache erstreckt, als Herumirrender, einem Bettler gleich, gegangen und ich habe hierbei gegen meinen Willen die Wunde des Schicksals, die dem Verwundeten in vielen Fällen ungerechterweise zugefügt zu sein pflegt, vorgezeigt. (5)  Tatsächlich war ich ein Floß ohne Segel und ohne Steuer, vom trockenen Wind, der die schmerzhafte Armut ausdörrt, in verschiedene Häfen, an Flußmündungen und Strände getragen; und ich bin unter den Augen vieler, die sich mich vielleicht irgendeines Rufes wegen in anderer Form vorgestellt haben, erschienen. In ihrem Blickfeld wurde nicht nur meine Person herabgewürdigt, sondern auch jedes Werk, sei es bereits verfaßt oder sei es noch zu verfassen, entwertet. (6) Den Grund, weswegen solches begegnet – nicht nur mir, sondern allen –, hier kurz zu streifen, sei erlaubt: zuerst, weil die Wertschätzung sich über die Wahrheit hinaus verbreitet; danach, weil die Anwesenheit über die Wahrheit hinaus einengt. (7) Der gute Ruf wird hauptsächlich von der guten Handlung im Geist des Freundes erzeugt und von diesem wird er zuerst geboren; denn der Geist des Feindes, falls er den Samen bekommt, empfängt nicht. (8) Dieser Geist, der [den guten Ruf ] zuerst gebärt, hält sich, sei es um seine Gabe weiter auszuschmücken, sei es aus Mitleid des Freundes, der [den guten Ruf ] empfängt, nicht an die Grenzen des Wahren, sondern überschreitet sie. Und wenn er sie beim Schmücken dessen, was er sagt, überschreitet, redet er gegen besseres Wissen; wenn die Täuschung durch das Mitleid ihn [diese Grenze] überschreiten läßt, redet er nicht gegen [besseres Wissen]. (9) Der zweite Geist, der diesen [Ruf ] empfängt, gibt sich nicht mit der bloßen Weitergabe des ersten



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[Rufes] zufrieden, sondern seine Wiedergabe bemüht sich, als wäre es sein eigenes Werk, um Ausschmückung; und so, durch dieses Tun und durch die Täuschung, die durch das in ihm erzeugten Mitleid entsteht, macht er diesen [Ruf ] größer als er zu ihm gelangt ist, sowohl in Übereinstimmung mit als auch im Gegensatz zum besseren Wissen, wie der erste. Und so tut es auch der dritte empfangende [Geist] und der vierte und derart weitet sich [der gute Ruf ] ins Unendliche aus. (10) Und so, die oben genannten Ursachen in die gegenteiligen verkehrend, kann man die Ursache der Verleumdung ersehen, die auf die gleiche Weise groß wird. Deshalb sagt Vergil im vierten Buch der Aeneis, daß die Fama durch die Bewegung lebt und daß sie ihre Größe im Gehen erwirbt. (11) Jeder, der will, kann somit deutlich sehen, daß das bloß durch den Ruf erzeugte Bild immer größer ist, welcher Art es auch sei, als es die vorgestellte Sache in ihrem wahren Zustand ist. •

iv. Nachdem zuvor der Grund dafür, daß der Ruf das Gute und das Schlechte über die wahren Maße hinaus ausweitet, dargelegt worden ist, bleiben in diesem Kapitel jene Gründe darzulegen, die aufzeigen, weshalb die Anwesenheit aufgrund des Gegenteils einengt; dies dargelegt, wird es ein Leichtes sein, zum hauptsächlichen Vorhaben, also zur oben festgehaltenen Entschuldigung, zurückzukehren. (2) Ich sage also, daß die Anwesenheit eine Person aufgrund von drei Ursachen weniger wertvoll macht, als sie ist: deren eine ist die Kindheit, nicht dem Alter nach wohlverstanden, sondern der Seele nach; die zweite ist der Neid – und diese [beiden] sind im Urteilenden; die dritte ist die menschliche Unvollkommenheit, und diese ist im Beurteilten. (3) Die erste kann man kurz folgendermaßen erklären: Der größte Teil der Menschen lebt gemäß den Sinnen und nicht gemäß der Vernunft, wie die Kinder; und diese kennen die Dinge nur von außen und

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ihre Gutheit, die auf das gebührende Ziel hingeordnet ist, sehen sie nicht, weil sie die Augen der Vernunft, die dazu da sind, dies zu sehen, geschlossen haben. Weswegen sie alles, was sie [sehen] können, vorschnell sehen und sie gemäß ihrem Augenschein urteilen. (4) Und weil sie sich aufgrund des Gehörten eine Meinung bilden über eines andern Ruf, womit bei Anwesenheit das unvollkommene Urteil, das nicht gemäß der Vernunft, sondern nur gemäß den Sinnen urteilt, nicht übereinstimmt, halten sie das, was sie zuvor gehört haben, gleichsam für eine Lüge und verachten sie die Person, die sie zuvor geachtet haben. (5) Deshalb vermindert bei diesen, die – ich Ärmster – beinahe die Gesamtheit ausmachen, die Anwesenheit sowohl die eine wie die andere Qualität. Diese sind schnell nett und ebenso schnell überdrüssig, oft sind sie fröhlich und ebenso oft sind sie traurig wegen kurzer Freuden und Traurigkeiten, schnell sind sie Freunde und ebenso schnell sind sie Feinde; ­a lles tun sie wie die Kinder, ohne die Vernunft zu gebrauchen. (6) Den zweiten [Grund] erkennt man durch folgende Über­legungen: Gleichheit ist bei Lasterhaften Ursache von Neid und Neid ist Ursache schlechten Urteils, weil er die Vernunft bezüglich der beneideten Sache nicht argumentieren läßt und die urteilende Kraft ist dann [wie] jener Richter, der nur der einen Partei Gehör schenkt. (7) Deswegen werden solche, wenn sie die berühmte Person sehen, unverzüglich neidisch, weil sie [diese Person] den Gliedern und der Kraft nach sich gleichwertig sehen, und sie fürchten wegen der Vortrefflichkeit dieser [Person] weniger geschätzt zu werden. (8) Und diese urteilen nicht nur schlecht in ihrer Leidenschaft, sondern durch ihre Verleumdung bewirken sie ein schlechtes Urteil anderer; deswegen vermindert bei diesen die Gegenwart das Gute und das Schlechte in jedem Anwesenden: und ich spreche vom Schlechten, weil viele, die sich an schlechten Handlungen erfreuen, auf schlecht Handelnde neidisch sind. (9) Die dritte ist die menschliche Unvollkommenheit, die auf die beurteilte Person, die nicht ohne



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familiären Umgang und Gespräche ist, zu beziehen ist. Zu dessen Erhellung ist zu wissen, daß der Mensch unter verschiedenen Gesichtspunkten befleckt ist und daß, wie Augustinus sagt, „keiner ohne Makel ist“. (10) Manchmal ist der Mensch von einer Leidenschaft, der er unter Umständen nicht widerstehen kann, befleckt; manchmal ist er durch ein unförmiges Glied befleckt; manchmal ist er durch irgendeinen Schicksalsschlag befleckt; und manchmal ist er durch die Schmach eines Verwandten oder eines ihm Nahestehenden befleckt: diese Dinge trägt der Ruf nicht mit sich, aber die Gegenwart [einer Person] und sie deckt diese [Dinge] in der Begegnung auf. (11) Und diese Makel werfen einen gewissen Schatten auf die Helligkeit der Gutheit, derart daß sie sie weniger hell und wertvoll erscheinen lassen. Und deswegen ist jeder Prophet in seiner Heimat weniger geehrt; deswegen muß der gute Mensch seine Anwesenheit wenigen zuteil werden lassen und seine Vertrautheit noch wenigeren, damit sein Name aufgenommen, aber nicht geschmäht werde. (12)  Und diese dritte Ursache kann derart im Guten und im Schlechten auftreten, wenn sich die Dinge ihrer Bestimmung gemäß in ihr Gegenteil verkehren. Damit ist deutlich zu sehen, daß wegen der Unvollkommenheit, ohne die niemand ist, die Anwesenheit in jedem das Gute und das Schlechte in einem Maß, das die Wahrheit nicht will, vermindert. (13) Weil ich mich also, wie oben gesagt wurde, beinahe allen Italienern vorgestellt habe, wodurch ich mich vielleicht nicht nur bei jenen, die mein Ruf bereits erreicht hatte, gemeiner gemacht habe, als die Wahrheit es will, sondern auch bei den anderen, wo meine Sache zweifelsohne gemeinsam mit mir abgewertet worden ist, kommt es mir zu, diesem Werk mittels eines höheren Stils etwas Gewicht zu verleihen, wodurch es von größerer Autorität erscheinen mag. Und diese Entschuldigung genüge dem Ausmaß meines Kommentars. •

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v. Da dieses Brot nun von den akzidentellen Makeln gereinigt ist, bleibt noch, es von einem substantiellen zu entschuldigen, nämlich daß es volkssprachlich ist und nicht lateinisch; was man der Ähnlichkeit nach als aus Gerste und nicht aus Weizen bezeichnen kann. (2) Und diesbezüglich entschuldigen es bündig drei Gründe, die mich dazu bewegten, diesem [Brot] vor dem anderen den Vorzug zu geben: der eine entspringt der Vorsicht bezüglich unziemender Anordnung; der andere der Bereitschaft zur Freigebigkeit; der dritte der natürlichen Liebe zur eigenen Sprache. (3) Und diese Dinge gedenke ich, zur Entkräftigung dessen, was man an ihnen wegen der angeführten Überlegungen rügen könnte, gemäß ihrer Gründe der Reihe nach folgendermaßen zu erklären. (4)  Was die menschliche Handlung am meisten schmückt und lobt und sie am direktesten zu einem guten Ziel führt, ist der Habitus, dessen Veranlagungen auf das intendierte Ziel hingeordnet sind; so wie die Kühnheit der Seele und die Stärke des Körpers auf das Ziel der Ritterlichkeit hingeordnet sind. (5) Und ebenso muß, wer auf die Bedienung eines andern hingeordnet ist, jene Veranlagungen haben, die auf dieses Ziel hingeordnet sind, wie etwa Unterordnung, Kenntnis und Gehorsam, ohne die bezüglich des guten Bedienens jeder ungeordnet ist; wäre er nicht in jedem Fall untergeordnet, verrichtete er seinen Dienst immer mühsam und schwerfällig und nur in seltenen Fällen führte er diesen fort; und wenn er nicht (kennend ist ……….; und wenn er nicht) gehorsam ist, so dient er nur nach seinem eigenen Gutdünken und Wollen, was mehr dem Dienst des Freundes als demjenigen des Dieners entspricht. (6) Deswegen, um dieser Unordnung zu entgehen, gehört es sich, daß dieser Kommentar, der für die Stelle eines Dieners für die unten angeführten Kanzonen geschaffen ist, diesen in jeder seiner Ausrichtungen untergeordnet ist und daß er um die Bedürfnisse seines Herrn weiß und ihm gegenüber gehorsam ist. (7) All diese Veranlagungen hätten ihm gefehlt, wenn er lateinisch und



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nicht volkssprachlich gewesen wäre, da ja die Kanzonen volkssprachlich sind. Denn erstens wäre er nicht untergeordnet, sondern Herrscher gewesen, sowohl durch [seinen] Adel, wie auch durch Tugend und Schönheit. Durch den Adel, weil das Latein ewig und unveränderlich ist und die Volkssprache nicht fest ist, sondern veränderlich. (8) Weswegen wir in den alten Schriften der lateinischen Komödien und Tragödien, die sich nicht verändern können, dasselbe [Latein] sehen, das wir heute haben; was bei der Volkssprache nicht der Fall ist, die sich dem gestaltenden Gefallen entsprechend verändert. (9) Daher sehen wir in den Städten Italiens, wenn wir genau hinschauen wollen, wie in den letzten fünfzig Jahren viele Begriffe ausgelöscht, geboren und verändert wurden; wenn eine kleine Zeit derart verändert, verändert eine größere noch viel mehr. So sage ich denn, daß, wenn jene, die vor tausend Jahren aus diesem Leben geschieden sind, in ihre Städte zurückkehren würden, sie ihre Stadt von seltsamen Leuten besetzt glauben würden, wegen der mit der ihren nicht übereinstimmenden Sprache. (10) Davon wird andernorts, in einem Buch über die Beredsamkeit in der Volkssprache, das zu machen ich, so Gott will, beabsichtige, umfassender gesprochen werden. (11) Weiter wäre er aufgrund der Tugend nicht untergeordnet, sondern Herrscher gewesen. Jedes Ding ist tugendhaft in seiner Natur, sofern es das tut, auf das es hingeordnet ist; und je besser es dies tut, desto tugendhafter ist es. Weswegen wir jenen Menschen tugendhaft nennen, der ein kontemplatives oder aktives Leben lebt, auf welche beide er von Natur aus hingeordnet ist; wir nennen ein Pferd tugendhaft, das schnell und viel rennt, [denn] darauf ist es hingeordnet; wir nennen ein Schwert tugendhaft, das harte Dinge gut schneidet, [denn] darauf ist es hingeordnet. (12) So ist das Sprechen, das darauf hingeordnet ist den menschlichen Gedanken kundzutun, tugendhaft, wenn es dies vermag, und tugendhafter ist jenes [Sprechen], das dies in höherem Maße vermag; weswegen, da das Latein viele im

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Geist erfaßte Dinge offenlegt, die die Volkssprache nicht [offenlegen] kann, wie alle wissen, die sowohl die eine wie die andere Sprache beherrschen, seine Tugend größer ist als jene der Volkssprache. (13) Weiter wäre [der Kommentar] aufgrund der Schönheit nicht untergeordnet sondern Herrscher gewesen. Jene Dinge nennt der Mensch schön, deren Teile sich in der gebührenden Weise entsprechen, denn aus ihrer Harmonie entspringt das Gefallen. Deswegen scheint ein Mensch [dann] schön zu sein, wenn seine Glieder sich in der gebührenden Weise entsprechen; und wir nennen einen Gesang schön, wenn seine Stimmen einander gemäß den Anforderungen der Kunst entsprechen. (14) Also ist jenes Sprechen das schönere, in welchem [die Worte]  sich in der gebührenden Weise entsprechen; [und sie entsprechen sich] im Latein [in der gebührenderen Weise] als in der Volkssprache, denn die Volkssprache folgt der Gewohnheit, das Latein [aber folgt] der Kunst: weswegen zuzugestehen ist, daß es schöner, tugendhafter und edler ist. (15) So steht der erste zu behandelnde Punkt fest, nämlich daß [der Kommentar] den Kanzonen nicht untergeordnet, sondern übergeordnet gewesen wäre. •

vi. Nachdem gezeigt worden ist, wie der vorliegende Kommentar den volkssprachlichen Kanzonen nicht untergeordnet gewesen wäre, wenn er lateinisch abgefaßt worden wäre, bleibt zu zeigen, inwiefern er unwissend und ihnen gegenüber ungehorsam gewesen wäre; und danach wird geschlossen werden, inwiefern es, um unpassende Unordnungen zu vermeiden, nötig gewesen ist, in der Volkssprache zu sprechen. (2) Ich sage, daß das Latein aus folgendem Grund dem volkssprachlichen Herrn ein unwissender Diener gewesen wäre. Die Kenntnis des Dieners muß hauptsächlich zwei Dinge vollumfänglich kennen. (3) Die eine ist die Natur des Herrn: denn es gibt Herren von derart eselhafter Natur, daß sie das Gegenteil von



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dem, was sie wollen, befehlen, und andere, die, ohne etwas zu sagen, verstanden werden wollen, und wiederum andere, die nicht wollen, daß der Diener sich bewegt, um das zu tun, was [seine] Arbeit ist, wenn sie es ihm nicht [ausdrücklich] befehlen. (4) Weswegen diese Unterschiede bei den Menschen auftreten, gedenke ich hier nicht aufzuzeigen, denn das würde diesen Exkurs zu sehr anwachsen lassen, außer soviel, daß ich allgemein sage, diese seien beinahe Tiere, denen die Vernunft kaum zum Vorteil gereicht. Es ist also offenkundig, daß wenn der Diener die Natur seines Herrn nicht kennt, er ihm nicht in vollkommener Weise dienen kann. (5) Die andere Sache ist die, daß es sich für den Diener ziemt, die Freunde seines Herrn zu kennen, denn andernfalls könnte er sie weder ehren noch bedienen, und so würde er seinem Herrn nicht in vollkommener Weise dienen; und weiter gelte, daß die Freunde gleichsam die Teile eines Ganzen sind, so daß ihr Ganzes ein Wollen und ein Nichtwollen ist. (6)  Der lateinische Kommentar hätte die Kenntnis dieser Dinge, die die Volkssprache aus sich selbst hat, nicht gehabt. Daß das Latein keine Kenntnis von der Volkssprache und ihrer Freunde hat, wird folgendermaßen bewiesen. Jener, der ein Ding im allgemeinen kennt, kennt es nicht vollständig; so wie er, wenn er aus der Ferne ein Tier erkennt, er dieses nicht vollständig erkennt, weil er nicht weiß, ob es ein Hund, ein Wolf oder ein Bock ist. (7) Das Latein kennt die Volkssprache im allgemeinen, aber nicht im einzelnen; denn wenn es sie im einzelnen kennen würde, würde es alle Volkssprachen kennen, gibt es doch keinen Grund, die eine mehr als die andere zu kennen; und so wäre in jedem Menschen, in dem der ganze Habitus des Lateins wäre, der Habitus der auf das Einzelne bezogenen Kenntnis der Volkssprache. (8) Aber dies ist nicht der Fall; denn ein des Latein Kundiger unterscheidet, falls er aus Italien stammt, die [englische] Volkssprache nicht von der deutschen; ebensowenig der Deutsche die italienische Volkssprache

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von der provenzalischen. Woraus deutlich wird, daß das Latein die Volkssprache nicht kennt. (9) Weiter kennt [das Latein] auch die Freunde [der Volkssprache] nicht, weil es unmöglich ist, die Freunde zu kennen, ohne die wichtigste [ Volkssprache] zu kennen; weswegen, wenn das Latein die Volkssprache nicht kennt, was oben bewiesen worden ist, es ihm unmöglich ist, ihre Freunde zu kennen. (10) Weiter ist es ohne Gespräche oder familiären Umgang unmöglich, die Menschen zu kennen; und das Latein führt nicht mit so vielen Gespräche in irgend­ einer Sprache, wie die jeweilige Volkssprache sie führt, mit der alle befreundet sind; und folgerichtig kann [das Latein] die Freunde der Volkssprache nicht kennen. (11) Und es ist kein Widerspruch, daß gesagt werden könnte, daß sich das Latein mit ebenso vielen Freunden der Volkssprache unterhält; denn es hat nicht mit allen einen familiären Umgang, und deswegen kennt es die Freunde nicht vollständig; denn umfassende Kenntnis ist verlangt und nicht mangelhafte. •

vii. Nachdem bewiesen ist, daß der lateinische Kommentar ein unwissender Diener gewesen wäre, werde ich nun erklären, inwiefern er ein ungehorsamer [ Diener] gewesen wäre. (2) Gehorsam ist, wer jene gute Veranlagung hat, die Gehorsam genannt wird. Der wahre Gehorsam setzt drei Dinge voraus, ohne die er nicht sein kann: er hat süß und nicht bitter, gänzlich befohlen und nicht spontan, angemessen und nicht unangemessen zu sein. (3) Diese drei Dinge zu haben, war dem lateinischen Kommentar unmöglich, und deswegen war es ihm unmöglich, gehorsam zu sein. Daß dies dem Latein, wie gesagt, unmöglich gewesen wäre, zeigt sich durch folgende Überlegung. (4) Jedes Ding, das aus einer verkehrten Ordnung hervorgeht, ist mühselig und folglich ist es bitter und nicht süß, so wie das Schlafen am Tage und das Wachsein in der Nacht, und das Rückwärtsgehen statt vorwärts. Befehle des Untergeordneten



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an den Herrscher entspringen aus einer verkehrten Ordnung – richtige Ordnung ist es, [wenn] der Herrscher den Untergeordneten befiehlt –, und so sind sie bitter und nicht süß. Und da dem bitteren Befehl unmöglicherweise süß gehorcht werden kann, kann, wenn der Untergeordnete befiehlt, der Gehorsam des Herrschenden unmöglich süß sein. (5) Da also das Latein Herrscher über die Volkssprache ist, wie oben mit mehreren Gründen dargelegt wurde, und die Kanzonen, die die Stelle des Befehlshabers einnehmen, in der Volkssprache verfaßt sind, ist sein Gehorchen unmöglicherweise süß. (6) Weiter: dann ist der Gehorsam gänzlich befohlen und in keiner Weise spontan, wenn der, der gehorchend etwas tut, dies ohne Befehl, aus eigenem Willen weder ganz noch teilweise, getan hätte. (7)  Wenn mir aber befohlen würde, zwei Überkleider zu tragen, und ich ohne Befehl [ bereits] eines tragen würde, so sage ich, daß mein Gehorsam in diesem Fall nicht gänzlich ein befohlener wäre, sondern zum Teil spontan. Und so wäre der [Gehorsam] des lateinischen Kommentars gewesen; und folglich wäre das ein nicht gänzlich befohlener Gehorsam gewesen. (8) Daß er derart gewesen wäre, wird durch Folgendes deutlich: der lateinische [Kommentar] hätte ohne den Befehl dieses Herrn viele Teile seiner Aussagen erklärt – und er erklärt sie, für den aufmerksam in den lateinischen Schriften Suchenden tatsächlich –, was der volkssprachliche [Kommentar] in keinem Teil tut. (9) Weiter: Der Gehorsam ist angemessen und nicht unangemessen, wenn er den Befehl in seiner ganzen Tragweite erfüllt, aber nicht darüber hinausgeht: so wie die partikuläre Natur der allgemeinen gehorsam ist, wenn sie den Menschen mit zweiunddreißig Zähnen ausstattet und nicht mit mehr und nicht mit weniger; und wenn sie die Hand mit fünf Fingern ausstattet, und nicht mit mehr und nicht mit weniger; und der Mensch ist der Gerechtigkeit gehorsam, [wenn er nicht mehr und nicht­ weniger tut, als die Gerechtigkeit] dem Sünder befiehlt. (10)  Das

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hätte der lateinische Kommentar nicht getan, aber er hätte nicht nur durch Mangel gesündigt, sondern auch durch Übermaß, also in jedem Fall; und so wäre sein Gehorsam nicht angemessen gewesen, sondern unangemessen, und folglich wäre er nicht gehorsam gewesen. (11) Daß der lateinische [Kommentar] die Befehle seines Herrn nicht erfüllt hätte und daß er diese überboten hätte, läßt sich leicht zeigen. Dieser Herr, d.h. diese Kanzonen, auf die hin dieser Kommentar als Diener geordnet ist, befehlen; und sie wollen all jenen verfügbar sein, zu denen ihr Inhalt derart kommen kann, daß die Kanzonen, wenn sie sprechen, verstanden werden; und niemand zweifelt daran, daß, wenn sie mit lauter Stimme befehlen würden, dies ihr Befehl wäre. (12) Und das Latein hätte sie nur den Gelehrten ausgelegt, denn die anderen hätten [den lateinischen Kommentar] nicht verstanden. Und da es mehr Ungelehrte als Gelehrte gibt, die diese [Kanzonen] zu verstehen wünschen, folgt, daß [das Latein] den Befehl nicht so vollkommen erfüllt hätte wie die Volkssprache, die von Gelehrten und Ungelehrten verstanden wird. (13) Weiter hätte das Latein sie Leuten anderer Sprache ausgelegt, wie etwa Deutschen, Engländern und anderen, und darin hätte es den Befehl [der Kanzonen] überschritten; denn gegen ihren Willen wäre es – ich verstehe es im übertragenen Sinn –, wenn ihre Aussage dort ausgelegt würde, wohin sie diese nicht mit ihrer Schönheit tragen können. (14) Und dies­bezüg­lich wisse jeder, daß man kein durch musikalische Bindung harmonisiertes Werk aus seiner Sprache in eine andere übertragen kann, ohne seine ganze Süße und Harmonie zu zerstören. (15)  Und dies ist der Grund, weswegen Homer nicht aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt wurde, wie die anderen Schriften, die wir von ihnen haben. Und dies ist der Grund, weswegen die Verse des Psalters keine musikalische und harmonische Süße haben; denn sie wurden aus dem Hebräischen ins Griechische und vom Griechischen ins Lateinische übertragen, und in der ersten Übertragung verschwand



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jene ganze Süße. (16) Und so ist erschlossen, was zu Beginn des unmittelbar vorangehenden Kapitels versprochen worden war. •

viii. Nachdem durch hinreichende Argumente gezeigt worden ist, inwiefern zur ihrer Entschlüsselung und Darlegung den genannten Kanzonen, um unpassende Unordnung zu vermeiden, ein volkssprachlicher und nicht ein lateinischer Kommentar zukommen würde, beabsichtige ich [nun] zu zeigen, wie mich zudem vollendete Freigebigkeit veranlaßt hat, die [ Volkssprache] zu wählen und die andere zu lassen. (2) Man kann nämlich die vollendete Freigebigkeit in drei Punkten feststellen, die der volkssprachliche [Kommentar] zur Folge hat und der lateinische nicht zur Folge hätte. Der erste besteht darin, vielen zu geben; der zweite, nützliche Dinge zu geben; der dritte, die Gabe zu geben, ohne gefragt worden zu sein. (3) Denn einem zu geben und einem zu helfen, ist gut; aber vielen zu geben und vielen zu helfen, ist besser, insofern es den Wohltaten Gottes ähnlich ist, der der umfassendste Wohltäter ist. (4) Und weiter: Vielen zu geben ist unmöglich, ohne einem zu geben, und zwar weil der eine in den vielen enthalten ist; aber einem [einzelnen] kann man wohl geben, ohne vielen zu geben. Denn wer vielen hilft, vollbringt die eine Wohltat und die andere; wer einem [einzelnen] hilft, vollbringt nur eine [einzige] Wohltat: deswegen sehen wir, daß die Gesetzgeber, wenn sie die [Gesetze] erarbeiten, das allgemeinste Wohl vor Augen haben. (5) Weiter: Dem Empfänger unnütze Dinge zu geben, ist ebenfalls gut, insofern der Gebende mindestens zeigt, daß er Freund ist; aber dies ist keine vollkommene Wohltat, und so ist sie nicht vollendet, wie wenn ein Ritter einem Arzt ein Schild geben würde oder ein Arzt einem Ritter die Schrift Die Aphorismen des Hippokrates oder die Tegni des Galen. Denn die Weisen sagen, daß das Aussehen der Gabe jenem des Empfängers ähnlich zu sein hat, was soviel bedeutet wie, sie hat mit ihm übereinzustimmen

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und [ihm] nützlich zu sein; und die Freigebigkeit desjenigen, der im Geben derart unterscheidet, wird vollendet genannt. (6)  Aber weil moralische Überlegungen im allgemeinen den Wunsch wecken, ihren Ursprung zu sehen, beabsichtige ich, in diesem Kapitel kurz vier Gründe darzulegen, die [erklären], weswegen es der Gabe, damit in ihr vollendete Freigebigkeit sei, notwendigerweise zukommt, dem Empfänger nützlich zu sein. (7) Erstens, weil die Tugend in jeder ihrer Tätigkeiten heiter zu sein hat und nicht traurig; weswegen die Wohltat, wenn sie im Geben und im Empfangen nicht heiter ist, nicht vollkommener Tugend entspringt, sie [also] nicht vollendet ist. Diese Heiterkeit kann nichts anderes als Nützlichkeit bewirken, die aufgrund des Gebens im Gebenden bleibt und die aufgrund des Empfangens in den Empfänger gelangt. (8) Im Gebenden also muß die Voraussicht sein, so zu handeln, daß für seine Seite der Nutzen der Ehrenhaftigkeit bleibt, die über allem Nutzen [steht], und [zugleich] muß er so handeln, daß den Empfänger der Nutzen der Benützung des gegebenen Dinges erreicht; und so wird der eine und der andere heiter und folglich wird die Freigebigkeit vollendeter sein. (9) Zweitens aber, daß die Tugend die Dinge immer zum Besseren hinbewegen muß. Denn, so wie es eine tadelnswerte Handlung wäre, aus einem schönen Schwert eine Hacke oder eine schöne Wasserkanne aus einer schönen Laute zu machen, so ist es tadelnswert, ein Ding von einem Ort, an dem es nützlich ist, wegzubewegen und es dorthin zu tragen, wo es weniger nützlich ist. (10) Und weil es tadelnswert ist vergebens zu handeln, ist es nicht nur tadelnswert ein Ding dorthin zu bringen, wo es weniger nützlich ist, sondern ebenso es dorthin [zu bringen], wo es gleichermaßen nützlich ist. (11)  Weswegen, damit das Verändern der Dinge lobenswert sei, es immer zum Besseren sein muß, denn es muß in höchstem Maße lobenswert sein: und dies ist bei einer Gabe nicht der Fall, wenn die Gabe nicht durch die Veränderung wertvoller wird; wertvoller kann sie nicht werden,



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wenn sie dem Empfänger zum Gebrauch nicht nützlicher ist als dem Gebenden. Weswegen gefolgert wird, daß die Gabe dem Empfänger nützlich zu sein hat, damit in ihr vollendete Freigebigkeit ist. (12) Drittens, daß für sich genommen die Handlung der Tugend Freunde schaffen muß; wozu weiter gehört, daß unser Leben dies nötig hat und daß das Ziel der Tugend darin besteht, daß unser Leben glücklich ist. Damit die Gabe den Empfänger zum Freund macht, muß sie ihm nützlich sein, denn die Nützlichkeit prägt im Gedächtnis das Bild der Gabe ein, das die Nahrung der Freundschaft ist; und dies um so stärker, je besser [die Gabe] ist. (13) Deswegen pflegt Martin zu sagen: „Das Geschenk, das mir Johannes gemacht hat, wird nicht aus meiner Erinnerung verschwinden“. Damit in der Gabe ihre Tugend sei, d. h. die Freigebigkeit, und damit diese vollendet sei, muß sie dem Empfänger nützlich sein. (14) Als letztes schließlich, daß die Handlung der Tugend frei und nicht erzwungen sein muß. Eine freie Handlung ist es, wenn eine Person gern irgendwohin geht, was darin zum Ausdruck kommt, daß sie den Blick dahin wendet; eine erzwungene Handlung ist es, wenn man entgegen seinem Willen geht, was darin zum Ausdruck kommt, daß man nicht in die Laufrichtung blickt. (15) Und dann also blickt die Gabe in jene Richtung, wenn sie sich nach dem Bedürfnis des Empfängers richtet. Und weil sie sich nicht nach ihm ausrichten kann, wenn sie nicht nützlich ist, muß die Gabe, damit die Handlung der Tugend frei ist, der Seite, zu der sie geht, nämlich dem Empfänger, [nützlich] sein; und folglich muß in der Gabe der Nutzen des Empfängers vorhanden sein, damit von da her die Freigebigkeit vollendet sei. (16) Der dritte Umstand, an dem man vollendete Freigebigkeit erkennen kann, ist das ungefragte Geben: denn das gefragte [Geben] ist von einer Seite her nicht Tugend sondern Warenhandel, weil der Empfänger kauft, obschon der Geber nicht verkauft. Deswegen sagt Seneca, daß „kein Ding teurer gekauft wird, als jenes, wo mit Bitten gehandelt wird“. (17) Damit in der

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Gabe vollendete Freigebigkeit ist und diese [Freigebigkeit] in ihr wahrgenommen werden kann, ist nicht nur notwendig, daß die Gabe von jeder Geste des Warenhandels frei ist, sondern auch ungefragt. (18) Weswegen das Erbittete derart teuer zu stehen kommt, gedenke ich hier nicht darzulegen, denn dies wird im letzten Traktat dieses Buches zur Genüge erörtert werden. •

ix. Von diesen drei oben genannten Bedingungen, die zusammenspielen müssen, auf daß in der Gabe vollendete Freigebigkeit sei, war der lateinische Kommentar [weit entfernt], aber der volkssprachliche Kommentar verträgt sich mit ihnen, was man offensichtlich folgendermaßen darlegen kann. (2) Der lateinische hätte so nicht vielen gedient: wenn wir uns das oben Dargelegte in Erinnerung rufen, so hätten die Gelehrten außerhalb [des Bereiches] der italienischen Sprache diesen Dienst nicht haben können. Und bezüglich [der Gelehrten] dieser Sprache werden wir, wenn wir genau hinschauen, wer sie sind, vernünftigerweise finden, daß von tausend nicht einer bedient worden wäre: sie hätten ihn nicht empfangen, weil sie so sehr zum Geiz neigen, daß sie von jener Erhabenheit der Seele entfernt sind, der am meisten nach dieser Nahrung verlangt. (3) Und als Tadel an ihre Adresse sage ich, daß man sie nicht Gelehrte nennen soll, denn sie erwerben das Wissen nicht zu seinem Gebrauch, sondern um dadurch Geld oder Ehre zu erwerben; so wie man nicht Zitherspieler nennen soll, wer eine Zither zu Hause hat, um sie gegen Geld auszuleihen und nicht um sie zum Spielen zu gebrauchen. (4) Zum eigentlichen Vorhaben zurückkehrend sage ich, daß man offensichtlich sehen kann, wie das Latein seine Wohltat wenigen gegeben hätte, aber die Volkssprache wird wirklich vielen dienen. (5) Denn die Güte des Geistes, der dieser Dienst verpflichtet ist, findet sich in jenen, die, wegen des schrecklichen Mißbrauchs der Welt, die Literatur jenen andern überlassen haben, die aus ihr eine Prostituierte gemacht haben;



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und diese Edlen sind Prinzen, Grafen, Ritter und viele andere edle Menschen, nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die in dieser Sprache zahlreich sind, [und diese sind] volkssprachlich und nicht gebildet. (6) Weiter wäre das Latein nicht Geber einer nützlichen Gabe gewesen, was die Volkssprache sein wird. Denn kein Ding ist nützlich, wenn es nicht benützt wird und wenn seine Gutheit nur dem Vermögen nach ist, was dem Haben von vollkommenem Sein nicht gleichkommt; so wie das Gold, die Perlen und die anderen vergrabenen Schätze …; denn jene, die der Geizige zur Hand hat, sind an einem niedrigeren Ort, als es die Erde dort ist, wo der Schatz verborgen ist. (7) Die eigentliche Gabe dieses Kommentars ist die Auslegung der Kanzonen, für die er geschaffen ist. Diese [Auslegung ] beabsichtigt in höchstem Maße, die Menschen zu Wissen und Tugend zu führen, wie man aus der Tiefe ihrer Behandlung ersehen wird. (8) Diese Auslegung gereicht jenen zum Nutzen, in denen wahrer Adel, gemäß der Art, die im vierten Traktat erklärt werden wird, gesät ist; und diese sind beinahe alle volkssprachlich, wie es jene Edlen sind, die weiter oben in diesem Kapitel aufgezählt wurden. (9) Und dem widerspricht nicht, daß einzelne Gelehrte zu diesen gehören; denn, wie mein Lehrer Aristoteles im ersten Buch der Ethik sagt, macht eine Schwalbe noch keinen Frühling. Also ist offenkundig, daß die Volkssprache nützliche Dinge geben wird und daß das Latein diese nicht gegeben hätte. (10)  Weiter wird die Volkssprache ungefragte Gabe geben, was das Latein nicht getan hätte: denn sie wird sich selbst als Kommentar geben, was noch nie von jemandem erbeten worden ist; und dies kann man vom Latein nicht sagen, das als Kommentar und als Glosse zu vielen Schriften bereits verlangt worden ist; wie man in ihren Einleitungen in vielen deutlich sehen kann. (11) Und so ist offenkundig, daß vollendete Freigebigkeit mich zur Wahl der Volkssprache statt des Lateins bewegt hat. •

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x. Umfassend hat die Entschuldigung zu sein, wenn bei einem ob seiner Speise so edlen [und] ob seiner Gäste so ehrenwerten Gastmahl Brot aus Gerste statt aus Weizen gereicht wird; und es bedarf eines offensichtlichen Grundes, wenn jemand Abstand nimmt von dem, was von den anderen während langer Zeit aufgetragen worden ist, wie es beim Kommentieren in lateinischer Sprache [der Fall ist]. (2)  Und der Grund muß deshalb offenkundig sein, weil das Ende der neuen Dinge nicht gewiß ist; und dies, weil die Erfahrung, durch die die benutzten und aufgetragenen Dinge sowohl bezüglich ihrer Entwicklung als auch bezüglich ihres Endes bemessen werden, noch nie gemacht wurde. (3) Deshalb erließ das Römische Recht den Befehl, der Mensch solle beim Betreten des neuen Weges sorgfältig achtgeben, indem es sagt: „Beim Festlegen neuer Dinge muß der Grund, der von dem, was lange in Gebrauch war, Abstand nehmen läßt, offensichtlich sein.“ (4) Niemand wundere sich also, wenn die Darlegung meiner Entschuldigung sich hinzieht, sondern er ertrage ihre Länge, da sie notwendig ist, mit Geduld. (5) Mit der [Entschuldigung ] fortfahrend sage ich – zumal [ jetzt] offenkundig ist, wie ich, um unpassende Unordnung zu vermeiden und aus vollendeter Freigebigkeit, mich dem volkssprachlichen Kommentar zuwandte und vom lateinischen Abstand nahm –, daß die Ordnung der ganzen Entschuldigung danach verlangt, daß ich zeige, inwiefern mich die natürliche Liebe zur eigenen Sprache dazu veranlaßt hat; dies ist der dritte und letzte Grund, der mich dazu bewegt hat. (6) Ich sage, daß die natürliche Liebe den Liebenden hauptsächlich zu drei Verhaltensweisen bewegt: die eine besteht darin, das Geliebte überschwenglich zu loben; die andere besteht darin, diesem gegenüber leidenschaftlich zu sein; die dritte besteht darin, dieses zu verteidigen, wie jeder tagtäglich feststellen kann. Und diese drei Verhaltensweisen führten mich zu ihrer Wahl, d.h. unserer Volkssprache, die ich von Natur aus und akzidentell liebe und [stets] geliebt habe. (7) An erster Stelle bewegte mich,



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sie zu loben. Und daß ich sie hiermit lobe, kann man folgender Überlegung entnehmen: Es verhält sich so, daß die Dinge durch viele Bedingungen der Größe gelobt, d.h. groß gemacht werden können, und keine macht so groß wie die Größe der eigenen Güte, die Mutter und Bewahrerin der anderen Größen ist. (8) Deshalb kann der Mensch keine umfassendere Größe haben als jene der tugendhaften Handlung, die seine eigene Güte ist; durch sie wird die Größe der echten Würden, der echten Ehren, der echten Fähigkeiten, des echten Reichtums, der echten Freunde und des echten und ungetrübten Ruhmes erworben und bewahrt. (9)  Und diese Größe gebe ich dieser Freundin; insofern ich das, was sie an Güte dem Vermögen nach und verborgen besaß, verwirkliche und offenkundig mache in ihrer eigenen Handlung, die in der Darlegung des enthaltenen Sinnes besteht. (10)  Zweitens bewegte mich die Leidenschaft für die Geliebte. Die Leidenschaft für die befreundete Person macht einen Menschen auf lange Sicht hinaus besorgt. Da ich dachte, daß der Wunsch, diese Gedichte zu verstehen, irgendeinen Ungebildeten veranlassen könnte, den lateinischen Kommentar in die Volkssprache umzusetzen, und da ich befürchtete, daß die Volkssprache von jemandem gehandhabt würde, der sie häßlich erscheinen läßt, wie es jener tat, der das Latein der Ethik umsetzte – das war Taddeo Alderotti, der Hippokrates-Kommentator –, sah ich mich vor, diesen zu verfassen, mir mehr trauend als einem anderen. (11) Mich bewegte weiter, [die Volkssprache] gegenüber vielen ihrer Ankläger zu verteidigen, die sie verachten und andere rühmen, vor allem jene der Provence, wobei sie jene schöner und besser nennen als diese [und] sich hierbei von der Wahrheit entfernen. (12) Auf daß durch diesen Kommentar die große Güte der italienischen Volkssprache [ersichtlich werde]; auf daß man ihre Tugend erkennen möge, wenn durch [die Volkssprache] erhabenste und unerhörte Gedanken passend, stimmig und ordentlich, beinahe wie durch das Latein,

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dargelegt werden; [diese Gedanken konnten] in der gereimten Form, wegen der akzidentellen Ausschmückungen, die mit ihnen verbunden sind, nämlich der Reim, das Versmaß und die geregelte Zahl, [nicht gut dargelegt werden]; so wie man die Schönheit einer Frau nicht gut zeigen kann, wenn der Schmuck des Putzes und der Kleider sie bewundernswerter machen als sie sich selbst. (13) Deswegen betrachte, wer über eine Frau richtig urteilen will, diese wenn nur ihre natürliche Schönheit sie begleitet und sie von aller akzidentellen Ausschmückung frei ist; so wie dieser Kommentar sein wird, in dem man die Leichtigkeit seiner Silben, die Besonderheiten seiner Konstruktionen und die angenehmen Reden, die von ihm gehalten werden, sehen wird; wer genau hinschaut, wird erkennen, daß all dies von süßester und liebenswertester Schönheit erfüllt ist. (14)  Aber da es besonders tugendhaft ist, die Fehlerhaftigkeit und die Schlechtigkeit in der Absicht des Anklägers aufzuzeigen, werde ich, um die Ankläger der italienischen Sprache zu verwirren, sagen, weswegen sie sich zu solchem Tun hergeben; und hierzu werde ich nun ein eigenes Kapitel verfassen, auf daß ihre Schmach um so größer sei. •

xi. Zur immerwährenden Schmach und Erniedrigung der schlechten Menschen Italiens, die die Volkssprache anderer loben und ihre eigene verachten, sage ich, daß ihre Haltung von fünf verabscheuungswürdigen Ursachen herrührt. (2) Die erste ist die Blindheit des Unterscheidungsvermögens; die zweite verdrehte Entschuldigung; die dritte Begierde nach eitlem Ruhm; die vierte [ist ein] Argument des Neides; die fünfte und letzte Feigheit des Geistes, d.h. Kleinmut. Und jede dieser Verfehlungen hat so große Gefolgschaft, daß nur wenige von ihnen frei sind. (3)  Bezüglich der ersten kann man folgendermaßen argumentieren. So wie der sinnliche Teil der Seele seine Augen hat,



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mit denen [die Seele] die Unterschiede der Dinge, insofern diese äußerlich farbig sind, wahrnimmt, so hat der vernünftige Teil [der Seele] sein Auge, mit dem er den Unterschied der Dinge, insofern sie auf ein Ziel hingeordnet sind, wahrnimmt; und dies ist das Unterscheidungsvermögen. (4)  Und wie der, dessen sinnliche Augen blind sind, sich immer gemäß den anderen bewegt, wenn er das Gute und das Schlechte beurteilt, so geht jener, der bezüglich des Lichtes des Unterscheidungsvermögens blind ist, in seinem Urteil immer dem Geschrei nach, entweder richtig oder falsch; falls der Führer blind ist, ist es so, daß er und der andere Blinde, der sich an ihn anlehnt, zu einem schlechten Ende kommen. Deshalb steht geschrieben, daß „der Blinde den Blinden führen wird, und so werden beide in den Graben fallen“. (5) Dieses Geschrei wurde, aus den Gründen, die unten, im Anschluß an diesen [Grund], dargelegt werden, lange Zeit gegen unsere Volkssprache erhoben. Und die eben erwähnten Blinden, die beinahe unendlich viele sind, sind, mit der Hand auf der Schulter dieser Lügner, in den Graben der falschen Meinung gefallen, aus dem herauszukommen sie nicht fähig sind. (6) Des Vermögens dieses unterscheidenden Lichtes sind in höchstem Maße die Leute aus dem Volk beraubt; und zwar weil sie, von Beginn ihres Lebens an mit einem Beruf beschäftigt, ihren Geist von der Notwendigkeit gezwungen derart auf diesen [Beruf ] ausrichten, daß sie sich auf nichts anderes ausrichten können. (7) Und weil man den Habitus der Tugend, sowohl der moralischen als auch der vernünftigen, nicht plötzlich haben kann, sondern man ihn durch Gewohnheit erwerben muß, und jene ihre Gewohnheit in ein Handwerk legen und sich nicht darum sorgen, andere Dinge unterscheidend wahrzunehmen, ist es ihnen unmöglich, Unterscheidungsvermögen zu haben. (8) Deshalb passiert es, daß sie immer wieder ihrem Tod „Heil“ schreien und ihrem Leben „Es sterbe“, wenn nur jemand [damit] beginnt; und dies ist ein sehr gefährlicher Fehler in ihrer Blindheit. Weswegen Boethius den Ruhm beim Volk

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als nichtig beurteilt, denn er sieht, daß dieser [Ruhm] nicht auf Unterscheidungsvermögen beruht. (9)  Solche sind Schafe zu nennen und nicht Menschen; denn wenn sich ein Schaf von einer tausend Fuß hohen Steilküste stürzen würde, gingen alle anderen hinterher; und wenn ein Schaf beim Überqueren einer Straße aus irgendeinem Grund einen Sprung macht, machen alle anderen einen Sprung, auch wenn sie nichts sehen, das zum Sprung veranlaßt. (10) Und ich sah schon viele in einen Brunnen springen wegen einem, das hineinsprang, vielleicht weil es dachte eine Mauer zu überspringen, trotz des weinenden und schreienden Hirten, der sie mit den Armen und der Brust abwehrte. (11)  Die zweite gegen unsere Volkssprache [gerichtete] Gefolgschaft verdankt sich einer verdrehten Entschuldigung. Viele sind es, die es mehr lieben, für Meister gehalten zu werden, als [Meister] zu sein, und um dem Gegenteil zu entgehen, d.h. nicht [für Meister] gehalten zu werden, geben sie immer dem Material des ausgeübten Handwerks die Schuld oder besser dem Instrument; so wie der schlechte Schmied das vor ihm liegende Eisen verflucht, und der schlechte Zitherspieler die Zither verflucht, wobei sie glauben, die Schuld des schlechten Messers oder des schlechten Spieles dem Eisen und der Zither zu geben und [die Schuld] von sich zu nehmen. (12) So sind die meisten, die wollen, daß man sie für Redner hält; und um sich von ihrem Nichtreden oder schlechten Reden zu entschuldigen, klagen sie das Material an und beschuldigen dieses, d. h. die eigene Volkssprache und rühmen die andere, die zu bearbeiten von ihnen niemand verlangt. (13)  Und wer sehen will, inwiefern dieses Eisen zu verfluchen ist, der schaue, was für Werke die guten Handwerker daraus machen, und er wird die Schlechtigkeit jener erkennen, die es verfluchend sich zu entschuldigen glauben. (14) Gegen diese zetert Cicero am Anfang eines seiner Bücher, das Über die Ziele des menschlichen Handelns heißt, weil sie zu seiner Zeit das römische Latein verfluchten



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und die griechische Sprache lobten [und zwar] aus ähnlichen Gründen, aus denen diese die italienische Sprache erniedrigen und diejenige der Provence erhöhen. (15) Die dritte Gefolgschaft gegen unsere Volkssprache entsteht aus der Begierde nach eitlem Ruhm. Es gibt viele, die wegen des Erklärens und Lobens von in anderen Sprachen verfaßten Dingen glauben, sie würden mehr bewundert, als wenn sie die [Dinge] ihrer [Sprache] erklären würden. Und zweifelsohne gebührt dem richtigen Lernen einer fremden Sprache das Lob des Talentes; aber verfluchenswert ist es, jene über die Wahrheit hinaus zu rühmen, um sich durch deren Aneignung Ruhm zu verschaffen. (16) Die vierte entsteht aus einem Argument des Neides. Wie oben gesagt wurde, gibt es immer dort Neid, wo es irgendeine Gleichheit gibt. Zwischen den Menschen einer Sprache gibt es die Gleichheit der Volkssprache; und weil der eine sie nicht wie der andere zu benützen weiß, entsteht Neid. (17) Der Neidische argumentiert dann, um dem Redner Ehre und Ruhm abzusprechen, indem er nicht dem Redner vorwirft, er verstehe nicht zu reden, sondern er verflucht die Materie seines Werkes und verachtet so das Werk von dieser Seite her; so wie jener, der das Eisen eines Schwertes verfluchen würde, nicht um das Eisen zu verfluchen, sondern das ganze Werk des Meisters. (18) Die fünfte und letzte Gefolgschaft entspringt der Feigheit des Geistes. Stets erhöht sich der Großmütige in seinem Herzen, und ebenso hält sich der Kleinmütige, aufgrund des Gegenteils, immer für weniger, als er ist. (19) Und weil Groß- und Kleinmachen immer in Beziehung steht zu etwas, im Vergleich zu dem der Großmütige sich groß und der Kleinmütige sich klein macht, kommt es, daß der Großmütige die anderen stets kleiner macht, als sie sind, und der Kleinmütige [sie] stets größer [macht, als sie sind]. (20) Und deshalb, weil der Mensch mit jenem Maß, mit dem er sich selbst mißt, [auch] seine Dinge mißt, die beinahe ein Teil von ihm selbst sind, kommt es, daß dem

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Großmütigen seine Dinge immer besser scheinen, als sie sind, und die Dinge anderer weniger gut: der Kleinmütige glaubt immer, daß seine Dinge wenig wert sind und die Dinge anderer viel. (21) Viele verachten wegen dieser Feigheit die eigene Volkssprache und schätzen die [ Volkssprache] anderer: und dies sind die abscheulichen Widerwärtigen Italiens, die diese wertvolle Volkssprache niedrig halten; die, falls sie in irgend­einer Hinsicht niedrig ist, dies nur ist, insofern sie aus dem Schandmaul dieser Ehebrecher tönt; unter der Führung solcher gehen die Blinden, von denen ich bei der Behandlung der ersten Ursache gesprochen habe. •

xii. Wenn aus den Fenstern eines Hauses ganz ­offensichtlich Feuerflammen herausschlagen würden und einer fragen würde, ob dort drinnen Feuer sei, und ein anderer ihm mit ja antworten würde, so wüßte ich nicht recht, welcher der beiden mehr zu verhöhnen wäre. Angesichts der oben vorgebrachten Gründe wäre es nicht anders bestellt, um jemandes Frage und um meine Antwort, wenn er mich fragen würde, ob Liebe zu meiner eigenen Sprache in mir sei, und ich ihm mit ja antworten würde. (2) Aber trotzdem, um zu zeigen, daß nicht nur Liebe, sondern vollkommenste Liebe zu dieser in mir ist, und um ihre Gegner weiterhin zu rügen, indem ich dies dem, der richtig versteht, darlege, werde ich erzählen, wie ich zu ihrem Freund gemacht wurde, und darauf, wie die Freundschaft bekräftigt wurde. (3) Ich sage, wie man in dem, was Cicero im Laelius von der Freundschaft schreibt, sehen kann [und] dem die vom Philosophen im achten und neunten Buch der Ethik dargelegte Meinung nicht widerspricht, daß natürlicherweise die Nähe und die Güte die erzeugenden Ursachen der Liebe sind; die Wohltat, das Streben und die Gewohnheit sind die vermehrenden Ur­sachen der Liebe. Und all diese Ursachen waren beteiligt am Erzeugen und Festigen jener Liebe, die ich meiner Volkssprache entgegenbringe, wie ich nun kurz darstellen werde.



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(4) Ein Ding ist näher, wenn es im Vergleich zu allen übrigen Dingen seiner Gattung mit einem anderen in einem höheren Maße verbunden ist: weswegen von allen Menschen der Sohn dem Vater am nächsten ist; von allen Künsten ist die Medizin dem Arzt am nächsten und die Musik dem Musiker, weil [diese Künste] mit ihnen je in höherem Maße verbunden sind als die anderen; von der ganzen Erde ist jener Teil am nächsten, wo ein Mensch sich selbst aufhält, weil er mit diesem am meisten verbunden ist. (5) Und so ist die Volkssprache näher, insofern sie verbundener ist, denn sie ist einzig und allein als erste vor jeder anderen im Geist, und weil sie nicht nur für sich genommen verbunden ist, sondern [auch] akzidentell, insofern sie mit den nächsten Personen vereinigt ist, wie etwa mit den Eltern und mit den eigenen Mitbürgern und dem eigenen Volk. (6)  Und dies ist die eigene Volkssprache; diese ist nicht [einfach] nahe, sondern jedem in höchstem Maße nahe. Da die Nähe der Keim der Freundschaft ist, wie oben gesagt wurde, ist es offenkundig, daß sie eine der Ursachen gewesen ist für die Liebe, die ich meiner Sprache entgegenbringe, die mir näher ist als die anderen. (7) Die oben genannte Ursache, d. h. daß man dem, was allein zuerst im ganzen Geist ist, verbundener ist, bewegte die Gewohnheit der Leute, nur die Erstgeborenen die Erbfolge antreten zu lassen, da [diese] näherstehend sind und als Näherstehende mehr geliebt werden. (8) Des weiteren machte mich die Gutheit zu ihrem Freund. Und hierzu ist zu wissen, daß die einem Ding eigene Gutheit in jenem [Ding ] liebenswert ist: so wie bei der Männlichkeit einen guten Bartwuchs zu haben und bei der Weiblichkeit im ganzen Gesicht wirklich von Bart sauber zu sein; so wie beim Spürhund ein guter Geruchsinn und beim Windhund gut zu rennen. (9) Und je eigener diese [Gutheit] ist, desto liebenswerter ist sie; weil jede Tugend des Menschen liebenswert ist, ist jene seiner [Tugenden] am liebenswertesten, die in höchstem Maße menschlich ist, und dies ist die Gerechtigkeit, die nur im

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vernünftigen oder besser intellektuellen Teil, d. h. dem Willen ist. (10) Sie ist so liebenswert, daß [selbst], wie der Philosoph im fünften Buch der Ethik sagt, ihre Feinde, wie die Diebe und Räuber, sie lieben; aber wir sehen, daß ihr Gegenteil, d. h. die Ungerechtigkeit, wie etwa Verrat, Undank, Falschheit, Diebstahl, Überfall, Betrug und dergleichen, in höchstem Maße gehaßt wird. (11) Diese sind so unmenschliche Sünden, daß man in alter Gewohnheit zugesteht, daß ein Mann von sich selbst spricht, um sich von ihrer Schmach zu entschuldigen, wie oben gesagt worden ist, und er erklären kann, er sei treu und aufrichtig. (12) Von dieser Tugend werde ich weiter unten im vierzehnten Buch vollständiger handeln; sie hier verlassend kehre ich zum Gegenstand zurück. Da bewiesen ist, daß je eigener die Gutheit eines Dinges ist, [sie desto liebenswerter in ihm ist, muß, um zu zeigen, welche Gutheit ihre eigenste ist], untersucht werden, welche in diesem [Ding ] die geliebteste und die gelobteste ist, und [diese Gutheit] ist die [ gesuchte]. (13) Und wir sehen, daß in jeder Art des Sprechens die gute Darstellung des Gedankens das am meisten geliebte und gelobte ist: also ist dies seine erste Gutheit. Und wird hier [bedacht], daß dies in unserer Volkssprache der Fall ist, wie oben in einem anderen Kapitel dargelegt wurde, so ist offensichtlich, daß auch dies zu den Ursachen der Liebe, die ich ihr entgegenbringe, gehört; da ja, wie gesagt worden ist, die Gutheit erzeugende Ursache der Liebe ist. •

xiii. Nachdem gesagt worden ist, welcher Art in der eigenen Sprache die zwei Dinge sind, durch die ich zu ihrem Freund gemacht worden bin, d. h. Nähe zu mir und [ihre] eigene Gutheit, werde ich [nun] erklären, wie durch Wohltat und Eintracht des Strebens und durch das Wohlwollen langer Gewohnheit die Freundschaft bestärkt und groß gemacht worden ist. (2)  Erstens sage ich, daß ich für meinen Teil von ihr Geschenke größter Wohltaten erhalten habe. Und hierzu ist zu



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wissen, daß von allen Wohltaten jene die größte ist, die dem, der sie erhält, am wertvollsten ist: und kein Ding ist so wertvoll wie jenes, mittels dessen alle anderen gewollt werden; und alle anderen Dinge werden zur Vollkommnung desjenigen, der will, gewollt. (3) Da der Mensch zwei Vollkommenheiten hat, eine erste und eine zweite – die erste verleiht ihm Sein, die zweite verleiht ihm Gutsein –, habe ich, wenn die eigene Sprache mir Ursache sowohl der einen wie der anderen gewesen ist, von ihr allergrößte Wohltat empfangen. Und daß sie mir [Ursache des Seins] und, von einem allfälligen Mangel meinerseits abgesehen, [des Gutseins] gewesen ist, kann man kurz zeigen. (4) Es ist für ein Ding nicht [unangebracht], mehrere Wirkursachen zu haben, wobei die eine die anderen übertrifft; so sind das Feuer und der Hammer Wirkursachen des Messers, im höchsten Maße aber der Schmied. Diese meine Volkssprache war die Vermählerin meiner Erzeuger, die sich in dieser [Sprache] verständigten, so wie das Feuer die Vorbereitung des Eisens für den Schmied ist, der das Messer macht; wodurch offensichtlich ist, daß [die Volkssprache] meiner Zeugung beigestanden hat und so eine Ursache meines Seins ist. (5) Weiter, diese meine Volkssprache hat mich in den Weg der Wissenschaft eingeführt, die die letzte Vollendung ist, insofern ich durch sie in das Latein eintrat und mit dieser [ Volkssprache] mir das [Latein] gezeigt wurde: dieses Latein war mir in der Folge der Weg zu weiterem Fortschritt. Und so ist deutlich und von mir anerkannt, daß [die Volkssprache] mir gegenüber größte Wohltäterin gewesen ist. (6) Auch ist sie mit mir zusammen ein einziges Streben gewesen, und das kann man folgendermaßen zeigen. Jedes Ding strebt natürlicherweise seine Erhaltung an: weswegen, wenn die Volkssprache für sich selbst streben könnte, es diese anstreben würde: und diese [ Erhaltung ] bestünde darin, sich selbst auf größere Beständigkeit hin zu ordnen, und größere Beständigkeit als in Vers und Reim gebunden könnte sie nicht

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haben. (7) Und dasselbe Streben ist das meine gewesen, was so offensichtlich ist, daß es keiner weiteren Zeugnisse bedarf. Deswegen ist ihr und mein Streben identisch gewesen; deswegen ist durch diese Übereinstimmung die Freundschaft gestärkt worden und angewachsen. (8) Auch war die Gewohnheit des Wohlwollens vorhanden, denn von Beginn meines Lebens an war ich ihr gegenüber wohlwollend und habe ich mit ihr Umgang gehabt und sie beim Abwägen, Deuten und Fragen benützt. (9) Wenn also die Freundschaft durch die Gewohnheit anwächst, wie es gut wahrnehmbar ist, so ist offensichtlich, daß diese [Freundschaft] in mir, der ich mich dieser Volkssprache mein ganzes Leben lang bedient habe, in größtem Maße gewachsen ist. (10)  Und so sieht man, wie bei dieser Freundschaft alle erzeugenden und wachstumsfördernden Ursachen der Freundschaft mitgewirkt haben: weswegen geschlossen wird, daß ich ihr gegenüber nicht nur Liebe, sondern vollkommenste Liebe haben muß und habe. (11) Den Blick nach hinten wendend und die vorher genannten Gründe zusammenfassend, kann man dieses Brot, mit dem die unten angeführten Lieder zu essen sind, als vom Makel und dem Umstand, daß es aus Gerste ist, genügend gereinigt erkennen; weswegen es nun Zeit ist, mit dem Auftragen der Speisen zu beginnen. (12) Dies wird jenes Gerstenbrot sein, an dem sich Tausende sättigen werden, und mir werden sie die vollen Körbe übrig lassen. Dies wird neues Licht sein, neue Sonne, die dort aufgehen wird, wo die verbrauchte untergehen wird, und sie wird jenen Licht geben, die in Finsternis und Dunkelheit leben, wegen der abgenutzten Sonne, die ihnen nicht leuchtet.

Zweites Buch Ihr, die Ihr denkend den dritten Himmel bewegt, hört die Gedanken meines Herzens, die niemand anderem ich zu sagen weiß, derart scheinen sie [ mir neu. Der Himmel, der Eurer Kraft folgt, höfliche Wesen, die Ihr seid, versetzte mich in den Zustand, in dem ich mich befinde. Weswegen die Rede über das Leben, das ich führe, sich würdigerweise an Euch wendet: deswegen bitte ich Euch, daß Ihr sie mir versteht. Ich werde Euch vom Herzen Neuigkeit sagen, wie die traurige Seele in ihm weint, und wie ein Geist ihr widerspricht, der auf Strahlen von Eurem Stern herunterkommt. Es pflegte das Leben des schmerzenden Herzens ein süßer Gedanke zu sein, der oft zu Füßen unseres Herrn weilte, wo er eine selige Frau sah, von der er so lieblich zu mir sprach, daß die Seele sagte: „Ich will gehen.“ Jetzt erscheint, was ihn flüchten läßt, und es beherrscht mich mit solcher Kraft, daß das Herz sichtlich bebt. Dies läßt mich eine Frau erblicken und sagt: „Wer das Heil sehen will, stelle es so an, daß er die Augen dieser Frau sehe, doch ohne die Beklemmung der Seufzer zu fürchten.“ Einen Gegner, der ihn zerstört, findet der demütige Gedanke, der zu mir zu sprechen pflegt

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von einer Engelin, die gekrönt im Himmel ist. Die Seele weint, so sehr schmerzt es sie, und sagt: „Wehe mir, wie flieht doch dieser Mitleidvolle, der mich getröstet hat!“ Von meinen Augen sagt die Verängstigte: „Verflucht die Stunde, da diese Frau sie sah! Und weswegen haben sie mir ihr bezüglich nicht geglaubt? Ich sagte: ‚Wahrlich in ihren Augen muß jener sein, der meinesgleichen tötet!‘ Nichts hat es mir genützt, daß ich bemerkt habe, daß sie nicht so geschaut haben, daß ich davon gestorben bin.“ „Du bist nicht gestorben, Du hast Dich bloß verirrt, meine Seele, die Du Dich sosehr beklagst,“ sagt ein höflicher Liebesgeist; „denn jene schöne Frau, von der Du hörst, hat Dein Leben derart verändert, daß Du Angst hast, so wertlos bist Du geworden! Schau wie mitleidsvoll und demütig sie ist, weise und höflich in ihrer Größe, und denk daran, sie jetzt Frau zu rufen! Denn wenn Du Dich nicht selber täuschst, wirst Du sehen so hoher Wunder Schmuck, daß Du sagen wirst: ‚Amor, wahrhafter Herr, da ist Deine Magd; mach, was Dir beliebt.‘“ Kanzone, ich glaube, es werden wenige sein, die Deine Gedanken richtig deuten, zu anstrengend und gewaltig sprichst Du. Weswegen, so es der Zufall will, daß Du zu Menschen kommst, die Dich scheinbar nicht richtig verstanden haben, ich Dich bitte, daß Du Dich stärkst, indem Du, geliebte Kunde, ihnen sagst: „Achtet mindestens darauf, wie schön ich bin!“



i. Nachdem ich der Einleitung gemäß aufgewartet habe, [und] mein Brot im vorangehenden Buch zur Genüge vorbereitet worden ist, verlangt und ruft die Zeit nun danach, daß mein Schiff den Hafen verläßt; deshalb wage ich mich, nachdem das Segel der Vernunft an den Wind meines Verlangens gebracht worden ist, in der Hoffnung auf einen angenehmen Weg und auf einen rettenden und lobenswerten Hafen am Ende meines Gastmahls, auf das Meer. Aber damit diese meine Nahrung in höherem Maße zum Vorteil gereiche, will ich, ehe die erste Speise aufgetragen wird, zeigen, wie man essen muß. (2) Ich sage, wie es im ersten Kapitel bereits erklärt worden ist, daß diese Auslegung buchstäblich und allegorisch zu sein hat. Und um dies zu verstehen, muß man wissen, daß man die Schriften höchstens in vier Sinnen verstehen kann und aus­ legen muß. (3) Der erste [Sinn] wird der buchstäbliche genannt [und dieser reicht nicht über den Buchstaben der erfundenen Worte hinaus, wie es die Erzählungen der Dichter sind. Der zweite wird der allegorische Sinn genannt], und dieser versteckt sich unter dem Mantel dieser Erzählungen, und er ist eine unter einer schönen Lüge verborgene Wahrheit: wie wenn Ovid sagt, daß Orpheus mit der Zither die wilden Tiere zähmte und die Bäume und Steine in Bewegung versetzte; was besagen soll, daß der Weise mittels des Instrumentes seiner Stimme die harten Herzen zahm und demütig macht und daß er jene seinem Willen entsprechend bewegt, die kein der Wissenschaft und der Kunst entsprechendes Leben führen: Und jene, die kein vernünftiges Leben haben, sind beinahe wie Steine. (4)  Weswegen dieses Versteck durch die Weisen gefunden worden ist, wird im zweitletzten Traktat [dieses Werkes] gezeigt werden. Tatsächlich fassen die Theologen diesen Sinn anders auf als die

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Dichter; aber da es hier meine Absicht ist, der Art der Dichter zu folgen, fasse ich den allegorischen Sinn so auf, wie er von den Dichtern benützt wird. (5)  Der dritte Sinn wird der moralische genannt, und diesen müssen die Lektoren in den Schriften zu ihrem eigenen und zum Nutzen ihrer Schüler aufmerksam aufzuspüren versuchen; als Beispiel kann man [die Stelle] des Evangeliums auslegen, wo Christus zur Verklärung auf den Berg gestiegen ist, [und] er von den zwölf Aposteln nur die drei mitgenommen hat; was moralisch so zu verstehen ist, daß wir in den geheimsten Angelegenheiten wenig Begleiter haben dürfen. (6) Der vierte Sinn wird der anagogische genannt, d. h. Übersinn; und dieser ist dann gegeben, wenn man eine Schrift geistig auslegt, die, obgleich sie auch im [buchstäblichen Sinn wahr ist], durch die bezeichneten Dinge die erhabenen Dinge der ewigen Herrlichkeit bezeichnet: wie man in jenem Gesang des Propheten sehen kann, der sagt, daß im Auszug des Volkes Israel aus Ägypten Judäa geheiligt und befreit worden ist. (7) Obwohl es dem Buchstaben nach offensichtlich wahr ist, ist es in dem, was man geistig [davon] versteht, nicht weniger wahr, nämlich daß beim Auszug der Seele aus der Sünde die Seele in ihrer Fähigkeit geheiligt und befreit wird. (8) Und beim Aufweisen dieses [Sinnes] muß der buchstäbliche [Sinn] immer vorangehen als jener, in dessen Aussage die anderen eingeschlossen sind, und ohne welchen es unmöglich und unvernünftig wäre, die anderen, besonders den allegorischen, anzugehen. (9)  Dies ist unmöglich, weil bei jedem Ding, das ein Innen und ein Außen hat, es unmöglich ist, zum Innen zu kommen, wenn man nicht zuerst zum Außen kommt: da in den Schriften [die buchstäbliche Aussage] immer das Außen ist, ist es unmöglich, zu den anderen, besonders zur allegorischen [Aussage] zu kommen, ohne zuerst zur buchstäblichen zu kommen. (10) Weiter ist es unmöglich, weil jedes natürliche oder künstliche Ding unmöglich die Form erreichen kann, ohne daß zuerst das Zugrundeliegende bereitet



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ist, auf dem die Form stehen muß: so wie die Form des Goldes unmöglich erscheinen kann, wenn die Materie, d. h. das Zugrundeliegende, nicht bereit und zurechtgemacht ist, oder die Form des Bogens, wenn die Materie, d. h. das Holz, nicht zuerst vorbereitet und zurechtgemacht ist. (11) Da die buchstäbliche Aussage immer das Zugrundeliegende und die Materie der anderen, besonders der allegorischen [Aussage] ist, ist es unmöglich, zuerst zur Kenntnis der anderen zu gelangen [und erst danach] zu ihr. (12) Weiter ist es unmöglich, weil es bei jedem natürlichen oder künstlichen Ding unmöglich ist fortzufahren, wenn nicht zuerst das Fundament gelegt ist, so wie beim Haus und beim Wissenserwerb: Da das Aufweisen das Errichten der Wissenschaft ist und da das buchstäbliche Aufweisen das Fundament der anderen [Arten des Aufweisens], besonders der allegorischen ist, ist es den anderen unmöglich, vor der [buchstäblichen Art des Aufweisens] zu kommen. (13) Weiter wäre es, gesetzt es wäre möglich, unvernünftig, d. h. ohne jede Ordnung, und deshalb würde man nur mit viel Mühe und vielen Fehlern vorankommen. Denn, wie der Philosoph im ersten Buch der Physik sagt, die Natur will, daß wir in unseren Kenntnissen wohlgeordnet vorgehen, d. h. daß wir von dem, das wir besser kennen, zu jenem, das wir nicht so gut kennen, voranschreiten: ich sage, daß die Natur [dies] will, insofern dieser Weg der Erkenntnis uns von Natur aus angeboren ist. (14) Da also die anderen Sinne weniger verstanden werden als der buchstäbliche – daß dem so ist, ist ganz offensichtlich –, wäre es unvernünftig, diese aufweisen zu wollen, ohne zuerst den buchstäblichen zu zeigen. (15) Aus diesen Gründen werde ich also bei jeder Kanzone zuerst die buchstäbliche Aussage erklären und hinterher werde ich ihre Allegorie verhandeln, d. h. die versteckte Wahrheit; manchmal werde ich die anderen Sinne nebenbei streifen, wie es sich je nach Ort und Zeit erweisen wird. •

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ii. Ich beginne also und sage, daß der Stern der Venus seit dem Ableben jener glückseligen Beatrice, die im Himmel mit den Engeln lebt und auf Erden mit meiner Seele, zwei Mal jenen Kreis durchwandert hat, der sie je nach Zeit abendlich und morgendlich erscheinen läßt, als jene edle Frau, die ich am Ende des Neuen Lebens erwähnt habe, von Amor begleitet zum ersten Mal in meinen Blick trat und in meinem Geist einen Platz eroberte. (2) Wie ich es im angeführten Büchlein dargelegt habe, war es eher ihre edle Gesinnung als meine Wahl, die mich zustimmen ließen, ihr zu gehören; denn sie zeigte sich angesichts meines verwitweten Lebens von soviel Barmherzigkeit ergriffen, daß die Geister meiner Augen in höchstem Maße zu ihren Freunden wurden. Und in diesem Zustand bewirkten sie in [mir], daß mein Wollen glücklich war, sich dem Bild [der edlen Frau] hinzugeben. (3) Aber weil Liebe nicht sofort entsteht und groß und vollkommen wird, sondern einer gewissen Zeit bedarf und der Speisung durch Gedanken, besonders wenn es da entgegengesetzte Gedanken gibt, die sie behindern, kam es, ehe diese neue Liebe vollkommen war, zu zahlreichen Schlachten zwischen dem [diese Liebe] speisenden Gedanken und jenem entgegengesetzten [Gedanken], der für die glückselige Beatrice noch den Burgfels meines Geistes hielt. (4) Aber der eine wurde beständig [vom Anblick] unterstützt und der andere von der Erinnerung an das Zurückliegende. Und die Unterstützung durch den Anblick wuchs mit jedem Tag, was die andere [ Unterstützung ] nicht tun konnte, da sie jene fürchtete, die es irgendwie verhinderte, daß das Gesicht sich nach hinten wandte; denn mir schien sie so wunderbar und es war so hart zu ertragen, daß ich es nicht aushalten konnte. (5) Gleichsam flehend und um meine Wechselhaftigkeit, in der ich als der Beständigkeit ermangelnd erschien, zu entschuldigen, wandte ich meine Stimme jener Seite zu, von wo der Sieg des neuen Gedankens ausging, der so tugendhaft war wie die himmlische Tugend; und ich begann: Ihr, die denkend den dritten Himmel bewegt.



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(6) Um das von dieser Kanzone Gemeinte richtig aufzufassen, muß man zuerst ihre Teile kennen, anschließend wird es dann leicht sein, das Gemeinte wahrzunehmen. Damit es nicht nochmals nötig ist, diese Worte bei der Deutung der anderen vorauszuschicken, sage ich, daß ich die Ordnung, die in diesem Traktat zugrunde gelegt wird, für alle anderen beizubehalten gedenke. (7)  Ich sage also, daß die vorgelegte Kanzone drei Hauptteile umfaßt. Der erste ist ihre erste Strophe; in ihr werden bestimmte Intelligenzen oder, um in einer gebräuchlicheren Art zu sprechen, die Engel, die als Beweger für die Umdrehung des Venushimmels verantwortlich sind, angeleitet, das zu hören, was ich zu sagen beabsichtige. (8) Der zweite [Teil] besteht in den drei Strophen, die unmittelbar auf die ersten folgen: in ihnen zeigt sich das, was man im Inneren geistig beim Streit verschiedener Gedanken spürte. (9) Der dritte [Teil] ist die fünfte und letzte Strophe: in der der Autor sich direkt an das Werk richten will, um dieses gleichsam zu ermutigen. Und diese drei Teile sind der Reihe nach, wie es oben gesagt worden ist, darzulegen. •

iii. Um die buchstäbliche Aussage, deren wir uns jetzt anzunehmen gedenken, des ersten oben ausgegliederten Teiles deutlicher zu sehen, muß man wissen, wer und wie viele jene sind, die dazu aufgerufen sind, mir zuzuhören, und welcher Art dieser dritte Himmel ist, von dem ich sage, daß sie ihn bewegen: und zuerst werde ich vom Himmel sprechen und dann von jenen, an die ich mich wende. (2) Und weil es so ist, daß man von diesen Dingen im Hinblick auf die Wahrheit nur sehr wenig wissen kann, hat das Wenige, das die menschliche Vernunft davon sieht, gemäß der Aussage des Philosophen im Buch Über die Tiere, mehr Erfreuendes als das Viele und Sichere jener Dinge, die man [gemäß den Sinnen] beurteilt. (3) Ich sage also, daß über Zahl und Ort der Himmel viele

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verschiedene Meinungen vertreten, wobei die Wahrheit zum Schluß doch gefunden wird. Aristoteles glaubte, wobei er einfach der antiken Ungenauigkeit der Astronomen folgte, daß es nur acht Himmel gebe, von denen der äußerste, der alle anderen enthalte, jener sei, wo sich die Fixsterne befinden, d. h. die achte Sphäre; und daß außerhalb dieses Himmels kein anderer sei. (4)  Weiter glaubte er, daß der Himmel der Sonne unmittelbar auf den Mondhimmel folge, d. h. von uns her der zweite sei. Und diese seine derart falsche Meinung kann, wer will im zweiten Buch von Über den Himmel und die Erde nachlesen, das das zweite der naturwissenschaftlichen Bücher ist. Tatsächlich entschuldigt er sich hierfür im zwölften Buch der Metaphysik, wo er deutlich zeigt, wie er, wo er über Astronomie zu sprechen hatte, auch der Meinung anderer gefolgt ist. (5) Als Ptolemaeus in der Folge merkte, daß die achte Sphäre mehrere Bewegungen vollzieht, weil er sah, wie ihr Kreis sich vom richtigen Kreis wegbewegt, der sich ganz von Osten nach Westen dreht, setzte er, von den ersten Prinzipien der Philosophie gezwungen, die aus Notwendigkeit ein erstes allereinfachstes Bewegtes verlangen, einen anderen Himmel außerhalb des Fixsternhimmels, der diese Bewegung von Osten nach Westen vollzog: Von dieser [Bewegung ] sage ich, daß sie sich in beinahe vierundzwanzig Stunden vollzieht, [d. h. in dreiundzwanzig Stunden] und vierzehn Teilen von fünfzehn einer zusätzlichen Stunde, wenn wir es grob abmessen. (6) Deswegen sind es gemäß Ptolemaeus, aufgrund dessen, was in der Astronomie und der Philosophie gilt, nachdem diese Bewegungen wahrgenommen worden waren, neun bewegte Himmel; die Lage [dieser Himmel] ist offenkundig und bestimmt durch das, was gemäß der Kunst der Perspektive, der Arithmetik und der Geometrie sinnlich und vernünftig wahrgenommen werden kann und durch andere sinnliche Erfahrungen: So zum Beispiel, daß bei der Sonnenfinsternis der Mond wahrnehmbar vor der Sonne erscheint, oder gemäß dem Zeugnis des Aristoteles (im zweiten



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Buch von Über den Himmel und die Erde), der mit den [eigenen] Augen den Neumond von der nichtleuchtenden Seite her unter den Mars eintreten sah, wobei Mars so lange verborgen war, bis er auf der anderen, der leuchtenden Seite des Mondes erschien, der im Osten stand. (7) Die Anordnung ist die folgende: den ersten, den sie zählen, ist jener, wo sich der Mond befindet; der zweite ist jener des Merkurs; der dritte ist jener der Venus; der vierte ist jener der Sonne; der fünfte ist jener des Mars; der sechste ist jener des Jupiter; der siebente jener des Saturn; der achte jener der Sterne; der neunte jener, der nicht sichtbar ist, außer aufgrund der oben erwähnten Bewegung [und] diesen nennen viele den Kristallhimmel, d. h. lichtdurchlässig oder besser, gänzlich transparent. (8)  Schließlich setzten die Christen außerhalb all dieser [Himmel] den Himmel des Empyreums, was soviel heißt wie Himmel der Flammen oder besser leuchtender [Himmel]; und sie nahmen an, er sei unbewegt, da er in sich in jedem seiner Teile das hat, was seine Materie will. (9)  Und er ist die Ursache für die sehr schnelle Bewegung des ersten Bewegten; wegen der glühenden Lust, die in jedem Teil des unmittelbar folgenden neunten Himmels danach besteht, mit jedem Teil des allergöttlichsten ruhigen Himmels vereinigt zu sein, dreht er innerhalb des [zehnten Himmels] mit so viel Verlangen, daß es beinahe unverständlich ist. (10) Und ruhig und friedlich ist der Ort der höchsten Gottheit, die allein sich ganz erfaßt. Wie die heilige Kirche, die keine Lügen erzählen kann, lehrt, ist dies der Ort der glückseligen Geister; und Aristoteles scheint, wenn er richtig verstanden wird, im ersten Buch Über den Himmel und die Erde dasselbe zu sagen. (11) Dies ist das äußerste Bauwerk der Welt, in das die ganze Welt eingeschlossen ist, und außerhalb davon ist nichts; und [dieses Bauwerk] ist nicht an einem Ort, sondern es wurde nur im ersten Geist, den die Griechen Protonoe nennen, geformt. Dies ist jene Erhabenheit, von der der Psalmist spricht, wenn er zu Gott sagt: „Über die Himmel

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ist deine Erhabenheit erhoben“. (12) Die Darlegung zusammenfassend scheint es, daß es zehn Himmel gibt, von denen der [Himmel] der Venus jener dritte ist, der in jenem Teil, den ich auszulegen beabsichtige, erwähnt wird. (13) Und man muß wissen, daß jeder der Himmel unterhalb des Kristallhimmels zwei in Bezug auf sich fixe Pole hat; und beim neunten sind sie in jeder Hinsicht unbewegt, fix und unveränderlich. Und jeder, sowohl der neunte als auch die anderen, hat einen Kreis, den man Äquator des jeweiligen Himmels nennen kann; dieser ist in jedem Abschnitt seiner Kreisbewegung vom einen und vom anderen Pol gleich weit entfernt, was jeder sinnlich wahrnehmen kann, der einen Apfel oder einen anderen runden Gegenstand dreht. Und dieser Kreis hat in jedem Himmel in seiner Bewegung eine größere Geschwindigkeit als jeder andere Teil des entsprechenden Himmels, wie, wer es genau bedenkt, sehen kann. (14) Und je näher ein Teil ihm ist, desto schneller bewegt er sich; je weiter er von ihm entfernt und dem Pol näher ist, desto langsamer ist er, denn seine Umdrehung ist kleiner und muß sich notwendigerweise in derselben Zeit vollziehen wie die größere. (15) Weiter sage ich, daß je näher ein [Teil eines] Himmels [seinem] Äquatorkreis ist, desto edler ist er im Vergleich zu seinen Polen, denn er hat [dort] mehr Bewegung, mehr Aktualität, mehr Leben und mehr Form, und er berührt dort mehr von dem [Himmel], der über ihm ist, und folglich ist er [dort] tugendhafter. Deswegen sind die Sterne des Fixsternhimmels im Vergleich zueinander mehr mit Tugend erfüllt, je näher sie diesem Kreis sind. (16) Und auf dem Rücken dieses Kreises im Venushimmel, von dem wir zur Zeit ja handeln, befindet sich eine kleine Sphäre, die sich ihrerseits in diesem Himmel dreht; den Kreis dieser [kleinen Sphäre] nennen die Astronomen Epizyklus. Und so wie die große Sphäre sich um zwei Pole dreht, so diese kleine und so hat [auch] diese kleine ihren Äquatorkreis und ebenso ist sie edler, je näher sie diesem ist; und auf dem Bogen, oder besser



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Rücken dieses Kreises ist der allerleuchtendste Stern der Venus angebracht. (17) Und wenn gesagt worden ist, daß es zehn Himmel gibt, so ist [zu ergänzen], daß gemäß der streng gefaßten Wahrheit, diese Zahl nicht alle [Himmel] einschließt; denn jener, den wir [eben] erwähnt haben, d. h. der Epizyklus, an dem der Stern festgemacht ist, bildet einen Kreis für sich, oder besser eine Sphäre, und er ist nicht eines Wesens mit dem [Himmel], der ihn trägt: wobei er allerdings mit diesem mehr gemeinsame Natur hat als mit den anderen; und mit ihm zusammen wird er ein Himmel genannt, und der eine und der andere leiten ihren Namen vom Stern her. (18) Wie die anderen Himmel und die anderen Sterne beschaffen sind, ist gegenwärtig nicht zu verhandeln: was von der Wahrheit des dritten Himmels gesagt worden ist, auf den ich mich hier beziehe und von dem das, was hierzu gehört, vollständig gezeigt worden ist, möge genügen. •

iv. Nachdem im vorangehenden Kapitel gezeigt worden ist, welcher dieser dritte Himmel ist und wie er in sich selbst geordnet ist, bleibt zu zeigen, wer diese sind, die ihn bewegen. (2) Zuerst ist zu wissen, daß die Beweger jener [Himmel] von Materie getrennte Substanzen sind, d. h. Intelligenzen, die die gewöhnlichen Leute Engel nennen. Und bezüglich dieser Geschöpfe haben, wie bezüglich der Himmel, verschiedene Verschiedenes vertreten, wobei die Wahrheit [schließlich] gefunden worden ist. (3) Es gab gewisse Philosophen, zu denen auch Aristoteles mit seiner Metaphysik zu gehören scheint, (wobei er im ersten Buch von Über den Himmel und die Erde nebenbei anderer Meinung zu sein scheint,) die glaubten, daß es nur so viele [Intelligenzen] gebe, wie es in den Himmeln Kreisbewegungen gebe, und nicht mehr; wobei sie sagten, daß andere [Intelligenzen] für alle Ewigkeit vergebens, d. h. ohne Tätigkeit, gewesen wären; was unmöglich ist, denn ihr Sein ist ihre Tätigkeit. (4) Es gab andere, wie der hervorragende Platon, die

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nicht nur so viele Intelligenzen setzten, wie es Bewegungen des Himmels gibt, sondern so viele, wie es Arten der Dinge gibt, (d. h. Weisen der Dinge): so wie eine Art alle Menschen umfaßt, eine andere alles Gold, eine andere alle Ausdehnungen und so von allem. (5) Und sie wollten, daß so wie die Intelligenzen der Himmel die Erzeugerinnen dieser [Himmel] sind, [d. h.] jede des ihren, so die [Intelligenzen] auch die Erzeugerinnen der anderen Dinge und Vorbilder wären, jede der ihr eigenen Art; und Platon nennt sie „Ideen“, was soviel bedeutet, wie allgemeine Formen und Naturen. (6) Die Nichtchristen nennen sie Götter und Göttinnen, wobei sie diese nicht so philosophisch verstanden wie Platon und sie ihre Standbilder verehrten und ihnen riesige Tempel bauten: wie der Juno, die sie die Göttin der Kraft nannten; wie der Athene, bzw. Minerva, die sie die Göttin der Weisheit nannten; wie dem Vulkan, den sie den Gott des Feuers nannten, und der Kore, die sie die Göttin des Getreides nannten. (7)  Diese Dinge und Meinungen machen die Zeugnisse der Dichter deutlich, die vereinzelt von den Opfern und vom Glauben der Nichtchristen berichten; und weiter zeigt sich das in vielen alten Namen, die sich als Namen oder Übernamen von Orten und alten Bauwerken erhalten haben, wie es, wer will, ohne weiteres entdecken kann. (8) Und obwohl die genannten Meinungen sich der menschlichen Vernunft verdanken und schwerwiegenden Erfahrung, so wurde die Wahrheit von ihnen doch nicht gesehen, und zwar sowohl aus Mangel an Vernunft wie auch aus Mangel an Belehrung; und dennoch kann man mit Hilfe der Vernunft sehen, daß die oben genannten Geschöpfe der Zahl nach weit mehr sind als die Wirkungen, die die Menschen verstehen können. (9) Und der eine Grund ist der folgende. Niemand, weder Philosophen, noch Nichtchristen, noch Juden, noch Christen, noch irgendwelche Sekten, zweifelt daran, daß alle oder der größte Teil [der Intelligenzen] nicht ganz voll von Glückseligkeit sind und daß jene Seligen nicht im vollkommensten Zustand sind.



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(10) Daher, da auch die menschliche Natur nicht nur eine Glückseligkeit hat, sondern zwei, nämlich die des gesellschaftlichen Lebens und jene des kontemplativen Lebens, wäre es, da wir feststellen, daß jene im Lenken der Welt die Glückseligkeit des aktiven, d. h. gesellschaftlichen Lebens haben, unvernünftig, wenn sie die kontemplative [Glückseligkeit], die erhabener und göttlicher ist, nicht haben würden. (11) Und weil jene, die die Glückseligkeit des Lenkens hat, die andere nicht haben kann, denn ihr Intellekt ist einer und immerwährend, muß es zusätzlich zu dieser Aufgabe andere [Intelligenzen] geben, die nur in der Schau leben. (12) Und weil dieses Leben göttlicher ist und weil je göttlicher etwas ist, es Gott desto ähnlicher ist, ist offensichtlich, daß dieses Leben von Gott mehr geliebt wird: und wenn es mehr geliebt ist, dann ist ihre Fähigkeit zur Glückseligkeit umfassender eingerichtet: und wenn sie umfassender eingerichtet ist, dann hat [er] sie einer größeren Zahl von Lebewesen gegeben als die andere. Deshalb wird geschlossen, daß die Zahl jener Geschöpfe, die nicht durch die Wirkung bewiesen werden, viel größer ist. (13)  Und dem widerspricht nicht, was Aristoteles im zehnten Buch der Ethik zu sagen scheint, nämlich daß den getrennten Substanzen nur das beschauende Leben zukommt. Zwar kommt ihnen nur das beschauende Leben zu, doch folgt die Schau einiger der Umdrehung des Himmels, worin das Lenken der Welt besteht; diese ist beinahe eine wohlgeordnete Gesellschaft bezogen auf die Schau der Beweger. (14) Der andere Grund ist, daß keine Wirkung größer ist als die Ursache, denn die Ursache kann nicht geben, was sie nicht hat; da der göttliche Intellekt Ursache von allem ist, besonders des menschlichen Intellekts, übertrifft der menschliche [Intellekt] jenen [ göttlichen] nicht, sondern er wird von diesem unverhältnismäßig übertroffen. (15) Wenn wir aufgrund der oben genannten und vieler anderer Gründe meinen, daß Gott beinahe unzählbar viele geistige Geschöpfe gemacht haben kann,

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dann ist offenkundig, daß er diese in einer noch größeren Zahl gemacht hat. Andere Gründe kann man auch noch sehen, aber diese mögen zur Zeit reichen. (16) Niemand soll sich wundern, wenn diese und andere Argumente, die wir diesbezüglich haben können, nicht vollständig bewiesen sind; daß wir aber zugleich ihre Erhabenheit bewundern, die die Augen des menschlichen Geistes blendet, wie es der Philosoph im zweiten Buch der Metaphysik sagt, und wir ihre Existenz bejahen müssen. (17)  Denn obwohl wir von ihnen keinen Sinneseindruck haben, von dem unsere Erkenntnis ihren Ausgang nimmt, so reflektiert in unserem Geist trotzdem etwas von dem Licht ihres überaus lebendigen Wesens, insofern wir die oben dargelegten und viele andere Argumente sehen; so wie, wer die Augen geschlossen hat aufgrund von ein wenig Helligkeit, oder besser aufgrund eines Strahls, der jenem gleicht, der durch die Pupille der Fledermaus dringt, bejaht, daß die Luft lichterfüllt ist: denn nicht anders sind unsere intellektuellen Augen geschlossen solange die Seele durch die Organe unseres Körpers gebunden und eingesperrt ist. •

v. Es ist also gesagt worden, daß die Alten dem Mangel an Belehrung wegen die geistigen Geschöpfe nicht gesehen haben, wobei das Volk Israel zum Teil von seinen Propheten belehrt worden ist, „in denen Gott in vielen Arten und Weisen des Sprechens zu ihnen gesprochen hatte“, wie der Apostel sagt. (2) Aber wir sind diesbezüglich durch jenen belehrt, der von jenem kam, von jenem, der sie geschaffen hat und der sie bewahrt, d. h. vom Kaiser des Universums [und] dieser ist Christus, Sohn des höchsten Gottes und Kind der Jungfrau Maria, (der wirklichen Frau und Tochter des Joachim und des Adam,) wirklicher Mensch, der von uns zu Tode gebracht worden ist, wodurch er uns das Leben gebracht hat. (3) „Er war das Licht, das uns in der Finsternis leuchtet“, wie der Evangelist Johannes sagt, und er sagte uns



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die Wahrheit über jene Dinge, die wir ohne ihn weder wissen noch wirklich sehen konnten. (4) Das erste Ding und das erste Geheimnis, das er zeigte, war eines der genannten Geschöpfe: das war nämlich sein großer Gesandter, der, vom himmlischen Arzt geschickt, zu Maria, zum jungen Mädchen von dreizehn Jahren kam. Dieser unser Retter sagte mit seinem eigenen Mund, daß der Vater ihm viele Heerscharen Engel geben könne; und diese verneinte er nicht, als ihm gesagt wurde, der Vater habe den Engeln befohlen, ihm zu dienen und zu helfen. (5) Deshalb ist es für uns offensichtlich, daß diese Geschöpfe eine unermeßliche Zahl ausmachen; deswegen bestätigt, glaubt und predigt seine Braut und seine Geheimnisverwalterin, die heilige Kirche – von der Salomon sagt: „Wer steigt da von der Wüste herauf, voll von jenen erfreuenden Dingen, gestützt auf ihren Freund?“ – jene alleredelsten Geschöpfe in einer beinahe unendlichen Zahl. Und sie teilt sie in drei Hierarchien, d. h. in drei heilige oder besser göttliche Fürstentümer, und jede der Hierarchien hat drei Ordnungen; so daß die Kirche neun Ordnungen geistiger Geschöpfe behauptet und bekräftigt. (6) Die erste [Ordnung ] ist die der Engel, die zweite die der Erzengel, die dritte die der Throne; und diese drei Ordnungen machen die erste Hierarchie aus: erste [Hierarchie] aber weder bezüglich der Edelkeit noch bezüglich der Schöpfung, (denn die anderen sind edler und alle wurden gemeinsam geschaffen), aber erste hinsichtlich unseres Aufsteigens zu ihrer Höhe. Darauf folgen die Herrschaften, danach die Tugenden, schließlich die Fürstentümer: und diese bilden die zweite Hierarchie. Über diesen sind die Mächte und die Cherubime und über allen sind die Seraphime: und diese bilden die dritte Hierarchie. (7) Und es waltet allerstärkste Vernunft in ihrer Schau sowohl bezüglich der Zahl der Hierarchien als auch ihrer Ordnungen. Denn da die göttliche Majestät in drei Personen ist, die eine Substanz haben, kann man sie dreifach beschauen. (8) Denn man kann die höchste Macht des V ­ aters

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beschauen; diese betrachtet die erste Hierarchie, d. h. jene, die der Edelkeit nach die erste ist und die wir als letzte aufgezählt haben. Und man kann die höchste Weisheit des Sohnes beschauen; und dieses betrachtet die zweite Hierarchie. Und man kann die höchste und wärmste Liebe des heiligen Geistes beschauen; und diese betrachtet die letzte Hierarchie, die, uns am nächsten, von den Dingen, die sie empfängt, an uns weiterreicht. (9) Und weil man jede Person in der göttlichen Trinität dreifach bedenken kann, sind in jeder Hierarchie drei Ordnungen, die je verschieden beschauen. Man kann den Vater bezüglich seiner selbst bedenken; und diese Schau ist den Seraphimen eigen, die mehr von der Ersten Ursache sehen als jede andere Engelsnatur. (10)  Man kann den Vater bedenken, insofern er eine Beziehung zum Sohn hat, d. h. wie er sich von ihm unterscheidet und wie er sich mit ihm vereint; und dies beschauen die Cherubime. Und man kann den Vater schließlich insofern bedenken, als von ihm der heilige Geist ausgeht, und wie er sich von ihm unterscheidet und wie er sich mit ihm vereint; und diese Schau ist den Mächten eigen. (11) Und auf diese Art kann man den Sohn beschauen und den heiligen Geist: deshalb muß es neun Arten beschauender Geister geben, um in das Licht zu sehen, das allein sich vollständig wahrnimmt. (12)  Und hier darf etwas nicht verschwiegen werden. Ich meine, daß von all diesen Ordnungen einige, kaum waren sie geschaffen, sich verloren haben, der Zahl nach vielleicht der zehnte Teil; um diesen wiederherzustellen wurde dann die Menschennatur geschaffen. Die Zahlen, die Ordnungen und die Hierarchien erzählen die beweglichen Himmel, die neun sind, und der zehnte verkündet die Einheit und die Festigkeit Gottes. Und deshalb sagt der Psalmist: „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes und das Himmelsgewölbe verkündet das Werk seiner Hände.“ (13) Deshalb ist es vernünftig zu glauben, daß die Beweger des Mondhimmels zur Ordnung der Engel gehören, und daß [die Beweger] des Merkur Erzengel sind



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und jene der Venus Throne; diese, die ihre Natur der Liebe des heiligen Geistes verdanken, vollbringen ihre Tätigkeit, d. h. die Bewegung jenes Himmels, in Übereinstimmung mit ihrer Natur voller Liebe, von der die Form des besagten Himmels eine tugendhafte Glut empfängt, durch welche die Seelen hier unten je nach ihrer Veranlagung in Liebe entflammen. (14) Und weil die Alten bemerkten, daß dieser Himmel hier unten Ursache der Liebe war, nannten sie Amor den Sohn der Venus, wie es Vergil im ersten Buch der Aeneis bezeugt, wo Venus zu Amor sagt: „Sohn, meine Tugend, Sohn des höchsten Vaters, der du dich nicht um die Wurfspieße des Typhon kümmerst“; und Ovid im fünften Buch der Metamorphosen, wenn er berichtet, wie Venus zu Amor sagte: „Sohn, meine Waffe und meine Kraft.“ (15)  Und diese Throne, die zur Lenkung dieses Himmels abgeordnet sind, sind der Zahl nach nicht viele, aber die Philosophen und die Astronomen haben über sie verschiedene Meinungen geäußert, so wie sie auch über die Bewegungen [dieses Himmels] verschiedener Ansicht waren; wobei sie sich alle darin einig waren, daß sie [mindestens] so viele sind, wie jener Bewegungen ausführt. (16)  Diese sind, wie man es im Buch Über die Ordnungen der Sterne aus den besten Darlegungen der Astronomen zusammengefaßt findet, drei: die erste, insofern der Stern sich in Richtung seines Epizyklus bewegt; die zweite, insofern sich der Epizyklus zusammen mit dem ganzen Himmel gemeinsam mit jenem der Sonne bewegt; die dritte, insofern sich dieser Himmel in hundert Jahren um ein Grad bewegt, wobei er der Sphäre der Fixsterne von Westen nach Osten folgt. So gibt es diesen drei Bewegungen entsprechend drei Beweger. (17) Weiter bewegt sich dieser ganze Himmel, indem er sich mit dem Epizyklus von Osten nach Westen wendet, jeden natürlichen Tag einmal: ob diese Bewegung von irgendeinem Intellekt [verursacht ist] oder von der Gewalt des Ersten Beweglichen, weiß Gott allein; mir scheint es vermessen, dies zu beurteilen. (18) Diese Beweger erzeugen durch bloßes Den-

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ken die Kreisbewegung im je eigenen Zugrundeliegenden, das jeder bewegt. Die edelste Form des Himmels, die in sich das Prinzip dieser passiven Natur hat, dreht, von der bewegenden Kraft berührt, die dies denkt: und ich meine berühren nicht körperlich, [sondern] durch die Berührung der Kraft, die sich auf diesen [Himmel] ausrichtet. Und dies sind die Beweger, zu denen zu sprechen [meine] Absicht ist und an die ich meine Bitte gerichtet habe. •

vi. Gemäß dem oben im dritten Kapitel dieses Traktats Gesagten, nämlich daß es, um den ersten Teil der vorgelegten Kanzone richtig zu verstehen, notwendig ist, von jenen Himmeln und ihren Bewegern zu handeln, wurde in den drei vorangehenden Kapiteln argumentiert. Ich sage also zu jenen, von denen ich gezeigt habe, daß sie die Beweger des Venushimmels sind: Ach Ihr, die Ihr denkend – das heißt allein mit dem Intellekt, wie oben gesagt worden ist – den dritten Himmel bewegt, hört die Gedanken; und ich sage hört, nicht weil sie irgendeinen Ton hören, sondern ich sage hört, d. h. jenes Hören, das sie haben, das Verstehen mittels des Intellekts bedeutet. (2) Ich sage: Hört die Gedanken, die in meinem Herzen sind, d. h. in mir drin, denn noch ist sie nach außen hin meiner nicht in Erscheinung getreten. Und man muß wissen, daß in dieser ganzen Kanzone, sowohl der einen wie der anderen Bedeutung nach, „Herz“ für das innere Geheimnis steht und nicht für einen anderen besonderen Teil der Seele oder des Körpers. (3) Nachdem ich sie dazu aufgerufen habe, dem zuzuhören, was ich ihnen sagen will, nenne ich zwei Gründe, weswegen ich ziemenderweise zu ihnen sprechen muß. Der eine Grund ist die Neuartigkeit meines Zustandes, der, da er von den anderen Menschen noch nicht erkundet worden ist, von diesen nicht so verstanden würde, wie von jenen, die in ihren Handlungen ihre Wirkungen beabsichtigen; und diesen Grund streife ich, wenn ich sage: die niemand anderem ich zu sagen weiß, derart scheinen



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sie mir neu. (4) Der andere Grund ist [der folgende]: Wenn ein Mensch eine Wohltat erfährt, oder auch eine Beleidigung, so spricht er, falls er kann, ehe er sich an andere wendet, hiervon zuerst zu jenem, der sie ihm erwiesen [bzw. zugefügt] hat; so daß, falls es sich um eine Wohltat handelt, jener, der diese empfangen hat, sich dem Wohltäter gegenüber erkenntlich zeigt; und wenn es sich um eine Beleidigung handelt, er den Verursacher durch süße Worte zu aufrichtigem Mitleid anleitet. (5) Und diesen Grund berühre ich, wenn ich sage: Der Himmel, der Eurer Kraft folgt, höf liche Wesen, die Ihr seid, versetzte mich in den Zustand, in dem ich mich befinde. Das will sagen: Eure Tätigkeit, d. h. eure Kreisbewegung, ist es, die mich in meinen gegenwärtigen Zustand versetzt hat. Deshalb schließe ich und sage ich, daß mein Sprechen zu ihnen so sein muß, wie gesagt worden ist: und dies sage ich hier: Weswegen sich die Rede über das Leben, das ich führe, sich würdigerweise an Euch wendet. Und nachdem diese Gründe genannt sind, bitte ich sie zu verstehen, wenn ich sage: Also bitte ich Euch, daß Ihr sie mir versteht. (6) Weil der Redner aber bei jeder Art der Rede zuallererst auf die Überzeugung der Hörerschaft abzielen muß, d. h. auf die Ausschmückung, denn diese ist der Anfang aller anderen Überzeugungen, wie die Rhetoren wissen; und allerstärkste auf die Aufmerksamkeit der Hörer zielende Überzeugung besteht im Versprechen, neue und erhabene Dinge zu erzählen; [deshalb] folge ich, nachdem die Bitte zuzuhören ergangen ist, dieser Überzeugung, d. h. Ausschmückung, [und] kündige ich ihnen meine Absicht an, die darin besteht neue Dinge zu sagen, d. h. die Gespaltenheit, die in meiner Seele ist, und erhabene Dinge, d. h. die Kraft ihres Sterns. Und dies sage ich in jenen letzten Worten dieses ersten Teils: Ich werde euch vom Herzen Neuigkeit sagen, wie die traurige Seele in ihm weint, und wie ein Geist ihr widerspricht, der auf Strahlen von Eurem Stern herunterkommt. (7) Und zum vollen Verständnis dieser Worte, sage ich, daß dieser [Geist] nichts anderes ist, als der ständige Gedanke, diese

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neue Frau zu preisen und auszuschmücken; und diese Seele ist nichts anderes als ein anderer, von Zustimmung begleiteter Gedanke, der, dem ersten widerstreitend, die Erinnerung an jene herrliche Beatrice preist und ausschmückt. (8) Aber weil diese letztgenannte Meinung des Verstandes, d. h. die Zustimmung, sich durch jenen Gedanken hielt, dem die Erinnerung beistand, nenne ich [diesen Gedanken] Seele und den anderen [Gedanken] Geist; so wie wir jene die Stadt zu nennen pflegen, die sie halten und nicht jene, die sie bekämpfen, wobei die einen und die anderen Bürger [ebendieser Stadt] sind. (9) Ich sage auch, daß dieser Geist mittels der Strahlen des Sterns kommt: Wozu zu wissen ist, daß die Strahlen jedes Himmels der Weg sind, auf dem seine Tugend auf die Dinge, die hier unten sind, heruntersteigt. Und weil die Strahlen nichts anderes sind als ein Licht, das vom Ausgangspunkt des Lichtes durch die Luft bis zum erleuchteten Gegenstand gelangt, und weil es nur insofern Licht gibt, als es vom Stern herrührt, denn der Rest des Himmels ist lichtdurchlässig, d. h. durchsichtig, sage ich nicht, daß dieser Geist, d. h. dieser Gedanke, von ihrem Himmel insgesamt kommt, sondern von ihrem Stern. (10) Dieser Stern ist aufgrund der Edelkeit seiner Beweger derart tugendhaft, daß er in unserer Seele und in unseren anderen Dingen größte Macht hat, obwohl er weit entfernt ist, nämlich, wenn er am nächsten ist, 167 Mal oder mehr [die Strecke] bis zur Mitte der Erde, die ihrerseits eine Ausdehnung von 3250  Meilen einnimmt. Und dies ist die buchstäbliche Auslegung des ersten Teils der Kanzone. •

vii. Der erste Teil kann dank der vorangegangenen Worte zur buchstäblichen Aussage hinreichend verstanden werden; deshalb ist jetzt der zweite Teil anzugehen, in dem sich zeigt, was ich in meinem Innern von dem Kampf spürte. (2) Und dieser Teil hat zwei Abschnitte: zuerst, d. h. in der ersten Strophe, nenne ich die Qualitäten dieser Verschiedenheiten, die in mir



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waren, ihren Wurzeln gemäß; dann berichte ich, was die eine und die andere dieser Verschiedenheiten sagte, aber zuerst das, was die verlierende Partei sagte, und dies geschieht in der zweiten [Strophe] dieses Teils, also der dritten der Kanzone. (3) Zur Erhellung der Aussage des erstens Teils ist also zu wissen, daß die Dinge von der höchsten Edelkeit ihrer Form her zu benennen sind, so wie der Mensch von der Vernunft her und nicht von den Sinnen oder etwas anderem her, das weniger edel ist. Wenn man daher sagt, daß der Mensch lebt, muß man darunter verstehen, daß der Mensch die Vernunft gebraucht, die sein besonderes Leben ist und Akt seines edelsten Teils. (4) Und deswegen lebt, wer sich von der Vernunft trennt und nur seine Sinnesseite benützt, nicht wie ein Mensch, sondern er lebt wie ein Tier; oder wie es der hervorragende Boethius sagt: „Er lebt wie ein Esel“. Bündig sage ich, daß der Gedanke der der Vernunft eigene Akt ist, weswegen die Tiere nicht denken, weil sie keine [ Vernunft] haben; und ich meine nicht nur die niedrigen Tiere, sondern auch jene, die ein menschliches Aussehen haben und den Geist eines Schafes oder eines anderen verabscheuungswürdigen Tieres. (5) Ich sage also, daß das Leben meines Herzens, d. h. meines Inneren, ein angenehmer Gedanke zu sein pflegte, („angenehm“ bedeutet soviel wie „gewinnend“, also ausgeschmückt, lieblich, gefällig und erfreuend), dieser Gedanke ging oft zu den Füßen des Meisters jener, zu denen ich spreche, d. h. Gott: was besagt, daß ich denkend das Reich der Glückseligen beschaute. (6)  Und ich nenne sofort die Zielursache, weswegen ich denkend dort hinaufstieg, wenn ich sage: Wo er eine selige Frau sah; d. h. ich gebe zu verstehen, daß ich sicher war und es aufgrund ihrer gnädigen Offenbarung bin, daß sie im Himmel ist. Weswegen ich, so oft es mir möglich war, denkend gleichsam entrückt dorthin ging. (7) Und im Folgenden benenne ich die Folge dieses Gedankens, d. h. ich gebe seine Süße zu verstehen, die so groß war,

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daß sie mich nach dem Tod verlangen ließ, um dahin zu gelangen, wohin der Gedanke sich bewegte; und dies sage ich hier: von der er so lieblich zu mir sprach, daß die Seele sagte: Ich will gehen. Und dies ist die Wurzel der einen Verschiedenheit, die in mir war. (8) Und man muß wissen, daß, was hinaufsteigt, um jene Glückselige zu sehen, hier „Gedanke“ und nicht „Seele“ genannt wird, weil es ein jenem Akt eigener Gedanke war. Unter Seele wird hier, wie es im vorhergehenden Kapitel gesagt worden ist, ein allgemeiner, mit Zustimmung [verbundener] Gedanke verstanden. (9) Dann, wenn ich sage: Jetzt erscheint, was ihn flüchten läßt, nenne ich die Wurzel der anderen Verschiedenheit, und ich sage, daß, wie der obige Gedanke mein Leben zu sein pflegt, so ein anderer erscheint, der diesem ein Ende bereitet. Und ich sage „Flucht“, um zu zeigen, daß dieser entgegengesetzt ist, denn von Natur aus flüchtet das eine Entgegengesetzte das andere, und jener, der flüchtet, zeigt, daß er wegen einem Mangel an Tugend flüchtet. (10) Und ich sage, daß dieser Gedanke, der neu auftaucht, darin stark ist, mich einzunehmen und die ganze Seele zu erobern, indem ich sage, daß er derart herrscht, daß mein Herz, d. h. mein Inneres, zittert und mein Äußeres dies alles durch ein neues Aussehen zum Ausdruck bringt. (11) Im Folgenden zeige ich die Macht dieses neuen Gedankens anhand seiner Wirkung, indem ich sage, daß er mich eine Frau betrachten läßt, und er sagt mir schmeichelhafte Worte, d. h. er verhandelt vor den Augen meines vernünftigen Gefühls, um mich leichter zu verführen, indem er mir verspricht, daß der Anblick ihrer Augen sein Heil sind. (12) Und um dies der erfahrenen Seele besser glaubhaft zu machen, sagt er, daß eine Person, die die seufzende Beklemmung fürchtet, dieser Frau nicht in die Augen schauen darf. Und das ist die gut rhetorische Art, wenn eine Sache von außen weniger schön zu werden scheint, aber sie innen sich tatsächlich verschönert. Besser konnte dieser neue Liebesgedanke meinen Verstand nicht zur



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Zustimmung verführen als durch die tiefgründige Darlegung der Tugend ihrer Augen. •

viii. Jetzt wo gezeigt ist, wie und warum Liebe entsteht und die Gespaltenheit, die mich bekämpfte, ist es angezeigt weiterzufahren und jenen Teil der Aussage zu eröffnen, in dem verschiedene Gedanken in mir sich widerstreiten. (2) Ich sage, daß zuerst von der Seele, d. h. vom alten Gedanken, gesprochen werden muß und danach vom andern [und zwar] aus dem Grund, daß der Redner das, was er am allermeisten auszudrücken beabsichtigt, immer für nachher aufsparen muß; denn was man zuletzt sagt, bleibt am stärksten in der Seele des Zuhörers. (3) Weil ich beabsichtige mehr über das zu sprechen und zu verhandeln, was die Tätigkeit dieser, zu denen ich spreche, bewirkt, als über das, was durch diese [Tätigkeit] zersetzt wird, war es sinnvoll, zuerst von den Bedingungen der zugrundegehenden Seite zu sprechen und zu verhandeln und danach von den [Bedingungen] der anderen, entstehenden [Seite]. (4) Tatsächlich kommt hier ein Zweifel auf, der nicht erklärungslos übergangen werden kann. Jemand könnte sagen: „Da es so ist, daß die Liebe die Wirkung dieser Intelligenzen ist, zu denen ich spreche, und da jenes frühere ebenso Liebe gewesen ist, wie dieses spätere, weswegen also zersetzt ihre Kraft die eine und läßt sie die andere entstehen? Kommt noch hinzu, daß die [Intelligenzen] jene [frühere] retten müßten, weil jede Ursache ihre Wirkung liebt und, [obwohl] sie diese [frühere] liebt, rettet sie diese andere.“ (5) Auf diese Frage kann man einfach antworten, daß die Wirkung dieser [Intelligenzen], wie gesagt, die Liebe ist; aber da sie diese [Liebe] nur in jenen Subjekten, die ihrer Kreisbewegung unterworfen sind, erhalten können, verlagern sie diese vom Bereich, der außerhalb ihrer Macht liegt, in jenen, der in dieser [Macht] liegt, also von der von diesem Leben getrennten Seele zu jener, die in diesem [Leben] ist. (6) So verlagert auch die menschliche Natur in der menschlichen Form

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ihre Erhaltung vom Vater in den Sohn, weil sie in diesem Vater ihre Wirkung nicht ewig bewahren kann. Ich sage „Wirkung“, insofern die Verbundenheit von Seele und Körper die Wirkung dieser [Natur] ist; denn [wenn die Seele] getrennt ist, dauert sie in einer Natur, die über der menschlichen steht, immerfort. Und so ist die Frage geklärt. (7) Da hier aber die Unsterblichkeit der Seele gestreift worden ist, werde ich einen Exkurs einschieben, worin ich von dieser [ Unsterblichkeit] handle; von dieser handelnd wird die Darlegung über jene lebende, glückselige Beatrice, über die ich in diesem Buch aufgrund eines Vorsatzes nicht weiter zu sprechen gedenke, zu einem schönen Ende kommen. (8) Ich sage, daß von allen Dummdreistigkeiten jene die dümmste, niedrigste und schädlichste ist, die nicht glaubt, daß nach diesem Leben ein anderes Leben ist; denn, wenn wir alle Schriften, sowohl jene der Philosophen wie auch jene der anderen weisen Schriftsteller durchgehen, so stimmen alle darin überein, daß in uns ein immerwährender Teil ist. (9) Und dies scheint besonders Aristoteles in jenem Buch Über die Seele zu denken; dies scheint besonders jeder Stoiker zu denken; dies scheint Cicero zu denken, vor allem in jenem Büchlein Über das Alter; dies scheinen alle Dichter zu denken, die dem Glauben der Nichtchristen entsprechend gesprochen haben; dies besagt jedes Gesetz, [sei es] der Juden, der Muslime, der Tataren oder wer auch immer gemäß irgendeiner Vernunft lebt. (10) Wenn alle sich getäuscht hätten, würde eine Unmöglichkeit folgen, die hier auch nur wiederzugeben gräßlich wäre. Alle sind sich gewiß, daß die menschliche Natur die vollkommenste Natur ist, die es hier unten gibt; dies leugnet niemand und Aristoteles bestätigt es, wenn er im zwölften Buch Über die Lebewesen sagt, daß der Mensch das vollkommenste aller Lebewesen sei. (11) Aber viele, die leben, sind ganz und gar sterblich wie [etwa] die niedrigen Tiere, und sie sind, während sie leben, ohne diese Hoffnung, d. h. [ohne die Hoffnung] auf das andere Leben; wenn unsere Hoffnung vergebens wäre, wäre unser Mangel



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weit größer als der [Mangel] jedes anderen Lebewesens, wobei schon viele dieses Leben für jenes hingegeben haben: und so würde folgen, daß das vollkommenste Lebewesen, d. h. der Mensch das unvollkommenste wäre – was unmöglich ist – und daß jener Teil, d. h. die Vernunft, der seine größte Vollkommenheit darstellt, ihm die Ursache für den größten Mangel wäre; was zu sagen ganz und gar verkehrt scheint. (12) Weiter würde folgen, daß die Natur sich selbst widersprechend diese Hoffnung in den Verstand des Menschen eingepflanzt hätte, da ja bereits gesagt worden ist, daß viele dem Tod des Körpers entgegengeeilt sind, um im anderen Leben zu leben; und auch das ist unmöglich. (13) Weiter haben wir das ständige Erlebnis unserer Unsterblichkeit in den Wahrsagungen unserer Träume; was nicht sein könnte, wenn in uns nicht irgendein unsterblicher Teil wäre; denn das Offenbarende muß, wenn wir es richtig bedenken, unsterblich sein, sei es [körperlich]  oder unkörperlich – und ich sage körperlich oder unkörperlich aufgrund der verschiedenen Meinungen, die ich diesbezüglich gefunden habe – und das, was bewegt oder besser vom unmittelbar Formgebenden geformt wird, muß zum Formgebenden ein Verhältnis haben und zwischen dem Sterblichen und dem Unsterblichen gibt es kein Verhältnis. (14) Weiter versichert es die allerwahrste Lehre des Christus, die der Weg, die Wahrheit und das Licht ist: Weg, weil wir durch sie ohne Hindernis zum Glück jener Unsterblichkeit gelangen; Wahrheit, weil sie an keinem Fehler leidet; Licht, weil sie uns in der Dunkelheit des weltlichen Unwissens leuchtet. (15) Diese Lehre, sage ich, macht uns gewisser als alle anderen Gründe, denn jener hat sie uns gegeben, der unsere Unsterblichkeit sieht und bemißt. Diese können wir, solange das Unsterbliche in uns mit dem Sterblichen vermischt ist, nicht vollkommen sehen; aber wir sehen sie mit dem Glauben vollkommen, und mit der Vernunft sehen wir sie mit einem Schatten von Dunkelheit, der aus der Vermischung des Sterblichen

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mit dem Unsterblichen herrührt. (16) Und dies muß das allerstärkste Argument dafür sein, daß in uns das eine und das andere ist; und so glaube ich, beteuere ich und bin ich sicher, nach diesem [Leben] in ein besseres Leben hinüberzugehen, dorthin, wo diese herrliche Frau lebt, in die meine Seele verliebt war, als sie kämpfte, wie im nächsten Kapitel dargelegt werden wird. • ix. Zum Vorhaben zurückkehrend sage ich, daß ich in jener Strophe, die damit beginnt Einen Gegner, der ihn zerstört, zu zeigen beabsichtige, was die Seele in meinem Innern verhandelte, d. h. wie der alte Gedanke gegen den neuen [argumentiert]. Und davor zeige ich kurz die Ursache seines beklagenswerten Sprechens, wenn ich sage Einen Gegner, der ihn zerstört, findet der demütige Gedanke, der zu mir zu sprechen pflegt von einer Engelin, die gekrönt im Himmel ist. Dies ist jener besondere Gedanke, von dem oben gesagt worden ist, daß er das Leben des schmerzenden Herzens zu sein pflegt. (2) Wenn ich danach sage: Die Seele weint, so sehr schmerzt es sie, zeige ich meine Seele noch auf ihrer Seite und in Trauer sprechend; und ich sage, daß sie, sich beklagend, Worte macht, als ob sie sich über die erlittene Veränderung wundern würde, wenn sie sagt: Wehe mir, wie flieht doch dieser Mitleidsvolle, der mich getröstet hat! Sie kann gut sagen „getröstet“, denn in ihrer großen Verlorenheit hatte dieser Gedanke, der in den Himmel gestiegen ist, ihr viel Trost gegeben. (3) Gleich darauf sage ich zu meiner Entschuldigung, daß mein ganzes Denken sich dreht, d. h. die Seele, von der ich sage die Verängstigte, und sie spricht gegen die Augen; und dies wird hier deutlich: Von meinen Augen sagt die Verängstigte. Und ich sage, daß sie von [den Augen] und gegen sie drei Dinge sagt. (4) Das erste ist, daß sie die Stunde verflucht, da diese Frau [die Augen] sah. Und hier muß man wissen, daß, wenn mehrere Dinge zur gleichen Zeit zum Auge gelangen, man tatsächlich nur das sieht, das auf einer Geraden ins Zentrum der Pupille trifft, und



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nur dieses Ding drückt sich wirklich in die Vorstellung ein. (5) Und dies kommt daher, daß der Nerv, durch den der Geist des Sehens eilt, auf jenen Teil ausgerichtet ist, und deshalb kann ein Auge ein anderes [Auge] tatsächlich nicht anschauen, ohne daß es von diesem gesehen wird; denn, so wie das schauende Auge die Form auf einer Geraden in der Pupille empfängt, so geht auch seine Form auf der gleichen Gerade in das betrachtete Auge über; und häufig spannt sich entlang dieser Geraden der Bogen jenes, für den jede Waffe leicht ist. Weshalb, wenn ich sage, da diese Frau sie sah, dies soviel bedeutet, wie zu sagen, daß ihre Augen und die meinen sich anschauten. (6) Das zweite, was die Seele sagt, besteht darin das Nichtgehorchen [der Augen] zu tadeln, wenn sie sagt: Und weswegen haben sie mir ihr bezüglich nicht geglaubt? Dann geht sie weiter zum dritten Punkt und sie sagt, daß sie nicht sich selbst mangelnder Voraussicht wegen tadeln muß, hingegen die Augen, weil sie nicht gehorcht haben; denn sie sagt, daß manchmal, wenn sie an diese Frau dachte, sie [folgendermaßen] sprach: In den Augen dieser [Frau] müßte über mich verfügende Kraft sein, wenn ihr der Weg offenstünde; und dies sagt sie da: Ich sagte: Wahrlich in ihren Augen muß jener sein. (7) Und man kann ruhig glauben, daß meine Seele ihre zur Aufnahme des Aktes dieser Frau bereite Veranlagung kannte, aber sie fürchtete sich davor: denn der Akt des handelnden Dinges wird im bereiteten Erleidenden empfangen, wie der Philosoph im zweiten Buch Über die Seele sagt. Weshalb, wenn das Wachs den Geist der Furcht hätte, es mehr als der Stein fürchten würde, in den Strahl der Sonne zu gelangen, denn seine Veranlagung empfängt diesen in einer stärkeren Tätigkeit. (8)  Schließlich zeigt die Seele in ihrem Sprechen, daß die Anmaßung [der Augen] gefährlich gewesen ist, wenn sie sagt: Nichts hat es mir genützt, daß ich bemerkt habe, daß sie nicht so geschaut haben, daß ich davon gestorben bin. Sie haben nicht geschaut, sagt sie von jenem, von dem sie zuvor gesagt hatte: Jener, der

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meinesgleichen tötet. Und so beendet sie ihre Worte, denen der neue Gedanke antwortet, wie im folgenden Kapitel dargelegt werden wird. •

x. Die Aussage jenes Teiles, in dem die Seele, d. h. der alte Gedanke, der sich zersetzte, spricht, ist dargelegt. In der Folge ist jetzt die Aussage jenes Teiles darzustellen, in dem der neue, entgegengesetzte Gedanke spricht; und dieser Teil ist ganz in jener Strophe enthalten, die beginnt: Du bist nicht gestorben. (2) Um diesen Teil richtig zu verstehen, muß er in zwei geteilt werden: denn im ersten [tadelt der gegnerische Gedanke die Seele wegen der Feigheit; und darauf befiehlt er, was diese feige Seele machen muß; und danach befiehlt er, was die zurechtgewiesene Seele machen muß, dies im zweiten] Teil, der damit beginnt: Schau wie mitleidsvoll und demütig sie ist. (3)  [ Der neue Gedanke] sagt also, indem er ihre letzten Worte weiterführt: Es ist nicht wahr, daß du gestorben bist; aber der Grund, weshalb es dir scheint tot zu sein, ist die Verirrung, in die du feige gefallen bist wegen dieser Frau, die erschienen ist: – und hier ist festzuhalten, daß, wie Boethius in der Tröstung sagt, „jede plötzliche Veränderung sich nicht ohne eine gewisse Veränderung des Geistes vollzieht“ –; und dies meint die Zurechtweisung dieses Gedankens. (4) Dieser heißt „Liebesgeist“, um zu bedeuten, daß mein Mitfühlen sich ihm zuneigte; und so kann man das besser verstehen und seinen Sieg erkennen, wenn er bereits „meine Seele“ sagt und sich [dadurch] mit ihr anbiedert. (5) Danach, wie es bereits gesagt worden ist, befiehlt er, was die zurechtgewiesene Seele zu tun hat, um wieder zu sich zu gelangen, und er sagt zu ihr: Schau, wie mitleidsvoll und demütig sie ist; denn es gibt für die Furcht, von der die Seele beherrscht scheint, zwei geeignete Gegenmittel, und es sind diese [beiden], die, besonders miteinander verbunden, in einer Person eine wohltuende Hoffnung erzeugen, und vor allem das Mitleid, das jede andere Gutheit mit seinem Licht



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erstrahlen läßt. Weswegen Vergil, von Aeneas sprechend, ihn auf dem Höhepunkt seines Lobes mitleidsvoll nennt. (6) Und nicht das ist Mitleid, was das gemeine Volk dafür hält, d. h. daß einen das Übel anderer schmerzt, sondern dies ist nur eine seiner besonderen Wirkungen, die Barmherzigkeit heißt und eine Leidenschaft ist; aber Mitleid ist keine Leidenschaft, sondern es ist eine edle Veranlagung der Seele, darauf vorbereitet Liebe zu empfangen, sowie Barmherzigkeit und andere wohltätige Leidenschaften. (7) Dann sagt er: Schau auch, wie sehr sie weise und höf lich in ihrer Größe ist. Da sagt er drei Dinge, die unter jenen Dingen, die wir erwerben können, eine Person am wohlgefälligsten machen. Er sagt „weise“: nun, was ist an einer Frau schöner als das Wissen? Er sagt „höflich“: nichts steht einer Frau besser an als Höflichkeit. Und das beklagenswerte Volk sei auch bezüglich dieses Begriffes nicht getäuscht, denn es glaubt, daß Höflichkeit nichts anderes als Großzügigkeit sei: die Großzügigkeit ist eine besondere und nicht die allgemeine Höflichkeit! (8) Höflichkeit und Ehrlichkeit sind ganz eins: und weil früher an den Höfen Tugend und feine Sitten gepflegt wurden, so wie heute das Gegenteil gepflegt wird, wurde dieser Begriff von den Höfen losgelöst, und Höflichkeit zu sagen, wurde gleichbedeutend mit am Hof üblich. Dieser Begriff, würde er heute von den Höfen abgeleitet, vor allem von den italienischen, würde nichts anderes besagen als Schändlichkeit. (9)  Er sagt in ihrer Größe. Der zeitlichen Größe, die hier gemeint ist, geht es am besten in Begleitung der zwei zuvor genannten Gutheiten, denn sie gibt das Licht, das das eine Gute und das andere der Person klar zeigt. Und wieviel Wissen und wieviel tugendhaftes Gehabe scheint man wegen dieses Lichtes nicht zu haben! Und wieviel Verrücktheit und wieviel Laster werden durch den Besitz dieses Lichtes erkannt! (10) Besser wäre es für die beklagenswerten Großen, diese Verrückten, Dummen und Lasterhaften, von niederer Herkunft zu sein, so daß sie weder in dieser Welt noch

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danach derart verflucht würden. Wahrhaftig an diese gewandt sagt Salomon im Prediger: „Und ein anderes, allerschlimmstes Gebrechen sah ich unter der Sonne, nämlich Reichtum, der von seinen Herren schlecht bewahrt wurde.“ (11) Im Folgenden auferlegt er ihr, d. h. meiner Seele, daß sie jetzt diese ihre Frau nenne, wobei er ihr verspricht, daß sie sich darüber sehr freuen werde, sobald sie sich ihres Schmuckes bewußt wird; und dies sagt er hier: Denn wenn Du Dich nicht selber täuschst, wirst Du sehen. Und bis zum Schluß dieser Strophe sagt er nichts anderes. Und hier endet die buchstäbliche Aussage von alldem, was ich in dieser Kanzone sage, während ich zu jenen himmlischen Intelligenzen spreche. •

xi. Zum Schluß wende ich mich, dem gemäß, was der Buchstabe dieses Kommentars sagte, als ich diese Kanzone in [ihre] Hauptteile gliederte, mit dem Gesicht meiner Rede der Kanzone selbst zu und spreche zu ihr. (2) Und damit dieser Teil vollständiger verstanden werde, sage ich, daß er in den Kanzonen üblicherweise „Rückkehr“ genannt wird, weil die Redner, die diese zuerst zu benützen pflegten, diese einsetzten, damit man, nachdem die Kanzone gesungen war, mit einem bestimmten Teil des Liedes zu ihr zurückkehre. (3) Ich aber setzte sie selten mit dieser Absicht ein und ich verfaßte sie, auf daß andere es merken würden, selten der Ordnung der Kanzone entsprechend, insofern sie der Zahl und der Stimme nach nötig ist: aber ich verfaßte eine „Rückkehr“, wenn es nötig war, außerhalb ihrer Aussage etwas Ausgeschmücktes von der Kanzone zu sagen, wie man in dieser und in den anderen sehen kann. (4) Und ich sage hier [nur], daß die Gutheit und die Schönheit jeder Rede voneinander getrennt und verschieden sind; denn die Gutheit ist in der Aussage und die Schönheit ist im Schmuck der Worte; und die eine und die andere ist mit Gefallen [verbunden], wobei die Gutheit in höchstem Maße zu gefallen vermag. (5)  Da die Gutheit dieser Kanzone, wegen der verschiedenen



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Personen, die als Sprechende eingeführt werden, wodurch sich viele Unterscheidungen ergaben, beschwerlich zu hören war und die Schönheit leicht zu sehen war, schien ich es der Kanzone schuldig zu sein, daß den anderen eher ihre Schönheit als ihre Güte vor Auge geführt werde. Und dies ist das, was ich diesem Teil sage. (6) Weil es häufig vorkommt, daß die Ermahnung anmaßend erscheint, pflegt der Rhetor unter gewissen Umständen indirekt zu einem anderen zu sprechen, indem er seine Worte nicht an den richtet, für den er spricht, sondern an einen anderen. Und dieser Weg wird hier tatsächlich eingeschlagen; denn die Worte wenden sich an die Kanzone, aber die Absicht an die Menschen. (7)  Ich sage also: Kanzone, ich glaube, daß es nur verstreute sind, d. h. wenige, die dich richtig verstehen. Und ich nenne den Grund, der ein doppelter ist. Erstens, weil du anstrengend sprichst – „anstrengend“ sage ich, aus dem genannten Grund –; zweitens, weil du eindringlich sprichst – „eindringlich” sage ich bezüglich der Neuheit der Aussage. (8) Gleich darauf ermahne ich sie und sage: Wenn es dir zufällig widerfährt, daß du an Orte gelangst, wo Menschen sind, die an deiner Vernunft zu zweifeln scheinen, so verirre dich nicht, sondern sage ihnen: Wenn ihr schon meine Gutheit nicht seht, so vergegenwärtigt euch mindestens meine Schönheit. (9) Womit ich gemäß dem oben Gesagten nichts anderes sagen will als: Ach Menschen, die ihr die Aussage dieser Kanzone nicht sehen könnt, weist sie deswegen nicht zurück; sondern vergegenwärtigt euch ihre Schönheit, die groß ist, sowohl aufgrund der Konstruktion, wofür die Grammatiker zuständig sind, wie auch aufgrund der Ordnung der Rede, wofür die Rhetoren zuständig sind, und der Zahl ihrer Teile, wofür die Musiker zuständig sind. Diese Dinge kann, wer genau hinschaut, in ihr als schön erkennen. (10) Und dies ist die ganze buchstäbliche Aussage der ersten Kanzone, die zuvor als erste Speise verstanden worden ist. •

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xii. Nachdem die buchstäbliche Aussage hinreichend dargestellt worden ist, ist zur allegorischen und wahren Auslegung überzugehen. Und deshalb, nochmals von vorn beginnend, sage ich, daß, als die erste Freude meiner Seele, von der oben gehandelt worden ist, für mich verloren war, ich von soviel Traurigkeit geschlagen zurückblieb, daß es für mich keinerlei Trost gab. (2) Nach einiger Zeit allerdings besann sich mein Verstand, der mit sich zu Rate ging, um zu genesen, zumal weder mein eigener noch der Trost anderer etwas nützte, auf die Art, durch die ein anderer Trostloser versucht hatte, sich zu trösten; und ich machte mich daran, jenes wenig bekannte Buch des Boethius zu lesen, worin er, eingekerkert und verjagt, sich selbst getröstet hatte. (3) Und da ich zudem hörte, daß Cicero ebenfalls ein Buch geschrieben hatte, in welchem er, von der Freundschaft handelnd, die Trostworte des hervorragendsten Laelius zum Tod seines Freundes Scipio gestreift hatte, machte ich mich daran, jenes zu lesen. (4) Und obwohl mir der erste Zugang zu ihren Aussagen beschwerlich war, vertiefte ich mich schließlich so sehr darin, wie es meine Lateinkenntnisse und das Wenige meines Talents erlaubten; dank dieses Talents sah ich, gleichsam wie träumend, bereits viele Dinge, wie es aus dem Neuen Leben ersichtlich ist. (5) Und wie es vorzukommen pflegt, daß ein Mensch Silber suchen geht und ohne Absicht Gold findet, das durch eine verborgene Ursache dargebracht wird, vielleicht nicht ohne göttlichen Befehl; [so] fand ich, der ich versuchte mich zu trösten, nicht nur ein Mittel gegen meine Tränen, sondern Worte von Autoren, von Wissenschaften und von Büchern: diese bedenkend urteilte ich richtig, daß die Philosophie, die die Herrin dieser Autoren, Wissenschaften und Bücher war, ein allerhöchstes Ding sei. (6) Und ich stellte sie mir vor, beschaffen wie eine höfliche Frau, und ich konnte sie mir bei keiner Handlung vorstellen, außer bei einer barmherzigen; deshalb bewunderte ich sie wahrlich so gern, daß ich mich kaum von ihr wenden konnte. (7) Und von dieser Vorstellung an



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begann ich dorthin zu gehen, wo sie sich wirklich zeigte, d. h. in die Schulen der Orden und an die Disputationen der Philosophierenden; so daß ich nach einer kurzen Zeitspann von kaum mehr als dreißig Monaten soviel von ihrer Süße zu spüren begann, daß diese Liebe jeden anderen Gedanken verjagte und vernichtete. (8) Weswegen ich, der ich mich vom Gedanken an die erste Liebe zur Kraft dieser [Liebe] emporgehoben fühlte, mich gleichsam wundernd die vorgelegte Kanzone aussprechend den Mund öffnete [und so] meine Verfassung unter der Erscheinung von anderen Dingen zeigte: von dieser Frau, in die ich mich verliebt hatte, waren keine volkssprachlichen Verse würdig, offen zu dichten; weder waren die Hörer so gut veranlagt, daß sie die [nicht] erfundenen Worte leicht verstanden hätten; noch hätten sie der wahren Aussage ebensoviel Glauben geschenkt wie der erfundenen, denn der Wahrheit nach glaubte man ganz und gar, daß ich auf jene Liebe ausgerichtet sei, was man bezüglich dieser nicht glaubte. (9) Ich begann also zu sagen: Ihr, die Ihr denkend den dritten Himmel bewegt. Und weil, wie gesagt worden ist, diese Frau die Tochter Gottes, die Königin über alles und die erhabenste und schönste Philosophie ist, ist zu untersuchen, wer diese Beweger sind und [was] dieser dritte Himmel [ist]. Und dies ist gemäß der vorangehenden Ordnung zuerst bezüglich des Himmels [zu untersuchen]. (10) Und es ist hier nicht die Aufgabe, unterteilend vorzugehen und den Buchstaben zu deuten; denn, nachdem das erfundene Wort von dem, wonach es klingt, in das, was es meint, gewendet worden ist, ist diese Aussage aufgrund der vorangegangenen Auslegung genügend offenkundig. •

xiii. Um zu verstehen, was mit dem dritten Himmel gemeint ist, muß man zuerst sehen, was ich mit dem Ausdruck „Himmel“ sagen will; und danach wird man sehen, wie und warum dieser dritte Himmel uns bestimmt hat. (2) Ich sage, daß ich mit Himmel die Wissenschaft meine und mit den Himmeln

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die Wissenschaften [und dies] aufgrund von drei Ähnlichkeiten, die die Himmel mit den Wissenschaften in höchstem Maße [gemein haben]; und aufgrund der Ordnung und der Zahl, in der sie übereinzustimmen scheinen, wie man bei der Behandlung des Ausdrucks „dritter“ sehen wird. (3) Die erste Ähnlichkeit ist die Drehung des einen und der anderen um ihr Unbewegtes herum. Denn jeder bewegliche Himmel dreht sich um seinen Mittelpunkt, der sich bezüglich seiner Bewegung nicht bewegt; und ebenso bewegt sich jede Wissenschaft um ihren Gegenstand herum, den sie nicht bewegt, denn keine Wissenschaft beweist ihren eigenen Gegenstand, sondern sie setzt diesen voraus. (4) Die zweite Ähnlichkeit ist die Erleuchtung, die vom einen und von der andern [ausgeht]; denn jeder Himmel erleuchtet die sichtbaren Dinge, und ebenso erleuchtet jede Wissenschaft die vernünftig erkennbaren [Dinge]. (5) Die dritte Ähnlichkeit besteht im Einführen von Vollkommenheit in die [entsprechend] veranlagten Dinge. Bezüglich diesem Einführen, insofern es sich auf die erste Vollkommenheit bezieht, d. h. auf das substantielle Werden, stimmen alle Philosophen darin überein, daß die Himmel Ursache sind, wobei sie dies aber verschieden darlegen; einige [beziehen es] auf die Beweger, wie etwa Platon, Avicenna und Algazel; einige auf ihre Sterne, vor allem bezüglich der menschlichen Seelen, wie etwa Sokrates und auch Platon und Dionysios, der Akademiker; und einige auf die himmlische Kraft, die in der natürlichen Hitze des Samens ist, wie etwa Aristoteles und die anderen Peripatetiker. (6)  So sind die Wissenschaften in uns Ursache der Einführung der zweiten Vollkommenheit; wegen deren Habitus können wir die Wahrheit schauen, die unsere letzte Vollkommenheit ist, wie der Philosoph im sechsten Buch der Ethik sagt, wenn er sagt, daß das Wahre das Gute des Intellekts ist. Wegen diesen und vielen anderen Ähnlichkeiten, kann man die Wissenschaft „Himmel“ nennen. (7) Jetzt ist zu untersuchen, weswegen „dritter“ Himmel gesagt wird. Hierzu ist es



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angebracht, eine Überlegung anzustellen über eine Übereinstimmung, die zwischen der Ordnung der Himmel und jener der Wissenschaften besteht. Wie oben bereits gesagt wurde, sind die sieben uns nächsten Himmel jene der Planeten; darauf folgen über diesen zwei bewegliche Himmel und über all diesen ein ruhender. (8) Den sieben ersten entsprechen die sieben Wissenschaften des Trivium und des Quadrivium, also Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Der achten Sphäre, d. h. dem Fixsternhimmel entspricht die Naturwissenschaft, die Physik heißt, und die erste Wissenschaft, die Metaphysik heißt; und der neunten Sphäre entspricht die Wissenschaft der Moral; und dem ruhenden Himmel entspricht die göttliche Wissenschaft, die Theologie genannt wird. Und der Grund, weshalb dies so ist, ist nun kurz zu betrachten. (9) Ich sage, daß der Himmel des Mondes der Grammatik ähnlich ist, weil sie bezüglich zweier Eigenschaften mit ihm verglichen werden kann. Denn wenn man den Mond genau betrachtet, sieht man in ihm zwei eigene Dinge, die man in den anderen Sternen nicht sieht. Einerseits der Schatten, der in ihm ist, der nichts anderes ist als die Porosität seines Körpers, wo die Strahlen der Sonne nicht so an ein Ende gelangen und abprallen können wie in den anderen Teilen; andererseits die Veränderung seiner Helligkeit, die mal von der einen Seite und mal von der anderen Seite leuchtet, je nachdem wie die Sonne ihn sieht. (10) Und diesen beiden Eigenschaften hat die Grammatik: denn wegen ihrer Unendlichkeit können die Strahlen der Vernunft in ihr an kein Ende gelangen, vor allem bezüglich der Vokabeln; und sie leuchtet mal von hier und mal von da, insofern als gewisse Vokabeln, gewisse Deklinationen und gewisse Konstruktionen jetzt in Gebrauch sind, die es früher nicht waren oder es bereits waren und es wieder sein werden; wie es Horaz zu Beginn seiner Dichtkunst erklärt, wenn er sagt: „Viele Vokabeln werden wieder erstehen, die bereits verfallen sind.“

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(11) Und der Himmel des Merkurs kann aufgrund von zwei Eigenschaften mit der Dialektik verglichen werden: denn der Merkur ist der kleinste Stern des Himmels, denn das Ausmaß seines Durchmessers beträgt nicht mehr als 232 Meilen, gemäß dem, was Alfraganus erklärt, der sagt, daß dieser dem achtundzwanzigsten Teil des Durchmessers der Erde entspricht, der 6500 Meilen beträgt. Und die andere Eigenschaft besteht darin, daß er den Strahlen der Sonne mehr entzogen ist, als jeder andere Stern. (12) Und diese zwei Eigenschaften finden sich in der Dialektik: denn die Dialektik hat einen kleineren Umfang als jede andere Wissenschaft, denn sie ist vollständig zusammengestellt und zu Ende geführt in jener Handvoll Texte, die sich in der Alten Kunst und in der Neuen finden; und sie ist verborgener als jede andere Wissenschaft, insofern sie mit mehr sophistischen und wahrscheinlichen Argumenten vor sich geht, als jede andere. (13) Und der Himmel der Venus kann aufgrund von zwei Eigenschaften mit der Rhetorik verglichen werden: die erste ist die Helligkeit ihres Anblicks, der wohlgefälliger zu schauen ist als jener der anderen Sterne; die andere ist sein morgendliches und abendliches Erscheinen. (14) Diese zwei Eigenschaften finden sich in der Rhetorik: denn die Rhetorik ist die wohlgefälligste aller Wissenschaften, denn darauf versteht sie sich hauptsächlich; und sie erscheint des Morgens, wenn der Rhetor vor dem Angesicht des Hörers spricht, [und] sie erscheint des Abends, d. h. von hinten, wenn der Rhetor durch die Schrift aus der Ferne spricht. (15)  Und der Himmel der Sonne kann aufgrund von zwei Eigenschaften mit der Arithmetik verglichen werden: die eine besteht darin, daß von seinem Licht alle anderen Sterne geprägt werden; die andere besteht darin, daß das Auge nicht in ihr verweilen kann. (16) Und diese zwei Eigenschaften finden sich in der Arithmetik: denn durch ihr Licht erhellen sich alle Wissenschaften, insofern als alle ihre Gegenstände unter einer



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gewissen Zahl bedacht werden und daß man bei ihrer Behandlung immer mit Zahlen vorgeht. (17) So wie in den Naturwissenschaften der bewegliche Körper Gegenstand ist [und] dieser bewegliche Körper in sich die Bestimmtheit der Kontinuität und diese in sich jene der unendlichen Zahl hat; und die grundlegendste Aufgabe [der Naturwissenschaft] besteht in der Behandlung der drei Prinzipien der natürlichen Dinge, nämlich der Materie, der Beraubung und der Form, in welchen man diese Zahl findet. (18) Nicht nur in allen [drei] gemeinsam sondern für den, der es genau bedenkt, auch in jedem einzelnen ist die Zahl; weswegen Pythagoras, gemäß dem, was Aristoteles im ersten Buch der Physik sagt, als Prinzip der natürlichen Dinge das Gerade und das Ungerade setzt, wobei er meint, daß alle Dinge Zahlen seien. (19) Auch die andere Eigenschaft der Sonne sieht man in der Zahl, von der die Arithmetik handelt: denn das Auge des Intellekts kann in ihr nicht verweilen, denn die Zahl ist, für sich betrachtet, unendlich und dies können wir nicht begreifen. (20) Und der Himmel des Mars kann aufgrund von zwei Eigenschaften mit der Musik verglichen werden: die eine ist seine allerschönste Verhältnismäßigkeit, denn, wenn wir die beweglichen Himmel abzählen und dabei beim untersten oder beim höchsten beginnen, so ist der Mars der fünfte, der mittlere in Bezug auf alle, d. h. der ersten, der zweiten, der dritten und der vierten. (21) Die andere besteht darin, daß der Mars die Dinge austrocknet und verbrennt, denn seine Hitze ist jener des Feuers ähnlich; und deswegen scheint er vor Hitze glühend, mal mehr und mal weniger, je nach der Dichte und der Porosität der Dämpfe, die ihm folgen [und] die sich häufig aus sich selbst entzünden, wie es im ersten Buch der Meteorologie festgehalten ist. (22) Und Abu Mazar sagt, daß das Entflammen dieser Dämpfe den Tod von Königen und den Zerfall von Königreichen bedeutet; denn dies sind Wirkungen der Herrschaft des Mars. Und Seneca sagt deshalb, daß er anläßlich des Todes des  Kaisers

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Augu­stus in der Höhe einen Feuerball gesehen habe; und in Florenz wurde zu Beginn seiner Zerstörung in der Luft eine große Menge dieser dem Stern Mars folgenden Dämpfe in der Form eines Kreuzes gesehen. (23) Und diese zwei Eigenschaften sind in der Musik, die ganz und gar verhältnismäßig ist, wie man an den in Einklang gebrachten Worten und an den Gesängen sehen kann, in denen sich eine um so süßere Harmonie ergibt, je schöner die Verhältnismäßigkeit ist: diese ist in dieser Wissenschaft am schönsten, weil sie in dieser am meisten beabsichtigt ist. (24) Weiter zieht die Musik die Geister der Menschen, die gleichsam vor allem Dämpfe des Herzens sind, derart an, daß sie beinahe von jeder Handlung ablassen: so auch die Seele insgesamt und alle Fähigkeiten, wenn das Gehör gleichsam zum sinnlichen Geist eilt, der den Klang empfängt. (25) Und der Himmel des Jupiters kann aufgrund von zwei Eigenschaften mit der Geometrie verglichen werden: die eine besteht darin, daß er sich zwischen zwei seiner guten Ausgeglichenheit widerstreitenden Himmeln, wie es der Mars und der Saturn sind, bewegt; weswegen Ptolemaeus im angeführten Buch sagt, daß der Jupiter ein Stern von ausgeglichener Zusammensetzung ist, in der Mitte zwischen der Kälte des Saturn und der Hitze des Mars. Die andere besteht darin, daß er unter allen Sternen als weiß erscheint, beinahe silbern. (26) Und diese Dinge finden sich in der Wissenschaft der Geometrie. Die Geometrie bewegt sich zwischen zwei ihr widerstreitenden, nämlich zwischen dem Punkt und dem Kreis – und ich verwende „Kreis“ weitgefaßt für alles Runde, sei es Körper oder Oberfläche –; denn, wie Euklid sagt, der Punkt ist der Anfang der Geometrie und, ebenfalls ihm gemäß, der Kreis ist die vollendetste Figur in dieser, dem es deshalb zukommt, die Bestimmtheit des Zieles zu haben. (27) Ebenso bewegt sich die Geometrie zwischen dem Punkt und dem Kreis wie zwischen dem Anfang und dem Ende, und diese zwei widerstreiten ihrer Gewißheit; denn der Punkt ist wegen seiner Unteilbarkeit nicht meßbar,



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und der Kreis kann wegen seines Bogens unmöglich vollständig quadriert werden, und deswegen ist es unmöglich, ihn genau zu bemessen. Und weiter ist die Geometrie am weißesten, insofern sie ohne den Makel eines Fehlers ist und am sichersten sowohl aus sich selbst als auch durch ihre Magd, die Perspektive genannt wird. (28) Und der Himmel des Saturn hat zwei Eigenschaften aufgrund derer er mit der Astronomie verglichen werden kann: die eine ist die Langsamkeit seiner Bewegung durch die zwölf Zeichen, denn 29 Jahre und mehr Zeit braucht sein Kreis gemäß den Schriften der Astronomen; die andere ist, daß er höher steht als alle anderen Planeten. (29) Und diese zwei Eigenschaften finden sich in der Astronomie: denn um ihren Kreis zu erfüllen, d. h. beim Lernen der Astronomie vergeht eine riesige Menge Zeit, sowohl wegen ihrer Beweise, die mehr sind als in jeder der anderen oben genannten Wissenschaften, als auch wegen der Erfahrung, die man benötigt, um in ihr richtig zu urteilen. (30)  Und weiter ist sie die höchste von allen anderen. Denn, wie Aristoteles zu Beginn von Über die Seele sagt, eine Wissenschaft hat viel Edelkeit aufgrund der Edelkeit ihres Gegenstandes und aufgrund ihrer Gewißheit: und diese ist aufgrund ihres edlen und erhabenen Gegenstandes, der von der Bewegung des Himmels [handelt], edler und erhabener als jede andere der oben genannten [ Wissenschaften]; und erhaben und edel ist sie aufgrund ihrer Gewißheit, die ohne jeden Mangel ist, so wie jene, die vom vollkommensten und regelmäßigsten Prinzip herkommt. Und wenn einige dafür halten, daß es in ihr einen Mangel gibt, so kommt er nicht von ihr her, sondern er entsteht, wie Ptolemaeus sagt, aufgrund unserer Nachlässigkeit und der muß man es vorhalten. •

xiv. Im Anschluß an die bezüglich der sieben ersten Himmel gemachten Vergleiche ist zu den anderen überzugehen, die drei sind, wie mehrmals gesagt worden ist. Ich sage, daß man den

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gestirnten Himmel aufgrund von drei Eigenschaften mit der Physik vergleichen kann und mit der Metaphysik aufgrund von anderen drei: denn er zeigt uns von sich zwei sichtbare Dinge, nämlich die vielen Sterne und die Milchstraße, d. h. jener weiße Kreis, den das Volk die Straße des hl. Jakob nennt; und er zeigt uns den einen Pol und den anderen hält er verborgen; und er zeigt uns eine Bewegung von Osten nach Westen und eine andere, die er von Westen nach Osten vollzieht, hält er beinahe vor uns verborgen. Deshalb ist der Ordnung gemäß zuerst die Übereinstimmung mit der Physik und danach jene mit der Meta­ physik zu untersuchen. (2) Ich sage, daß der gestirnte Himmel uns viele Sterne zeigt; denn gemäß dem, was die ägyptischen Weisen bis zum letzten Stern, der ihnen im Süden erscheint, gesehen haben, setzen sie 1022 Sternkörper, [und] von diesen spreche ich. Und hierin hat er allergrößte Ähnlichkeit mit der Physik, wenn diese drei Zahlen, nämlich zwei, zwanzig und tausend genau [und] scharfsinnig betrachtet werden. (3) Denn mit der Zwei meint man die Ortsbewegung, die aus Notwendigkeit von einem Punkt zu einem andern erfolgt. Und mit der Zwanzig wird die Bewegung der Veränderung bezeichnet; denn da man von Zehn an nicht aufwärts kommt außer durch die Veränderung der Zehn selbst mit den anderen neun und mit sich selbst, und da die schönste Veränderung, die [die Zehn] erfährt, jene durch sich selbst ist, und da die erste [ Veränderung, die sie so erfährt] die Zwanzig ist, wird durch diese Zahl vernünftigerweise die besagte Bewegung bezeichnet. (4) Und mit Tausend bezeichnet dieser Himmel die Bewegung des Wachstums; denn dem Namen nach, d. h. dieses „Tausend“, ist es die größte Zahl, und weiter kann sie nicht wachsen, es sei denn durch ihre Multiplikation. Und diese drei Bewegungen zeigt nur die Physik, wie es im fünften Buch des ersten (naturphilosophischen) Werkes bewiesen ist. (5) Und aufgrund der Milchstraße hat dieser Himmel große Ähnlichkeit mit der Metaphysik. Hierzu ist zu wissen, daß die



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Philosophen bezüglich der Milchstraße verschiedener Meinung gewesen sind. Denn die Pythagoräer sagten, daß sich die Sonne verschiedentlich in ihrem Weg getäuscht habe und sie, da sie durch Regionen kam, die ihrer Hitze nicht entsprachen, den Ort, durch den sie kam, verbrannte und daß dort diese Spur der Verbrennung geblieben ist: und ich glaube, daß sie von der Geschichte des Phaeton ausgingen, die Ovid zu Beginn des zweiten Buches der Metamorphosen erzählt. (6) Andere, wie Anaxagoras und Demokrit, sagten, daß dies in jener Region reflektiertes Sonnenlicht sei, und diese Meinungen belegten sie mit beweisenden Argumenten. Was Aristoteles diesbezüglich gesagt hat, kann man nicht genau wissen, denn seine Aussage lautet in der einen und in der anderen Übersetzung nicht gleich. (7) Und ich glaube, daß es ein Fehler der Übersetzer ist; denn in der neuen Übersetzung scheint er zu sagen, daß dies eine Ansammlung von Dämpfen unterhalb der Sterne jener Region sei, die diese [Dämpfe] immer anziehen: und diese [Erklärung ] scheint keinen guten Grund zu haben. In der alten Übersetzung sagt er, daß die Milchstraße nichts anderes ist, als eine Vielzahl von in jener Region fixierten Sternen, die so klein sind, daß wir sie von hier unten nicht unterscheiden können, aber daß von ihnen jene Weiße ausgeht, die wir Milchstraße nennen: und es könnte sein, daß der Himmel in jener Region dichter ist und daß er deshalb dieses Licht enthält und wiedergibt. Und dieser Meinung scheinen zusammen mit Aristoteles auch Avicenna und Ptolemaeus zu sein. (8) Da die Milchstraße eine Wirkung jener Sterne ist, die wir nicht sehen können, außer wir verstehen diese Dinge aufgrund ihrer Wirkung, und da die Metaphysik von den ersten Substanzen handelt, die wir ebenso nicht erkennen können, es sei denn aufgrund ihrer Wirkungen, deswegen ist offenkundig, daß der gestirnte Himmel eine große Ähnlichkeit mit der Metaphysik hat. (9) Weiter: durch den Pol, den wir sehen, bezeichnet er die sinnlichen Dinge, von denen die Physik in allgemeiner Betrach-

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tungsweise handelt; und durch den Pol, den wir nicht sehen, bezeichnet er die Dinge, die ohne Materie sind und die nicht sinnlich [wahrnehmbar] sind, von denen die Metaphysik handelt: und deswegen hat der besagte Himmel große Ähnlichkeit mit der einen und mit der anderen Wissenschaft. (10) Weiter: er bezeichnet diese beiden Wissenschaften durch die zwei Bewegungen. Denn durch die Bewegung, in der er sich jeden Tag umdreht und in der er eine immer von neuem an den gleichen Punkt zurückkehrende Kreisbewegung vollzieht, bezeichnet er die von Natur aus vergänglichen Dinge, die täglich ihren Weg gehen und deren Materie von Form zu Form wechselt; und von diesen Dingen handelt die Physik. (11) Und durch die beinahe unsichtbare Bewegung, die er von Westen nach Osten vollzieht [und] die ein Grad in hundert Jahren [ausmacht], bezeichnet er die unvergänglichen Dinge, die den Anfang ihrer Schöpfung von Gott haben und die kein Ende haben werden: und von diesen handelt die Metaphysik. (12) Aber ich sage, daß diese Bewegung jene bezeichnet, denn diese Bewegung hatte einen Anfang und wird kein Ende haben; denn Ende einer Kreisbewegung ist die Rückkehr zu einem gleichen Punkt [und] an diesen wird dieser Himmel, gemäß dieser Bewegung, nicht zurückkehren. (13) Denn seit dem Anfang der Welt hat er wenig mehr als den sechsten Teil zurückgelegt; und wir sind bereits im letzten Alter der Weltzeit, und wir erwarten wahrhaftig die Erschöpfung der himmlischen Bewegung. Und so ist offenkundig, daß der gestirnte Himmel aufgrund von vielen Eigenschaften mit der Physik und der Metaphysik verglichen werden kann. (14) Der Kristallhimmel, der oben als Erster Beweglicher aufgezählt worden ist, hat eine recht offenkundige Übereinstimmung mit der Moralphilosophie; denn die Moralphilosophie ordnet uns, gemäß dem, was Thomas zum zweiten Buch der Ethik sagt, auf die anderen Wissenschaften hin. (15) Denn, wie der Philosoph im fünften Buch der Ethik sagt, „die gesetzliche Gewalt ordnet die Wissenschaften auf das Lernen hin und sie



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befiehlt, damit diese nicht verlassen werden, daß diese zu lernen und zu beherrschen seien“; und ebenso ordnet der besagte Himmel mit seiner Bewegung die tägliche Umdrehung der anderen Himmel, wodurch jene jeden Tag die Kraft all ihrer Teile empfangen und herunterschicken. (16)  Denn wenn die Umdrehung des Ersten Beweglichen dies nicht so ordnen würde, würde nur wenig von ihrer Kraft oder von ihrer Erscheinung nach hier unten gelangen. Denn wenn wir die Möglichkeit annähmen, daß dieser neunte Himmel sich nicht bewegt, so wäre der dritte Teil des Himmels noch nie von irgendeinem Ort der Erde aus gesehen worden; Saturn wäre während vierzehneinhalb Jahren jedem Ort der Erde verborgen, Jupiter würde sich beinahe sechs Jahre lang verbergen, Mars beinahe ein Jahr lang, die Sonne 182 Tage und 14 Stunden (ich sage Tage, d. h. soviel Zeit, wie diese Tage bemessen), Venus und Merkur würden sich beinahe gleich lang wie die Sonne verbergen und zeigen und der Mond wäre für die Zeitspanne von vierzehneinhalb Tagen vor allen Menschen versteckt. (17) Und tatsächlich wäre hier unten kein Werden und Leben von Lebewesen und von Pflanzen; es gäbe weder Nacht noch Tag, noch gäbe es Wochen, Monate und Jahre, sondern das ganze All wäre ungeordnet und die Bewegung der anderen [Himmel] wäre vergebens. (18) Und nicht anders wären, würde die Moralphilosophie aufhören, die anderen Wissenschaften eine gewisse Zeitlang verborgen und es gäbe weder Werden von Glück noch glückliches Leben, und vergebens wären sie niedergeschrieben und im Altertum erfunden worden. Damit ist genügend offenkundig, daß dieser Himmel in sich eine Übereinstimmung mit der Moralphilosophie hat. (19) Weiter: das Empyreum ist aufgrund seines Friedens der göttlichen Wissenschaft ähnlich, die ganz von Frieden erfüllt ist; diese erleidet wegen der außerordentlichen Gewißheit ihres Gegenstandes, der Gott ist, keinerlei Streit von Gegensätzen oder von sophistischen Argumenten. Und von ihr sagt er

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zu seinen Jüngern: „Ich gebe euch meinen Frieden, meinen Frieden vermache ich euch“, wobei er ihnen seine Lehre übergab und vermachte; sie ist die Wissenschaft, von der ich spreche. (20) Von dieser sagt Salomon: „Sechzig Königinnen sind es, achtzig Konkubinen und junge Mägde ohne Zahl: eine einzige ist meine Taube und meine Vollkommene.“ Alle Wissenschaften nennt er Königinnen, Freundinnen und Mägde; und diese nennt er Taube, weil sie ohne den Makel eines Streites ist, und er nennt sie Vollkommene, weil sie uns die Wahrheit, in der unsere Seele zur Ruhe kommt, vollkommen erkennen läßt. (21)  Nachdem die Übereinstimmung, die zwischen den Himmeln und den Wissenschaften besteht, dargelegt worden ist, kann man nun sehen, daß ich mit dem dritten Himmel die R ­ hetorik meine, die dem dritten Himmel ähnlich ist, wie oben offenkundig geworden ist. •

xv. Aufgrund der dargelegten Ähnlichkeiten kann man sehen, wer diese Beweger sind, zu denen ich spreche. Denn sie sind die Beweger [dieses Himmels], so wie es Boethius und Cicero sind, (die mich mit der Süße ihrer Reden, wie oben gesagt worden ist, in die Liebe, d. h. in das Studium dieser höflichsten Frau Philosophie eingeführt haben,) mit den Strahlen ihres Sterns, der ihre Schrift ist: denn in jeder Wissenschaft ist die Schrift der lichtvolle Stern, die diese Wissenschaft beweist. (2) Nachdem dies offenkundig ist, kann man die tatsächliche Aussage der ersten Strophe der vorgelegten Kanzone für die kunstvolle und buchstäbliche Auslegung sehen. Und aufgrund derselben Aus­legung kann man die zweite Strophe genügend verstehen, bis zu jener Stelle, wo es heißt: Dies läßt mich eine Frau erblicken. (3) Hier ist zu wissen, daß diese Frau die Philosophie ist; die wahrlich eine Frau voll von Süße ist, geschmückt durch Ehrlichkeit, bewundernswert wegen des Wissens, herrlich wegen der Freiheit, wie es im dritten Traktat, wo von ihrer Edel-



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keit gehandelt wird, offenkundig wird. (4) Und da wo er sagt: Wer das Heil sehen will, stelle es so an, daß er die Augen dieser Frau sehe, sind die Augen dieser Frau die Beweise, die, auf die Augen des Intellekts ausgerichtet, die von den Widersprüchen befreite Seele verliebt machen. Oh, ihr süßesten und unaussprechlichen Erscheinungen und plötzlichen Diebe des menschlichen Verstandes, die ihr im Zeigen der Augen der Philosophie erscheint, wenn sie mit ihren Buhlen argumentiert! Wahrlich in euch ist das Heil, durch das sich, wer euch schaut, glückselig wird und frei vom Tod durch Unwissen und Laster. (5) Wo gesagt wird: doch ohne die Beklemmung der Seufzer zu fürchten, muß man verstehen, daß sie die Mühe des Studiums und die Kämpfe des Zweifels nicht fürchtet, die zu Beginn in großer Zahl von den Blicken dieser Frau ausgehen und später, mit dem Andauern ihres Lichtes davonjagen, wie die kleinen Wolken des Morgens vor dem Antlitz der Sonne; und der mit ihr vertraute Intellekt bleibt frei und voll von Gewißheit zurück, so wie die von den Strahlen der Mittagssonne gereinigte und erleuchtete Luft. (6) Auch die dritte Strophe versteht man aufgrund der buchstäblichen Auslegung bis dort, wo er sagt: Die Seele weint. Hier muß man genau auf die Ermahnung achten, die man in diesen Worten feststellen kann: denn der Mensch soll wegen einem größeren Freund nicht die von einem geringeren Freund erfahrenen Dienste vergessen; aber wenn man denn einem folgen und den anderen verlassen muß, so muß man dem Besseren folgen, indem man den anderen unter aufrichtigen Klagen verläßt, worin der Beweggrund eines Mehr an Liebe für den, dem man folgt, erklärt wird. (7) Dann wo er sagt: Von meinen Augen, will er nichts anderes sagen, als daß es eine schwere Stunde war, als der erste Beweis dieser Frau, der die nächstliegendste Ursache dieser Liebe war, in die Augen meines Intellekts eindrang. (8) Und da wo er sagt: meinesgleichen, sind die von schändlichen und lasterhaften Vergnügungen und niedrigen Verhaltensweisen freien Seelen gemeint, die mit Begabung und Gedächtnis

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ausgestattet sind. Und er sagt dann: tötet; und darauf: ich bin gestorben; was dem zu widersprechen scheint, was oben vom Heil dieser Frau gesagt worden ist. (9) Aber man muß wissen, daß hier eine Partei spricht und dort spricht die andere; diese beiden streiten auf verschiedene Weise, gemäß dem, was oben offenkundig geworden ist. Weswegen man sich nicht wundern muß, daß sie dort „ja“ sagt und hier „nein“, wenn man genau betrachte, wer fällt und wer aufsteigt. (10) Und dann in der vierten Strophe, wo er sagt: ein Liebesgeist, ist ein Gedanke gemeint, der aus meinem Studium entspringt. Hierzu ist zu wissen, daß in dieser Allegorie mit Liebe immer dieses Studium gemeint ist, das die Beschäftigung des in die Dinge verliebten Geistes mit diesen Dingen ist. (11) Dann, wenn er sagt: Du wirst so hoher Wunder Schmuck sehen, kündigt er an, daß man durch sie die Schönheiten der Wunder sehen wird: und er spricht wahr, denn die Schönheit der wunderbaren Dinge [zu sehen], bedeutet die Ursachen jener zu sehen; diese zeigt sie, wie der Philosoph zu Beginn der Metaphysik zu meinen scheint, wenn er sagt, daß aufgrund des Sehens dieser Schönheiten die Menschen sich in diese Frau zu verlieben begannen. Und vom Begriff „wunderbar“ wird im nächsten Traktat vollständiger gehandelt werden. (12) Alles weitere, was in dieser Kanzone folgt, ist aufgrund der anderen Auslegung genügend deutlich. Und so sage und bekräftige ich am Ende dieses Traktats, daß die Frau, in die ich mich im Anschluß an die erste Liebe verliebte, die schönste und allerwürdigste Tochter des Kaisers des Universums war, der Pythagoras den Namen Philosophie gegeben hat. Und hier endet der zweite Traktat, der darauf angelegt ist jene Kanzone auszulegen, die als erste Speise als erste gereicht wird.

Drittes Buch Amor, der im Geist mir handelt verlangend von meiner Frau, bewegt mich oft derart mit ihren Dingen, daß mein Intellekt darüber in die Irre geht. Sein Sprechen klingt so lieblich, daß die Seele, die hört und wahrnimmt, sagt: „Weh mir, denn ich bin nicht fähig auszudrücken, was ich von meiner Frau vernehme!“ Es ist gewiß, daß ich beiseite lassen muß, wenn ich vom über sie Gehörten handeln will, was mein Intellekt nicht begreift, und von dem, was man versteht einen guten Teil, denn ich vermag ihn nicht auszudrücken. Wenn also Mangel leiden meine Verse, die sich auf ihr Lob einlassen, ist diesbezüglich der schwache Intellekt zu tadeln, und unser Sprechen, das nicht die Kraft hat, alles wiederzugeben, was Amor sagt. Nicht sieht die Sonne, die die ganze Welt umkreist, so Höfliches, wie zu jener Stunde, in der sie leuchtet, wo jene Frau weilt, von der Amor mich sprechen ließ. Jeder Intellekt beschaut sie von dort oben und jene Menschen, die sich hier verlieben, finden sie in ihren Gedanken wieder, wenn Amor von seinem Frieden spüren läßt. Ihr Sein gefällt Jenem, der es gibt, so sehr, daß ständig er seine Kraft in sie ergießt,

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weit über das Verlangen unserer Natur hinaus. Ihre reine Seele, die dieses Heil von Ihm empfängt, zeigt es in ihrem Benehmen: denn in ihrer Schönheit sind Dinge zu sehen, so daß die Augen jener, denen sie erscheint, Boten voller Wünsche zum Herzen senden, die zu Luft werden und in Seufzern enden. In sie steigt die göttliche Kraft nieder, wie in einen Engel, der Ihn sieht; und die höfliche Frau, die dies nicht glaubt, möge sich zu ihr gesellen und ihre Handlungen betrachten. Da wo diese spricht, steigt ein Geist vom Himmel nieder, der Glauben schafft, derart übertrifft ihr eigener Wert das, was uns zukommt. Die lieblichen Handlungen, die sie andern zeigt, wetteifern darum, nach Amor zu rufen in jener Stimme, die ihn aufhorchen läßt. Von ihr kann man sagen: höflich ist bei einer Frau das, was bei ihr sich findet, und schön ist sie, soweit sie ihr gleicht. Und man kann sagen, daß ihr Anblick einlädt, dem wunderbar Erscheinenden zuzustimmen, so daß unserem Glauben geholfen ist, weswegen dies seit Ewigkeit angeordnet war. Dinge erscheinen in ihrem Anblick, die etwas von den Paradiesesfreuden zeigen, ich meine in den Augen und in ihrem süßen Lächeln, die Amor hier an ihren Platz getan. Sie übertreffen unseren Intellekt, wie der Sonnenstrahl ein schwaches Sehen: und weil ich sie nicht unablässig betrachten kann, muß ich mich damit begnügen, wenig darüber zu sagen.



Drittes Buch

Ihre Schönheit läßt Flämmchen von Feuer regnen, beseelt von einem höflichen Geist, der Schöpfer jedes guten Gedankens ist: Und wie der Blitz zerstören sie die angeborenen Laster, die andere niederträchtig machen. Doch welche Frau auch immer ihre Schönheit sieht gelästert, weil sie nicht ruhig und demütig erscheint, betrachte diese, die das Beispiel der Demut ist! Sie ist jene, die jeden Verdorbenen demütigt: diese erdachte Jener, der das Universum bewegte. Kanzone, es scheint Du widersprichst dem Wortlaut einer deiner Schwestern; denn diese Frau, die Du so demütig machst, nennt jene grausam und unwillig. Du weißt, daß der Himmel stets leuchtet und hell ist und er selbst sich nie trübt; aber unsere Augen nennen aus vielen Gründen die Sterne manchmal trüb. Ebenso, wenn jene diese stolz nennt, beurteilt sie diese nicht der Wahrheit gemäß, sondern entsprechend dem, als was sie ihr erschien: denn die Seele fürchtete sich und fürchtet sich noch, daß es mir grausam scheint, wann immer ich sehe, wo sie mich wahrnimmt. So entschuldige Dich, wenn es denn nötig ist; und wenn Du Dich ihr vorstellst, wirst Du sagen: „Angebetete, so es Euch genehm ist, werde ich überall von Euch sprechen“.



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i. Wie im vorangehenden Traktat dargelegt wird, nahm meine zweite Liebe ihren Anfang von der barmherzigen Erscheinung einer Frau. In der Folge entwickelte sich diese Liebe, da sie mein Leben ihrer Glut entsprechend veranlagt fand, wie Feuer von einer kleinen zu einer großen Flamme; so daß das Licht dieser [Frau] nicht nur im Wachen, sondern auch im Schlafen seinen Weg in meinen Kopf fand. (2) Und wie groß das Verlangen, sie zu sehen, war, das die Liebe mir eingab, kann man weder ausdrücken noch verstehen. Und nicht nur in bezug auf sie war es derart verlangend, sondern auch in bezug auf alle Personen, die aufgrund von Bekanntschaft oder von Verwandtschaft irgendeine Nähe zu ihr hatten. (3) Ach, wie viele Nächte vergingen, während denen die Augen der anderen Menschen geschlossen im Schlaf ruhten, und meine starr auf den Aufenthaltsort meiner Liebe gerichtet waren. Und wie die um sich greifende Feuersbrunst sich auch nach außen hin zeigen will, denn verborgen zu bleiben, ist [ihr] unmöglich, so führte mich der Wille dazu, von der Liebe zu sprechen, die er nicht bändigen konnte. (4) Und obwohl auf mein Ratschluß wenig Verlaß war, nahm ich ihn, sei es wegen der Liebe Wollen, sei es aufgrund meiner Bereitschaft, mehrmals an und ich entschloß mich und ich erkannte, als ich von der Liebe sprach, daß es weder eine schönere noch nützlichere Rede gibt, als jene, in der man die geliebte Person lobt. (5) Zu diesem Entschluß veranlaßten mich drei Gründe: einer davon war die Liebe meiner selbst, die der Anfang von allen anderen ist, wie jeder sehen kann. Denn es gibt keine statthaftere und höflichere Art, sich selbst Ehre zu bezeugen, als den Freund zu ehren. Hierbei [ist zu wissen], daß es zwischen ungleichen keine Freundschaft geben kann, und wo immer man



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Freundschaft sieht, man Ähnlichkeit voraussetzt; und wo immer Ähnlichkeit vorausgesetzt ist, gehen Lob und Tadel miteinander einher. (6) Und aus dieser Überlegung können zwei bedeutende Lehren gezogen werden: die eine ist, daß man nicht will, daß ein lasterhafter sich als Freund zeigt, denn daraus ergibt sich eine schlechte Meinung über den, zu dessen Freund er sich macht; die andere besteht darin, daß niemand seinen Freund offen tadeln soll, denn damit steckt er sich selbst den Finger ins Auge, wenn man die vorangehende Überlegung genau betrachtet. (7)  Der zweite Grund war der Wunsch nach Dauer dieser Freundschaft. Hier ist zu bedenken, was der Philosoph im neunten Buch der Ethik sagt, daß es bei Freundschaft zwischen Personen ungleichen Standes zur Erhaltung dieser [Freundschaft] einer Verhältnismäßigkeit zwischen ihnen bedarf, wodurch die Unähnlichkeit gleichsam auf Ähnlichkeit zurückgeführt wird. (8) So wie es zwischen dem Herrn und dem Diener [der Fall ist]: da der Diener dem Herrn nicht dieselbe Wohltat zurückerstatten kann, wenn er von ihm eine Wohltat empfangen hat, muß er ihm deswegen das, was er am besten kann, mit soviel spontanem Eifer zurückgeben, daß das, was in sich selbst unähnlich ist, sich durch das Zeigen des guten Willens ähnlich macht; ist dieser offenkundig, verstärkt und bewahrt sich die Freundschaft. (9)  Da ich mich für geringer als diese Frau hielt und da ich mich von dieser Frau beschenkt sah, nahm ich mir vor, sie meiner Fähigkeit entsprechend zu loben; auch wenn diese für sich genommen nicht ähnlich ist, zeigt sie mindestens den guten Willen, (denn, wenn ich mehr könnte, würde ich mehr tun,) und so macht sie sich der Fähigkeit dieser höflichen Frau ähnlich. (10) Der dritte Grund war ein Argument der Voraussicht; denn, wie Boethius sagt, „genügt es nicht, nur das zu betrachten, was unmittelbar vor den Augen liegt“, nämlich das Gegenwärtige, und deshalb ist die Voraussicht gegeben, die weiter blickt auf das, was eintreffen kann. (11)  Ich sage, daß ich dachte, ich würde vielleicht von

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vielen Nachgeborenen, wenn sie hörten, daß ich mich von der ersten Liebe abgewendet habe, wegen Leichtigkeit des Geistes gescholten; deshalb gab es, um diesen Tadel zu beseitigen, kein besseres Argument, als zu sagen, wer diese Frau war, die mich verändert hatte. (12) Denn aufgrund ihrer offenkundigen Erhabenheit kann man ihre Kraft erwägen; und aufgrund Berücksichtigung ihrer überwältigenden Kraft kann man sich denken, daß jede Beständigkeit des Geistes ihr gegenüber veränderlich ist, und man wird mich deshalb nicht als leicht und unbeständig beurteilen. Ich unternahm es also, diese Frau zu loben, und wenn nicht so, wie es ziemend wäre, dann mindestens so, wie ich es vermochte; und ich begann zu sagen: Amor, der im Geist mir handelt. (13)  Diese Kanzone hat drei Hauptteile. Der erste ist die ganze erste Strophe, die die Einleitung bildet. Der zweite sind die ganzen drei folgenden Strophen, in denen von dem gehandelt wird, was zu sagen beabsichtigt ist, d. h. das Lob dieser Höflichen; die erste dieser [Strophen] beginnt: Nicht sieht die Sonne, die die ganze Welt umkreist. Der dritte Teil ist die fünfte und letzte Strophe, wo ich, das Wort an die Kanzone richtend, diese von gewissen Zweifeln reinige. Und von diesen drei Teilen ist nun der Ordnung gemäß zu handeln. •

ii. Ich wende mich also dem ersten Teil zu, der als Einleitung zu dieser Kanzone angelegt ist, und sage, daß er in drei Teile zu unterteilen ist. Denn zuerst wird die unaussprechliche Beschaffenheit dieses Themas gestreift; zweitens wird mein Unvermögen, dieses [Thema] vollkommen zu behandeln, dargelegt: und dieser zweite Teil beginnt: Es ist gewiß, daß ich beiseite lassen muß; schließlich entschuldige ich das Unvermögen, das nicht mir zur Last zu legen ist: und damit beginne ich, wenn ich sage: Wenn also Mangel leiden meine Verse.



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(2) Er sagt also: Amor, der im Geist mir handelt; hier ist zuerst zu schauen, wer hier verhandelt, und welches dieser Ort ist, von dem ich sage, daß er darin verhandelt. (3) Liebe ist, wenn wir sie der Wahrheit gemäß auffassen und umsichtig bedenken, nichts anderes als die geistige Vereinigung der Seele mit dem geliebten Ding; zu dieser ihrer eigenen Natur entsprechenden Vereinigung eilt die Seele früher oder später, je nachdem ob sie frei oder behindert ist. (4) Und der Grund dieser Natürlichkeit kann der folgende sein. Jede substantielle Form geht von ihrer ersten Ursache aus, die Gott ist, wie es im Buch Über die Ursachen geschrieben ist, und sie erhält ihre Verschiedenheit nicht von jener, die allereinfachst ist, sondern von den Zweitursachen und durch den Stoff, in den sie herabsteigt. Weswegen im selben Buch über den Einfluß der göttlichen Güte geschrieben ist: „Und die Gutheiten und die Gaben werden durch das Mitwirken des Dings, das empfängt, [voneinander] verschieden.“ (5) Da jede Wirkung [etwas] von der Natur ihrer Ursache zurückbehält – so wie Alpetragius sagt, wenn er festhält, daß das, was von einem kreisförmigen Körper verursacht ist, auf eine gewisse Weise ein kreisförmiges Sein hat –, hat jede Form in einer gewissen Weise Sein der göttlichen Natur: nicht als wäre die göttliche Natur geteilt und in diese hinein mitgeteilt, aber diese [Formen] haben an ihr teil, gleichsam auf die Weise, wie die Natur der Sonne von den anderen Sternen teilgehabt wird. (6) Und je edler die Form ist, desto mehr von dieser Natur nimmt sie auf; deswegen empfängt die menschliche Seele, die die edelste der unterhalb des Himmels gewordenen Formen ist, mehr von der göttlichen Natur als jede andere. (7) Und weil es in Gott in höchsten Maße natürlich ist, sein zu wollen – denn, wie im angeführten Buch zu lesen ist: „Das erste Ding ist das Sein und vor diesem ist nichts“ –, will die menschliche Seele von Natur aus mit ihrem ganzen Verlangen Sein; und weil ihr Sein von Gott abhängt und sich durch diesen erhält, verlangt sie und will sie von Natur aus mit Gott vereinigt sein, um ihr

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Sein zu stärken. (8) Und weil in den Gutheiten der Natur und der Vernunft sich die göttliche [Gutheit] zeigt, entspricht es der Natur, daß die menschliche Seele sich auf einem geistigen Weg mit jenen vereinigt, desto früher und stärker, je vollkommener jene erscheinen: diese Erscheinung ereignet sich der deutlichen oder behinderten Erkenntnis der Seele entsprechend. (9) Und diese Vereinigung ist das, was wir Liebe nennen, wodurch man erkennen kann, welcher Art die Seele im Innern ist, sieht man doch von außen jene, die sie liebt. Diese Liebe, d. h. die Vereinigung meiner Seele mit dieser höflichen Frau, in der sich mir genug des göttlichen Lichtes zeigte, ist jenes verhandelnde [Subjekt], von dem ich spreche; denn aus ihm entstanden laufend Gedanken, die diese Frau, die geistig mit meiner Seele zu einem Ding geworden ist, betrachten und ihren Wert prüfen. (10)  Der Ort von dem ich sage, daß es dort verhandelt, ist der Geist; aber im Sagen, daß es der Geist sei, wird dies nicht verständlicher als zuvor und deshalb ist zu schauen, was dieser Geist tatsächlich bezeichnet. (11) Ich sage also, daß der Philosoph im zweiten Buch Über die Seele, wo er deren Vermögen einteilt, sagt, daß die Seele grundsätzlich drei Vermögen hat, d. h. leben, wahrnehmen und denken: und er sagt auch bewegen: aber dieses kann mit dem Wahrnehmen zusammengefaßt werden, denn jede Seele, die entweder mit all ihren Sinnen oder nur mit einem einzelnen wahrnimmt, bewegt sich; so daß die Bewegung ein mit der Wahrnehmung verbundenes Vermögen ist. (12) Und aus dem, was er sagt, ist es überaus offenkundig, daß diese Vermögen sich so zueinander verhalten, daß das eine die Grundlage des anderen ist; und jenes, das die Grundlage ist, könnte für sich genommen abgetrennt werden, aber das andere, das in diesem gründet, kann nicht von diesem abgetrennt werden. Deswegen ist das vegetative Vermögen, durch das man lebt, die Grundlage der Wahrnehmung, d. h. Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen; und dieses vegetative Vermögen kann für sich genommen Seele sein, wie wir es bei



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allen Pflanzen sehen. (13) Das wahrnehmende [ Vermögen] kann nicht ohne dieses sein und es findet sich in keinem Ding, das nicht lebt; und dieses wahrnehmende Vermögen ist die Grundlage des intellektuellen [ Vermögens], d. h. der Vernunft: und deswegen findet sich das vernünftige Vermögen in den sterblichen lebenden Dingen nicht ohne das wahrnehmende [ Vermögen], aber das wahrnehmende Vermögen findet sich ohne dieses, wie beim Vieh, den Vögeln, den Fischen und allen niedrigen Lebewesen zu sehen ist. (14) Und jene Seele, die all diese Vermögen umfaßt und vollkommener ist als all die anderen, ist die menschliche Seele, die durch die Edelkeit des letzten Vermögens, d. h. der Vernunft, gemäß der Art der immerwährenden Intelligenz an der göttlichen Natur teilhat; denn die Seele wird in jenem höchsten Vermögen so sehr veredelt und vom Stoff befreit, daß das göttliche Licht wie in einen Engel in sie hineinstrahlt: und deswegen wird der Mensch von den Philosophen göttliches Lebewesen genannt. (15) In diesem edelsten Teil der Seele sind mehrere Tugenden, wie der Philosoph am deutlichsten im sechsten Buch der Ethik sagt; wo er sagt, daß in ihm eine Tugend ist, die die wissenschaftliche heißt, und eine, die die argumentierende heißt, oder besser, beratende: daneben gibt es noch gewisse andere Tugenden – wie Aristoteles am selben Ort sagt –, wie die erfindende Tugend und die beurteilende. (16) Und all diese edelsten Tugenden und die anderen, die in diesem erhabensten Vermögen sind, werden gemeinsam mit diesem Begriff, von dem wir wissen wollten, was er sei, d. h. der Geist, bezeichnet. Dadurch ist offenkundig, daß man unter Geist diesen letzten und edelsten Teil der Seele versteht. (17)  Und daß dies gemeint war, sieht man: denn nur vom Menschen und von den göttlichen Substanzen sagt man diesen Geist aus, wie man bei Boethius deutlich sehen kann, der ihn zuerst vom Menschen aussagt, wo er der Philosophie sagt: „Du und Gott, der Dich in den Geist der Menschen legte“; danach sagt er ihn von Gott aus, wenn er zu Gott sagt: „Alle Dinge

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schaffst Du aufgrund des höchsten Vorbildes, Du, Schönster, der Du die schöne Welt im Geist trägst.“ (18) Nie wurde er von einem Tier ausgesagt und sogar von vielen Menschen, die bezüglich des vollkommensten Teils mangelhaft erscheinen, scheint es, daß man ihn weder aussagen kann, noch darf: und deshalb werden solche auf Lateinisch Geistlose (amens)  und Verrückte (demens) genannt, d. h. des Geistes bar. (19) Nun kann man also sehen, was Geist ist: er ist jener feine und wertvollste Teil der Seele, der Gottheit ist. Und dies ist der Ort, von dem ich sage, daß die Liebe dort über meine Frau verhandelt. •

iii. Nicht ohne Grund sage ich, daß diese Liebe ihre Handlung in meinem Geist vollzieht; vielmehr ist es vernünftig dies zu sagen, um, aufgrund des Ortes, in dem sie wirkt, zu verstehen zu geben, welche Liebe dies ist. (2) Diesbezüglich ist zu wissen, daß jedes Ding, wie es oben gesagt worden ist, wegen des oben dargelegten Grundes seine besondere Liebe hat. So haben die einfachen Körper in ihnen selbst natürlich vorhandene Liebe zum eigenen Ort und deshalb strebt die Erde immer zur Mitte; das Feuer hat die Liebe zur oberen Sphäre beim Mondhimmel, und deshalb steigt es immer zu dieser hoch. (3) Die ersten zusammengesetzten Körper, wie es die Minerale sind, haben die Liebe nach dem Ort, wo ihr Werden geordnet wird, und dort wachsen sie und erwerben sie sich Kraft und Vermögen; deshalb sehen wir, daß der Magnet immer vom Ort seines Werdens Kraft erhält. (4)  Die Pflanzen, die die ersten belebten Wesen sind, haben noch offensichtlichere Liebe zu einem bestimmten Ort, je nachdem wie ihre Zusammensetzung es verlangt; und deshalb sehen wir gewisse Pflanzen, die sich entlang der Wasserläufe wohl fühlen, gewisse auf den Bergkämmen, gewisse an den Stränden und zu Füßen der Berge; wenn diese [Pflanzen] versetzt werden, so sterben sie entweder gänzlich oder sie leben traurig, wie von ihrem Freund getrennte Dinge. (5) Die Tiere



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haben eine noch offensichtlichere Liebe nicht nur zu den Orten, sondern wir sehen auch eines das andere lieben. Die Menschen haben ihre eigene Liebe zu den vollkommenen und ehrenvollen Dingen. Aber weil der Mensch, wobei er eine einzige Substanz ist, nämlich die Form, in sich die Natur all dieser Dinge hat, kann er all diese Lieben haben und er hat sie auch. (6) Denn aufgrund der Natur des einfachen Körpers, die im Zugrundeliegenden herrscht, liebt er es von Natur aus, nach unten zu gehen; und deshalb ermüdet er sich mehr, wenn er seinen Körper nach oben bewegt. Aufgrund der zweiten Natur, jener des gemischten Körpers, liebt er den Ort und auch die Zeit seines Werdens; und deswegen hat jeder natürlicherweise einen kräftigeren Körper, wenn er sich an jenem Ort befindet, an dem er gezeugt worden ist, und in der Zeit seines Werdens [ist er stärker] als in jeder anderen. (7) Deswegen lesen wir in den Geschichten von Herkules, sowohl in den Metamorphosen des Ovid als auch bei Lukan und bei anderen Poeten, dort wo er mit dem Giganten Antaios kämpft, daß sobald der Gigant müde war und er seinen Körper, sei es willentlich, sei es wegen der Kraft des Herkules, auf der Erde ausstreckte, Stärke und Kraft aus der Erde, in der und von der er gezeugt worden war, wieder gänzlich in ihn zurückkehrte. (8) Dies bemerkte Herkules und schließlich packte er ihn; und er würgte ihn und er stemmte ihn in die Luft und er hielt ihn so lange, ohne ihn die Erde berühren zu lassen, bis er ihn durch Überwältigung besiegte und tötete. Und dieser Kampf ereignete sich, den Zeugnissen der Schriften gemäß, in Afrika. (9) Und aufgrund der dritten Natur, d. h. jene der Pflanzen, hat der Mensch eine Liebe zu gewisser Nahrung, (nicht insofern sie sinnlich wahrnehmbar ist, sondern insofern sie ernährend ist,) und diese so beschaffene Nahrung erfüllt die Aufgabe dieser Natur vollkommen und die andere Nahrung dagegen nicht, sondern nur unvollkommen. Und deshalb sehen wir, daß gewisse Nahrung die Menschen wohlgeformt, starkgliedrig und

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von lebendiger Farbe macht und gewisse andere das Gegenteil davon. (10)  Und aufgrund der vierten Natur der Lebewesen, d. h. der sinnlich wahrnehmenden, hat der Mensch eine weitere Liebe, aufgrund derer er der sinnlichen Erscheinung entsprechend liebt wie die Tiere; und diese Liebe hat im Menschen aufgrund ihrer überwältigenden Wirkung, vor allem in der Lust des Geschmacksinns und des Tastsinns, am meisten die Gewalt eines Leiters. (11) Und aufgrund der fünften und letzten Natur, d. h. der wirklich menschlichen oder, besser gesagt, der engelhaften, d. h. vernünftigen, hat der Mensch die Liebe zur Wahrheit und zur Tugend; und aus dieser Liebe entsteht die wahre und vollkommene, aus dem Aufrichtigen stammende Freundschaft, von der der Philosoph im achten Buch der Ethik spricht, wenn er von der Freundschaft handelt. (12) Da diese Natur, wie oben gezeigt worden ist, Geist heißt, sagte ich „Amor verhandelt im Geist“, um zu verstehen zu geben, daß diese Liebe jene war, die in dieser edelsten Natur entsteht, d. h. [die Liebe] der Wahrheit und der Tugend, und um jede falsche Meinung über mich auszuschließen, aufgrund derer ich verdächtigt worden wäre, daß meine Liebe sich auf sinnliche Freuden richtet. Ich sage dann verlangend, um ihr Andauern und ihre Leidenschaft zu verstehen zu geben. (13) Und ich sage, daß „[die Liebe] oft Dinge vorbringt, die meinen Intellekt in die Irre führen“. Und ich sage die Wahrheit; denn meine Gedanken wollten, von dieser handelnd, häufig über sie Schlüsse ziehen, die ich nicht verstehen konnte, und ich verirrte mich derart, daß ich von außen gesehen beinahe wahnsinnig erschien: wie, wer mit dem Gesichtssinn auf einer geraden Linie schaut, zuerst die nächstgelegenen Dinge deutlich sieht; danach, weiter [blickend], sieht er sie weniger deutlich; darauf, noch weiter [blickend], zweifelt er; schließlich, am weitesten [blickend], sieht der losgelöste Gesichtssinn nichts mehr. (14)  Und dies ist die eine Unsagbarkeit dessen, was ich als Thema genommen habe; und im Folgenden erzähle ich die an-



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dere, wenn ich sage: Sein Sprechen. Und ich sage, daß meine Gedanken – die ein Rede über Liebe sind – „so lieb klingen“, daß meine Seele, d. h. meine Leidenschaft, danach brennt, dies mit der Sprache erzählen zu können; und weil ich es nicht ausdrücken kann, sage ich, daß die Seele sich darüber beklagt, indem sie sagt: Weh mir, denn ich bin nicht fähig. (15)  Und dies ist die andere Unsagbarkeit; d. h. daß die Sprache dem, was der Intellekt sieht, nicht vollständig folgen kann. Und ich sage die Seele, die hört und wahrnimmt: „[zu] hören“ bezüglich der Worte und „wahrnehmen“ bezüglich der Süße des Klanges. •

iv. Nachdem die beiden Unsagbarkeiten dieses Stoffes dargelegt sind, ist es angebracht zur Darlegung jener Worte überzugehen, die mein Unvermögen erzählen. Ich sage also, daß sich mein Unvermögen als ein doppeltes erweist, ebenso wie die Erhabenheit dieser [Frau] es zweifach in der genannten Art übersteigt. (2)  Denn ich muß aufgrund der Armut des Intellekts von vielem ablassen, was in Bezug auf sie wahr ist, und das gleichsam in meinen Geist hineinstrahlt, der dies als lichtdurchlässiger Körper empfängt, ohne es zu begrenzen: und dies sage ich in jenem folgenden Teilchen: Es ist gewiß, daß ich beiseite lassen muß. (3) Danach, wenn ich sage: Und von dem, was man versteht, sage ich, daß ich nicht nur dem, dem mein Intellekt nicht standhält, sondern auch jenem, das ich verstehe, nicht genüge, denn meine Zunge ist nicht so redegewandt, daß sie das sagen könnte, was sich in meinem Denken verhandelt; woraus zu sehen ist, daß es hinsichtlich der Wahrheit wenig sein wird, was gesagt wird. Und dies endet in einem großen Lob für diese [Frau], wenn man genau schaut; dies ist die grundsätzliche Absicht; und von jener Rede kann man wohl sagen, sie komme aus der Werkstatt des Rhetors, in der jeder Teil zum grundsätzlich Beabsichtigten beiträgt. (4) Dann, wenn er sagt: Wenn also Mangel leiden meine Verse, entschuldige ich mich von einer Schuld,

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derentwegen ich nicht beschuldigt werden muß, scheint es doch anderen, daß meine Worte geringer sind als die Würde dieser [Frau]; und ich sage, daß, falls meine Verse Mangel leiden, d. h. meine Worte, die diese zu behandeln haben, nicht geordnet sind, die Schwäche des Intellekts zu tadeln ist und die Unzulänglichkeit unseres Sprechens: das [Sprechen] wird durch das Denken derart übertroffen, daß es ihm nicht vollständig folgen kann, vor allem dort, wo der Gedanke aus Liebe entsteht, denn hier täuscht sich die Seele stärker als anderswo. (5)  Jemand könnte sagen: „Du beschuldigst dich und zugleich entschuldigst du dich.“ Denn es ist ein Argument der Anklage und keine Entlastung, wenn die Schuld dem Intellekt und dem Sprechen gegeben wird, die mein sind; denn ist es gut, bin ich diesbezüglich zu loben, insofern es so ist, ebenso muß ich, wenn es mangelhaft ist, getadelt werden. Dem kann man bündig antworten, daß ich mich nicht beschuldige, sondern daß ich mich tatsächlich entschuldige. (6) Und hierzu ist zu wissen, daß, gemäß der Aussage des Philosophen im dritten Buch der Ethik, der Mensch nur in jenen Dingen, die zu tun oder zu lassen in seiner Macht steht, des Lobes und des Tadels würdig ist; aber in jenen, über die er keine Macht hat, verdient er weder Tadel noch Lob, so daß sowohl der eine wie das andere an etwas anderes zu richten sind, wiewohl diese Dinge Teil des Menschen selbst sind. (7)  Deswegen müssen wir einen Menschen nicht deshalb tadeln, weil sein Körper von Geburt an häßlich ist, denn es stand nicht in seiner Macht, sich schön zu machen; aber wir müssen die schlechte Veranlagung der Materie tadeln, aus der er gemacht ist, die der Ausgangspunkt dieser Sünde der Natur war. Und ebenso müssen wir einen Menschen nicht loben wegen der Schönheit, die er von Geburt her in seinem Körper hat, denn er war nicht deren Gestalter, aber wir müssen den Künstler loben, d. h. die menschliche Natur, die in ihrer Materie soviel Schönheit schafft, wenn sie von ihr nicht behindert wird. (8) Und deshalb antwortete der Priester dem Kaiser richtig, der



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lachte und die Häßlichkeit seines Körpers verspottete: „Gott ist der Herr: er hat uns geschaffen und nicht wir uns selbst“; und dies sind Worte des Propheten, die in einem Vers des Psalters genau so geschrieben sind wie in der Antwort des Priesters. Und so sehen wir die üblen Mißgeburten, die ihren Fleiß darauf verwenden, ihre Person herauszuputzen und sich nicht darum kümmern, ihre Handlungen auszuschmücken, die doch ehrenhaft sein sollten; was nichts anderes ist, als das Werk anderer zu schmücken und das eigene hintanzustellen. (9) Zum Vorliegenden zurückkehrend, sage ich, daß unser Intellekt aufgrund des Mangels der Kraft, von der er das nimmt, was er sieht, die eine organische Kraft ist, nämlich die Phantasie, zu gewissen Dingen, wie es die von der Materie getrennten Substanzen sind, nicht hinaufsteigen kann, denn die Phantasie kann ihm nicht helfen, denn sie hat das Mittel nicht; auch wenn wir von diesen [Substanzen] ohne diese [Phantasie] irgend­eine Vorstellung haben können, so können wir sie doch weder vollständig verstehen noch begreifen. (10)  Und diesbezüglich ist der Mensch nicht zu tadeln, denn nicht er, sage ich, war der Gestalter dieses Mangels, sondern die allgemeine Natur, d. h. Gott, hat dies gemacht, der uns in diesem Leben dieses Lichtes berauben wollte; weswegen er dies so gemacht hat zu ergründen wäre anmaßend. (11) Wenn meine Überlegung mich in eine Region geführt hat, wo die Phantasie dem Intellekt kaum beistand, so bin ich nicht zu tadeln, wenn ich nicht verstehen konnte. Weiter ist unserer Fähigkeit [und] jeder ihrer Handlungen eine Grenze ge­setzt, nicht von uns, sondern von der allgemeinen Natur; und hierzu ist zu wissen, daß die Grenzen der Fähigkeit des Denkens weiter sind als jene des Sprechens und jene des Sprechens weiter sind als jene des Zeigens. (12) Wenn also unser Denken, nicht nur das, das nicht zum vollkommenen Intellekt gelangt, sondern auch das, das im vollkommenen Intellekt zu seinem Ende kommt, das Sprechen übertrifft, so sind nicht wir zu tadeln, denn nicht wir sind dessen Gestalter.

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(13) Und ich zeige, daß ich mich wirklich entschuldige, wenn ich sage: Diesbezüg­lich ist der schwache Intellekt zu tadeln und unser Sprechen, das nicht die Kraft hat, alles wiederzugeben, was Amor sagt; denn genügend deutlich ist der gute Wille zu sehen, vor dem man bezüglich der menschlichen Verdienste Achtung haben muß. Und so versteht man nun den ersten Hauptteil dieser Kanzone, die mir durch die Hand gleitet. •

v. Nachdem der erste Teil dargelegt und seine Aussage offengelegt worden ist, ist zum zweiten [Teil] überzugehen; diesen wollen wir, um besser zu erkennen, in drei Teile zerlegen, gemäß den drei Strophen, die er umfaßt. Denn im ersten Teil lobe ich diese Frau ganz und allgemein sowohl hinsichtlich der Seele wie auch hinsichtlich des Körpers; im zweiten gehe ich zum besonderen Lob der Seele über; im dritten zum besonderen Lob des Körpers. (2) Der erste Teil beginnt: Nicht sieht die Sonne, die die ganze Welt umkreist; der zweite beginnt: In sie steigt die göttliche Kraft nieder; der dritte beginnt: Dinge erscheinen in ihrem Anblick; und diese Teile sind ihrer Ordnung nach darzulegen. (3) Er sagt also: Nicht sieht die Sonne, die die ganze Welt umkreist; hier muß man, um vollkommenes Verständnis zu haben, wissen, wie die Erde von der Sonne umkreist wird. Zuerst sage ich, daß ich hier unter der Welt nicht den gesamten Körper des Universums meine, sondern nur diesen Teil des Meeres und der Erde, womit ich der volkstümlichen Rede folge, die dies so zu nennen pflegt: weswegen man sagt, „jener hat die ganze Welt gesehen“, womit man den Teil des Meeres und der Erde benennt. (4) Von dieser Welt sagten Pythagoras und sein Gefolge, daß sie einer der Sterne sei, und daß ein anderer, ebenso beschaffener, ihm entgegengesetzt ist und er nannte jenen Anticthona; und er sagte, daß sie sich beide in einer Sphäre befinden würden, die sich von Westen nach Osten drehe (und aufgrund dieser Kreisbewegung drehe sich die Sonne um uns,



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und manchmal sehe man sie und manchmal nicht). (5) Und er sagte, daß das Feuer mitten zwischen diesen [beiden] sei, wobei er voraussetzte, daß dieses der edlere Körper als das Wasser und die Erde ist und daß der Mittelpunkt der edelste unter den Orten der vier einfachen Körper ist: und deshalb sagte er, daß das Feuer, wenn es zu steigen scheint, in Wahrheit zum Mittelpunkt niedergeht. (6) Platon war in der Folge anderer Meinung und schrieb in einem seiner Bücher, das Timaios heißt, daß die Erde zusammen mit dem Meer genau im Mittelpunkt von allem ist, und daß ihr Rund sich vollständig um ihr Zentrum dreht, wobei sie der ersten Bewegung des Himmels folgt; aber sie ist aufgrund ihres groben Stoffes und der größten Distanz zu diesem sehr langsam. (7) Diese Meinungen sind im zweiten Buch von Über den Himmel und die Erde von jenem ruhmreichen Philosophen, dem die Natur ihre Geheimnisse am meisten offenbarte, als falsch widerlegt; und durch ihn ist an dieser Stelle bewiesen, daß diese Welt, d. h. die Erde auf immer ruhig und unbewegt in sich steht. Und seine Argumente, die Aristoteles anführt, um jene zu zerstören und um die Wahrheit zu bekräftigen, hier aufzuzählen, ist nicht meine Absicht, denn es genügt für jene Leute, zu denen ich spreche, aufgrund seiner großen Autorität zu wissen, daß diese Erde unbeweglich ist und sich nicht dreht und daß sie gemeinsam mit dem Meer das Zentrum des Himmels ist. (8) Dieser Himmel dreht sich beständig um dieses Zentrum, so wie wir es sehen; in dieser Kreisbewegung müssen notwendigerweise zwei unbewegte Pole sein und ein Kreis, der von diesen beiden gleich weit entfernt ist, der sich am allermeisten dreht. Von diesen beiden Polen ist der eine beinahe der ganzen [von Wasser] unbedeckten Erde sichtbar, d. h. der nördliche; der andere ist beinahe der ganzen [von Wasser] unbedeckten Erde verborgen, d. h. der südliche. Der Kreis, der zwischen diesen beiden angenommen wird, ist jener Teil des Himmels, unter dem sich die Sonne dreht, wenn sie sich im Widder und

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in der Waage befindet. (9)  Deswegen muß man wissen, daß wenn ein Stein von diesem, unserem Pol fallen könnte, er dort in den Ozean fallen würde, in jenen Punkt auf der Oberfläche des Meeres, wo, wenn dort ein Mensch wäre, der Stern ihm immer mitten über dem Kopf stünde; und ich glaube, daß es von Rom zu diesem Ort, wenn man nach Norden geradeaus geht, beinahe eine Strecke von 2600 Meilen ist oder mindestens wenig mehr. (10) Man stelle sich also, um besser zu sehen, vor, daß in diesem Ort, von dem ich gesprochen habe, eine Stadt sei und daß diese Maria heiße, und ich sage weiter, daß, wenn vom anderen Pol, d. h. vom südlichen, ein Stein herunterfallen würde, er dort auf die Oberfläche des Ozeans fallen würde, wo diese auf diesem Ball [der Stadt] Maria genau entgegengesetzt ist. Und ich glaube, daß es von Rom nach dorthin, wo dieser zweite Stein niederfallen würde, wobei man geradeaus nach Süden geht, eine Strecke von 7500 Meilen ist oder mindestens wenig mehr. (11) Und hier stellen wir uns eine andere Stadt vor, die den Namen Lucia habe. Und es ist zwischen der einen und der anderen, aufgrund des Kreises dieses ganzen Balles, ein Raum, von welcher Seite man immer die Maßschnur spannt, von 10 200 Meilen, derart, daß die Bürger von Maria die Fußsohlen gegen die Fußsohlen jener von Lucia halten. (12) Man stelle sich weiter einen Kreis auf diesem Ball vor, der in jedem seiner Teile gleich weit entfernt ist von Maria und Lucia. Ich glaube, daß dieser Kreis – gemäß dem, was ich aufgrund der Aussagen der Astronomen und des Albertus Magnus im Buch Über die Natur der Orte und Über die Eigenschaften der Elemente und auch aufgrund des Zeugnis von Lukan in seinem neunten Buch verstehe – diese vom Ozean bedeckte Erde in der Mittagsstunde, beinahe entlang der ganzen Ausdehnung der ersten Klimazone, wo unter anderen Völkern auch die Garamanten leben, die beinahe immer nackt sind, teilen würde; zu diesen [Garamanten] gelangte Cato mit dem römischen Volk, als er vor der Herrschaft des Cäsar flüchtete.



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(13) Nachdem diese drei Punkte auf diesem Ball bezeichnet sind, ist es einfach zu sehen, wie die Sonne dreht. Ich sage also, daß der Himmel der Sonne sich von Westen nach Osten wendet, nicht direkt gegen die tägliche Bewegung, d. h. des Tages und der Nacht, sondern schräg zu dieser: so daß sein mittlerer Kreis, der zwischen seinen Polen gleich weit entfernt ist, auf dem sich der Sonnenkörper befindet, den Kreis der beiden ersten Pole in zwei entgegengesetzte Teile zerlegt, d. h. in den Ursprung des Widders und in den Ursprung der Waage, und er selbst sich durch diesen in zwei Bogen teilt, einen gegen Norden und einen gegen Süden. (14) Die [Mittel-]Punkte dieser Bogen sind gleich weit entfernt vom ersten Kreis, von jeder Seite 23 Grad plus eine Einheit; und diese Einheit ist der Ursprung des Krebses und die andere ist der Ursprung des Steinbocks. Deshalb ist es so, daß Maria im Ursprung des Widders, wenn die Sonne sich unter dem Mittelkreis der ersten Pole bewegt, diese Sonne nahe bei der Erde oder besser, dem Meer, die Welt umkreisen sieht, wie ein Schleifstein, von dem nicht mehr als die Hälfte seines Körpers erscheint; und diese sieht sie nach der Art einer Schraubdrehung heraufkommen, vollbringt sie doch 91 Drehungen und wenig mehr. (15) Und wenn diese Umdrehungen vollendet sind, dann ist ihr Steigen für Maria beinahe so groß, wie sie für uns in der Mitte der Erde steigt, wenn der Tag der halben Nacht gleich ist; und wenn ein Mensch in Maria aufrecht stünde und seinen Blick immer auf die Sonne gerichtet hätte, sähe er diese seinem rechten Arm entgegengehen. (16) Danach scheint sie auf demselben Weg durch 91 oder wenig mehr Drehungen hinabzusteigen, bis sie unten um die Erde kreist oder besser, um das Meer, wobei sie sich nicht ganz zeigt; und danach verbirgt sie sich und Lucia beginnt, sie zu sehen, die dieses Aufsteigen und Niedergehen um sich herum mit ebensoviel Drehungen sieht wie Maria. (17) Und wenn ein Mensch in Lucia aufrecht stünde und seinen Blick immer auf die Sonne gerichtet hätte, sähe er diese seinem linken Arm entgegenge-

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hen. Dadurch kann man sehen, daß diese Orte im Jahr einen Tag von sechs Monaten haben und eine Nacht von ebensolcher Dauer; und wenn der eine Tag hat, hat der andere Nacht. (18) Weiter ist es so, daß der Kreis, wo die Garamanten, wie gesagt worden ist, auf diesem Ball sind, die Sonne genau über sich drehen sieht, nicht wie ein Schleifstein, sondern wie ein Rad; dieses kann er nur halb sehen, wenn sie sich unter dem Widder bewegt. Und dann sieht er sie 91 und wenig mehr Tage von sich wegbewegen und Richtung Maria gehen und ebensolang zu ihm zurückkehren; und dann, wenn sie zurückgekehrt ist, geht sie unter die Waage und bewegt sie sich ebenso weg und geht während 91 und wenig mehr Tagen Richtung Lucia und ebensolang kehrt sie zurück. (19) Und dieser Ort, der den ganzen Ball umgibt, hat den Tag immer gleich lang wie die Nacht, ob die Sonne nach hier oder nach dort geht; und zweimal im Jahr hat er einen Sommer von größter Hitze und zwei kleine Winter. (20) Weiter ist es so, daß die beiden Räume, die zwischen den beiden vorgestellten Städten und dem Kreis in der Mitte sind, die Sonne verschieden sehen, je nachdem sie von diesen Orten entfernt oder nahe sind; wie jetzt, aufgrund des Gesagten, sehen kann, wer eine edle Begabung hat und dem ein wenig Mühe zu lassen schön ist. (21) Deshalb kann man nun sehen, daß die Welt aufgrund der göttlichen Voraussicht so geordnet ist, daß, wenn die Sphäre der Sonne gedreht hat und zu einem Punkt zurückgekehrt ist, dieser Ball, auf dem wir uns befinden, in jedem seiner Teile ebensolange Zeit Licht erhält wie Finsternis. (22) Ach unfehlbares Wissen, daß du das so geordnet hast, wie arm ist unser Geist im dich Verstehen! Und ihr, zu deren Nutzen und Vergnügen ich schreibe, in wieviel Blindheit lebt ihr, eure Augen nicht zu diesen Dingen erhebend, sondern sie starr auf den Schlamm eurer Dummheit gerichtet haltend. •



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vi. Im vorangehenden Kapitel ist gezeigt worden, auf welche Weise die Sonne kreist; so daß man jetzt dazu übergehen kann, die Aussage des fraglichen Teils aufzuzeigen. Ich sage also, daß ich in diesem Teil damit beginne, diese Frau im Vergleich zu den anderen Dingen zu loben; und ich sage, daß die Sonne beim Umkreisen der Welt kein Ding sieht, das so höflich ist wie diese; woraus folgt, daß diese, den Worten gemäß, das höflichste von allen Dingen ist, die die Sonne anleuchtet. (2) Und er sagt: zu jener Stunde; wo zu wissen ist, daß „Stunde“ von den Astronomen auf zwei Arten gebraucht wird. Im einen Fall machen sie aus dem Tag und der Nacht 24 Stunden, d. h. 12 aus dem Tag und 12 aus der Nacht, wie groß oder klein der Tag auch sei; und diese Stunden verkleinern oder vergrößern sich bei Tag und bei Nacht, je nachdem wie der Tag und die Nacht wachsen und abnehmen. Und diese Stunden benutzt die Kirche, wenn sie von der Prim, der Terz, der Sext und der Non spricht und sie heißen zeitliche Stunden. (3) Im andern Fall teilen sie den Tag und die Nacht in 24 Stunden, so daß der Tag Mal 15 Stunden hat und die Nacht neun; Mal hat die Nacht 16 Stunden und der Tag acht, je nachdem wie der Tag und die Nacht wachsen und abnehmen; und diese heißen gleiche Stunden. Und während den Äquinoktien sind diese und jene, die zeitliche [Stunden] heißen, das Gleiche; weil der Tag der Nacht gleich ist, verhält es sich so. (4)  Dann wenn ich sage Jeder Intellekt beschaut sie von dort oben, lobe ich sie ohne Rücksicht auf andere Dinge. Und ich sage, daß die Intelligenzen des Himmels sie beschauen und daß die Menschen hier unten höflich von ihr denken, wenn sie mehr von dem haben, was sie erfreut. Und hier ist zu wissen, daß jeder obere Intellekt, dem gemäß was im Buch Über die Ursachen geschrieben ist, das kennt, was über ihm ist, und das, was unter ihm ist. (5) Er kennt also Gott als seine Ursache [und] er kennt das, was unter ihm ist als seine Wirkung; und weil Gott die allgemeinste Ursache aller Dinge ist, kennt [ jeder Intellekt] in sich, indem er ihn kennt, alle Dinge, der Art der In-

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telligenz entsprechend. Weswegen alle Intelligenzen die Form des Menschen kennen, insofern sie durch Absicht im göttlichen Verstand geordnet ist; und in höchstem Maße kennen die bewegenden Intelligenzen jene [Form], weil sie ganz besonders Ursachen dieser und jeder allgemeinen Form sind, und sie kennen diese Vollkommenste, soweit dies möglich ist, als deren Regel und Vorbild. (6) Und wenn die vom Vorbild bestimmte und individualisierte menschliche Form nicht vollkommen ist, so ist dies nicht ein Fehler des genannten Vorbildes, sondern der Materie, die individualisiert. Weswegen, wenn ich sage: ­Jeder Intellekt beschaut sie von dort oben, ich nichts anderes sagen will, als daß sie so gemacht ist, wie jenes intentionale Vorbild, das vom Wesen des Menschen im göttlichen Geist existiert und durch diesen in allen anderen, am meisten im Geist jener Engel, die mit dem Himmel die Dinge hier unten bewerkstelligen. (7) Und um dies zu bekräftigen, füge ich [etwas] hinzu, wenn ich sage: Und jene Menschen, die sich hier verlieben. Hier ist zu wissen, daß jedes Ding in höchstem Maß seine Vervollkommnung wünscht und in dieser kommen alle seine Wünsche zur Ruhe und in Hinblick auf diese werden alle Dinge gewünscht. Und dies ist jener Wunsch, der jede Freude immer mangelhaft erscheinen läßt; denn in diesem Leben ist keine Freude derart groß, als daß unsere Seele den Durst stillen könnte und der besagte Wunsch nicht immer im Denken bleiben würde. (8) Und weil diese [Frau] wirklich jene Vollkommenheit ist, sage ich, daß dann, wenn diese Menschen, die hier unten größte Freude empfangen, am meisten Frieden haben, sie in ihren Gedanken bleibt, [und] ich sage, weil sie derart vollkommen ist, wie es das Wesen des Menschen überhaupt vermag. (9) Dann, wenn ich sage: Ihr Sein gefällt Jenem, der es gibt, so sehr, zeige ich, daß diese Frau nicht nur in bezug auf die menschliche Gattung am vollkommensten ist, sondern mehr als am vollkommensten, insofern sie von der göttlichen Güte mehr erhält, als dem Menschen



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zusteht. (10) Denn man darf vernünftigerweise glauben, daß, wie jeder Meister sein bestes Werk mehr liebt als die anderen, so auch Gott die beste menschliche Person mehr liebt als jede andere; aber weil seine Großzügigkeit sich nicht notwendigerweise auf eine Grenze hin verengt, nimmt seine Liebe keine Rücksicht auf den Anspruch dessen, der empfängt, sondern er überbietet diesen im Geschenk und in der Wohltat der Tugend und der Gnade. Weswegen ich hier sage, daß dieser Gott, der ihr das Sein gibt, aufgrund der Wohltätigkeit seiner Vollkommenheit von seiner Güte in sie eingießt über die Grenzen des Anspruchs unserer Natur hinaus. (11) Dann, wenn ich sage: Ihre reine Seele, beweise ich das, was gesagt worden ist, durch ein wahrnehmbares Zeugnis. Hier ist zu wissen, daß, wie der Philosoph im zweiten Buch von Über die Seele sagt, die Seele der Akt des Körpers ist: und wenn sie sein Akt ist, ist sie seine Ursache; und weil, wie es im angeführten Buch Über die Ursachen geschrieben ist, jede Ursache in ihre Wirkung Güte eingießt, die sie [ihrerseits] von ihrer Ursache empfängt, gießt sie in ihren Körper und gibt sie ihm von der Güte ihrer Ursache, die Gott ist. (12) Da wir sehen, daß sie von ihrem Körper her so wunderbar ist, daß sie jeden Betrachter danach verlangen macht, sie zu sehen, ist offenkundig, daß ihre Form, d. h. ihre Seele, die ihn als eigentliche Ursache leitet, auf wunderbare Weise die gnadenhafte Güte Gottes empfängt. (13) Aufgrund dieser Erscheinung, die über den Anspruch unserer Natur hinausgeht, (die in ihr am vollkommensten ist, wie oben gesagt wurde,) ist also bewiesen, daß diese Frau von Gott beschenkt ist und von ihm zu einem edlen Ding gemacht ist. Und dies ist die ganze buchstäbliche Aussage des ersten Teils des zweiten Hauptteils. •

vii. Nachdem diese Frau sowohl bezüglich der Seele als auch bezüglich des Körpers allgemein gelobt ist, gehe ich dazu über, sie besonders bezüglich der Seele zu loben; und zuerst lobe ich

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sie, insofern ihre Gutheit für sich genommen groß ist, danach lobe ich sie, insofern ihre Gutheit für andere groß ist und der Welt nützlich. Und ich beginne diesen zweiten Teil, wenn ich sage: Von ihr kann man sagen. (2) Ich sage also zuerst: In sie steigt die göttliche Kraft nieder. Wo zu wissen ist, daß die göttliche Güte in alle Dinge herabsteigt und daß diese andernfalls nicht sein könnten; aber diese Güte, die von einem allereinfachsten Prinzip herkommt, wird verschieden empfangen, gemäß dem Mehr und Weniger der empfangenden Dinge. Weswegen im Buch Über die Ursachen geschrieben ist: „Die erste Güte schickt ihre guten Wirkungen in einem Ausfließen über die Dinge.“ (3) Tatsächlich empfängt jedes Ding von jenem Ausfließen seinem Vermögen und seinem Sein gemäß; wovon die Sonne ein sinnliches Beispiel ist. Wir sehen, wie das Licht der einen Sonne, das von einer einzigen Quelle herrührt, von den Körpern verschieden empfangen wird; so wie Albertus in jenem Buch, das er über den Intellekt geschrieben hat, sagt, daß gewisse Körper „wegen der großen Ungetrübtheit des Lichtdurchlässigen, das ihnen beigemischt ist, sobald die Sonne sie sieht, derart leuchtend werden, daß sie, wegen der Vervielfachung des Lichtes in ihnen und in ihrer Erscheinung, den anderen von sich aus viel Glanz verleihen“, wie es beim Gold und gewissen Steinen der Fall ist. (4) „Gewisse [Körper] gibt es, die, weil sie gänzlich lichtdurchlässig sind, das Licht nicht nur empfangen, sondern dieses nicht behindern, und es im Gegenteil mit ihrer Farbe gefärbt den anderen Dingen weitergeben. Und gewisse [Körper] sind in der Reinheit des Lichtdurchlässigen so kräftig, daß sie derart strahlend werden, daß sie die Ausgeglichenheit des Auges besiegen und sich nicht ohne Anstrengung des Sehsinns sehen lassen“, wie es bei den Spiegeln der Fall ist. Gewisse andere sind so sehr ohne Lichtdurchlässigkeit, daß sie sozusagen wenig Licht empfangen, wie etwa die Erde. (5) So wird die Güte Gottes von den getrennten Substanzen, d. h. von den Engeln, die ohne Grobheit der Materie beinahe lichtdurchlässig sind,



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wegen der Reinheit ihrer Form, anders empfangen als von der menschlichen Seele, die, obwohl sie von einer Seite her von Materie frei ist, von einer anderen [Seite] her behindert ist, so wie von einem Menschen, der, vom Kopf abgesehen, ganz im Wasser ist, weder gesagt werden kann, daß er ganz im Wasser ist, noch daß er ganz außerhalb des Wassers ist; und anders von den Tieren, deren Seele ganz in der Materie enthalten, aber ein wenig veredelt ist; und anders von den Pflanzen und wiederum anders von den Mineralien; und anders von der Erde als von den anderen [Elementen], denn diese ist am stofflichsten und deshalb am entferntesten und am unverhältnismäßigsten in bezug auf die erste allereinfachste und edelste Kraft, die ausschließlich intellektuell ist, nämlich Gott. (6) Und obwohl hier allgemeine Stufen gesetzt worden sind, können auch einzelne Stufen gesetzt werden; d. h., daß von den menschlichen Seelen die eine anders als die andere empfängt. Denn in der intellektuellen Ordnung des Universums steigt man auf beinahe fließenden Stufen hinauf und hinunter, von der niedrigsten Form zur höchsten und von der höchsten zur niedrigsten, wie wir es in der wahrnehmbaren Ordnung sehen; und zwischen der Natur der Engel, die ein intellektuelles Ding ist, und der menschlichen Seele ist keine Stufe, sondern zwischen dem einen und dem anderen ist beinahe eine Fortsetzung wegen der Ordnung der Stufen und weiter ist zwischen der menschlichen Seele und der vollkommensten Seele der Tiere kein Mittelding; und wir sehen derart gemeine Menschen und solche von niedriger Verfassung, daß es beinahe scheint, daß sie nichts anderes als Vieh sind; und ebenso ist anzunehmen und beständig zu glauben, daß es solche gibt, die so edel sind und von so erhabener Verfassung, daß sie sozusagen nichts anderes als Engel sind. (7) Ansonsten würde sich die menschliche Gattung nicht in jedem ihrer Teile fortsetzen, was nicht sein kann. Und diese nennt Aristoteles im siebten Buch der Ethik göttliche: und von dieser Art, sage ich, ist diese Frau, so daß die göttliche

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Kraft auf dieselbe Weise, wie sie in die Engel hinabsteigt, in sie hinabsteigt. (8) Dann, wenn ich sage: Und die höf liche Frau, die dies nicht glaubt, beweise ich dies aufgrund der Erfahrung, die man mit ihr machen kann bei jenen Tätigkeiten, die der vernünftigen Seele eigen sind, wo das göttliche Licht unvermittelter strahlt; d. h. im Sprechen und in jenen Handlungen, die man Beherrschung und Haltung zu nennen pflegt. Weswegen zu wissen ist, daß unter den Lebewesen nur der Mensch spricht und Beherrschung hat und Handlungen, die vernünftig genannt werden, denn nur er hat in sich Vernunft. (9) Und wenn jemand widersprechen möchte und sagen würde, daß einige Vögel sprechen, so wie es bei gewissen der Fall scheint, in höchstem Maße bei der Elster und beim Papagei, und daß einige Tiere Handlungen begehen oder besser, Beherrschung [zeigen], so wie es beim Affen der Fall scheint und gewissen anderen, so antworte ich, daß es nicht wahr ist, daß sie sprechen und Beherrschung haben, denn sie haben keine Vernunft, aus der diese Dinge hervorgehen müssen; weder ist das Prinzip dieser Tätigkeiten in ihnen, noch wissen sie, was es ist, noch wollen sie dadurch etwas bezeichnen, sondern sie stellen nur das dar, was sie sehen und riechen, so wie das Bild der Körper sich in einem leuchtenden Körper darstellt, wie im Spiegel. (10) Deswegen, weil das körperliche Bild, das der Spiegel zeigt, nicht wahr ist, ist auch das Bild der Vernunft, d. h. die Handlungen und das Sprechen, das die tierische Seele darstellt oder besser, zeigt, nicht wahr. (11) Ich sage, „die höfliche Frau, die nicht glaubt, was ich sage, möge sich zu ihr gesellen und ihre Handlungen betrachten“ – ich sage nicht Mann, denn es ist angemessener, die Erfahrung bezüglich [einer Frau]  von Frauen zu nehmen als von einem Mann –; und ich nenne das, was diese von jener wahrnehmen wird, indem ich wiedergebe, was sie spricht und wie sie sich beherrscht. (12) Denn ihr Sprechen erzeugt aufgrund ihrer Erhabenheit und Süße im Verstand jener, die es hören, einen Ge-



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danken von Liebe, den ich himmlischen Geist nenne, denn dort oben ist das Prinzip und von dort oben kommt sein Gehalt, wie weiter vorn erzählt worden ist; von diesem Gedanken aus gelangt man zur festen Überzeugung, daß dies eine wunderbare Frau der Tugend ist. (13) Und ihre Handlungen lassen aufgrund ihrer Lieblichkeit und Angemessenheit die Liebe erwachen und verspüren, wo immer dank einer guten Natur ihr Vermögen gesät ist. Wie diese natürliche Saat geschieht, wird im folgenden Traktat gezeigt werden. (14) Dann, wenn ich sage: Von ihr kann man sagen, beabsichtige ich zu erzählen, wie die Güte und die Tugend ihrer Seele den anderen guttut und nützlich ist. Und zuerst inwiefern sie den anderen Frauen nützlich ist, indem ich sage: Höf lich ist bei einer Frau das, was bei ihr sich findet; wo ich den Frauen ein offensichtliches Beispiel gebe, das betrachtend sie sich höflich erscheinen lassen können, indem sie diesem folgen. (15) Zweitens erzähle ich, wie sie allen Menschen nützlich ist, indem ich sage, daß ihr Anblick unserem Glauben hilft, der mehr als jedes andere Ding dem ganzen menschlichen Geschlecht nützlich ist, insofern wir uns durch ihn vom ewigen Tod erretten und ewiges Leben erlangen. (16) Und unserem Glauben hilft sie; grundlegendstes Fundament unseres Glaubens sind die Wunder, die jener vollbracht hat, der gekreuzigt worden ist – jener, der unsere Vernunft geschaffen hat und wollte, daß sie geringer sei als seine Macht –, und die in der Folge in seinem Namen von seinen Heiligen vollbracht worden sind; und viele sind so hartnäckig, daß sie aufgrund eines gewissen Nebels diese Wunder bezweifeln und keine Wunder glauben können, ohne eine offensichtliche Erfahrung davon zu haben; und diese Frau ist ein offensichtlich wunderbares Ding, vom dem die Augen der Männer täglich Erfahrung haben können und das uns die anderen möglich erscheinen läßt: es ist also offenkundig, daß diese Frau mit ihrem wunderbaren Anblick unserem Glauben hilft. (17) Und deshalb sage ich schließlich, daß seit Ewigkeit, d. h. ewig, sie an-

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geordnet war im Verstand Gottes zum Zeugnis des Glaubens für jene, die in dieser Zeit leben. Und so endet der zweite Teil [des zweiten Hauptteils] gemäß der buchstäblichen Aussage. •

viii. Unter den Wirkungen der göttlichen Weisheit ist der Mensch die wunderbarste, wenn man bedenkt, wie die göttliche Kraft in einer Form drei Naturen verbunden hat und wie genau sein Körper abgestimmt sein muß, der durch beinahe alle seine Kräfte auf diese Form hingeordnet ist. (2) Wegen der großen Übereinstimmung, die zwischen den vielen Organen herrschen muß, damit sie einander richtig entsprechen, gibt es, trotz der großen Menge, nur wenige vollkommene Menschen. Und wenn dieses Geschöpf derart bewunderungswürdig ist, so ist nicht nur das Behandeln seiner Verfaßtheit in Worten zu fürchten, sondern auch im Denken, gemäß jenen Worten des Predigers: „Die Weisheit Gottes, die allem vorausgeht, wer sucht sie?“ und jene anderen, wo er sagt: „Nach etwas Höherem als Dir würde ich nicht verlangen und etwas Stärkeres als Dich würde ich nicht suchen; aber was Gott dir vorschreibt, daran denke und weiter sei bezüglich seiner Werke nicht neugierig“; d. h. beunruhigt. (3)  Ich also, der ich in diesem dritten Teilchen von gewissen Verfaßtheiten dieses Geschöpfes zu sprechen gedenke, insofern in ihrem Körper aufgrund der Gutheit wahrnehmbare Schönheit erscheint, beginne furchtsam und unsicher in der Absicht, wenn nicht vollständig, so doch einige Dinge dieses großen Knopfes zu entwirren. (4) Ich sage also, daß, nachdem die Aussage jenes Teilchens, in dem diese Frau von der Seite der Seele her gelobt wurde, offenkundig ist, fortzufahren und zu sehen ist, wie ich, wenn ich sage, Dinge erscheinen in ihrem Anblick, sie von der Seite des Körpers her lobe. (5) Und ich sage, daß in ihrem Anblick Dinge erscheinen, die von den Freuden des Paradieses zeugen. Und unter all diesen ist das edelste und das, was der Anfang und das Ende all der an-



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dern ist, zufrieden zu sein und dies ist selig zu sein; und diese Freude ist wahrhaftig, wenn auch auf eine andere Art, im Anblick dieser Frau. Denn diese betrachtend werden die Menschen glücklich, derart süß nährt ihre Schönheit die Augen der Betrachter; aber auf eine andere Art, denn das Glück des Paradieses ist immerwährend, was keinem anderen zukommen kann. (6)  Und weil jemand gefragt haben könnte, wo diese bewunderungswürdige Freude in ihr erscheint, unterscheide ich an ihrer Person zwei Teile, in denen menschliche Freude und Mißfallen deutlicher erscheinen. Hier ist zu wissen, daß die Seele in jedem Teil ihrer Aufgabe nachkommen kann, aber daß sie stärker beabsichtigt einen bestimmten zu schmücken und hier vorsichtiger zu Werke geht. (7) Deswegen sehen wir, daß im Gesicht des Menschen, wo sie ihrer Aufgabe mehr nachkommt als in jedem anderen äußeren Teil, sie derart vorsichtig zu Werke geht, daß, um sich hier derart zu verfeinern, wie sie es in ihrer Materie vermag, kein Antlitz einem anderen gleich ist; denn die letzte Potenz der Materie, die in allen sozusagen ungleich ist, wird hier zum Akt. (8) Aber die Seele wirkt im Gesicht hauptsächlich an zwei Stellen – weswegen an diesen zwei Stellen sozusagen alle drei Naturen der Seele zu ihrem Recht kommen –, nämlich in den Augen und im Mund; jene schmückt sie am meisten und hier geht ihre ganze Absicht dahin, schön zu machen, wenn sie kann. Und an diesen zwei Stellen, sage ich, erscheint dieses Gefallen, wenn ich sage: in den Augen und in ihrem süßen Lächeln. (9) Diese zwei Stellen kann man aufgrund einer schönen Übereinstimmung die Balkone der Frau, die im Gebäude des Körpers wohnt, nämlich die Seele, nennen; denn hier, wenn auch beinahe verschleiert, zeigt sie sich oft. Sie zeigt sich in den Augen so offen, daß, wer sie genau betrachtet, ihre gegenwärtige Leidenschaft erkennen kann. (10) Weswegen, da sechs Leidenschaften der menschlichen Seele eigen sind, die der Philosoph in seiner Rhetorik erwähnt, d. h. Anmut, Eifer, Barmherzigkeit, Eifersucht, Liebe und Scham, die Seele von

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keiner dieser ergriffen sein kann, ohne daß am Fenster der Augen die Ähnlichkeit erscheint, wenn sie sich nicht aufgrund großer Tugend innen einschließt. Weswegen einige sich auch schon die Augen ausgerissen haben, damit die innere Scham nicht außen erscheine; so wie es der Dichter Statius vom thebanischen Ödipus berichtet, wenn er sagt: „mit ewiger Nacht löste er seine verfluchte Scham.“ (11)  Sie zeigt sich im Mund beinahe wie Farbe hinter Glas. Und was ist Lachen, wenn nicht ein Auf blitzen der Freude der Seele, also ein Licht, das außen erscheint, wie es innen ist? Deshalb ziemt es sich für den Menschen, um seine Seele in mäßiger Freundlichkeit zu zeigen, mäßig zu lachen, mit ehrlichem Ernst und mit wenig Bewegung seines Gesichts; so daß eine Frau, die sich in besagter Weise zeigt, maßhaltend erscheint und nicht zügellos. (12) Deswegen ermahnt das Buch Über die vier Kardinaltugenden: „Dein Lachen sei frei von Gelächter“, d. h. frei von Hühnergegacker. Ach, bewundernswertes Lächeln meiner Frau, vom dem ich spreche und das ich immer nur mit den Augen wahrgenommen habe. (13) Und ich sage, daß Amor diese Dinge hierher wie zu ihrem Ort gebracht hat; hier kann man die Liebe zweifach auffassen. Erstens als die diesen Stellen eigene Liebe der Seele; zweitens als die allgemeine Liebe, die die Dinge dazu veranlagt, zu lieben und geliebt zu werden, die die Seele dazu hinordnet, diese Teile auszuschmücken. (14) Dann, wenn ich sage: Sie übertreffen unseren Intellekt, entschuldige ich mich dafür, daß angesichts so großer Erhabenheit der Schönheit es wenig scheint, was ich, bei ihr verweilend, behandle; und ich sage, daß ich aus zwei Gründen wenig davon sage. Der eine ist, daß diese Dinge, die in ihrem Anblick erscheinen, unseren menschlichen Intellekt übertreffen: und ich sage, wie dieses Übertreffen vor sich geht, das gleich der Sonne das schwache Sehen, nicht aber das gesunde und starke übertrifft; der andere ist, daß man nicht starr auf dieses Gesicht schauen kann, denn hier berauscht sich



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die Seele derart, daß sie unmittelbar nach dem Schauen in all ihren Handlungen in die Irre geht. (15)  Wenn ich dann sage: Ihre Schönheit läßt Flämmchen von Feuer regnen, kehre ich zur Behandlung ihrer Werke zurück, denn vollständig kann man nicht von ihr handeln. Hier ist zu wissen, daß bezüglich all der Dinge, die unsern Intellekt derart übertreffen, daß man nicht sehen kann, was sie sind, es überaus passend ist, sie anhand ihrer Wirkungen zu behandeln: weswegen wir von Gott, von den getrennten Substanzen und von der ersten Materie eine gewisse Kenntnis haben können, wenn wir sie auf diese Art behandeln. (16)  Aber ich sage, ihre Schönheit läßt Flämmchen von Feuer regnen, d. h. Hitze der Liebe und der Barmherzigkeit; beseelt von einem höf lichen Geist, d. h. eingeformte Hitze eines höflichen Geistes, also ein gerichtetes Verlangen, durch das und aus dem der Ursprung des guten Gedanken entsteht. Und es bewirkt nicht nur dies, sondern es zerstört sein Gegenteil – das Gegenteil der guten Gedanken – und löst es auf, d. h. die angeborenen Laster, die in höchstem Maße Feinde der guten Gedanken sind. (17) Und hier ist zu wissen, daß gewisse Laster im Menschen sind, zu denen er von Natur aus veranlagt ist – so wie einige aufgrund einer cholerischen Zusammensetzung zur Wut veranlagt sind – und diese derartigen Laster sind angeboren, d. h. sie entsprechen der Natur. Andere sind gewohnheitsmäßige Laster, an denen nicht die Zusammensetzung schuld ist, sondern die Gewohnheit, wie etwa die Unmäßigkeit, und am meisten [die Gewohnheit] des Weines: und diese Laster überwindet und besiegt man durch gute Gewohnheit und der Mensch macht sich durch sie tugendhaft, ohne in seiner Mäßigung Mühe zu haben, wie der Philosoph im zweiten Buch der Ethik sagt. (18) Tatsächlich besteht folgender Unterschied zwischen den Leidenschaften, die der Natur entsprechen, und den gewohnheitsmäßigen, nämlich daß die gewohnheitsmäßigen durch die gute Gewohnheit gänzlich verschwinden: denn ihr Ursprung, d. h. die schlechte

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Gewohnheit, wird durch ihr Gegenteil vernichtet; aber jene, welche der Natur entsprechen, deren Ursprung die Natur des Erleidenden ist, verschwinden, obwohl sie durch die gute Gewohnheit abgeschwächt werden, nicht gänzlich was die erste Bewegung betrifft. Aber sie verschwinden gänzlich bezüglich der Dauer, denn die Gewohnheit ist in uns der Natur angleichbar, in der ihr Ursprung ist. (19) Und deshalb ist jener Mensch lobenswerter, der sich selbst gerade ausrichtet und sich selbst, als von Natur aus schlechter, gegen die Gewalt der Natur beherrscht, als jener, der, von Natur aus gut, sich selbst durch gute Beherrschung erhält oder wenn er sich verirrt, zurückfindet; so wie es besser ist ein schlechtes Pferd zu beherrschen als eines, das sich nichts zu Schulden kommen läßt. (20) Ich sage also, daß diese Flämmchen, die von ihrer Schönheit regnen, wie gesagt worden ist, die angeborenen Laster zerstören, d. h. die der Natur entsprechen, um zu erklären, daß ihre Schönheit die Macht hat, die Natur in jenen zu erneuern, die sie betrachten; was eine wunderbare Sache ist. Und dies bestätigt, was oben im anderen Kapitel gesagt worden ist, wo ich sage, daß sie Helferin unseres Glaubens ist. (21) Zum Schluß, wenn ich sage: Doch welche Frau auch immer ihre Schönheit sieht, erschließe ich, vorgebend jemand anderen ermahnen zu wollen, das Ziel, auf das hin soviel Schönheit geschaffen worden ist; und ich sage, daß welche Frau auch immer ihre Schönheit durch einen Mangel getadelt sieht, dieses vollkommenste Beispiel anschaue. Hier begreift man, daß sie nicht nur dazu geschaffen ist, um das Gute zu verbessern, sondern auch um aus etwas Schlechtem etwas Gutes zu machen. (22) Und er fügt zum Schluß an: Diese erdachte Jener, der das Universum bewegte, um zu verstehen zu geben, daß die Natur aufgrund eines göttlichen Vorsatzes diese Wirkung geschaffen hat. Und so endet der ganze zweite Hauptteil dieser Kanzone. •



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ix. Die Ordnung des vorliegenden Traktats verlangt – nachdem die zwei Teile dieser Kanzone meiner Absicht gemäß behandelt sind –, daß zum dritten übergegangen werde, wo ich die Absicht hege, die Kanzone von einem Tadel zu reinigen, der ihr entgegengehalten worden sein könnte, und in dieser Absicht spreche ich. Denn ich verfaßte, ehe ich zur Abfassung dieser [Kanzone] gelangte, als mir diese Frau gegen mich eingenommen und ein wenig überheblich erschien, ein Tanzlied, worin ich diese Frau hochmütig und unfromm nannte: dieses [Tanzlied] scheint dem zu widersprechen, was hier vorangehend dargelegt worden ist. (2) Und deshalb wende ich mich der Kanzone zu und indem ich vorgebe ihr beizubringen, wie sie sich zu entschuldigen hat, entschuldige ich jene: und dieses Sprechen zu einem unbeseelten Ding ist eine Figur, die die Rhetoren Prosopopie nennen: und die Dichter benützen sie sehr oft. Und dieser dritte Teil beginnt mit: Kanzone, es scheint Du widersprichst. (3) Um dessen Sinn eingängiger zu verstehen zu geben, wird er in drei Teilchen gegliedert: denn zuerst wird vorgelegt, worauf die Entschuldigung sich bezieht; dann wird mit der Entschuldigung fortgefahren, wenn ich sage: Du weißt, daß der Himmel; zum Schluß wende ich mich an die Kanzone, als an eine Person, die bezüglich dessen, was sie zu tun hat, belehrt ist: So entschuldige Dich, wenn es denn nötig ist. (4)  Ich sage also zuerst: „Ach Kanzone, die Du von dieser Frau mit so viel Lob sprichst, Du scheinst Deiner Schwester zu widersprechen“; aufgrund von Ähnlichkeit sage ich „Schwester“; denn so wie Schwester jene Frau genannt wird, die vom gleichen Erzeuger erzeugt ist, so können die Menschen bezüglich eines Werkes, das vom gleichen Schöpfer geschaffen ist, von Schwester sprechen; denn unser Handeln ist in einem gewissen Sinne Erzeugung. Und ich sage, daß sie jener zu widersprechen scheint, indem ich sage: „Du machst diese [Frau] bescheiden und jene macht sie überheblich“, d. h. grausam und unwillig, was gleichviel bedeutet. (5)  Nachdem diese Anklage

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vorgebracht ist, fahre ich mit der Entschuldigung anhand eines Beispiels fort, in dem manchmal die Wahrheit nicht mit der Erscheinung übereinstimmt und man sie unter verschiedenen Gesichtspunkten behandeln kann. Ich sage: Du weißt, daß der Himmel stets leuchtet und hell ist, d. h. stets mit Helligkeit ist; aber wegen bestimmter Gründe ist es manchmal erlaubt zu sagen, daß er dunkel ist. (6) Hier ist zu wissen, daß eigentlich die Farbe und das Licht sichtbar sind, wie es Aristoteles im zweiten Buch von Über die Seele und im Buch Über die Wahrnehmung und das Wahrgenommene will. Selbstverständlich ist auch anderes sichtbar, aber nicht eigentlich, denn eine andere Wahrnehmung nimmt dieses wahr, so daß man nicht sagen kann, daß es eigentlich sichtbar ist, noch eigentlich berührbar; wie die Figur, die Größe, die Zahl, die Bewegung und das Stillstehen, die [allgemeine] Wahrnehmbare heißen: diese Dinge erfassen wir mittels mehrerer Sinne. Aber die Farbe und das Licht sind eigentliche [ Wahrnehmbare]; denn nur mit dem Gesichtssinn nehmen wir diese wahr und nicht mit einem weiteren Sinn. (7) Diese sichtbaren Dinge, sowohl die eigentlichen wie die allgemeinen insofern sie wahrnehmbar sind, gelangen ins Auge – ich meine nicht die Dinge, sondern ihre Formen – durch das dazwischen liegende Durchsichtige, nicht wirklich, sondern intentional, beinahe so wie bei durchsichtigem Glas. (8)  Und im Wasser, das in der Pupille des Auges ist, kommt dieser Weg, den die sichtbare Form durch das Dazwischen zurücklegt, an sein Ende, denn dieses Wasser ist begrenzt – beinahe wie ein Spiegel, der mit Blei begrenztes Glas ist –, so daß sie nicht weiter gehen kann, sondern hier wie ein geschlagener Ball zum Stillstand kommt; so daß die Form, die im durchsichtigen Dazwischen nicht erscheint, an dieser Stelle leuchtend erscheint und endet. Und dies ist es, weswegen im bebleiten Glas das Bild erscheint und anderswo nicht. (9) Von dieser Pupille gibt uns der sehende Geist, der sich von ihr bis zum vorderen Teil des Hirns fortsetzt – wo sich die wahrnehmende Kraft wie in der



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ursprünglichen Quelle befindet –, sie unmittelbar weiter und so sehen wir. Damit das Sehen wahrhaftig sei, d. h. derart wie das sichtbare Ding in sich, ist es also notwendig, daß das Dazwischen, durch das hindurch die Form zum Auge gelangt, frei von jeder Farbe ist und ebenso das Wasser der Pupille: andernfalls würde sich die sichtbare Form mit der Farbe des Dazwischen beflecken und auch mit jener der Pupille. (10) Deswegen bringen jene, die die Dinge im Spiegel in einer bestimmten Farbe erscheinen lassen wollen, zwischen dem Glas und dem Blei von dieser Farbe an, derart, daß das Glas von jener [Farbe] berührt bleibt. Tatsächlich sagten Platon und andere Philosophen, daß unser Sehen nicht dadurch zustande kommt, daß das Sichtbare zum Auge gelangt, sondern weil die sehende Kraft zum Sichtbaren hinausgeht: und diese Meinung ist vom Philosophen in jenem Buch Über die Wahrnehmung und das Wahrgenommene als falsch widerlegt. (11) Nachdem dies vom Sehen aufgezeigt worden ist, ist es einfach zu sehen, daß, obwohl der Stern immer auf dieselbe Art hell und leuchtend ist und keine Veränderung erfährt außer durch die Ortsbewegung, wie es in jenem Buch Über den Himmel und die Erde bewiesen ist, er aufgrund verschiedener Ursachen nicht hell und nicht leuchtend erscheinen kann. (12) So kann er aufgrund des Dazwischen, das sich ständig verändert, derart erscheinen. Dieses Dazwischen verändert sich von viel Licht zu wenig Licht, z. B. bei der Anwesenheit der Sonne und ihrer Abwesenheit; und während der Anwesenheit ist das Dazwischen, das durchsichtig ist, derart voll von Licht, daß es den Stern übertrifft, und deswegen erscheint dieser nicht mehr leuchtend. Weiter verändert sich dieses Dazwischen auch von fein zu grob, von trocken zu feucht, aufgrund der Dämpfe der Erde, die ständig hinaufsteigen: dieses derart veränderte Dazwischen verändert das Bild des Sterns, das durch es hindurchkommt, aufgrund der Grobheit in Dunkelheit und aufgrund der Feuchtigkeit und Trockenheit in Farbe. (13) Ebenso kann [der

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Stern] auch aufgrund des sehenden Organs derart erscheinen, d. h. das Auge verändert sich aufgrund eines Gebrechens oder aufgrund der Anstrengung zu einer gewissen Färbung und zu einer gewissen Schwäche; so wie es oft vorkommt, daß, weil die Hülle der Pupille aufgrund einer gebrechensbedingten Zersetzung sehr blutig ist, sozusagen alle Dinge rötlich erscheinen und deshalb erscheint der Stern gefärbt. (14) Und weil der Gesichtssinn geschwächt ist, kommt es in ihm zu einer gewissen Auflösung des Geistes, so daß die Dinge nicht geeint erscheinen, sondern aufgelöst, beinahe so wie sich unsere Schrift auf feuchtem Papier verhält: und dies ist der [Grund], weshalb viele, wenn sie lesen wollen, die Schrift von ihren Augen entfernen, damit ihr Bild leichter und feiner hineingelangt; und so bleibt der [einzelne] Buchstabe in der Wahrnehmung deutlicher unterschieden. (15) Und dadurch kann auch der Stern getrübt erscheinen: und ich habe dies in ebendiesem Jahr, in dem diese Kanzone entstanden ist, erfahren, denn im Eifer des Lesens wurde der Gesichtssinn derart beansprucht, daß die sehenden Geister sich so weit schwächten, daß mir alle Sterne von einer gewissen Dämmerung beschattet erschienen. (16)  Und durch langes Ruhen in dunklen und kalten Orten und durch Kühlung des Augenkörpers mittels klarem Wasser vereinigte ich die zersetzte Kraft, so daß ich wieder zum ursprünglich guten Zustand des Sehens gelangte: Und so ergeben sich, aufgrund der dargelegten Gründe, viele Ursachen, weswegen der Stern so erscheinen konnte, wie er nicht ist. •

x. Mich von diesem Exkurs, der notwendig war, um die Wahrheit zu sehen, verabschiedend, kehre ich zum Gegenstand zurück und sage, daß, wie unsere Augen den Stern zeitweise anders „nennen“, d. h. beurteilen, als sich seine wahre Zusammensetzung verhält, jenes Tanzlied diese Frau ihrer Erscheinung gemäß bewertete, wobei es aufgrund eines Gebrechens



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der Seele von der Wahrheit abgewichen ist, denn die Seele war von zuviel Verlangen ergriffen. (2) Und dies zeige ich, wenn ich sage: Denn die Seele fürchtete sich, da mir stolz erschien, was ich in ihrer Gegenwart sah. Hier ist zu wissen, daß je mehr sich das Handelnde dem Erleidenden vereinigt, desto größer und stärker ist das Erleiden, was man dank der Aussage des Philosophen im Buch Über das Werden und das Vergehen begreifen kann; je näher das verlangte Ding dem Verlangenden ist, desto größer ist das Verlangen, und je stärker die Seele leidet, desto mehr vereinigt sie sich mit dem begehrenden Teil und desto mehr verläßt sie die Vernunft. So daß sie dann nicht mehr als Mensch die Person beurteilt, sondern beinahe wie ein beliebiges Tier nur gemäß der Erscheinung, ohne die Wahrheit zu unterscheiden. (3) Und deswegen erscheint, was in Wahrheit aufrichtig ist, zornig und stolz; und diesem sinnlichen Urteil entsprechend sprach jenes Tanzlied. Und dadurch versteht man genügend gut, daß die vorliegende Kanzone trotz der mangelnden Übereinstimmung mit jenem [Tanzlied] diese Frau der Wahrheit entsprechend behandelt. (4)  Und nicht ohne Grund sage ich: wo sie mich wahrnimmt, und nicht wo ich sie wahrnehme; denn darin will ich zu verstehen geben, welch große Macht ihre Augen über mich hatten: denn als ob ich Glas gewesen wäre, so durchdrang mich ihr Strahl von allen Seiten. Und hier könnte man natürliche Gründe und übernatürliche angeben; aber das Gesagte möge genügen: an anderer Stelle werde ich passender argumentieren. (5)  Dann, wenn ich sage: So entschuldige dich, wenn es denn nötig ist, belehre ich die Kanzone, den dargelegten Gründen entsprechend, wie „sie sich zu entschuldigen hat, wo es nötig ist“, d. h. dort, wo jemand an diesem Gegensatz zweifeln sollte; was nichts anderes besagt als daß, wer auch immer wegen des Umstands, daß diese Kanzone mit jenem Tanzlied nicht übereinstimmt, zweifelt, das erwähnte Argument beachte. (6) Und diese Figur ist in der Rhetorik überaus lobenswert und auch

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notwendig, nämlich dann, wenn sich die Worte an eine Person richten und die Absicht an eine andere; denn die Mahnung ist immer lobenswert und notwendig, aber nicht immer kommt sie passend aus dem Mund eines jeden. (7) Wenn der Sohn das Laster des Vaters kennt, und wenn der Untergebene um das Laster des Herrn weiß, und wenn der Freund weiß, welche Scham für den Freund erwachsen würde, wenn er jenen ermahnen oder er seine Ehre herabsetzen würde, oder wenn er seinen Freund der Mahnung gegenüber als nicht geduldig, sondern auf brausend kennt, dann ist diese Figur überaus schön und nützlich, und man kann sie „Verstellung“ nennen. (8) Und sie ist der Vorgehensweise jenes weisen Kriegers ähnlich, der die Burg von einer Seite her angreift, um die Verteidigung von der anderen Seite abzuziehen, so daß die Absicht der belagerten Truppe und der Schlacht sich nicht auf dieselbe Stelle richten. (9) Und ich belehre diese auch, daß sie das Wort verlange, um zu dieser Frau von ihr zu sprechen. Hier kann man verstehen, daß ein Mensch nicht derart anmaßend sein darf, jemand anderen zu loben, ohne zuerst gut zu überlegen, ob dies zum Gefallen der gelobten Person ist; denn häufig geschieht es, daß man jemanden zu loben glaubt, ihn dabei aber tadelt, sei es aufgrund eines Mangels des Sprechenden, sei es aufgrund eines Mangels des Hörenden. (10) Deswegen ist es angemessen, in diesem Fall viel Unterscheidungsvermögen zu haben; dieses Unterscheidungsvermögen ist gleichsam eine Bitte um Erlaubnis, für die Art, von der ich sage, daß diese Kanzone sie verlangt. Und so endet die ganze buchstäbliche Aussage dieses Traktats; weswegen die Ordnung des Werkes jetzt danach verlangt, der Wahrheit folgend, zur allegorischen Auslegung fortzuschreiten. •

xi. Da die Ordnung verlangt, daß nochmals von vorn begonnen wird, sage ich, daß diese Frau jene Frau des Intellekts ist, die Philosophie genannt wird. Aber das Lob erweckt natürlicher-



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weise den Wunsch, die gelobte Person kennenzulernen; und ein Ding zu kennen, bedeutet zu wissen, was es ist, für sich genommen und in Bezug auf seine Dinge, wie es der Philosoph zu Beginn der Physik sagt; und dies zeigt der Name nicht, obwohl er dies bezeichnet, wie er im vierten Buch der Metaphysik sagt, wo gesagt wird, daß die Definition jene Bedeutung ist, die der Name bezeichnet, deshalb ist hier, ehe mit der Darstellung ihres Lobes fortgefahren wird, zu erklären, was dies ist, das Philosophie genannt wird, d. h. das, was dieser Name bezeichnet. (2) Nachdem dies gezeigt worden ist, wird die vorliegende Allegorie wirkungsvoller behandelt werden. Und zuerst werde ich sagen, wer diesen Namen zuerst gab; danach werde ich zu seiner Bedeutung weiterschreiten. (3) Ich sage also, daß im Altertum in Italien, sozusagen vom Beginn der Gründung Roms an – was Paulus Orosius gemäß 750 Jahre oder mindestens wenig früher vor der Ankunft des Erlösers war – ungefähr zur Zeit von Numa Pompilius, dem zweiten König der Römer, ein überaus edler Philosoph lebte, der Pythagoras geheißen hat. Und daß er in jener Zeit lebte, davon scheint Titus Livius im ersten Teil seines Werkes einiges beiläufig zu streifen. (4)  Und vor ihm wurden die Anhänger der Wissenschaft nicht Philosophen genannt, sondern Weise, wie es jene allerältesten sieben Weisen waren, die die Leute aufgrund ihres Ruhms noch immer aufzählen: der erste dieser sieben hatte den Namen Solon, der zweite Chilon, der dritte Periander, der vierte Cleobulos, der fünfte Lindius, der sechste Bias und der siebte Prienaeus. (5) Gefragt ob er sich für einen Weisen halte, verneinte Pythagoras diesen Ausdruck für seine Person und sagte, daß er nicht ein Weiser, sondern ein Liebhaber der Weisheit sei. Und hieraus entstand dann, daß jeder Studierende der Weisheit „Liebhaber der Weisheit“ genannt wurde, d. h. „Philosoph“; denn auf griechisch bedeutet „philos“ soviel wie „amor“ [Liebe] auf lateinisch, und deshalb sagen wir: „philos“ im Sinne von Liebe und „sophos“ im Sinne von

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Weiser. Woraus man sehen kann, daß diese zwei Begriffe den Namen Philosoph ausmachen, der soviel bedeutet wie „Liebhaber der Weisheit“: woraus man entnehmen kann, daß dies nicht ein Ausdruck der Überheblichkeit, sondern der Demut ist. (6) Aus diesem entstand der Ausdruck seines ihm eigenen Aktes – Philosophie –, so wie aus dem Freund der Ausdruck seines ihm eigenen Aktes entsteht, nämlich Freundschaft. Woraus man ersehen kann, wenn wir die Bedeutung des ersten und des zweiten Ausdrucks bedenken, daß Philosophie nichts anderes ist als Freundschaft zur Weisheit oder auch zum Wissen; weswegen man auf eine gewisse Art jeden Philosoph nennen kann der natürlichen Liebe wegen, die in jedem den Wunsch zu wissen erzeugt. (7) Aber weil die wesenhaften Leidenschaften allen gemeinsam sind, argumentiert man über diese nicht mittels eines Begriffs, der den einzelnen, der an diesem Wesen teilhat, unterscheidet: weswegen wir Johannes nicht den Freund Martins nennen, in der Absicht nur die natürliche Freundschaft anzuzeigen, aufgrund derer wir alle allen Freund sind, sondern die über die natürliche Freundschaft hinaus erzeugte [Freundschaft], die in der einzelnen Person je eigen und unterschieden ist. Ebenso nennt man jemanden nicht aufgrund der allgemeinen Liebe zum Wissen Philosoph. (8) Gemäß der Meinung des Aristoteles im achten Buch der Ethik nennt man jenen Freund, dessen Freundschaft der geliebten Person nicht verborgen ist und dem die geliebte Person auch Freund ist, so daß das Wohlwollen von beiden Seiten besteht: und dies hat sowohl bezüglich der Nützlichkeit, wie auch bezüglich des Gefallens und der Ehre so zu sein. Und so muß, damit einer Philosoph sei, die Liebe zur Weisheit sein, die den einen Teil wohlwollend macht; es muß der Eifer und die Sorge vorhanden sein, die auch den anderen Teil wohlwollend machen: so daß Vertrautheit und offensichtliches Wohlwollen zwischen ihnen entsteht. Denn ohne Liebe und ohne Eifer kann man niemanden Philosoph nennen, sondern



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das eine und das andere muß vorhanden sein. (9) Und ebenso wie die auf Nützlichkeit oder Gefallen beruhende Freundschaft nicht wahre Freundschaft ist, sondern nur per Akzidens, wie es die Ethik beweist, so ist die Philosophie, die auf Gefallen oder Nützlichkeit beruht, nicht wahre Philosophie, sondern nur per Akzidens. Weswegen man niemanden Philosoph nennen darf, der aufgrund irgendeines Gefallens der Weisheit in irgend­einem Teil Freund ist; so wie es viele sind, die sich darin gefallen, Kanzonen zu ersinnen und sich in jenen zu ereifern, und die sich darin gefallen, Rhetorik zu studieren, und Musik und die anderen Wissenschaften fliehen und verlassen, die alle Glieder der Weisheit sind. (10) Auch darf man jenen nicht wahren Philosoph nennen, der aufgrund der Nützlichkeit Freund der Weisheit ist, so wie es die Juristen sind, die Ärzte und beinahe alle Ordensleute, die nicht studieren, um zu wissen, sondern um Geld oder Ansehen zu erwerben; und würde ihnen jemand das, was sie zu erlangen beabsichtigen, geben, würden sie nicht weiter beim Studium verweilen. (11) Und wie man unter den Gattungen der Freundschaft jene, die aus Nützlichkeit besteht, am wenigsten Freundschaft nennen kann, so haben auch diese weniger am Namen des Philosophen teil als manche andere Leute; denn, so wie die auf Ehrenhaftigkeit beruhende Freundschaft wahrhaftig ist und vollkommen und immerwährend, so ist jene Philosophie wahrhaftig und vollkommen, die allein aus der Ehrenhaftigkeit entsteht, ohne andere Rücksicht, und aus der Güte der befreundeten Seele, und die sich aus der Geordnetheit des Verlangens und der Vernunft ergibt. (12) So daß man jetzt sagen kann, daß, wie die wahre Freundschaft der Menschen untereinander darin besteht, daß jeder den anderen ganz liebt, der wahre Philosoph jeden Teil der Weisheit liebt und die Weisheit jeden Teil des Philosophen, insofern sie ihn ganz an sich bindet, und keinen seiner Gedanken zu einer anderen Sache abschweifen läßt. Deswegen sagt die Weisheit selbst in den Sprüchen Salomons: „Ich liebe jene, die mich lie-

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ben.“ (13) Und so wie die wahre Freundschaft, unabhängig von der Seele und nur für sich genommen, als Zugrundeliegendes die Kenntnis der guten Handlung hat und als Form das Verlangen nach dieser; so hat die Philosophie, außerhalb der Seele und für sich genommen, als Zugrundeliegendes das Verstehen und als Form eine beinahe göttliche Liebe zum Intellekt. Und wie die Wirkursache der wahren Freundschaft die Tugend ist, so ist die Wirkursache der Philosophie die Wahrheit. (14) Und so wie das Ziel der wahren Freundschaft die rechte Freude ist, die sich aus dem der wirklichen Menschlichkeit entsprechenden, d. h. dem vernunftgemäßen Zusammenleben entwickelt, wie es Aristoteles im neunten Buch der Ethik auszudrücken scheint; so ist das Ziel der Philosophie jene erhabenste Freude, die an keiner Unterbrechung oder besser an keinem Mangel leidet, d. h. das wahre Glück, das man durch die Schau der Wahrheit erlangt. (15) Und so kann man jetzt sehen, wer diese meine Frau ist, aufgrund all ihrer Ursachen und aufgrund ihrer Definition, und weswegen sie Philosophie genannt wird, und wer ein wahrer Philosoph ist und wer per Akzidens. (16)  Aber weil aufgrund einer gewissen Hitze der Seele manchmal das eine und das andere Ende der Akte und des Erleidens mit dem Begriff des Aktes selbst und des Erleidens bezeichnet werden – so wie es Vergil im zweiten Buch der Aeneis macht, wo Aeneas [den Hektor] „Ach Licht“, was ein Akt ist, „und Hoffnung der Troianer“, was ein Erleiden ist, nennt, wobei er selbst weder Licht noch Hoffnung war, sondern er war das Ende, von wo her das Licht des Rates kam, und er war das Ende, auf dem die ganze Hoffnung ihres Heils ruhte; und so wie Statius im fünften Buch der Thebais sagt, wenn Isipile zu Archemorus sagt: „Ach Trost der verlorenen Dinge und des verlorenen Vaterlandes, ach Ehre meines Dienstes“; so wie wir täglich, indem wir den Freund zeigen, sagen: „siehst du meine Freundschaft“ und der Vater zum Sohn „mein Herz“ sagt –, werden die Wissenschaften, in denen die Philosophie ihr Sehen



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am leidenschaftlichsten vollendet, aufgrund langer Gewohnheit mit ihrem Namen benannt. (17) So wie die Naturwissenschaft, die Moral und die Metaphysik, die, weil sich in dieser ihr Sehen mit mehr Notwendigkeit vollendet und mit mehr Leidenschaft vollendet, [erste] Philosophie genannt wird. Woraus man [ersehen] kann, wie die Wissenschaften in einem zweiten Sinn Philosophie genannt werden. (18) Nachdem gesehen worden ist, was die erste und wahre Philosophie – die diese Frau ist, von der ich spreche – in ihrem Sein ist und wie ihr edler Name aufgrund der Gewohnheit den Wissenschaften mitgeteilt ist, werde ich mit ihrem Lob weiterfahren. •

xii. Im ersten Kapitel dieses Traktats wurde die Ursache, die mich zu dieser Kanzone bewegt hat, derart umfassend dargelegt, daß kein zusätzlicher Anlaß besteht, darüber weiter zu verhandeln; denn man kann sie genügend leicht auf die vorgetragene Auslegung zurückführen. Aber ich werde, der vorgenommenen Einteilung entsprechend, die buchstäbliche Aussage durchgehen und hierbei den Sinn des Buchstabens richtigstellen, wo dies nötig ist. (2) Ich sage: Amor, der im Geist mir handelt. Unter Amor verstehe ich den Eifer, den ich auf brachte, um die Liebe dieser Frau zu erwerben: wo zu wissen ist, daß man Eifer hier zweifach verstehen kann. Es gibt einen Eifer, der den Menschen zum Habitus der Kunst und der Wissenschaft führt; und einen anderen Eifer, der im erworbenen Habitus, diesen benützend, handelt. (3) Und dieser erste ist es, den ich hier Amor nenne, der meinem Geist beständig neue und erhabenste Überlegungen bezüglich dieser Frau eingab, was oben gezeigt worden ist: so wie es der Eifer, den man einsetzt, um eine Freundschaft zu erwerben, zu machen pflegt, der von dieser Freundschaft zuerst große Dinge denkt, während er diese begehrt. (4) Dies ist jener Eifer und jene Zuneigung, die in den Menschen das Werden

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der Freundschaft hervorzubringen pflegt, wenn von der einen Seite her bereits Liebe entstanden ist und man danach verlangt und darum besorgt ist, daß sie auch auf der anderen Seite sei; denn, wie oben gesagt worden ist, Philosophie ist dann, wenn die Seele und die Wissenschaft zu Freundinnen geworden sind, derart daß die eine ganz von der anderen geliebt wird, auf die Art, wie oben gesagt worden ist. (5) Es besteht keine weitere Notwendigkeit durch die vorliegende Auslegung, diese erste Strophe darzulegen, die in der buchstäblichen Auslegung als Proömium dargestellt worden ist, denn aufgrund ihrer ersten Erklärung kann man ziemlich einfach zum Verständnis dieser zweiten gelangen. (6) Weswegen zur zweiten Strophe, die den Traktat eröffnet, überzugehen ist, dort wo ich sage: Nicht sieht die Sonne, die die ganze Welt umkreist. Hier ist zu wissen, daß so wie man, von wahrnehmbaren Dingen mit Hilfe von nicht wahrnehmbaren Dingen handelnd, treffend verfährt, es ebenso zutreffend ist, von intelligiblen Dingen mit Hilfe von nicht intelligiblen zu handeln. Wie in der buchstäblichen [Auslegung ] von der körperlichen und wahrnehmbaren Sonne ausgehend gesprochen wurde, so ist jetzt also mit Hilfe der geistigen und intelligiblen Sonne, die Gott ist, zu argumentieren. (7) Nichts Wahrnehmbares in der ganzen Welt ist würdiger als Beispiel Gottes zu stehen als die Sonne. Diese erleuchtet zuerst sich selbst und dann alle himmlischen und elementaren Körper mit wahrnehmbarem Licht: und so erleuchtet Gott zuerst sich selbst und dann die himmlischen Geschöpfe und die anderen intelligiblen mit intellektuellem Licht. (8) Die Sonne belebt alle Dinge mit ihrer Wärme und wenn sie einige zugrunderichtet, so ist das nicht in der Absicht der Ursache, sondern eine akzidentelle Wirkung: so belebt Gott alle Dinge in Güte und wenn einige schuldig sind, so kommt das nicht aus der göttlichen Absicht, sondern es muß dann ebenfalls etwas Akzidentelles sein im Prozeß der beabsichtigten Wirkung. (9) Denn wenn Gott die guten und die



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schuldigen Engel geschaffen hat, so hat er nicht beide absichtlich geschaffen, sondern nur die guten. Die Schlechtigkeit der Schuldigen folgte dann außerhalb der Absicht, aber nicht derart außerhalb der Absicht, daß Gott nicht in sich zum Vornherein ihre Schlechtigkeit vorauszusagen gewußt hätte: aber das Verlangen geistige Geschöpfe zu schaffen war so groß, daß das Vorauswissen davon, daß einige zu einem schlechten Ende gelangen mußten, Gott von dieser Schaffung weder abhalten mußte noch konnte. (10) Denn die Natur wäre nicht zu loben, wenn sie, da sie weiß, daß die Blüten eines Baumes zu einem bestimmten Teil verloren werden müssen, an diesem keine Blüten geschaffen hätte und sie wegen den vergeblichen von der Schaffung der fruchtbringenden ablassen würde. (11) Ich sage also, daß Gott, der alles beabsichtigt, (denn sein „umkreisen“ ist sein „beabsichtigen“), nie etwas derart Höfliches sieht, wie, was er sieht, wenn er dorthin schaut, wo sich diese Philosophie befindet. Wobei Gott, sich selbst betrachtend, alles zusammen sieht [und] er, insofern die Unterscheidung der Dinge auf jene Art in ihm ist, wie die Wirkung in der Ursache ist, jene [Dinge] unterschieden sieht. (12) Er sieht dieses edelste von allen [Dingen] absolut, insofern er es vollkommenst in sich sieht und in seinem Wesen. Denn wenn wir uns in Erinnerung rufen, was oben gesagt worden ist, so ist die Philosophie der liebevolle Gebrauch der Weisheit, der in höchstem Maße in Gott ist, denn in ihm ist höchste Weisheit, höchste Liebe und höchster Akt: was alles nirgends sonst sein kann, außer insofern es von ihm ausgeht. (13)  Die göttliche Philosophie gehört also zum göttlichen Wesen, denn in ihm kann nichts sein, das seinem Wesen hinzugefügt ist; und sie ist die edelste, weil das göttliche Wesen am edelsten ist; und sie ist in ihm auf vollkommene und wahre Weise, sozusagen aufgrund einer ewigen Ehe. In den anderen Intelligenzen ist sie auf mindere Weise, sozusagen wie eine Buhlin, von der kein Liebhaber vollkommene Lust empfängt, aber an deren Anblick sie ihre Launen erfreuen. (14) Wes­wegen man sagen kann, daß

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Gott nichts anderes derart Höf­liches sieht, d. h. beabsichtigt: ich sage „nichts anderes“, insofern er die anderen Dinge sieht und unterscheidet, wie gesagt worden ist, indem er sich als Ursache von allem sieht. Ach edelstes und erhabenstes Herz, das mit der Gemahlin des Himmelsherrschers gemeint ist und nicht nur Gemahlin, sondern geliebteste Schwester und Tochter. •

xiii. Nachdem zu Beginn des Lobes dieser [Frau] gesehen worden ist, wie vorsichtig gesagt wurde, diese [Frau] sei von göttlicher Substanz, insofern man sie zuerst bedenkt, ist jetzt fortzufahren und zu schauen, wie ich zweitens sage, daß sie in den verursachten Intelligenzen ist. (2)  Ich sage also: Jeder Intellekt beschaut sie von dort oben: wo zu wissen ist, daß ich „von dort oben“ sage, indem ich eine Beziehung zu Gott herstelle, der zuvor erwähnt worden ist; und damit schließe ich jene Intelligenzen aus, die aus dem höchsten Vaterland verbannt sind und die nicht philosophieren können, denn die Liebe ist in ihnen gänzlich erloschen und zum Philosophieren ist, wie bereits gesagt worden ist, Liebe notwendig. Woraus man ersieht, daß die höllischen Intelligenzen der Betrachtung dieser Allerschönsten beraubt sind. Und weil sie die Glückseligkeit des Intellekts ist, ist ihre Beraubung überaus bitter und voller Trauer. (3) Danach, wenn ich sage: Und jene Menschen, die sich hier verlieben, gehe ich dazu über zu zeigen, wie sie auch sekundär in die menschliche Intelligenz gelangt; von dieser menschlichen Philosophie handle ich dann während des ganzen Traktates, indem ich diese lobe. Ich sage also, daß die Menschen, die sich „hier“ verlieben, d. h. in diesem Leben, sie in ihrem Denken spüren, nicht immer, aber dann, wenn die Liebe etwas von ihrem Frieden spüren läßt. Hier sind drei Punkte zu beachten, die in diesem Text berührt werden. (4) Der erste ist, wenn gesagt wird: Jene Menschen, die sich hier verlieben, wo man eine Unterscheidung im menschlichen Geschlecht vorzunehmen scheint.



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Und aus Notwendigkeit muß man diese vornehmen, denn, wie es offensichtlich erscheint und im nächsten Traktat dargelegt werden soll, der allergrößte Teil der Menschen leben eher den Sinnen als der Vernunft entsprechend; und jenen, die den Sinnen entsprechend leben, ist es unmöglich, sich in diese zu verlieben, denn sie können von dieser keinerlei Wahrnehmung haben. (5) Der zweite ist, wenn er sagt: Wenn Amor spüren läßt, wo es scheint, daß man eine Unterscheidung der Zeit vornimmt. Was man auch muß, denn, während die getrennten Intelligenzen diese Frau ständig betrachten, kann die menschliche Intelligenz dies nicht; denn die menschliche Natur hat – abgesehen von der Schau, in der der Intellekt und die Vernunft sich befriedigen – zu ihrer Erhaltung viele Dinge nötig: weswegen unsere Weisheit zeitweise nur habituell und nicht aktuell ist, was in den anderen Intelligenzen, die ausschließlich aufgrund intelligenter Natur vollkommen sind, nicht vorkommt. (6) Weswegen, wenn unsere Seele nicht aktuell in der Schau ist, man nicht wahrhaft sagen kann, sie befinde sich in der Philosophie, außer insofern sie den Habitus dieser hat und das Vermögen, diese zu wecken; und deswegen ist die [Philosophie] mal mit jenen Menschen, die sich verlieben, und mal nicht. (7) Der dritte ist, wenn er die Zeit ansagt, zu der diese Menschen mit ihr sind, d. h. wenn die Liebe ihren Frieden spüren läßt; was nichts anderes besagen will, als dann, wenn der Mensch aktuell in der Schau ist, denn vom Frieden dieser Frau läßt das Studium nichts spüren, außer wenn es Akt der Schau ist. Und so sieht man, wie diese Frau zuerst von Gott ist und sekundär von den anderen getrennten Intelligenzen, aufgrund andauernder Betrachtung; und bei der menschlichen Intelligenz aufgrund unterbrochener Betrachtung. (8) Tatsächlich ist der Mann, der diese als Frau hat, immer Philosoph zu nennen, auch wenn er nicht im letzten Akt der Philosophie ist, denn vor allem vom Habitus her ist etwas zu benennen. So nennen wir jemanden tugendhaft, nicht nur wenn er die Tugenden umsetzt, sondern wenn er den Habitus

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der Tugend hat; und wir nennen einen Menschen redegewandt, auch wenn er nicht spricht, wegen dem Habitus der Redegabe, d. h. des guten Sprechens. Und auf diese Philosophie, insofern die menschliche Intelligenz an ihr teilhat, wird sich das nun folgende Lob beziehen, um zu zeigen, wie ein großer Teil ihres Gutes der menschlichen Natur zugestanden wird. (9) Ich sage also im folgenden: „Ihr Sein gefällt dem, der sie gibt, sehr“, von dem sie, wie aus einer ersten Quelle, hervorgeht, „der in sie beständig seine Kraft eingießt, über das Vermögen unserer Natur hinaus“, die er schön und kräftig macht. Obschon man ein Stück weit zu ihrem Habitus gelangt, gelangt dennoch niemand derart dazu, daß man wirklich von einem Habitus sprechen kann; denn der erste Eifer, d. h. jener, durch den der Habitus erzeugt wird, kann diesen nicht vollkommen erlangen. (10) Und hier sieht man, wie demütig ihr Lob ist; denn, vollkommen oder unvollkommen, den Namen der Vollkommenheit verliert sie nicht. Und wegen dieser Unangemessenheit sagt man, die Seele der Philosophie zeigt es in ihrem Benehmen, d. h. daß Gott immer von seinem Licht in sie hineingibt. Wo man in Erinnerung rufen will, was oben gesagt worden ist, daß nämlich die Liebe die Form der Philosophie ist, deshalb heißt sie hier ihre Seele. (11) Diese Liebe ist im Gesicht der Weisheit offensichtlich, wo sie über wunderbare Schönheiten verfügt, d. h. Beglückung in jeder Situation der Zeit und Verachtung für jene Dinge, die die anderen zu ihren Herren machen. Weswegen es vorkommt, daß die anderen Elenden, die, ihren Mangel überdenkend dieses [Gesicht] betrachten, im Anschluß an den Wunsch nach Vollkommenheit in mühselige Seufzer verfallen; und dies ist, was er sagt: So daß die Augen jener, denen sie erscheint, Boten voller Wünsche zum Herzen senden, die zu Luft werden und in Seufzer enden. •

xiv. So wie in der buchstäblichen Auslegung nach dem allgemeinen Lob zum speziellen übergegangen wurde, zuerst im



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Hinblick auf die Seele, danach im Hinblick auf den Körper, so verlangt der Text jetzt, im Anschluß an das allgemeine Lob zum speziellen überzugehen. Wie oben gesagt worden ist, hat die Philosophie hier als materielles Subjekt die Weisheit und als Form hat sie die Liebe und als aus dem einen und dem anderen Zusammengesetztes hat sie den Gebrauch der Schau. (2) Weswegen ich, in der Strophe, die folgendermaßen beginnt: In sie steigt die göttliche Kraft nieder, die Liebe zu loben beabsichtige, die Teil der Philosophie ist. Hier ist zu wissen, daß das Herabsteigen der Kraft von einem Ding in ein anderes nichts anderes ist, als diese in die Ähnlichkeit der anderen überzuführen, was wir in den natürlich Verursachenden offenkundig sehen; diese überführen, indem sie ihre Kraft in die erleidenden Dinge herabsteigen lassen, jene in ihre Ähnlichkeit, soweit es ihnen möglich ist, zu dieser zu gelangen. (3)  Deswegen sehen wir die Sonne, die, indem sie ihren Strahl hier herabschickt, die Dinge in ihre Ähnlichkeit des Lichtes überführt, soweit diese aufgrund ihrer Veranlagung von ihrer Kraft Licht empfangen können. So sage ich, daß Gott diese Liebe in seine Ähnlichkeit überführt, soweit es dieser möglich ist, sich ihm anzugleichen. Und die Qualität dieser Überführung wird angezeigt, wenn ich sage: Wie in einem Engel, der Ihn sieht. (4) Hier ist weiter zu wissen, daß das erste Verursachende, d. h. Gott, seine Kraft in einige Dinge mittels eines geraden Strahls malt, in einige andere Dinge mittels zurückstrahlendem Glanz; weswegen das göttliche Licht ohne ein Dazwischen in die Intelligenzen strahlt und es in die anderen hinein von diesen zuerst erleuchteten Intelligenzen abstrahlt. (5) Aber da hier Licht und Glanz erwähnt werden, werde ich zum vollkommenen Verständnis den Unterschied dieser Begriffe gemäß der Erklärung des Avicenna zeigen. Ich sage, daß es bei den Philosophen üblich ist, „Licht“ die Helligkeit zu nennen, insofern diese in ihrer ursprünglichen Quelle ist; sie ist „Strahl“ zu nennen, insofern sie dazwischen ist, [zwischen] dem Ursprung und dem ersten Körper, wo sie

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zu ihrem Ende gelangt; sie ist „Glanz“ zu nennen, insofern sie von einem anderen erleuchteten Teil abstrahlt. (6) Ich sage also, daß die göttliche Kraft diese Liebe ohne ein Dazwischen in ihre Ähnlichkeit überführt. Und dies kann man folgendermaßen am deutlichsten zeigen: da die göttliche Liebe gänzlich ewig ist, ist ihr Objekt notwendigerweise ewig, so daß es ewige Dinge sind, die er liebt. Und so läßt er diese Liebe lieben; denn die Weisheit, zu der diese Liebe führt, ist ewig. (7) Deswegen steht von ihr geschrieben: „Vom Ursprung an, vor dem Beginn der Zeiten, bin ich geschaffen und in den Zeiten, die kommen müssen, werde ich nicht fehlen“; und in den Sprüchen Salomons sagt die Weisheit selbst: „In Ewigkeit bin ich geordnet“; und zu Beginn des Evangelium des Johannes kann man ihre Ewigkeit offenkundig wahrnehmen. Und hieraus ergibt sich, daß wo immer diese Liebe erscheint, alle anderen Lieben sich verdunkeln und beinahe ausgehen, weil ihr ewiges Objekt die anderen Objekte unverhältnismäßig übertrifft und überragt. (8) Deswegen zeigen die hervorragendsten Philosophen sie offen in ihren Handlungen, durch welche wir wissen, daß sie sich entschieden haben, sich nicht um all die anderen Dinge außerhalb der Weisheit zu kümmern. Deswegen schnitt Demokrit, der sich nicht um seine Person kümmerte, weder seinen Bart, noch seine Haare und Fingernägel; Platon, der sich nicht um die zeitlichen Güter kümmerte, entschloß sich, die königliche Würde nicht zu beachten, obwohl er ein Königssohn war; Aristoteles, der sich nicht um andere Freunde kümmerte, kämpfte gegen seinen, neben der Wissenschaft besten Freund, nämlich gegen den besagten Platon. Und wieso sollen wir nur von diesen sprechen, wenn wir doch auch andere finden, die aufgrund dieser Gedanken ihr Leben verachten, wie etwa Zenon, Sokrates, Seneca und viele andere? (9) Und daraus ist offenkundig, daß die göttliche Kraft, wie zu den Engeln, in dieser Liebe zu den Menschen herabsteigt. Und um dies zum Ausdruck zu bringen, schreit der Text im folgenden: Und die höf liche Frau, die dies nicht glaubt, möge sich



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zu ihr gesellen und ihre Handlungen betrachten. Unter höflicher Frau ist die edle, begabte Seele zu verstehen, die in ihrem eigenen Vermögen frei ist, d. h. die Vernunft. (10) Deswegen kann man die anderen Seelen nicht Frauen nennen, sondern Mägde, denn sie sind nicht für sich, sondern für jemand anderen; und der Philosoph sagt im zweiten Buch der Metaphysik, daß jenes Ding frei ist, das durch seine eigene Ursache ist und nicht durch [die Ursache] eines anderen. (11) Er sagt: (Sie) möge sich zu ihr gesellen und ihre Handlungen betrachten, d. h. sie begleite diese Liebe und betrachte das, was sie darin finden wird. Und zum Teil berührt er es, wenn er sagt: Da wo diese spricht, steigt, d. h., wo die Philosophie im Akt ist, steigt ein himmlischer Gedanke herab, worin man erkennt, daß dies mehr ist als eine menschliche Handlung: und er sagt „vom Himmel“, um zu verstehen zu geben, daß nicht nur sie, sondern auch die mit ihr befreundeten Gedanken von den niedrigen und irdischen Dingen losgelöst sind. (12) Im folgenden sagt er, wie sie die Liebe stärkt und entfacht, wo immer sie sich zeigt, mittels der Lieblichkeit der Akte, die alle ihre edlen Ähnlichkeiten sind, süß und ohne jede Übertreibung. Und im folgenden sagt er, um von ihrer Begleitung mehr zu überzeugen: Höf lich ist bei einer Frau, was bei ihr sich findet, und schön ist sie, soweit sie ihr gleicht. (13) Weiter fügt er hinzu: Und man kann sagen, daß ihr Anblick einlädt: hier ist zu wissen, daß der Anblick dieser Frau uns derart freigebig zugeteilt wurde, nicht nur um das Gesicht, das sie zeigt, zu sehen, sondern um danach zu verlangen, die Dinge, die sie verborgen hält, zu erlangen. (14) Deswegen, so wie man durch sie viel von diesem vernünftig erkennen kann und folglich glaubt, daß sein kann, was ohne sie ein Wunder scheinen würde, glaubt man durch sie, daß jedes Wunder in einem höheren Intellekt seine Vernünftigkeit haben und folglich sein kann. Woraus unser guter Glaube seinen Ursprung hat; aus diesem ergibt sich die Hoffnung, die darin besteht, das Vorausgesehene zu wünschen; und daraus erwächst die Handlung

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der Barmherzigkeit. (15) Durch diese drei Tugenden steigt man zum Philosophieren in jenes himmlische Athen hinauf, wo die Stoiker, die Peripatetiker und die Epikureer aufgrund des Lichtes der ewigen Wahrheit in einem einzigen Wollen harmonisch zusammenwirken. •

xv. Im vorangehenden Kapitel ist diese ruhmreiche Frau einem ihrer Bestandteile entsprechend gelobt worden, d. h. gemäß der Liebe. Jetzt, in diesem [Kapitel], in dem ich die Strophe, die damit beginnt: Dinge erscheinen in ihrem Anblick auszulegen beabsichtige, ist von ihrem anderen Teil, d. h. von der Weisheit lobend zu handeln. (2) Der Text sagt also, „daß in ihrem Gesicht Dinge erscheinen, die von den Freuden des Paradieses zeugen“; und ich unterscheide den Ort, wo dies erscheint, nämlich in den Augen und im Lächeln. Und hier muß man wissen, daß die Augen der Weisheit ihre Beweise sind, durch welche man die Wahrheit am sichersten sieht; und ihr Lächeln sind ihre Darlegungen, in welchen sich das innere Licht der Weisheit unter einem gewissen Schleier zeigt: und in diesen zwei Dingen fühlt man jene erhabenste Freude der Glückseligkeit, welche das höchste Gut im Paradies ist. (3) Diese Freude kann in keinem anderen Ding hier unten sein, außer im Betrachten dieser Augen und in diesem Lächeln. Und der Grund ist dieser: da jedes Ding von Natur aus nach seiner Vervollkommnung verlangt, kann der Mensch ohne diese [ Vollkommenheit] nicht glücklich sein [und] diese ist das Seligsein; denn wie viele andere Dinge er hätte, ohne diese bliebe in ihm ein Wunsch: dieser kann nicht gleichzeitig mit der Glückseligkeit vorhanden sein, denn die Glückseligkeit ist ein vollkommenes Ding und der Wunsch ist ein mangelhaftes Ding; denn nichts wünscht das, was es hat, sondern das, was es nicht hat, was offensichtlich ein Mangel ist. (4) Und ausschließlich in diesem Blick erlangt man die menschliche Vollkommenheit, d. h. die Vollkommenheit der Vernunft, von der, wie vom wichtigsten Teil, unser ganzes Wesen abhän-



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gig ist; und alle unsere anderen Handlungen – Wahrnehmen, Ernährung und alles – sind nur durch diese und diese ist durch sich und nicht durch andere; so daß, wenn diese vollkommen ist, die anderen vollkommen sind, soweit daß der Mensch, insofern er Mensch ist, jeden Wunsch erfüllt sieht und so glückselig ist. (5) Und deswegen heißt es im Buch der Weisheit: „Wer die Weisheit und die Lehre fortwirft, ist unglücklich“: was eine Beraubung des glücklichen Seins ist. Glücklichsein aufgrund des Habitus der Weisheit verlangt, daß man sie erwirbt, und „Glücklichsein“ ist gemäß der Aussage des Philosophen „Zufriedensein“. So sieht man also, wie in ihrem Anblick paradiesische Dinge erscheinen. Und deswegen liest man im angeführten Buch der Weisheit über sie: „Sie ist die Reinheit des ewigen Lichtes und ein makelloser Spiegel der Herrlichkeit Gottes.“ (6)  Danach, wenn gesagt wird: Sie übertreffen unseren Intellekt, entschuldige ich mich dafür, daß ich nur wenig über diese sagen kann, wegen ihrem Übersteigen. Wo zu wissen ist, daß diese Dinge auf eine gewisse Art unseren Intellekt blenden, insofern sie bestätigen, daß es bestimmte Dinge gibt, die unser Intellekt nicht sehen kann, nämlich Gott, die Ewigkeit und die erste Materie; die ganz sicher gesehen werden und mit allem Glauben wird geglaubt, daß sie sind, aber was sie sind, können wir nicht begreifen und niemand kann sich, außer beinahe träumend und nicht anders, ihrer Kenntnis nähern. (7) Tatsächlich können manche hier zweifeln, wie dies sich verhalte, daß die Weisheit den Menschen glückselig machen kann, wo sie doch dem Menschen gewisse Dinge nicht vollkommen zeigen kann; zudem ist es von Natur aus der Wunsch des Menschen zu wissen und ohne die Erfüllung dieses Wunsches kann er nicht glückselig sein. (8) Darauf kann man deutlich antworten, daß der natürliche Wunsch in jedem Ding dem wünschenden Ding entsprechend bemessen ist: ansonsten würde es sich selbst zuwiderlaufen, was unmöglich ist; und die Natur hätte es vergeblich geschaffen, was ebenfalls unmöglich ist. (9) Zuwider­

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laufen würde es, daß etwas, seine Vervollkommnung wünschend, seine Unvollkommenheit wünschte; insofern es sich immer wünschen würde zu wünschen, und sein Wünschen nie zu erfüllen; in diesen Fehler verfällt der verfluchte Geizige und er bemerkt nicht, daß er sich wünscht, immer zu wünschen und dabei der Zahl nacheilt, die unmöglich zu erreichen ist. Auch hätte die Natur es vergeblich geschaffen, denn es wäre auf kein Ziel hingeordnet. Und deswegen ist das menschliche Verlangen in diesem Leben an jenem Wissen bemessen, das man hier haben kann, und diesen Punkt überschreitet es nicht, außer es begeht einen Fehler, der außerhalb der Absicht der Natur liegt. (10) Und ebenso ist [das Verlangen] in der Natur der Engel abgemessen und in jener Weisheit begrenzt, die die Natur eines jeden erlangen kann. Und dies ist der Grund, weswegen die Heiligen untereinander keine Eifersucht hegen, denn jeder von ihnen erreicht das Ziel seines Wünschens, das mit der Güte der Natur abgemessen ist. Deswegen, da es unserer Natur nicht möglich ist, Gott zu kennen und von bestimmten anderen Dingen [zu wissen], was sie sind, verlangen wir von Natur aus nicht, dies zu wissen. Und damit ist der Zweifel ausgeräumt. (11)  Dann, wenn er sagt: Ihre Schönheit läßt Flämmchen von Feuer regnen, geht er zu einer anderen Freude des Paradieses über, d. h. von der zweiten Glückseligkeit zur ersten, die von ihrer Schönheit ausgeht. Hier ist zu wissen, daß die Sittlichkeit die Schönheit der Philosophie ist; denn so wie sich die Schönheit des Körpers aus den Gliedern ergibt, insofern sie entsprechend geordnet sind, so resultiert die Schönheit der Weisheit, die wie gesagt der Körper der Philosophie ist, aus der Ordnung der moralischen Tugenden, durch die diese sichtlich gefällt. (12)  Deswegen sage ich, daß ihre Schönheit, d. h. Moralität, Flämmchen von Feuer regnen läßt, d. h. gerichtetes Verlangen, das aus dem Gefallen der moralischen Lehre entsteht; dieses Verlangen trennt sie von den natürlichen Lastern nicht weniger als von den andern. Und hieraus entsteht jene Glückseligkeit,



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die Aristoteles im ersten Buch der Ethik definiert, wenn er sagt, daß sie der Tugend entsprechendes Handeln im vollkommenen Leben ist. (13) Und wenn er sagt: Doch welche Frau auch immer ihre Schönheit sieht, fährt er mit ihrem Lob fort, indem er den Menschen zuruft, ihr zu folgen, und indem er ihnen ihre Wohltat erklärt, nämlich daß jeder, indem er ihr folgt, gut wird. Aber er sagt: welche Frau auch immer, d. h. welche Seele, hört, wie ihre Schönheit getadelt wird, weil sie nicht so erscheint, wie es sich gehört, die betrachte dieses Beispiel. (14) Hier ist zu wissen, daß die Sitten die Schönheit der Seele sind, d. h. vor allem die Tugenden, die sich wegen Prahlerei und Überheblichkeit manchmal weniger schön und wohlgefällig machen, wie man im letzten Traktat sehen können wird. Und deshalb sage ich, daß, um diesem zu entkommen, man diese betrachte, d. h. dorthin, wo diese Beispiel von Bescheidenheit ist; d. h. in jenen Teil, der Moralphilosophie genannt wird. Und ich füge an, daß im Betrachten dieses Teils – ich meine der Weisheit  – jedes Laster wieder gerade und gut werden wird; und deswegen sage ich: Sie ist jene, die jeden Verdorbenen demütigt, d. h. sie richtet sanft jeden, der aus der entsprechenden Ordnung geraten ist. (15) Zum höchsten Lob der Weisheit sage ich schließlich, daß sie die Mutter von allem ist und früher als jeder Anfang, indem ich sage, daß Gott mit ihr die Welt begonnen hat und vor allem die Bewegung des Himmels, der alle Dinge erzeugt und von dem jede Bewegung ihren Anfang nimmt und bewegt wird, wenn ich sage: Diese erdachte Jener, der das Universum bewegte. Was bedeutet, daß sie im göttlichen Denken war, das der Intellekt selbst ist, als er die Welt gemacht hat; woraus folgt, daß sie [die Welt] gemacht hat. (16) Und deswegen sagte Salomon in den Sprüchen unter der Maske der Weisheit: „Als Gott die Himmel einrichtete, war ich anwesend; als er mit sicherem Gesetz und sicherem Kreis die Abgründe eingrenzte, als er oben den Himmel verschloß und die Quellen des Wassers zurückhielt, als er das Meer mit seiner Grenze umgab und er

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dem Wasser das Gesetz gab, die Grenzen nicht zu überschreiten, als er die Fundamente der Erde legte, war ich mit ihm zusammen, dem Ordner aller Dinge, und ich erfreute mich täglich.“ (17) Ach ihr, die ihr schlechter seid als die Toten, die ihr vor der Freundschaft dieser [Frau] flüchtet, öffnet eure Augen und schaut: denn ehe ihr existiertet, hat sie euch geliebt, indem sie euer Hervorgehen ordnete und richtete; und danach, als ihr geschaffen wart, kam sie in eurer Ähnlichkeit zu euch, um euch zu leiten. (18) Und wenn ihr nicht alle zu ihrem Anblick gelangen könnt, so ehrt sie in ihren Freunden und folgt deren Anweisungen, als jene, die den Willen dieser ewigen Kaiserin verkünden; verschließt eure Ohren nicht dem Salomon, der euch hierzu sagt, „der Weg der Gerechten ist wie strahlendes Licht, das vorangeht und bis zum Tag der Glückseligkeit anwächst“: ihnen folgend, ihre Handlungen betrachtend, die euch Licht sein sollen auf dem Weg dieses überaus kurzen Lebens. (19)  Und hier kann die wahre Auslegung der vorliegenden Kanzone beendet werden. Tatsächlich kann man die letzte Strophe, die als Schluß gesetzt ist, aufgrund der buchstäblichen Auslegung genügend leicht entschlüsseln, außer insofern gesagt wird, daß ich diese Frau grausam und unwillig nenne. Hier ist zu wissen, daß mir zu Beginn diese Philosophie bezüglich ihres Körpers, d. h. der Weisheit, grausam erschienen ist, denn sie lächelte mich nicht an, insofern ich ihre Darlegung noch nicht verstand; und unwillig, denn sie würdigte mich keines Blickes, d. h. ich konnte ihre Beweise nicht erkennen: und bezüglich all dieser [Dinge] war der Mangel auf meiner Seite. (20) Und dadurch und aufgrund dessen, was in der buchstäblichen Auslegung gegeben worden ist, ist die Allegorie des Schlusses offenkundig; so daß es an der Zeit ist, diesem Traktat ein Ende zu setzen, um weiter zu fahren.

Viertes Buch Die süßen Liebesreime, die ich pflegte zu suchen in meinen Gedanken, muß ich lassen; nicht weil ich nicht hoffe, zu ihnen zurückzukehren, sondern weil die verächtlichen und wilden Züge, die an meiner Frau erschienen sind, mir den Weg verschlossen haben des gewohnten Sprechens. Und da es mir Zeit scheint zu warten, werde ich meinen süßen Stil niederlegen, den ich benützt habe in der Liebe Erörterung; und ich werde sprechen vom Wert, durch den der Mensch wirklich höflich ist, mittels herbem und feinem Reim; das falsche und niederträchtige Urteil jener widerlegend, die wollen, daß der Höflichkeit Ursprung Reichtum sei. Und beginnend rufe ich jenen Herrn, der meiner Frau in den Augen weilt, auf daß sie sich in sich selbst verliebt. Ein gewisser Kaiser wollte von Höflichkeit, in Folge seiner Meinung, daß sie alter Besitz von Habe sei zusammen mit schönen Sitten; und es war ein anderer leichteren Wissens, der diesen Spruch überdachte und das letzte Teilchen entfernte, weil er es vielleicht nicht hatte!

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Hinter diesem gehen alle jene her, die jemanden für höflich erklären aufgrund der Sippe, die lang in großem Reichtum stand; und so beständig ist diese derart falsche Meinung unter uns, daß man jenen als einen höflichen Mann bezeichnet, der sagen kann: „Ich war der Neffe oder Sohn dieses Tüchtigen“, obwohl er es mitnichten ist. Im Gegenteil niederträchtigst erscheint jenem, der die  Wahrheit betrachtet, der, dem der Weg gezeigt ist und der doch in die Irre geht, und auf diesen trifft zu, daß er tot ist und auf der Erde wandelt! Wer definiert: „Der Mensch ist beseeltes Holz“, redet erstens nicht wahr, und dann, nach dem Falschen, spricht er nicht vollständig; aber mehr sieht er vielleicht nicht. Ebenso hat jener, dem das Reich oblag, im Definieren gefehlt, denn zuerst setzte er das Falsche, und dann fuhr er mangelhaft fort; denn die Schätze können nicht, wie man glaubt, Höflichkeit geben oder nehmen, denn niederträchtig sind sie von ihrer Natur aus: denn jemand, der eine Figur malt, bringt sie nicht zustande, wenn sie nicht sein kann, noch vermag den aufrechten Turm zu krümmen der Fluß, der in der Ferne fließt. Daß sie niederträchtig sind und unvollkommen, liegt auf [ der Hand, denn, wie angehäuft auch immer, vermögen sie nicht zu beruhigen, vielmehr steigern sie das Verlangen; weswegen ein Geist, der gradlinig ist und wahrhaftig, sich durch ihre Unbeständigkeit nicht auflöst.



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Nicht wollen sie, daß ein niederträchtiger Mann höflich werde, noch daß von niederträchtigem Vater herkomme eine Nachkommenschaft, die man je als höflich auffassen wird; dies wird von ihnen behauptet; weswegen ihr Argument sich selbst zu widersprechen scheint, insofern es annimmt, daß Höflichkeit Zeit braucht, sie mit ihr definierend. Weiter folgt aus dem zuvor Gesagten, daß wir alle höflich oder niederträchtig sind oder daß kein Anfang war des Menschen; aber dem stimme ich nicht zu, und auch sie nicht, wenn sie Christen sind! Denn den im Intellekt Gesunden ist offenkundig, daß ihre Sprüche vergeblich sind, und folglich widerlege ich sie als falsch und nehme Abstand von ihnen und will jetzt sagen, wie ich erkläre,  was Höflichkeit ist und woher sie kommt, und ich werde die Zeichen benennen, die der höfliche [ Mensch zeigt. Ich sage, daß jede Tugend ursprünglich aus einer Wurzel stammt: Tugend nenne ich, was den Menschen glücklich macht in seinem Tun. Dies ist dem zufolge, was die Ethik sagt, ein wählender Habitus, der sich ausschließlich in der Mitte hält, und diese Worte benutzt sie. Ich sage, daß Edelkeit ihrem Wesen nach immer Gutes bewirkt in dem ihr Zugrundeliegenden, wie Niedertracht immer Schlechtes bewirkt; und solche Tugend gibt immer anderen einen guten Eindruck von sich selbst; weswegen in einer einzigen Aussage

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beide zusammenkommen, denn sie sind eine Wirkung. Deshalb muß von der anderen die eine kommen, oder von der dritten beide; aber wenn die eine wert ist, was die andere wert ist, und noch mehr, dann wird sie eher von ihr kommen, und das, was ich gesagt habe, gelte hier als Voraussetzung. Höflichkeit ist, wo immer Tugend ist, aber nicht Tugend, wo die erstere ist; so wie Himmel ist, wo immer ein Stern ist, aber umgekehrt gilt dies nicht. Und in der Frau und im neuen Alter sehen wir dieses Heil, insofern beide für schamhaft gehalten werden, was von Tugend verschieden ist. Also wird kommen, wie von Schwarz das Purpurschwarz, jede Tugend von dieser, oder besser von ihrer Gattung, die ich zuvor erwähnt. Deshalb lobe sich niemand mit den Worten: „Durch die Sippe bin ich mit ihr“, denn sie sind fast Götter, jene, die diese Gnade haben unabhängig von allen Schuldigen; denn Gott allein gibt sie der Seele, die er in ihrer Person vollkommen wahrnimmt, so daß einigen wenigen sich das zugesellt, was der Same des Glücks ist, von Gott in die wohlgesetzte Seele gelegt. Die Seele, die diese Gutheit schmückt, hält sie nicht verborgen, denn von Beginn, seit sie sich mit dem Körper vermählt hat, zeigt sie diese bis zum Tod. Gehorsam, süß und schamhaft ist sie im ersten Lebensalter, und ihre Person schmückt sie mit Schönheit mittels ihrer geordneten Teile;



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im Erwachsenenalter ausgeglichen und stark, voller Liebe und höflichem Lob, und ausschließlich redlich zu handeln erfreut sie sich; und in ihrem Alter vorsichtig und gerecht, und von Freigebigkeit hört man, und für sich selbst freut sie sich, zu hören und zu berichten von den Taten anderer; dann im vierten Teil des Lebens vereinigt sie sich wieder mit Gott, das Ende bedenkend, das sie erwartet, und sie segnet die vergangenen Tage. Seht ihr nun, wie viele die Getäuschten sind! Gegen die Herumirrenden, meine [Kanzone], wirst du angehen; und wenn du in jener Gegend sein wirst, wo unsere Frau sein mag, halt ihr deine Aufgabe nicht verborgen: Du kannst ihr mit Bestimmtheit sagen: „Von eurer Freundin berichtend, zieh ich herum.“



i. Liebe ist der übereinstimmenden Meinung der von ihr handelnden Gelehrten zufolge und gemäß dem, was wir aufgrund unserer Erfahrung ständig sehen, das, was den Liebenden mit der geliebten Person verbindet und vereinigt; deswegen sagt Pythagoras: „In der Freundschaft wird aus vielen einer.“ (2) Und weil die verbundenen Dinge von Natur aus einander ihre Qualitäten vermitteln, so daß mitunter das eine gänzlich in die Natur des anderen übergeht, kommt es vor, daß die Leidenschaften der geliebten Person derart in die liebende Person eingehen, daß die Liebe der einen sich der anderen mitteilt und ebenso der Haß und das Verlangen und jede andere Leidenschaft. Deswegen werden die Freunde des einen vom anderen geliebt und die Feinde gehaßt; deshalb sagt ein griechisches Sprichwort: „Den Freunden müssen alle Dinge gemeinsam sein.“ (3) Deswegen begann ich, nachdem ich zum Freund der oben, in der wahrhaftigen Auslegung genannten Frau geworden war, ihrer Liebe und ihrem Haß entsprechend zu lieben und zu hassen. Ich begann also jene zu lieben, die der Wahrheit folgen, und jene zu hassen, die dem Fehler und der Falschheit folgen, wie sie es tat. (4) Aber weil jedes Ding für sich genommen zu lieben und nichts zu hassen ist, außer es komme Schlechtigkeit hinzu, ist es vernünftig und ehrenvoll, nicht die Dinge, sondern die Schlechtigkeiten der Dinge zu hassen und darum besorgt zu sein, sie von ihnen zu trennen. Und wenn irgend jemand sich darauf versteht, so versteht sich meine erhabenste Frau am hervorragendsten darauf: Ich meine, die Schlechtigkeit, die die Ursache des Hasses ist, von den Dingen zu trennen; denn in ihr ist die gesamte Vernunft, und in ihr ist die Aufrichtigkeit wie in einer Quelle. (5) Ihr im Handeln wie in der Leidenschaft soweit folgend, wie ich es vermochte, verabscheute und verachtete



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ich die Fehler der Leute, nicht um die Fehlerhaften zu beschämen und zu tadeln, sondern die Fehler; diese tadelnd glaubte ich, sie unbeliebt zu machen und derart unbeliebt von jenen zu trennen, die deswegen von mir gehaßt wurden. (6)  Unter diesen Fehlern mahnte ich einen am meisten an, der nicht nur für jene schädlich und gefährlich ist, die sich in ihm befinden, sondern auch jenen Schmerz und Schaden zufügt, die ihn tadeln. (7) Dies ist der Fehler der Gutheit des Menschen, insofern sie von der Natur in uns eingesät ist und die „Edelkeit“ zu nennen ist; dieser [Fehler] war aufgrund schlechter Gewohnheit und aufgrund von zu wenig Intellekt derart stark geworden, daß die Meinung beinahe aller darüber verfälscht war; und aus der falschen Meinung erwuchsen die falschen Urteile, und aus den falschen Urteilen erwuchsen die ungerechtfertigten Ehrbezeugungen und Geringschätzungen; weswegen die Guten in niederträchtiger Verachtung leben mußten und die Schlechten verehrt und gepriesen wurden. Dies war eine überaus schlechte Verwirrung der Welt; wie man erkennt, wenn man genau betrachtet, was daraus folgen kann. (8) Da diese meine Frau ihre süßen Erscheinungen mir gegenüber ein wenig veränderte, vor allem dort, wohin ich blickte und suchte, ob die erste Materie der Elemente von Gott intendiert war – weswegen ich mich eine Weile enthielt, ihren Anblick aufzusuchen –, begann ich, sozusagen in ihrer Abwesenheit verharrend, in Gedanken den Mangel des Menschen bezüglich des besagten Fehlers zu betrachten. (9) Und um der Untätigkeit zu entgehen, die in höchstem Maße Feindin dieser Frau ist, und um diesen Fehler auszurotten, der ihr so viele Freunde raubt, begann ich die Leute anzuschreien, die auf dem schlechten Weg voranschritten, damit sie ein richtiges Gäßchen einschlügen; und ich begann eine Kanzone, die folgendermaßen anfängt: Die süßen Liebesreime, die ich pflegte. Darin beabsichtige ich, die Leute auf den richtigen Weg bezüglich der eigenen Kenntnis der wahrhaften Edelkeit zurückzuführen; wie aus der Kenntnis ihres Wortlautes, des-

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sen Auslegung nun beabsichtigt ist, ersichtlich werden wird. (10) Und weil mit dieser Kanzone ein derart notwendiges Heilmittel beabsichtigt wurde, war es nicht gut, in Bildern zu sprechen, sondern es war angebracht, diese Medizin auf direktem Weg zu verabreichen, auf daß die Gesundheit sich unmittelbar einstelle; ist diese verdorben, eilt man auf einen häßlichen Tod zu. (11) Es wird in der Auslegung dieser [Kanzone] deshalb nicht notwendig sein, irgendeine Allegorie zu entschlüsseln, sondern [es wird genügen], die dem Buchstaben gemäße Aussage zu erklären. Unter meiner Frau verstehe ich noch immer jene, die in der vorangehenden Darstellung erklärt worden ist, d. h. jenes überaus wirksame Licht, die Philosophie, dessen Strahlen die Blumen wieder erblühen und die wahrhafte Edelkeit der Menschen Früchte tragen lassen. Von dieser [Edelkeit] beabsichtigt die vorliegende Kanzone vollständig zu handeln. •

ii. Zu Beginn der anstehenden Auslegung ist, um die Aussage der vorliegenden Kanzone besser zu verstehen zu geben, diese zuerst in zwei Teile zu teilen, denn im ersten Teil wird einleitend gesprochen, im zweiten folgt die Abhandlung; und der zweite Teil beginnt mit dem Anfang der zweiten Strophe, wo es heißt: Ein gewisser Kaiser wollte von Höf lichkeit. (2) Den ersten Teil kann man zudem als dreigliedrig verstehen: Im ersten [Glied] wird gesagt, weswegen ich mich vom gewohnten Sprechen verabschiede; im zweiten sage ich, was ich zu behandeln beabsichtige; im dritten bitte ich das, was mir am meisten helfen kann, d. h. die Wahrheit, um Unterstützung. Das zweite Glied beginnt: Und da es mir Zeit scheint zu warten. Das dritte beginnt: Und beginnend rufe ich jenen Herrn. (3)  Ich sage also, „daß ich von den süßen Liebesversen, die meine Gedanken aufzusuchen pflegen, lassen muß“; und ich zeige den Grund, denn ich sage, daß dies nicht aus der Absicht geschieht, nicht mehr von Liebe



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zu dichten, sondern weil in meiner Frau neue Ähnlichkeiten erschienen sind, die mir den Stoff genommen haben, um gegenwärtig von der Liebe zu sprechen. (4) Man muß wissen, daß die Handlungen dieser Frau hier nicht „verächtlich und wild“ genannt werden, außer gemäß der Erscheinung; so wie man im zehnten Kapitel des vorangehenden Buches sehen kann, wo ich bereits sage, daß die Erscheinung nicht mit der Wahrheit übereinstimmte. Und wie es kommen kann, daß ein und dasselbe Ding süß ist und bitter erscheint oder besser, hell ist und dunkel erscheint, kann man hier genügend deutlich sehen. (5) Danach, wenn ich sage: Und da es mir Zeit scheint zu warten, erkläre ich, wie bereits gesagt worden ist, was ich zu behandeln beabsichtige. Und hier darf nicht übergangen werden, was mit „Zeit zu warten“ ausgedrückt wird, denn das ist eine überaus starke Ursache für meinen Anfang; sondern es ist zu betrachten, wie in all unseren Tätigkeiten vernünftigerweise die Zeit abzuwarten ist und am meisten im Sprechen. (6) Die Zeit ist dem gemäß, was Aristoteles im vierten Buch der Physik sagt, „die Zahl der Bewegung entsprechend dem Früher und Später“; und „Zahl der himmlischen Bewegung“, die die Dinge hier unten verschieden veranlagt zum Empfang von Einformung. (7)  Denn anders ist die Erde zu Beginn des Frühlings veranlagt, um in sich die Einformung der Gräser und Blumen zu empfangen, und anders im Winter; und anders ist eine Jahreszeit veranlagt, um den Samen zu empfangen als eine andere. Und ebenso [verhält es sich mit] unserem Geist, insofern er auf der Zusammensetzung des Körpers gegründet ist, der je nach der Zeit anders veranlagt ist, der Bewegung des Himmels zu folgen. (8) Deswegen müssen die Worte, die sozusagen Samen von Tätigkeiten sind, sehr unterschiedlich benützt oder beiseite gelassen werden, auf daß sie gut empfangen werden und Früchte tragen, damit von ihrer Seite her nicht der Mangel der Unfruchtbarkeit vorliegt. Und deshalb ist die Zeit sowohl für den Sprechenden als auch für jenen, der hören muß, vorzuse-

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hen; denn wenn der Redner schlecht veranlagt ist, sind seine Worte oft schädlich; und wenn der Hörer schlecht veranlagt ist, werden sie schlecht empfangen, so gut sie sein mögen. Und deshalb sagt Salomon im Prediger: „Es gibt eine Zeit für das Sprechen, und es gibt eine Zeit für das Schweigen.“ (9) Da ich aufgrund der im vorangehenden Kapitel genannten Ursache in mir eine gestörte Veranlagung spürte, schien mir, um von der Liebe zu sprechen, sei jene Zeit abzuwarten, die das Ziel jedes Wunsches mit sich führt und die als Schenkende jene beschenkt, die nicht bedauern zu warten. (10) Deswegen sagt der heilige Apostel Jakob in seinem Brief: „Siehe, der Bauer erwartet die wertvolle Frucht der Erde geduldig ertragend, daß sie den Frühregen und den Spätregen empfange.“ Und alle unsere Mühen kommen, so wir ihre Ursprünge sorgfältig betrachten, sozusagen aus der Unkenntnis der Benützung der Zeit. (11) Ich sage: „da es mir [richtig ] scheint zu warten, lege ich nieder“, d. h. werde ich bleiben lassen, „meinen süßen Stil“, d. h. meine Art, die ich von der Liebe sprechend benützt habe; und ich erkläre, von jenem „Wert“ zu sprechen, aufgrund dessen der Mensch wahrhaftig höflich ist. Da man „Wert“ auf mehrere Weisen verstehen kann, wird „Wert“ hier als Vermögen der Natur genommen, oder besser, als von jener gegebene Güte, wie man weiter unten sehen wird. (12) Und ich verspreche, diesen Stoff mit herbem und feinem Reim zu behandeln. Man muß wissen, daß man „Reim“ zweifach verstehen kann, d. h. in einem weiten und in einem engen [Sinn]: Im engen Sinn meint man damit jene Übereinstimmung, die man in der letzten und zweitletzten Silbe zu machen pflegt; im weiten Sinn meint man das gesamte Sprechen, das in Zahl und Zeit geregelt in gereimtem Zusammenklang endet, und so wird es hier in diesem Proömium aufgefaßt und verstanden. (13) Und es heißt herb bezüglich des Klangs des Gesagten, der bei soviel Stoff nicht linde sein darf; und es heißt fein bezüglich der Aussage der Worte, die vorsichtig argumentierend und darlegend vorgehen. (14) Und



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ich füge hinzu: Das falsche und niederträchtige Urteil jener wider­ legend, wo nochmals versprochen wird, das Urteil von Menschen voller Fehler zu widerlegen; falsch, d. h. von der Wahrheit entfernt, und niederträchtig, d. h. von der Feigheit des Geistes bestätigt und bekräftigt. (15) Und es ist zu beachten, daß in diesem Proömium zuerst versprochen wird, das Wahre zu behandeln und danach das Falsche zu widerlegen, und in der Abhandlung wird das Gegenteil getan: Denn zuerst wird das Falsche widerlegt und danach wird vom Wahren gehandelt: Das scheint dem Versprechen nicht zu entsprechen. Aber man muß wissen, daß alles, was sich auf das eine oder das andere bezieht, sich vor allem darauf bezieht, das Wahre zu behandeln; und das Falsche zu widerlegen ist insofern beabsichtigt, als dadurch die Wahrheit deutlicher erscheint. (16) Und hier wird zuerst versprochen, vom Wahren zu handeln, insofern dies das hauptsächlich Beabsichtigte ist, das der Seele der Hörer den Wunsch zu hören bringt: In der Abhandlung wird zuerst das Falsche widerlegt, auf daß, nachdem die üble Meinung geflohen ist, die Wahrheit dann um so freier empfangen werde. Und an diese Vorgehensweise hielt sich der Lehrer der menschlichen Vernunft Aristoteles, der immer zuerst mit den Gegnern der Wahrheit gerungen hat und danach, nachdem diese besiegt waren, die Wahrheit zeigte. (17) Zum Schluß, wenn ich sage: Und beginnend rufe ich jenen Herrn, rufe ich die Wahrheit an, die jener Herr ist, der in den Augen, d. h. in den Beweisen der Philosophie wohnt, damit sie mit mir sei, und zu Recht ist sie Herr, denn auf sie hingeordnet ist die Seele eine Frau, und in den anderen Fällen ist sie eine Dienerin ohne jede Freiheit. (18) Und der Text sagt: Auf daß sie sich in sich selbst verliebt, damit sich diese Philosophie, die, wie im vorangehenden Buch gesagt worden ist, verliebter Gebrauch des Wissens ist, selbst betrachte, wenn ihr die Schönheit ihrer Augen erscheint; was nichts anderes besagt, als daß die philosophierende Seele nicht nur die Wahrheit selbst beschaut, sondern

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daß sie auch ihre Schau selbst beschaut und deren Schönheit, indem sie sich auf sich selbst zurückwendet und sie sich aufgrund der Schönheit ihres ersten Schauens in sich selbst verliebt. Und so endet das, was der Text der vorliegenden Ausführung einleitend in drei Gliedern bringt. •

iii. Nachdem wir die Aussage des Proömiums gesehen haben, müssen wir uns der Abhandlung zuwenden; und um diese besser darzustellen, muß sie in ihre Hauptteile aufgeteilt werden, die drei sind: Im ersten wird den Meinungen anderer entsprechend von der Edelkeit gehandelt; im zweiten wird der eigenen Meinung entsprechend davon gehandelt; im dritten wendet sich das Sprechen der Kanzone zu, um das, was gesagt worden ist, ein wenig auszuschmücken. (2) Der zweite Teil beginnt: Ich sage, daß jede Tugend ursprünglich. Der dritte beginnt: Gegen die Herumirrenden, meine [Kanzone], wirst du angehen. Und nebst diesen drei allgemeinen Teilen sind weitere Unterteilungen vorzunehmen, um dem Konzept, das zu zeigen beabsichtigt ist, gerecht zu werden. (3) Deshalb wundere sich niemand, wenn mit Hilfe vieler Unterteilungen vorgegangen wird, denn ein großes und erhabenes Werk haben wir gegenwärtig in den Händen und einen von den Autoren wenig beachteten [Gegenstand], und lang hat die Abhandlung zu sein und vorsichtig, in die man nun durch mich einsteigt, um den Text vollständig zu entschlüsseln, entsprechend der Aussage, die er enthält. (4)  Ich sage also, daß dieser erste Teil jetzt in zwei geteilt wird: Denn im ersten werden die Meinungen anderer vorgestellt, im zweiten werden diese widerlegt; und dieser zweite Teil beginnt: Wer definiert: „Der Mensch ist beseeltes Holz“. (5) Weiter hat der verbleibende erste Teil ebenfalls zwei Glieder: Das erste ist die Erzählung der Meinung des Kaisers; das zweite ist die Erzählung der Meinung der vulgären Menschen, die jeder Vernunft bar sind. Und dieses zweite Glied beginnt: Und es war



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ein anderer leichteren Wissens. (6) Ich sage also: Ein gewisser Kaiser, d. h. jener hatte das kaiserliche Amt inne: Hier muß man wissen, daß Friedrich von Hohenstaufen, der letzte Kaiser der Römer – letzter sage ich hinsichtlich der gegenwärtigen Epoche, unabhängig davon, daß Rudolf [von Habsburg ], Adolf [von Nassau] und Albrecht [von Habsburg ] nach seinem Tod und nach dem Tod seiner Nachkommen gewählt worden sind – gefragt, was Höflichkeit sei, geantwortet hat, sie sei alter Reichtum und gute Sitten. (7) Und ich sage, war ein anderer leichteren Wissens: Denn diese Definition in jedem ihrer Teile bedenkend und hin und her wendend, entfernte er das letzte Teilchen, d. h. die schönen Sitten, und hielt sich an das erste [Teilchen], d. h. an den alten Reichtum; und entsprechend dem scheinbar zweifelnden Text definierte er, vielleicht weil er keine guten Sitten hatte, aber den Namen der Höflichkeit nicht verlieren wollte, diese dem entsprechend, was sie für ihn ausmachte, d. h. Besitz von altem Reichtum. (8) Und ich sage, daß dies die Meinung beinahe aller ist, wenn ich erkläre, daß diesem beinahe all jene folgen, die jemanden höflich machen, weil er von seit alters her reichen Vorfahren abstammt, da doch beinahe alle so heulen. (9) Diese beiden Meinungen – wobei man sich um die eine, wie bereits gesagt, überhaupt nicht zu kümmern braucht – scheinen zwei sehr starke Argumente zur Unterstützung zu haben: Das erste besteht darin, daß der Philosoph sagt, daß das, was den meisten scheint, unmöglich gänzlich falsch ist; das zweite Argument ist die Autorität der Definition des Kaisers. (10) Und damit man im Folgenden die Kraft der Wahrheit besser erkenne, die jede Autorität übertrifft, beabsichtige ich darzulegen, wie unterstützend und kräftig das eine und das andere dieser Argumente ist. Und zuerst ist, da man die kaiserliche Autorität nicht kennen kann, so man nicht ihre Wurzeln wiederfindet, darüber in einem eigenen Kapitel mit Bedacht zu handeln. •

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iv.  Das tiefste Fundament der kaiserlichen Herrschaft ist der Wahrheit entsprechend die Notwendigkeit der menschlichen Gemeinschaft, die auf ein Ziel hin geordnet ist, d. h. auf das glückliche Leben; niemand ist für sich selbst fähig, ohne die Hilfe anderer dahin zu gelangen, denn der Mensch hat viele Dinge nötig, denen einer allein nicht Genüge tun kann. Und deshalb sagt der Philosoph, daß der Mensch von Natur aus ein gemeinschaftliches Lebewesen ist. (2)  Und so wie ein einzelner Mensch für sein Auskommen nach der vertrauten Gemeinschaft der Familie verlangt, so verlangt ein Haus für sein Auskommen nach einer Nachbarschaft: Andernfalls würden viele Mängel bestehen bleiben, die eine Behinderung des Glücks wären. Aber weil eine Nachbarschaft sich selbst nicht in allem genügen kann, muß es für ihr Auskommen die Stadt geben. Weiter braucht die Stadt für ihre Handwerke und für ihre Verteidigung Verbindung und Verbrüderung mit den sie umgebenden Städten; und deshalb wurde das Königreich geschaffen. (3) Da aber der menschliche Geist sich mit einem begrenzten Besitz von Land nicht zufrieden gibt, sondern immer nach dem Ruhm der Eroberung verlangt, wie wir aufgrund der Erfahrung sehen, kommt es zwischen einem Königreich und dem anderen zu Unstimmigkeiten und Kriegen, die für die Städte Not bedeuten, und durch die Städte für die Nachbarschaft und durch die Nachbarschaft für die Häuser und durch die Häuser für den Menschen; und so wird das Glück behindert. (4) Um diese Kriege und ihre Ursachen wegzuschaffen, ist es also notwendig, daß die ganze Erde und alles, was der menschlichen Gattung zum Besitz gegeben ist, eine Monarchie ist, d. h. ein einziger Herrschaftsbereich, und ein einziger Herrscher; dieser hält, da er alles besitzt und nicht mehr wünschen kann, die Könige zufrieden in den Grenzen ihrer Königreiche, so daß zwischen ihnen Frieden herrscht, in dem die Städte ruhen, in dieser Ruhe lieben sich die Nachbarschaften, und in dieser Liebe gehen die Häuser all ihren Bedürfnissen nach, welche erfüllt, der



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Mensch glücklich lebt; was das ist, wofür er geboren ist. (5) Und diesen Argumenten können die Worte des Philosophen aus der Politik hinzugefügt werden, denn wenn mehrere Dinge auf ein Ziel hingeordnet sind, muß eines regelnd sein oder besser herrschend und alle anderen beherrscht und geregelt. So wie wir bei einem Schiff beobachten, daß seine verschiedenen Ämter und seine unterschiedlichen Ziele auf ein einziges Ziel hingeordnet sind, d. h. ihren gewünschten Hafen auf unbeschwertem Weg erreichen: Wo, so wie jeder Tätige die eigene Tätigkeit auf das eigene Ziel hinordnet, einer ist, der alle diese Ziele bedenkt und diese auf das letzte all dieser Ziele hinordnet; und dies ist der Steuermann, dessen Stimme alle gehorchen müssen. (6) Dies sehen wir bei den religiösen Orden, bei den Armeen und bei all jenen Dingen, die, wie gesagt worden ist, auf ein Ziel hingeordnet sind. Woraus man offenkundig erkennen kann, daß zur Vervollkommnung der universalen Verbindung der menschlichen Gattung einer notwendig ist, sozusagen ein Steuermann, der, die unterschiedlichen Verfaßtheiten der Welt bedenkend, beim Ordnen der verschiedenen und notwendigen Ämter das universale und in keiner Weise ablehnbare Amt des Befehlens hat. (7)  Und dieses Amt heißt ohne jeden Zusatz aufgrund seiner Erhabenheit Imperium, weil es das Befehlen aller anderen Befehle ist. Und so wird, wer in diese Aufgabe eingesetzt ist, Imperator genannt, denn er ist es, der alle anderen Befehle erteilt und das, was er sagt, ist allen Gesetz und muß von allen befolgt werden, und jeder andere Befehl nimmt von dem seine Kraft und Autorität. Und so zeigt sich, daß die kaiserliche Herrschaft und Autorität die höchste der menschlichen Gemeinschaft ist. (8) Tatsächlich könnte jemand spitzfindig einwenden, daß, obwohl die Welt des Amtes des Imperiums bedarf, dies die Autorität des römischen Fürsten vernünftigerweise nicht zur höchsten macht, was doch zu beweisen die Absicht ist; denn die römische Macht wurde weder durch Recht noch aufgrund eines Dekrets einer universalen Zusammenkunft erlangt, son-

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dern durch Gewalt, die dem Recht entgegengesetzt zu sein scheint. (9)  Dem kann man leicht antworten, daß die Wahl dieses höchsten Amtsträgers zuallererst von jenem Rat auszugehen hat, der für alle vorsieht, d. h. Gott; andernfalls wäre die Wahl nicht für alle gleich gewesen; denn, vom genannten Amtsträger abgesehen, beabsichtigte niemand das Wohl aller. (10) Und weil nie eine lieblichere Natur am Herrschen war noch eine stärkere im Erhalten und eine vorsichtigere im Erobern, noch es je sein wird, als jene des Geschlechts der Latiner – wie man aufgrund der Erfahrung sehen kann – und vor allem jenes heiligen Volkes, dem das erhabene trojanische Blut beigemischt ist, d. h. Rom, deshalb hat Gott dieses [Geschlecht] zu jenem Amt erwählt. (11) Da man aber nicht ohne größte Tugend in den Besitz [dieses Amtes] gelangen konnte und seine Nutzung größte und menschlichste Güte verlangte, war dies jenes Volk, das hierzu am besten veranlagt war. Deswegen wurde [dieses Amt] vom römischen Geschlecht nicht an erster Stelle durch Gewalt erlangt, sondern aufgrund göttlicher Vorsehung, die über jedem Recht steht. Und damit stimmt Vergil überein, wenn er im ersten Buch der Aeneis in der Person Gottes sprechend sagt: „Diesen – d. h. den Römern – setze ich weder in den Dingen noch in der Zeit ein Ende; ihnen habe ich ein Imperium ohne Grenze gegeben.“ (12) Die Gewalt war also nicht die bewegende Ursache, wie ein spitzfindiger Gegner glaubte, sondern instrumentale Ursache, so wie die Hammerschläge Ursache des Messers sind und die Seele des Schmiedes die wirkende und bewegende Ursache ist; und so stand nicht Gewalt, sondern Recht, mehr noch göttliches, am Anfang des römischen Imperiums. (13) Und daß es sich so verhält, kann man aufgrund zweier überaus offensichtlicher Argumente erkennen, die zeigen, daß jene kaiserliche Stadt von Gott her einen besonderen Ursprung und von Gott her besonderen Fortschritt hat. (14) Aber da man dies in diesem Kapitel nicht ohne zuviel Länge behandeln könnte und lange Kapitel Feinde des Gedächtnisses sind,



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werde ich ein weiteres Kapitel einschieben, um die berührten Argumente zu beweisen; was nicht ohne Nutzen und große Freude geschehe. •

v. Es ist kein Wunder, wenn die göttliche Vorsehung, die die Aufmerksamkeit der Engel und der Menschen ganz und gar übertrifft, für uns oft verborgen wirkt, wo doch häufig selbst die menschlichen Handlungen ihre Absicht vor den Menschen verstecken; aber man muß sich sehr wundern, wenn die Wirkungen des immerwährenden Ratschlusses mit unserer Vernunft derart offenkundig übereinstimmen. (2)  Deshalb kann ich zu Beginn dieses Kapitels mit Salomon sprechen, der in der Person der Weisheit in seinen Sprüchen sagt: „Hört, denn ich muß von großen Dingen sprechen.“ (3)  Da die unermeßliche göttliche Güte das menschliche Geschöpf, das durch die Sünde der Pflichtverletzung des ersten Menschen von Gott getrennt und verformt war, wieder an sich binden wollte, wurde in jenem höchsten und verbundensten Rat der Dreieinigkeit beschlossen, daß der Sohn Gottes auf die Erde niedersteige, um diesen Einklang zu schaffen. (4)  Und weil [zum Zeitpunkt] seiner Herabkunft in die Welt nicht nur der Himmel, sondern auch die Erde in bester Verfassung sein mußte; und weil die beste Verfassung der Erde dann besteht, wenn diese eine Monarchie ist, d. h. sie ganz auf einen Fürsten [ausgerichtet] ist, wie oben gesagt worden ist; deshalb wurde von der göttlichen Vorsehung jenes Volk und jene Stadt eingesetzt, die dies erfüllen mußte, d. h. das ruhmreiche Rom. (5)  Und weil auch der Gasthof, in den der himmlische König eintreten mußte, großartig und überaus sauber zu sein hatte, wurde ein allerheiligster Stammbaum eingerichtet, aus dem nach vielen Verdiensten eine alle anderen übertreffende Frau hervorging, die das Zimmer des Sohnes Gottes zu sein hatte: Und dieser Stammbaum war jener des David, von dem die Freude und die Ehre des menschlichen Geschlechts abstammt,

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d. h. Maria. (6) Und deshalb steht bei Jesaia: „Es wird ein Reis hervorgehen aus der Wurzel Jesse, und eine Blüte wird aus seiner Wurzel aufgehen“; und Jesse war der Vater des genannten David. Und all dies geschah im selben Zeitraum, daß David geboren wurde und Rom entstand, d. h. daß Aeneas von Troja nach Italien gelangte, was der Ursprung der Stadt Rom war, wie es die Schriften beweisen. Weswegen die göttliche Erwählung des römischen Imperiums genügend offenkundig ist, aufgrund der Geburt der heiligen Stadt, die gleichzeitig war mit der Wurzel des Stammes Mariens. (7) Und nebenbei ist darauf hinzuweisen, daß der Himmel, seit er sich zu drehen begonnen hat, nie in einer besseren Verfassung gewesen ist als damals, als von dort oben jener herabstieg, der ihn gemacht hat und der ihn beherrscht; was auch die Mathematiker aufgrund der Kraft ihrer Künste noch immer errechnen können. (8)  Nie war die Welt derart vollkommen geordnet, noch wird sie es je wieder sein, wie damals, als man auf Befehl eines einzigen hin, Fürst des römischen Volkes und dessen Herrscher, gehorchte, wie es Lukas bezeugt. Und weil damals überall ein universaler Friede herrschte, wie er zuvor nicht war und in Zukunft nicht sein wird, eilte das Schiff der menschlichen Gemeinschaft auf angenehmem Weg geradewegs auf den richtigen Hafen zu. (9) Ach unaussprechliche und unfaßbare Weisheit Gottes, die du dich bezüglich deiner Ankunft zum selben Zeitpunkt dort in Syrien und hier in Italien so viel früher vorbereitet hast! Und ihr dümmstes und niedrigstes Viehzeug, die ihr nach Menschenart weidet, die ihr euch anmaßt, gegen unseren Glauben zu sprechen, und die ihr, Wolle spinnend und den Acker umgrabend, wissen wollt, was Gott, was soviel Klugheit geordnet hat. Seid verflucht und eure Anmaßung und wer an euch glaubt! (10) Und wie oben am Ende des vorangehenden Kapitels gesagt worden ist, hatte [die Stadt Rom] nicht nur einen besonderen Ursprung, sondern auch eine besondere Geschichte von Gott her; kurz, von Romulus beginnend, der ihr erster Vater



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war, bis zu ihrem vollkommensten Alter, d. h. zur Zeit ihres besagten Imperators, nahm ihre Geschichte nicht aufgrund menschlicher, sondern göttlicher Handlungen ihren Lauf. (11)  Denn wenn wir die sieben ersten Könige betrachten, die sie zuerst lenkten, d. h. Romulus, Numa, Tullo, Anco und die tarquinischen Könige, die sozusagen Richter und Vormunde ihrer Kindheit waren, so werden wir in den Schriften der römischen Geschichte, vor allem bei Titus Livius finden, daß jene von unterschiedlicher Natur waren, der Zweckmäßigkeit der voranschreitenden Zeit entsprechend. (12) Wenn wir diese anschließend in ihrer fortgeschrittenen Jugend betrachten, als sie von der königlichen Vormundschaft befreit wurde, von Brutus, dem ersten Konsul, bis zu Caesar, dem ersten obersten Fürsten, werden wir sie nicht durch menschliche Bürger hervorgehoben finden, sondern durch göttliche, in die nicht menschliche, sondern göttliche Liebe eingehaucht war, sie zu lieben. Und diese konnte und durfte nicht sein, außer aufgrund eines besonderen, von Gott mit soviel himmlischem Einfluß beabsichtigten Zieles. (13) Und wer wollte sagen, daß Fabritius ohne göttliche Eingebung eine beinahe unendliche Menge Gold ablehnte, weil er sein Vaterland nicht verlassen wollte? Curius, den die Sanniter zu verderben suchten, lehnte mit Rücksicht auf das Vaterland eine riesige Menge Gold ab, indem er sagte, daß die Bürger Roms nicht das Gold, sondern die Besitzer des Goldes besitzen wollen? Und Mutius, der seine eigene Hand verbrannte, weil der Schlag, den er zur Befreiung Roms ersonnen hatte, gescheitert war? (14) Wer würde von Torquatus, der aus Vaterlandsliebe seinen Sohn zum Tod verurteilte, sagen, daß er dies ohne göttlichen Beistand ertragen hat? Und ebenso der genannte Brutus? Und von den Deciern und Drusiern, die ihr Leben für das Vaterland hingaben? Und vom gefangenen Regulus, der, von Karthago nach Rom geschickt, um die gefangenen Karthager gegen sich selbst und die anderen gefangenen Römer auszulösen, nachdem die Gesandtschaft sich zurückgezogen hatte, aus

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Liebe zu Rom gegen sich selbst stimmte, wer würde von ihm sagen, daß er nur von menschlicher und nicht von göttlicher Natur getrieben wurde? (15)  Und Quintius Cincinnatus, der zum Herrscher erhoben und vom Pflug weggeholt worden war und nach Ablauf der Zeit seines Amtes dieses freiwillig ablehnte und zum Pflug zurückkehrte? Und von Camillus, der, gebannt und ins Exil gejagt, zurückkehrte, um Rom von seinen Feinden zu befreien, und nach seiner Befreiung freiwillig ins Exil zurückkehrte, um die Autorität des Senats nicht zu verletzen, wer würde von ihm sagen, er sei ohne göttliche Anstiftung? (16)  Ach heiligste Brust des Cato, wer könnte sich anmaßen, von dir zu sprechen? Besser kann man von dir nicht sprechen als schweigend und es Hieronymus gleichtun, der im Vorwort zur Bibel, dort wo er von Paulus handelt, sagt, daß es besser ist zu schweigen, als wenig zu sagen. (17) Nachdem das Leben dieser und der anderen göttlichen Bürger in Erinnerung gerufen ist, muß gewiß und offenkundig sein, daß diese vielen wunderbaren Handlungen nicht ohne das Licht der göttlichen Güte, das ihrer guten Natur hinzugefügt worden ist, gewesen sind; und es muß offenkundig sein, daß diese Hervorragenden Werkzeuge gewesen sind, mittels derer die göttliche Vorsehung im römischen Imperium zu Werke ging, wo häufig der Arm Gottes anwesend scheint. (18) Und legte Gott nicht von Beginn selbst Hand an in der Schlacht der Albaner mit den Römern um die Herrschaft im Königreich, als ein einziger Römer die Freiheit Roms in der Hand hatte? Legte nicht Gott selbst Hand an, als die Franken, ganz Rom eingenommen, diebisch in der Nacht Campidoglio einnahmen und nur die Stimme einer Gans darauf aufmerksam machte? (19) Und legte nicht Gott selbst Hand an, als die Römer das Land verlassen wollten, nachdem wegen des Krieges mit Hannibal so viele Bürger verloren waren, daß drei Scheffel Ringe nach Afrika geschafft wurden, wenn dieser gesegnete Scipio der Jüngere aufgrund seiner Kühnheit nicht den Zug nach Afrika unternommen hätte? Und legte nicht Gott



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Hand an, als ein neuer Bürger von kleiner Statur, d. h. Cicero, gegen einen so mächtigen Bürger wie Catilina die römische Freiheit verteidigte? (20) Ja gewiss. Weswegen man nicht weiter fragen muß, um zu sehen, daß ein besonderer Ursprung und eine besondere Geschichte, von Gott ersonnen und geordnet, der heiligen Stadt eigen sind. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Steine, die ihre Mauern bilden, und der Boden, auf dem sie sich erhebt, über das hinaus, was die Menschen sagen und für richtig befinden, der Ehrbezeugung würdig sind. •

vi.  Oben, im dritten Kapitel dieses Traktats, ist versprochen worden, von der Erhabenheit der kaiserlichen und der philosophischen Autorität zu handeln; und deshalb muß ich nun, nachdem von der kaiserlichen gehandelt worden ist, mit meiner Ausführung fortfahren und meinem Versprechen entsprechend jene des Philosophen betrachten. (2) Und hier ist zuerst zu betrachten, was dieser Begriff bedeutet, denn hier besteht ein größerer Bedarf, dies zu wissen, als oben, anläßlich der Behandlung der kaiserlichen [Autorität], die aufgrund ihrer Majestät nicht anzweifelbar scheint. (3) Man muß also wissen, daß „Autorität“ nichts anderes ist als „Handlung des Autors“. Dieser Begriff, d. h. „Autor“ ohne den dritten Buchstaben C, kann von zwei Ursprüngen abstammen: Der eine geht auf ein Verb zurück, das im Latein sehr aus dem Gebrauch gekommen ist und soviel bedeutet wie „Worte verbinden“, d. h. „auieo“. Und wer das Verb in der ersten Person genau betrachtet, wird sehen, daß es selbst dies anzeigt, denn es ist nur aus einer Wortverbindung gemacht, d. h. ausschließlich aus den fünf Vokalen, die die Seele und die Verbindung jedes Wortes sind, und aus ihnen ist es auf unbeständige Weise zusammengesetzt, um das Bild der Verbindung darzustellen. (4) Denn mit dem A beginnend, wendet es sich darauf dem U zu und kommt dann direkt vom I zum E, wo es umkehrt und schließlich zum O zurückgeht; so

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daß es tatsächlich diese Figur abbildet: A, E, I, O, U, was die Figur der Verbindung ist. Und insofern „Autor“ von diesem Verb abstammt und herkommt, wird es nur für die Dichter verwendet, die ihre Worte mit der Kunst der Musik verbunden haben: Und diese Bedeutung ist gegenwärtig nicht gemeint. (5) Der andere Ursprung, von dem „Autor“ herstammt, ist, wie Huguccio zu Beginn seiner Derivationes bezeugt, ein griechisches Wort, das „autentin“ lautet, was auf lateinisch soviel bedeutet wie „des Vertrauens und des Gehorsams würdig“. Und so wird dieses „Autor“, das davon abstammt, für jede Person verwendet, die würdig ist, daß man ihr glaubt und gehorcht. Und davon stammt dieser Begriff, der gegenwärtig behandelt wird, d. h. „Autorität“; woraus man ersehen kann, daß „Autorität“ soviel bedeutet wie „Handlung, die des Vertrauens und des Gehorsams würdig ist“. Weswegen, wenn ich beweise, daß Aristoteles des Vertrauens und Gehorsams überaus würdig ist, offenkundig ist, daß seine Worte höchste und erhabenste Autorität sind. (6) Daß Aristoteles des Vertrauens und des Gehorsams überaus würdig ist, kann man folgendermaßen beweisen. Unter den Handwerkern und Künstlern verschiedener Künste und Tätigkeiten, die auf eine Tätigkeit oder Kunst als Ziel ausgerichtet sind, muß jenem Künstler oder besser jenem Tätigen von allen anderen gehorcht und geglaubt werden, der als einziger das letzte Ziel aller anderen Ziele bedenkt. Deswegen muß dem Ritter der Schwertträger gehorchen, der Pferdeknecht, der Sattelknecht, der Schildknappe und alle jene Berufe, die auf die Kunst des Rittertums hingeordnet sind. (7) Und weil alle menschlichen Handlungen ein Ziel verlangen, d. h. jenes des menschlichen Lebens, auf das der Mensch hingeordnet ist, insofern er Mensch ist, muß man jenem Lehrer und Künstler, der dieses aufzeigt und bedenkt, in höchstem Maße glauben und gehorchen. Dieser ist Aristoteles: Also ist er am meisten des Vertrauens und des Gehorsams würdig. (8) Und um zu verstehen, wie Aristoteles Lehrer und Führer der menschlichen Ver-



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nunft ist, insofern sie ihre letzte Handlung beabsichtigt, muß man wissen, daß dieses unser Ziel, das jeder von Natur aus begehrt, von alters her von den Weisen gesucht wurde. Aber weil jene, die dieses [Ziel] begehren, so viele sind und beinahe alle Verlangen je verschieden sind, wobei sie allgemein doch ein einziges sind, war es sehr schwierig, jenes [Ziel] auszumachen, wo jedes menschliche Verlangen sich richtigerweise ausruht. (9) Es waren also sehr alte Philosophen, deren erster und oberster Zenon war, die entdeckten und glaubten, daß dieses Ziel des menschlichen Lebens ausschließlich die strikte Ehrlichkeit sei; strikt, d. h. ohne irgendwelche Rücksichten der Wahrheit und der Gerechtigkeit folgen, keine Schmerzen, keine Freude zeigen, für keine Leidenschaft einen Sinn haben. (10) Und sie definierten diese Ehrlichkeit folgendermaßen: „Das, was ohne Nutzen und ohne Gewinn für sich selbst vernünftigerweise zu loben ist.“ Diese und ihre Gefolgschaft wurden Stoiker genannt, und einer der ihren war jener ruhmreiche Cato, von dem zu sprechen oben nicht gewagt worden war. (11)  Es gab andere Philosophen, die anderes erkannten und glaubten als diese, und von diesen war der erste und oberste ein Philosoph, der Epikur genannt wurde; da er sah, daß jedes Lebewesen kaum geboren, sozusagen von Natur aus auf das geschuldete Ziel ausgerichtet ist, denn es flieht den Schmerz und sucht die Freude, sagte jener, dieses unser Ziel sei die Wollust [voluptade] (ich sage nicht „Willen“ [voluntade], sondern ich schreibe P), d. h. Lust ohne Schmerz. (12) Aber weil er zwischen Lust und Schmerz kein Mittelding setzte, sagte er, daß „Wollust“ nichts anderes ist als „Nichtschmerz“, wie es Cicero im ersten Buch Von den Grenzen im Guten und Bösen zu berichten scheint. Und einer von diesen, die von Epikur her Epikureer genannt werden, war der edle Römer Torquatus aus dem Geschlecht des ruhmreichen Torquatus, den ich oben genannt habe. (13) Andere gab es, und sie nahmen ihren Anfang mit Sokrates und danach von seinem Nachfolger Platon, die genauer hinschauten,

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und da sie entdeckten, daß man in unseren Handlungen im Zuviel und Zuwenig sündigen kann und sündigte, sagten sie, daß unser Handeln ohne Übermaß und ohne Mangel, gemessen mit dem von uns gewählten Mittelmaß, das die Tugend ist, dieses Ziel sei, von dem wir gegenwärtig handeln; und sie nannten es „Handeln mit Tugend“. (14) Und diese wurden Akademiker genannt, wie Platon und sein Neffe Speusipp: Sie werden dem Ort entsprechend, wo Platon studierte, eben die Akademie, so genannt; nicht nahmen sie von Sokrates ihre Bezeichnung, denn in seiner Philosophie wurde nichts positiv ausgesagt. (15) Tatsächlich haben Aristoteles mit dem Übernamen Stagirit und Zenokrates von Calcedon, sein Gefährte, aufgrund ihrer Studien und der besonderen und beinahe göttlichen Begabung, mit der die Natur Aristoteles ausgestattet hatte, dieses Ziel auf sokratische und akademische Weise gleichsam kennend, daran gefeilt und die Moralphilosophie zu ihrer Vollkommenheit geführt; und dies hat vor allem Aristoteles getan. Und weil Aristoteles damit begonnen hat, beim Disputieren auf- und abzugehen, wurden sie, d. h. er und seine Gefährten, Peripatetiker genannt, was soviel bedeutet wie „Herumgehende“. (16)  Und weil die Vollkommenheit der Moral durch Aristoteles vollendet wurde, erlosch der Name der Akademiker, und alle, die sich dieser Schule anschlossen, werden Peripatetiker genannt; und diese Leute haben heute bezüglich der Lehre in allen Teilen der Welt die Herrschaft inne, und man kann sie sozusagen eine katholische Meinung nennen. Woraus man ersehen kann, daß Aristoteles die Leute zu diesem Ziel hinweist und hinführt. Und dies war zu beweisen. (17) Woraus, alles zusammenfassend, das hauptsächlich Beabsichtigte offenkundig ist, nämlich daß die Autorität des höchsten Philosophen, die hier gemeint ist, volle Gültigkeit hat. Und diese widerspricht der kaiserlichen Autorität nicht; aber jene ist ohne diese gefährlich, und diese ist ohne jene sozusagen schwach, nicht für sich genommen, sondern wegen der Unge-



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ordnetheit der Leute, so daß beide miteinander vereinigt überaus nützlich sind und volle Gültigkeit besitzen. (18) Und deshalb steht in jenem Buch der Weisheit: „Liebt das Licht der Weisheit, ihr alle, die ihr den Völkern vorsteht“, was besagt: Es möge sich die philosophische Autorität mit der kaiserlichen vereinigen, um gut und vollkommen zu herrschen. (19) Ach ihr Ärmsten, die ihr gegenwärtig herrscht, und ach ihr Allerärmsten, die ihr beherrscht werdet! Denn keine philosophische Autorität verbindet sich mit eurer Herrschaft, weder durch eigenes Studium noch durch Rat, so daß man allen jene Worte des Predigers sagen kann: „Wehe dir, Land, dessen König ein Kind ist und dessen Fürsten am Morgen tafeln!“; und keinem Land kann man sagen, was [im Text] folgt: „Glücklich das Land, dessen König edel und deren Fürsten sich zur richtigen Zeit dem Bedarf und nicht dem Luxus entsprechend verköstigen!“ (20) Habt acht, Ihr Feinde Gottes, auf die Flanken, Ihr, die Ihr die Zügel der Herrschaften Italiens genommen habt – und ich spreche zu Euch, König Karl und König Friedrich, und zu Euch, Ihr anderen Fürsten und Tyrannen –: Und schaut, wer Euch als Berater zur Seite sitzt, und zählt, wie oft am Tag Euch dieses Ziel des menschlichen Lebens von Euren Beratern angemahnt wird! Besser wäre es für Euch, wie Schwalben niedrig zu fliegen, statt wie Hühnergeier höchste Kreise zu ziehen über den niederträchtigsten Dingen. •

vii. Nachdem gesehen worden ist, wie sehr die kaiserliche und die philosophische Autorität, die die vorgebrachten Meinungen zu unterstützen scheinen, zu verehren sind, ist auf den direkten Weg des beabsichtigten Vorgehens zurückzukehren. (2) Ich sage also, daß die letztgenannte Meinung des Volkes bereits so lange anhält, daß ohne jede andere Rücksicht, ohne Erforschung irgendeines Arguments jeder höflich genannt wird, der der Sohn oder der Neffe eines tüchtigen Mannes ist, obgleich er es keineswegs ist. Und dies ist, was der Text sagt: Und so be-

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ständig ist diese derart falsche Meinung unter uns, daß man jenen als einen höf lichen Mann bezeichnet, der sagen kann: ‚Ich war der Neffe oder der Sohn dieses Tüchtigen‘, obwohl er es mitnichten ist. (3) Deswegen ist zu bemerken, daß es eine überaus gefährliche Unterlassung ist, die schlechte Meinung Boden gewinnen zu lassen; denn wie das Unkraut sich im ungepflegten Feld vermehrt und wuchert und die Getreideähren derart bedeckt, daß, wenn man flüchtig hinschaut, das Getreide nicht vorhanden scheint und die Frucht schließlich verlorengeht, so wächst und vermehrt sich in einem Geist, der nicht gepflegt und gezüchtigt wird, die schlechte Meinung derart, daß die Ähren der Vernunft, d. h. die richtige Meinung, sich versteckt und sozusagen beerdigt verlorengeht. (4) Ach wie groß ist mein Unterfangen in dieser Kanzone, jetzt eine derartige Kleewiese, wie es die allgemeine Meinung ist, jäten zu wollen, die schon so lang von dieser Pflege verlassen ist! Gewiß, ich will sie nicht ganz reinigen, sondern nur in jenen Teilen, wo die Ähren der Vernunft nicht gänzlich überwuchert sind, d. h. ich gedenke, jene aufzurichten, in denen aufgrund ihrer guten Natur noch ein Schimmer Vernunft lebt, denn um die anderen muß man sich so sehr kümmern wie um das Vieh; denn es scheint mir kein geringeres Wunder, jenen, in dem die Vernunft gänzlich erloschen ist, zur Vernunft zurückzuführen, als jemanden ins Leben zurückzuführen, der bereits vier Tage lang im Grab gelegen hat. (5)  Nachdem die schlechte Verfassung dieser Meinung des Volkes dargelegt ist, werfe ich diese wie ein gräßliches Ding sofort aus der Ordnung der Widerlegung hinaus, indem ich sage: Im Gegenteil, niederträchtigst erscheint jenem, der die Wahrheit betrachtet, um ihre unerträgliche Schlechtigkeit zu verstehen zu geben, wenn ich sage, daß diese in höchstem Maße lügen; denn jener ist nicht nur niederträchtig, d. h. nicht höflich, der von Guten abstammend ein übles Leben führt, sondern allerniederträchtigst: Und ich führe das Beispiel des gezeigten Weges an. (6) Wo ich, um dies aufzuzeigen, eine Frage stellen und sie



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folgendermaßen beantworten muß. Da ist eine Ebene mit gewissen Wegen: Felder mit Hecken, Gräben, Geröll, Gehölz und mit beinahe allen Hindernissen außerhalb ihrer engen Wege. Es hat derart geschneit, daß der Schnee alles bedeckt und alles von gleicher Gestalt erscheint, so daß von einem Weg keine Spur zu sehen ist. (7) Da kommt einer von einer Seite des Geländes her und will zu einem Gebäude auf der anderen Seite gehen; und aufgrund seiner Anstrengung, d. h. aufgrund der Aufmerksamkeit und der Güte der Begabung, nur von sich selbst geleitet, geht er auf geradem Weg an den beabsichtigten Ort, wobei er die Spuren seiner Schritte hinter sich läßt. Es kommt nach diesem ein anderer und will zum selben Gebäude gehen, und er hat nichts zu tun, als den hinterlassenen Spuren zu folgen; und aufgrund seines Mangels verfehlt dieser den Weg, den der andere ohne Geleit zu folgen gewußt hat, und dieser Geleitete verläuft sich und irrt durch Dornen und Ruinen und gelangt nicht dahin, wo er hin muß. (8) Welcher dieser beiden ist tüchtig zu nennen? Ich antworte: Jener, der zuerst ging. Und wie ist der andere zu nennen? Ich antworte: überaus niederträchtig. Wieso wird er nicht „nicht tüchtig“, d. h. niederträchtig, genannt? Ich antworte: Weil „nicht tüchtig“, d. h. niederträchtig jener zu nennen wäre, der ohne jedes Geleit nicht richtig gelaufen wäre; aber da dieser [Hilfe] hatte, kann sein Fehler und sein Mangel sich nicht weiter steigern, und deshalb ist er nicht niederträchtig zu nennen, sondern überaus niederträchtig. (9) Und so ist jemand, der vom Vater oder von einem seiner Älteren geleitet worden ist und sich im Weg geirrt hat, nicht nur niederträchtig, sondern überaus niederträchtig, und er verdient jede Verachtung und jeden Tadel mehr als jeder andere Tölpel. Und damit der Mensch sich vor dieser gräßlichsten Niedertracht vorsehe, befiehlt Salomon jenem, der einen tüchtigen Vorfahren gehabt hat, im 22. Kapitel der Sprichwörter: „Überschreite nicht die alten Grenzen, die deine Väter gesetzt haben“; und weiter vorn im vierten Kapitel des besagten Buches sagt er:

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„Der Weg der Gerechten“, d. h. der Tüchtigen, „vollzieht sich wie glänzendes Licht und jener der Üblen ist dunkel. Sie wissen nicht, wo sie stürzen.“ (10) Schließlich, wenn gesagt wird: Und auf diesen trifft zu, daß er tot ist und auf der Erde wandelt, sage ich zu größerem Nachteil, daß dieser Niederträchtigste tot ist, während er lebend scheint. Hier muß man wissen, daß man den üblen Menschen wahrhaftig tot nennen kann, und vor allem jenen, der vom Weg seines guten Vorfahren abgegangen ist. (11) Und das kann man folgendermaßen zeigen. Wie Aristoteles im zweiten Buch von Über die Seele sagt, „ist zu leben das Sein der Lebenden“; und deswegen gibt es Leben auf viele Weisen, wie in den Pflanzen vegetativ, in den Tieren vegetativ, wahrnehmend und bewegend, in den Menschen vegetativ, wahrnehmend, bewegend und denkend oder besser intellektuell, und da die Dinge vom edelsten Teil her benannt werden müssen, ist entsprechend offenkundig, daß Leben in den Tieren Wahrnehmen ist – Vieh meine ich – und daß Leben in den Menschen darin besteht, die Vernunft zu benützen. (12)  Wenn also das Leben das Sein der Menschen ist, dann bedeutet, sich von jener Benützung zu trennen, sich vom Sein zu trennen und folglich tot zu sein. Und trennt sich nicht von der Benützung des Denkens, wer das Ziel seines Lebens nicht bedenkt? Und trennt sich nicht von der Benützung des Denkens, wer den Weg nicht bedenkt, den er zu gehen hat? Gewiß trennt er sich; und dies wird am offenkundigsten an jenem, der die Spuren vor sich hat und sie nicht beachtet. (13)  Und deshalb sagt Salomon im fünften Kapitel der Sprichwörter: „Jener stirbt, der keine Zucht hatte, und er wird in der Übermacht seiner Dummheit betrogen werden.“ Was bedeutet: Jener ist tot, der sich nicht zum Schüler gemacht hat, jener, der nicht dem Lehrer folgt; und dieser ist jener überaus Niederträchtige. (14) Jemand könnte sagen: Wie, er ist tot und geht umher? Ich antworte, daß er als Mensch gestorben und als Tier geblieben ist. Denn, wie der Philosoph im zweiten Buch von Über die Seele sagt, stehen die Vermögen der



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Seele eins über dem anderen, wie die Figur des Vierecks über jener des Dreiecks steht und das Pentagon, d. h. die fünfeckige Figur, über dem Viereck: Und ebenso steht das wahrnehmende [ Vermögen] über dem vegetativen und das intellektuelle über dem wahrnehmenden. (15) Wie also, wenn die letzte Ecke entfernt wird, vom Fünfeck ein Viereck übrigbleibt und kein Fünfeck mehr, so bleibt, wenn das letzte Vermögen der Seele, d. h. das Denken, entfernt wird, kein Mensch, sondern nur ein Ding mit einer wahrnehmenden Seele, d. h. ein Stück Vieh. Und dies ist die Aussage der zweiten Strophe der vorgenommenen Kanzone, in der die Meinungen anderer vorgelegt werden. •

viii.  Der schönste Ast, der aus der Wurzel der Vernunft aufsteigt, ist das Unterscheidungsvermögen. Denn, wie Thomas im Prolog zur Ethik sagt, „ist die Hinordnung eines Dinges zu einem anderen zu kennen, der eigentliche Akt der Vernunft“, und dies ist das Unterscheidungsvermögen. Eine der schönsten und süßesten Früchte dieses Astes ist die Achtung, die der Kleinere dem Größeren schuldet. (2) Deswegen sagt Cicero im ersten Buch von Vom pflichtgemäßen Handeln, wo er von der Schönheit spricht, die in der Ehrlichkeit aufstrahlt, daß die Achtung zu dieser gehört; und so wie diese die Schönheit der Ehrlichkeit ist, so ist ihr Gegenteil die Häßlichkeit und das Fehlen von Ehrlichkeit, welches Gegenteil in unserer Sprache Mißachtung oder besser Unverschämtheit genannt werden kann. (3)  Und deshalb sagt derselbe Cicero an ebendieser Stelle: „Vernachlässigen, was die anderen über einen sagen, ist nicht nur die Art einer überheblichen Person, sondern einer liederlichen“; was nichts anderes bedeutet, als daß es Überheblichkeit und Liederlichkeit ist, sich selbst nicht zu kennen, denn dies ist der Ursprung und das Maß jeder Achtung. (4) Weswegen ich, der ich, mit aller dem Fürsten und dem Philosophen geschuldeten Achtung, die Schlechtigkeit einiger aus dem Geist entfernen will,

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um dann das Licht der Wahrheit darüber auszugießen, ehe ich zur Widerlegung der vorgelegten Meinungen übergehe, zeigen will, daß man beim Widerlegen jener weder der kaiserlichen Majestät noch dem Philosophen gegenüber ungebührend argumentiert. (5) Denn nirgends wäre es, falls ich mich in irgend­ einem Teil dieses Buches ungebührend zeigen sollte, so unanständig wie in dieser Abhandlung; in welcher ich mich, von Edelkeit handelnd, edel und nicht tölpelhaft zeigen muß. Und zuerst werde ich zeigen, daß ich der Autorität des Philosophen gegenüber nicht anmaßend bin; danach werde ich zeigen, daß ich der kaiserlichen Majestät gegenüber nicht anmaßend bin. (6)  Ich sage also, daß wenn der Philosoph sagt: „Was den meisten scheint, ist unmöglich ganz falsch“, er nicht vom äußeren Schein zu sprechen beabsichtigt, d. h. dem wahrnehmbaren, sondern vom inneren, d. h. dem vernünftigen; denn die wahrnehmbare Erscheinung wird von den meisten Leuten häufig sehr falsch [wahrgenommen], vor allem bei den gemeinen Wahrnehmbaren, wo die Wahrnehmung oft getäuscht wird. (7) So wissen wir, daß der Durchmesser der Sonne den meisten Leuten so breit wie ein Fuß scheint, und doch ist dies überaus falsch. Denn gemäß der Erforschung und der Entdeckung, die die menschliche Vernunft gemeinsam mit ihren anderen Künsten vorgenommen hat, entspricht der Durchmesser des Sonnenkörpers fünfeinhalb mal jenem der Erde; da die Erde in ihrem Durchmesser 6500 Meilen mißt, beträgt der Durchmesser der Sonne, der der wahrnehmbaren Erscheinung gemäß die Maße eines Fußes hat, 35 750 Meilen. (8) Woraus offenkundig ist, daß Aristoteles nicht von der wahrnehmbaren Erscheinung gehandelt hat; und deswegen handle ich, wenn ich nur die wahrnehmbare Erscheinung zu widerlegen beabsichtige, nicht gegen die Absicht des Philosophen und deswegen verletzte ich auch die Achtung nicht, die man ihm schuldet. Und daß ich die wahrnehmbare Erscheinung zu widerlegen beabsichtige, ist offenkundig. (9) Denn jene, die so urteilen, urteilen nur aufgrund



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dessen, was sie von diesen Dingen wahrnehmen, die der Zufall geben oder nehmen kann; denn, weil sie sehen, wie in erlesenen Ehen Verwandtschaften gebildet, wunderbare Gebäude, ausgedehnte Besitztümer und große Herrschaften angehäuft werden, glauben sie, daß diese die Ursachen der Edelkeit sind, mehr noch glauben sie, daß die Edelkeit in diesen [Dingen] bestehe. Wenn sie aber mit der vernünftigen Erscheinung urteilen würden, würden sie das Gegenteil sagen, nämlich, daß die Edelkeit die Ursache davon sei, wie man weiter unten in dieser Abhandlung sehen wird. (10) Und so wie ich, wie man sehen kann, dies widerlegend nicht ungebührlich gegen den Philosophen spreche, so spreche ich nicht ungebührlich gegen den Kaiser: Und ich will den Grund zeigen. Doch da ein Redner, der vor einem Gegner verhandelt, in seiner Rede viel Vorsicht walten lassen muß, damit der Gegner daraus nicht das Material nehmen kann, um die Wahrheit zu trüben, deshalb kann ich, der ich in dieser Abhandlung angesichts vieler Gegner spreche, nicht leichthin sprechen; weswegen sich niemand wundere, wenn meine Ausführungen lang sind. (11) Ich sage also, daß um zu sehen, daß ich der Majestät des Kaisers gegenüber nicht unachtsam bin, zuerst zu betrachten ist, was Achtung ist. Ich sage, daß Achtung nichts anderes ist als die Bezeugung geschuldeter Unterordnung mittels eines sichtbaren Zeichens. Und nachdem dies gesehen ist, ist zwischen dem Mißachtenden und [dem Nichtachtenden] zu unterscheiden. [Der Mißachtende] meint Mangel, der Nichtachtende meint Negation. Und deshalb sage ich, ist Mißachtung die Verleugnung der geschuldeten Unterordnung mittels eines sichtbaren Zeichens und die Nichtachtung ist die Negation der geschuldeten Unterordnung. (12)  Der Mensch kann ein Ding auf zweifache Weise verneinen: Einerseits kann der Mensch verneinen und dabei die Wahrheit verletzen, wenn er es an der geschuldeten Bezeugung fehlen läßt, und dies ist tatsächlich Verleugnung; und auf eine andere Weise kann der Mensch ver-

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neinen und dabei die Wahrheit nicht verletzen, wenn er das, was nicht ist, nicht bezeugt, und dies ist tatsächlich negieren: So wie wenn der Mensch abstreitet, ganz und gar sterblich zu sein, dies, genau gesprochen, ein Negieren ist. (13)  Wenn ich also die Achtung des Kaisers negiere, bin ich deswegen nicht mißachtend, sondern ich bin nichtachtend, was nicht gegen die Achtung ist, denn diese wird nicht verletzt; so wie das Nichtleben nicht das Leben verletzt, aber der Tod, der der Mangel des [Lebens] ist, dieses verletzt. Weswegen der Tod etwas ist und das Nichtleben etwas anders; denn Nichtleben ist in den Steinen. (14) Und weil Tod Mangel meint, was nicht sein kann außer im Subjekt des Habitus, und weil die Steine nicht Subjekt des Lebens sind, müssen sie nicht „tot“ genannt werden, sondern „nichtlebend“; ebenso bin auch ich, der ich in diesem Fall dem Kaiser gegenüber keine Achtung haben muß, wenn ich verneine, nicht mißachtend, sondern ich bin nichtachtend, was weder eine Anmaßung ist noch zu tadeln. (15) Aber eine Anmaßung wäre es, achtend zu sein (wenn man das Achtung nennen könnte), denn man würde dadurch in größere und wahre Mißachtung verfallen, nämlich der Natur und der Wahrheit gegenüber, wie wir unten sehen werden. Und vor diesem Irrtum hütete sich der Meister der Philosophen Aristoteles zu Beginn der Ethik, wenn er sagt: „Wenn der Freunde zwei sind, und der eine ist die Wahrheit, dann ist der Wahrheit zuzustimmen.“ (16) Da ich gesagt habe, daß ich nichtachtend bin, was bedeutet, die Achtung zu negieren, d. h. die geschuldete Unterordnung mittels eines sichtbaren Zeichens zu negieren, ist nun tatsächlich zu betrachten, inwiefern dies negieren und nicht verleugnen ist, d. h. es ist zu betrachten, inwiefern ich in diesem Fall in keiner geschuldeten Weise der kaiserlichen Majestät untergeordnet bin. Und weil das Argument lang sein wird, will ich es sogleich in einem eigenen Kapitel darlegen. •



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ix.  Um zu sehen, daß ich in diesem Fall, d. h. beim Widerlegen oder Anerkennen der Meinung des Kaisers, ihm gegenüber nicht zur Unterordnung angehalten bin, muß man sich in Erinnerung rufen, was über das kaiserliche Amt oben im vierten Kapitel dieser Abhandlung dargelegt worden ist, nämlich daß die kaiserliche Autorität zur Vervollkommnung des menschlichen Lebens erfunden worden ist und daß diese [Autorität] zu Recht die Reglerin und Ordnerin all unserer Handlungen ist; denn so weit, wie sich unsere Handlungen ausdehnen, so weit hat die kaiserliche Majestät Rechtsgewalt, und darüber hinaus reicht sie nicht. (2) Aber so wie jede menschliche Kunst und jedes menschliche Amt vom kaiserlichen [Amt] auf festgelegte Grenzen hin beschränkt wird, so ist dieses von Gott auf eine festgelegte Grenze begrenzt: Und darüber brauchen wir uns nicht zu wundern, denn auch die Tätigkeit und die Kunst der Natur sehen wir in all ihren Handlungen begrenzt. Denn wenn wir die universale Natur von allem nehmen, dann umfaßt ihre Rechtsgewalt die ganze Welt, d. h. den Himmel und die Erde; und diese hat eine bestimmte Grenze, wie durch das dritte Buch der Physik und das erste Buch von Über den Himmel und die Erde bewiesen wird. (3) Die Rechtsgewalt der universalen Natur ist also auf eine bestimmte Grenze hin beendet – und folgerichtig auch die partielle [Natur] –; und auch ihr Begrenzer ist jener, der von nichts begrenzt wird, d. h. die erste Gutheit, die Gott ist, der allein mit der unendlichen Fähigkeit Unend­ liches begreift. (4) Und um die Grenzen unserer Handlungen zu erkennen, ist zu wissen, daß nur jene unsere Handlungen sind, die der Vernunft und dem Willen unterliegen; denn wenn in uns die verdauende Tätigkeit ist, so ist diese nicht menschlich, sondern natürlich. (5)  Und es ist zu wissen, daß unsere Vernunft auf vier verschieden zu behandelnde Handlungsweisen hingeordnet ist; denn es gibt Tätigkeiten, die sie nur bedenkt und sie nicht ausführt, noch ausführen kann, wie es die natürlichen,

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die übernatürlichen und die mathematischen Dinge sind; und Tätigkeiten, die sie bedenkt und sie in ihrem eigenen Akt begeht und die vernünftig genannt werden, wie es die Künste des Sprechens sind; und Tätigkeiten, die sie bedenkt und außerhalb ihrer selbst in der Materie vollzieht, wie es bei den mechanischen Künsten ist. (6)  Und all diese Tätigkeiten unterliegen, auch wenn das Denken über sie unserem Willen unterliegt, für sich selbst genommen nicht unserem Willen: Denn, auch wenn wir wollten, daß die schweren Dinge natürlicherweise hochsteigen, und wenn wir wollten, daß ein aus falschen Prämissen gebildeter Syllogismus die Wahrheit beweise, und wenn wir wollten, daß ein schiefes Haus ebenso fest stünde wie ein aufrechtes, so wäre dies nicht der Fall; denn wir sind eigentlich nicht die Verursacher dieser Dinge, sondern die Entdecker. Ein anderer hat sie geordnet und ein größerer Schöpfer hat sie gemacht. (7) Schließlich gibt es Tätigkeiten, die unsere [Vernunft] im Akt des Willens bedenkt, wie beleidigen und helfen oder in der Schlacht standhalten und fliehen oder wie keusch sein und ausschweifend leben, und diese [Tätigkeiten] unterliegen gänzlich unserem Willen; und deshalb werden wir in Bezug auf sie gut oder schuldig genannt, denn sie gehören ganz uns, denn soviel unser Wille erreichen kann, so weit reichen unsere Handlungen. (8) Und da in all diesen willentlichen Handlungen eine gewisse Gleichheit zu bewahren und Ungleichheit zu fliehen ist (welche Ausgeglichenheit aufgrund zweier Ursachen verloren werden kann, sei es, weil man nicht weiß, was sie ist, sei es, weil man ihr nicht folgen will), wurde das geschriebene Recht erfunden, sowohl um sie zu zeigen als auch um sie zu befehlen. Deswegen sagt Augustinus, wenn die Menschen diese – d. h. die Ausgeglichenheit – kennen würden und ihr, einmal erkannt, dienen würden, wäre das geschriebene Recht nicht notwendig; und deshalb steht zu Beginn der Alten Digesten: „Das geschriebene Recht ist die Kunst des Guten und der Ausgeglichenheit.“ (9) Dieses zu schreiben, zu zeigen und zu



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befehlen, ist dieser Beamte eingesetzt, von dem wir sprechen, d. h. der Kaiser, dem wir, soweit unsere eigenen besagten Handlungen sich erstrecken, unterworfen sind; aber darüber hinaus nicht. (10) Und aufgrund dieses Arguments sind in jeder Kunst und in jedem Beruf die Handwerker und die Lernenden dem Obersten und Lehrer in diesen jeweiligen Berufen und in dieser Kunst untergeordnet und müssen es auch sein; und außerhalb [der jeweiligen Kunst und des jeweiligen Berufes] verliert sich diese Unterordnung, weil die Herrschaft verlorengeht. So daß man vom Kaiser, wenn wir sein Amt mit einem Bild darstellen wollen, beinahe sagen kann, daß er der Reiter des menschlichen Willens ist. Wie dieses Pferd ohne Reiter durch die Felder geht, ist genügend offenkundig, vor allem im beklagenswerten Italien, das ohne jedes Mittel zu seiner Regierung geblieben ist. (11) Und es ist zu bedenken, daß je eigener ein Ding der Kunst oder dem Lehrer ist, desto größer ist in diesem Fall die Unterwerfung; denn mit der Vervielfachung der Ursache vervielfacht sich die Wirkung. Hier ist zu wissen, daß es Dinge gibt, die derart reine Künste sind, daß die Natur das Werkzeug dieser Kunst ist: Wie etwa mit Riemen rudern, wo die Kunst den Antrieb, der natürliche Bewegung ist, zum Werkzeug macht; wie beim Dreschen des Getreides, wo die Kunst die Wärme zum Werkzeug macht, die eine natürliche Qualität ist. Und in diesen [Dingen] muß man in höchstem Maß dem Obersten und Lehrer dieser Kunst untergeordnet sein. (12) Und es gibt Dinge, wo die Kunst das Werkzeug der Natur ist, und diese sind in geringerem Maße Künste, und in diesen sind die Künstler ihrem Obersten weniger untergeordnet; so wie es etwa das Säen ist (hier muß der Wille der Natur abgewartet werden), wie es das Ausfahren des Schiffes ist (hier muß das natürliche Verhalten des Wetters abgewartet werden). Und deshalb sehen wir in diesen Dingen oft Streit unter den Handwerkern und den Größeren den Kleineren um Rat fragen. (13) Andere Dinge gibt es, die

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keine Künste sind und die mit diesen eine gewisse Verwandtschaft zu haben scheinen, und hier werden die Menschen oft getäuscht; und in diesen sind die Lernenden dem Künstler oder besser dem Lehrer nicht untergeordnet, noch sind sie gehalten ihm zu glauben, was die Kunst betrifft; so wie etwa Fischen verwandt zu sein scheint mit der Schiffahrt und die Kraft der Kräuter zu kennen verwandt zu sein scheint mit der Landwirtschaft; doch haben sie keine Regel gemeinsam, denn das Fischen gehört zur Kunst der Jagd und steht unter ihrem Befehl und die Kenntnis der Kraft der Kräuter ist der Medizin untergeordnet oder einer noch edleren Lehre. (14) Ähnlich wie diese Dinge bezüglich der anderen Künste dargelegt worden sind, können sie auch bezüglich der kaiser­ lichen Kunst betrachtet werden; denn es gibt in ihr Regeln, die reine Künste sind, so wie es die Gesetze der Ehe, der Knechtschaft, des militärischen Aufgebots und der Nachfolge sind, und bezüglich diesen sind wir dem Kaiser gänzlich unterworfen ohne jeden Zweifel und Verdacht. (15) Es gibt andere Gesetze, die beinahe der Natur folgen, wie etwa festzustellen, wann der Mensch genügend alt ist, um zu handeln, und diesbezüglich sind wir nicht gänzlich unterworfen. Viele andere gibt es, die eine gewisse Verwandtschaft mit der kaiserlichen Kunst zu haben scheinen – und hier wurde getäuscht und ist es noch immer, wer glaubt, daß der kaiserliche Spruch in diesem Bereich authentisch ist –: So wie im [Definieren] der Jugend und der Höflichkeit, bezüglich welcher keinem kaiserlichen Urteil beizustimmen ist, insofern er Kaiser ist; denn das, was Gottes ist, ist Gott zurückzugeben. (16) Deswegen ist dem Kaiser Nero nicht zu glauben und nicht beizustimmen, der sagte, daß Jugend Schönheit und Kraft des Körpers sei, sondern jenem, der gesagt hat, daß die Jugend der Höhepunkt des natürlichen Lebens ist, und dieser wäre ein Philosoph. Und deshalb ist offenkundig, daß die Höflichkeit zu definieren nicht zur kaiserlichen Kunst gehört; und wenn es nicht zu dieser Kunst gehört, sind



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wir, von dieser handelnd, ihm nicht unterworfen; und wenn wir ihm nicht unterworfen [sind], sind wir nicht gehalten, ihm in dieser Sache Referenz zu erweisen: Und dies ist es, wonach wir auf der Suche waren. (17)  Weswegen jetzt mit aller Freiheit und Offenheit des Geistes die abgenutzten Meinungen in die Brust zu treffen und zu Boden zu ringen sind, auf daß die wahrhaftige [Meinung] dank meines Sieges das Feld erobere im Geist jener, dank denen dieses Licht Kraft hat. •

x.  Nachdem die Meinungen anderer über die Edelkeit angeführt sind und bewiesen ist, daß es mir zusteht, diese zu widerlegen, werde ich zur Darlegung jenes Teils gelangen, der diese widerlegt; dieser beginnt, wie oben gesagt worden ist: Wer definiert: „Der Mensch ist beseeltes Holz“. Aber man muß wissen, daß die Meinung des Kaisers, obwohl er diese mangelhaft begründet, in ihrem einen Teilchen, d. h. dort, wo er sagte schöne Sitten, das edle Benehmen streift und daß deshalb nicht beabsichtigt wird, diesen Teil zu widerlegen. (2) Das andere Teilchen, das von der Natur der Edelkeit ganz verschieden ist, zu widerlegen wird beabsichtigt; dieses [Teilchen] scheint zwei Dinge zu sagen, wenn es sagt alter Reichtum, d. h. Zeit und Schätze, die von der Edelkeit ganz verschieden sind, wie bereits gesagt worden ist und wie weiter unten bewiesen werden wird. Deshalb werden widerlegend zwei Teile gemacht: Zuerst werden die Schätze widerlegt und danach wird widerlegt, daß die Zeit Ursache der Edelkeit sei. Der zweite Teil beginnt: Nicht wollen sie, daß ein niederträchtiger Mann höf lich werde. (3)  Und man muß wissen, daß mit der Widerlegung der Schätze nicht nur die Meinung des Kaisers in jenem Teil, der von den Schätzen handelt, widerlegt ist, sondern auch gänzlich jene des Volkes, die allein auf den Schätzen gründete. Der erste Teil teilt sich in zwei: Denn im ersten Teil wird allgemein gesagt, der Kaiser habe sich in der Definition der Edelkeit geirrt; an zweiter Stelle wird der

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Grund hiervon gezeigt. Und dieser zweite Teil beginnt: Denn die Schätze können nicht. (4) Ich sage also, Wer definiert: „Der Mensch ist beseeltes Holz“, redet erstens nicht wahr, insofern er „Holz“ sagt; und dann spricht er nicht vollständig, d. h. mangelhaft, insofern er „beseelt“ sagt, ohne „vernünftig“ zu sagen, was die Differenz ist, durch die der Mensch sich vom Tier unterscheidet. (5)  Dann sage ich, daß sich auf diese Weise jener im Definieren geirrt hat, dem das Reich oblag, wobei ich nicht sage „Kaiser“, sondern „jener, dem das Reich oblag“, um zu zeigen (wie oben gesagt worden ist), daß das Festlegen dieser Dinge außerhalb des kaiserlichen Amtes liegt. Danach sage ich, jener habe sich ähnlich geirrt, der für die Edelkeit das falsche Subjekt setzte, nämlich „alter Reichtum“, und der dann zur „mangelhaften Form“ oder besser zur Differenz überging, nämlich zu „schönen Gewohnheiten“, welche nicht jede Ausformung der Edelkeit umfassen, sondern nur einen sehr kleinen Teil, wie unten gezeigt werden wird. (6) Und es ist nicht zu unterschlagen, obwohl der Text sich darüber ausschweigt, daß der Herr Kaiser in diesem Teil nicht nur in den Teilen der Definition irrte, sondern auch in der Art der Definition, obwohl er, dem zufolge, was der Ruhm über ihn verbreitet, ein großer Logiker und Kleriker gewesen ist: Denn die Definition der Edelkeit wäre weit angemessener von den Wirkungen her als von den Ursachen her vorzunehmen, denn es scheint, daß ihr der Status eines Prinzips eigen ist, das man nicht durch frühere Dinge anzeigen kann, sondern durch spätere. (7) Dann, wenn ich sage: Denn die Schätze können nicht, wie man glaubt, zeige ich, wie sie nicht Edelkeit verursachen können, denn sie sind niederträchtig; und ich zeige, daß sie diese auch nicht wegnehmen können, denn sie sind von der Edelkeit sehr getrennt. Und ich zeige, daß diese aufgrund eines größten und offensichtlichsten Mangels niederträchtig sind; und dies tue ich, wenn ich sage: Daß sie niederträchtig sind und unvollkommen, liegt auf der Hand. (8) Am Schluß schließe ich kraft des oben



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Gesagten, daß der aufrichtige Geist sich nicht aufgrund ihrer Veränderung verändert; was der Beweis des oben Gesagten ist, nämlich daß [die Schätze] von der Edelkeit getrennt sind, denn sie unterliegen nicht der Wirkung der Verbindung. Wo man wissen muß, daß, wie es der Philosoph sagt, bei allen Dingen, die irgendein Ding bewirken, dieses zuerst vollkommen in jenem Sein sein müssen; deswegen sagt er im siebten Buch der Metaphysik: „Wenn ein Ding aus einem anderen entsteht, so entsteht es aus diesem, indem es in jenem Sein ist.“ (9) Weiter ist zu wissen, daß jedes Ding, das vergeht, nach einer vorhergehenden Veränderung vergeht, und jedes Ding, das verändert wird, mit der verändernden Ursache verbunden sein muß, wie es der Philosoph im siebten Buch der Physik und im ersten Buch von Über das Werden und Vergehen sagt. Nachdem diese Dinge vorausgesetzt sind, fahre ich folgendermaßen fort und sage, daß die Schätze, wie andere meinten, keine Edelkeit verleihen können; und um zu zeigen, daß [die Schätze] einen großen Unterschied zur [Edelkeit] aufweisen, sage ich, daß [die Schätze die Edelkeit] jenem, der sie hat, nicht wegnehmen können. (10) Verleihen können [die Schätze] sie nicht, denn sie sind von Natur aus niederträchtig, und aufgrund der Niedertracht sind sie der Edelkeit entgegengesetzt. Und hier wird Niedertracht als Entartung verstanden, welche der Edelkeit entgegengesetzt ist; wobei das Gegenteil nicht Verursacher des anderen [Entgegengesetzten] ist, und es auch nicht sein kann, wegen des bereits erwähnten Grundes, der kurz dem Text angefügt wird, wenn es heißt: Denn jemand, der eine Figur malt, [bringt sie nicht zustande, wenn sie nicht sein kann]. (11)  Deswegen könnte kein Maler eine Figur darstellen, wenn er sich zuvor nicht intentional ein Derartiges machen würde, wie es die Figur sein muß. Weiter können [die Schätze] sie nicht wegnehmen, denn sie sind von der Edelkeit weit entfernt, und entsprechend dem bereits erwähnten Argument muß, was etwas verändert oder zersetzt, mit diesem verbunden sein. (12) Und deshalb folgt: Noch vermag

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den aufrechten Turm zu krümmen der Fluß, der in der Ferne fließt; was nichts anderes sagen will als die Antwort auf das zuvor Gesagte, nämlich daß die Schätze die Edelkeit nicht wegnehmen können, wobei diese Edelkeit sozusagen ein aufrichtiger Turm genannt wird und die Schätze ein Fluß, der weit entfernt fließt. •

xi. Jetzt muß nur noch bewiesen werden, inwiefern die Schätze niederträchtig sind und wie sie von der Edelkeit getrennt sind und weit entfernt von ihr; und dies wird in den zwei Teilchen des Textes bewiesen, die jetzt zu behandeln sind. Und nachdem diese ausgelegt sind, wird offensichtlich sein, was ich gesagt habe, nämlich daß die Schätze niederträchtig sind und weit entfernt von der Edelkeit; und dadurch werden die obigen Argumente gegen die Schätze vollständig bewiesen sein. (2)  Ich sage also: Daß sie niederträchtig sind und unvollkommen, liegt auf der Hand. Und um das zu belegen, was zu sagen beabsichtigt ist, muß man wissen, daß die Niedertracht eines jeden Dings von dessen Unvollkommenheit herrührt und ebenso die Edelkeit von der Vollkommenheit: Deswegen gilt, so vollkommen ein Ding ist, so edel ist es in seiner Natur; so unvollkommen es ist, so niederträchtig ist es. Und deswegen ist, wenn die Schätze unvollkommen sind, offenkundig, daß sie niederträchtig sind. (3) Und daß sie unvollkommen sind, beweist der Text kurz, wenn er sagt: Denn wie angehäuft auch immer, vermögen sie nicht zu beruhigen, vielmehr steigern sie das Verlangen; worin nicht nur ihre Unvollkommenheit offenkundig ist, sondern geradezu, daß ihre Verfassung am unvollkommensten ist und daß diese [Schätze] deshalb überaus niederträchtig sind. Und dies bezeugt Lucan, wenn er zu diesen gewandt sagt: „Ohne Kampf gingen die Gesetze zugrunde; und ihr, ihr Reichtümer, niederträchtigster Teil der Dinge, habt die Schlacht vorangetrieben.“ (4) Bündig kann man ihre Unvollkommenheit an drei Dingen offensichtlich erkennen: Erstens an ihrem unterschiedslosen



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Auftreten; zweitens an ihrem gefährlichen Anwachsen; drittens an ihrem schädlichen Besitz. Und ehe ich dies belege, ist ein Zweifel zu klären, der sich zu ergeben scheint: Denn, da das Gold, die Perlen und die Felder in ihrem Sein vollkommenste Form und vollkommensten Akt haben, scheint es nicht wahr zu sagen, sie seien unvollkommen. (5) Aber man muß wissen, daß sie, insofern sie für sich selbst bedacht werden, vollkommene Dinge sind und nicht Reichtümer, sondern Gold und Perlen; aber insofern sie auf den Besitz durch den Menschen hingeordnet sind, sind sie Reichtümer, und auf diese Weise sind sie voll von Unvollkommenheit. Denn es ist nicht unstimmig, daß ein Ding je nach Gesichtspunkt vollkommen und unvollkommen ist. (6)  Ich sage, daß man ihre Unvollkommenheit zuallererst in der Unterschiedslosigkeit ihres Auftretens bemerken kann, worin keine verteilende Gerechtigkeit aufscheint, sondern beinahe immer vollständige Ungerechtigkeit, welche Ungerechtigkeit die der Unvollkommenheit eigene Wirkung ist. (7) Denn wenn man die Weisen bedenkt, durch welche sie zustande kommen, so kann man sie in drei Weisen zusammenfassen: Denn entweder kommen sie aus reinem Zufall, so wie wenn sie ohne Absicht oder Hoffnung aufgrund einer nicht bedachten Entdeckung eintreten; oder sie kommen aus Zufall, dem das Gesetz hilft, wie etwa aufgrund von Testamenten oder wechselseitiger Nachfolge; oder sie kommen durch Zufall, der dem Gesetz hilft, wie beim erlaubten oder unerlaubten Schacher; erlaubt sage ich, wenn es sich um Handwerk, Handel oder verdienstvolles Dienen handelt; unerlaubt, sage ich, wenn es sich um Diebstahl oder Raub handelt. (8) Und in jeder dieser drei Weisen sieht man diese Ungerechtigkeit, von der ich spreche, denn häufiger zeigen sich die verborgenen Reichtümer, die man findet oder wiederfindet, den Bösewichten als den Guten; und dies ist derart offenkundig, daß man es nicht beweisen muß. Ich selbst habe den Ort gesehen auf der Flanke eines Berges in der

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Toscana, der Falterona heißt, wo der niederträchtigste Bauer der ganzen Gegend beim Hacken mehr als einen Scheffel feinster silberner Santalenen gefunden hat, die vielleicht mehr als zweitausend Jahre auf ihn gewartet hatten. (9) Und um diese Ungerechtigkeit zu erkennen, sagte Aristoteles, daß je mehr ein Mensch dem Intellekt untersteht, desto weniger untersteht er dem Zufall. Und ich sage, daß die Vermächtnisse, Legate und Geschenke häufiger den Bösewichten zukommen als den Guten; und davon will ich keine weiteren Zeugnisse geben, sondern jeder lasse sein Auge über seine Nachbarschaft schweifen, und er wird das sehen, worüber ich schweige, um niemanden anzuklagen. (10) Hätte es Gott doch gefallen, daß das, was der provenzalische Troubadour verlangte, wahr wäre, daß nämlich, wer nicht Erbe der Gutheit ist, das Vermächtnis des Besitzes verlöre! Und ich sage, daß die Schachergewinne häufiger den Bösewichten als den Guten zukommen; denn die ungerechten [Gewinne] kommen den Guten nie zu, denn sie weisen sie zurück. (11) Und welcher gute Mensch würde je mit Gewalt oder Betrug nach Gewinn streben? Das wäre unmöglich, denn allein aufgrund der Wahl der ungerechten Unternehmung wäre er nicht mehr gut. Und die gerechten [Unternehmungen] widerfahren den Guten nur selten, denn, da diese Dinge sehr viel Sorgfalt verlangen und die Sorgfalt des Guten auf größere Dinge ausgerichtet ist, ist der Gute in diesen Dingen nur selten genügend sorgfältig. (12) Woraus deutlich ist, daß diese Reich­t ümer auf jede Weise ungerecht eintreffen; und deshalb hat unser Herr sie ungerecht genannt, als er sagte: „Macht euch Freunde mit dem Geld der Ungerechtigkeit“, und er die Menschen zu Freigebigkeit bezüglich der Wohltaten, die Erzeuger von Freunden sind, aufforderte und [sie darin] bestärkte. (13) Und was für einen schönen Tausch macht jener, der von diesen unvollkommensten Dingen gibt, um vollkommenste Dinge, wie die Herzen tüchtiger Menschen, zu erhalten und zu erlangen! Diesen Tausch kann man jeden Tag machen. Gewiß ist dies ein neuer



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Handel im Vergleich mit den anderen, denn im Glauben, durch die Wohltat einen Menschen zu kaufen, werden Abertausende gekauft. (14) Und wem ist nicht noch heute Alexander der Große Erinnerung wegen seiner königlichen Wohltaten? Wem nicht noch immer der gute König von Kastilien oder der Saladin, sowie der gute Markgraf von Monferrat, der gute Graf von Toulouse und Beltram von Bornio oder Galasso von Montefeltro? Wenn man ihre Freigebigkeit erwähnt, erinnern sich nicht nur jene, die es gerne ebenso machen würden, sondern auch jene, die lieber sterben würden, als dies zu tun, gern an sie. •

xii. Wie gesagt worden ist, kann man die Unvollkommenheit der Reichtümer nicht nur an ihrem Eintreffen erkennen, sondern auch in ihrem gefährlichen Wachstum; und weil man darin ihren Mangel besser wahrnehmen kann, erwähnt der Text nur diesen, wenn er sagt, daß diese, wie angehäuft auch immer, nicht nur nicht beruhigen, sondern durstiger und andere mangelhafter und ungenügender machen. (2)  Und hier muß man wissen, daß die mangelhaften Dinge ihre Mängel auf eine Art haben können, daß sie im ersten Anblick nicht erscheinen, sondern daß sich die Unvollkommenheit unter dem Vorwand der Vollkommenheit versteckt; ebenso können sie diese derart haben, daß sie gänzlich unverborgen sind, so daß man die Unvollkommenheit offen im ersten Anblick erkennt. (3)  Und jene Dinge, die ihre Mängel zuerst nicht zeigen, sind die gefährlicheren, denn man kann sich vor ihnen oft nicht in acht nehmen; wie wir es beim Verräter sehen, der sich im Gesicht von vorne als Freund zeigt, so daß er veranlaßt, daß man ihm vertraut, und unter dem Vorwand der Freundschaft verbirgt er den Mangel der Unfreundschaft. Und auf diese Weise sind die Reichtümer in ihrem Anwachsen gefährlich unvollkommen, denn unterschlagend, was sie versprechen, bringen sie das Gegenteil. (4) Diese falschen Verräter versprechen immer, sobald

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sie eine gewisse Größe erreicht haben, dem Zusammenraffenden jede Befriedigung zu verschaffen; und mit diesem Versprechen führen sie den menschlichen Willen ins Laster des Geizes. Und deshalb nennt Boethius ihn in jenem Buch Über die Tröstung gefährlich: „O weh, wer war jener erste, der das Gewicht des verborgenen Goldes und der Steine, die sich verstecken wollten, diese wertvollen Gefahren, ausgegraben hat?“ (5) Diese falschen Verräter versprechen, wenn man genau hinschaut, jeden Durst und jedes Fehlen zu beseitigen und vollständige Sättigung und vollständige Genügsamkeit zu schaffen; und dies tun sie zu Beginn jedem Menschen gegenüber, wobei sie dieses Versprechen durch eine gewisse Menge des Wachstums bekräftigen; und dann, wenn sie zusammengetragen sind, geben und bringen sie statt Sättigung und Erfrischung den unerträglichen Durst einer fiebernden Brust; und statt der Genügsamkeit bringen sie ein neues Ziel, d. h. das Verlangen nach einer größeren Menge und damit große Angst und Sorge um das Erworbene. So daß sie in Wahrheit nicht beruhigen, sondern zu mehr Sorge führen, die man zuerst ohne sie nicht hatte. (6) Und deshalb sagt Cicero im Buch Über das Paradox, die Reichtümer verabscheuend: „Stets habe ich festgehalten, daß weder ihr Geld, noch ihre eindrücklichen Häuser, ihre Reichtümer, die Herrschaft und die Unterhaltungen, von denen sie überaus stark angezogen werden, zu den guten und wünschenswerten Dingen gehören; denn ich habe die Menschen im Überfluß dieser Dinge am meisten nach jenen [Dingen] verlangen sehen, von denen sie im Überfluß haben. Denn in keinem Moment erfüllt und stillt sich der Durst des Begehrens; nicht nur quälen sie sich im Verlangen, jene Dinge, die sie haben, anwachsen zu lassen, sondern sie haben auch die Qual der Angst, diese zu verlieren.“ (7) Und all diese Worte sind von Cicero, und so stehen sie im besagten Buch. Und zu gewichtigerem Zeugnis bezüglich dieser Unvollkommenheit siehe, was Boethius im Buch Über die Tröstung sagt: „Selbst wenn die Göttin der Reichtümer soviel austeilt, wie



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das vom Wind aufgewühlte Meer Sand, wie Sterne leuchten, das Geschlecht der Menschen wird nicht zu weinen aufhören.“ (8) Und wenn es weiterer Zeugnisse bedarf, um einen Beweis zu liefern, lasse man all das gelten, was Salomon und sein Vater gegen sie klagen; und alles, was Seneca vor allem dem Lucilius schreibt; alles, was Horaz, Iuvenal und, kurz gesagt, jeder Schriftsteller und jeder Dichter [schreibt]; und alles, was die wahrhaftige heilige Schrift gegen diese falsche Dirne, die aller Fehler voll ist, klagt; und man erinnere sich, um Glauben durch Augenschein zu haben, auch an das Leben jener, die hinter ihnen hergehen, wie sicher sie leben, wenn sie diese [Reichtümer] angehäuft haben, und wie sie sich befriedigen und ausruhen. (9) Und was anderes gefährdet täglich und tötet die Städte, die Gegenden und die einzelnen Personen so sehr, wie das, um etwas zu haben, neu Zusammengetragene? Dieses Zusammengetragene deckt neue Verlangen auf, zu deren Erfüllung man nicht gelangen kann, ohne jemandem Unrecht zu tun. Und was beabsichtigt beiderlei Recht, ich meine das kanonische und das zivile, so sehr zu ergründen, wie die Heilung der Begierde, die zugleich mit dem Anhäufen des Reichtums wächst? (10) Genügend offenkundig zeigen dies beiderlei Recht, wenn man ihre Anfänge, ich meine die Anfänge ihrer Schriften, liest. Ach wie offenkundig ist es, ja geradezu am offenkundigsten, daß diese im Anwachsen gänzlich unvollkommen sind, wenn aus ihnen nichts anderes als Unvollkommenheit entstehen kann, wie sehr sie auch angehäuft seien! Und dies ist es, was der Text sagt. (11)  Tatsächlich steigt hier im Zweifel eine Frage auf, die nicht übergangen werden darf, ohne sie vorzubringen und zu beantworten. Ein Verleumder der Wahrheit könnte sagen, daß, wenn die Reichtümer, weil sie im Wachsen Verlangen erwerben, unvollkommen und deshalb niederträchtig sind, aus demselben Grund auch die Wissenschaft unvollkommen und niederträchtig sei, in deren Erwerb das Verlangen nach dieser beständig wächst; weswegen Seneca sagt: „Selbst wenn ich mit

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einem Bein im Grab wäre, möchte ich lernen.“ (12) Aber es ist nicht wahr, daß die Wissenschaft aufgrund von Unvollkommenheit niederträchtig ist; deswegen, aufgrund der Zerstörung des Folgesatzes, ist das Wachstum des Verlangens den Reich­ tümern nicht die Ursache der Niederträchtigkeit. Daß die Wissenschaft vollkommen ist, ist offensichtlich durch den Philosophen im sechsten Buch der Ethik, der sagt, daß die Wissenschaft die vollkommene Kenntnis von Dingen ist, die gewiß sind. (13)  Auf diese Frage ist kurz zu antworten; aber zuerst ist zu sehen, ob im Erwerb der Wissenschaft das Verlangen sich ausdehnt, wie es in der Frage vorausgesetzt wird, und ob dies vernünftig ist. Weswegen ich sage, daß nicht nur im Erwerb der Wissenschaft und der Reichtümer, sondern in jedem Erwerb das menschliche Verlangen sich ausdehnt, aber je auf andere Art. (14)  Und der Grund ist dieser: Das höchste Verlangen eines jeden Dings und das zuerst von der Natur gegebene [ Verlangen] ist die Rückkehr zu seinem Ursprung. Und weil Gott der Ursprung unserer Seelen ist und der Schöpfer jener in Ähnlichkeit zu sich (wie es geschrieben steht: „Machen wir den Menschen nach unserem Bild und unserer Ähnlichkeit“), verlangt diese Seele in höchstem Maße, zu ihm zurückzukehren. (15) Und wie ein Wanderer, der einen Weg geht, den er noch nie genommen hat, jedes von weitem erblickte Haus für den Gasthof hält und entdeckend, daß dies nicht der Fall ist, seinen Glauben auf das nächste [Haus] richtet und von Haus zu Haus, bis der Gasthof kommt; so richtet auch unsere Seele, kaum daß sie in den noch nie beschrittenen Weg dieses Lebens eintritt, die Augen auf das Ziel ihres höchsten Gutes, und deshalb glaubt sie, welches Ding auch immer sie sieht, das in sich ein wenig Gut zu haben scheint, daß dieses [Ding ] jenes [höchste Gut] sei. (16) Und weil ihre Kenntnis zuerst unvollkommen ist, denn sie ist noch unerfahren und nicht belehrt, scheinen ihr kleine gute Dinge groß, und deshalb beginnt sie zuerst diese zu verlangen. Deshalb sehen wir die Kleinen in höchstem Maße nach



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einem Apfel verlangen; und später, weiter vorankommend, verlangen sie ein Vögelchen; und danach, noch später, verlangen sie schöne Bekleidung und dann das Pferd und dann eine Frau; und dann geringen Reichtum und dann großen und dann mehr. Und dies geschieht, weil man in keinem dieser Dinge das findet, was man sucht, und man glaubt, es weiter vorn zu finden. (17) Woraus man ersehen kann, daß ein Wünschenswertes vor dem anderen vor den Augen unserer Seele steht, beinahe in der Art einer Pyramide, denn das kleinste [ Wünschenswerte] verdeckt zuerst alles und es ist sozusagen die Spitze des letzten Wünschenswerten, das Gott ist, sozusagen die Basis von allem [ Wünschenswerten]. So daß, je mehr man von der Spitze gegen die Basis fortschreitet, die wünschenswerten Dinge um so größer erscheinen; und dies ist der Grund, weswegen die menschlichen Verlangen, eins um das andere erlangend, größer werden. (18) Tatsächlich verliert man diesen Weg ebenso aufgrund eines Fehlers wie die Straßen der Erde. Denn so wie es von einer Stadt zu einer anderen notwendigerweise einen besten und kürzesten Weg gibt und einen anderen, der immer länger wird (d. h. jener, der in die andere Richtung geht), und viele andere, die sich weniger entfernen und weniger nähern, so gibt es im menschlichen Leben mehrere Wege, von denen einer der wahrhaftigste ist und ein anderer der trügerischste und gewisse weniger trügerische und gewisse weniger wahrhaftige. (19) Und so wie wir sehen, daß einer am direktesten zur Stadt geht und das Verlangen stillt und nach der Anstrengung ausruht, und daß ein anderer in die Gegenrichtung geht, [das Verlangen] nie stillt und nie ausruhen kann, so geschieht es auch in unserem Leben: Der gute Wanderer gelangt an das Ziel und zur Ruhe; der irrende erreicht es nie, vielmehr schauen seine Augen unter viel Mühe des Geistes verlangend nach vorn. (20) Auch wenn dieses Argument die oben vorgebrachte Frage nicht ganz beantwortet, so eröffnet es doch der Antwort den Weg, denn es zeigt, daß nicht jedes unserer Verlangen auf dieselbe Weise

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sich ausdehnend vorgeht. Aber weil dieses Kapitel einigermaßen ausgedehnt ist, ist in einem neuen Kapitel auf die Frage zu antworten, in welchem auch die Erörterung beendet wird, die gegen die Reichtümer vorzutragen gegenwärtig die Absicht ist. •

xiii. Die Frage beantwortend, sage ich, daß man eigentlich nicht sagen kann, das Verlangen der Wissenschaft wachse, aller­d ings dehnt es sich, wie gesagt worden ist, auf eine gewisse Art aus. Denn das, was wirklich wächst, ist immer ein Einzelnes: Das Verlangen der Wissenschaft ist nicht immer ein Einzelnes, sondern es ist vielfältig, und nachdem das eine zu Ende ist, kommt das nächste; so daß, eigentlich gesprochen, ihr Ausdehnen nicht Wachstum ist, sondern eine Abfolge von kleinen Dingen zu großen Dingen. (2) Denn wenn ich danach verlange, die Prinzipien der natürlichen Dinge zu kennen, dann ist, kaum kenne ich sie, dieses Verlangen erfüllt und beendet. Und wenn ich anschließend danach verlange zu wissen, was und wie jedes dieser Prinzipien ist, so ist das ein anderes, neues Verlangen, und durch das Auftreten dieses [neuen Verlangens] wird mir die Vollkommenheit, zu der mich das erste [ Verlangen] geführt hat, nicht genommen; und dieses derartige Ausbreiten ist nicht Ursache für Unvollkommenheit, sondern für größere Vollkommenheit. Jenes Verlangen aber der Reichtümer ist eigentlich Wachstum, denn es ist immer nur eines, so daß man hier keine Abfolge sieht und keine Grenze und keine Vollkommenheit. (3) Und wenn der Gegner sagen will, daß, wie es ein Verlangen ist, die Prinzipien der natürlichen Dinge zu kennen, und ein anderes zu wissen, was sie sind, ebenso das Verlangen nach den 100 Silberstücken eines ist und ein anderes, jenes nach den 1000, so antworte ich, daß es nicht wahr ist; denn 100 ist derart Teil von 1000 und ist darauf hingeordnet, wie der Teil einer Linie auf die ganze Linie, auf welcher man mit nur einer Bewegung vorangeht, und es gibt hier keine Abfolge und keine



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Vollkommenheit der Bewegung in irgendeinem Teil. (4) Aber beim Wissen, daß es Prinzipien der natürlichen Dinge gibt, und beim Wissen, was jedes einzelne [Prinzip] ist, ist nicht das eine Teil des anderen, und sie haben eine gemeinsame Ordnung wie unterschiedliche Linien, auf welchen man nicht mit einer Bewegung vorangeht, sondern nachdem die Bewegung der einen abgeschlossen ist, folgt die Bewegung der anderen. (5) Und so wird offenkundig, daß die Wissenschaft nicht aufgrund des Verlangens der Wissenschaft unvollkommen zu nennen ist, wie es die Reichtümer aufgrund ihres [ Verlangens] sind, was die Frage voraussetzte; denn im Verlangen der Wissenschaft kommen die Verlangen sukzessiv ans Ende, und [so] kommt man zu Vollkommenheit, in jenem des Reichtums nicht. So daß die Frage geklärt ist und keinen Bestand hat. (6) Gut könnte der Gegner weiter stänkern, indem er sagt, daß, obwohl im Erwerb der Wissenschaft viele Verlangen erfüllt werden, man nie zum Letzten gelangt, was sozusagen der Unvollkommenheit jenes [Dings] ähnlich ist, das nicht an sein Ende kommt und trotzdem eines ist. (7) Auch hier wird geantwortet, daß das, was eingewendet wird, d. h. daß man nie zum Letzten gelangt, nicht wahr ist: Denn unsere natürlichen Verlangen gehen, wie im dritten Buch gezeigt worden ist, auf eine bestimmte Grenze; und das [ Verlangen] der Wissenschaft ist natürlich, so daß eine bestimmte Grenze dieses erfüllt, obwohl wegen der schlechten Marschrichtung nur wenige den Tag ausfüllen. (8) Und wer den Averroes im dritten Buch von Über die Seele versteht, lernt dies von ihm. Und deshalb sagt Aristoteles im zehnten Buch der Ethik, wo er gegen den Dichter Simonides spricht, daß „der Mensch sich so fest auf die göttlichen Dinge ausrichten muß, wie er kann“, womit er zeigt, daß unser Vermögen auf ein bestimmtes Ziel achtet. Und im ersten Buch der Ethik sagt er, daß „der Unterrichtete danach verlangt, die Gewißheit in den Dingen zu kennen, dem gemäß, was man in ihrer Natur an Gewißheit empfangen kann“: Wodurch er zeigt,

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daß man nicht nur seitens des verlangenden Menschen, sondern auch seitens des verlangten Wißbaren das Ziel erreichen muß. (9) Und deshalb sagt Paulus: „Nicht mehr wissen, als zu wissen zusteht, sondern in Maßen wissen.“ So daß, auf welche Weise auch immer man das Verlangen der Wissenschaft auffaßt, sei es allgemein, sei es einzeln, es zu Vollkommenheit gelangt. Und deshalb hat die Wissenschaft vollkommene und edle Vollkommenheit, und sie verliert ihre Vollkommenheit nicht aufgrund des Verlangens, wie die verfluchten Reichtümer. (10) Inwiefern diese in ihrem Besitz schädlich sind, ist kurz zu zeigen, denn dies ist das dritte Merkmal ihrer Unvollkommenheit. Man kann aus zwei Gründen sehen, daß ihr Besitz schädlich ist: Der eine ist, daß [die Reichtümer] Ursache von Übel sind; der andere, daß sie Beraubung von Gutem sind. Ursache des Übels sind sie, denn sie machen selbst den wachen Besitzer ängstlich und gehässig. (11) Wie groß ist doch die Angst dessen, der bei sich Reichtum wahrnimmt, unterwegs und verweilend, nicht nur im Wachen, sondern auch im Schlaf, nicht nur den Besitz zu verlieren, sondern wegen des Besitzes die Person! Nur zu genau wissen die armen Händler, die durch die Welt ziehen, daß die Blätter, die der Wind bewegt, sie zittern lassen, wenn sie Reichtümer mit sich führen; und wenn sie ohne [Reichtümer] sind, machen sie ihren Weg voller Sicherheit singend und sich amüsierend kürzer. (12) Und deshalb sagt der Weise: „Wenn ein mittelloser Reisender den Weg ginge, würde er vor den Räubern singen.“ Und dies will Lucan im fünften Buch sagen, wenn er an der Armut die Sicherheit lobt: „Ach sichere Fähigkeit des armen Lebens! Oh enge Wohnstatt und bescheidener Hausrat! Oh noch nicht erkannter Reichtum der Götter! Welchen Tempeln und welchen Mauern konnte dies geschehen, sich nicht tumultartig zu fürchten, als Caesar anklopfte?“ Und dies sagt Lucan, wenn er erzählt, wie Caesar des Nachts zum Häuschen des Fischers Amyclas gelangt, um das Adriatische Meer zu überqueren. (13) Und wieviel Haß bringt



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j­eder dem Besitzer des Reichtums entgegen, sei es aus Eifersucht, sei es aus dem Verlangen, jenen Besitz zu nehmen! Gewiß ist es viel, denn oft denkt der Sohn entgegen dem geschuldeten Erbarmen an den Tod des Vaters: Und davon können die Italiener die größte und offenkundigste Erfahrung haben, sowohl jene vom Po als auch jene vom Tiber. Und deshalb sagt Boethius im zweiten Buch seiner Tröstung: „Ganz gewiß macht der Geiz die Menschen gehässig.“ (14) Auch ist sein Besitz Beraubung von Gutem. Denn wenn man ihn besitzt, macht man keine Zuwendung, die eine Tugend ist, in der vollkommenes Gut ist, und die die Menschen prächtig und geliebt macht; was nicht geschehen kann, indem man jenen besitzt, sondern indem man davon abläßt, ihn zu besitzen. Weswegen Boethius im selben Buch sagt: „Dann ist das Geld gut, wenn es sich, als Zuwendung verwendet, in die anderen verwandelt, man es nicht mehr besitzt.“ Womit seine Niedertracht aus all seinen Merkmalen genügend offenkundig ist. (15)  Und deshalb liebt der Mensch von gesundem Verlangen und von wahrer Kenntnis den Reichtum nie, und da er ihn nicht liebt, vereinigt er sich nicht mit ihm, sondern er will immer, daß dieser weit von ihm entfernt ist, außer er ist auf einen notwendigen Dienst hingeordnet. Und dies ist vernünftig, denn das Vollkommene kann sich nicht mit dem Unvollkommenen verbinden: Deswegen sehen wir, daß sich die krumme Linie nie mit der geraden verbindet, und wenn es eine Verbindung gibt, dann besteht sie nicht von Linie zu Linie, sondern von Punkt zu Punkt. (16) Und deshalb folgt, daß der Geist, der gradlinig ist, d. h. bezüglich des Verlangens, und wahrhaftig, d. h. bezüglich der Kenntnis, sich wegen des Verlusts [der Reichtümer] nicht auflöst; so wie es der Text am Ende dieses Teils festhält. Und mittels dieser Wirkung beabsichtigt der Text zu beweisen, daß [die Reichtümer] ein Fluß sind, der weit entfernt vom aufgerichteten Turm der Vernunft, oder besser der Edelkeit, fließt; und deswegen können diese Schätze die Edelkeit jenem, der sie

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hat, nicht wegnehmen. Und auf diese Weise wird in der vorliegenden Kanzone gegen die Reichtümer argumentiert, und so werden sie widerlegt. •

xiv. Nachdem der Irrtum der anderen in jenem Teil, der sich auf die Reichtümer abstützt, widerlegt worden ist, ist er jetzt in jenem Teil zu widerlegen, der sagte, die Zeit sei die Ursache der Edelkeit, indem gesagt wird alter Reichtum. Und diese Widerlegung wird in jenem Teil unternommen, der folgendermaßen beginnt: Nicht wollen sie, daß ein niederträchtiger Mann höf lich werde. (2)  Und zuerst wird dies mit einem Argument widerlegt, das von jenen selbst stammt, die sich derart irren; danach wird zu ihrer weiteren Verwirrung auch dieses von ihnen stammende Argument zerstört: Und dies wird getan, wenn der Text sagt: Weiter folgt aus dem zuvor Gesagten. Am Ende schließt er, daß ihr Fehler offenkundig ist und daß es deshalb Zeit sei, die Wahrheit anzugehen: Und dies geschieht, wenn er sagt: Denn den im Intellekt Gesunden. (3) Ich sage also: Nicht wollen sie, daß ein niederträchtiger Mann höf lich werde. Hier muß man wissen, daß es die Meinung dieser Irrenden ist, daß man einen früher niederträchtigen Menschen nie einen höflichen Menschen wird nennen können; noch daß man einen Menschen, der der Sohn eines Niederträchtigen ist, je wird höflich nennen können. Und dadurch wird ihre eigene Aussage zerstört, wenn sie sagen, daß Zeit verlangt wird für Edelkeit, indem sie diesen Begriff „alt“ setzen; denn es ist unmöglich, im Lauf der Zeit zur Erzeugung der Edelkeit zu gelangen aufgrund des besagten, von ihnen angeführten Arguments, das ausschließt, daß ein niederträchtiger Mensch je höflich sein kann aufgrund der Werke, die er vollbringt, oder aufgrund irgendeines Zufalls, und es schließt die Veränderung vom niederträchtigen Vater zum höflichen Sohn aus. (4) Denn wenn auch der Sohn des Niederträchtigen niederträchtig ist und auch dessen Sohn Sohn eines Niederträchtigen und damit niederträchtig



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sein wird und auch dessen Sohn und so immerfort, dann würde man nie dazu gelangen zu finden, wo die Edelkeit aufgrund des Laufs der Zeit ihren Anfang nimmt. (5) Und wenn der Gegner, sich verteidigen wollend, sagen würde, daß die Edelkeit in jener Zeit beginnen wird, in der man die niedrige Herkunft der Vorfahren vergessen wird, dann antworte ich, daß sich das gegen sie selbst wendet, denn notwendigerweise wird es in diesem Fall eine Veränderung von Niedertracht zu Edelkeit von einem Menschen zum anderen geben, oder vom Vater zum Sohn, was dem widerspricht, was sie annehmen. (6) Und wenn sich der Gegner hartnäckig verteidigen würde, indem er sagte, sie gestehen zu, daß diese Veränderung eintreten könne, wenn der niedrige Stand der Vorfahren in Vergessenheit gerät, so ist es, da der Text sich nicht darum kümmert, angebracht, daß der Kommentar darauf antwortet. Und deshalb antworte ich folgendermaßen: Aus dem, was sie sagen, ergeben sich vier sehr große Unstimmigkeiten, so daß dies kein gutes Argument sein kann. (7) Die eine besteht darin, daß je besser die Natur des Menschen wäre, desto schwieriger und später das Werden der Höflichkeit wäre; – was eine sehr große Unstimmigkeit ist, denn, wie ich festgehalten habe, je besser ein Ding ist, desto mehr ist es Ursache von Gutem; und Edelkeit wird zu den guten Dingen gerechnet. (8) Und daß es sich so verhält, wird folgendermaßen bewiesen. Wenn die Höflichkeit oder besser Edelkeit, was ich als ein Ding verstehe, aus dem Vergessen entstehen würde, würde die Edelkeit umso schneller erzeugt, je vergeßlicher die Menschen wären, denn entsprechend schneller würde sich das Vergessen einstellen. Folglich, je vergeßlicher die Menschen wären, desto schneller wären sie edel; und aus dem Gegenteil [folgt], je besser ihr Gedächtnis, desto später würden sie sich edel machen. (9) Die zweite [ Unstimmigkeit] besteht darin, daß man bei keinem Ding, außer bei den Menschen, diese Unterscheidung in edel und niederträchtig vornehmen könnte; was sehr un-

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stimmig ist, denn in jeder Gattung der Dinge sehen wir das Bild der Edelkeit und der Niederträchtigkeit; weswegen wir oft von einem edlen und einem niederträchtigen Pferd sprechen oder von einem edlen Falken und einem niederträchtigen oder von einer edlen Perle und einer niederträchtigen. (10) Und daß man diese Unterscheidung nicht vornehmen könnte, wird folgendermaßen bewiesen. Wenn das Vergessen der niedrigen Vorfahren die Ursache der Edelkeit ist und es dort, wo nie Niedrigkeit der Vorfahren war, auch kein Vergessen dieser geben kann; wobei Vergessen ein Vergehen der Erinnerung ist, und man in diesen anderen Lebewesen, Pflanzen und Tieren weder Niedrigkeit noch Höhe wahrnimmt (denn sie sind nur in einer Natur und von gleichem Stand), dann kann in ihnen kein Werden von Edelkeit sein. Und ebenso auch nicht Niedertracht, denn das eine und das andere sind als Habitus oder Mangel zu sehen, die an ein und demselben Subjekt möglich sind: Und deswegen könnte es in ihnen keine Unterscheidung des einen und des anderen geben. (11) Und wenn der Gegner sagen wollte, daß man bei den anderen Dingen unter Edelkeit die Güte des Dings verstehe, sie bei den Menschen aber dafür stehe, daß es keine Erinnerung gibt an seine niedrige Herkunft, so möchte man auf soviel tierische Dummheit, wie es der Umstand darstellt, der Edelkeit der anderen Dinge die Ursache der Güte zuzugestehen und jener des Menschen das Prinzip des Vergessens, nicht mit Worten antworten, sondern mit dem Messer. (12) Die dritte [ Unstimmigkeit] besteht darin, daß in vielen Fällen das Erzeugte vor dem Erzeuger käme, was ganz unmöglich ist; und dies kann man folgendermaßen zeigen. Nehmen wir an, daß Gerhard von Cammino der Enkel des niederträchtigsten Bauern gewesen sei, der je aus der Sile und dem Cagnano getrunken hat, und daß sein Großvater noch nicht dem Vergessen anheimgefallen wäre; wer würde zu sagen wagen, daß Gerhard von Cammino ein niederträchtiger Mensch gewesen ist? Und wer würde nicht mit mir zusammen sagen, daß



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jener edel gewesen ist? Gewiß niemand, wie anmaßend auch immer er sein mag, denn er war [edel] und die Erinnerung an ihn wird ewig währen. (13) Und wenn sich das Vergessen seines niedrigen Vorfahren nicht ereignet hätte, so wie wir es angenommen haben, und er so groß an Edelkeit wäre und man die Edelkeit an ihm so deutlich sehen würde, wie man sie tatsächlich deutlich sieht, so wäre sie zuerst in ihm gewesen, noch ehe es ihren Erzeuger gegeben hätte: Und dies ist in höchstem Maße unmöglich. (14)  Die vierte [ Unstimmigkeit] besteht darin, daß ein Mensch tot für edel gehalten würde, der es lebend nicht war, was unstimmiger nicht sein könnte; und dies wird folgendermaßen gezeigt: Nehmen wir an, daß man sich zur Zeit des Dardanus an seine niedrigen Vorfahren erinnerte, und nehmen wir weiter an, daß zur Zeit des Laomedon diese Erinnerung zerstört oder dem Vergessen anheimgefallen war. Gemäß der gegnerischen Meinung war Laomedon zeit seines Lebens edel und Dardanus niederträchtig. Wir, denen die Erinnerung an ihre Vorfahren über Dardanus hinaus nicht geblieben ist, müssten dann sagen, daß der lebende Dardanus niederträchtig gewesen ist und daß er tot edel sei. (15) Und dem widerspricht nicht, daß man sagt, Dardanus sei der Sohn des Jupiter gewesen, denn dies ist eine Fabel, um die man sich, wenn man philosophisch spricht, nicht zu kümmern braucht; und selbst wenn sich der Gegner auf die Fabel stützen wollte, so zerstört das, was die Fabel verdeckt, gewiß all seine Argumente. Und so ist offenkundig, daß das Argument, wodurch das Vergessen als Ursache der Edelkeit gesetzt wird, falsch und irreführend ist. •

xv. Und nachdem die Kanzone mittels der eigenen Aussage [der Gegner] bewiesen hat, daß die Edelkeit nicht der Zeit bedarf, geht sie sofort dazu über, deren vorausgesetzte Meinung zu verwirren, auf daß von ihren falschen Argumenten kein Fleck

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im Geist bleibe, der zur Wahrheit veranlagt ist; und dies tut sie, wenn sie sagt: Weiter folgt aus dem zuvor Gesagten. (2) Hier muß man wissen, daß, wenn ein Mensch sich nicht von einem Niederträchtigen zu einem Höflichen machen kann oder wenn aus einem niederträchtigen Vater kein höflicher Sohn hervorgehen kann, wie es als ihre Meinung zuvor gesetzt worden ist, von zwei Unstimmigkeiten eine folgen muß: Die eine ist, daß es keine Edelkeit gibt; die andere ist, daß die Welt immer von mehreren Menschen [bevölkert] gewesen ist, so daß das menschliche Geschlecht nicht von einem einzelnen abstammt. Und dies kann man beweisen. (3)  Wenn Edelkeit nicht von neuem entsteht, wie es, wie schon oft gesagt worden ist, ihre Meinung will (da sie nicht in einem niederträchtigen Mensch aus ihm selbst entsteht, noch aus einem niederträchtigen Vater im Sohn), so ist der Mensch stets so, wie er geboren worden ist, und er wird so geboren, wie der Vater ist; und so hat sich dieses Hervorgehen in einer Beschaffenheit wiederholt seit dem ersten Vorfahren: Denn so wie der erste Erzeuger gewesen ist, d. h. Adam, muß das ganze Geschlecht der Menschen sein, denn von ihm bis zu den Zeitgenossen konnte sich aufgrund des besagten Arguments keine Veränderung einstellen. (4) Wenn also jener Adam edel gewesen ist, sind wir alle edel, und wenn er niederträchtig gewesen ist, sind wir alle niederträchtig; was nichts anderes bedeutet, als die Unterscheidung dieser Zustände zu beseitigen und damit diese [Zustände] zu beseitigen. Und dies besagt, daß aus dem, was vorausgesetzt worden ist, folgt, daß wir alle höf lich oder besser niederträchtig sind. (5) Und wenn dies nicht der Fall ist und dennoch gewisse Menschen edel und andere niederträchtig zu nennen sind; dann folgt aus Notwendigkeit, da ja die Veränderung von Niedertracht zu Edelkeit beseitigt worden ist, daß das Geschlecht der Menschen von verschiedenen Prinzipien herkommt, d. h. von einem edlen und einem niederträchtigen. Und dies sagt die Kanzone, wenn sie sagt: Oder daß kein Anfang war des Menschen, d. h. ein einziger:



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Sie sagt nicht „[mehrere] Anfänge“. Und dies ist überaus falsch, sowohl gemäß dem Philosophen als auch gemäß unserem Glauben, der nicht lügen kann, sowie gemäß dem alten Gesetz und der alten Überzeugung der Heiden. (6) Denn, obschon der Philosoph die Herkunft von einem ersten Menschen nicht voraussetzt, so will er doch, daß ein Wesen in allen Menschen ist, das nicht verschiedene Prinzipien haben kann; und Platon meint, daß alle Menschen von einer einzigen Idee abhängen und nicht von mehreren, was bedeutet, ihnen ein einziges Prinzip zu geben. Und zweifellos müßte Aristoteles enorm lachen, wenn er hören würde, daß man aus dem Geschlecht der Menschen zwei Arten macht, wie etwa von den Pferden und von den Eseln; Aristoteles möge mir verzeihen, aber jene, die so denken, kann man mit gutem Grund Esel nennen. (7) Daß dies gemäß unserem Glauben, der gänzlich zu bewahren ist, überaus falsch ist, zeigt sich durch Salomon, der dort, wo er die Unterscheidung zwischen sämtlichen Menschen und den Tieren vornimmt, alle [Menschen] Söhne Adams nennt; und dies tut er, wenn er sagt: „Wer weiß, ob die Geister der Söhne Adams nach oben gehen und jene der Tiere nach unten?“ (8) Und daß es gemäß den Heiden falsch wäre, belegt das Zeugnis Ovids im ersten Buch seiner Metamorphosen, wo er von der Beschaffenheit der Welt entsprechend der paganen Überzeugung oder besser [entsprechend] der Heiden handelt: „Geboren ist der Mensch“ – er sagte nicht „die Menschen“, er sagte „geboren“ und „der Mensch“ –, „sei es, daß der Künstler der Dinge diesen aus göttlichem Samen schuf, sei es, daß die junge Erde, die eben erst vom edlen, zarten und durchsichtigen Körper geschieden worden war, die Samen des gleichzeitig geborenen Himmels zurückbehielt. Sie, vermischt mit dem Wasser des Flusses, dem Sohn des Iapetos, d. h. Prometheus, gestaltete als Bild der Götter, die alles steuern.“ Wo er offenkundig voraussetzt, daß der erste Mensch ein einziger gewesen ist. (9) Deshalb sagt die Kanzone: Aber dem stimme ich nicht zu, d. h. daß es keinen Anfang von einem einzi-

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gen Menschen her gegeben hat. Und die Kanzone fügt weiter an: Und auch sie nicht, wenn sie Christen sind; und sie sagt Christen und nicht Philosophen oder besser Heiden, deren Aussagen dem auch nicht entgegenstehen; denn die christliche Aussage ist stärker, und sie ist die Zerstörerin jeder Verleumdung, Hilfe des höchsten Lichtes des Himmels, der diese erleuchtet. (10) Dann, wenn ich sage: Denn den im Intellekt Gesunden ist offenkundig, daß ihre Sprüche vergeblich sind, schließe ich, daß ihr Irrtum verwirrt ist, und sage, daß es Zeit ist, die Augen für die Wahrheit zu öffnen; dies sagt [der Text], wenn ich sage: Und will jetzt sagen, wie ich erkläre. Ich sage also, daß aufgrund des Gesagten den gesunden Intellekten offenkundig ist, daß die Sprüche der [Gegner] vergeblich sind, d. h. ohne ein Kernchen Wahrheit. Und ich sage nicht ohne Grund „gesund“. (11) Hier muß man wissen, daß man unseren Intellekt gesund und krank nennen kann; und Intellekt benutze ich für den edlen Teil unserer Seele, den man mit einem Wort „Geist“ nennen kann. Gesund kann man ihn nennen, wenn er nicht aufgrund einer Schlechtigkeit der Seele oder des Körpers in seiner Tätigkeit behindert ist; diese besteht darin, das zu erkennen, was die Dinge sind, wie es Aristoteles im dritten Buch von Über die Seele bestimmt. (12) Denn, der Schlechtigkeit der Seele entsprechend, habe ich drei gräßliche Krankheiten im Geist der Menschen gesehen. Die erste ist durch natürliche Prahlerei verursacht: Denn viele sind derart anmaßend, daß sie glauben, alles zu wissen, und deshalb bejahen sie die ungewissen Dinge als gewisse; dieses Laster tadelt Cicero überaus heftig im ersten Buch von Vom pflichtgemäßen Handeln und Thomas in der Summe gegen die Heiden, wenn er sagt: „Viele sind bezüglich ihres Talents derart anmaßend, daß sie glauben, mit ihrem Intellekt alle Dinge abmessen zu können, und sie meinen, daß alles wahr ist, was ihnen scheint, und [alles] falsch ist, was ihnen nicht scheint.“ (13) Und daher kommt es, daß sie nie zu Bildung gelangen; da sie glauben, von sich aus genügend gebildet zu sein, fragen sie nie,



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­ ören sie nie zu, [sondern] sie wünschen, gefragt zu werden, h und wenn die Frage vorgetragen ist, antworten sie schlecht. Und für diese sagt Salomon in den Sprichwörtern: „Du hast einen Menschen schnell antworten sehen? Von ihm ist eher Dummheit als Berichtigung zu erwarten.“ (14) Die zweite [Krankheit] ist durch natürlichen Kleinmut verursacht; denn viele sind so niederträchtig hartnäckig, daß sie nicht glauben können, daß man durch sich oder durch andere die Dinge wissen kann; und diese suchen nie für sich, noch überlegen sie und kümmern sich nie um das, was andere sagen. Und gegen diese wendet sich Aristoteles im ersten Buch der Ethik, wo er sagt, daß diese ungenügende Hörer der Moralphilosophie sind. Diese leben beständig wie Vieh im Groben, von jeder Bildung verlassen. (15) Die dritte [Krankheit] ist von natürlicher Leichtigkeit verursacht: Denn viele haben eine derart leichte Phantasie, daß sie in all ihren Argumenten [über das Ziel] hinausschießen und sie, noch ehe sie logisch folgern, bereits den Schluß gezogen haben, und von diesem Schluß gehen sie fliegend zum nächsten, und es scheint ihnen, daß sie überaus feinsinnig argumentieren, aber sie gehen nicht einmal von einem Prinzip aus, und kein Ding sehen sie wirklich wahr in ihrer Vorstellung. (16) Und von diesen sagt der Philosoph, daß sie nicht zu beachten sind und man mit ihnen keine Händel haben soll, wenn er im ersten Buch der Physik sagt, daß „man mit jenem, der die Prinzipien negiert, nicht diskutieren kann“. Und von diesen sind viele Idioten, die das ABC nicht beherrschen und in der Geometrie, Astrologie und Physik disputieren wollen. (17) Und auch gemäß der Schlechtigkeit bzw. dem Mangel des Körpers kann der Geist nicht gesund sein: Sei es wegen des Mangels irgendeines Prinzips von Geburt an, wie bei den Schwachsinnigen; sei es wegen der Veränderung des Gehirns, wie bei den Wahnsinnigen. Und diese Schwäche des Geistes meint das Gesetz, wenn es im Inforzato heißt: „Von jenem, der ein Testament aufsetzt, ist für jenen Zeitpunkt, in dem er das

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Testament verfaßt, Gesundheit des Geistes und nicht des Körpers zu verlangen.“ Deswegen sage ich, daß jenen freien, ausgebildeten und dem Licht der Wahrheit gegenüber gesunden Intellekten, die nicht durch Schlechtigkeit des Geistes oder des Körpers krank sind, offenkundig ist, daß die besagte Meinung der Leute vergeblich ist, d. h. wertlos. (18) Danach folgt, daß ich sie derart als Falsche und Eitle beurteile und daß ich sie so widerlege; und dies geschieht, wenn gesagt wird: Und folglich widerlege ich sie als falsch. Und danach sage ich, daß zur Darstellung der Wahrheit überzugehen ist; und ich sage, daß zu zeigen ist, was Höflichkeit ist und wie man jenen Menschen erkennen kann, in welchem sie ist. Und dies sage ich hier: Und will jetzt sagen, wie ich erkläre. •

xvi. „Der König wird sich in Gott erfreuen, und alle jene werden gelobt sein, die bei ihm schwören, denn der Mund jener, die bösartige Dinge sagen, ist zugesperrt.“ Diese Worte kann ich hier wahrhaftig voranstellen; denn jeder wahre König muß die Wahrheit in höchstem Maße lieben. Deswegen steht im Buch der Weisheit: „Liebt das Licht der Weisheit, ihr, die ihr den Völkern vorsteht“; und das Licht der Weisheit ist diese Wahrheit. Ich sage also, daß sich deswegen jeder König freuen wird, da die überaus falsche und allerschädlichste Meinung der schlechten und getäuschten Menschen, die bis jetzt bösartig von der Edelkeit gesprochen haben, widerlegt ist. (2) Jetzt ist zur Darstellung der Wahrheit überzugehen, gemäß der im dritten Kapitel dieses Buches vorgenommenen Einteilung. Dieser zweite Teil, der damit beginnt: Ich sage, daß jede Tugend ursprünglich, beabsichtigt, diese Edelkeit entsprechend der Wahrheit zu bestimmen; und dieser Teil gliedert sich in zwei Teile: Denn im ersten wird zu zeigen beabsichtigt, was diese Edelkeit ist; im zweiten wird zu zeigen beabsichtigt, wie man jenen erkennen kann, bei dem sie ist: Und dieser zweite



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Teil beginnt: Die Seele, die diese Gutheit schmückt. (3) Der erste Teil hat nochmals zwei Teile: Denn im ersten [Teil] werden gewisse Dinge gesucht, die notwendig sind, um die Definition der Edelkeit zu erkennen; im zweiten [Teil] wird ihre Definition gesucht: Und dieser zweite Teil beginnt: Höf lichkeit ist, wo immer Tugend ist. (4)  Um vollständig in die Darstellung einzusteigen, sind zuerst zwei Dinge zu untersuchen: Das eine ist, was mit diesem Begriff „Edelkeit“ schlechthin gemeint ist; das andere ist, welcher Weg zu beschreiten ist, um die genannte Definition zu suchen. Ich sage also, daß, wenn wir auf die allgemeine Sprachgewohnheit Rücksicht nehmen wollen, man mit diesem Begriff „Edelkeit“ die Vollkommenheit der eigenen Natur in jedem Ding meint. (5) Deswegen wird sie nicht nur vom Menschen ausgesagt, sondern auch von allen Dingen: Denn der Mensch nennt einen Stein edel, eine Pflanze, ein Pferd, einen Falken und jedes Ding, das als in seiner Natur vollkommen wahrgenommen wird. Und deswegen sagt Salomon im Prediger: „Glücklich das Land, dessen König edel ist“, was nichts anderes besagt, als daß dessen König vollkommen ist, entsprechend der Vollkommenheit des Geistes und des Körpers; und dies zeigt er durch das, was er zuvor sagt, wenn er ruft: „Wehe dir, Land, dessen König ein Kind ist“, d. h. nicht vollkommener Mensch: Und Kind ist der Mensch nicht nur dem Alter nach, sondern aufgrund ungeordneter Sitten und eines Mangels des Lebens, so wie es der Philosoph im ersten Buch der Ethik lehrt. (6) Sicher gibt es einige Verrückte, die glauben, mit dem Begriff „edel“ meine man, „von vielen genannt und gekannt sein“, und sie ­sagen, daß es von einem Verb abgeleitet ist, das für erkennen (conoscere) steht, d. h. „ich kenne“ (nosco). Und dies ist überaus falsch; denn, wenn dies der Fall wäre, wären die Dinge, je häufiger genannt und bekannter sie in ihrer Gattung sind, desto edler in ihrer Gattung: So wäre die Spitzsäule von St. Peter der edelste Stein der Welt; und Asdente, der Schuster von Parma, wäre

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e­ dler als jeder seiner Mitbürger; und Albuino della Scala wäre edler als Guido von Castello aus Reggio: Und all diese Dinge sind überaus falsch. Und deshalb ist überaus falsch, daß „edel“ von „kennen“ abgeleitet ist, sondern es stammt von „nicht niederträchtig“ (non vile); weswegen „edel“ (nobile)  sozusagen „nicht niederträchtig“ (non vile) ist. (7) Diese Vollkommenheit meint der Philosoph im siebten Buch der Physik, wenn er sagt: „Jedes Ding ist dann in höchstem Maße vollkommen, wenn es seine ihm eigene Tüchtigkeit erreicht und berührt, und dann ist es in höchstem Maß seiner Natur entsprechend, weswegen man den Kreis dann vollkommen nennen kann, wenn er tatsächlich Kreis ist“, d. h. wenn er seine ihm eigene Tüchtigkeit erreicht; und dann ist er in seiner ganzen Natur, und dann kann man ihn einen edlen Kreis nennen. (8) Und dies ist dann der Fall, wenn ein Punkt in ihm, der vom Umfang gleich weit entfernt ist, seine Tüchtigkeit gleichmäßig auf den Kreis verteilt; denn der Kreis, der die Form eines Eies hat, ist nicht edel, und auch nicht jener, der die Form des beinahe vollen Mondes hat, denn in diesem Fall ist seine Natur nicht vollkommen. Und so kann man offenkundig sehen, daß dieser Begriff, d. h. Edelkeit, allgemein in allen Dingen die Vollkommenheit ihrer Natur benennt: Und dies ist es, was zuerst gesucht wird, um besser in die Darstellung jenes Teils einzusteigen, den auszulegen beabsichtigt wird. (9) Zweitens ist zu untersuchen, wie vorzugehen ist, um die Definition der menschlichen Edelkeit zu finden, worauf das gegenwärtige Unternehmen zielt. Ich sage also, da man bei jenen Dingen, die, so wie es bei der Gesamtheit der Menschen der Fall ist, zu einer Spezies gehören, ihre höchste Vollkommenheit nicht durch die wesenhaften Prinzipien definieren kann, man diese durch ihre Wirkungen definieren und erkennen muß. (10) Und deshalb lesen wir im Evangelium des heiligen Matthäus – dort wo Christus sagt: „Hütet euch vor den falschen Propheten“ –: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“. Und auf dem kürzesten Weg ist diese Definition, die wir su-



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chen, anhand der Früchte erkennbar: Diese [Früchte] sind die moralischen und die intellektuellen Tugenden, deren Samen unsere Edelkeit ist, wie in ihrer Definition vollkommen offenkundig sein wird. Und dies sind jene zwei Dinge, die zuerst zu betrachten waren, ehe man zu anderen weitergeht, wie es oben in diesem Kapitel gesagt worden ist. •

xvii. Nachdem diese zwei Dinge betrachtet worden sind, die zu betrachten nützlich schien, ehe mit dem Text weitergefahren wird, ist nun zu dessen Auslegung überzugehen. Und er sagt und beginnt also: Ich sage, daß jede Tugend ursprünglich aus einer Wurzel stammt: Tugend nenne ich, was den Menschen glücklich macht in seinem Tun. Und ich füge hinzu: Dies ist, dem zufolge, was die Ethik sagt, ein wählender Habitus, womit ich die ganze Definition der moralischen Tugend anführe, dem gemäß, wie sie im zweiten Buch der Ethik durch den Philosophen definiert ist. (2) Womit hauptsächlich zwei Dinge gemeint sind: Zum einen, daß jede Tugend von einem Prinzip herkommt; zum anderen, daß diese sämtlichen Tugenden die moralischen Tugenden sind, von denen gesprochen wird; und dies wird deutlich, wenn er sagt: Dies ist, dem zufolge, was die Ethik sagt. Hier muß man wissen, daß die moralischen Tugenden unsere eigensten Früchte sind, denn sie sind von jeder Seite her in unserer Gewalt. (3) Und diese [Tugenden] werden von den verschiedenen Philosophen verschieden unterschieden und aufgezählt; aber weil dort, wo die göttliche Aussage des Aristoteles den Mund öffnete, meines Erachtens die Aussage jedes anderen beiseite zu lassen ist, werde ich, da ich sagen will, welches diese [Tugenden] sind, kurz seiner Aussage gemäß von diesen handeln. (4) Dies sind die elf vom besagten Philosophen genannten Tugenden. Die erste heißt Tapferkeit, die Waffe und Bremse ist, um unsere Kühnheit und Furcht in jenen Dingen auszugleichen, die das Verderben unseres Lebens sind. Die zweite ist die

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Mäßigung, die unserer Gefräßigkeit und unserer übertreibenden Enthaltsamkeit in den Dingen, die unser Leben bewahren, Maß und Bremse ist. Die dritte ist die Freigebigkeit, die die Ausgleicherin unseres Gebens und Empfangens zeitlicher Güter ist. (5) Die vierte ist die Herrlichkeit, die die Ausgleicherin der großen Ausgaben ist, indem sie diese auf eine bestimmte Grenze hin unternimmt und unterstützt. Die fünfte ist die Großherzigkeit, die die Ausgleicherin und Erwerberin großer Ehren und Ruhmes ist. Die sechste ist die Ehrenliebe, die Ausgleicherin ist und uns auf die Ehren dieser Welt hinordnet. Die siebte ist die Milde, die unsere Wut und unsere zu große Geduld gegen unsere äußeren Übel ausgleicht. (6) Die achte ist die Umgänglichkeit, die uns mit den anderen gut übereinstimmen macht. Die neunte heißt Wahrheit, die uns davor bewahrt, uns in unserem Sprechen über das hinaus, was wir sind, zu loben und davor, uns kleiner zu machen, als wir es sind. Die zehnte ist die Eutrapelia (Gewandtheit), die uns in den Scherzen ausgleicht, indem wir diese in der geschuldeten Weise machen und benützen. Die elfte ist die Gerechtigkeit, die uns darauf hinordnet, in allen Dingen das Richtige zu lieben und zu tun. (7) Und jede dieser Tugenden hat zwei ihr zugehörige Feinde, d. h. Laster, das eine im Zuviel, das andere im Zuwenig; und all diese [Tugenden] sind das Mittelmaß zwischen diesen [Lastern], und sie entstehen alle aus einem Prinzip, d. h. aus dem Habitus unserer guten Wahl; weswegen man allgemein von allen sagen kann, daß sie der wählende Habitus sind, der im Mittelmaß besteht. (8) Und diese sind es, die den Menschen in ihrer Ausübung selig machen oder besser glücklich, wie es der Philosoph zu Beginn der Ethik sagt, wenn er das Glück definierend erklärt, daß „Glück der Tugend gemäßes Handeln in vollkommenem Leben ist“. Richtigerweise wird Klugheit, d. h. Verstand, von vielen als moralische Tugend [ gesetzt], aber Aristoteles zählt diese unter den intellektuellen [Tugenden] auf; wobei sie allerdings die Führerin der moralischen Tugenden ist und den Weg zeigt,



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durch welchen diese sich ergeben, und ohne sie können diese [moralischen Tugenden] nicht sein. (9) Tatsächlich muß man wissen, daß wir in diesem Leben zwei Arten von Glück haben können, den zwei verschiedenen Wegen entsprechend, dem guten und dem besten, die dahin führen: Die eine ist das aktive Leben und die andere das beschauende Leben; welches [letzteres], wobei man, wie gesagt, durch das aktive Leben, zu gutem Glück gelangt, zu bestem Glück und zu Seligkeit führt, dem entsprechend, was der Philosoph im zehnten Buch der Ethik beweist. (10)  Und Christus bestätigt es aus seinem Mund im Evangelium des Lukas, wo er zu Martha sprechend antwortet: „Martha, Martha, du hast bezüglich vieler Dinge Sorge und Mühe: Gewiß aber ist ein Ding notwendig“, d. h., „das, was du machst“. Und er fügt hinzu: „Maria hat den besten Teil gewählt, der ihr nicht weggenommen werden wird.“ Und Maria zeigte, dem gemäß, was vor den angeführten Worten des Evangeliums steht, zu Füßen des Christus sitzend keinerlei Sorge für die häuslichen Pflichten; sondern sie hörte nur den Worten des Erlösers zu. (11) Wenn wir dies moralisch auslegen wollen, so wollte unser Herr damit zeigen, daß das beschauende Leben das beste ist, wobei selbstverständlich das aktive gut ist: Dies ist jenem offenkundig, der seine Aufmerksamkeit den Worten des Evangeliums zuwendet. Jemand könnte allerdings, gegen mich argumentierend, sagen: Da das Glück des beschauenden Lebens erhabener ist als jenes des aktiven Lebens und das eine und das andere Frucht und Ziel des edlen Lebens sein kann und ist, weswegen wird dann nicht auf dem Weg der intellektuellen Tugenden statt der moralischen fortgeschritten? (12) Und hierauf kann man in Kürze antworten, daß man in jeder Belehrung auf die Fähigkeiten des Schülers Rücksicht nehmen und ihn auf jenem Weg, der ihm leichter ist, führen muß. Weswegen, da die moralischen Tugenden allgemeiner scheinen und es auch sind und bekannter und gefragter sind als die anderen und sie von außen gesehen

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mehr nachgeahmt werden als die anderen, schien es nützlich und passend, eher auf diesem Weg voranzuschreiten als auf dem anderen; denn man würde [nicht] zu einer gleich guten Kenntnis der Bienen gelangen, wenn man vom Wachs als ihrer Frucht ausgehen würde statt vom Honig, wobei das eine und das andere von ihnen hervorgebracht wird. •

xviii. Im vorangehenden Kapitel ist bestimmt worden, wie jede moralische Tugend von einem Prinzip herstammt, d. h. von der guten und habituellen Wahl: Und dies enthält der vorliegende Text bis zu jenem Teil, der damit beginnt: Ich sage, daß Edelkeit ihrem Wesen nach. (2) In diesem Teil nun geht man auf dem Weg der Wahrscheinlichkeit voran, um zu wissen, daß jede oben genannte Tugend für sich genommen, oder besser allgemein, aus der Edelkeit hervorgeht wie eine Wirkung aus ihrer Ursache. Und man stützt sich auf einen philosophischen Satz, der besagt, daß, wenn zwei Dinge als in einem zusammentreffend erkannt werden, diese beiden auf ein Drittes zurückgeführt werden müssen, oder besser das eine auf das andere, so wie die Wirkung auf die Ursache; denn ein Ding, das zuerst und für sich besessen wird, kann nicht sein, außer von einem: Und wenn diese beiden nicht Wirkung eines Dritten wären, oder besser das eine [die Wirkung ] des anderen, dann würden beide dieses Ding zuerst und für sich besitzen, was unmöglich ist. (3) Der Text sagt also, daß Edelkeit und solche Tugend, d. h. die moralische, darin zusammenkommen, daß die eine und die andere jenem Lob bringt, von dem sie ausgesagt werden; und dies sage ich, wenn gesagt wird: Weswegen in einer einzigen Aussage beide zusammenkommen, denn sie sind eine Wirkung, d. h. jenen zu loben und wertvoll zu machen, von dem gesagt wird, daß sie sein sind. Und dann schließt er, indem er die Kraft des oben angeführten Satzes nimmt, und er sagt, daß deswegen die eine aus der anderen hervorgehen muß oder besser beide aus einem



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Dritten; und er fügt hinzu, daß die Annahme richtiger ist, die eine komme aus der anderen, als beide aus einem Dritten, wenn es von einer scheint, daß sie so viel wert ist wie die andere oder gar noch mehr; und dies sagt er: Aber wenn die eine wert ist, was die andere wert ist. (4) Hier muß man wissen, daß hier nicht mittels eines zwingenden Beweises vorgegangen wird. Wie es der Fall wäre, wenn gesagt würde, wenn das Kalte das Erzeugende des Wassers ist und wir die Wolken Wasser erzeugen sehen, dann ist das Kalte das Erzeugende der Wolken; oder eine derart schöne und stimmige Induktion wie, wenn in uns mehrere lobenswerte Dinge sind, und das Prinzip unseres Lobes in uns ist, [dann] ist es vernünftig, diese [lobenswerten Dinge] auf dieses Prinzip zurückzuführen: Und es ist vernünftiger das, was mehrere Dinge umfaßt, Prinzip jener [lobenswerten Dinge] zu nennen, als diese das Prinzip des [Prinzips]. (5) Denn der Fuß des Baumes, der alle anderen Äste umfaßt, muß das Prinzip genannt werden und die Ursache jener [Äste] und nicht jene [das Prinzip] dieses [Fußes]; und ebenso muß man die Edelkeit, die sämtliche Tugend beinhaltet, so wie die Ursache die Wirkung beinhaltet, und viele unserer anderen lobenswerten Handlungen, als solches nehmen, so daß die Tugend vor jedem anderen, das in uns sein mag, auf sie zurückzuführen ist. (6) Zum Schluß sagt er, daß all das, was gesagt worden ist, (d. h. daß jede moralische Tugend von einer Wurzel herkommt und daß diese Tugend und die Edelkeit in einem Ding zusammentreffen, wie oben gesagt worden ist; und daß deshalb die eine auf die andere zurückgeführt werden muß oder besser beide auf ein Drittes; und wenn eine so viel wert ist wie die andere oder mehr, dann geht [diese] eher von jener aus als von einem Dritten,) gelte hier als Voraussetzung, d. h. hingeordnet auf und angekettet an das, was zuvor gemeint war. Und so endet diese Strophe und dieser vorliegende Teil. •

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xix.  Nachdem im vorangehenden Teil gewisse Dinge behandelt und bestimmt worden sind, die notwendig waren, um zu erkennen, wie man dieses gute Ding, von dem die Rede ist, definieren kann, ist nun zum folgenden Teil weiterzugehen, der damit beginnt: Höf lichkeit ist, wo immer Tugend ist. (2) Und dieser [Teil] ist auf zwei Teile zurückzuführen: Im ersten wird ein bestimmtes Ding bewiesen, das zuvor gestreift worden und unbewiesen geblieben ist; abschließend wird im zweiten [Teil] jene Definition gefunden, nach der gesucht wird. Und dieser zweite Teil beginnt: Also wird kommen, wie von Schwarz das Purpurschwarz. (3) Zur Erhellung des ersten Teils ist in Erinnerung zu rufen, daß oben gesagt wird, daß wenn die Edelkeit wertvoller ist und sich weiter erstreckt als die Tugend, [dann] geht die Tugend eher aus ihr hervor. Dies beweist er nun in diesem Teil, d. h. daß die Edelkeit sich weiter erstreckt; und er nimmt das Beispiel des Himmels, indem er sagt, wo immer Tugend ist, dort ist auch Edelkeit. (4) Und hier muß man wissen, daß es, wie es in den Digesten geschrieben steht und man es aufgrund der Regeln der Jurisprudenz hält, in jenen Dingen, die offenkundig sind, keines Beweises bedarf: Und nichts ist offenkundiger, als daß Edelkeit ist, wo Tugend ist, und jedes Ding, das in seiner Natur tugendhaft ist, wird volkssprachlich edel genannt. (5) Er sagt also: So wie Himmel ist, wo immer ein Stern ist, und dies ist umgekehrt nicht wahr, daß wo immer Himmel ist, ein Stern ist, so ist Edelkeit, wo immer Tugend ist, und nicht Tugend, wo immer Edelkeit ist: Dies ist ein schönes und passendes Beispiel, denn tatsächlich ist das Himmel, wo viele und unterschiedliche Sterne aufleuchten. In ihnen leuchten die intellektuellen und moralischen Tugenden auf; in ihnen leuchten die von der Natur gegebenen guten Veranlagungen auf, d. h. Frömmigkeit und Glaube, und die lobenswerten Leidenschaften, d. h. Scham und Barmherzigkeit und viele andere: In ihnen leuchten die körperlichen Gutheiten auf, d. h. Schönheit, Stärke und beinahe beständige Ge-



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sundheit. (6) Und seiner Sterne, die vom Himmel leuchten, sind so viele, daß man sich gewiß nicht wundern muß, wenn sie in der menschlichen Edelkeit viele und unterschiedliche Früchte bewirken; so viele sind die Naturen und die Fähigkeiten dieser [Edelkeit], die in einem unter einer einfachen Substanz vereinigt und versammelt sind, in welcher sie wie auf verschiedenen Ästen Früchte treiben. Überzeugt verlange ich zu sagen, daß die Edelkeit der Menschen hinsichtlich der Vielzahl ihrer Früchte jene der Engel übertrifft, obschon die [Edelkeit] der Engel in ihrer Einheit göttlicher ist. (7) Diese unsere Edelkeit, die in so vielen und speziellen Früchten Frucht bringt, hatte der Psalmist im Sinn, als er jenen Psalm verfaßte, der beginnt: „Herr unser Gott, wie bewundernswert ist dein Name im ganzen Weltgefüge“, dort wo er den Menschen rühmt, sich sozusagen über die göttliche Zuneigung zu dieser menschlichen Kreatur wundernd, und sagt: „Was ist der Mensch, daß du Gott ihn besuchst? Du hast ihn wenig geringer als die Engel gemacht, mit Ehre und Ruhm hast du ihn gekrönt und ihn über das Werk deiner Hände gesetzt.“ Es war also tatsächlich ein schöner und passender Vergleich zwischen dem Himmel und der Edelkeit der Menschen. (8) Danach, wenn der Text sagt: Und in der Frau und im neuen Alter, beweist er das, was ich sage, indem er zeigt, daß die Edelkeit sich in Gebiete erstreckt, wo keine Tugend ist. Und danach sagt er: Sehen wir dieses Heil, und er erwähnt, daß die Edelkeit, die gutes und wahres Heil ist, dort ist, wo Scham ist, d. h. Angst vor Unehre, wie in den Frauen und in den Jungen, wo die Scham gut und lobenswert ist; die Scham ist keine Tugend, aber gewiß eine gute Leidenschaft. (9) Und er sagt: Und in der Frau und im neuen Alter, d. h. in den Jungen; denn, wie der Philosoph im vierten Buch der Ethik sagt, „Scham ist bei den Alten und bei den beflissenen Männern nicht lobenswert und steht ihnen nicht gut an“, denn für sie ziemt es sich, sich vor jenen Dingen zu hüten, die sie zur Scham führen. (10) Von den Jungen und den

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Frauen wird nicht so sehr verlangt, sich zu hüten, und trotzdem ist in ihnen die Angst vor der durch die Schuld verursachten Unehre lobenswert; denn sie kommt von der Edelkeit, und man kann sie für Edelkeit halten und sie bei ihnen so bezeichnen, so wie [man] die Schamlosigkeit als Niedertracht und Unedelkeit [bezeichnen kann]. Weswegen es bei den Kindern und bei den dem Alter nach noch nicht Vollkommenen ein gutes und ausgezeichnetes Zeichen der Edelkeit ist, wenn sich in ihrem Gesicht nach dem Irrtum Scham abzeichnet, die dann die Frucht wahrer Edelkeit ist. •

xx. Wenn anschließend folgt: Also wird kommen, wie von Schwarz das Purpurschwarz, geht der Text zur gesuchten Definition der Edelkeit über, durch die man erkennen wird, was diese Edelkeit ist, von der so viele Leute falsch sprechen. Er sagt also, indem er aus dem zuvor Gesagten schließt: Jede Tugend, oder besser von ihrer Gattung, d. h. der wählende Habitus, der im Mittelmaß besteht, kommt also aus dieser, d. h. aus der Edelkeit. (2) Und [der Text] gibt ein Beispiel anhand der Farben, indem er sagt: So wie das Purpurschwarz vom Schwarz kommt, so kommt diese, d. h. die Tugend, von der Edelkeit. Das Purpurschwarz ist eine aus Purpur und Schwarz gemischte Farbe, aber das Schwarz überwiegt, und von ihm her wird es benannt; und so ist die Tugend ein aus Edelkeit und Leidenschaft gemischtes Ding; aber weil die Edelkeit darin überwiegt, wird die Tugend von ihr her benannt und Gutheit genannt. (3) Und danach erklärt er aufgrund des Gesagten, daß niemand, nur weil er sagen kann: „Ich bin von diesem Geschlecht“, glauben soll, er sei mit ihr, wenn diese Früchte nicht in ihm sind. Und er gibt sogleich den Grund an, wenn er sagt, daß jene, die diese Gnade haben, d. h. dieses göttliche Ding, fast wie Götter sind, ohne den Makel des Lasters; und dies kann nur Gott allein geben, bei dem es keine Wahl der Person gibt, wie die heiligen Schriften belegen. (4) Und es möge niemandem zu erhaben gesprochen erscheinen, wenn gesagt



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wird: Denn sie sind fast Götter; denn, wie oben im siebten Kapitel des dritten Buches erklärt worden ist, gibt es, wie es überaus niederträchtige und tierische Menschen gibt, überaus edle und göttliche Menschen, und dies beweist Aristoteles im siebten Buch der Ethik mittels des Textes des Dichters Homer. (5) So daß weder jene der Uberti in Florenz noch jene der Visconti in Mailand sagen sollten: „Weil ich von diesem Geschlecht bin, bin ich edel“; denn der göttliche Samen fällt nicht in das Geschlecht, d. h. in den Stammbaum, sondern er fällt in die einzelne Person, und der Stammbaum macht, wie weiter unten bewiesen werden wird, nicht einzelne Personen edel, sondern die einzelnen Personen machen den Stammbaum edel. (6)  Dann, wenn der Text sagt: Denn Gott allein gibt sie der Seele, wird vom Empfangenden gehandelt, d. h. vom Subjekt, in das dieses göttliche Geschenk hinabsteigt; das wahrlich ein göttliches Geschenk ist, gemäß den Worten des Apostels: „Jede überaus gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben, indem es vom Vater der Lichter herabsteigt.“ (7) Er sagt also, daß Gott allein diese Gnade jener Seele gibt, die er in ihrer Person vollkommen sieht, hergerichtet und geordnet, diesen göttlichen Akt zu empfangen. Denn, dem gemäß, was der Philosoph im zweiten Buch von Über die Seele sagt: „Die Dinge müssen dem auf sie Einwirkenden entsprechend veranlagt sein und auf das Empfangen der entsprechenden Akte“; weswegen, wenn die Seele unvollkommen ist, sie nicht dazu veranlagt ist, diesen gesegneten und göttlichen Einfluß zu empfangen; so wie wenn ein Edelstein schlecht veranlagt ist, oder besser unvollkommen, er die himmlische Tugend nicht empfangen kann, wie es jener edle Guido Guinizelli in einer seiner Kanzonen gesagt hat, die beginnt: Dem höf lichen Herzen hilft Amor immer. (8) Die Seele kann also aufgrund eines Mangels der Zusammensetzung schlecht in der Person sein oder vielleicht aufgrund eines Mangels der Zeit; und in einer derartigen [Seele] leuchtet der göttliche Strahl nie auf. Und jene, deren Seele dieses Lichtes

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beraubt ist, können sagen, daß sie wie dem Nordwind ausgesetzte Täler sind oder besser unterirdische Höhlen, wohin das Licht der Sonne nie gelangt, außer es werde von einer anderen, von diesem [Licht] erleuchteten Seite reflektiert. (9) Am Ende schließt [der Text] und sagt, daß, aufgrund des zuvor Gesagten, d. h. daß die Tugenden die Früchte der Edelkeit sind und daß Gott diese in die wohlgerichtete Seele eingibt, es gewissen, d. h. jenen wenigen, die Intellekt haben, offenkundig ist, daß die menschliche Edelkeit nichts anderes ist als der „Samen des Glücks“, von Gott in die wohlgesetzte Seele gegeben, d. h. deren Körper von jeder Seite her vollkommen veranlagt ist. Wenn die Tugenden die Frucht der Edelkeit sind und Glück durch diese erworbene Süßigkeit ist, dann ist offenkundig, daß die Edelkeit selbst die Saat des Glückes ist, wie gesagt worden ist. (10) Und wenn man genau hinschaut, dann umfaßt diese Definition sämtliche vier Ursachen, d. h. die Material-, die Form-, die Wirk- und die Zielursache: Materialursache, insofern er sagt: in die wohlgesetzte Seele, die die Materie und das Subjekt der Edelkeit ist; Formursache, insofern er Same sagt; Wirkursache, insofern er sagt: Von Gott in die Seele gegeben; Zielursache, insofern er sagt: des Glücks. Und so ist diese unsere Güte definiert, die in uns auf ähnliche Weise von der höchsten und geistigen Tugend hinabsteigt, wie die Kraft aus einer edelsten himmlischen Tugend in den Stein [hinabsteigt]. •

xxi. Auf daß man eine vollkommenere Kenntnis der menschlichen Gutheit habe, die Edelkeit heißt, insofern sie in uns das Prinzip alles Guten ist, ist in diesem besonderen Kapitel zu klären, wie diese Gutheit in uns herabsteigt; und zuerst auf natürliche Weise und danach auf theologische, d. h. göttliche und geistige Weise. (2) Zuerst muß man wissen, daß der Mensch aus Seele und Körper zusammengesetzt ist; aber diese [Edelkeit] ist in der Seele, wie gesagt worden ist, als Folge einer Aussaat



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der göttlichen Tugend. Tatsächlich wurde von verschiedenen Philosophen unterschiedlich über die Verschiedenheit unserer Seelen argumentiert: Denn Avicenna und Al-Ghazali wollten, daß [die Seelen] von sich aus und von ihrem Prinzip her edel und niederträchtig seien; und Plato und andere wollten, daß sie aus den Sternen hervorgingen und daß sie der Edelkeit des Sternes entsprechend mehr oder weniger edel seien. (3) Pythagoras wollte, daß alle [Seelen] von einer Edelkeit seien, nicht nur die menschlichen, sondern zusammen mit den menschlichen auch jene der Tiere und der Pflanzen, sowie die Formen der Mineralien; und er sagte, daß die ganze Differenz von den Körpern und von den Formen herstamme. Wenn jeder anwesend wäre, um seine Meinung zu verteidigen, könnte es sein, daß man die Wahrheit in allen sehen würde; aber weil sie auf den ersten Blick ein wenig weit von der Wahrheit entfernt scheinen, ist nicht ihnen entsprechend vorzugehen, sondern gemäß der Meinung des Aristoteles und der Peripatetiker. (4) Und deshalb sage ich, daß wenn der Samen des Menschen in das ihn Empfangende fällt, d. h. in die Gebärmutter, er die Tugend der erzeugenden Seele mit sich führt und die Tugend des Himmels und die Tugend der verbundenen Elemente, d. h. der Zusammensetzung; und er reift und ordnet die Materie auf die formende Tugend hin, die die Seele des Erzeugers gegeben hat; und die formende Tugend bereitet die Organe für die himmlische Tugend, die aus der Potenz des Samens die lebende Seele erzeugt. (5) Diese empfängt, kaum geschaffen, von der Tugend des Bewegers des Himmels den möglichen Intellekt; dieser führt der Potenz nach alle allgemeinen Formen mit sich, dem entsprechend, wie sie in seinem Schöpfer sind, und desto weniger, je weiter er von der ersten Intelligenz entfernt ist. (6)  Niemand wundere sich, wenn ich so spreche, daß es schwer verständlich scheint; denn auch mir selbst scheint es ein Wunder, wie man dieses Werden doch erschließen und mit dem Intellekt erkennen kann. Das ist kein Ding, das man mit

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der Sprache, ich meine wahrlich die Volkssprache, zeigen kann. Deshalb will ich wie der Apostel sagen: „Ach Erhabenheit der Schätze der Weisheit Gottes, wie sind deine Urteile doch unbegreiflich und deine Wege unerforschbar!“ (7) Und weil die Zusammensetzung des Samens besser und weniger gut sein kann und weil die Veranlagung des Samengebers besser und weniger gut sein kann und weil die Veranlagung des Himmels, die entsprechend der Konstellation, die sich beständig verändert, vari­ iert, hinsichtlich dieser Wirkung gut, besser oder bestens sein kann, geschieht es, daß aus dem Samen des Menschen und aus diesen Tugenden eine reine oder weniger reine Seele entsteht; und ihrer Reinheit entsprechend steigt in sie die besagte potentielle intellektuelle Tugend nieder, wie es beschrieben worden ist. (8) Und so geschieht es ihr, daß die aufgrund der Reinheit der empfangenden Seele gänzlich von jedem körperlichen Schatten freie und unbehinderte intellektuelle Tugend von der göttlichen Güte in ihr vervielfacht wird wie in einem Ding, das dem Empfang dieser genügt, und folglich vervielfacht sich in der Seele diese Intelligenz dem entsprechend, was [die Seele] empfangen kann. Und dies ist jener Samen des Glücks, von dem gegenwärtig gesprochen wird. (9) Und dies stimmt überein mit der Aussage Ciceros in jenem Buch Über das Alter, wo er, in der Person Catos sprechend, sagt: „Deshalb ist die himmlische Seele in uns hinabgestiegen, ist sie von der höchsten Wohnstätte an einen Ort gekommen, der der göttlichen Natur und der Ewigkeit entgegengesetzt ist.“ Und in einer solchen Seele ist ihre eigene Tugend sowie die intellektuelle und die göttliche, d. h. jener besagte Einfluß; und deshalb steht im Buch Über die Ursachen: „Jede edle Seele hat drei Handlungen, d. h. eine seelische, eine intellektuelle und eine göttliche.“ (10) Und einige sind sogar der Meinung, daß sie sagen, wenn alle genannten Tugenden bezüglich der Schaffung einer Seele in ihrer besten Veranlagung übereinstimmen würden, soviel von der Gottheit in diese herabsteigen würde, daß sie sozusagen ein anderer fleischge-



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wordener Gott wäre. Und dies ist beinahe alles, was man auf natürliche Weise sagen konnte. (11)  Theologisch kann man sagen, daß, wenn die höchste Gottheit, d. h. Gott, sein Geschöpf zum Empfang seiner Wohltat bereit sieht, er freigebig soviel in dieses gibt, wie dieses zu empfangen bereit ist. Und weil diese Gaben aus der unaussprechlichen Liebe stammen und weil die göttliche Barmherzigkeit dem heiligen Geist übereignet ist, werden sie Gaben des heiligen Geistes genannt. (12) Diese sind, wie der Prophet Jesaia sie unterscheidet, sieben, nämlich Weisheit, Intellekt, Rat, Stärke, Wissen, Mitleid und Gottesfurcht. Ach gutes Getreide, gute und bewunderungswürdige Aussaat und ach bewunderungswürdiger und gütiger Sämann, der nur darauf wartet, daß die Natur des Menschen die Erde für die Saat bereitet, und selig jene, die diese Saat in der richtigen Weise pflegen! (13) Hier muß man wissen, daß der erste und edelste Sproß, der aus diesem Samen keimen muß, um fruchtbringend zu sein, das Verlangen des Geistes ist, das auf griechisch „Hormen“ (Trieb) heißt. Und wenn dieses nicht gut gepflegt und durch gute Gewohnheit aufrecht gehalten wird, so ist die Saat wenig wert, und es wäre besser, sie wäre nicht ausgesät. (14) Und deshalb will der heilige Augustinus und auch Aristoteles im zweiten Buch der Ethik, daß der Mensch darauf achte, richtig zu handeln und seine Leidenschaften zu zügeln, auf daß der besagte Keimling durch gute Gewohnheit fest und in seiner Richtigkeit beständig werde, so daß er Frucht treiben kann und aus seiner Frucht die Süße des menschlichen Glücks entspringe. •

xxii. Es ist eine Anordnung der Moralphilosophen, die von den Wohltaten gesprochen haben, daß der Mensch Talent und Eifer darauf verwenden muß, daß beim Darbringen seiner Wohl­ taten diese dem Empfänger möglichst nützlich sind; deswegen beabsichtige ich, der ich diesem Befehl gehorchen will, dieses

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mein Gastmahl in jedem seiner Teile nützlich zu gestalten, soweit mir das möglich sein wird. (2) Und weil ich in diesem Teil ein wenig vom Glück des Menschen handeln können muß, beabsichtige ich von seiner Süßigkeit zu sprechen; denn eine nützlichere Darlegung kann man jenen, die sie nicht kennen, nicht bieten. Denn wie der Philosoph im ersten Buch der Ethik sagt und Cicero in jenem Buch Von den Grenzen im Guten und Bösen, schlecht orientiert sich am Zeichen, wer es nicht sieht; und so kann nur schlecht zu dieser Süßigkeit gelangen, wer sie nicht zuerst anvisiert. (3) Deswegen, zumal es unsere endgültige Ruhe ist, für die wir leben und das ausführen, was wir tun, ist es überaus nützlich und notwendig, dieses Zeichen zu sehen, um den Bogen unserer Handlung auf dieses auszurichten. Und in höchstem Maße muß man sich jener annehmen, die den Hinweis nicht sehen. (4) Die Meinung, die der Philosoph Epikur davon hatte, beiseite lassend und auch jene des Zenon, beabsichtige ich, zusammenfassend zur wahren Meinung des Aristoteles und der anderen Peripatetiker zu kommen. Wie oben gesagt worden ist, entsteht aus der göttlichen Gutheit, die in uns eingesät und vom Prinzip unseres Werdens eingegeben ist, ein Keimling, den die Griechen „Hormen“ (Trieb)  nennen, d. h. natürliches Verlangen des Geistes. (5) Und wie bei den Getreiden, die, wenn sie aufgehen, zu Beginn sozusagen eine Ähnlichkeit mit dem Gras haben und dann in der Entwicklung unähnlich werden, so zeigt sich dieses natürliche Verlangen, das aus der göttlichen Gnade entsteht, zu Beginn sozusagen nicht unähnlich von jenem [ Verlangen], das nackt aus der Natur kommt, sondern es ist ihm, gleich wie die Gräser den verschiedenen Getreiden, ähnlich. Und nicht nur in den Menschen, sondern in den Menschen und in den Tieren hat es Ähnlichkeit; und dies wird darin deutlich, daß jedes Lebewesen, sowohl das vernünftige wie auch das tierische, sobald es geboren ist, sich selbst liebt und es jene Dinge fürchtet und flieht, die ihm entgegengesetzt sind, und



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es haßt sie. (6) In der weiteren Entwicklung beginnt dann, wie gesagt worden ist, eine Unähnlichkeit zwischen ihnen bezüglich der Entwicklung dieses Verlangens, denn der eine schlägt einen Weg ein und der andere einen anderen. Wie der Apostel sagt: „Viele rennen dem Kampfpreis hinterher, aber nur einer ist es, der ihn erlangt“, so schlagen diese menschlichen Verlangen vom Prinzip ausgehend verschiedene Gassen ein, und nur eine Gasse ist jene, die uns zu unserem Frieden führt. Und deswegen verfolgt die Abhandlung, alle anderen beiseite lassend, jene [Gasse], die gut beginnt. (7)  Ich sage also, daß [das Lebewesen] von Beginn an sich selbst liebt, allerdings ununterschieden; danach gelangt es dazu, jene Dinge, die ihm liebenswerter und weniger [liebenswert] sind, zu unterscheiden und jene, die hassenswerter sind und weniger [hassenswert], und es folgt [den einen] und es flieht [die anderen] mehr oder weniger, der Kenntnis entsprechend, wobei es nicht nur in den anderen Dingen unterscheidet, die es an zweiter Stelle liebt, sondern auch in sich selbst [unterscheidet es], was es an erster Stelle liebt. (8) Und in sich selbst verschiedene Teile erkennend, liebt es jene Teile mehr, die in ihm edler sind; und da der [edlere] Teil des Menschen der Geist und nicht der Körper ist, liebt es diesen mehr. Und so, sich selbst an erster Stelle liebend und durch sich die anderen Dinge und von sich selbst den besten Teil mehr liebend, ist offenkundig, daß es den Geist mehr liebt als den Körper oder andere Dinge: Diesen Geist muß es von Natur aus mehr lieben. (9) Wenn also der Geist sich stets erfreut im Gebrauch des geliebten Dinges, das die Frucht der Liebe ist, und in jenem Ding, das am meisten geliebt ist, der Gebrauch in höchstem Maß erfreuend ist, so ist der Gebrauch unseres Geistes für uns am erfreuendsten. Und das, was für uns in höchstem Maße erfreuend ist, das ist unser Glück und unsere Seligkeit, worüber hinaus keine größere Freude existiert noch eine andere gleiche; wie erkennen kann, wer das vorangehende Argument genau betrachtet.

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(10) Und niemand hat gesagt, daß jedes Verlangen Geist sei; denn hier wird unter Geist nur das verstanden, was sich auf den rationalen Teil bezieht, d. h. der Wille und der Intellekt. So daß, wenn man das sensitive Verlangen Geist nennen wollte, dies hier weder Platz noch Bestand hat; denn niemand zweifelt daran, daß das rationale Verlangen edler ist als das sensitive und deswegen liebenswerter: Und so ist es dieses, von dem jetzt gesprochen wird. Tatsächlich ist der Gebrauch unseres Geistes ein zweifacher, d. h. praktisch und beschauend, praktisch, insofern er handelnd ist; der eine und der andere überaus erfreuend, wobei, wie oben gesagt wurde, jener der Schau erfreuender ist. (11) Der [Gebrauch] des praktischen besteht darin, für uns tugendhaft zu handeln, d. h. ehrlich, mit Klugheit, Mäßigung, Stärke und Gerechtigkeit; der [Gebrauch] des beschauenden besteht nicht darin, für uns selbst zu handeln, sondern die Werke Gottes und der Natur zu bedenken. Und darin, [wie auch] in jenem anderen, ist unsere Seligkeit und unser höchstes Glück, wie man sehen kann; dies ist die Süße des oben erwähnten Samens, wie jetzt offenkundig ist, zu welcher der besagte Samen aufgrund schlechter Pflege und weil sein Sprießen auf Abwege gekommen ist, indes oft nicht gelangt. (12) Und ebenso kommt es aufgrund vieler Maßregelung und Pflege vor, daß dort, wo dieser Samen zu Beginn nicht hinfällt, man ihn in seiner Entwicklung einführen kann, so daß er zu dieser Frucht gelangt; und das ist beinahe eine Art, die Natur eines anderen auf eine fremde Wurzel zu pfropfen. Und deshalb gibt es niemanden, der entschuldigt werden könnte; denn wenn ein Mensch von seiner natürlichen Wurzel her diese Saat nicht hat, so kann er sie auf dem Weg der Pfropfung sehr wohl haben. Tatsächlich waren es ebenso viele, die sich pfropften, wie es jene sind, die sich von der guten Wurzel abbringen lassen. (13) Tatsächlich ist der eine Gebrauch mit Seligkeit erfüllter als der andere; dies ist der beschauende, der ein von jeder Beimischung freier Gebrauch unseres edelsten Teils ist, der auf-



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grund der besagten grundlegenden Liebe in höchstem Maße liebenswert ist, wie es auch der Intellekt ist. Und dieser Teil kann in diesem Leben seinen Gebrauch nicht vollkommen haben – dies ist das [Sehen] Gottes, der das höchste Erkennbare ist  –, außer insofern er ihn durch seine Wirkungen betrachtet und auf ihn schaut. (14) Und daß wir diese Seligkeit als die höchste verlangen und keine andere, d. h. jene des aktiven Lebens, das lehrt das Evangelium des Markus, wenn wir es genau betrachten wollen. Markus sagt, daß Maria Magdalena, Maria Jacobi und Maria Salome den Erlöser beim Grab suchen gingen und ihn nicht gefunden haben; aber sie haben einen in weiß gekleideten Jüngling gefunden, der ihnen sagte: „Ihr sucht den Erlöser, und ich sage euch, daß er nicht hier ist, aber fürchtet euch nicht, sondern geht und sagt seinen Schülern und dem Petrus, daß er ihnen nach Galiläa vorausgehen wird; und dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.“ (15) Diese drei Frauen kann man als die drei Schulen des aktiven Lebens verstehen, d. h. die Epikureer, die Stoiker und die Peripatetiker, die zum Grab gehen, d. h. zur gegenwärtigen Welt, die ein Behältnis vergänglicher Dinge ist, und den Erlöser suchen, d. h. die Seligkeit, und ihn nicht finden; aber sie finden einen Jüngling in weißen Kleidern, der gemäß dem Zeugnis des Matthäus und der anderen ein Engel Gottes war. Und deshalb sagte Mat­ thäus: „Der Engel Gottes stieg vom Himmel nieder, wendete den Stein und setzte sich darauf. Und sein Antlitz war wie ein Blitz und seine Kleider wie Schnee.“ (16)  Dieser Engel ist unsere Edelkeit, die, wie gesagt worden ist, von Gott kommt und die in unserer Vernunft spricht und zu jeder dieser Schulen, d. h. zu jedem, der die Seligkeit im aktiven Leben sucht, sagt, daß sie hier nicht ist; aber er solle gehen und es den Schülern und dem Petrus sagen, d. h. jenen, die, sie suchend, herumgehen und jenen, die sich verirrt haben, wie Petrus, der ihn verleugnet hatte, daß er ihnen nach Galiläa vorausgeht, d. h. daß die Seligkeit uns nach Galiläa vorausgeht,

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d. h. in die Schau. (17) Galiläa bedeutet gleich viel wie Weißheit. Weißheit ist eine Farbe, die mehr als jede andere voll körper­ lichen Lichtes ist; und so ist die Schau voll von geistigem Licht, welch anderes Ding sie hier unten auch sein mag. Und er sagt: „Er wird vorausgehen“, und er sagt nicht: „Er wird mit euch sein“, um zu verstehen zu geben, daß in unserer Schau Gott immer vorausgeht und wir ihn, der unsere höchste Seligkeit ist, hier nie erreichen können. Und er sagt: „Dort werdet ihr ihn sehen, wie er gesagt hat“, d. h. dort werdet ihr von seiner Süße haben, d. h. vom Glück, so wie es euch hier angeordnet ist; d. h. wie es festgehalten ist, daß ihr haben könnt. (18) Und so wird deutlich, daß wir unsere Seligkeit, dieses Glück, von dem wir sprechen, zuerst sozusagen unvollkommen im aktiven Leben finden können, d. h. in den Handlungen der moralischen Tugenden, und dann sozusagen vollkommen in den Handlungen der intellektuellen [Tugenden]. Diese beiden Handlungen sind zielgerichtete und gerade Wege, die zur höchsten Seligkeit führen, die man hier nicht erlangen kann, wie aus dem Gesagten deutlich wird. •

xxiii. Nachdem die Definition der Edelkeit genügend bewiesen scheint und diese anhand ihrer Teile, insofern dies möglich ist, erklärt worden ist, so daß man nunmehr sehen kann, was der edle Mensch ist, scheint es angebracht, zu jenem Teil des Textes überzugehen, der beginnt: Die Seele, die diese Gutheit schmückt; wo, wie gesagt worden ist, die Zeichen gezeigt werden, anhand derer der edle Mensch erkannt werden kann. (2)  Und dieser Teil gliedert sich in zwei; im ersten wird bestätigt, daß diese Edelkeit während des ganzen Lebens des Edlen offenkundig leuchtet und strahlt; im zweiten werden speziell ihre Strahlen behandelt, und dieser zweite Teil beginnt: Gehorsam, süß und schamhaft. (3) Bezüglich des ersten [Teils] ist zu wissen, daß dieser göttliche Same, von dem oben gesprochen worden ist, in unserer



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Seele sofort keimt, indem er das, was die Potenzen der Seele ihren Bedürfnissen entsprechend brauchen, ordnet und unterscheidet. Er keimt also durch die vegetative, die sensitive und die rationale; und er verzweigt sich in ihren Tugenden, indem er diese alle auf ihre Vollkommenheit ausrichtet, und er erhält sich beständig in diesen, bis zu jenem Punkt, wo er mit jenem Teil unserer Seele, der nie stirbt, zum erhabensten und ruhmreichsten Sämann im Himmel zurückkehrt. (4) Und dies sagt [der Text] durch jenen ersten besagten Teil. Dann wenn er beginnt: Gehorsam, süß und schamhaft, zeigt er, daß das, aufgrund dessen wir den edlen Menschen anhand der offensichtlichen Zeichen erkennen können, die Handlungen dieser göttlichen Güte sind; und dieser Teil gliedert sich in vier [Teile], denn [die göttliche Güte] handelt den vier Lebensaltern entsprechend verschieden, d. h. entsprechend der Jugend, dem Erwachsenenalter, dem Alter und dem Greisenalter. (5) Und der zweite Teil beginnt: Im Erwachsenenalter ausgeglichen und stark; und der dritte beginnt: In ihrem Alter; und der vierte beginnt: Dann im vierten Teil des Lebens. Und dies ist die Aussage dieses Teils im allgemeinen. Diesbezüglich ist zu wissen, daß jede Wirkung, insofern sie Wirkung ist, die Ähnlichkeit ihrer Ursache erhält, soweit es ihr möglich ist, diese aufzunehmen. (6) Da unser Leben und das aller Lebewesen hier unten, wie gesagt worden ist, vom Himmel verursacht ist und der Himmel sich all diese Wirkungen nicht in einer vollen Umdrehung, sondern nur in einem Teil dieser [ Umdrehung ] aufdeckt, kommt es, daß seine Bewegung über ihnen sozusagen wie ein Bogen ist und alles [irdische] Leben, und ich sage [irdisch] sowohl bezüglich der [Menschen] als auch bezüglich der anderen Lebewesen, im Ansteigen und Wenden sozusagen dem Bild des Bogens ähnlich sein muß. Zu unserem [Leben] zurückkehrend, worauf wir uns gegenwärtig ausschließlich beziehen, sage ich also, daß es sich dem Bild dieses Bogens entsprechend aufsteigend und absteigend vollzieht.

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(7) Und man muß wissen, daß dieser untere Bogen dem oberen Bogen gleich wäre, wenn der Stoff der Zusammensetzung unseres Samens die Gesetzmäßigkeit der menschlichen Natur nicht behindern würde. Aber weil die zugrundeliegende Feuchtigkeit – welche das Zugrundeliegende und die Nahrung der Wärme ist, die unser Leben ist – mehr oder weniger [ist] und von besserer oder [schlechterer] Qualität und länger dauert [in der einen] als in der anderen Wirkung, kommt es, daß der Bogen des Lebens eines Menschen von größerer oder geringerer Spannung ist, als der des anderen. (8) Und der Tod mancher ist gewaltsam oder aufgrund akzidenteller Schwäche schneller; aber nur jener [Tod], der vom Volk natürlich genannt wird und es auch ist, ist jene Grenze, von der der Psalmist sagt: „Du hast eine Grenze gesetzt, die man nicht überschreiten kann.“ Und deshalb, weil der Lehrer unseres Lebens Aristoteles diesen Bogen, von dem wir sprechen, bemerkte, schien er der Meinung zu sein, daß unser Leben nichts anderes als ein Ansteigen und Niedergang sei: Deswegen sagt er in jenem Buch, wo er von der Jugend und dem Alter handelt, daß die Jugend nichts anderes ist als ein Anwachsen jenes [Lebens]. (9) Wo der Scheitelpunkt dieses Bogens ist, ist aufgrund der oben genannten Ungleichheit nur schwer zu wissen; aber ich glaube, bei den meisten ist er zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Jahr, und ich glaube, daß er bei den vollkommen nach der Ordnung der Natur Gewordenen im fünfunddreißigsten Jahr ist. (10) Und dazu veranlaßt mich folgendes Argument: Unser Erlöser Christus, der in seinem vierunddreißigsten Lebensjahr sterben wollte, war auf vollkommenste Weise nach der Ordnung der Natur geworden; denn es war der Gottheit nicht angemessen, in einem sich im Abnehmen befindlichen Ding zu sein, noch ist zu glauben, daß er nicht bis zum Höhepunkt in diesem unserem Leben bleiben wollte, wo er doch auch im niedrigen Alter der Kindheit gewesen ist. (11) Und dies zeigt die Tageszeit seines Todes, denn er wollte diesen seinem Leben angleichen; deswegen sagt Lukas,



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daß es beinahe die sechste Stunde war, als er starb, was soviel bedeutet wie der Höhepunkt des Tages. Woraus man aufgrund dieses „beinahe“ entnehmen kann, daß das fünfunddreißigste Jahr des Christus der Höhepunkt seines Alters war. (12) Tatsächlich wird dieser Bogen in den Schriften nicht nur durch seinen Mittelpunkt unterteilt; sondern den vier Kombinationen der entgegengesetzten Qualitäten, die in unserer Zusammensetzung sind, entsprechend, denen je ein Teil unseres Lebens eigen zu sein scheint, teilt er sich in vier Teile, die die vier Alter genannt werden. (13) Das erste [Lebensalter] heißt Jugend, die sich dem Warmen und Feuchten anpaßt; das zweite Erwachsenenalter, das sich dem Warmen und Trockenen anpaßt; das dritte heißt Alter, das sich dem Kalten und Trockenen anpaßt; das vierte heißt Greisenalter, das sich dem Kalten und Feuchten anpaßt, dem entsprechend, was Albertus im vierten Buch Über die Meteorologie schreibt. (14) Und diese Teile ereignen sich auf ähnliche Weise im Jahr mit dem Frühling, dem Sommer, dem Herbst und dem Winter; und während des Tages, d. h. bis zur dritten Stunde, danach bis zur neunten, wobei die sechste in der Mitte dieses Teils aus einem erkennbaren Grund beiseite gelassen wird, und darauf bis zur Vesper und von der Vesper an weiter. Und deswegen sagten die Heiden, d. h. die Ungläubigen, daß der Sonnenwagen vier Pferde hatte; das erste nannten sie Eoos, das zweite Pyrois, das dritte Aithon und das vierte Phlegon, dem entsprechend, was Ovid im zweiten Buch der Metamorphosen schreibt. (15) Bezüglich der Teile des Tages ist kurz darauf hinzuweisen, daß, wie oben im sechsten Kapitel des dritten Buches gesagt worden ist, die Kirche zur Unterscheidung der Stunden zeitliche Stunden benützt, die an jedem Tag zwölf sind, groß oder klein, je nach der Menge der Sonne; Und weil die sechste Stunde, d. h. die Mitte des Tages, die edelste und die kräftigste des ganzen Tages ist, nähert sie dieser [Stunde] ihre Offizien von jeder Seite her an, d. h. von früher und später, so gut sie kann. (16) Und deswegen wird das

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Offizium des ersten Teils des Tages, d. h. die Terz, am Ende dieses [Teils] gelesen; und jenes des dritten und des vierten Teils wird zu Beginn gelesen. Und deswegen sagt man halbe Terz, ehe es für jenen Teil schlägt; und halbe Non, nachdem es für diesen Teil geschlagen hat; und ebenso halbe Vesper. Und jeder wisse, daß in der vollen Non zu Beginn immer die siebte Stunde des Tages schlagen muß. Und dies genüge für die vorliegende Ausführung. •

xxiv. Zum Vorhaben zurückkehrend sage ich, daß sich das Leben der Menschen in vier Lebensalter gliedert. Das erste heißt Jugend, d. h. „Anwachsen des Lebens“; das zweite Erwachsenenalter, d. h. „Alter, das helfen kann“, nämlich Vollkommenheit zu geben, und so wird es als vollkommen verstanden – denn nichts kann etwas geben außer das, was es hat –; das dritte heißt Alter; das vierte heißt Greisenalter, wie oben gesagt worden ist. (2) Bezüglich des ersten zweifelt niemand, sondern alle Weisen stimmen überein, daß es bis zum fünfundzwanzigsten Jahr dauert; und weil unsere Seele bis zu diesem Zeitpunkt auf das Wachstum und das Ausschmücken des Körpers zielt, weswegen in der Person viele und große Veränderungen stattfinden, kann sie den rationalen Teil nicht vollkommen erkennen. Deswegen besagt das Gesetz, daß der Mensch, ehe er so alt ist, gewisse Dinge nicht ohne einen Beistand vollkommenen Alters tun kann. (3)  Bezüglich des zweiten, das tatsächlich der Höhepunkt unseres Lebens ist, wird die Zeit von vielen verschieden angenommen. Aber das, was die Philosophen und die Ärzte darüber schreiben, beiseite lassend und zur eigenen Vernunft zurückkehrend, sage ich, daß bei den meisten [Menschen], von denen man jedes natürliche Urteilen nehmen kann und muß, dieses Alter zwanzig Jahre umfaßt. Und das Argument, das mich zu diesem [Ergebnis] führt, ist, daß, wenn der Höhepunkt unseres



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Bogens im fünfunddreißigsten [ Jahr] liegt, dieses Alter ebenso viel Ansteigen wie Niedergang haben muß; und [zwischen] diesem Ansteigen und diesem Niedergang kommt sozusagen der Griff des Bogens [zu liegen], in dem wenig Anspannung auszumachen ist. (4) Es steht also fest, daß das Erwachsenenalter sich im fünfundvierzigsten Jahr erfüllt. Und wie die Jugend, die ansteigend dem Erwachsenenalter vorangeht, fünfundzwanzig Jahre umfaßt, so folgt der Niedergang, d. h. das Alter, [in] ebenso viel Zeit auf das Erwachsenenalter; und so ist das Alter im siebzigsten Jahr vollendet. (5) Aber weil die Jugend, wenn wir sie in besagter Weise auffassen, nicht mit dem Beginn des Lebens anfängt, sondern beinahe acht Jahre später; und weil unsere Natur sich beim Steigen beeilt und sie beim Niedergang bremst, weil die natürliche Wärme beeinträchtigt ist und wenig vermag und das Feuchte angeschwollen ist (allerdings nicht in der Quantität, aber in der Qualität, so daß es weniger verdampf bar und verbrauchbar ist), kommt es, daß über das Alter hinaus von unserem Leben vielleicht die Menge von zehn Jahren bleibt oder ein bißchen mehr oder weniger: Und diese Zeit heißt Greisenalter. (6) Deswegen wissen wir von Plato, von dem man sagen kann, daß er sowohl bezüglich seiner Vollkommenheit als auch bezüglich seines Gesichtsausdrucks (den Sokrates [wahrgenommen hat], als er ihn zum ersten Mal gesehen hat) am besten nach der Ordnung der Natur geworden ist, daß er einundachtzig Jahre lang lebte, gemäß dem Zeugnis des Cicero in jenem Buch Über das Alter. Und ich glaube, daß Christus, wenn er nicht gekreuzigt worden wäre und den Zeitraum gelebt hätte, den sein Leben der Natur gemäß durchleben konnte, mit einundachtzig Jahren vom sterblichen Körper in den ewigen übergegangen wäre. (7) Tatsächlich können diese Alter, wie oben gesagt worden ist, unserer Zusammensetzung und Mischung entsprechend länger oder kürzer sein; aber wie sie auch sein mögen, in diesem besagten Verhältnis finden sie sich in allen, und folgendes

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scheint mir in allen bewahrt, nämlich die Einteilung der Alter in solche, die länger und kürzer sind, entsprechend der Vollständigkeit der gesamten Zeit des natürlichen Lebens. In all diesen Altern zeigt diese Edelkeit, von der wir sprechen, ihre Wirkungen verschieden in der veredelten Seele; und dies ist es, was in diesem Teil, über den gegenwärtig geschrieben wird, gezeigt werden soll. (8) Hier muß man wissen, daß unsere gute und gerade Natur in uns vernunftgemäß vorgeht, so wie wir auch die Natur der Pflanzen in diesen vorgehen sehen; und deshalb sind andere Sitten und andere Verhaltensweisen in einem Alter vernünftiger als in einem anderen, während denen die veredelte Seele auf einem einfachen Weg geordnet vorgeht, indem sie ihre Akte zu ihren Zeiten und in ihren Altern benützt, insofern sie auf ihre letzte Frucht hingeordnet sind. Und Cicero stimmt damit überein in jenem Buch Über das Alter. (9) Das Bild, das Vergil zu diesem unterschiedlichen Vorgehen der Alter in der Aeneis entwirft, beiseite lassend und ebenso das, was der Augustinereremit Aegidius darüber im ersten Teil des Buches Über die Regierung der Fürsten sagt, sowie das, was Cicero im Buch Vom pflichtgemäßen Handeln streift, und nur dem folgend, was die Vernunft für sich selbst davon sehen kann, sage ich, daß dieses erste Alter das Tor und der Weg ist, wodurch man in unser gutes Leben eintritt. (10) Und dieser Eintritt muß aus Notwendigkeit gewisse Dinge haben, welche die gute Natur, die in den notwendigen Dingen nicht versagt, gibt; so wie wir sehen, daß sie der Rebe die Blätter zum Schutz der Frucht gibt und die Rebstöcke, mit welchen sie ihre Schwäche verteidigt und bindet, so daß sie das Gewicht ihrer Frucht aushält. (11) Die gute Natur gibt in diesem Alter also vier Dinge, die zum Eintritt in die Stadt des guten Lebens notwendig sind. Das erste ist der Gehorsam; das zweite die Süße; das dritte die Schamhaftigkeit; das vierte körperlicher Schmuck, wie es der Text im ersten Teilchen sagt. (12) Und es ist also zu wissen, daß wie jener, der nie in einer Stadt gewesen ist, den richtigen Weg



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nicht einzuhalten wüßte ohne Anleitung durch jenen, der [den Weg ] benutzt hat, so wüßte der Jugendliche, der in den trügerischen Wald dieses Lebens eintritt, den guten Pfad nicht einzuhalten, wenn er ihm nicht von seinen Älteren gezeigt würde. Noch würde er das Zeigen wahrnehmen, wenn er ihren Anordnungen gegenüber nicht gehorsam wäre; und deswegen ist diesem Alter der Gehorsam notwendig. (13) Leicht könnte jemand folgendermaßen sprechen: Also kann man sowohl jenen gehorsam nennen, der den üblen Anordnungen Glauben schenkt, als auch jenen, der den guten Glauben schenkt? Ich antworte, daß dies nicht Gehorsam wäre, sondern Überschreitung: Denn wenn der König einen Weg befiehlt und der Diener einen anderen, dann ist nicht dem Diener zu gehorchen; denn das wäre Ungehorsam gegenüber dem König, und so wäre es eine Überschreitung. (14) Und deshalb sagt Salomon, wenn er seinen Sohn zu züchtigen beabsichtigt (und dies ist seine erste Anordnung): „Höre mein Sohn auf die Ermahnungen deines Vaters.“ Und dann hält er ihn sofort von schlechtem Rat und von schlechter Ermahnung anderer fern, wenn er sagt: „Nicht sollen dir die Sünder jene Verlockung der Täuschung und der Freude machen können, auf daß du mit ihnen gehst.“ Wie der Sohn, kaum geboren, an die Brust der Mutter genommen wird, so muß er sich, kaum erscheint in ihm ein Licht des Geistes, der Maßregelung durch den Vater zuwenden und muß der Vater ihn belehren. (15) Und [der Vater] hüte sich, daß er in seinem Tun nicht ein Beispiel gibt, das den Worten der Maßregelung entgegengesetzt ist: Denn wir sehen jeden Sohn von Natur aus mehr auf die Spuren der väterlichen Füße achten als auf andere. Und deswegen sagt und befiehlt das Gesetz, das auf dies bedacht ist, daß die Person des Vaters seinen Söhnen immer heilig und ehrlich erscheinen muß; und so wird deutlich, daß der Gehorsam in diesem Alter notwendig ist. (16) Und deswegen schreibt Salomon in den Sprüchen, daß jener, der demütig und gehorsam die tadelnden Maßregelungen des Maßregeln-

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den erträgt, „ruhmreich sein wird“; und er sagt „wird sein“, um zu verstehen zu geben, daß er zum Jugendlichen spricht, der es im gegenwärtigen Alter nicht sein kann. Und wenn jemand lästern würde, „was gesagt wurde, gilt nur bezüglich des Vaters und bezüglich keines anderen“, so sage ich, daß man jeden anderen Gehorsam auf den Vater zurückführen muß. (17) Des­ wegen sagt der Apostel den Kolossern: „Kinder, hört in allen Dingen auf eure Väter, denn Gott will es so.“ Und wenn der Vater nicht am Leben ist, so muß man jenem gegenüber gehorsam sein, der vom Vater im letzten Willen an Vaters Statt gelassen worden ist; und wenn der Vater ohne Testament stirbt, muß man jenem gegenüber gehorsam sein, dem das Gesetz seine Führung überträgt. (18) Und dann muß den Lehrern und Älteren gehorcht werden, die auf eine gewisse Art ähnlich wie der Vater oder jener, der die Stelle des Vaters einnimmt, beauftragt sind. Aber weil das vorliegende Kapitel aufgrund der nützlichen Ausführungen, die es enthält, lang gewesen ist, sind in einem nächsten Kapitel andere Dinge darzulegen. •

xxv. Diese Seele und gute Natur ist in der Jugend nicht nur gehorsam, sondern auch süß; dies ist das andere Ding, das in diesem Alter notwendig ist, um gut in das Tor des Erwachsenenalters einzutreten. Notwendig ist sie, da wir ohne Freunde kein vollkommenes Leben haben können, wie es Aristoteles im achten Buch der Ethik sagt; und den größten Teil der Freundschaften scheint man in diesem ersten Alter zu sähen, denn in diesem beginnt der Mensch lieblich zu sein oder aber das Gegenteil: Diese Anmut erwirbt man durch die süßen Verhaltensweisen, die im süßen und höflichen Sprechen, im süßen und höflichen Dienen und Handeln bestehen. (2) Und deshalb sagt Salomon dem jungen Sohn: „Die Höhnenden verhöhnt Gott und den Sanften wird Gott Gnade geben.“ Und anderswo sagt er: „Halte das Schandmaul von dir fern und die anderen niederträchtigen



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Handlungen mögen dir fern stehen.“ Woraus deutlich wird, daß diese Süße, wie gesagt, notwendig ist. (3) Auch ist in diesem Alter die Leidenschaft der Schamhaftigkeit notwendig; und deshalb zeigt die gute und edle Natur sie in diesem Alter, wie es der Text sagt. Und weil die Schamhaftigkeit in der Jugend das offenste Zeichen der Edelkeit ist, weil sie hier für das gute Fundament unseres Lebens, das die gute Natur beabsichtigt, in höchstem Maße notwendig ist, ist davon nun mit einiger Aufmerksamkeit zu sprechen. (4) Ich sage, daß ich mit Schamhaftigkeit drei für das Fundament unseres guten Lebens notwendige Leidenschaften meine: Die erste ist das Staunen, die zweite ist die Scham, die dritte ist die Scheu; allerdings macht das gemeine Volk diese Unterscheidungen nicht. Und alle drei sind in diesem Lebensalter aufgrund folgender Überlegung notwendig: In diesem Alter ist es notwendig, dem Wissen gegenüber verehrend und verlangend zu sein; in diesem Alter ist es notwendig, gebremst zu werden, um nicht zu überborden; und in diesem Alter ist es notwendig, den Irrtum zu bereuen, damit man den Irrtum nicht wagt. Und all diese Dinge bewirken die oben genannten Leidenschaften, die gemeinhin Schamhaftigkeit genannt werden. (5) Denn das Staunen ist eine Betäubung des Geistes durch das Sehen, Hören oder Wahrnehmen großer und wunderbarer Dinge; insofern sie groß scheinen, erzeugen sie in jenem, der sie wahrnimmt, Verehrung; insofern sie wunderbar scheinen, machen sie begierig, etwas darüber zu wissen. Und deshalb haben die alten Könige in ihren Wohnstätten wunderbare Arbeiten aus Gold, Steinen und Kunstfertigkeit gemacht, auf daß jene, die sie sehen, in Staunen versetzt werden und dadurch ehrfurchtsvoll und zu solchen, die ehrenvolle Bedingungen des Königs erbitten. (6) Und deshalb sagt Statius, der süße Dichter, im ersten Buch der Thebais, daß Adrastos, der König der Argäer, in Staunen versetzt wurde und dadurch ehrfurchtsvoller und begieriger zu wissen, als er den Polineikes mit einem Löwenfell und den Tideus

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mit einem Wildschweinfell bedeckt sah und sich an die Antwort erinnerte, die Apollo bezüglich seiner Töchter gegeben hatte. (7) Die Scham ist ein Rückzug des Geistes von den häßlichen Dingen, verbunden mit der Angst in jene zu fallen; so wie wir es bei den jungen Mädchen, bei den guten Frauen und bei den Jugendlichen sehen, die derart schamhaft sind, daß sie nicht nur, wenn sie zu sündigen aufgefordert oder dazu verleitet werden, sondern auch, wenn man bloß irgendeine Vorstellung von geschlechtlicher Handlung haben könnte, alle im Gesicht bleich oder rot werden. (8) Deswegen sagt der oben genannte Dichter im angeführten ersten Buch der Thebais, daß die jungen Frauen bleich und rot wurden und ihre Augen jeden anderen Anblick mieden und sich nur an das väterliche Gesicht, sozusagen als Sicherheit, hielten, als Acaste, die Amme der Argeia und der Deipyle, der Töchter des Königs Adrastos, die [beiden] in Anwesenheit der zwei Wanderer, d. h. des Polineikes und des Tydeus, vor die Augen des heiligen Vaters führte. (9) Ach wieviele Verfehlungen werden durch diese Scham vermieden, wieviel unehrenhafte Dinge und Bitten läßt sie verstummen, wieviele unehrenvolle Begierden hemmt sie, vor wievielen üblen Versuchungen warnt sie nicht nur die schamhafte Person, sondern auch jenen, der sie betrachtet, wieviel häßliche Worte hält sie zurück! Denn wie Cicero im ersten Buch von Über die Ämter sagt: „Es gibt keine häßliche Handlung, die zu nennen nicht auch häßlich ist“; und deshalb spricht der scheue und edle Mann nie so, daß einer Frau seine Worte nicht ehrenhaft wären. Ach wie steht es jedem edlen Menschen, der auf der Suche nach Ehre ist, schlecht an, Dinge zu erwähnen, die sich im Mund einer jeden Frau schlecht ausnehmen. (10) Die Scheu ist eine Angst vor der Unehre aufgrund einer begangenen Verfehlung; und aus dieser Angst entsteht Reue über die Verfehlung, die in sich etwas Bitteres hat, das die Zurechtweisung ist, keine Verfehlung mehr zu begehen. Des­wegen



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sagt der gleiche Dichter am selben Ort, daß Polineikes, als er vom König Adrastos nach seiner Herkunft gefragt wurde, ehe er antwortete, zweifelte, aufgrund der Schande der Verfehlung, die er am Vater begangen hatte, und auch wegen der Verfehlungen seines Vaters Oedipus, die in der Schande des Sohnes weiter zu bestehen scheinen; und er nannte seinen Vater nicht, aber seine Altvorderen, seine Heimat und seine Mutter. Woraus gut deutlich wird, daß Schamhaftigkeit in diesem Alter notwendig ist. (11) Und die edle Natur zeigt in diesem Alter nicht nur Gehorsam, Süße und Schamhaftigkeit, sondern sie zeigt auch Schönheit und Behändigkeit des Körpers; so wie es der Text sagt, wenn er sagt: Und ihre Person schmückt. Und dieses „schmückt“ ist Verb und nicht Nomen: Verb, sage ich, das die Gegenwart in der dritten Person anzeigt. Hier muß man wissen, daß auch dieses Werk für unser gutes Leben notwendig ist; denn unsere Seele muß einen großen Teil ihrer Handlungen mittels eines körperlichen Organs ausführen, und dann handelt sie gut, wenn der Körper in seinen Teilen gut geordnet und bereit ist. (12)  Und wenn er gut geordnet und bereit ist, dann ist er als Ganzes schön und auch in seinen Teilen; denn die geschuldete Ordnung unserer Glieder vermittelt ein Wohlgefallen von ich weiß nicht welch schöner Harmonie, und die gute Anordnung, d. h. die Gesundheit, wirft über [den Körper] eine lieblich anzuschauende Farbe. (13) Und so bedeutet, daß die edle Natur ihren Körper verschönere und sie ihn schön und wohlgestalt mache, nichts anderes als zu sagen, daß sie ihn zur Vollkommenheit der Ordnung herrichtet, und es wird, wie bezüglich der anderen dargelegten Dinge, deutlich, daß dies der Jugend notwendig ist: Diese [Dinge] gibt die edle Seele, d. h. die edle Natur, und auf sie zielt sie zuerst, insofern sie ein Ding ist, das, wie gesagt, von der göttlichen Vorsehung gesät ist. •

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xxvi. Nachdem über das erste Teilchen dieses Teils, das zeigt, wie wir den edlen Menschen anhand der sichtbaren Zeichen erkennen können, gehandelt worden ist, ist zum zweiten Teil überzugehen, der damit beginnt: Im Erwachsenenalter ausgeglichen und stark. (2) Er sagt also, daß wie die edle Natur in der Jugend sich gehorsam, süß und schamhaft und als Schmückerin ihrer Person zeigt, so macht sie sich im Erwachsenenalter ausgeglichen, stark, lieblich, höflich und aufrichtig: Diese fünf Dinge scheinen zu unserer Vollkommenheit notwendig, insofern wir uns auf uns selbst beziehen, und sie sind es auch. (3) Und diesbezüglich muß man wissen, daß alles, was die edle Natur im ersten Alter vorbereitet, durch die Voraussicht der allgemeinen Natur, die die partikuläre [Natur] auf ihre Vollkommenheit hinordnet, gerüstet und geordnet ist. Diese unsere Vollkommenheit kann man zweifach betrachten. Man kann sie betrachten, insofern sie uns selbst betrifft: Und so muß man in unserem Erwachsenenalter, das der Gipfel unseres Lebens ist, vorgehen. (4)  Man kann sie betrachten, insofern sie sich auf andere bezieht; und weil man zuerst vollkommen sein muß und danach seine Vollkommenheit den anderen mitteilen muß, muß man diese zweite Vollkommenheit nach diesem Lebensalter haben, d. h. im Alter, wie unten gesagt werden wird. (5)  Hier ist also das in Erinnerung zu rufen, was oben im zweiundzwanzigsten Kapitel dieses Buches über das Verlangen, das in uns aus unserem Prinzip hervorgeht, gesagt wird. Dieses Verlangen macht nie etwas anderes als zu jagen und zu fliehen; und wenn immer es das [Richtige] jagt und soviel, wie richtig ist, und es das [Richtige] flieht und soviel, wie richtig ist, dann bewegt sich der Mensch in den Grenzen seiner Vollkommenheit. (6) Tatsächlich muß dieses Verlangen von der Vernunft gebändigt werden; denn wie ein ungezügeltes Pferd, mag es von noch so edler Natur sein, für sich allein, ohne den guten Reiter, sich nicht gut führt, so muß dieses Verlangen, das auf brausend und begehrend genannt wird, so edel es auch sein mag, der Ver-



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nunft gehorchen, die es mit Zügeln und Sporen führt, gleich einem guten Reiter. (7) Die Zügel benützt [die Vernunft], wenn es jagt, und diese Zügel heißen Mäßigung, welche das Ziel zeigt, bis zu dem zu jagen ist; und die Sporen benützt [die Vernunft], wenn es flieht, um es an den Ort zurückzuwenden, vor dem es fliehen will, und diese Sporen heißen Stärke oder besser Großmut, welche Tugend den Ort zeigt, wo man anhalten und kämpfen muß. (8) Und derart ungebremst zeigt Vergil, unser größter Dichter, den Aeneas in jenem Teil der Aeneis, wo dieses Alter versinnbildlicht wird; dieser Teil umfasst das vierte, das fünfte und das sechste Buch der Aeneis. Und welch große Zügelung war es, als er, nachdem er von Dido soviel Freude bekommen hatte, wie weiter unten im siebten Traktat gesagt werden wird, und er, nachdem er mit dieser soviel Vergnügen gepflegt hatte, von ihr Abschied nahm, um einen ehrenvollen, lobenswerten und fruchtbaren Weg zu folgen, wie es im vierten Buch der Aeneis beschrieben ist. (9) Was waren das für Sporen, als dieser Aeneas es mit der Sybille allein unternahm, trotz der vielen Gefahren in die Hölle einzudringen, um die Seele seines Vaters Anchises zu suchen, wie im sechsten Buch der besagten Geschichte gezeigt wird! Woraus deutlich wird, daß wir in unserem Erwachsenenalter zu unserer Vollkommenheit „ausgeglichen und stark“ sein müssen. Und dies veranlaßt und zeigt die gute Natur, wie es der Text ausdrücklich sagt. (10) Weiter muß dieses Lebensalter zu seiner Vollkommenheit notwendigerweise lieblich sein; denn ihm kommt es zu, nach hinten und nach vorn zu schauen, so wie ein Ding, das am Mittag des Kreises ist. Es muß die Älteren lieben, von denen es Sein, Nahrung und Lehre empfangen hat, auf daß es nicht undankbar erscheine; es muß die Jüngeren lieben, auf daß es, diese liebend, ihnen von seinen Wohltaten gebe, aufgrund derer es dann bei geringerem Wohlstand von diesen unterstützt und geehrt wird. (11) Und daß Aeneas über diese Liebe verfügte, zeigt der besagte Dichter im fünften oben genannten Buch, als er die

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alten Trojaner in der Obhut des Acestes auf Sizilien zurückließ und sie der Sorgen enthob; und als er an diesem Ort Ascanius, seinen kleinen Sohn, zusammen mit den anderen Jungen den Umgang mit den Waffen lehrte. Woraus deutlich wird, daß es in diesem Lebensalter notwendig ist zu lieben, wie es der Text sagt. (12) Weiter ist es in diesem Lebensalter notwendig, höflich zu sein; in jedem Lebensalter ist das Vorhandensein höflicher Umgangsformen schön, aber in diesem ist es in höchstem Maße notwendig; denn [der Jugend gebührt leichthin Verzeihung, wenn sie es aufgrund des Mangels des Lebensalters an Höflichkeit fehlen läßt, und ebenso], wenn auch aus dem Gegenteil, kann das Alter sie aufgrund seiner Schwere und der Ernsthaftigkeit, die man von ihm verlangt, nicht haben; und so noch mehr beim Greisenalter. (13) Und daß Aeneas diese Höflichkeit hatte, zeigt der erhabenste Dichter im sechsten oben genannten [Buch], wenn er sagt, daß König Aeneas, um den Körper des toten Misenus zu ehren, welcher der Trompeter des Hektor gewesen war und sich danach ihm empfohlen hatte, selbst Hand anlegte und zur Axt griff, um beim Fällen des Holzes für das Feuer zu helfen, das den toten Körper, wie es ihr Brauch war, verbrennen mußte. Woraus gut deutlich wird, daß [die Höflichkeit] im Erwachsenenalter notwendig ist, und deshalb zeigt die edle Seele diese in diesem [Lebensalter], wie gesagt worden ist. (14)  Weiter ist es in diesem Alter notwendig, gesetzestreu zu sein: Gesetzestreue bedeutet, den Gesetzen Folge zu leisten und das in Handlungen umzusetzen, was die Gesetze verlangen, und das ziemt sich in höchstem Maße für den Erwachsenen; denn der Junge verdient, wie bereits gesagt worden ist, aufgrund des geringen Lebensalters leichthin Verzeihung; der Alte muß aufgrund von mehr Erfahrung gerecht sein und nicht Prüfer der Gesetze, außer insofern als sein aufrichtiges Urteil und das Gesetz beinahe eins sind und er sich, beinahe ohne ein Gesetz, gerecht benehmen muß, was der Erwachsene nicht ma-



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chen kann. Und es genüge, daß er das Gesetz befolgt und sich in diesem Befolgen erfreut: So, wie der genannte Dichter im besagten fünften Buch sagt, machte es Aeneas, indem er, als er am Todestag des Vaters die Spiele in Sizilien veranstaltete, jedem Sieger aufrichtig gab, was er für den Sieg versprochen hatte, wie es bei ihnen seit langem Brauch und damit Gesetz war. (15)  Woraus deutlich wird, daß in diesem Lebensalter Gesetzestreue, Höflichkeit, Liebe, Stärke und Maß notwendig sind, wie es der Text sagt, der hier erklärt wird; und deshalb zeigt die edle Seele sie alle. •

xxvii.  Dieses Teilchen des Textes ist genügend feinsinnig betrachtet und dargestellt worden, wobei jene Eigenschaften gezeigt worden sind, die die edle Seele dem Erwachsenenalter verleiht; weswegen nun der dritte Teil anzugehen ist, der beginnt: Und in ihrem Alter, wo der Text zu zeigen beabsichtigt, welche Dinge die edle Natur im dritten Lebensalter, d. h. im Alter zeigt und haben muß. (2)  Und er sagt, daß die edle Seele im Alter klug, gerecht und freigebig ist und sie sich freut, von anderen [Menschen] gute Dinge zu sagen und zu hören, d. h. sie ist liebenswürdig. Und tatsächlich passen diese vier Tugenden überaus gut zu diesem Lebensalter. Und um dies zu erkennen, ist zu wissen, daß, wie Cicero in jenem Buch Über das Alter sagt, „unser gutes Lebensalter einen sicheren Verlauf hat und der Weg unserer guten Natur ein einfacher ist; und jedem Teil unseres Lebens ist die Zeit für gewisse Dinge gegeben“. (3) Deswegen ist, so wie der Jugend, wie oben gesagt worden ist, das gegeben, wodurch sie zu Vollkommenheit und Reife gelangen kann, dem Erwachsenenalter die Vollkommenheit gegeben und dem Alter die Reife, auf daß die Süße seiner Frucht ihm und anderen vorteilhaft sei; denn der Mensch ist, wie Aristoteles sagt, ein gemeinschaftliches Lebewesen, weswegen von ihm verlangt wird, nicht nur sich selbst, sondern auch anderen nützlich zu sein. Deswegen ist über Cato zu lesen, daß er glaubte, nicht für sich

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sondern für das Vaterland und die ganze Welt geboren worden zu sein. (4) Deswegen hat nach der eigenen Vollkommenheit, die im Erwachsenenalter erworben wird, jene [ Vollkommenheit] zu kommen, die nicht nur sich selbst erleuchtet sondern auch die anderen; und der Mensch muß sich sozusagen wie eine Rose, die nicht länger geschlossen sein kann, öffnen, und er muß den im Innern erzeugten Duft ausströmen lassen: Und dies hat in diesem dritten Lebensalter zu geschehen, von dem gegenwärtig gehandelt wird. (5) Es ziemt sich also, klug zu sein, d. h. weise: Und um dies zu sein, bedarf es der guten Erinnerung an die gesehenen Dinge, gute Kenntnis der gegenwärtigen und gute Voraussicht der künftigen. Und wie der Philosoph im sechsten Buch der Ethik sagt, „kann unmöglich weise sein, wer nicht gut ist“, und deswegen ist nicht weise zu nennen, wer mittels Unterschlagungen und Täuschungen vorgeht, sondern er ist verschlagen zu nennen; denn so wie niemand jenen weise nennen würde, der sich geschickt dem Messerstich in die Pupille des Auges zu entziehen wüßte, so ist jener nicht weise zu nennen, der ein übles Ding gut zu bewerkstelligen versteht, wobei er, dies vollbringend, stets zuerst sich selbst vor anderen verletzt. (6) Wenn man genau hinschaut, so kommen aus der Klugheit die guten Ratschläge, die einen selbst und andere zu einem guten Ende in den menschlichen Dingen und Handlungen führen; und dies ist jene Gabe, die Salomon, als er sich als Herrscher über das Volk gesetzt sah, von Gott erbat, wie im ersten Buch der Könige geschrieben steht. (7) Solch ein Kluger wartet nicht, daß jemand fragt: „Berate mich“, sondern für ihn voraussehend berät er ihn, ohne gefragt zu werden; so wie die Rose ihren Duft nicht nur jenem gibt, der ihres Duftes wegen zu ihr hintritt, sondern auch jedem, der nahe bei ihr vorbeigeht. (8)  Hier könnte irgendein Arzt oder Jurist sagen: Dann werde ich meinen Rat also auch jenem antragen und geben, der ihn nicht erbeten hat, und werde so von meiner Kunst keine Früchte haben? Ich antworte, wie unser Herr spricht: „Umsonst



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habt ihr empfangen, umsonst ist es gegeben.“ (9) Ich sage also, Herr Jurist, daß du jene Ratschläge, die sich nicht auf deine Kunst beziehen und die allein dem guten Verstand entspringen, den Gott dir gegeben hat (was die Klugheit ist, von der wir sprechen), den Söhnen dessen, der dir [den Verstand] gegeben hat, nicht verkaufen darfst: Jene, die sich auf die Kunst beziehen, die du gekauft hast, kannst du verkaufen; aber nicht derart, daß es nicht hin und wieder notwendig ist, den Zehnten abzuliefern und Gott zu geben, d. h. jenen Ärmsten, denen nur das göttliche Wohlgefallen geblieben ist. (10) Auch hat man in diesem Lebensalter gerecht zu sein, auf daß seine Urteile und seine Autorität den anderen Licht und Gesetz seien. Und weil von den alten Philosophen erkannt worden ist, daß diese spezielle Tugend, d. h. die Gerechtigkeit, in diesem Alter vollkommen in Erscheinung tritt, vertrauten sie die Führung der Städte Menschen dieses Alters an; und deswegen wurde das Kollegium der Führer Ältestenrat genannt. (11) Ach mein armes, armes Vaterland! Wieviel Mitleid empfinde ich für dich, wie oft lese ich, wie oft schreibe ich Dinge, die sich auf die Führung des Gemeinwesens beziehen! Aber weil von der Gerechtigkeit im zweitletzten Traktat dieses Bandes gehandelt werden wird, mag es hier genügen, dieses Wenige berührt zu haben. (12) Auch hat man in diesem Lebensalter freigebig zu sein; denn ein Ding ist passend, wenn es das, was seine Natur verlangt, besser befriedigt, und das, was die Freigebigkeit verlangt, kann nie derart befriedigt werden, wie in diesem Lebensalter. Denn wenn wir den Gedankengang des Aristoteles im vierten Buch der Ethik und des Cicero in Vom pflichtgemäßen Handeln genau betrachten, hat die Freigebigkeit bezüglich Ort und Zeit derart zu sein, daß der Freigebige weder sich selbst noch anderen schadet. (13)  Dies kann ohne Klugheit und Gerechtigkeit nicht geschehen; welche Tugenden auf natürliche Weise vor diesem Lebensalter vollkommen zu haben, unmöglich ist. Ach

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ihr Unheilvollen und Mißgeburten, die ihr Witwen und Kinder zugrunde richtet, die ihr jene beraubt, die weniger haben, die ihr die Ansprüche anderer stehlt und besetzt; und davon richtet ihr Festgelage ein, verschenkt ihr Pferde und Waffen, Sachen und Geld, tragt ihr wunderbare Kleider, erbaut ihr wunderbare Gebäude und glaubt freigebig zu sein! (14) Was ist dies anderes, als das Tuch vom Alter zu stehlen und den Tisch des Diebes damit zu decken? Nicht anders muß man, ihr Tyrannen, über eure Geschenke lachen, als über jenen Dieb, der die Eingeladenen in sein Haus führte und dort das vom Altar gestohlene, noch mit den kirchlichen Zeichen markierte Tuch auf dem Tisch ausbreitete und glaubte, daß die anderen dies nicht bemerken würden. (15) Hört ihr Eigensinnigen, was Cicero gegen euch im Buch Vom pflichtgemäßen Handeln sagt: „Es gibt viele, die gewiß begierig sind, als etwas zu erscheinen und ruhmreich zu sein, die den einen wegnehmen, um den anderen zu geben, wobei sie glauben, für gut gehalten zu werden, wenn sie, aus welchem Grund auch immer, jene bereichern. Aber dies ist dem, was zu tun sich ziemt, derart entgegengesetzt, daß es nichts [Entgegengesetzteres] gibt.“ (16) Auch hat man in diesem Lebensalter liebenswürdig zu sein, das Gute darzulegen und es gerne zu hören: Denn dann ist das Darlegen des Guten gut, wenn es gehört wird. Und dieses Lebensalter verfügt auch über einen Schatten von Autorität, weswegen der Mensch ihm mehr zuzuhören scheint als jedem frischeren Lebensalter, und es scheint, daß es, aufgrund seiner langen Lebenserfahrung, mehr und schönere Geschichten kennen muß. Deswegen sagt Cicero in jenem Buch Über das Alter in der Person des alten Cato sprechend: „Mehr als ich sie jemals hatte, ist mir sowohl der Wille als auch die Lust wieder gekommen, an Gesprächen teilzunehmen.“ (17) Und daß diese vier Dinge insgesamt diesem Lebensalter zukommen, lehrt Ovid im siebten Buch der Metamorphosen, in jener Fabel, in der er schreibt, wie Kephalos von Athen den



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König Aiakos in jenem Krieg um Hilfe gebeten hat, den Athen gegen die Kreter führte. Er zeigt, wie der alte Aiakos klug war, als er, nachdem er wegen der durch verdorbene Luft verursachten Pestilenz beinahe sein ganzes Volk verloren hatte, sich weise an Gott wandte und von ihm die Wiederherstellung der Verstorbenen verlangte; und aufgrund seines Verstandes, der ihn zur Ruhe ermahnte und ihn sich Gott zuwenden ließ, war sein ihm wiederhergestelltes Volk größer als zuvor. (18) [Ovid] zeigt, daß [Aiakos] gerecht war, wenn er sagt, daß er dem neuen Volke sein verlassenes Land zu- und verteilte. Und er zeigt, daß er freigebig war, wenn er nach der Bitte um Hilfe zu Kephalos sagte: „Oh Athen, verlange von mir keine Hilfe, sondern nimm sie dir; und zweifle nicht an den Kräften, die diese Insel hat. Und so verhalten sich unsere Dinge: Kräfte fehlen uns nicht, im Gegenteil, wir haben sie im Überfluß; und der Gegner ist groß, und es ist Zeit zu geben, wohl gewagt und ohne Entschuldigung.“ (19) Ach, wieviele Dinge sind an dieser Antwort bemerkenswert! Aber den wirklich Aufmerksamen möge es reichen, daß sie hier so angeführt sind, wie Ovid sie bringt. Er zeigt, daß [Aiakos] liebenswert ist, wenn er in einer langen Rede dem Kephalos die Geschichte der Pestilenz seines Volkes erzählt und dessen Wiederherstellung ausführlich schildert. (20)  Woraus genügend offenkundig ist, daß diesem Lebensalter vier Dinge zukommen; weswegen die edle Natur sie in diesem [Lebensalter] zeigt, wie es der Text sagt. Und damit das besagte Beispiel erinnerungswürdiger sei, sagt Ovid bezüglich König Aiakos, daß dieser der Vater des Telamon, des Peleus und des Phokos gewesen ist, und daß Telamon der Vater des Ajax und Peleus der Vater des Achilles gewesen ist. •

xxviii. Im Anschluß an das dargelegte Teilchen ist zum letzten überzugehen, d. h. zu jenem, das beginnt: Dann im vierten Teil des Lebens; mit welchem der Text zu zeigen beabsichtigt, was

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die edle Seele im letzten Lebensalter macht, d. h. im Greisenalter. (2) Und er sagt, daß sie zwei Dinge tut: Zum einen, daß sie zu Gott zurückkehrt, als zu jenem Hafen, von dem sie abgelegt hat, als sie in das Meer dieses Lebens aufgebrochen ist; das andere ist, daß sie den Weg segnet, den sie zurückgelegt hat, weil er gerade und gut gewesen ist und ohne die Bitternis des Sturms. (3) Und hier muß man wissen, daß, wie Cicero in jenem Buch Über das Alter sagt, der natürliche Tod uns sozusagen der Hafen nach einer langen Seereise ist und Ruheort. Und so ist es: [Denn], wie der gute Seemann, wenn er sich dem Hafen nähert, seine Segel einholt und sanft, mit langsamer Fahrt in diesen einfährt; so müssen wir die Segel unserer weltlichen Handlungen einholen und mit unserem ganzen Trachten und von ganzem Herzen zu Gott zurückkehren, auf daß man voller Lieblichkeit und Frieden zu jenem Hafen gelange. (4) Und darin haben wir durch unsere eigene Natur eine große Belehrung bezüglich der Lieblichkeit, denn in einem derartigen Tod ist kein Schmerz noch irgendeine Bitterkeit, sondern so wie ein reifer Apfel sich leicht und ohne Gewalt von seinem Ast löst, so trennt sich unsere Seele ohne Schmerz vom Körper, in dem sie gewesen ist. Deswegen sagt Aristoteles in jenem Buch Über die Jugend und das Alter, daß „der Tod, der im Alter kommt, ohne Trauer ist“. (5) Und so wie jenem, der von einer langen Reise heimkehrt, ehe er durch das Tor seiner Stadt tritt, die Bürger dieser Stadt entgegengehen, so gehen der edlen Seele die Bürger des ewigen Lebens entgegen, und sie müssen dies auch; und so handeln sie aufgrund ihrer guten Handlungen und ihrer Schau: Denn nachdem sie sich bereits Gott zugewendet und sich von den weltlichen Dingen und Gedanken gelöst hat, scheint es ihr, jene zu sehen, von denen sie glaubt, daß sie bei Gott sind. (6) Höre, was Cicero in der Person des alten Cato sagt: „Mir scheint es, daß ich bereits sehe, und ich erhebe mich mit größtem Eifer, um eure Väter zu sehen, die ich liebte, und nicht nur jene, [die ich selbst gekannt habe], sondern auch jene,



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von denen ich sprechen hörte.“ (7) Die edle Seele wendet sich in diesem Lebensalter also Gott zu, und sie erwartet das Ende dieses Lebens mit viel Verlangen, und es scheint ihr, daß sie das Gasthaus verläßt und daß sie in ihr eigenes Gebäude zurückkehrt, es scheint ihr, daß sie den Weg beendet und in die Stadt zurückkehrt, es scheint ihr, daß sie das Meer verläßt und in den Hafen zurückkehrt. Ach ihr Armen und Niederträchtigen, die ihr mit gesetzten Segeln auf diesen Hafen zueilt, wo ihr zur Ruhe kommen solltet, scheitert ihr wegen der Kraft des Windes, und ihr verliert euch selber dort, wo ihr so lange gewandelt seid! (8) Gewiß wollte der Ritter Lancelot nicht mit gesetzten Segeln anlegen und auch unser überaus edler Italiener Guido von Montefeltro nicht. Gut haben diese Edlen die Segel ihrer weltlichen Handlungen eingeholt, indem sie sich in ihrem hohen Alter einem Orden zugewandt haben und jede weltliche Lust und Handlung abgelegt haben. (9) Und niemand kann sich mit dem Band der Ehe entschuldigen, daß es ihn im hohen Alter binde; denn zur Religion kehren nicht allein jene zurück, die sich in ihrer Kleidung und in ihrem Leben dem heiligen Benediktus, dem heiligen Augustinus, dem heiligen Franziskus und dem heiligen Dominikus ähnlich machen, denn selbst im Stand der Ehe kann man zur guten und wahren Religion zurückkehren, denn Gott wollte nicht, daß wir Ordensleute werden, es sei denn mit dem Herzen. (10) Und deshalb sagt der heilige Paulus zu den Römern: „Nicht jener, der es offensichtlich ist, ist Jude, noch ist jene [Beschneidung ], die offensichtlich im Fleisch ist, die Beschneidung; sondern jener, der es im Geheimen ist, ist Jude, und die Beschneidung des Herzens, im Geist und nicht im Buchstaben, ist die Beschneidung: Ihr Lob obliegt nicht den Menschen, sondern Gott.“ (11)  Und die edle Seele segnet in diesem Lebensalter auch die vergangenen Zeiten, und sie kann diese gut segnen; denn, indem sie ihre Erinnerung diesen zuwendet, erinnert sie sich ihrer rechten Handlungen, ohne welche sie nicht mit soviel

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Reichtum, noch mit soviel Verdienst zu dem Hafen gelangen konnte, dem sie sich nähert. (12) Und sie hält es wie der gute Kaufmann, der, wenn er in die Nähe seines Hafens gelangt, seinen Gewinn prüft und sagt: „Wenn ich nicht diesen Weg genommen hätte, hätte ich diesen Schatz nicht, und ich hätte nichts, an dem ich mich in meiner Stadt, der ich mich nähere, erfreuen könnte“; und deshalb segnet er den Weg, den er genommen hat. (13) Und daß diese zwei Dinge diesem Lebensalter zukommen, stellt der große Dichter Lucan im zweiten Buch seiner Pharsalia dar, wenn er sagt, daß Marcia zu Cato zurückkehrte und ihn fragte und bat, daß er sie als Gerechte zurücknehme: Unter dieser Marcia wird die edle Seele verstanden. (14)  Und folgendermaßen können wir die Figur in die Wahrheit überführen: Marcia war Jungfrau, und mit diesem Zustand wird die Jugend bezeichnet; [danach ehelichte sie] den Cato, und mit diesem Zustand wird das Erwachsenenalter bezeichnet; darauf hat sie Söhne geboren, durch welche jene Tugenden bezeichnet werden, von denen oben gesagt worden ist, daß sie dem Erwachsenenalter zukommen; und sie trennte sich von Cato und verheiratete sich mit dem Hortensius, wodurch bezeichnet wird, daß sie sich vom Erwachsenenalter trennte und ins Alter gelangte; auch mit diesem hatte sie Söhne, wodurch jene Tugenden bezeichnet werden, von denen oben gesagt worden ist, daß sie dem Alter zukommen. (15)  Hortensius starb; wodurch das Ende des Alters bezeichnet wird; und Witwe geworden – durch die Witwenschaft wird das Greisenalter bezeichnet – kehrte Marcia zu Beginn ihrer Witwenschaft zu Cato zurück, wodurch bezeichnet wird, daß die edle Seele zu Beginn des Greisenalters zu Gott zurückkehrt. Und welcher irdische Mensch war würdiger, Gott zu bezeichnen, als Cato? Gewiß keiner. (16) Und was sagt Marcia zu Cato? „Während in mir das Blut war“, d. h. das Erwachsenenalter, „während in mir die mütterliche Tugend war“, d. h. das Alter, das, wie oben gezeigt worden



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ist, wahrlich die Mutter der anderen Tugenden ist, „befolgte und erfüllte ich“, sagt Marcia, „deine Befehle“, was soviel heißt wie, daß die Seele sich an die Handlungen der Gemeinschaft hielt. Sie sagt: „Zwei Ehemänner habe ich genommen“, d. h. in zwei Lebensaltern bin ich fruchtbar gewesen. (17) „Jetzt“, sagt Marcia, „wo mein Schoß erschöpft ist und ich aufgrund der Geburten leer bin, wende ich mich zu dir zurück, denn ich kann keinem anderen Gemahl mehr gegeben werden“; was bedeutet, daß die edle Seele, da sie erkennt, daß sie keinen fruchtbringenden Leib mehr hat, d. h. wenn ihre Glieder fühlen, daß sie in einen schwachen Zustand gelangt sind, zu Gott zurückkehrt, zu jenem, der der körperlichen Glieder nicht bedarf. (18) Und Marcia sagt: „Gib mir die Verträge der alten Betten, gib mir den einzigen Namen der Heirat“; was bedeutet, daß die edle Seele zu Gott sagt: „Gib mir, mein Herr, jetzt deine Ruhe; gib mir, daß ich mindestens im Lebensabend dein genannt werde.“ Und Marcia sagt: „Zwei Gründe bewegen mich, dies zu sagen: Der eine ist, daß man nach meinem Ableben sagt, daß ich als Frau des Cato gestorben bin; der andere ist, daß man nach meinem Ableben sagt, daß du mich nicht verjagt hast, sondern mich freudigen Geistes geheiratet hast.“ (19) Diese zwei Gründe bewegen die edle Seele; sie will als Gemahlin Gottes aus diesem Leben scheiden, und sie will zeigen, daß seine Schöpfung Gott wohlgefällig war. Ach ihr Unglücklichen und Mißgeburten, die ihr unter dem Titel des Hortensius und des Cato aus diesem Leben scheiden wollt! Schön ist es, in dessen Namen das zu beenden, was bezüglich der Zeichen der Edelkeit darzulegen war, denn in ihm zeigt diese Edelkeit sie alle in allen Lebensaltern. •

xxix. Nachdem der Text die Zeichen dargestellt hat, die jedem Lebensalter entsprechend im edlen Menschen auftauchen und aufgrund derer man ihn erkennen kann und ohne welche er ebensowenig sein kann wie die Sonne ohne Licht und das Feuer

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ohne Wärme, macht der Text die Leute auf das letzte, was über die Edelkeit auszuführen ist, aufmerksam, und er sagt: „Und ihr, die ihr mich jetzt gehört habt, seht ihr, wieviele die Getäuschten sind!“, d. h. jene, die, weil sie zu einem berühmten und alten Geschlecht gehören und weil sie von hervorragenden Vätern abstammen, glauben, edel zu sein und dabei keinerlei Edelkeit in sich haben. (2)  Und hier ergeben sich zwei Fragen, die, am Ende dieses Buches anzugehen, schön ist. Der Herr Manfred von Vico, der sich jetzt Prätor nennt und Präfekt, könnte sagen: „Wie auch immer ich bin, ich rufe meine Vorfahren in Erinnerung und stelle sie dar, die aufgrund ihrer Edelkeit das Amt der Präfektur verdient haben, die es verdient haben, bei der Krönung des Kaisers Hand anzulegen, die es verdient haben, vom römischen Hirten die Rose zu empfangen: Ehre darf ich empfangen und die Ehrerbietung der Leute.“ Und dies ist die eine Frage. (3) Die andere Fragen könnten jene von Santo Nazzaro aus Pavia und jene der Piscitelli aus Neapel formulieren: „Wenn die Edelkeit das ist, was gesagt worden ist, d. h. der göttliche Samen, der gnädig in die menschliche Seele gepflanzt ist, und die Geschlechter oder besser Sippen keine Seele haben, wie es offenkundig ist, dann könnte kein Geschlecht oder besser keine Sippe edel genannt werden: Und dies ist gegen die Meinung jener, die sagen, unsere Geschlechter seien die edelsten in ihren Städten.“ (4) Auf die erste Frage antwortet Juvenal in der achten Satire, wenn er beinahe ausrufend beginnt: „Was tun diese alten Ehrengeschlechter, die von den Alten übriggeblieben sind, wenn man durch jenen, der sich mit ihnen schmücken will, schlecht lebt? Wenn es sich durch jenen, der von seinen Altvorderen erzählt und ihre großen und wunderbaren Handlungen darlegt, nur auf schlechte und niederträchtige Handlungen versteht?“ Denn, so sagt der satirische Dichter, „[wer nennt] aufgrund der guten Herkunft jemanden edel, der der guten Herkunft nicht würdig ist? Dies ist nichts anderes, als den Zwerg einen Riesen zu nennen.“ (5) Und danach sagt er



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zu ebendiesem: „Zwischen dir und der in Erinnerung an deine Altvorderen errichteten Marmorstatuen gibt es keinen Unterschied, außer daß ihr Kopf aus Marmor ist und deiner lebt.“ Und in diesem Punkt bin ich, bei allem Respekt, mit dem Dichter nicht einverstanden, denn die Statue aus Marmor, Holz oder Metall, die als Erinnerung an irgendeinen wertvollen Menschen geblieben ist, unterscheidet sich in der Wirkung sehr von schlechten Nachkommen. (6)  Denn die Statue bestätigt stets die gute Meinung jener, die vom großen Ruhm dessen gehört haben, für den die Statue steht, und in den anderen erzeugt sie diese: Der unheilvolle Sohn oder Enkel bewirkt das Gegenteil, d. h. er schwächt die Meinung jener, die Gutes von seinen Vorfahren gehört haben; denn in Gedanken sagen sie: „Es kann nicht sein, daß seine Vorfahren so großartig sind, wie man sagt, wo man doch sieht, daß aus ihrem Samen eine derartige Pflanze entstanden ist.“ Weswegen nicht Ehre sondern Verachtung verdient, wer bezüglich der Guten ein schlechtes Zeugnis abgibt. (7) Deshalb sagt Cicero, daß „der Sohn des wertvollen Vaters sich darum bemühen muß, ein gutes Zeugnis vom Vater zu geben“. Wie nach meinem Urteil jemand, der einen wertvollen Menschen entehrt, verdient, daß die Leute ihn fliehen und nicht auf ihn hören, verdient es ebenso der unheilvolle Abkömmling der guten Vorfahren, daß er von allen verjagt wird, und der gute Mensch muß die Augen verschließen, um jenen Tadel, der die nur in der Erinnerung erhalten gebliebene Güte tadelt, nicht zu sehen. Und dies genüge gegenwärtig bezüglich der ersten vorgebrachten Frage. (8) Auf die zweite Frage kann man antworten, daß ein Geschlecht für sich genommen keine Seele hat und es wohl wahr ist, daß man sie edel nennt und sie es auf eine gewisse Weise ist. Hier muß man wissen, daß jedes Ganze aus seinen Teilen besteht. Es gibt Ganze, die mit ihren Teilen ein einfaches Wesen haben, so wie in einem Menschen ein einziges Wesen ist bezüglich des Ganzen und bezüglich all seiner Teile; und das,

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von dem man sagt, es sei im Teil, von dem sagt man auf dieselbe Weise, es sei im Ganzen. (9) Es gibt ein anderes Ganzes, das kein gemeinsames Wesen mit den Teilen hat, wie z. B. eine Menge von Getreide; sein eines Wesen ist zweitrangig, denn es ergibt sich aus vielen Getreidekörnern, die in sich das wahre und erste Wesen haben. Und in diesen derartigen Ganzen, sagt man, sind die Qualitäten der Teile ebenso zweitrangig wie das Sein; deswegen spricht man von einer weißen Menge, weil die Getreidekörner, aus denen die Menge besteht, weiß sind. (10)  Tatsächlich ist auch die Weißheit zuerst in den Körnern, und zweitrangig ergibt sie sich in der ganzen Menge, und so kann man diese zweitrangig weiß nennen; und auf diese Weise kann man eine Sippe oder besser ein Geschlecht edel nennen. Hier muß man wissen, daß, damit eine weiße Menge entsteht, die weißen Getreidekörner gewinnen müssen, ebenso müssen, damit ein edles Geschlecht entsteht, die edlen Menschen in ihm gewinnen, wobei ich mit „gewinnen“ meine, mehr sein als die anderen, auf daß die Güte mit ihrem Ruf das Gegenteil, das innen ist, verdecke und verberge. (11) Und so wie man von einer weißen Menge von Getreide Korn um Korn entfernen und Stück [für Stück] durch rote Hirse ersetzen könnte und die Menge schließlich die Farbe wechseln würde, so könnten von einem edlen Geschlecht die Guten einer um den andern sterben und an ihrer Stelle die Schlechten nachkommen, daß sich der Name verändern würde und sie nicht edel sondern niederträchtig zu nennen wären. Und dies genügt zur Beantwortung der zweiten Frage. •

xxx. Wie oben im dritten Kapitel dieses Buches gezeigt worden ist, hat diese Kanzone drei Hauptteile. Nachdem die ersten beiden dargelegt worden sind, wobei mit dem ersten im besagten Kapitel begonnen worden ist und mit dem zweiten im sechzehnten, so daß der erste Teil durch dreizehn und der zweite durch vierzehn bestimmt ist, ohne das Proömium des



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Buches, das sich auf zwei Kapitel erstreckte, ist jetzt in diesem dreißigsten und letzten Kapitel kurz der dritte Hauptteil darzustellen, der zum Schluß dieser Kanzone als Schmuck geschaffen worden ist, und er beginnt: Gegen die Herumirrenden, meine [Kanzone], wirst du angehen. (2) Und hier muß man zuerst wissen, daß jeder gute Handwerker am Ende seiner Arbeit diese, so gut er kann, veredeln und verschönern muß, auf daß sie sich berühmter und wertvoller von ihm trenne. Und dies beabsichtige ich, nicht als guter Handwerker, sondern als jemand, der diesem folgt, in diesem Teil zu tun. (3)  Ich sage also: Gegen die Herumirrenden, meine [Kanzone]. Dieses Gegen die Herumirrenden ist für sich ein Wort und [dieses Wort] ist der Name dieser Kanzone, der dem Vorbild des guten Bruders Thomas von Aquino entlehnt ist, der einem seiner Bücher, das er zur Widerlegung all jener gemacht hat, die von unserem Glauben abkommen, den Titel Gegen die Ungläubigen gegeben hat. (4) Ich sage also, „du wirst gehen“, was sozusagen heißt: „Du bist jetzt vollkommen, und es ist Zeit, nicht mehr stillzustehen, sondern zu gehen, denn dein Unternehmen ist groß“; Und wenn du in jener Gegend sein wirst, wo unsere Frau sein mag, nenne ihr deine Aufgabe. Hier ist festzuhalten, daß, wie unser Herr sagt, man die Perlen nicht vor die Schweine werfen soll, denn für sie bedeutet das keine Freude und den Perlen gereicht es zu Schaden; und wie Aesop in der ersten Fabel sagt, bereitet dem Hahn ein Getreidekorn die größere Freude als eine Perle, und deshalb läßt er diese liegen und nimmt er jenes. (5) Und dies bedenkend ermahne ich die Kanzone, diesbezüglich vorsichtig zu sein, damit sie ihre Aufgabe dort aufdeckt, wo diese Frau, d. h. die Philosophie, sich aufhält. Und dann wird man diese überaus edle Frau finden, wenn man ihr Zimmer findet, d. h. die Seele, in der sie zu Gast ist. Und diese Philosophie ist nicht nur in den Weisen zu Gast, sondern sie findet sich auch, wie oben im anderen Buch bewiesen worden ist, wo immer die Liebe zu ihr zu Gast ist. Und diesen, sage ich, zeige sie ihre Auf-

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gabe, denn diesen wird ihr Spruch nützlich sein und von ihnen wird er aufgenommen werden. (6) Und ich sage zu ihr: Sag zu dieser Frau: Von eurer Freundin berichtend zieh ich herum. Gewiß ist ihre Freundin die Edelkeit; denn die eine liebt die andere so sehr, daß die Edelkeit sie ständig verlangt, und die Philosophie wendet ihren überaus süßen Blick keiner anderen Seite zu. Ach wie schön ist dieser Schmuck, der im letzten [ Vers] dieser Kanzone der [Edelkeit] gegeben wird, in dem sie die Freundin der [Philosophie] genannt wird, deren eigenste Ursache im Geheimnisvollsten des göttlichen Geistes ist!