Rekonstruktion des Nationalmythos?: Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich 9783737001816, 9783847101819, 9783847001812


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Rekonstruktion des Nationalmythos?: Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich
 9783737001816, 9783847101819, 9783847001812

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Yves Bizeul (Hg.)

Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich

Mit 8 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0181-9 ISBN 978-3-8470-0181-2 (E-Book) Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Statue des Hetman Petro Konaschewitsch-Sahajdatschny in Kiew. Dirk Kollar, 2009. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Yves Bizeul (Rostock) Reaktivierungsversuche des Nationalmythos – die Suche nach der verlorenen Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fr¦d¦ric Monneyron (Perpignan) Der Mythos, das Imaginäre und die Nation . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Joanna Nowicki (Cergy-Pontoise) Die Bedeutung von Mythen und nationalen Symbolen in den Kulturen Mitteleuropas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Nicolas Offenstadt (Paris) Die „Geschichtspolitik“ während der fünfjährigen Amtszeit Nicolas Sarkozys. Streitfragen und Debatten (2007 – 2012) . . . . . . . . . . . . .

65

Hans-Ulrich Thamer (Münster) Das Deutsche Historische Museum – ein nationaler Erinnerungsort?

. .

83

Beate Binder (Berlin) Vom Preußischen Stadtschloss zum Humboldt-Forum: Der Berliner Schlossplatz als neuer nationaler Identifikationsort . . . . . . . . . . . .

99

Julia Oppermann (Rostock) Mediale Geschichtsbilder : „Die Deutschen“ im ZDF . . . . . . . . . . . . 121 Irene Götz (München) Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989. Einige Streiflichter auf die Pluralisierung und Informalisierung eines polyvalenten Konzeptes . . 141

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Inhalt

Manuel Becker/Volker Kronenberg (Bonn) Patriotismus und nationale Identität in der „Berliner Republik“. Eine Verortung des „Sommermärchens“ Fußball-WM 2006 in der politischen Kultur der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Matthias Waechter (Nizza) Nach dem Sonderweg? Konstruktion und Rekonstruktion der deutschen Geschichte nach 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Ludmila Lutz Auras (Rostock) Zwischen Stolz und Missbilligung. Der Zweite Weltkrieg in der Erinnerungspolitik der Russländischen Föderation und der Ukraine . . . 193 Per Anders Rudling (Lund) Memories of “Holodomor” and National Socialism in Ukrainian political culture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Yves Bizeul (Rostock) Fazit: Vom Nationalmythos zum Mythos Europa . . . . . . . . . . . . . . 259

Danksagung

Der vorliegende Sammelband besteht aus Beiträgen, die aus der Tagung „Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich“, die am 8. Oktober 2011 an der Universität Rostock stattgefunden hat, hervorgegangen sind. Einige weitere Aufsätze wurden später hinzugefügt, um der breiten Reichweite der Fragestellung wenigstens annähernd gerecht zu werden. Die interdisziplinäre und internationale Tagung entstand aus einem durch die DFG finanzierten Forschungsaufenthalt des Herausgebers in Lyon, Paris und Montpellier. Neben der Universität Rostock, der DFG, der französischen Botschaft sowie dem Alumni-Verein des Instituts für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Rostock als unmittelbare und mittelbare finanzielle Unterstützerinnen der Veranstaltung sei hier auch folgenden wissenschaftlichen Mitarbeitern und Hilfskräften gedankt, die einen wichtigen Beitrag bei der Organisation der Konferenz und bei der Erstellung des vorliegenden Buches geleistet haben: Jan Rohgalf, Konstantin Sachariew, Dirk Kollar, Lisa Bornschein und Thea Riebe.

Yves Bizeul (Rostock)

Reaktivierungsversuche des Nationalmythos – die Suche nach der verlorenen Orientierung

Angesichts des „Abgangs“ linker Ideologien, der Finanz- und Eurokrise sowie der gleichzeitigen Kritik an den Folgen der Globalisierung stellt man heute eine Renaissance nationalistischer Einstellungen – gepaart mit Tendenzen zur Überhöhung der eigenen nationalen Identität und Vergangenheit – fest.1 Sie nehmen unterschiedliche Formen an: Sie können sich in identitären Abgrenzungsversuchungen bzw. -versuchen samt öffentlichem Austragen von quasirassistischen Vorurteilen ausdrücken; sie können aber auch in spätmoderne Reaktivierungsversuche der alten „Nationalmythen“ münden. Der Begriff „Nationalmythos“ wurde von der französischen Historikerin Suzanne Citron geprägt.2 Darunter versteht sie die einheitliche Meistererzählung des mythischen Ursprungs und Aufbaus einer Nation. Ursprung und Genese der nationalen Gemeinschaft werden in eine entfernte Vergangenheit verlegt. Durch ein derartiges identitätsstiftendes Narrativ verlieren die historischen Ereignisse ihren kontingenten Charakter und werden in eine Art säkularer Heilsgeschichte eingebettet.3 Zusätzlich führt dies zu einer Personalisierung der Nation. Die 1 Dieser Trend ist nicht auf Europa beschränkt. Siehe zu anderen Weltregionen u. a.: Vickers, Edward: Museums and Nationalism in Contemporary China, in: Compare, 37 (2007) 3, S. 365 – 382; Muckle, James: Russian Concepts of Patriotism and their Reflection in the Education System Today, in: Tertium comparationis, 9 (2003) 1, S. 7 – 14; Schmidt, Gerlind: New Paradigms of National Education in Multi-ethnic Russia, in: Webber, Stephen L./Liikanen, Ilkka (Hrsg.): Education and Civic Culture in Post-Communist Countries, Houndmills: Palgrave 2001, S. 94 – 105; Lugg, Catherine A.: For God and Country. Conservatism and American School Policy, New York u. a.: Peter Lang 1996. Auch im heutigen Japan treibt Premierminister Shinzo Abe seine nationalistische Agenda voran. 2 Vgl. Citron, Suzanne: Le Mythe national. L’histoire de France en question, Paris: Les Editions ouvriÀres/Edition et documentation internationale 1987. Siehe auch die Zusammenfassung ihrer Thesen in: Citron, Suzanne: Der Nationalmythos in Frankreich, in: Bizeul, Yves (Hrsg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin: Duncker & Humblot 2000, S. 43 – 57. 3 Vgl. Münkler, Herfried: Politische Mythen und nationale Identität, in: Frindte, Wolfgang/ Pätzolt, Harald (Hrsg.): Mythen der Deutschen, Opladen: Leske und Budrich 1994, S. 21 – 28, hier S. 22.

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Narration ihrer Geburt und ihres Heranwachsens gleicht im Werk des französischen Historikers des 19. Jahrhunderts Jules Michelet einer Ontogenese.4 Infolgedessen wird die Nation nicht als kulturelles Produkt, sondern als eine Art natürliches Lebewesen betrachtet. Roland Barthes hat auf den Prozess des Natürlichmachens von künstlichen Konstrukten durch die Mythologie hingewiesen.5 Der Nationalmythos berichtet aber nicht nur von der Ontogenese, sondern auch von der Psychogenese der Nation, von der Entstehung eines Nationalbewusstseins, der Bewusstwerdung der Nation. Er beschreibt letztendlich eine Selbsterschaffung bzw. eine Selbstkonstruktion. Die Gallier werden von Michelet „Kinder einer entstehenden Welt“ genannt. Er beschreibt ihre Körper als „groß, weich und blond“ in Analogie zu Embryos.6 Wie er feststellte, braucht jedoch die Nation keine Eltern bzw. keinen Schöpfergott; sie erfüllt diese Rolle selbst. Er verglich das Vaterland mit einem unsichtbaren Gott, der sich erst durch seine Glieder und Taten offenbare.7 Michelet betrachtete folgerichtig die Revolution (R¦volution) als ein Synonym für Offenbarung (R¦v¦lation).8 Eine heilbringende Zukunft steht uns in dieser Erzählung bevor. Insofern gehören die Nationalmythen zu den Meistererzählungen, die ihre Inspiration aus dem „historizistischen Prometheismus“ (Jean Brun) der Moderne gespeist haben.9 Der Nationalmythos ist eine komplexe Narration, die aus mehreren kleineren mythischen Erzählungen besteht. Sie wurden unter der aktiven Mitwirkung von Dichtern und Literaten, Politikern und vor allem Historikern zu einem großen einheitlichen Narrativ mit einem klaren, linear ablaufenden Plot zusammengeschnürt.10 Die einzelnen Teilmythen der Meistererzählung „Nationalmythos“ 4 Michelet stellte fest: „L’Angleterre est un empire, l’Allemagne un pays, une race; la France est une personne“ (England ist ein Reich, Deutschland ein Land, eine Rasse, [allein] Frankreich ist eine Person). Michelet, Jules: Histoire de France, Bd. 2, Paris: Chamerot 1861, S. 103. Später hat auch de Gaulle Frankreich nach eigenen Angaben als eine Person betrachtet. Vgl. Gaulle, Charles de: M¦moires de Guerre – L’Appel: 1940 – 1942, Bd. 1, Paris: ¦d. Plon 1954, S. 1. 5 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 115. 6 Michelet, Jules: Histoire de France, Bd. 1, Paris: Hachette 1833, S. 2. Siehe hierzu auch: Venayre, Sylvain: Les Origines de la France. Quand les historiens racontaient la nation, Paris: Seuil 2013, S. 93. Paule Petitier hat auf die engen Beziehungen von Michelet und dem französischen Zoologen Etienne Geoffroy Saint-Hilaire, einem Vertreter der Embryologie, hingewiesen. Vgl. Petitier, Paule: La G¦ographie de Michelet, territoire et modÀles naturels dans les premiÀres oeuvres de Michelet, Paris: L’Harmattan 1997. 7 Michelet, Jules: Le Peuple, Paris: Hachette (3. Aufl.) 1846, S. 351. 8 Vgl. Viallaneix, Paul: Michelet et la R¦v¦lation de 1789, in: Romantisme, 50 (1985), S. 61 – 74. 9 Zum „prom¦th¦isme historiciste“ siehe: Brun, Jean: Philosophie de l’histoire. Les promesses du temps, Paris: Stock 1990, S. 16; Sironneau, Jean-Pierre: M¦tamorphoses du mythe et de la croyance, Paris: L’Harmattan 2000, S. 91 – 103. 10 Vgl. Berding, Helmut (Hrsg.): Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.

Reaktivierungsversuche des Nationalmythos

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lassen sich idealtypisch den vier Grundkategorien des politischen Mythos unterordnen, die Raoul Girardet in Anlehnung an Gilbert Durands Reflexionen zum gesellschaftlichen Imaginären entworfen hat:11 dem Typus des „ErlöserMythos“, dem des „Verschwörungs-Mythos“, dem des Mythos des „goldenen Zeitalters“ und dem des „Einheits-Mythos“. Nationen müssen demnach in Krisenzeiten von mythischen Heldengestalten erlöst werden. In Deutschland zählen sowohl Hermann der Cherusker als auch Bundeskanzler Konrad Adenauer dazu, in Frankreich Jeanne d’Arc und General de Gaulle und in der Ukraine Iwan Masepa und Pawlo Skoropadskyj, wobei die Bereitschaft des früheren Hetman des Ukrainischen Staats, Skoropadskyj, mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten, auch wenn er ihre rassistische Weltanschauung nicht teilte,12 ihn eigentlich für eine solche Funktion hätte disqualifizieren können. Die Erlösung ist insofern notwendig, als die Nationen gefährdete Gemeinschaften sind, die im kollektiven Imaginären unter der ständigen Drohung eines persönlichen und/oder kollektiven Verrats bzw. einer gegen sie gerichtete Verschwörung stehen. Die Nation wird aber auch oft mit einem „goldenen Zeitalter“ in Verbindung gesetzt, das nicht selten die Form einer imaginierten vergangenen Glanzzeit annimmt, so z. B. bei dem katholisch-konservativen Schriftsteller und Verfechter des „integralen Nationalismus“ Charles Maurras in Frankreich, der dem Zeitalter des „Grand SiÀcle“ von Ludwig XIV. nachtrauerte. Andere in Frankreich sehen die erste Phase der Großen Revolution als „goldenes Zeitalter“ des Landes. Für viele heutige Deutsche wird es mit der Währungsreform und dem Wirtschaftswunder der 1950er und 1960er Jahre assoziiert. Es zeigt sich, dass die Wahl des „goldenen Zeitalters“ viel über die Sehnsüchte und Wertpräferenzen der einzelnen Staatsbürger verrät.

Entstehungsgeschichte des Nationalmythos Der Nationalmythos ist eine Begleiterscheinung der Schaffung und Durchsetzung des modernen Nationalstaats im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und des damit verbundenen Historismus gewesen. Wie Suzanne Citron feststellt, wurde in der Jahrhundertwende in Frankreich und anderswo die

11 Vgl. Girardet, Raoul: Mythes et mythologies politiques, Paris: Seuil 1986; Durand, Gilbert: Les Structures anthropologiques de l’imaginaire, Paris: PUF 1960. 12 Vgl. Lebedynsky, Iaroslav : Skoropadsky et l’¦dification de l’Etat ukrainien (1918), Paris: L’Harmattan 2010, S. 151.

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Yves Bizeul

„ganze Vergangenheit […] vom Nationalstaat her gedeutet. Als einziges Geschichtssubjekt betrachtet, hat er alles entwertet und verstellt, was die Geschichte im Laufe der Jahrhunderte an Besonderheiten hervorgebracht hatte. […] Die Erinnerung beruhte auf einer anachronistischen Projizierung dieses Nationalstaats in eine Vergangenheit, in der er zwar noch nicht existierte, doch gewissermaßen latent vorhanden gewesen sein soll. Die Geschichte wurde linear und teleologisch dargestellt. Diese Geschichte legitimierte die Macht, da sie einem Expansionsideal entsprechend den Staat schuf, erweiterte und stärkte“.13

Die Wege der Diffusion dieses Narrativs bis in die feinsten Kapillaren der Gesellschaft in Frankreich sind mittlerweile wohlbekannt. Erfolgreich vermittelt wurde die nationale Großerzählung den zukünftigen Generationen dort mittels Schulbüchern wie Le Petit Lavisse oder durch Kinderliteratur wie Le Tour de la France par deux enfants von G. Bruno (Pseudonym der Autorin Augustine Fouill¦e) – von Jacques und Mona Ozouf das „kleine rote Buch“ der Republik genannt14 – und den Einsatz der sogenannten „schwarzen Husaren der Republik“, d. h. republiktreuen Grundschullehrern und Identitätsbildnern.15 In Deutschland verlief der schwierige Prozess der Nationsbildung komplexer und führte erst 1871 zum Durchbruch eines einheitlichen nationalen Mythos. Lange herrschte im Deutschen Reich der messianische Mythos des großen Monarchen. Er war nach der Bekehrung des Kaisers Konstantin des Großen entstanden, wurde unter Karl dem Großen reaktiviert und lebte in der Kyffhäusersage weiter. Laut dieser Legende sollte eines Tages der Friedenskaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, aus seinem Schlaf erwachen und das Reich retten. Nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg und der Zersplitterung des Reiches in kleine politische Einheiten änderte sich im gesellschaftlichen Imaginären, in einer Zeit wachsenden Nationalbewusstseins, das Bild der schlafenden Person. Anstelle des großen Monarchen – und trotz der auratischen Ausstrahlung Friedrich des Großen, die jedoch vorwiegend auf Preußen begrenzt blieb – nahm jetzt das Volk den Platz des zu erweckenden Schlafenden ein. Der Erzengel Michael, der Schutzpatron der Deutschen, wurde zum 13 Citron: Der Nationalmythos in Frankreich, a. a. O., hier S. 47. Hierzu siehe auch: Schubert, Klaus: Nation und Modernität als Mythen. Eine Studie zur politischen Identität der Franzosen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 14 Vgl. Ozouf, Jacques/Ozouf, Mona: Le Tour de la France par deux enfants. Le petit livre rouge de la R¦publique, in: Nora, Pierre (Hrsg.): Les Lieux de m¦moire, Bd. 1: La R¦publique, Paris: Gallimard 1984, S. 291 – 321. G. Bruno steht für den durch die Inquisition zum Tod verurteilten italienischen Priester Giordano Bruno. Augustine Fouill¦e stellte sich dadurch bewusst auf die Seite des französischen republikanischen, den Naturwissenschaften verpflichteten und für die Laizität kämpfenden politischen Lagers. 15 Vgl. u. a. Ozouf, Jacques/Ozouf, Mona: La R¦publique des instituteurs, Paris: Gallimard/ Seuil 1992; Prost, Alain: Histoire de l’enseignement en France, 1800 – 1967, Paris: Armand Colin 1968.

Reaktivierungsversuche des Nationalmythos

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„deutschen Michel“ mit der Schlafmütze, der nicht richtig wach wird und aus diesem Grund von den anderen Nationen leicht betrogen werden kann. Nach den Freiheitskriegen gegen Napol¦on wurde das „Wach auf, deutscher Michel!“ zu einem wichtigen Motto des Vormärz. Allerdings erschwerte zunächst die Alternative zwischen der protestantisch-preußisch dominierten kleindeutschen Lösung und der vom katholischen Österreich verfolgten großdeutschen Lösung die Konstruktion eines einheitlichen nationalen Narrativs. Erst nach der späten Reichsgründung konnte sich die preußische Geschichtsdeutung durchsetzen, obgleich diese bis heute im südlichen Teil Deutschlands umstritten ist. Auch hier waren bedeutende Historiker am Werk, so Leopold von Ranke, Heinrich von Sybel, Heinrich von Treitschke oder Johann Gustav Droysen. Sie haben durch ihre Schriften als mythmakers der Nationalgeschichte ihre besondere, durch einen starken Kulturalismus geprägte Gestalt gegeben. Während der Befreiungskriege gegen Napol¦on hatte der nationale Mythos noch eine klare politisch-emanzipatorische Dimension. Nach der Bildung des Kaiserreichs wandelte er sich jedoch immer mehr zu einem konservativen Gründungsmythos und diente der Legitimation des nationalen Herrschaftssystems. Bald stand indes der Nationalmythos in Konkurrenz zu neuen mächtigen mythischen Erzählungen, so dem Mythos der proletarischen Revolution, dem rassistischen „Blut und Boden-“ bzw. Herrenrasse-Mythos16 oder dem sozialistischen bzw. nationalsozialistischen Heldenmythos.17 Nach der Machtergreifung Hitlers wurde der Nationalmythos – vorwiegend in der Gestalt des Arminius- und des Preußenmythos – in den Dienst der neuen rechtsextremen Narrative gestellt. Ähnliches geschah später in der DDR: Zu den neuen Mythen des antifaschistischen Widerstands und des sozialistischen Schlaraffenlands gesellte sich dort von Anfang an die mythische Erzählung der Bauernkriege, später auch die „bürgerlichen“ Mythen Luthers und sogar Friedrichs des Großen.18 In der Bundesrepublik dominierten lange die Mythen der Währungsreform und des Wirtschaftswunders.19 Heute werden die mythischen Narrationen über Preußen und Friedrich den Großen nicht nur von der rechtspopulistischen Pro-Bewegung in Berlin gepflegt, sondern auch – mit einer gewissen kritischen Distanz – von der Zi-

16 Vgl. Marchal, Guy P.: Mythos im 20. Jahrhundert. Der Wille zum Mythos oder die Versuchung des „neuen Mythos“ in einer säkularisierten Welt, in: Graf, Fritz (Hrsg.): Der Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms, Colloquium Rauricum, Bd. 3, Stuttgart, Leipzig: Treubner 1993, S. 204 – 229. 17 Vgl. Behrenbeck, Sabine: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Kölner Beiträge zur Nationalforschung, Bd. 2, Vierow bei Greifswald: shVERLAG 1996. 18 Vgl. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin: Rowohlt 2009, S. 421 – 453. 19 Ebd., S. 455 – 476.

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Yves Bizeul

vilgesellschaft und den Behörden; so während des 300. Geburtstags des Preußenkönigs 2012. Wie in Deutschland wurde auch in der Ukraine die Entstehung eines einheitlichen Nationalmythos durch die bewegte Vergangenheit des Landes erschwert. Das Land bestand ursprünglich aus zahlreichen, von fremden Mächten dominierten Herrschaftsgebieten mit unterschiedlichen Lebensformen. Der nationale Einigungsprozess erfolgte spät. Gleichzeitig kam es zur Verschmelzung der Ukraine mit der Sowjetunion und zu einer aktiven Russifizierung der sozialistischen Sowjetrepublik. Die forcierte Industrialisierung, die damit verbundene Landflucht, der stalinistische Terror und die große Hungersnot von 1932/1933 sorgten für einen starken Bevölkerungsschwund. Die grundlegende Zersplitterung des Landes wurde noch durch die Existenz von zwei Konfessionen, einer griechisch-katholischen Kirche und drei verfeindeten orthodoxen Kirchen, vertieft. All dies erklärt, warum sich in der Ukraine die Entstehung eines einheitlichen Nationalmythos als besonders schwierig erwies. Ein Ausweg wurde durch die Überhöhung der eigenen Sprache und Literatur – ähnlich wie im Deutschland des 19. Jahrhunderts – gefunden, wobei nur in der Westukraine die Mehrheit der Bevölkerung Ukrainisch spricht. Der französische Slawist Georges Nivat nennt verschiedene mythische Erzählungen, die zum Fundus des ukrainischen Nationalmythos und der ukrainischen Historiografie gehören: den Mythos der altertümlichen Steppenkulturen, vor allem der Skythen, die Narration der alten Kiewer Rus, verbunden mit der späteren Hoffnung auf eine „Wiedervereinigung“ der Ukraine, die Erzählung der frühen Prägung der Ukraine durch westliche Einflüsse wie die Scholastik im Spätmittelalter oder den Humanismus in der Frühen Neuzeit, gekoppelt mit der Überzeugung, die Ukraine bilde die zivilisatorische Grenze zwischen West und Ost, sowie den Mythos der freien Kosakenrepublik des 17. Jahrhunderts, der nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert und der aus dem Westen stammenden, in der Ukraine aufblühenden künstlerischen Strömungen, so der Barockstil im 18. Jahrhundert oder die Avantgarde im 20. Jahrhundert.20 Wie Nivat feststellt, hat sich der bruchstückartige Charakter dieser einzelnen Mythen keineswegs als Hindernis für ihre Einbettung in eine große nationale mythische Erzählung 20 Nivat, Georges: Naissance et mort des mythes nationaux, in: Ders./Horsky, Vilen/Popovitch, Miroslav (Hrsg.): Ukraine, renaissance d’un mythe national, Genf: euryopa ¦tudes 2000, S. 21 – 33, hier S. 32. Vgl. hierzu auch: Wilson, Andrew: Myths of National History in Belarus and Ukraine, in: Hosking, Geoffrey Alan/Schöpflin, George (Hrsg.): Myths and Nationhood, London: C. Hurst & Co. Publishers 1997, S. 182 – 197. Zur wichtigen Legitimationsrolle des Mythos des Kosaken-Hetmanats für die heutige Ukraine siehe: Werdt, Christophe von: „Cossacks into State-Builders“ – Constructing Historical „Cossack-Statehood“ in Ukraine. A Case Study, in: Hayoz, Nicolas/Jesien´, Leszek/Koleva, Daniela (Hrsg.): 20 Years after the Collapse of Communism. Expectations, Achievements and Disillusions of 1989, Bern, Berlin u. a.: Peter Lang 2011, S. 383 – 394.

Reaktivierungsversuche des Nationalmythos

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erwiesen. Auch in der Ukraine gehörten Historiker wie der Nestor der ukrainischen Historiografie, Mychajlo Hruschewskyj, zu den bedeutendsten nationalen Mythosproduzenten.21 Wie Michelet in Frankreich hob auch Hruschewskyj die Rolle des „Volkes“ in der Entstehung der Nation hervor, wobei im ukrainischen Typus des Nationalmythos „Volk“ und „Ethnie“ unzertrennlich zu sein scheinen,22 während bei Michelet das Volk sich zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend als sozial und politisch definieren lässt.23 Anlässlich der Geburtstagsfeier Hruschewskyjs 1996 wurde gerade dessen mythischer Beitrag hervorgehoben und der Ruf nach einer Rückkehr zu seiner mythischen Art der Geschichtsschreibung laut.24

Dekonstruktion und Rekonstruktionsversuche des Nationalmythos Angesichts des Attraktivitätsverlusts des Nationalismus infolge zweier blutiger Weltkriege sowie mehrerer Kolonialkriege wurden die jeweiligen Nationalmythen von Intellektuellen, Historikern, Sozialwissenschaftlern und auch von einem Großteil der Medien in Deutschland schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und in Frankreich ab den 1960er Jahren einem Dekonstruktionsprozess unterworfen. In der Ukraine hätte der Sozialismus zwar früh zu einer Entmythologisierung des Nationalmythos führen können, allerdings war der Sozialismus eine internationalistische Bewegung, die in den einzelnen Ländern schnell stark nationalistische Züge annahm. Schon Marx und Engels wollten den Nationalismus – zunächst aus taktischen Gründen, später sogar aus Überzeugung – für ihre Zwecke nutzen.25 Mit der bekannten Aussage aus dem Kommunistischen Manifest von 1848, die Arbeiter hätten kein Vaterland, wollten Marx und Engels die Nation als solche nicht infrage stellen. Sie bedauerten vielmehr die Tatsache, dass das Bürgertum und nicht die Arbeiterschaft das Fundament des Natio21 Zur nationalen Erzählung Mychajlo Hruschewskyjs siehe u. a.: Plokhy, Serhii: Unmaking Imperial Russia: Mykhailo Hrushevsky and the Writing of Ukrainian History, Toronto: University of Toronto Press 2005. 22 Vgl. Hruschewskyj, Mychajlo: Ein Überblick der Geschichte der Ukraina, Wien: Verlag des Bundes zur Befreiung der Ukraine 1914; Ders.: Geschichte der Ukraine, Teil 1, Lemberg: Verlag des Bundes zur Befreiung der Ukraine 1916. 23 Viallaneix, Paul: La Voie royale: essai sur l’id¦e de peuple dans l’œuvre de Michelet, Paris: Delagrave 1959, dagegen: Grange, Juliette: Le peuple r¦publicain dans Le Peuple de Michelet, URL: http://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00279807/en/ (05. 01. 2012). 24 Sysyn, Frank E.: Grappling with the Hero: Hrushevs’kyi Confronts Khmel’nyts’kyi, in: Harvard Ukrainian Studies, 22 (1998), S. 589 – 609. 25 Vgl. CarrÀre d’Encausse, H¦lÀne: Communisme et nationalisme, in: Revue franÅaise de science politique, 15 (1965) 3, S. 466 – 498. Siehe hierzu auch: Nimni, Ephraim: Marxism and Nationalism: Theoretical Origins of a Political Crisis, London: Pluto Press 1991.

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nalstaats bildete. Die fortgeschrittenen Nationen sollten in den Dienst des Sozialismus gestellt werden. Nach der Oktoberrevolution kam es in Russland und später in der gesamten Sowjetunion zu einer Nationalisierung und Russifizierung der Sozialistischen Internationale. Beides schürte wiederum nationalistische Reaktionen in den Teilrepubliken, welche die Einheit der Sowjetunion bedrohten, auch wenn sie sich erst nach dem Zerfall des Ostblocks freie Bahn schaffen konnten. Das alles erklärt, warum in Osteuropa der westeuropäische Dekonstruktionsprozess des Nationalen nicht umfassend einsetzen konnte. Seit Anfang des neuen Jahrtausends sind auch in Westeuropa unterschiedliche Bestrebungen, den nationalen Narrativen ein neues Leben einzuhauchen, feststellbar. Politische Mythen wie jene der Nation werden vor allem in Krisenzeiten virulent. Gerade die vielbeschworene Selbstregulierung der Märkte hat eine globale Krise historischen Ausmaßes hervorgebracht. Die Politik übt heute bestenfalls die Funktion einer überlebensnotwendigen Schadensbegrenzung aus, was Verunsicherung und Zukunftsängste erzeugt. Die aktuellen Debatten um die nationalen Identitäten sind Ausdruck eines Bedürfnisses nach Gewissheit bezüglich des „Eigenen“. Der Rechtspopulismus grassiert in Europa und die konservativen Parteien bemühen sich, nationale Themen zu besetzen, um ihm das Wasser abzugraben.26 Man denke etwa an die durch Ressentiments gekennzeichnete Rhetorik der „Pleite-Griechen“ oder der „faulen Südländer“, die nicht nur von der Bild-Zeitung und Populisten wie Thilo Sarrazin, sondern auch in Regierungskreisen gepflegt wird, und die nicht minder deutlich eine Versicherung des „Eigenen“ beinhaltet. Auch in anderen europäischen Ländern wird der Ton rauer, wenn beispielsweise die deutsche Rolle in der Euro-Krise mit NSVergleichen kommentiert wird. Zudem zeigt die „Goldene Morgendämmerung“ (Wqus^ Auc^) in Griechenland, die mit 18 Sitzen im Parlament vertreten ist, dass auch offen agierende Neonazis im Zuge der Krise in Europa politisch an Boden gewinnen können. Zwar ist 2009/10 in Frankreich der Versuch des damaligen Staatschefs Nicolas Sarkozy und seiner Regierung, (auch aus machtpolitischem Kalkül) eine breite Debatte zur nationalen Identität zu inszenieren, fehlgeschlagen.27 Es waren aber 26 Vgl. Hartog, FranÅois/Revel, Jacques: Note de conjoncture historiographique, in: Dies. (Hrsg.): Les Usages politiques du pass¦, Paris: Editions de l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales 2001, S. 13 – 24. 27 Vgl. hierzu: Marchand, Pascal/Ratinaud, Pierre: Etre franÅais aujourd’hui, Paris: Les liens qui libÀrent 2012; La Documentation FranÅaise: L’identit¦ nationale en d¦bat, Paris: La Documentation FranÅaise 2010; Thiesse, Anne-Marie: Faire les FranÅais. Quelle identit¦ nationale?, Paris: Stock 2010; Perrin, Evelyne: Identit¦ nationale, amer MinistÀre: Ce qu’en disent de jeunes Franciliens, Paris: L’Harmattan 2010; Wagener, Albin: Le d¦bat sur „l’identit¦ nationale“: Essai — propos d’un fantúme, Paris: L’Harmattan 2010. Zum Thema nationale Identität in Frankreich siehe: Schnapper, Dominique: L’Identit¦ nationale, Paris: La Documentation franÅaise 2008; Noiriel, G¦rard: õ quoi sert l’identit¦ Nationale, Paris:

Reaktivierungsversuche des Nationalmythos

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unter Sarkozys Präsidentschaft Strategien offenkundig, die im linken wie auch im rechten politischen Lager darauf zielten, den alten republikanischen Nationalmythos zu reaktivieren, allerdings im neuen Gewand. Zu den Indizien eines klaren politischen Willens, den Nationalmythos wieder entstehen zu lassen, zählen die Ankündigung Sarkozys in einer am 13. Januar 2009 in N„mes gehaltenen Rede, ein neues Museum zur französischen Geschichte, das Maison de l’Histoire de France („Haus“ der Geschichte Frankreichs), zu gründen,28 weiterhin der durch vier UMP-Parlamentarier (Neogaullisten) verfasste parlamentarische Bericht zur Achtung der Symbole der Republik vom Mai 2009,29 eine Reihe von Konferenzen zum Thema Nation, initiiert 2010 durch den Elys¦epalast, die Wahl von de Gaulles „Kriegsmemoiren“ als Abitur-Prüfungsgegenstand 2011 und das Buch sowie die Fernsehdokumentation von Lor—nt Deutsch – M¦tronome –, die eine lineare Geschichte Paris und der französischen Nation von mythischen „Anfängen“ bis heute schildern.30 Zugleich machten sich Historiker wie der „Souveränist“ Max Gallo, der Herold der „Seele Frankreichs“31 – ein Ausdruck, der übrigens schon früher vom linken Jean JaurÀs

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Agone 2007; Duclert, Vincent: La France, une identit¦ d¦mocratique: les textes fondateurs, Paris: Seuil 2007. In den Niederlanden hat der Mord an Theo van Gogh eine hysterische Debatte über die nationale Identität ausgelöst, vgl. hierzu: van der Mak, Geert: Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer moralischen Panik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Das Museum sollte 2015 im Gebäudekomplex, das aus dem Hútel de Soubise und dem Hútel de Rohan im Pariser Quartier du Marais besteht, eröffnet werden. Zum wissenschaftlichen Rat sollten neben hohen Beamten auch einige Sozial- und Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gehören. Mehrere Historiker haben damals gegen dieses Projekt Stellung genommen. Vgl. hierzu: Backouche, Isabelle/Duclert, Vincent: „Maison de l’histoire de France“. EnquÞte critique, Paris: Editions Fondation Jean JaurÀs 2012; Duclert, Vincent: „Maison de l’histoire de France“. Le d¦bat ne fait que commencer, URL: http://blogs.mediapart.fr/blog/vincent-duclert/240111/maison-de-l-histoire-de-france-le-debat-ne-faitque-commencer (20. 01. 2012); Babelon, Jean-Pierre/Backouche, Isabelle/Duclert, Vincent/ James-Sarazin, Ariane: Quel mus¦e d’histoire pour la France?, Paris: Armand Colin 2011. Das Unternehmen scheint nach der Wahl des neuen Staatspräsidenten FranÅois Hollande keine Zukunft zu haben, zumal Hollande vor seiner Wahl klar gegen dieses Unterfangen Position bezogen hat, so in seinem programmatischen Buch „Le RÞve franÅais“, Paris: Editions Privat 2011, S. 39 u. 41 f. Vgl. Salor, Audrey : Coup dur pour la Maison de l’histoire de France, in: Le nouvel Observateur, URL: http://tempsreel.nouvelobs.com/societe/ 20120716.OBS7360/coup-dur-pour-la-maison-de-l-histoire-de-france.html (13. 08. 2012). Vgl. Rapport parlementaire sur le respect des symboles de la R¦publique, URL: http:// www.jpmaurer.info/dossier%20JPM/rapport.pdf (20. 01. 2012). Vgl. Deutsch, Lor—nt: M¦tronome: L’histoire de France au rythme du m¦tro parisien, Paris: Michel Lafon 2009. Die Parallelen zwischen der von France 5 produzierten entsprechenden Fernsehdokumentation und der ZDF-Produktion „Die Deutschen“ sind offenkundig. Für eine kritische Analyse der französischen Sendung M¦tronome siehe: Blanc, William/Ch¦ry, Aurore/Naudin, Christophe: Les Historiens de garde. De Lor—nt Deutsch — Patrick Buisson, la r¦surgence du roman national, Paris: Inculte Editions 2013. Vgl. Gallo, Max: L’ffme de la France: Une histoire de la Nation des origines — nos jours, Paris: Fayard 2007.

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benutzt wurde32 –, oder Pierre Nora, der von manchen als neuer Ernest Lavisse betrachtet wird,33 für den imperativen Charakter einer nationalen Meistererzählung stark. In diesem Kontext wurde der Begriff „nationaler Roman“, der ursprünglich in der Pluralform „romans nationaux“ einer Reihe von Werken von Erckmann-Chatrian entstammt,34 sowohl von den Anhängern als auch von den Kritikern der Rekonstruktion des Nationalmythos benutzt. Wir ziehen unsererseits den Begriff des „Mythos“ demjenigen des „Romans“ vor. Mit Roman wird meist eine rein fiktionale Erzählung bezeichnet, während der politische Mythos stets einen Wahrheitsanteil beinhaltet, auch wenn er laut Jean Pouillon durch eine konstitutive Maßlosigkeit gekennzeichnet ist.35 Außerdem hat Georges Sorel schon recht früh auf die gewaltige – je nachdem positive oder negative – politisch motivierende Kraft des Mythos hingewiesen, die weit über die des Romans hinausgeht.36 Sarkozy versuchte, als er Staatspräsident war, die Kraft des Nationalmythos zum Zweck der politischen Legitimation seiner Macht sowie der Stärkung der Position Frankreichs in der Welt zu instrumentalisieren. Er erwähnte in seinen, meist von seinem Sonderberater Henri Guaino redigierten Reden lobend zahlreiche historische Persönlichkeiten aus der nationalen Geschichte Frankreichs. Zu den meist zitierten Namen zählten neben Charles de Gaulle Victor Hugo, Jean JaurÀs, L¦on Blum und Jules Ferry – also lauter linke Intellektuelle und Politiker.37 Die erste Amtshandlung des neuen Präsidenten bestand 2007 darin, den Bildungsminister zu bitten, den Abschiedsbrief des jungen Kommunisten Guy Múquet an seine Familie künftig am 22. Oktober in allen Oberschulen des Landes verlesen zu lassen. Guy Múquet ist 1941, erst 17 Jahre alt, von den deutschen Besatzern exekutiert worden. Nicht der Kommunist Múquet war für Sarkozy von Bedeutung, sondern der junge französische Patriot. Der selektive historische Synkretismus Sarkozys und seine Vereinnahmung linker 32 Vgl. JaurÀs, Jean: Aux instituteurs et institutrices, in: La D¦pÞche de Toulouse,15. 01. 1888. 33 So z. B. Englund, Steven: The Ghost of Nation Past, in: Journal of Modern History, 64 (1992) 2, S. 299 – 320. 34 Vgl. Erckmann-Chatrian: Romans nationaux, Paris: J. Hetzel 1865. 35 Pouillon, Jean: Die mythische Funktion, in: L¦vi-Strauss, Claude/Vernant, Jean-Pierre u. a. (Hrsg.): Mythos ohne Illusion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 68 – 83, hier S. 82. 36 Vgl. Sorel, Georges: Über die Gewalt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Bei Sorel ist der Mythos keine Erzählung, sondern ein motivierendes Bild. Jean-Pierre Sironneau spricht in diesem Zusammenhang von einer „image-action“, von einem Bild, welches ein kollektives Handeln ermöglicht. Er wirft Sorel vor, im Mythos nur die Quelle einer Kraft zu sehen und nicht ein komplexes Narrativ. Vgl. Sironneau, Jean-Pierre: Le Retour du mythe, BibliothÀque de l’imaginaire, Bd. 2, Grenoble: Presses Universitaires de Grenoble 1980, S. 13. 37 Vgl. De Cock, Laurence/Madeline, Fanny/Offenstadt, Nicolas/Wahnich, Sophie (Hrsg.): Comment Nicolas Sarkozy ¦crit l’histoire de France, Paris: Agone 2008, S. 14 ff. Hierzu siehe auch: Bresching, Michaela: Zur Debatte um die „identit¦ nationale“ Frankreichs unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys, MA-Arbeit, Rostock 2012, S. 77 – 80.

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Figuren und Themen äußerte sich auch in der mythologisierenden Vermengung mehrerer, zum Teil gegensätzlicher Themen (das tolerante Frankreich des Edikts von Nantes, das katholische Frankreich als „älteste Tochter der Kirche“, das vernunftliebende Frankreich der Aufklärung, das mutige Frankreich der Widerstandsbewegung während des Zweiten Weltkriegs usw.) und antagonistischer nationaler Figuren, deren wichtigste Gemeinsamkeit eben darin bestand, dass sie alle „nach ihrer Fasson“ französische Lichtgestalten waren. Wie in den von Claude L¦vi-Strauss untersuchten Mythen der schriftlosen Kulturen sind auch hier zahlreiche Bedeutungs- und Bewertungs-Umkehrungen vorhanden. Die Neutralisierung oder Verdrängung des politisch-ideologischen Hintergrunds eines Victor Hugo, eines Jean JaurÀs, eines Maurice BarrÀs oder eines L¦on Blum diente hauptsächlich der populistischen Vereinfachung der nationalen Geschichte. Auch unbequeme Erinnerungen wurden zu diesem Zweck – mit der bemerkenswerten Ausnahme allerdings der Shoah – verschwiegen oder zumindest in ein positiveres Licht gerückt, so die Erinnerung an den Sklavenhandel oder an die Kolonisierung.38 Für Sarkozy war Frankreich „[…] jenes Saint-Louis’ und Carnots, jenes der Kreuzzüge und von Valmy, jenes Pascals und Voltaires, jenes der Kathedralen und der Enzyklopädie, jenes Napoleons sowie Heinrich IV. und des Edikts von Nantes“.39 In Sarkozys Frankreichbild fehlte auch die mythische Figur der Heiligen Johanna von Orl¦ans nicht. Als Nationalheldin, auf die nicht ausschließlich die Wähler der Front National stolz sein dürfen, stellte sie in seinen Augen eines der vielen Gesichter Frankreichs dar, besonders jenes der Reinheit und Unschuld. Zugleich verkörpert sie im Kollektivimaginären als Teil der nationalen Mythologie, jedem Anachronismus zum Trotz, die zivilisatorischen Ideale der Republik.40 Also kreierte Sarkozy „seine“ nationale Geschichte Frankreichs, in der sich dann besonders die Bürger des ländlichen Frankreichs, aber auch Teile der urbanen Bevölkerung wiederfanden. Die meisten Großstadtbewohner hingegen schienen weniger von dieser „Erzählung“ angetan, denn für sie gehörten Globalisierung und Vielfalt der Kulturen schon lange zum Alltag.41 Sarkozys Darstellung der nationalen Geschichte hatte in Zeiten der Globalisierung, der Europäisierung und der hiermit in Ver38 Ein Gesetz vom 23. Februar 2005 hatte schon vor Sarkozys Zeit als Staatschef im Art. 4 auf die angebliche „positive Rolle“ der Kolonisierung hingewiesen. Dieser Artikel wurde am 15. Februar 2006 zurückgenommen. Sarkozy stellte dennoch mehrmals fest, dass die Kolonisierung zwar ein Fehler war und viel Leid gebracht hat, dass sie aber auch eine positive Seite hatte, die man nicht verschweigen sollte. In seiner 2007 gehaltenen „Rede von Dakar“ behauptete Sarkozy mithilfe hegelianischer Denkkategorien, dass der Afrikaner nicht genug in die Geschichte eingetreten sei. 39 Zitiert nach: De Cock, Madeline, Offenstadt, Wahnich (Hrsg.): Comment Nicolas Sarkozy ¦crit l’histoire de France, a. a. O., S. 14 f. Übers. YB. 40 Ebd., S. 108 f. 41 Vgl. Guilluy, Christophe: Fractures franÅaises, Paris: FranÅois Bourin Editeur 2010, S. 177.

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bindung gebrachten sozialen Unsicherheit eine beruhigende Wirkung, da Traditionen und Identität für Beständigkeit stehen und somit ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Auch in Deutschland stellt man heute Bemühungen fest, den alten Nationalmythos zu reaktivieren: so durch das 2002 eröffnete Museum Kalkriese, durch die Eröffnung einer damals umstrittenen Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum 2006 zum breit angelegten Thema „Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen“, durch die unter der Federführung Guido Knopps entstandene und im Oktober 2008 ausgestrahlte zehnteilige Fernsehsendung „Die Deutschen“, die 2011 mit einer zweiten Staffel fortgesetzt wurde, und durch die zahlreichen Veröffentlichungen und Ausstellungen 2009 zur Varusschlacht.42 In der Literatur lässt sich trotz der unterschiedlichen politischen Richtung eine gewisse Kontinuität zwischen dem Nationalismus der beiden Gründer der „Gruppe 47“, Hans Werner Richter und Alfred Andersch, die unmittelbar nach dem Krieg in der Zeitschrift „Der Ruf“ für ein vereintes Deutschland und die Einbehaltung der Ostgebiete Stellung nahmen,43 und dem Botho Strauß’ feststellen, der in seinem 1993 in „Der Spiegel“ veröffentlichten Essay „Anschwellender Bocksgesang“ für den Schutz des „Sittengesetzes“ des Volkes gegen fremde Einflüsse plädierte.44 Allerdings ist in der Zwischenzeit der Nationalismus teilweise virulenter und intoleranter gegenüber Fremden geworden, wie die Resonanz auf die Buchveröffentlichungen von Thilo Sarrazin oder auf die anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche gehaltenen Rede Martin Walsers zur Instrumentalisierung des Holocausts als „Moralkeule“, sein „Spiel mit antisemitischen Klischees“ (Frank Schirrmacher) im Roman „Tod eines Kritikers“ und seine abfälligen Äußerungen zum Berliner Holocaust-Mahnmal zeigt. Auch aufgrund des zentralen Platzes der Shoah im deutschen Kollektivgedächtnis werden solche Bemühungen nicht wie in Frankreich von einer von oben verordneten Debatte über die Nationalidentität begleitet. Trotzdem wurden Umwege gesucht und gefunden, um ähnliche Ziele zu verfolgen. So wollte man 2005/2006 mit der vom Bertelsmann-Konzern koordinierten Kampagne „Du bist Deutschland“ das Nationalbewusstsein und den Patriotismus der Deutschen

42 Zur Bedeutung des Hermannsmythos in Deutschland siehe: Dörner, Andreas: Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewußtseins der Deutschen, Reinbek: Rowohlt 1996. 43 Vgl. Gallus, Alexander: „Der Ruf“ – Stimme für ein neues Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25 (2007), S. 32 – 38. 44 Vgl. Strauß, Botho: Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel, Nr. 6, 1993, S. 202 – 207. Der Essay wurde in dem von Neurechten veröffentlichten Sammelband „Die selbstbewusste Nation“ erneut abgedruckt.

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stärken.45 In kurzen Werbespots traten zu diesem Zweck auf zehn Fernsehsendern Prominente sowie Repräsentanten von Berufsgruppen an wichtigen deutschen Erinnerungsorten oder an ihrem Arbeitsplatz auf und erklärten, warum man sich für Deutschland einsetzen solle. In dem der Kampagne zugrundeliegenden Manifest der Werbeagentur Jung von Matt wird zu einem Patriotismus der gemeinsamen Tat aufgerufen. So heißt es z. B.: „Wir sind 82 Millionen. Machen wir uns die Hände schmutzig. Du bist die Hand. Du bist 82 Millionen. Behandle Dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn […] Du bist Deutschland“. Dieser Diskurs erinnert nicht nur an Sartres Rhetorik der „schmutzigen Hände“, sondern auch an Thomas Mann. Dieser lobt in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ den pflichtbewussten deutschen Straßenbahnführer, der auf einen undisziplinierten Agitator einen abwertenden Blick wirft. Der Verfasser fragt in diesem Zusammenhang: „War er ein Egoist, mein Wagenführer? Aber er ist ,auf seinem Platze‘ gewesen, dafür verbürge ich mich, als wirkliche Not anbrach, sein Gesicht war immer noch nüchtern, aber es war andächtig damals, und er hält seinen Platz bis zum heutigen Tag, sei es über der Erde oder gedeckt von ihr.“46 Die Kampagne „Du bist Deutschland“ wurde in den deutschen Medien eher kritisch beäugt. Die taz sprach von einer „neoliberalen Wundertüte“ mit einem „seichten nationalen Inhalt“ und die Berliner Zeitung sogar von einer „Entgrenzungs- und Volkskörperrhetorik“, die an frühere Versuche, „sich mit Stiefel, Spaten und pathetischer Selbstliebe aus dem Sumpf herauszuarbeiten“, erinnern würde.47 Man ließ nicht unerwähnt, dass die Parole „Denn Du bist Deutschland“ erstmals von Adolf Hitler während einer Kundgebung 1935 in Ludwigshafen 45 Vgl. Renken, Uta: „Du bist Deutschland“?: Motive der Kampagnen zur Förderung des Bürgerbewusstseins, Marburg: Tectum Verlag 2009; Diel, Juliane: „Du bist Deutschland!“ – eine Kampagne in der Kritik – Weblogs als kritische Meinungsführer (Projektarbeit), München: GRIN Verlag 2008; Speth, Rudolf: Die zweite Welle der Wirtschaftskampagnen. Von „Du bist Deutschland“ bis zur „Stiftung Marktwirtschaft“, Hans Böckler Stiftung, Arbeitspapier 127, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung 2006. Münkler zählt diese Kampagne zu den neueren Mythen der Deutschen. Vgl. Münkler : Die Deutschen und ihre Mythen, a. a. O., S. 486 – 490. Er stellt allerdings fest, dass solche Kampagne „von ihrer Anlage her sehr viel elitärer als politische Mythen [sind]: In ihnen hat eine kleine Gruppe von Kreativspezialisten die Dinge in der Hand; alle anderen bleiben in der Position passiver Zuschauer. Sie sollen zwar, wie der damalige Bundespräsident Roman Herzog dies in seiner ,Ruck-Rede‘ vom Frühjahr 1997 (ein Vorläufer der Kampagne ,Du bist Deutschland‘) propagiert hat, den Anstoß erhalten, selbst aktiv zu werden – zugleich jedoch werden sie auf die Rolle des passiven Zuschauers und Konsumenten festgelegt“. Ebd., S. 490. Wir sehen hier die Kampagne „Du bist Deutschland“ nicht als Mythos, sondern vielmehr als Versuch, den deutschen Nationalmythos neu zu beleben. 46 Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt am Main: Fischer Verlag (2. Aufl.) 1974, S. 53. 47 Vgl. Wulf, Jan-Hendrik: Offensive für Deutschland, in: taz, 26. 09. 2005; Jähner, Harald: Mach hinne, Deutschland, in: Berliner Zeitung, 30. 09. 2005.

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benutzt wurde, auch wenn der Historiker Hans Mommsen hier nur eine „zufällige Analogie“ sehen will.48 2007/2008 wurde die Kampagne reaktiviert, um in einer alternden Gesellschaft die Menschen dazu zu ermutigen, mehr Kinder zu bekommen – und dadurch auch einen möglichen Zustrom von „Indern“ überflüssig zu machen. Damit wurden insgesamt alle wichtigen Themen der nationalen Identität angesprochen, und zwar ohne eine öffentliche Debatte und ohne den in Deutschland so hochgehaltenen gesellschaftlichen Konsens infrage zu stellen. Eher ein Beispiel für einen geprägten Elitendiskurs mit mythischen Zügen, der darauf abzielt, den Demokratisierungsprozess Deutschlands als unumkehrbare Tatsache darzustellen, ist die Konstruktion des Historikers Heinrich August Winkler einer linearen, fast teleologischen Nationalgeschichte unter dem Motto: „Der lange Weg nach Westen“.49 Im Falle der Ukraine spiegelt sich die regionale Fragmentierung des Landes im Kampf um die Deutungsmacht über den Nationalmythos wider, der nicht zuletzt auch mit widerstreitenden Deutungen der Sowjetvergangenheit zusammenhängt. Beispielsweise ist die Bezeichnung des „Holodomors“ (Hungersnot) als Genozid an den Ukrainern, die auf Druck des Präsidenten Juschtschenko schließlich zu einer posthumen Verurteilung Stalins führte, heiß umstritten.50 Deutlich zeigt sich hier auch die Relevanz der Sprache für die nationale Identität, z. B. im gegenseitigen Vorwurf des „Sprachmassenmordes“ (Linguizid) angesichts sowohl der Forderung nach staatlicher Anerkennung des Russischen als auch der staatlichen Verpflichtung des Ukrainischen im öffentlichen Leben.

Struktur und Inhalt des Sammelbands Mit den heutigen Reaktivierungsversuchen des alten Nationalmythos hat sich die Wissenschaft bisher kaum beschäftigt. Der Beobachtung der Pluralisierung und auch der Banalisierung nationaler Mythen wohnt eine Tendenz inne, in loser Anlehnung an Lyotard ein „Ende der Metaerzählungen“ zu konstatieren,51 in dem nicht einmal mehr deren Abwesenheit betrauert wird. Das Bild wird jedoch erst vollständig, wenn zusammen mit dieser „Entnarrativisierung“52 auch die 48 Vgl. „Du bist Deutschland“ war kein gängiger Nazi-Slogan: Experte: „Du bist Deutschland“ kein NS-Spruch, in: Netzeitung, URL: http://www.netzeitung.de/internet/369718.html (20. 03. 2012). 49 Vgl. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München: Verlag C. H. Beck 2000. Siehe hierzu den Beitrag von Matthias Waechter in diesem Band. 50 Siehe hierzu den Beitrag von Per Anders Rudling in diesem Sammelband. 51 Vgl. Lyotard, Jean-FranÅois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Passagen-Verlag (4. Aufl.) 1999. 52 Vgl. Han, Byung-Chul: Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 39.

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Komplementärbewegung zu den mythischen Rekonstruktionsversuchen in Rechnung gestellt wird. Während die alten Nationalmythen der Moderne in der Fachliteratur zum Thema bereits ausführlich analysiert worden sind,53 hat in Deutschland ihre gegenwärtige politische Reaktivierung in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden. Es gibt keine wissenschaftlichen Arbeiten unmittelbar zu dieser Fragestellung, dafür aber zahlreiche Studien zum richtigen Umgang mit der nationalen Vergangenheit und zum heutigen „fröhlichen Patriotismus“.54 In Frankreich sind zwar mehr Publikationen zum Thema zu finden, so u. a. Suzanne Citrons Betrachtungen in der Schlussfolgerung der 2008 erschienenen Neuauflage ihres Werkes von 1991 zum heutigen Stand des Nationalmythos sowie die Analysen Nicolas Offenstadts über das, was er die „Bling-Bling Geschichtserzählung“ des früheren französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und die Wiederkehr des „nationalen Romans“ nennt.55 Unbefriedigend ist allerdings das bisherige methodische Vorgehen in der wissenschaftlichen Analyse des Nationalmythos. In der Fachliteratur zum Forschungsgegenstand dominieren entweder funktionalistisch orientierte Untersuchungen oder stark normative Ansätze. Die vorliegende Veröffentlichung will weder funktionalistisch noch wertend sein. Sie soll vielmehr einen Beitrag zum besseren Verständnis der „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg)56 in der Spätmoderne liefern. Der vorliegende Sammelband nähert sich den Rekonstruktionsversuchen des

53 Siehe hierzu u. a.: Johnston, Otto W.: Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines politischen Programms, Stuttgart: J.B. Metzler 1990; Frindte/Pätzolt (Hrsg.): Mythen der Deutschen, a. a. O.; Deutsche Mythen, in: Vorgänge, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 117 (2007) 1; Münkler : Die Deutschen und ihre Mythen, a. a. O. 54 Vgl. Hebeker, Ernst/Hildmann, Philipp W. (Hrsg.): Fröhlicher Patriotismus? Eine WM Nachlese, München: Hans Seidel Stiftung 2007; Seitz, Norbert: Die Nachhaltigkeit eines neuen Patriotismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1 – 2 (2007), S. 8 – 13; Schwarz, HansPeter : Auf dem Weg zu einem aufgeklärten Patriotismus?, in: Politische Studien, 407 (2006), S. 26 – 31; Peter, Jürgen: Der Historikerstreit und die Suche nach einer nationalen Identität der achtziger Jahre, Frankfurt am Main, New York: Peter Lang 1995. 55 Vgl. Citron, Suzanne: Le Mythe national. L’histoire de France en question. Paris: Editions de l’Atelier (2. Aufl.) 2008; Offenstadt, Nicolas: L’Histoire Bling-Bling. Le Retour du Roman National, Paris: Stock 2009. Siehe hierzu auch: De Cock, Laurence/Picard, Emmanuelle (Hrsg.): La Fabrique scolaire de l’histoire. Illusions et d¦sillusions du roman national, Marseille: Editions Agone 2009; De Cock/Madeline/Offenstadt/Wahnich(Hrsg.): Comment Nicolas Sarkozy ¦crit l’histoire de France, a. a. O. Siehe hierzu in deutscher Sprache auch: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011; vor allem Nicolas Offenstadts Aufsatz „Brauchen wir ein Haus der Geschichte Frankreichs? Oder die Rückkehr der nationalen Meistererzählung“, S. 55 – 74. Siehe hierzu auch: Schild, Joachim/Uterwedde, Henrik (Hrsg.): Die verunsicherte Französische Republik. Wandel der Strukturen, der Politik – und der Leitbilder?, Baden-Baden: Nomos 2009. 56 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.

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Nationalmythos in Frankreich, Deutschland und der Ukraine entlang fünf thematischer Dimensionen: (1) Das Imaginäre hinter den Nationalmythen. Die Nationalmythen sind nur vor dem Hintergrund eines umfassenden kollektiven Imaginären zu verstehen, wie vor allem der kürzlich verstorbene Gilbert Durand in Anlehnung an die Poetik Gaston Bachelards und die Anthropologie Ernst Cassirers festgestellt hat.57 Der homo symbolicus ist laut Durand in erster Linie ein Erzeuger von Archetypen und Symbolen, die vorwiegend in den Mythen einen Ausdruck finden. (2) Die Ideologien hinter den Rekonstruktionen der Nationalmythen. Der Produktion, Adaption und Rezeption politischer Mythen liegt immer eine bestimmte Ideologie zugrunde, deren fundamentale Inhalte in der dramatischen Erzählung des Mythos versinnbildlicht werden.58 Es wird untersucht, welche Ideologien, welche erinnerungs- und geschichtspolitischen Positionen die gegenwärtigen Rekonstruktionsversuche antreiben. Ausgangspunkte sind beispielsweise die Idee der deutschen Leitkultur oder jene einer französischen republikanischen Nationalidentität. (3) Die Medien der Rekonstruktionen der Nationalmythen. Die „Arbeit am Mythos“ kann in beinahe jedem erdenklichen Medium erfolgen. Hinsichtlich des Nationalmythos bieten sich freilich bestimmte Medien an, die die Geschichte der Nation aufarbeiten, wie Denkmäler, Museen, (Schul-)Bücher oder Dichtungen. Die materielle Dimension der Rekonstruktion wird angesprochen und die Frage gestellt, mithilfe welcher Medien politische Akteure versuchen, ihre Interpretation der Nationalgeschichte durchzusetzen. (4) Die Widerstände gegen und die Debatten um die Rekonstruktionen der Nationalmythen. Die Durchsetzung einer bestimmten Interpretation des Nationalmythos hängt von der Deutungsmacht der verschiedenen involvierten Akteure ab. Die genuin politische Dimension der Rekonstruktionsversuche wird hierbei in den Blick genommen. Es wird untersucht, mit welchen Widerständen diese Versuche zu kämpfen haben. Der politische Kontext der Rekonstruktion sowie die latenten und manifesten Konfliktlinien innerhalb der Gesellschaft werden aufgezeigt. Wichtige Indikatoren sind in diesem Zusammenhang die großen Debatten, die in Printmedien, im Fernsehen und auch in den neuen Medien geführt werden, aber auch die 57 Vgl. Durand, Gilbert: Les Structures anthropologiques de l’imaginaire: introduction — l’arch¦typologie g¦n¦rale, Paris: Presses universitaires de France 1960. Siehe hierzu auch: Wunenburger, Jean-Jacques: L’Imaginaire, Coll. Que sais-je?, Paris: PUF 2003. 58 Vgl. Bizeul, Yves: Glaube und Politik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 149 – 151; Ders.: Politische Mythen, Ideologien und Utopien. Ein Definitionsversuch, in: Tepe, Peter u. a. (Hrsg.), Mythos No. 2. Politische Mythen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 10 – 29, hier S. 13 – 16.

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Praxis der Artikulation widerstreitender Standpunkte, z. B. durch Parteien, Lobbygruppen, Bürgerinitiativen oder Protestbewegungen. (5) Die Transformation des Nationalmythos in der Spätmoderne.59 Der Fokus wird geweitet, indem thematisiert wird, welche Transformationen der Nationalmythos in der Spätmoderne erfährt. Die Nationalmythen der Moderne dienen als Folie, um die Spezifika spätmoderner Mythosproduktion und -rezeption herauszuarbeiten. Es soll gefragt werden, welchen Einfluss rezente Entwicklungen wie die Globalisierung, die Mediendemokratie oder eine radikalisierte Individualisierung haben. Auf den Prüfstand gestellt wird auch die These einer Banalisierung oder gar Auflösung politischer Mythen in der globalisierten Mediengesellschaft. Diese thematischen Dimensionen des Problems werden in den Beiträgen des vorliegenden Bandes anhand von Fallbeispielen erörtert. Die vergleichende Perspektive soll ein umfassenderes Verständnis des Nationalmythos in der Spätmoderne ermöglichen. Andererseits begegnet die Beschränkung auf wenige Länder der Gefahr des Ausuferns in die Beliebigkeit der Beispiele und erlaubt den synchronen Vergleich entlang der fünf Dimensionen. Darüber hinaus stellt diese Vorgehensweise – zusätzlich zu der thematischen Strukturierung – einen engen Zusammenhang der einzelnen Beiträge sicher. Mit der Auswahl der Länder wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich ungeachtet jeder nationalen Eigenart die Bedingungen der Rekonstruktion bis zu einem gewissen Punkt verallgemeinern lassen. Einerseits wurden mit Frankreich und Deutschland zwei geradezu paradigmatische Fälle des Verständnisses der Nation in der Moderne gewählt: die republikanische Sicht der Nation als Willensgemeinschaft und eine eher kulturalistische Lesart der Nation als Schicksalsgemeinschaft. Zudem wurden insbesondere die Idee der deutschen Nation und deren Mythenrepertoire bis ins 20. Jahrhundert hinein als Antithese zu Frankreich in Stellung gebracht. Wenngleich im europäischen Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg dieser Antagonismus offenkundig überwunden wurde und auch in Deutschland die Idee der Nation als Willensgemeinschaft konsensfähiger geworden ist, so sind das republikanische und kulturalistische Verständnis der Nation nach wie vor präsent und kommen z. B. in Debatten um die Integration von Migranten zum Tragen.60 59 Zum politischen Mythos in der Spätmoderne siehe: Bizeul, Yves: Struktur und Funktion patchworkartiger politischer Mythen in den hochmodernen Gesellschaften, in: Wodianka, Stephanie/Rieger, Dietmar (Hrsg.): Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform, Berlin, New York: Walter de Gruyter Verlag 2006, S. 81 – 99. 60 Siehe zu diesem Thema u. a.: Bizeul, Yves (Hrsg.): Integration von Migranten. Französische und deutsche Konzepte im Vergleich, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2004.

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Anderseits folgte die Auswahl der drei Länder der Annahme, dass die Bedingungen einer Rekonstruktion des Nationalmythos in den postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas (Ukraine) sich signifikant von jenen in den Kernländern der Europäischen Union (Frankreich, Deutschland) unterscheiden. Die Frage der Nation stellt sich hier in Hinblick auf die Sowjetvergangenheit und hinsichtlich eines Anknüpfens an die eigene, präkommunistische nationale Geschichte, was die kulturalistische Vorstellung der Nation als Schicksalsgemeinschaft nährt. Ein erfolgreiches nation building ist darauf angewiesen, die verschiedenen widerstreitenden Deutungen der Nation zu integrieren. Die Untersuchung von Rekonstruktionsversuchen von Nationalmythen und deren Bedingungen in der Spätmoderne umfasst nicht nur Fragen, die in den genuinen Bereich der Politikwissenschaft fallen. Ein interdisziplinärer Ansatz in Form der Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus benachbarten Disziplinen, v. a. der Geschichtswissenschaft, ist naheliegend. Das theoretische Konzept des politischen Mythos sowie die Gliederung des Sammelbands in thematische Teile mit Fallbeispielen stellt dabei die Anschlussfähigkeit der einzelnen Beiträge aneinander sicher und schöpft die Potentiale interdisziplinärer Kooperation aus. Das Imaginäre hinter den Nationalmythen ist Gegenstand der beiden ersten Beiträge von Fr¦d¦ric Monneyron und Joanna Nowicki. Fr¦d¦ric Monneyron sieht in Dantons Motto „Frankreich eine einheitliche und unteilbare Republik“ den wahren Ursprungsmythos der französischen Nation sowie den Grund ihres aktuellen Selbstverständnisses und ihrer heutigen Politik. In den USA seien zwei Mythensammlungen für den Nationalstaat relevant. Beide seien durch die Bibel geprägt. In der ersten werde Amerika als Ort der Verbreitung göttlicher Werte gedeutet. Die zweite Mythensammlung habe zur Durchsetzung eines Prinzips der Segregation geführt, die mittlerweile auch von früher Diskriminierten für sich reklamiert werde. Die erste Mythensammlung bedinge einen Großteil des US-Imaginären, vom Mythos der Frontier zu Reagans Star Wars und zu Timothy Learys Programm der Erweiterung des Bewusstseins in den 1960er Jahren. Gegen eine einseitig funktionalistische Perspektive des Nationalmythos wendet Joanna Nowicki in ihrem Beitrag ein, dass dadurch die emotional-affektive Dimension des Mythos letztlich aus dem Blick zu geraten drohe. Die Vorstellung der Kulturnation sei in Ostmitteleuropa eng verknüpft mit dem Trauma des Bewusstseins von der stets drohenden Sterblichkeit der Zivilisation, wie Nowicki anhand von Beispielen aus der dortigen Literatur darlegt. Diese tief im Imaginären eingeschriebene Vorstellung einer „Gemeinschaft der Untergegangenen“ verschwinde nicht einfach, wenn man sie als Konstrukt entlarvt. Hierin unterscheide sich Ostmitteleuropa vom „glücklichen Westen“, dessen Kultur gerade auf dem Vergessen dieser Sterblichkeit beruhe und eher zu universalistisch konnotierten Mythen neige.

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Die beiden folgenden Aufsätze beschäftigen sich mit dem Beitrag nationaler Museen und Gebäude zur Reaktivierung des Nationalmythos in Frankreich und in der Bundesrepublik. Nicolas Offenstadt deutet die unter Sarkozy lancierte Debatte zur französischen nationalen Identität und das Projekt der Gründung eines „Maison de l’Histoire de France“ in Paris kritisch als Neuinterpretationen und Rehabilitierungsversuche des „Nationalromans“. Damit war ein Bezug zur Nationalidentität verbunden, die zwischen einem guten „Wir“ und einem nicht klar umrissenen „Sie“ unterschied, den Multikulturalismus würdigte und somit die republikanische Tradition teilweise infrage stellte. Offenstadt kritisiert die damalige „Bling-Bling-Ausnutzung“ der Geschichte zu politischen Zwecken. Es ging dabei seiner Auffassung nach um ein ziemlich beliebiges Zusammenschustern (bricolage) von bekannten historischen Figuren und Ereignissen, die aus ihren ursprünglichen Kontexten und Bedeutungen weitgehend gelöst wurden. Mit diesen disponiblen Elementen hätten Sarkozy und einige Historiker eine einheitliche Narration der Nation herzustellen versucht. Offenstadt erwähnt aber auch die Widerstände, die diese Versuche in der französischen Bevölkerung erzeugt haben. Hans-Ulrich Thamer widmet sich den Debatten über die Einrichtung des Deutschen Historischen Museums (DHM) und vor allem der Dauerausstellung. Entgegen den ersten Plänen – aber auch entgegen den Befürchtungen mancher Kritiker – habe das DHM keine nationale Meistererzählung entworfen, sondern spiegle eher eine pluralistische Deutungskultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts wider. Allerdings setze die Dauerausstellung im Wesentlichen auf die Kraft der Exponate und zudem würde letzten Endes wieder eine chronologische Darstellungsweise dominieren. So vermeide die Ausstellung einerseits eine einheitliche, verbindliche Deutung, anderseits jedoch würde sie als „Selbstdarstellung der frühen Berliner Republik“ dem Anspruch an Analyse und Selbstreflexivität nicht gerecht. In ihrem Beitrag untersucht Beate Binder den Beitrag der städtischen Gedächtnislandschaften bei der Rekonstruktion des Nationalmythos am Beispiel des Neubaus des Berliner Stadtschlosses. Der Konflikt der Gedächtnisse, der an den Reaktionen zum Beschluss des Abrisses des asbestbelasteten Palastes der Republik und des Wiederaufbaus des Schlosses deutlich wurde, war auch ein Konflikt zwischen (misslungener) Utopie und Mythos. Nach Binder soll das Humboldt-Forum als „nationales Zukunftsprojekt“ aber auch ein Ort werden, an dem Kosmopolitismus gelebt wird. Dort fände sich ein spätmodernes Experimentieren am Werk, das die Gegensätze Nationalismus und Kosmopolitismus vereine und zum Teil überwände. Neben den Museen und Gebäuden tragen auch und vor allem die Massenmedien zur Reaktivierung des Nationalmythos bei, wie der Aufsatz von Julia Oppermann zeigt. Sie untersucht die erfolgreiche ZDF-Fernsehreihe „Die

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Deutschen“, in der die „tausendjährige Geschichte“ Deutschlands in einzelnen Tableaus mit zahlreichen männlichen Herrschern und wenigen einflussreichen Frauen dargestellt wird, und stellt fest, dass sie mehrere Züge des Nationalmythos vorweist: die Erzählung eines Ursprungs, die ganzheitliche und lineare Darstellung des Verlaufes der Geschichte, die Schaffung einer geordneten Einheit im Chaos, die Verbindung unterschiedlicher Codes, der Gegensatz von Gut und Böse (hier vom guten demokratischen und vom schlechten autoritären Deutschland, das zum Schluss den Kürzeren zieht) und die Umkehrung von Bedeutungen. Irene Götz zeichnet in ihrem Aufsatz am Beispiel des wiedervereinten Deutschlands nach, inwiefern nationale Identität unter den Bedingungen spätmoderner Globalisierung das Resultat komplexer, miteinander verwobener Deund Renationalisierungsprozesse sowie ebensolcher Strategien ist. Etwa in den Kontexten der Wiedervereinigung, der Zuwanderung, des Nation-Branding oder auch der Rettungspolitik im Zuge der globalen und europäischen Wirtschaftskrise zeigt sich, dass der Bezug auf das Nationale heute oszilliert zwischen spielerischer Aneignung und einer nicht zuletzt von Ressentiments geprägten Abgrenzung, zwischen der Indienstnahme für kommerzielle Interesse und der Instrumentalisierung für politische Ziele sowie zwischen der republikanischen Vorstellung des demos und der kulturalistischen Vorstellung des ethnos. Volker Kronenberg und Manuel Becker plädieren für eine Trennung zwischen einem republikanisch gefärbten Patriotismus im Sinne eines gemeinwohlorientierten Handelns, das ohne die Abwertung des Anderen auskomme, einerseits und einem aggressiven, letztlich unpolitischen Nationalismus andererseits. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung geht ihr gemeinsamer Beitrag den Bedingungen eines solchen Patriotismus in der Berliner Republik nach. Die Fußballweltmeisterschaft 2006 sei eine „katalysierende Projektionsfläche für ein im Wandel befindliches Deutschlandbild“ gewesen, dessen tiefere Ursachen nicht nur in der Wiedervereinigung lägen, sondern auch in der Neuausrichtung der Geschichtspolitik, die nur unter der rot-grünen Regierung möglich gewesen sei, und schließlich im demographischen Wandel. Der vielzitierte Gedanke eines „deutschen Sonderwegs“, so die These Matthias Waechters, erfüllte in der Bundesrepublik vor 1990 die Funktion eines Sinn und Identität stiftenden politischen Mythos, der die Ursachen für die Teilung Deutschlands erklärte sowie die Westbindung und die europäische Integration begründete. Mit der Wiedervereinigung sei diese Erzählung der nationalen Geschichte weitgehend obsolet geworden. Heinrich August Winklers „Der lange Weg nach Westen“ stelle den Versuch einer zeitgemäßeren Mythosrekonstruktion dar, der das wiedervereinte Deutschland als freiheitliche westliche Demokratie zu legitimieren suche. Die letzten zwei Aufsätze beschäftigen sich mit der Geschichtspolitik und

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dem kollektiven Gedächtnis in der postsowjetischen Ukraine. Ludmila LutzAuras erläutert in ihrem Beitrag zur Erinnerungspolitik in der Russländischen Föderation und in der Ukraine, dass die Verdrängung dunkler Kapitel des Zweiten Weltkriegs zum Grundprinzip der politischen Gestaltung des ukrainischen Kollektivgedächtnisses bis heute gehört. Der Mythos des „Großen Vaterländischen Kriegs“ passt zu fast allen Mythentypen, die George Schöpflin erwähnt. Es handelt sich um einen „myth of territory“, einen „myth of redemption and suffering“, einen „myth of injust treatment“, aber auch um einen „myth of election“, einen „myth of rebirth and renewal“ und somit ebenfalls um einen „myth of foundation“.61 Dieser Mythos ist allerdings weder ein „myth of ethnogenesis and antiquity“ noch ein „myth of kinship and shared descent“, wobei die glorreiche Vergangenheit der Russen und ihr gemeinsamer Ursprung auch eine Rolle spielen. Per Anders Rudling zeichnet Versuche nach, die große Hungersnot von 1932/ 1933 unter dem Schlagwort Holodomor als Nationalmythos zu etablieren. Der Opfermythos, der bewusst in Analogie zum Holocaust konstruiert wurde, ging in den 1980er von Teilen der ukrainischen Diaspora aus, fand Eingang in die Geschichtsbücher der postsowjetischen Ukraine und wurde aggressiv auch vom ehemaligen Präsidenten Juschtschenko vertreten. Die Dekonstruktion des sowjetischen Geschichtsbildes im Zeichen des Holodomor hat zugleich eine bedenkliche Rehabilitation von Nazi-Kollaborateuren und ukrainischen Faschisten bewirkt, von der heute nicht zuletzt Rechtsradikale wie die Svoboda-Partei profitieren. Der letzte Aufsatz sowie die Überlegungen von Offenstadt zur heutigen Rolle früher unterdrückter Minderheiten mit ihren jeweiligen „Gedächtnissen“ zeigen einmal mehr, wie bedeutsam die Opfernarrative geworden sind. Sie sind fester Bestandteil der derzeitigen Wiederbelebung des Nationalmythos.62

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Fr¦d¦ric Monneyron (Perpignan)

Der Mythos, das Imaginäre und die Nation1

Der Mythos und das kollektive Imaginäre Der Mythos ist in jedem menschlichen Handlungsfeld anzutreffen und nimmt mittlerweile eine zentrale Stellung in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein. Es scheint daher nicht angebracht, in eine Spezialisierungswut zu verfallen, sondern diesen Gegenstand in der breiteren Perspektive einer Soziologie des Imaginären zu reflektieren. Diese beschäftigt sich mit „Bilder[n], Skulpturen, Monumente[n], Ideologien, juristische[n] Codes, religiösen Rituale[n], Sitten, Kleidungen und Kosmetika, kurz: [mit] dem gesamten Inhalt des anthropologischen Inventars“.2 Wir wollen hier am Maßstab dieser „regulativen Idee“ (frei nach Kant) die Gültigkeit der angewandten Methoden und ihre Tragfähigkeit für höchst heterogene Forschungsfelder auf den Prüfstand stellen. An dieser Stelle stellt sich die Frage nach deren Auswahl. Sie sollte von der anderen Frage nach der Vielfalt der Forschungsdisziplinen unterschieden werden. Es ist wohl möglich, zwischen verschiedenen Wirkungsbereichen des Mythos zu differenzieren, ohne aus den Augen zu verlieren, dass das mythische Denken „nicht zerteilt“ wird.3 Da sich in einer mythischen Erzählung „die Symbole in Wörtern und die Archetypen in Ideen auflösen“,4 wird man darüber nachdenken müssen, welcher Diskurs diese „Rationalisierungsskizze“5 beinhaltet, oder einfacher : Wovon und worüber spricht der Mythos und um welche großen Themen dreht sich das mythische Denken?

1 Übers. von Yves Bizeul (YB). 2 Durand, Gilbert: Figures mythiques et visages de l’œuvre, Paris: Berg International 1979, S. 306. Übers. YB. 3 L¦vy-Bruhl, Lucien: Les fonctions mentales dans les soci¦t¦s inf¦rieures, Paris: Alcan 1910, S. 103. Übers. YB. 4 Durand, Gilbert: Les structures anthropologiques de l’imaginaire, Paris: Dunod (2. Aufl.) 1992, S. 64. Übers. YB. 5 Ebd.

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Die Hauptthemen des Mythos sind die Ursprünge des Menschen, seine Beziehungen zum Unsichtbaren, seine Ängste und sein Schicksal. Er berichtet über die Urzeiten vor der Schöpfung. Daneben findet man aber auch Mythen, die Regeln und Codes der menschlichen Gesellschaften fixieren. Sie sind spezifischer, da sie von den einzelnen Zivilisationen abhängig und daher auch vielfältiger sind. Sie alle nach Themenbereichen einordnen zu wollen, erweist sich als schwierig. Man kann jedoch mit Claude L¦vi-Strauss und seinen Überlegungen zum Übergang von Natur zur Kultur zwischen den drei wichtigsten Gegenständen des Mythos unterscheiden. Es ist bekannt, dass L¦vi-Strauss diesen Übergang als Folge dreier Formen von Kommunikationen dachte: die Erscheinung der Lautsprache, den Tausch von Nahrung (den „eingeschränkten Tausch“) und den Tausch von Frauen (den „generalisierten Tausch“).6 Es geht um die Instituierung menschlicher Gesellschaften durch Kommunikation, in diesem Fall durch die Sprache, durch die Zirkulation von Speisen oder durch die auf dem Inzestverbot beruhenden, den einzelnen Gruppen spezifischen Verwandtschafts- und Heiratsregeln. Diese drei Instituierungen, die gleichzeitig den Übergang des Naturzustands zur organisierten Gemeinschaft ermöglicht haben, sind auch die Hauptgegenstände des mythischen Diskurses, da alle drei Sinn stiften. Die Ernährung und die Sexualität als Begleiterscheinungen der Sprache können nicht durch diese wiedergegeben werden. In der Sprache findet man nur ihre Spuren. Die Mythenexperten sind sich, ohne L¦vi-Strauss’ Thesen zu bemühen, alle darüber einig, dass Ernährung und Sexualität zwei bevorzugte Gegenstände des mythischen Narrativs bilden. So stellt Mircea Eliade fest, dass es die Aufgabe des Mythos ist, „die exemplarischen Modelle für alle Riten und alle wesentlichen Betätigungen des Menschen (Ernährung, Sexualität, Arbeit, Erziehung) festzulegen“.7 Auch wenn sich die Entstehung der Lautsprache nicht wirklich dazu eignet, Gegenstand mythischer Erzählungen zu sein, ist es gut vorstellbar, dass sie mittelbar vom Mythos thematisiert wird. Die Lautsprache, zersplittert in lauter partikulare Sprachen, ermöglicht die Kommunikation zwischen den Menschen und gibt daher den Gruppen ihre besondere Ausprägung. Die allgemeine Frage nach dem Ursprung allen Seins wird dadurch zur speziellen Frage nach dem Ursprung der Gruppe. Wie Georges Dum¦zil schreibt, sind „die Beziehungen zwischen den Begriffen der ,Sprache‘ und der ,Zivilisation‘, damals noch mehr als heute, eng miteinander verwandt“.8 6 L¦vi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 333 – 335. 7 Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane: vom Wesen des Religiösen, Hamburg: Rowohlt 1957, S. 57. 8 Dum¦zil, Georges: Antrittsvorlesung am CollÀge de France, 01. 12. 1949, erneut in: Ders.: Mythes et dieux des Indo-Europ¦ens, Paris: Flammarion 1992, S. 21. Übers. YB.

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Ernst Cassirer stellte fest: „Das theoretische, das praktische und das ästhetische Bewusstsein, die Welt der Sprache und der Erkenntnis, der Kunst, des Rechts und der Sittlichkeit, die Grundformen der Gemeinschaft und die des Staates: sie alle sind ursprünglich noch gebunden im mythisch-religiösen Bewusstsein“.9 Tatsache ist, dass die drei erwähnten Dimensionen im mythischen Denken miteinander verknüpft sind. Zumindest wurde oft auf die enge Verbindung zwischen Archetypen, Symbolen und Mythen und den Themen Ernährung sowie Sexualität hingewiesen. Was die Ursprungsmythen anbelangt, sind sie zwar eigenständig, zugleich aber auch klar komplementär zu den erwähnten Mythen. Die Kombination dieser drei Gegenstände des Mythos kann je nach Gesellschaft unterschiedlich sein. Sie sind jedoch in allen Urgesellschaften eng miteinander verknüpft und in den frühen großen Zivilisationen kaum weniger voneinander abhängig.

Die nationalen Gründungsmythen Von den drei Kategorien, welche die menschlichen Gesellschaften begründen und die jeweils auf ihre Weise dazu beitragen, die „psychologische und symbolische Kartografie [herzustellen], die der Orientierung einer Zivilisation dient“,10 ist das imaginäre Feld der Nation das wissenschaftlich am wenigsten untersuchte. Man hat sich zwar schon mit dem einen oder anderen Ursprungsmythos der Völker bzw. mit dem Gründungsmythos von Städten und Nationen intensiv beschäftigt, eine groß angelegte Analyse der mythischen Genealogie der heutigen Nationen hingegen fehlt weitestgehend. Die zwei mythischen Kategorien der Ernährung und der Sexualität sind zwar so stabil, dass zumindest in der westlichen Welt Änderungen der „psychologischen und symbolischen Kartografie“, die laut Steiner ohnehin „äußerst selten“11 vorkommen, völlig unerwünscht sind. Dagegen ist die dritte mythische Kategorie komplexer, da sie nicht eine ganze Zivilisation, sondern nur begrenztere Gruppen betrifft, und sie erweist sich als abhängiger von kontingenten soziohistorischen Bedingungen. Man kann in diesem Zusammenhang auf drei Instabilitätsfaktoren hinweisen: 1. Eine so tiefgründige soziokulturelle Transformation wie die, die das Christentum mit sich brachte, hat zur Durchsetzung eines für alle damaligen Gesellschaften verpflichtenden Mythos anstelle der Ursprungsmythen der 9 Ernst Cassirer : Sprache und Mythos, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe (ECW), Bd. 16, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2009, S. 266. 10 Steiner, George: Les Antigones, Paris: Gallimard 1986, S. 152. Übers. YB. 11 Ebd.

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großen europäischen „Ethnien“ der Antike – es handelte sich dabei meist um kosmogonische Mythen – geführt.12 Je erfolgreicher der christliche Glaube war und je mehr der biblische Monogenismus (ein Begriff der Anthropologie des 18. Jahrhunderts) bei den Gläubigen den heidnischen Polygenismus ersetzte, desto einfacher nahm der Mythos des adamischen Ursprungs der Menschheit den Platz der hellenischen, italischen, keltischen, germanischen und baltisch-slawischen Mythen ein. Alle änderten allmählich ihr Gesicht oder wurden durch neue Mythen ersetzt. Das galt auch für die Gründungsmythen der antiken Städte. So verschwanden die mythischen Figuren des Autochton und der Athena in Athen bzw. des Romulus und des Numa in Rom oder sie verloren zumindest an Überzeugungskraft. Rom wurde zur Stadt Petri und zur heiligen Stadt des Christentums. 2. Die militärischen Eroberungen und die Völkerwanderungen haben Vermischungen von Bevölkerungsgruppen mit sich gebracht und die ursprünglichen „ethnischen“ Zugehörigkeiten infrage gestellt. Diese Entwicklungen führten zur Auflösung mancher Ursprungsmythen und zu deren Ersatz durch andere; und dies schon in der polygenistischen Antike. Wenn sich eine ethnische bzw. Sprachgemeinschaft – oder ein Teil davon – auflöst oder mit einer anderen verschmilzt, verschwinden die Ursprungsmythen. Sie werden verhüllt oder zumindest mit anderen in neuen einheitlichen Erzählungen vermengt. So wurden im römischen Gallien die keltischen Mythen durch römische Götter und Mythen ersetzt oder vermischten sich mit diesen. Das gilt auch für das Mittelalter. Die Städte, König- und Kaiserreiche, die nach den germanischen Invasionen entstanden, erzeugten ihre eigenen Ursprungsmythen, welche die alten Narrative überdeckten oder sogar ganz verschwinden ließen. Der heidnische Partikularismus verschmolz mit dem christlichen Universalismus. Auch in diesem Fall ist Gallien interessant. Man kann davon ausgehen, dass sich zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert die autochthonen keltischen Bevölkerungen und die germanischen Eroberer weitestgehend vermischt hatten. Dennoch galten die fränkischen und christlichen Ursprünge des französischen Königreichs im Mittelalter als bestimmend. Unter den Kapetingern – vor allem unter Philipp dem Schönen – wurde „Chlodwig der Barbar“, so Colette Beaune, „fast wie ein neuer Heiliger verehrt. Er [… galt] als der Gründerheilige der französischen Monarchie, gleich dem Heiligen Ol”f in Norwegen oder dem Heiligen Stephan in Ungarn“.13 3. Das Bild, das ein Volk von sich selbst entwirft, und sein Ehrgeiz führen meist 12 Über die Ursprungsmythen in den verschiedenen europäischen „Ethnien“ siehe: Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen, Bde. 2 u. 3., Freiburg im Breisgau: Herder 2002. 13 Beaune, Colette: Naissance de la nation France, Paris: Gallimard 1985, S. 55.

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dazu, eine imaginäre Genealogie zu entwerfen bzw. früher verpönte Ursprünge salonfähig zu machen. Das gilt für alle europäischen Länder. Die Engländer haben sich immer wieder gern in der Traditionslinie der alten Hebräer gesehen. Unter anderem den Schriften des Historikers Wassili Nikititsch Tatischtschew ist zu entnehmen, dass sich die Russen im 18. Jahrhundert als Nachfahren der Ägypter und Byzantiner sahen. Die Spanier wurden aufgrund der langen Dominanz des Islam dazu gebracht, ihre gotischen Ursprünge hervorzuheben. Die Italiener haben trotz der Bedeutung Roms für die Christenheit den Mythos der trojanischen Ursprünge des alten Roms zu reaktivieren versucht und Aeneas mit Adam gleichgesetzt. In Deutschland wurde die Bibel durch Tacitus ergänzt und die Vorfahren Ascenas mit Tuisto gleichgesetzt.14 In Frankreich wurden angebliche trojanische Ursprünge des Landes ab dem 16. Jahrhundert mit der Wiederentdeckung der gallischen Ursprünge des Landes vermengt, so z. B. in der berühmten Franciade des Poeten Ronsard. Freilich könnte man aus der Variabilität der Ursprungsmythen auf eine gewisse Beliebigkeit schließen. Doch die Vermehrung der Mythen, die mit ihrer Variabilität zusammenhängt, ist zugleich auch ein Beweis für die außerordentliche Dynamik solcher Erzählungen und für ihre Unersetzbarkeit. Davon zeugen auch die modernen Gesellschaften. Freilich scheint die Moderne dem Mythos feindlich gesonnen zu sein. Möglicherweise werden wir uns schnell darauf einigen können, dass nichts vollständig rationalisierbar und säkularisierbar ist und dass der Ursprung der Völker wie auch die Gründung der Nationen – genau wie die Ernährung oder die Sexualität – niemals gänzlich von ihren mythischen und symbolischen Grundlagen bereinigt werden können. Allerdings stellte der Individualismus, der sich vor allem ab dem 18. Jahrhundert durchsetzen konnte,15 eine große Herausforderung für den Mythos dar. Es ging dabei um den Übergang von einer holistischen Gesellschaft, in der die Beziehungen zwischen den Einzelnen wichtiger waren als die Einzelnen und in der „der Wert sich in der Gesellschaft als Ganzes“ befand,16 in eine individualistische, in der der „Einzelne den Höchstwert“17 darstellt. Da die Ursprungs- bzw. Gründungsmythen ganze Gemeinschaften thematisieren und nicht Einzelne und da sie individuelle Handlungen nicht 14 Vgl. Poliakov, L¦on: Der arische Mythos: Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg: Junius 1993. 15 Vgl. Dumont, Louis: Individualismus: zur Ideologie der Moderne, Frankfurt am Main, New York: Campus 1991. Dumont sieht jedoch die Ursprünge dieses Phänomens bei den Kirchenvätern und der ersten Welle der Reformation. 16 Ebd., S. 35. 17 Ebd.

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steuern, lassen sie sich nur schwer mit einer Ideologie in Einklang bringen, die das Individuum als Wert an sich betrachtet, die „Gemeinschaft“ durch die „Gesellschaft“ substituiert (Ferdinand Tönnies) und die Nation als organisches Ganzes durch ein Vertsändnis der Nation als Aggregat von Gleichen ersetzt. Nichtsdestotrotz ist das mythische Denken bis heute relevant. Mythen gibt es noch immer. Diese Tatsache lässt sich unterschiedlich erklären. Man kann mit Louis Dumont behaupten, dass die Aufklärer nicht alle Bereiche der holistischen Gesellschaft durchdringen konnten, dass „nichtmoderne Elemente in der sowohl sozialen als ideologischen Verfassung der europäischen Länder weiter existieren“.18 Wenn das stimmt, dann muss der Mythos als Instrument sozialer und ideologischer Kohäsion weiterhin vorhanden sein. Darüber hinaus beinhaltet jeder Gründungsakt allerdings, selbst wenn daraus eine individualistische Gesellschaft entsteht, stets eine holistische Dimension, die sich auch im Mythos manifestiert. Die Tatsache, dass die nationalen Ursprungs- und Gründungsmythen triumphieren konnten, lässt sich dadurch erklären, dass sie in besonderer Weise in der Lage waren, die modernen Diskurse der Geschichte und der Ideologie, die aus der Rationalisierung, der Säkularisierung und der Individualisierung entstanden sind, in sich zu vereinigen. Die Behauptungen L¦vi-Strauss’, wonach nichts dem mythischen Denken mehr ähneln würde als die politischen Ideologien19 bzw. wonach „die Rolle der Mythen in den schriftlosen Gesellschaften in unserer Zivilisation durch die Geschichte übernommen wird“,20 führen in die Irre. Wir sollten in der Geschichte auch nicht ein funktionales Äquivalent für den Mythos sehen, die aus einem Bruch entstanden sei. Mir scheint es sinnvoller, in den Historikern nicht nur die „Mythologen der modernen Nationen“ zu sehen,21 sondern auch in der Geschichte und in den Ideologien die modernen Gewänder des Mythos zu betrachten. Der Mythos ist die Ursprungserzählung – manchmal auch die Narration des Schicksals – der „Gemeinschaft“, aus der angeblich die Nation entstanden ist. Er fixiert daher die Gestalt der „Gesellschaft“. Insofern ist es verständlich, dass die Gründungsmythen der modernen Nationen die Verfassungstexte als positiven Ausdruck des sozialen Bands und die daraus entstandenen politischen Institutionen prägen. Diese Tatsache wird in der gegenwärtigen Literatur zum Thema oft übersehen, obwohl der Mythos 18 Dumont, Louis: Homo Aequalis II. L’Id¦ologie allemande, Paris: Gallimard 1991, S. 33. Übers. YB. 19 L¦vi-Strauss, Claude: Die Struktur der Mythen, in: Ders.: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 226 – 254, hier S. 230. 20 L¦vi-Strauss, Claude: „Ce que je suis“. Entretien avec Jean-Paul Enthoven et Andr¦ BurguiÀre, in: Le Nouvel Observateur, Nr. 817, 05. 07. 1980. 21 Sironneau, Jean-Pierre: Mythe et nation dans l’Allemagne moderne: de l’ethnie — l’id¦ologie, in: Iris 15 (1995), Mythe et nation, S. 41 – 62, hier S. 43.

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heute in unseren Gesellschaften den Platz des Sakralen in den alten Monarchien übernommen hat. Selbstverständlich haben die heutigen Mythen, wie die meisten anderen modernen Mythen auch, die normalerweise keine rezitative Form annehmen, eine abstraktere, asketischere und konzeptuellere Form als die alten Mythen. Sie ähneln daher sehr der von Georges Dum¦zil untersuchten dreiteiligen Ideologie der Indoeuropäer.22 Der Konstitutionalismus ist also für die moderne Nation von zentraler Bedeutung. Er ist jedoch unterschiedlich ausgeprägt und hat sich nicht überall zur gleichen Zeit durchgesetzt. In manchen Ländern war er eine Begleiterscheinung der Geburt bzw. des Stabilisierungsprozesses der Nation. Daraus sind jedoch nicht unterschiedliche Nationentypen entstanden. Denn es gibt letztendlich nur einen einzigen Typus der Nation. Louis Dumont betont, dass „die Nation gerade dieser Typus der globalen Gesellschaft ist, der aus der Herrschaft des Individualismus als Wert entstanden ist“.23 Dominique Schnapper behauptet, dass es „zwar zwei Typen von Geschichten der Entstehung der europäischen Nationen – ,französisch‘ oder ,deutsch‘ bzw. ,westlich‘ und ,östlich‘ – sowie zwei Typen von nationalistischen Ideologien gegeben hat, dass es jedoch nicht zwei Ideen der Nation gibt, sondern nur eine“.24 Nun wurde diese eine Vorstellung der Nation, die auf der Idee der Souveränität des Einzelnen und des Territoriums beruht und die vorwiegend französischen und englischen Ursprungs ist, oft defizitär verwirklicht, insbesondere wenn sie eine holistische Dimension beinhaltete, zudem hat sie im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausformungen angenommen. Max Weber bezeichnete aus diesem Grund die Schweiz als eine „unvollendete Nation“. Ähnliches gilt aber auch für Deutschland oder Italien.25 Um die enge Verbindung von Gründungsmythen und Verfassungsfragen zu illustrieren, werde ich mich im Folgenden mit Frankreich und den USA beschäftigen, den beiden Prototypen der modernen Nation.

Die Fallbeispiele Frankreich und die USA Das Motto Dantons, das vom Konvent am 25. September 1792, nur vier Tage nachdem die Monarchie auf Antrag von Collot d’Herbois abgeschafft wurde, 22 Es ist zu vermuten, dass die nationalen Mythen aus dieser Ideologie entstanden sind. Vgl. Dum¦zil, Georges: Mythos und Epos. Die Ideologie der drei Funktionen in den Epen der indoeuropäischen Völker, Frankfurt am Main: Campus 1989. 23 Dumont: Individualismus, a. a. O., S. 20 f. 24 Schnapper, Dominique: La Communaut¦ des citoyens. Sur l’id¦e moderne de nation, Paris: Gallimard 1994, S. 21. 25 Vgl. Monneyron, Fr¦d¦ric: La Nation aujourd’hui. Formes et mythes, Paris: L’Harmattan 2000.

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übernommen wurde, kann als Gründungsmythos der französischen Nation gedeutet werden. Es ist seitdem – mit Ausnahme der republikanischen Gesetze von 1875 – unter den ersten Artikeln aller republikanischen französischen Verfassungen zu finden, wonach „Frankreich eine einheitliche und unteilbare Republik“ bildet. Wir haben es hier offensichtlich mit einem Mythos zu tun, zumal die Rede Dantons im Konvent zu einer Zeit gehalten wurde, als die Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der neugeborenen Republik bei weitem noch nicht realisiert waren. Dantons Motto entspricht den am meisten verbreiteten Definitionen des Mythos. Es handelt sich zunächst um eine Gründungsformel, da es eine neue Form von Gesellschaft und politischem Regime ankündigte. Die Neuschöpfung fand im neuen revolutionären Kalender ihre Entsprechung. Auch wenn wir es hier nicht mit einer sagenhaften Erzählung stricto sensu zu tun haben, stellt dieses Motto jedoch einen Bruch mit den alten Zeiten der Monarchie dar, in der die Einheit und die Unteilbarkeit des Königreiches keinesfalls vorhanden waren. Wir wissen, dass es während des Ancien R¦gime Provinzen mit unterschiedlichen Institutionen (pays d’¦lection, pays d’Etat) gab. Sie hatten starke Parlamente und eine große Unabhängigkeit zur zentralen Macht. Zwischen ihnen existierten Zollgrenzen und Feindseligkeiten aller Art. Auch wenn Dantons Motto ursprünglich von einem Einzelnen stammt, wurde es vom gesamten Konvent vertreten. Es wurde zu einer kollektiven Devise. Dass dieses Motto einen sakralen Hintergrund hatte, ist unumstritten. Die Proklamierung und Annahme der Einheit und der Unteilbarkeit der Republik nur vier Tage nach der Aufhebung der Monarchie zeigen die Angst der Revolutionäre vor einem Zusammenbruch des Landes und bestärken die Vermutung, wonach die nationale Einheit bisher nur in und durch die Person des Königs verwirklicht wurde. Da nach Tocqueville die Republik die gottgewollte Monarchie ersetzt und eine gewählte Regierung den Platz der göttlichen Vorsehung annimmt,26 können diese Republik und diese Regierung nur durch ein Motto, das sie beide zu sakralen Gegenständen macht, gegründet werden. Sobald der König die Franzosen nicht mehr als abstrakte Größe, sondern als Einzelne, die eine Nation bilden, betrachtete, sobald er zum König der Franzosen wurde und nicht mehr König Frankreichs war, musste das Königreich als „einig und unteilbar“ (Verfassung vom 3. September 1791, Titel II, Art. 1) erklärt werden. Das Motto „die Republik ist einig und unteilbar“ gleicht einer Zauberformel, mit der man den Zweck verfolgte, die Lücke der königlichen Macht zu füllen und die Kohäsion des Landes abzusichern. Zu Recht deutete Michelet in seiner „Ge-

26 Vgl. Tocqueville, Alexis de: L’Ancien r¦gime et la R¦volution, in: Ders.: Œuvres complÀtes, Bd. 2, Paris: Gallimard 1952, S. 137.

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schichte der Französischen Revolution“ die „Einheit des Vaterlands und die Unteilbarkeit der Republik“ als das „heilige und sakrale Wort von 1793“.27 Dantons Motto setzt eine starke strukturelle politische bzw. verwaltungstechnische Organisation voraus. Es handelt sich um die zusammenfassende Formulierung eines ganzen Programms, das er in seiner Rede am selben Tag erläuterte und die Verwaltungszentralisierung einleitete: „Frankreich soll eine unteilbare Einheit bilden. Es soll eine Einheit der Volksvertretung in die Tat setzen. Die Bürger von Marseille wollen sich mit den Bürgern von Dünkirchen die Hand reichen. Ich verlange deshalb, dass jeder, der die Einheit Frankreichs zerstören will, mit dem Tod bestraft wird und schlage vor zu beschließen, dass der Nationalkonvent die Einheitlichkeit der Volksvertretung und der Durchführung der Gesetze als Grundsatz festlegt.“28 Auch wenn wir es hier nicht unmittelbar mit einem Verwaltungszentralismus zu tun haben, sondern eher mit einem Regierungszentralismus, um auf die bekannte Unterscheidung von Tocqueville zurückzugreifen, ist der Verwaltungszentralismus offenkundig Bestandteil von Dantons Programm. Er steht implizit hinter der Idee der einheitlichen Volksvertretung, die von den Jakobinern vehement vertreten wurde. Da „die Rationalisierung die Tendenz zur Zentralisierung als alleinige rationale Struktur voraussetzt“,29 soll die Gründung einer Nation nach den Grundsätzen der Rationalität die Realität der regionalen Partikularismen und Traditionen überwinden, den Pluralismus der Verwaltungseinheiten, die Vielfalt der Institutionen, die Eigenart und Autonomie der Provinzen aufheben und ein Verwaltungssystem mit einfachen Strukturen, frei von den natürlichen Gegebenheiten und mit kurzen Hierarchien gegründet werden. Während die zentralisierte französische Nation ihren Gründungsmythos im säkularen Motto Dantons hat, das wie ein sakraler Baldachin alle republikanischen Verfassungen – und Frankreich hatte viele davon! – bedeckte, sind es in den Vereinigten Staaten von Amerika umgekehrt zwei Mythensammlungen aus der Bibel, die säkularisiert in die Bundesverfassung Eingang gefunden haben. Elise Marienstras stellt fest: „Die nationale amerikanische Schöpfung gründet auf dem Prinzip der geschichtlichen Diskontinuität. Zum Teil ist sie antihistorisch. Sie findet ihre Zeitlichkeit in dem Millennium, ihre Vorfahren in den biblischen Helden und ihr Modell in den Elysischen Gefilden“.30 Die erste Mythensammlung ist bekannt. Der historische Bruch mit England 27 Vgl. Michelet, Jules: Histoire de la R¦volution franÅaise, Paris: Laffont 1979, S. 268. Übers. YB. 28 Ebd., S. 45. 29 Ellul, Jacques: Histoire des institutions, Bd. 5: Le XIXe siÀcle, Paris: PUF 1979, S. 60. Übers. YB. 30 Marienstras, Elise: Les Mythes fondateurs de la nation am¦ricaine, Paris: Maspero 1976, S. 41. Übers. YB.

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und letztendlich auch mit ganz Europa wurde von Benjamin Franklin und Thomas Jefferson in den Jahren unmittelbar vor der Unabhängigkeitserklärung nicht nur mit der Invasion der britischen Inseln durch die Angelsachsen in Verbindung gebracht, sondern auch und vor allem mit drei biblischen Motiven: dem gelobten Land, dem irdischen Paradies und dem Neuen Jerusalem. In den Schriften der Gründungsväter der amerikanischen Nationen und weiterer Autoren wird die Überquerung des Ozeans durch die Pilgerväter mit der Überquerung des Roten Meers durch die Israeliten nach der Flucht aus Ägypten gleichgesetzt.31 Das friedliche Glück, die von den weiten amerikanischen Landschaften hervorgerufene totale Freiheit sowie der Zufluchtsort, den Amerika in den Augen der Verfolgten aus aller Welt darstellte, wurden danach immer wieder mithilfe der Mythen eines wiedergefunden irdischen Paradieses und eines neuen, auf die Erde hinabgefahrenen himmlischen Jerusalems beschrieben.32 Diese erste Mythensammlung deutet Amerika als Ort der Verbreitung der Werte, an denen Gott Wohlgefallen hat. Diese Werte wurden säkularisiert und in die Diktion der Aufklärung übersetzt. So wurde Amerika zum Ort der Verbreitung der universellen Werte des Einzelnen und daher auch zum Ort dessen Glückes. Die Unabhängigkeitserklärung proklamiert gleich am Anfang: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain unalienable Rights, that among these are life, liberty and the pursuit of Happiness“ (Unabhängigkeitserklärung, Absatz 1). In der Präambel der Verfassung steht: „We the People of the United States, in order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquility, provide for the common defense, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity… [Herv. d. Verf.]“. Die Verwirklichung dieser Werte stieß jedoch an Grenzen, die mit der zweiten Mythensammlung zusammenhängen, auch wenn diese möglicherweise weniger bekannt bzw. weniger offenkundig ist. Amerika galt wohl nicht für alle als Zuflucht, sondern nur für Weiße und Christen. Elise Marienstras bemerkt: „Selbst bei Paine, dem ,Universalisten‘ unter den amerikanischen Denkern der Revolution, ist der Universalismus nicht vollkommen. Die Solidarität des Autors mit

31 Ebd., S. 76. 32 Ebd., S. 80 ff. Unter den sehr zahlreichen Texten über die Suche nach dem Paradies in Amerika siehe: Sanford, Charles L.: The Quest for Paradise. Europe and the American Moral Imagination, Urbana: University of Illinois Press 1961; außerdem die Kommentare von Eliade, Mircea: La Nostalgie des origines, Paris: Gallimard 1971, S. 169 ff. In Etienne Cabets Utopie „Reise nach Ikarien“ ist die amerikanische Nation die, „qui peut-Þtre ressemble le plus — l’Icarie“ (zitiert nach: R¦mond, Ren¦: Les Etats-Unis devant l’opinion franÅaise, Paris: A. Colin 1962, S. 101.

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der Menschheit gilt einem einzigen Kontinent, Europa“.33 Das Ausschließen der Indianer und der Schwarzen, was übrigens als Sehnsucht nach einer organischen Gemeinschaft zu deuten ist, ergibt sich aus der Anthropologie der Bibel. Die Indianer finden keinen Platz im biblischen Monogenismus und werden als Wilde betrachtet. Die Exklusion der Schwarzen findet ihre Legitimation in Genesis 9, in der die Geschichte der drei Söhne Noahs erzählt wird. Ham, sein Sohn Kanaan und alle ihre Nachfahren werden von Noah verflucht. Der Fluch über Ham hat im Laufe der Zeit eine ethnische Färbung erhalten und Ham wurde zum Vorfahr der schwarzen Völker. Diese ethnische Deutung dieser Bibelstelle hatte sich im 18. Jahrhundert weitgehend durchgesetzt.34 Auch wenn diese Narration damals noch nicht öffentlich benutzt wurde, um die Sklaverei zu rechtfertigen – wie es die Konföderierten später taten –, war sie den amerikanischen Puritanern, zusammen mit dem Gesetz Mose, wonach der Reichtum an Sklaven ein Zeichen der Auserwählung sei, so vertraut, dass man ihre Wirkung nicht zu gering schätzen sollte.35 Betrachtet man die Amerikaner als „die Söhne Noahs in der Arche, die nach der Sintflut allein über Wasser bleibt“,36 ist die Anwesenheit Hams im schwimmfähigen Kasten nicht selbstverständlich. Er hat einen gesonderten, notwendigerweise minderwertigeren Platz in der Arche. Nach der Unabhängigkeit musste man der entstehenden Union eine institutionelle Gestalt geben.37 Sowohl im zentralisierten, nationalen Projekt der Nordstaaten, die nur wenige außereuropäische Bürger beherbergten, als auch im Konzept der Südstaaten, die eine Konföderation bevorzugten und ihre Wirtschaftskraft wie auch ihre Lebensweise auf der Grundlage der Sklaverei aufgebaut hatten, waren die beiden Mythensammlungen wirksam. Sie haben sich auch auf die originalen Institutionen, die sich die Vereinigten Staaten im Herbst 1787 gegeben haben, ausgewirkt. Sie fanden ihren säkularisierten und juristischen Nachdruck in den beiden Kongresskammern. Es ist bekannt, dass nach drei Monaten währenden Diskussionen und Verhandlungen zwischen Juni und September in Philadelphia die beiden Vorstellungen des sozialen Vertrags zwischen Bürgern und des Bundesvertrags in die Verfassung eingeflossen sind: Die 33 Marienstras: Les Mythes fondateurs de la nation am¦ricaine, a. a. O., S. 109 f. 34 Vgl. Poliakov : Der arische Mythos, a.a.O; Chr¦tien, Jean-Pierre: Les deux visages de Cham. Point de vue franÅais du XIX siÀcle sur les races africaines d’aprÀs l’exemple de l’Afrique Orientale, in: Guiral, Pierre/T¦mine, Emile (Hrsg.): L’id¦e de race dans la pens¦e politique franÅaise contemporaine, Paris: ¦d. du CNRS 1977, S. 171 – 199; Monneyron, Fr¦d¦ric: L’Imaginaire racial, Paris: L’Harmattan 2004. 35 Marientras: Les Mythes fondateurs de la nation am¦ricaine, a. a. O., S. 226. 36 Ebd., S. 101. 37 Die Kolonien, die räumlich getrennt waren, haben eher versucht, ihre Unabhängigkeit einzeln und nicht als Union zu erreichen. In der Resolution of Independence vom 2. Juli 1776 steht: „Resolved, That these United Colonies are, and, of right, ought to be, Free and Independent States“.

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Nordstaaten erhielten ein Repräsentantenhaus mit einer Vertretung im Verhältnis zur Bevölkerungszahl (Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, Art. 1, Abschnitt 2), das den Willen des Einzelnen zum Ausdruck bringen soll, die Südstaaten bekamen einen Senat, in dem jeder Bundesstaat mit zwei Senatoren vertreten ist (Art. 1, Abschnitt 3). So sollte sich der Wille der organischen nationalen Gemeinschaft äußern. Die französischen und amerikanischen Gründungsmythen bestimmen nicht nur die Grundprinzipien der jeweiligen Verfassungen und tragen nicht nur dazu bei, durch diese politische Präferenzen (zum Beispiel für die Zentralisierung oder für den Föderalismus) zu beeinflussen. Sie sind auch bemerkenswert langlebig. Sie wirken sich bis heute weiter aus und prägen immer noch das Imaginäre der beiden Nationen.

Schlussfolgerungen In Frankreich wirkt sich der Gründungsmythos der französischen Nation und die Geschlossenheit eines von ihm geprägten politischen Systems bis heute in einem großen Vorbehalt gegenüber externen bzw. internen Gegengewalten aus, so gegenüber der EU auf der einen und den Regionen auf der anderen Seite. Damit lassen sich sowohl die Kritik an einem supranationalen Europa in den 1960er Jahren als auch die Zurückhaltung der Franzosen gegenüber der Einführung des allgemeinen Wahlrechts bei der Wahl des europäischen Parlaments 1977, die heftigen Reaktionen auf den Maastrichter Vertrag, das Scheitern des Referendums von 1969 zur Regionalisierung des Landes, die Probleme bei der Implementierung des Gesetzes zur Dezentralisierung vom 2. März 1982 und die Debatte um die Existenz eines „korsischen Volkes“ teilweise erklären. Auch die Mythen, welche die amerikanische Verfassung bestimmen, sind heute noch wirksam. Die erste Mythensammlung wird oft bemüht und bedingt einen Großteil des US-Imaginären, vom Mythos der Frontier zu Reagans Star Wars, von Horace Heeleys „Go West, young man“ über Kennedys New Frontier und Martin Luther Kings „I have a dream“ bis zur Eroberung des Weltalls und zu Timothy Learys Programm der Bewusstseinserweiterung in den 1960er Jahren. Die USA sind stets auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Auch wenn die zweite Mythensammlung weniger evident ist, ist auch sie nicht ohne Wirkung geblieben. So werden in Amerika die Einzelnen durch die Verwaltung nach der Farbe ihrer Haut klassifiziert. Außerdem findet man dort den ständigen Versuch, die Autonomie der Bundesstaaten zu stärken; die Sezession der Südstaaten im 19. Jahrhundert bildet nur ein besonders drastisches, aber nicht alleiniges Beispiel für diese Tendenz. Selbst die, die vorher aufgrund dieser Mythensammlung ausgeschlossen waren, berufen sich heute auf sie und auf das Prinzip

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der Segregation. So sind in den 1960er Jahren einige extremistische Bewegungen wie die „Nation of Islam“ bzw. die „Black Power“ entstanden, letztere ist eine Bewegung, die in fünf Südstaaten einen unabhängigen schwarzen Staat errichten wollte.

Bibliographie Beaune, Colette: Naissance de la nation France, Paris: Gallimard 1985. Cassirer, Ernst: Sprache und Mythos, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe (ECW), Bd. 16, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2009. Chr¦tien, Jean-Pierre: Les deux visages de Cham. Point de vue franÅais du XIX siÀcle sur les races africaines d’aprÀs l’exemple de l’Afrique Orientale, in: Guiral, Pierre/T¦mine, Emile (Hrsg.): L’id¦e de race dans la pens¦e politique franÅaise contemporaine, Paris: ¦d. du CNRS 1977. Dum¦zil, Georges: Mythos und Epos. Die Ideologie der drei Funktionen in den Epen der indoeuropäischen Völker, Frankfurt am Main: Campus 1989. Dum¦zil, Georges: Antrittsvorlesung am CollÀge de France (01. Dezember 1949), erneut in: Ders.: Mythes et dieux des Indo-Europ¦ens, Paris: Flammarion 1992. Dumont, Louis: Homo Aequalis II. L’Id¦ologie allemande, Paris: Gallimard 1991. Dumont, Louis: Individualismus: Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt am Main, New York: Campus 1991. Durand, Gilbert: Figures mythiques et visages de l’œuvre, Paris: Berg International 1979. Durand, Gilbert: Les structures anthropologiques de l’imaginaire, Paris: Dunod (2. Aufl.) 1992. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane: vom Wesen des Religiösen, Hamburg: Rowohlt 1957. Eliade, Mircea: La Nostalgie des origines, Paris: Gallimard 1971. Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen, Bde. 2 u. 3., Freiburg im Breisgau: Herder 2002. Ellul, Jacques: Histoire des institutions, Bd. 5: Le XIXe siÀcle, Paris: PUF 1979. L¦vy-Bruhl, Lucien: Les fonctions mentales dans les soci¦t¦s inf¦rieures, Paris: Alcan 1910. L¦vi-Strauss, Claude: Die Struktur der Mythen, in: Ders.: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 226 – 254. L¦vi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Marienstras, Elise: Les Mythes fondateurs de la nation am¦ricaine, Paris: Maspero 1976. Michelet, Jules: Histoire de la R¦volution franÅaise, Paris: Laffont 1979. Monneyron, Fr¦d¦ric: La Nation aujourd’hui. Formes et mythes, Paris: L’Harmattan 2000. Monneyron, Fr¦d¦ric: L’Imaginaire racial, Paris: L’Harmattan 2004. Poliakov, L¦on: Der arische Mythos: Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg: Junius 1993. R¦mond, Ren¦: Les Etats-Unis devant l’opinion franÅaise, Paris: A. Colin 1962.

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Frédéric Monneyron

Sanford, Charles L.: The Quest for Paradise. Europe and the American Moral Imagination, Urbana: University of Illinois Press 1961. Schnapper, Dominique: La Communaut¦ des citoyens. Sur l’id¦e moderne de nation, Paris: Gallimard 1994. Sironneau, Jean-Pierre: Mythe et nation dans l’Allemagne moderne: de l’ethnie — l’id¦ologie, in: Iris, 15 (1995): Mythe et nation, S. 41 – 62. Steiner, George: Les Antigones, Paris: Gallimard 1986. Tocqueville, Alexis de: L’Ancien r¦gime et la R¦volution, in: Ders.: Œuvres complÀtes, Bd. 2, Paris: Gallimard 1952.

Joanna Nowicki (Cergy-Pontoise)

Die Bedeutung von Mythen und nationalen Symbolen in den Kulturen Mitteleuropas1

In unserem Sammelband „Mythes et symboles politiques en Europe centrale“2 haben wir auf die wichtige Funktion der Kultur im Prozess der Identitätsbildung in Mitteleuropa hingewiesen. Wie auch die literarischen, bildlichen und musikalischen Symbole haben die Mythen dort oft eine ausgeprägte politische Konnotation. Doch im Unterschied zum westlichen Teil Europas, in dem Mythen und Symbole meist Träger einer universalistischen Perspektive waren, sind in Mitteleuropa die Darstellungen, Bilder und symbolischen Personen eng mit der Nationalgeschichte verbunden und aus diesem Grund ohne deren Kenntnis schwer zu deuten. Ich werde im Folgenden die Symbolik der Völker Mitteleuropas nicht ausführlich behandeln können, sondern lediglich auf einige einleuchtende Beispiele kollektiver Repräsentationen eingehen, so auf den Mythos des Vaterlands und den Mythos Europas. Ich werde dabei auch einige neue Fragen erörtern, die in der Literatur nach dem Bruch von 1989 im Zusammenhang mit diesen beiden Mythen generiert wurden.

1 Übers. von Yves Bizeul (YB). „Europe centrale“ (in englischer Sprache „Central Europe“) wird hier mit „Mitteleuropa“ wiedergegeben. Meist ist in der deutschen Literatur zum Thema von Ostmitteleuropa bzw. von Ost- und Mitteleuropa die Rede. Die Verfasserin betont allerdings in ihrem Aufsatz die Zentralität dieser Region im Herzen Europas. Wir haben uns aus diesem Grund für den Begriff „Mitteleuropa“ entschieden, obwohl er in der deutschen Vergangenheit immer wieder politisch missbraucht wurde. Siehe hierzu u. a.: Elvert, Jürgen: Mitteleuropa!: Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918 – 1945), Historische Mitteilungen, 35 (1999), Beiheft. Anm. d. Übers. 2 Delsol, Chantal/Maslowski, Michel/Nowicki, Joanna (Hrsg.): Mythes et symboles politiques en Europe centrale, Paris: PUF 2002.

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Joanna Nowicki

Der Vaterland-Mythos Die mitteleuropäischen Nationen haben alte Territorien, Religionen und politische Herrschaftssysteme. Sie können aber keine harmonische Entwicklung hin zum Nationalstaat vorweisen, wie es im westlichen Teil Europas meist der Fall ist. Der ungarische Historiker Jeno˝ Szu˝ cs spricht von einer Abbiegung Ostmitteleuropas vom westeuropäischen Entwicklungsweg.3 Er trennt Europa in eine westliche, mittelöstliche und östliche Region, indem er drei Hauptunterscheidungskriterien benutzt: die Existenz bzw. das Fehlen einer von der politischen Macht unabhängigen Zivilgesellschaft, die Art der Trennung von Staat und Kirche und die Vertragskultur zwischen freien Menschen, die Rechte erhalten und Pflichten unterworfen sind. Die Schwierigkeit bei der Untersuchung der politischen Entwicklungen in Mitteleuropa resultiert aus der mehr oder weniger offenkundigen Vermengung des „westlichen“ und des „östlichen Modells“. Mitteleuropa hat einerseits freiwillig Züge der beiden Modelle übernommen, andererseits sind sie ihm teilweise aber auch aufgezwungen worden. Zugleich hat es selbst eigene originelle Lösungen hervorgebracht. Die Entwicklung Mitteleuropas hing im Laufe der Jahrhunderte nicht nur von freiwilligen Entscheidungen, sondern auch vom unmittelbaren Umfeld, von dem, was in der Literatur oft die „schwierige geopolitische Lage“ dieses Teils Europas genannt wird, ab. Diese Lage besteht in einer engen Abhängigkeit zu mächtigeren Nachbarn, welche die historischen Grenzen der einzelnen Nationen oft missachteten und durch Invasionen, Okkupationen und Protektorate aller Art dazu beigetragen haben, die politischen Grenzen ohne Rücksicht auf ethnische Gegebenheiten zu ziehen, was das bekannte Phänomen der Minderheiten bzw. Nationalitäten hervorgebracht hat, ein Phänomen, das in vielen dieser Länder für eine große innere Instabilität sorgt. Schon aus diesem Grund hat sich in Mitteleuropa das „französische“ Modell der gesellschaftlichen Integration nicht verwirklichen lassen. Anstelle des Nationalstaat-Paradigmas hat man es dort mit einem eigenen Paradigma, dem des „Nationalvolkes“, zu tun.4 In der französischen Sprache werden Staatsbürgertum und Nationalität gleichgestellt (man besitzt die französische Nationalität). Das polnische Wort narod hingegen bedeutet sowohl Nation als auch Volk. Auch im Ungarischen sind diese beiden Begriffe eng miteinander verwandt. Während der kurzen „Samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei wurde der Ruf „Wir sind das Volk“ laut, um auf die wieder-

3 Vgl. Szu˝ cs, Jeno˝ : Die drei historischen Regionen Europas. Eine Studie, Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik 1990, S. 60. 4 Vgl. Maslowski, Michel: Identit¦(s) de l’Europe Centrale, Paris: Institut d’Etudes Slaves 1995.

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erlangte Souveränität hinzuweisen. Damit waren zugleich die Nation und die befreite Gesellschaft gemeint. Diese sprachlichen Unterschiede sind die Folgen von Differenzen im Weltbild: In Mitteleuropa war eine Vermengung von Staat und Nation nicht möglich, da der Staat allzu oft die Interessen der Nation nicht nur nicht vertrat, sondern sogar unmittelbar gegen sie handelte bzw. die Nation völlig zu vernichten drohte. Das Misstrauen dem Staat gegenüber oder sogar gegenüber jeder Art stabiler Herrschaft geht in Mitteleuropa mit einer ausgeprägten Präferenz für die Angehörigen des eigenen Volks einher ; ein Volk, das übrigens nicht immer nach streng ethnischen Kriterien definiert wird. Die kulturelle Identität bietet viel eher als die Blutverwandtschaft die Grundlage für das eigentümliche mitteleuropäische Konstrukt des Vaterlands, verstanden als kultureller, nicht als geografischer Raum. Das schließt übrigens die Existenz der kleinen Heimat (des jüdischen shtetl bzw. des polnischen Dorfs hucul) keineswegs aus. Wichtig in beiden Fällen ist die Vorstellung der Verwurzelung und der unmittelbaren menschlichen Beziehungen, unabhängig von den Institutionen, vor allem vom Staat. Die Koexistenz der beiden Dimensionen – auf der einen Seite die Bindekraft eines sozialen Bandes, das über die politischen Grenzen hinauswirkt, auf der anderen Seite das genauso tiefe Gefühl der heimatlichen Verwurzelung – erklärt die Schwierigkeit Adam Mickiewicz’, die kulturelle/nationale Zugehörigkeit zu erfassen. Mickiewicz war zugleich polnischer und litauischer Nationaldichter. Beide Nationen können sich legitimerweise auf ihn berufen. Die erste Strophe des bekannten Versromans „Herr Thaddäus oder Der letzte Einritt in Lithauen“, ein Epos, das jedes polnische Kind in der Schule auswendig lernt, da es zum Grundbestand des nationalen Kulturguts gehört, zeigt diese Ambiguität, die für Mitteleuropa charakteristisch ist: „Lithauen! Wie die Gesundheit bist du, mein Vaterland!“. Viele Jahrhunderte lang dominierten sowohl die tatsächliche politische Unterwerfung unter fremde Mächte als auch die Sehnsucht nach politischer Autonomie. Aus beiden Umständen sind Strategien für die Wiedereroberung der Freiheit entstanden. Mehrere dieser Strategien wurden in Symbolen verdichtet, so der Schwejkismus, der Wallenrodismus und die „organische Arbeit“ (mit ihrer tschechischen Entsprechung der „drobni prace“). In den beiden ersten Fällen haben wir es mit literarischen Figuren zu tun (dem braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hasˇek und Konrad Wallenrod von Mickiewicz), deren Verhalten dem Geist der Zeit so gut entsprachen, dass die Zeitgenossen aus den jeweiligen Eigennamen Bezeichnungen für zu ihrer Zeit charakteristische Strategien gemacht haben. Im ersten Fall haben wir es mit einer Durchtriebenheit zu tun, die darin besteht, angeblich stets mit der Obrigkeit einverstanden zu sein, um sie besser hintergehen zu können. Den Dummen zu spielen und

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gleichzeitig hellwach zu sein, sich nicht manipulieren zu lassen, obwohl man den Gehorsamen vorspielt, war für die Tschechen fester Bestandteil ihres Kampfes zur Bewahrung der eigenen Würde, da sie die objektiv unerträgliche politische Lage nicht mit eigenen Kräften verändern konnten. Der Schwejkismus ist eine Form von Humor, die für ganz Mitteleuropa charakteristisch ist: Das Groteske wird hier zur Anklage gegen eine absurde Situation, ohne in eine hochtrabende Ausdrucksweise zu verfallen. Der Wallenrodismus entspricht einer anderen Grundhaltung bzw. einer anderen Strategie zur Wiedereroberung der nationalen Souveränität, die charakteristisch für das polnische Volk ist. Auch hier haben wir es mit einer List zu tun, aber in einer viel gefährlicheren Art. Verkleidet geht der Ritter Konrad Wallenrod ins feindliche Lager des Deutschen Ordens und operiert dort unauffällig. Es handelt sich um einen Gegenhelden, ja sogar um einen Verräter-Helden, der zum Schluss zum Sieg der Polen beiträgt. Die Geschichte der mitteleuropäischen Völker ist aber mehr durch tragische Ereignisse als durch Siege gekennzeichnet. Das hat den bekannten ungarischen Historiker Istvan Bibû dazu gebracht, einem seiner Bücher den vielsagenden Titel „Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei“ zu geben.5 Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera hat als Untertitel seines bekannten Aufsatzes „Der entführte Westen“ nicht von ungefähr „Die Tragödie Mitteleuropas“ gewählt.6 Niederlagen und Traumata haben die kollektiven Vorstellungen der Völker Mitteleuropas geprägt. Die Mitteleuropäer haben sich im Laufe der Zeit mehr als passive Zuschauer ihrer eigenen Geschichte denn als aktive Akteure betrachtet. Man spricht in diesem Zusammenhang oft vom Syndrom der verlorenen Schlacht und verweist dabei gern auf die Schlacht am Weißen Berg, die das Schicksal der tschechischen Länder besiegelt hat,7 oder auf die Schlacht bei Moh‚cs, welche die ungarische Geschichte so radikal bestimmt hat.8 In Polen spricht man oft vom „gewaltsamen Ende des Aufstandes“, ein Ausdruck, der das kollektive Bewusstsein tief prägt. Man benutzt ihn nicht nur im Zusammenhang mit den zahlreichen nationalen Aufständen des 19. und 20. Jahrhunderts (1830, 1863, 1944), sondern auch in Verbindung mit der letzten 5 Vgl. Bibû, Istvan: Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei, Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik (2. Aufl.) 1993. 6 Kundera, Milan: Der entführte Westen oder : Die Tragödie Mitteleuropas, in: Busek, Erhard/ Wilfinger, Gerhard (Hrsg.): Aufbruch nach Mitteleuropa, Wien: Edition Atelier 1986, S. 133 – 144. 7 Die Schlacht am Weißen Berg 1620 beendete den Versuch der Böhmischen Protestanten, sich von der Herrschaft der Habsburger zu befreien. 8 Nach einem mehr als einem Jahrhundert währenden Widerstand gegen die osmanischen Eroberungszüge wurden die ungarischen Truppen 1526 bei der Stadt Moh‚cs besiegt. Mit der verlorenen Schlacht begann die Besetzung eines Großteils Ungarn durch die Osmanen. Sie blieben dort bis Ende des 17. Jahrhunderts.

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„romantischen Revolution“, die von der Gewerkschaft Solidarnos´c´ lanciert und durch die Ausrufung des Kriegszustands 1981 gewaltsam beendet wurde. Dem „gewaltsamen Ende des Aufstandes“ folgt jedes Mal eine Zeit der Niedergeschlagenheit und der Vermehrung der Symbole nationaler Trauer, an die man in regelmäßigen Abständen erinnert. Keine Zeitspanne der polnischen Geschichte ist frei von der Erinnerung an die „Kinder der Aufständigen“. 1981 haben die Polen Schmuckstücke aus schwarzem Schmelzglas hergestellt, die denen aus dem 19. Jahrhundert ähnelten, um ihrer Verzweiflung nach der Niederschlagung des Aufstands und dem „Tod des Vaterlandes“ Ausdruck zu verleihen. Der Kult der „nationalen Martyrologie“ (so die gängige Bezeichnung im Mitteleuropa) ist seit jeher fester Bestandteil der mitteleuropäischen Historiografie. Bei den heutigen nationalen Ikonoklasten löst er heftige Abstoßreaktionen aus. Sie betrachten ihn als das Ergebnis einer ungesunden Lust am Schmerz. Er führe zu einer gefährlichen Viktimisierung des Bewusstseins, welche die Einzelnen von ihrer Pflicht, das kollektive Schicksal zu gestalten, entbindet. Ähnlich argumentierte schon Jan Patocˇka in seinen Schriften. Er zeigt sich besonders streng gegenüber seinen tschechischen Mitbürgern und verlangt, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, anstatt die Verantwortung auf „versagende Verbündete“ oder auf ein Fatum der Geschichte abzuwälzen.9 Istv‚n Bibû argumentiert ähnlich, wenn er die „Deformation des politischen Charakters“10 der Ungarn anprangert, und Witold Gombrowicz hat in seinem ganzen Werk versucht, die Nationalgeschichte zu entmythologisieren, mit dem Ziel, den Polen von seinem „Polentum“ zu befreien. Anstatt den Polen geistig zu bereichern, hat die nationale Ideologie seiner Auffassung nach verhindert, dass er sich zuerst als Mensch betrachtete und erst dann als Bestandteil einer besonderen kulturellen bzw. nationalen Gemeinschaft. Alle Völker Mitteleuropas sind geprägt von der traumatisierenden Vorstellung vom möglichen kollektiven Tod. Sie wissen genau, dass die Zivilisationen sterblich sind, zumal sie das plötzliche Verschwinden ihrer Nationen erlebt haben. Nur durch die Willenskraft einiger weniger, die darin ihre Mission sahen, konnten diese Nationen wiedergeboren werden. Eine solche Erfahrung bleibt unauslöschbar in Erinnerung. Alle teilen dieses Trauma, auch wenn es sich in unterschiedlichen Ausdrucksformen, Obsessionen oder Komplexen manifestiert, die dem westlichen Rationalismus – der übrigens in einem viel weniger angespannten, zum Teil glücklicheren historischen Umfeld entstanden ist – 9 Vgl. Patocˇka, Jan: L’id¦e de l’Europe vue en BohÀme, Grenoble: J¦rúme Millon 1991. Siehe hierzu auch: Sokol, Jan: La pens¦e europ¦enne de Jan Patocˇka, in: Delsol, Chantal/Maslowski, Michel (Hrsg.): Histoire des id¦es politiques en Europe Centrale, Paris: PUF 1998, S. 496 – 510; Homp, Armin/Sedlaczek, Markus (Hrsg.): Jan Patocˇka und die Idee von Europa, München: MitOst e.V. 2003. 10 Vgl. Bibû: Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei, a. a. O., S. 56.

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entgegenstehen. Das klare Bewusstsein, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen, hat die heutige Meinung entstehen lassen, man würde eine „Gemeinschaft der Geschädigten“ bilden. Dieser Ausdruck zeugt von einer starken Sensibilisierung für das Versagen und das Leiden. Manchmal kann dies zu mehr Sensibilität für die Opfer der Geschichte führen. Oftmals drückt sich diese Einstellung jedoch in Ressentiments und ständig neuen Forderungen aus. Um ein ausgeglichenes Leben zu führen, muss man womöglich – sowohl auf der persönlichen als auch auf der kollektiven Ebene – mit der Gabe des Vergessens, vor allem des Vergessens des erlittenen Leids, gesegnet sein. Das Problem der Mitteleuropäer besteht darin, dass sie zwar, wie alle anderen Menschen dieser Welt auch, nach dem Glück streben, dass sie zugleich aber auch die Notwendigkeit des Vergessens nicht leicht akzeptieren, obwohl viele dies als Voraussetzung für ein geglücktes Zusammenleben betrachten. Ihre symbolischen Gemeinschaften basieren mehr auf einem geteilten kollektiven Gedächtnis als auf einem gemeinsamen Vergessen. Gerade die Einstellung zum Gedächtnis und zum Vergessen erklärt die tiefen Unterschiede, die zwischen der kulturellen Psychologie der Bürger Mitteleuropas und derjenigen der Einwohner Westeuropas, des Europa felix, existieren. In Mitteleuropa wird das Vergessen des erlebten Unrechts nicht als Voraussetzung für die Aufarbeitung der tragischen Erfahrungen aus der Vergangenheit betrachtet. Vergessen ist aber die Voraussetzung der Versöhnung mit früheren Feinden. In Mitteleuropa wird es jedoch oft als Verrat an denjenigen empfunden, die das Recht haben, nach ihrem erduldeten bzw. für die allgemeine Sache freigewählten Tod im Kollektivgedächtnis weiterzuleben. Vergessen wird zudem mit Oberflächlichkeit bzw. Leichtigkeit gleichgesetzt, jedoch nicht mit der Art von Leichtigkeit, die das Leben erleichtert, sondern mit einer Leichtigkeit, die als vulgär oder gar als barbarisch gilt. Die ihrer Kultur so sehr verbundenen Mitteleuropäer erinnern uns daran, dass jede Kultur Erinnerungsarbeit und Transmission voraussetzt. In ihren Augen kommt das Vergessen einer Zerstörung der eigenen Kultur gleich. Die Dekulturalisierung wird in Mitteleuropa als eine Art „Denaturalisierung“ gesehen, in den Ohren eines Westeuropäers ein merkwürdiges Wort, da sie die Integration und die Assimilation der Ausländer in eine Gastkultur meist mit Naturalisierung assoziieren. Die „Denaturalisierung“ wird in Mitteleuropa als Verlust der eigenen kulturellen Orientierung infolge von Geistesfaulheit oder Trägheit gesehen, was manchmal das Gleiche sein kann. Die Grundlage der eigenen Identität zu vernachlässigen wird nicht als etwas Positives betrachtet. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die Titel der Romane Milan Kunderas, so „Das Buch vom Lachen und Vergessen“, „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, „Die Unsterblichkeit“, „Die Langsamkeit“, „Die Identität“, die allesamt den Bezug zur Zeit, zur Geschichte, zur Vergangenheit und zur

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Gegenwart thematisieren. Bohumil Dolezˇal stellt in seinem Aufsatz „Die Tschechen und die Versöhnung in Mitteleuropa“ die entscheidende Frage, inwiefern das kollektive Gedächtnis der Tschechen den Triumph der Versöhnung über das Misstrauen bzw. die Intoleranz fördern kann.11 Die meisten Symbole und Mythen Mitteleuropas, die wir erwähnt haben, stammen aus der Zeit der Romantik. Sie wurden damals entweder erschaffen oder reaktiviert. Es war eine Zeit der Erneuerung des nationalen Bewusstseins und der Kämpfe um die Unabhängigkeit. Sie war stark durch die deutsche Philosophie geprägt, vor allem durch das Werk Johann Gottfried von Herders. Die in dieser Zeit entstandene Symbolik ist bis heute fester Bestandteil der Tradition. Aber auch weitere Geistesströmungen haben das kollektive Imaginäre Mitteleuropas befruchtet. Der aufmerksame Beobachter sollte sich bemühen, sie wahrzunehmen, will er die außerordentliche Komplexität der kollektiven Mentalität der Mitteleuropäer ernsthaft verstehen. Niemand bestreitet, dass das romantische Ethos nach dem „Schock der Freiheit“ nachgelassen hat. Dieses Ethos hatte in der Vergangenheit das „allerheilige patriotisch-religiöse Modell“ hervorgebracht, das vor allem im Kontext des Kampfes um die Freiheit Energien mobilisierte. In unserer Zeit materiellen Wachstums nach dem jähen Ende des realexistierenden Sozialismus hat es an Attraktivität verloren. Nach der Wende wurden andere Strategien des kollektiven Überlebens in Erinnerung gebracht, so die der „organischen Arbeit“ in Polen bzw. der drobni prace (kleinen Arbeiten) des Staatsgründers Tom‚sˇ Garrigue Masaryks in Tschechien. Diese Ideologien sind mit einem Positivismus verbunden, der mit dem Ideal der Aufopferung bei Aufständen nicht kompatibel ist und zumindest auf den ersten Blick praxisnähere, weniger glorreiche Handlungen erfordert. Auch solche Handlungen sollten allerdings dem Zweck der nationalen Unabhängigkeit dienen. Von den intellektuellen Eliten wurde früher erwartet, dass sie sich in erster Linie für den Erhalt der Kollektividentität stark machten. In einer Zeit, in der das Nationalbewusstsein durch die Russifizierung bzw. Germanisierung geschwächt war, in der die Nationen also von der Gefahr der sogenannten Denaturalisierung bedroht waren, sollte dessen Stärkung vor allem durch Erziehung, durch die Vermittlung von Kultur und durch die Pflege der Sprache stattfinden. Die ganze literarische Tradition zeugt von diesem Auftrag, der schwer zu erfüllen war. In der Praxis dominierte mehr das Grau der alltäglichen Anstrengungen als der Glanz eines heroischen Handelns, die Unsicherheit bezüglich der Ergebnisse, die sich erst langfristig zeigen sollten. Die Akzeptanz der alltäglichen Anstrengungen war mitnichten das Ergebnis eines Pragmatismus, der mit der Romantik der Aufstände und revolutionären 11 Vgl. Dolezˇal, Bohumil: Les TchÀques et la r¦conciliation en Europe Centrale, in: Bulletin de l’Association L’amiti¦ franco-tch¦co-slovaque, 48 (1998) 6, S. 2 – 6.

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Bewegungen vollständig gebrochen hätte. Sie hat vielmehr ein Nachdenken über den Sinn der Geschichte, über die Gründe der Krise des modernen Menschen sowie über die Bedeutung des politischen Handelns und seine ethischen Fundamente ermöglicht. Das ist in den Schriften Masaryks, der sich für Reformen statt für Revolutionen stark machte, offenkundig. Die Reformen sollten die Form einer gesetzestreuen Opposition in Gestalt kleiner konkreter Maßnahmen haben und eine spirituelle Revolution „der Gehirne und Herzen“ einleiten.12 In Polen wurde eine solche Haltung nach dem Vorzeigeschriftsteller der Zeit Stefan Z˙eromski benannt. Heute noch versteht man unter „z˙eromszczyzna“ das ethische Engagement für das Gemeinwohl im Bereich der Erziehung und des Sozialen – mit dem Ziel des Erhalts der kulturellen und nationalen Identität. Die Verfechter dieser Haltung stellen sich neuerdings in den Dienst der Erziehungsbehörden, um die Aufgaben der Schule von Grund auf zu überdenken. Sie sollte die Vorfahren ehren und deren Erwartungen entsprechen, sie, die unfrei leben mussten. Welche Norm, welche Sehnsucht, welches mehr oder minder explizite Modell versteckt sich aber hinter solchen Anstrengungen? Das Hauptziel ist zweifellos die Integration in Europa, vor allem in Westeuropa, das als Europa felix betrachtet wird und eine vielfältige sowie originelle Reflexion erzeugt. Es stellt selbst ein Symbol, möglicherweise sogar einen Mythos dar.

Der Mythos Europa Gleich mehrere Bilder müssen bemüht werden, wenn man das Kapitel „Bekenntnis zu Europa“ (europ¦it¦) einleitet. Europa wird von den Völkern, die an dessen Rande, also in der Peripherie leben, auch wenn sich ihre Territorien geografisch in der Mitte des europäischen Kontinents befinden, für sich beansprucht. Das ist der erste Schlüssel zum Verständnis der Geisteshaltung der Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn zu dieser Frage, um nur die Einwohner der drei großen historischen Königreiche zu nennen. Kundera hat auf dieser Tatsache das Motto seines Plädoyers für Mitteleuropa aufgebaut: geografisch in der Mitte, kulturell im Westen, politisch im Osten – eine Spaltung, die zwangsläufig zu einer schweren Schizophrenie führt. Sie wird von dem tschechischen Autor nicht ohne Grund als Tragödie beschrieben. Das positive Bild des Zentrums, der Mitte, des Lebens im Herzen Europas wird nicht von allen Europäern geteilt. Im Westen sieht man die mitteleuropäischen Länder eher als 12 Vgl. Havelka, Milos: Lib¦ralisme et r¦alisme tchÀques, et leurs transformations: Masaryk, Kaizl, Peroutka, in: Delsol/Maslowski (Hrsg.): Histoire des id¦es politiques de l’Europe Centrale, a. a. O., S. 452 – 465, hier S. 460.

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„eingekeilt zwischen Deutschland und Russland“. Allerdings gilt das nicht für diejenigen, die die Mentalität dieser Völker gut kennen, weil sie sich mit deren Geschichte gründlich beschäftigt haben und somit eine ähnliche Sprache wie die Mitteleuropäer sprechen – so zum Beispiel der britische Historiker Norman Davies, der eine glänzende Geschichte Polens mit dem vielsagenden Titel „Heart of Europe“ geschrieben hat.13 Es ist demütigend, nicht um seiner selbst willen wahrgenommen zu werden, sondern seine eigene Existenz nur über mächtige Nachbarn definieren zu müssen. In Mitteleuropa werden deshalb die neuen eigenen Ländernamen hochgehalten, und dies nicht nur von den Diplomaten aus den Nationen, die sich von dem sowjetischen Machteinflussbereich befreit haben, sondern auch von den Völkern selbst, in der Hoffnung, dass diese Namen endlich für sich selbst geschätzt werden. Der Essay Kunderas „Der entführte Westen“ wurde vor allem von französischen Intellektuellen positiv rezipiert. Vorher waren sie es gewohnt, Mitteleuropa nur „in Bezug zu Russland und Deutschland“ zu denken. Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man nur den Essay Alain Finkielkrauts „Die Undankbarkeit“ zu lesen.14 Er gibt zu, dass er durch Kundera, aber auch durch Patocˇka, Michnik und andere mitteleuropäische Dissidenten zu einem besseren Verständnis der mitteleuropäischen Kultur gekommen war. Es ist ein schönes Bekenntnis zum – möglicherweise spät entstandenen, aber dafür umso authentischeren – Band zwischen den Intellektuellen der „Ostmark“ und denen, die sich im wahren Mittelpunkt Europas befinden. Hier dreht sich alles um das Bild, das man sich von der europäischen Kultur, vom europäischen Geist, von der europäischen Identität und von den europäischen Werten macht. Wenn man die Texte der früheren Dissidenten liest, kann man durchaus von ihrem übertriebenen Bekenntnis zu Europa irritiert werden. Ihre Tonart ist engagiert, manchmal sogar militant, sowohl, wenn sie sich an ihre Mitbürger wenden, um deren Passivität oder Fatalismus anzuprangern, als auch, wenn sie sich an die Westler wenden, frei, aber nicht engagiert genug, wenn auch aus anderen Gründen, um Europa als Wert, vor allem als spirituellen, zu verteidigen. Man sollte dabei nicht den Kontext vergessen, in dem diese Schriften entstanden sind. Die Denker, die Intellektuellen des „anderen Europas“ mussten Europa lange entbehren, sie konnten weder den europäischen Geist genießen noch die Ideen, die aus ihm entstanden sind, verwirklichen. Deshalb haben sie das

13 Davis, Norman: Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München: Verlag C. H. Beck (4. Aufl.) 2006. 14 Finkielkraut, Alain: Die Undankbarkeit – Gedanken über unsere Zeit, Berlin: Ullstein Verlag 2001.

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Schicksal ihres Landes eng mit einem vorbehaltlosen Bekenntnis zu Europa verknüpft. „Die Frage, ob man in Europa zu Hause ist, hat nicht nur mit Ökonomie oder Politik zu tun. Es ist auch buchstäblich eine Frage von Leben und Tod“. Dieser Satz Andr‚s Csejdys knüpft an den eines seiner Mitbürger an, der, als die sowjetischen Panzer 1956 in Budapest einfuhren, im ungarischen Radio den Verzweiflungsschrei ausstieß: „Wir sterben für Ungarn und Europa!“ Die Gewissheit, in Europa zu leben, ein Europäer zu sein, ist aber auch mit der Überzeugung verbunden, dass diese Qualität im Unterschied zur menschlichen Existenz nicht ein für alle Mal gegeben ist. Das Bekenntnis zu Europa ist ein Wert an sich, für das es sich zu kämpfen lohnt, denn man könnte eines Tages, ohne es zu merken, plötzlich kein Europäer mehr sein, vor allem aufgrund der Vorherrschaft einer anderen Zivilisation. In ähnlichen Kategorien wurde früher von vielen das Leben in der Machtsphäre der Sowjetunion empfunden, als Einfluss einer fremden politischen Kultur, die in Mitteleuropa als antiwestlich und antieuropäisch betrachtet wurde. Überzeugt, dass man nicht zwangsläufig Europäer ist, sondern dies nur mit eigenem Zutun erreicht, haben die mitteleuropäischen Denker ziemlich früh in ihrer Geschichte ein hoch symbolisches Bild der Mission, die ihr Teil des Kontinents aufgrund seiner geopolitischen Lage erfüllen muss, entworfen. Es handelt sich um das berühmte Symbol des Schutzwalls des westlichen Christentums. Manchmal nahm dieses Bild aber auch eine andere, positivere Gestalt an, nämlich die der Brücke zwischen Osten und Westen (eng verbunden mit der Vorstellung des Mitteleuropas als Mitte bzw. als Raum der Mediation). Das Bild des Schutzwalls ist das Ergebnis der Ausdifferenzierung des Westens und zeigt die Spezifizität des „Junior-Europas“15. Sein Schicksal als von den Feinden Europas belagerte Festung erklärt den besonderen Ton der an die Westeuropäer adressierten Schriften. Sie sind oft warnend angesichts der angeblichen Gleichgültigkeit bzw. Nachgiebigkeit bei der Verteidigung der gemeinsamen Werte. Die „anderen Europäer“ scheinen ihren westlichen Mitstreitern zu sagen: „Wir wissen besser als ihr, was Barbarei ist. Ihr aber habt die Möglichkeit, uns und euch selbst davor zu schützen“. Oft genug sind in der europäischen Geschichte solche Warnungen wirkungslos geblieben. Daraus ist ein Groll gegenüber den „versagenden Alliierten“, die als indifferent und feige angesehen werden, entstanden. Der Vertrag von Trianon, das Münchner Abkommen und das (angebliche) Erbe von Jalta sind nur einige Beispiele unter vielen anderen für den vermeintlichen Verrat des 15 So der Titel des letzten Werks des polnischen Historikers Jerzy Kloczowski. Vgl. Kloczowski, Jerzy : Mlodsza Europa, Europa Srodkowo-Wschodnia w kregu cywilizacji chrzescijanskiej sredniowiecza, Warschau: PIW 1998 (frz. Übersetzung: L’Europe cadette, Europe du Centre est au sein de la civilisation m¦di¦vale chr¦tienne).

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Westens. Lange vor der Perspektive der EU-Osterweiterung haben zahlreiche Stimmen „im Osten“ das Problem einer notwendigen Versöhnung nicht nur mit den früheren Feinden thematisiert, sondern auch mit den „untreuen Alliierten“ von gestern, die morgen zu Partnern eines gemeinsamen Unternehmens werden sollen (Patocˇka, Delezal, Tischner16). Man findet hier die zweite Variante der symbolischen Mission des „JuniorEuropas“, eine Brücke zwischen Osten und Westen zu bilden. Die Tschechen betrachten sich ohnehin schon seit jeher als Brücke zwischen der slawischen und der germanischen Welt. Die Polen sprechen gern von ihrer Brückenfunktion, die sie zwischen dem westlichen Christentum und anderen Religionen, nicht nur der Orthodoxie, sondern auch den Uniaten, dem Judentum, dem Protestantismus und dem Islam, erfüllen. Die Ungarn, die ursprünglich von außerhalb Europas aus den Steppen Asiens kamen, sind Europäer geworden im Unterschied zu anderen Europäern, die meinen, als solche geboren zu sein. Sie wollen eine Brücke zwischen der slawischen Welt, in deren Mitte sie sich per Zufall befinden, und anderen Welten, vor allem anderer Sprachwelten, sein. Die Brücke ist ein Bild, das vor allem heute beliebt ist, ergibt es doch einen Sinn im Umfeld der Osterweiterung Europas. Es wurde zum Beispiel oft von polnischen Diplomaten während der offiziellen Kandidatur Polens als EU-Anwärter benutzt. Sie betonten die besonders interessante Lage Polens zur Ukraine, der neuen Nachbarin der EU: Die zukünftige Brücke zwischen dem „nahen Fremden“ Russland und dem Westen, so lautet die moderne Fassung des alten Symbols, das früher immer wieder gebraucht wurde und manchmal Realität geworden ist. Die Symbolik des Schutzwalls und der Brücke soll helfen, einen würdigen Platz im Konzert der europäischen Nationen zu finden, einen eigenen, unumgänglichen Platz, der die kollektiven Anstrengungen rechtfertigt und das Verlangen nach Anerkennung erfüllt. Eine weitere psychologische Dimension des Phänomens sollte nicht unerwähnt bleiben. Das dezidierte Bekenntnis der Mitteleuropäer zu Europa ist auch das Ergebnis von Ängsten. Einige sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Abhängigkeitskomplex“,17 andere von der „Angst vor einer Kultur aus 16 Der polnische Philosoph hat seine Mitbürger mehrmals vor der Gefahr des Ressentiments gewarnt. Das gilt auch für jenes gegenüber den Siegern, die richtig lagen. Sie sind für die „anderen Europäer“ wie ein Spiegel, in dem sie ihre eigenen Irrtürmer, Schwächen und Verirrungen sehen, obwohl sie diese lieber ausblenden oder vergessen würden. Man findet in vielen polnischen Schriften die Analyse dessen, was Jûzef Tischner „homo sovieticus“ nannte. Ein kurzer Text von Tischner in französischer Sprache mit dem Titel „La crise de l’espoir“ behandelt das Thema des Ressentiments. Vgl. Tischner, Jûzef: La crise de l’espoir, in: Nowicki, Joanna (Hrsg.): Quels repÀres pour l’Europe, Paris: L’Harmattan 1996, S. 39 – 44, hier S. 39. 17 Vgl. Voisine-Jechova, Hana: Le complexe de la d¦pendance dans la litt¦rature tchÀque, in: BeauprÞtre, G¦rard (Hrsg.): L’Europe centrale: r¦alit¦, mythe, enjeu, XVIIIe-XIXe siÀc-

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zweiter Hand“, weitere von einem „Provinzialismus“ (polnisch: zasciankowosc). In Verbindung mit dem Problem von Zentrum und Peripherie beschäftigt diese Frage zahlreiche Mitteleuropäer und nicht nur die der „Ostmark“. „Das unauffindbare Europa“ des Portugiesen Edouardo LourenÅo ist ein gutes Beispiel dafür.18 Ein Tscheche oder ein Pole könnte sich in zahlreichen Analysen LourenÅos wiederfinden, vor allem in dem, was er ein „kulturelles, vermittelndes, weltoffenes Europa“ nennt. In seinen Überlegungen zu Europa unterscheidet Patocˇka zwischen der kleinen (tschechischen) Geschichte und der großen (universellen) Geschichte bzw. zwischen der kleinkarierten kollektiven „Sorge um sich“ und dem dezidierten Engagement für die Welt.19 Patocˇka wünscht sich, dass sich seine Mitbürger erneut für die große Geschichte interessieren. Dies geht aber nur, wenn man einen Teil der gemeinsamen Verantwortung übernimmt, anstatt sich vor allem mit dem eigenen Überleben zu beschäftigen – so wird man zum Spießbürger ohne Zukunftspläne und ohne Ehrgeiz für die Völkergemeinschaft. Die Größe einer Nation hat mit ihrer räumlichen Größe bzw. mit der Anzahl ihrer Einwohner nichts oder wenig zu tun. Sie resultiert aus den Ansprüchen, die man an sich selbst bei der Verwirklichung gemeinsamer Ziele stellt, aus dem, was Patocˇka in Anlehnung an Sokrates und Platon die „Sorge für die Seele“ nennt. Der Philosoph lädt seine Mitbürger ein, sich von der Logik des Ressentiments zu verabschieden und eine Logik der verantwortungsvollen Freiheit zu verfolgen.

les. Actes du colloque international, Varsovie, 24 – 27 septembre 1990, Warschau: Verlag der Universität Warschau 1991, S. 253 – 262. Voisine-Jechova erinnert in diesem Aufsatz an die Neujahrsrede des Staatschefs V‚clav Havel von 1990, in der er auf die Existenz des kollektiven Gefühls einer spirituellen und politischen Abhängigkeit hinwies: „Nach Jahrhunderten“, so Havel, „sind unsere beiden Völker in der Tat wieder auferstanden, allein, ohne Hilfe eines wichtigeren Landes oder von Großmächten. Hier sehe ich den großen moralischen Gewinn dieser Zeit: Die Hoffnung besteht, dass wir in der Zukunft nicht mehr unter dem Komplex derjenigen zu leiden haben werden, die sich ständig für irgendwas bei irgendjemanden bedanken müssen. [Herv. d. Verf.] Ab jetzt hängt es allein von uns ab, ob diese Hoffnung Wirklichkeit wird und ob unser staatsbürgerlicher, nationaler und politischer Stolz in einer ganz neuen Art und Weise in unserer Geschichte geweckt wird. Stolz ist nicht Überheblichkeit. Im Gegenteil: Allein der Mensch oder das Volk im besten Sinne des Wortes ist in der Lage, auf die Stimme des Anderen zu hören, sie als gleich zu akzeptieren, seinen Feinden zu vergeben und seine eigenen Verfehlungen zu bereuen.“ Voisine-Jechova sieht in der ewigen Oszillation zwischen dem Gefühl des nationalen Stolzes bzw. einer kulturellen Unabhängigkeit und der Verbitterung, unbeachtet zu bleiben und verlassen zu sein, eine der wichtigeren Eigenschaften der tschechischen Mentalität. 18 LourenÅo, Edouardo: L’Europe introuvable. Jalons pour une mythologie europ¦enne, Paris: M¦taill¦ 1991. 19 Vgl. Patocˇka, Jan: Europa und Nacheuropa. Die nacheuropäische Epoche und ihre geistigen Probleme, in: Ders.: Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 207 – 287; Patocˇka, Jan: Plato and Europe, Stanford: Stanford University Press 2002.

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Darin sieht er den Sinn des Bekenntnisses zu Europa, das von den Westeuropäern selbst oft vernachlässigt wird. Europa bleibt also die Hauptreferenz der Völker, die man „die anderen Europäer“ genannt hat. Es handelt sich um ein natürliches Zuhause, ein Zivilisationsmodell, das sie schon in der Zeit für sich selbst beanspruchten, als es aus geopolitischen Gründen nicht verwirklicht werden konnte. Es geht aber auch und vor allem um einen Wert, ein Ideal, das sie ansteuern. Nach dem Bruch von 1989 berichtet die Literatur von einem eigenartig schizophrenen Zustand. Eine Umkehrung der Geschichte schien damals unmöglich, aber die Trümmer der Geschichte waren noch immer da – und sie gaben oft ein groteskes Bild des nationalen Bewusstseins. So stellte der polnische Schriftsteller Jerzy Pilch fest: „Wir sind endlich frei. Jetzt sind wir nicht mehr unterdrückt, weder von den Russen noch von den Germanen, jetzt gibt es keine Unterdrücker und keine Besatzer mehr. Jetzt, da die Zeit der Roten zu Ende gekommen ist, können wir uns endlich gegenseitig die Kehle bis zum Knochen durchschneiden.“20 Ein anderes Problem, das heute oft in literarischen Werken angesprochen wird, ist die Frage nach den Identitäten. Das Ende des Sozialismus hat die Spannungen zwischen kulturellen Minderheiten, die vom alten System unterdrückt wurden, wieder aktuell gemacht (Andrzej Stasiuk, Olga Tokarczuk). Die Themen Abschiebung, Expatriierung, Umsiedlung, Rückführung, Exodus, Menschentransfer, Migrationen, Bevölkerungsflucht werden heute von vielen mitteleuropäischen Schriftstellern behandelt, wie Maria DelaperriÀre und Marie Vrinat-Nicolov feststellen.21 Stasiuks Buch „Mein Europa“ ist in dieser Hinsicht kennzeichnend.22 Es beschreibt das Verschwinden des eigenen Vaterlands und nimmt für die Beschäftigung mit anderen Kulturen Stellung. Meist wird für eine größere Öffnung dem Anderen gegenüber plädiert, eine Haltung, die nach den Jahren einer zwanghaften Beschäftigung mit der nationalen Frage in einem Kontext geschlossener Grenzen verständlich ist. Das politische Engagement ist verschwunden. Man gibt sich apolitisch, eine paradoxe Haltung. Zur Zeit der Zensur nahmen die Schriftsteller das Risiko auf sich, das in der Öffentlichkeit verbotene Wort zu ergreifen. Sie gaben den Ton an, wollten die Seelen steuern. Nach 1989 vertreten die meisten von ihnen eine apolitische Position. So beschäftigen sich junge polnische Autoren wie Dorota Masłowska, Tomasz Pia˛tek und Wojciech Kuczok, die in den 1970ern Jahren 20 Pilch, Jerzy : Marsz Polonia, Warschau: S´wiat Ksia˛z˙ki 2008, S. 143. Übers. YB. 21 Vgl. DelaperriÀre, Marie/Vrinat-Nicolov, Marie (Hrsg.): Litt¦ratures de l’Europe M¦diane aprÀs le choc de 1989, Paris: Institut d’Etudes Slaves 2011. 22 Andruchowytsch, Juri/Stasiuk, Andrzej: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

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geboren sind, mit der verwirrten Jugend und interessieren sich nicht mehr für politische Kämpfe. Ein weiteres Motiv der neuen, in der Literatur vorherrschenden Narrative ist das Thema der Unübersetzbarkeit der Lebenserfahrungen in Ost- und WestEuropa. Die Schwierigkeit einer ehrlichen gegenseitigen Kommunikation wird vor allem von Autoren des „anderen Europas“ thematisiert, die auch Westeuropa gut kennen, so zum Beispiel von der Bulgarin Rouja Lazarova, der Autorin von „Mausoleum“,23 oder von der Slowenin Brina Svit, der Verfasserin des Romans „Moreno“.24 Es wird klar, dass man ein halbes Jahrhundert unterschiedlicher Erfahrungen und Trennung zwischen den beiden Teilen Europas nicht so einfach überwinden kann. Beenden wir diese Abhandlung mit folgender Behauptung Jean-Jacques Wunenbergers, der wir nur zustimmen können und die sich im Fall der Nationalmythen Mitteleuropas erneut bewahrheitet: „Auch die Werke der Einbildungskraft sind […] Lieferantinnen von Sinn, selbst wenn sie nicht mit der Klarheit und der Unterscheidungskraft der Ideen und auch nicht mit der Offensichtlichkeit der Wahrnehmung ausgestattet sind. Sie bewegen Ideale, gestalten das Handeln dichterisch aus und geben zu denken inmitten eines Ensembles, das man das Imaginäre nennen kann“.25

Bibliographie Andruchowytsch, Juri/Stasiuk, Andrzej: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa (zusammen mit Juri Andruchowytsch), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Bibû, Istvan: Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei, Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik (2. Aufl.) 1993. Davis, Norman: Im Herzen Europas. Geschichte Polens. Übersetzt von Friedrich Griese, München: Verlag C. H. Beck (4. Aufl.) 2006. DelaperriÀre, Marie/Vrinat-Nicolov, Marie (Hrsg.): Litt¦ratures de l’Europe M¦diane aprÀs le choc de 1989, Paris: Institut d’Etudes Slaves 2011. Delsol, Chantal/Maslowski, Michel/Nowicki, Joanna (Hrsg.): Mythes et symboles politiques en Europe centrale, Paris: PUF 2002. Dolezˇal, Bohumil: Les TchÀques et la r¦conciliation en Europe Centrale, in: Bulletin de l’Association L’amiti¦ franco-tch¦co-slovaque, 48 (1998) 6, S. 2 – 6. Elvert, Jürgen: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918 – 1945), in: Historische Mitteilungen, Bd. 35, Beiheft, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1999. 23 Lazarova, Rouja: Mausol¦e, Paris: Flammarion 2009. 24 Svit, Brina: Moreno, Paris: Gallimard 2003. 25 Wunenberger, Jean-Jacques: Introduction, in: Delsol/Maslowski/Nowicki (Hrsg.): Mythes et symboles politiques en Europe centrale, a. a. O., S. 1 – 10, hier S. 5.

Mythen und nationale Symbole in den Kulturen Mitteleuropas

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Finkielkraut, Alain: Die Undankbarkeit – Gedanken über unsere Zeit, Berlin: Ullstein Verlag 2001. Havelka, Milos: Lib¦ralisme et r¦alisme tchÀques, et leurs transformations: Masaryk, Kaizl, Peroutka, in: Delsol, Chantal/Maslowski, Michel/Nowicki, Joanna (Hrsg.): Mythes et symboles politiques en Europe centrale, Paris: PUF 2002, S. 452 – 465. Homp, Armin/Sedlaczek, Markus (Hrsg.): Jan Patocˇcka und die Idee von Europa, München: MitOst e.V. 2003. Kloczowski, Jerzy : Mlodsza Europa, Europa Srodkowo-Wschodnia w kregu cywilizacji chrzescijanskiej sredniowiecza, Warschau: PIW 1998. Kundera, Milan: Der entführte Westen oder : Die Tragödie Mitteleuropas, in: Busek, Erhard/Wilfinger, Gerhard (Hrsg.): Aufbruch nach Mitteleuropa, Wien: Edition Atelier 1986. Lazarova, Rouja: Mausol¦e, Paris: Flammarion 2009. LourenÅo, Edouardo: L’Europe introuvable. Jalons pour une mythologie europ¦enne, Paris: M¦taill¦ 1991. Maslowski, Michel: Identit¦(s) de l’Europe Centrale, Paris: Institut d’Etudes Slaves 1995. Patocˇka, Jan: Europa und Nacheuropa. Die nacheuropäische Epoche und ihre geistigen Probleme, in: Ders.: Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 207 – 287. Patocˇka, Jan: L’id¦e de l’Europe vue en BohÀme, Grenoble: J¦rúme Millon 1991. Patocˇka, Jan: Plato and Europe, Stanford: Stanford University Press 2002. Pilch, Jerzy : Marsz Polonia, Warschau: S´wiat Ksia˛z˙ki 2008. Sokol, Jan: La pens¦e europ¦enne de Jan Patocˇka, in: Delsol, Chantal/Maslowski, Michel (Hrsg.): Histoire des id¦es politiques en Europe Centrale, Paris: PUF 1998. Svit, Brina: Moreno, Paris: Gallimard 2003. Szu˝ ücs, Jeno˝ : Die drei historischen Regionen Europas. Eine Studie, Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik 1990. Tischner, Jûzef: La crise de l’espoir, in: Nowicki, Joanna (Hrsg.): Quels repÀres pour l’Europe, Paris: L’Harmattan 1996, S. 39 – 44. Voisine-Jechova, Hana: Le complexe de la d¦pendance dans la litt¦rature tchÀque, in: BeauprÞtre, G¦rard (Hrsg.): L’Europe centrale: r¦alit¦, mythe, enjeu, XVIIIe – XIXe siÀcles. Actes du colloque international, Varsovie, 24 – 27 septembre 1990, Warschau: Verlag der Universität Warschau 1991, S. 253 – 262. Wunenberger, Jean-Jacques: Introduction, in: Delsol, Chantal/Maslowski, Michel/Nowicki, Joanna (Hrsg.): Mythes et symboles politiques en Europe centrale, Paris: PUF 2002, S. 1 – 10.

Nicolas Offenstadt (Paris)

Die „Geschichtspolitik“ während der fünfjährigen Amtszeit Nicolas Sarkozys. Streitfragen und Debatten (2007 – 2012)1

Die Geschichtspolitik unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys lässt sich nur sinnvoll untersuchen, wenn man dabei mehrere bekannte und mittlerweile gut untersuchte Streitthemen berücksichtigt: – die Rolle der Geschichte bei der Konstruktion einer Nation, insbesondere in Frankreich,2 – ihre heutige Aufwertung in einer Zeit, in der man sich über die Zukunft Gedanken macht und sich die Erwartungshorizonte verdunkeln – auch aufgrund der Tatsache, dass die transformativen Ideologien an Glaubwürdigkeit verlieren, – die steigende Zahl der Gedächtnisträger, die sich für eine Aufwertung von Sondergedächtnissen (Verfolgungen, religiöse bzw. kulturelle Minderheiten, Gender-Identität usw.)3 einsetzen sowie – die Demokratisierung bzw. die Erweiterung des Zugangs zu Bildung und Wissen (oder Nicht-Wissen) auf neue Bevölkerungsschichten; ein Prozess, 1 Übers. von Yves Bizeul (YB). Zu diesem Thema siehe auch in deutscher Sprache: Offenstadt, Nicolas: Brauchen wir ein „Haus der Geschichte Frankreichs“? Oder die Rückkehr der nationalen Meistererzählung, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 55 – 74. Das gesamte Jahrbuch ist für das hier behandelte Thema relevant. 2 Vgl. Thiesse, Anne-Marie: La cr¦ation des identit¦s nationales. Europe XVIIIe – XXe siÀcle, Paris: Seuil 1999, ¦d. de Poche 2001. Wir danken Andr¦ Loez und Antoine Prost für ihre hilfreichen Bemerkungen zu diesem Text. 3 Vgl. hierzu: Garcia, Patrick: „Usages publics de l’histoire“, in Delacroix, Christian/Dosse, FranÅois/Garcia, Patrick/Offenstadt, Nicolas (Hrsg.): Historiographies: Concepts et d¦bats II, Paris: Gallimard 2010, S. 912 – 926; Hartog, FranÅois: R¦gimes d’historicit¦: Pr¦sentisme et exp¦rience du temps, Paris: Seuil 2003; Andrieu, Claire/ Lavabre, Marie-Claire/Tartakowsky, Danielle (Hrsg.): Politiques du pass¦: Usages politiques du pass¦ dans la France contemporaine, Aix-en-Provence: Publications de l’Universit¦ de Provence 2006; Crivello, Marvline/ Garcia, Patrick/Offenstadt, Nicolas (Hrsg.): La Concurrence des pass¦s: Usages politiques du pass¦ dans la France contemporaine, Aix-en-Provence: Publications de l’Universit¦ de Provence 2006.

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Nicolas Offenstadt

der das Hinterfragen des offiziellen Geschichtsbilds sowie einen freieren bzw. laienhaften Umgang mit der Vergangenheit ermöglicht.4 Nicolas Sarkozy hat sich schon während der Wahlkampagne 2007 als Spitzenkandidat der französischen konservativen Partei UMP und später auch als Staatschef – ebenso wie seine engsten Mitarbeiter – gern auf die „Geschichte Frankreichs“ berufen. Er verwies dabei auf die „Diagnose“ einer angeblichen „Krise der nationalen Identität“, so in seiner Rede in La Chapelle-en-Vercors am 12. November 2009. Schon bald nahmen mehrere Historiker die zahlreichen Reaktivierungsversuche der Vergangenheit des Kandidaten bzw. des neuen Staatspräsidenten wahr und deuteten diese als politische Strategie und Instrumentalisierung der Geschichte. Die intensive politische Nutzung des Geschichtsbezugs hat uns – mich und eine Gruppe von (anfänglich nur) Historikern5 – damals dazu gebracht, die verfolgten politischen Ziele Sarkozys und den Verlauf dieser Strategie genauer zu analysieren. Dies umso mehr, als der Sieg Sarkozys bei den Präsidentenwahlen die wiederholte Verwendung des „nationalen Romans“ zu politischen Zwecken, die mit einer Aufwertung der „nationalen Identität“ einherging, noch verstärkte und eine bedeutendere Legitimität verlieh. Davon zeugt die Schaffung eines neuen Ministeriums bereits im Jahr 2007, das in seinem Namen „nationale Identität“ mit „Immigration“ verband, was zahlreiche Wissenschaftler – unter anderem Historiker6 – entsetzte. In erster Linie haben wir uns damals gegen die Schaffung eines Museums/Hauses der Geschichte Frankreichs engagiert, aus Gründen, die wir später erläutern werden.7 Wir sind dadurch zu Historikern unserer eigenen Gegenwart geworden, die sich mit den Formen und Entwick4 Vgl. Hardtwig, Wolfgang: Verlust der Geschichte, Berlin: Vergangenheitsverlag 2010; de Groot, Jerome: Consuming History : Historians and Heritage in Contemporary Popular Culture, London, New York: Routledge 2009. 5 Zum Comit¦ de Vigilance face aux usages publics de l’histoire (CVUH) siehe: URL: http:// cvuh.blogspot.fr/ (15. 07. 2013). 6 Vgl. den Appell „Nous exigeons la suppression du ministÀre de l’Identit¦ nationale et de l’immigration“, der in Lib¦ration am 04. 12. 2009 erschienen ist. Er wurde von Marie-Claude Blanc-Chal¦ard (universit¦ Paris-X), Marcel Detienne (EPHE und Johns Hopkins University), Pap Ndiaye (EHESS), G¦rard Noiriel (EHESS), Sophie Wahnich (CNRS) und Patrick Weil (CNRS) unterschrieben. 7 Wir haben dies durch individuelle und kollektive Stellungnahmen in der Presse getan. Siehe: Offenstadt, Nicolas: „L’–me de la France au Mus¦e“, in: Mediapart, 22. 04. 2008, und die erweiterte Fassung vom 13. 01. 2009; Ders.: „Faut-il une ,maison de l’histoire de France‘?“, in: Lib¦ration, 09. 10. 2009; Ders.: „Le Mus¦e de l’histoire de France“, in: Lib¦ration, 15. 10. 2010; Ders.: „Histoire critique et histoire servile, d¦bat autour de la Maison de l’histoire de France“, in: L’Humanit¦, 08. 11. 2010. Hinzu kam auch die Unterstützung des Kampfes der gesamtgewerkschaftlichen Vertreter bei den archives nationales während mehrerer Meetings und Pressekonferenzen.

Die „Geschichtspolitik“ während der fünfjährigen Amtszeit Nicolas Sarkozys

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lungen der Instrumentalisierung der Geschichte durch den „Sarkozysmus“ beschäftigt haben. Sarkozys Geschichtsverwendung war alles andere als widerspruchsfrei. Die neue Regierung schaffte den Geschichtsunterricht in allen mathematisch-naturwissenschaftlichen Abiturklassen ab und setzte mittels eines Gesetzes vom 28. Februar 2012 eine unklare Deutung des 11. Novembers durch, indem sie dieses Datum zum Anlass einer Ehrung der Toten aller Kriege – ohne Rücksicht auf die Eigenart des Ersten Weltkrieges – nahm. Sarkozy brachte die etablierten Koordinaten des öffentlichen Gebrauchs des kollektiven Gedächtnisses ins Wanken, indem er bewusst mehrere Persönlichkeiten von ihrem geschichtlichen Umfeld löste, so beispielsweise Guy Múquet oder Jean JaurÀs, um sie dann zu Bezugsfiguren des an der Macht stehenden konservativen Lagers zu machen. Ich habe den Umgang Sarkozys mit der Geschichte kritisch eine „Bling-Bling Geschichte“ genannt, also eine Geschichte, die historische Figuren und Bilder ohne Rücksicht auf den jeweiligen geschichtlichen Kontext im Rahmen feierlicher und kurzfristig gedachter Inszenierungen manipuliert. Henri Guaino, ein enger Berater Sarkozys, stellte diesen Gedächtnisaktionismus hingegen als Ausdruck eines festen Willens, „automatische Zuschreibungen“ zu überwinden, positiv dar.8 Ich möchte hier zunächst die Art und Weise beschreiben, wie sich Staatspräsident Nicolas Sarkozy von 2007 bis 2012 der Vergangenheit der Nation im öffentlichen Raum bemächtigte, und diese Praxis als Teil einer breiteren politischen Strategie erörtern. In einem zweiten Abschnitt werde ich die Wahrnehmung der Vergangenheit, die aus dieser bestimmten Art des Umgangs mit der Geschichte entsteht, untersuchen. Zugleich werde ich aber auch auf unseren damaligen Kampf für die Aufklärung der Öffentlichkeit hinweisen, vom Aufruf gegen das obligatorische und feierliche Vorlesen des letzten Briefs von Guy Múquet in den Schulen und der Kritik an der Verklärung der Figur der Johanna von Orl¦ans, was einen fragwürdigen Versuch darstellte, ein Thema der Front National für sich nutzbar zu machen, bis zur Rundfunk-Debatte zwischen mir und Henri Guaino im Oktober 2010.9

8 Vgl. Lib¦ration, 20./21. 10. 2007, S. 7. 9 Vgl. Offenstadt, Nicolas: L’Histoire Bling-Bling. Le retour du roman national, Paris: Stock 2009; Ders.: „L’icúne Guy Múquet“, in: Lib¦ration, 19. 10. 2007; Ders./Bloch, Suzette: „Laissez Marc Bloch tranquille, M. Sarkozy“, in: Le Monde, 29./30. 11. 2009; Ders.: „Exercer le travail critique du citoyen“, in: L’Humanit¦-Dimanche, 28.01.–3.02.2010; Ders.: „Une dimension trÀs naus¦abonde“, in: Lib¦ration, 01. 04. 2010. Siehe auch: L’Hebdo des socialistes, 21. 11. 2009 (erschienen während der berühmten Debatte um die nationale Identität), außerdem neuerdings: Ders.: „Tourner la page du ,roman national‘“, in: L’Humanit¦, 29. 05. 2012.

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I.

Nicolas Offenstadt

Gebrauch und Missbrauch der Geschichte während der fünfjährigen Amtszeit Nicolas Sarkozys

Seit der Wahlkampagne 2007 hat Nicolas Sarkozy aus der Erzählung der Vergangenheit und vor allem der „Geschichte Frankreichs“ eine ideologische Waffe von großer Schlagkraft gemacht.10 Dies geschah vor allem mithilfe seiner Redenschreiber bzw. Redeninspiratoren; in unserem Fall sind das insbesondere Henri Guaino, der sich als Garant des Gaullismus sieht,11 Patrick Buisson, der ab 2005 im Sarkozys Team arbeitete und eine rechtextreme Vergangenheit hat, und, weniger eindeutig, auch der „Souveränist“ Max Gallo.12 Die Sarkozy nahestehende Tageszeitung Le Figaro schrieb 2012 über Buisson: „Das starke Interesse des Staatschefs für die Geschichte Frankreichs ist auch dessen Werk, zusammen mit dem Henri Guainos.“13 Buisson hat dafür gesorgt, dass die Verteidigung einer in sich geschlossenen „Nationalidentität“ 2012 zum tragenden Thema der Wahlkampagne Sarkozys wurde. Die nationale Erzählung Sarkozys hat drei Hauptdimensionen: 1) Eine wiederholte Betonung der großen Ereignisse der französischen Vergangenheit (vor allem in Sarkozys Reden in La Chapelle-en-Vercors am 12. November 2009 und in Le Puy-en-Velay am 3. März 2011), die die republikanische Saga relativiert. Freilich gehören solche Reden zu der in Frankreich fest verankerten Tradition der Würdigung nationaler Geschichte. Sie erhielten bei Sarkozy jedoch einen besonderen Charakter angesichts des europäischen Einigungsprozesses, der wirtschaftlichen Globalisierung und vor dem Hintergrund einer ausgeprägten politischen Instrumentalisierung der Fremdenfeindlichkeit.14 Sie führten zu einer Relativierung der demokratischen und republikanischen Vergangenheit, zumal die Geschichten des Ancien R¦gime und der ka10 2006 soll Guaino angeblich zu Sarkozy gesagt haben: „Du wirst niemals gewählt, wenn du als liberaler, atlantischer und kommunitaristischer Kandidat giltst.“ Siehe: D¦ly, Renaud: „La Fraaaance, monsieur“, in: Lib¦ration, 27. 03. 2007. 11 Henri Guaino genoss die Öffentlichkeit. Vgl. D¦ly, Renaud: „La Fraaaance, monsieur“, a. a. O.; vgl. außerdem „L’homme cl¦: Henri Guaino. L’inspirateur“, in: Le Parisien Lib¦r¦, 04. 05. 2012, in dem auch die unterschiedlichen Positionen von Guaino und Buisson dargestellt werden. Der Erste soll eine ideologische Position vertreten haben, die gaullistischer und sozialer als die des Zweiten war. 12 Max Gallo und Henri Guaino haben im Rahmen der Marc-Bloch-Stiftung zusammengearbeitet. Trotz ihres Namens (2000 musste sie sich in Stiftung du 2-Mars umbenennen) wollte diese Denkfabrik erneut dazu beitragen, den republikanischen Nationalismus durchzusetzen. 13 „Les hommes et les femmes du Pr¦sident-Candidat“, in: Le Figaro, 18./19. 02. 2012, S. 4. Übers. YB. 14 Siehe hierzu das gut dokumentierte Dossier von Cette France l—: X¦nophobie d’en haut. Le choix d’une droite ¦hont¦e, Paris: La D¦couverte 2012.

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tholischen Kirche einen prominenten Platz in der nationalen Meistererzählung des neuen Staatschefs einnahmen, so in seiner Rede in der Lateranbasilika am 20. Dezember 2007, in der Frankreich als die „älteste Tochter der Kirche“ bezeichnet wurde, oder in der Rede in La Chapelle-en-Vercors, in der Sarkozy forderte: „Wir sollten nicht ausblenden, dass die Republik eine ganze Menge vom Ancien R¦gime geerbt hat.“ Bisweilen wurde sogar auf die Bedeutung der Religion für die Gesamtgesellschaft hingewiesen, was teilweise gegen das Gesetz von 1905 zur Trennung von Staat und Kirche verstößt.15 Der Staatschef erwähnte und betonte immer wieder die „christlichen Wurzeln“ Frankreichs, so erneut in Vaucouleurs am 6. Januar 2012. Dies führte zu einer Relativierung der Rolle der Republik und republikanischer Figuren, darunter die Grundschullehrer seit der Dritten Republik (die sog. „schwarzen Husaren der Republik“), deren Tun Sarkozy für die Wertevermittlung als weniger bedeutend als das der Priester einschätzte (Rede in der Lateranbasilika). Nicolas Sarkozy vertrat diese Sichtweise erneut am Ende seiner Amtszeit, als er verlangte: „Schauen Sie auf die lange Kette von Kirchengebäuden und Kathedralen, die sich auf unserem Land erstreckt. Frankreich ist aus der Verschmelzung des Willens der Könige und der katholischen Kirche entstanden. Johanna von Orl¦ans, deren 600-jährigen Geburtstag wir gerade gefeiert haben, steht am Kreuzweg dieses doppelten Willens. […] Wir sollten Frankreich nicht von einem Teil seiner Geschichte amputieren.“16

Der Staatspräsident wiederholte diese Forderung während einer Begegnung mit Historikern. Er unterschied zudem zwischen der „guten“ und der „schlechten“ Revolution, die er ablehne und „bekämpfe“.17 Er bedauerte, dass die „Gedächtnisse“ der früher unterdrückten Minderheiten, ein negativer Spiegel des „ewigen Frankreichs“, heute immer mehr Aufmerksamkeit finden würde. Die Kinder der Kolonisierten, die Nachkommen der Sklaven usw. verlangten Reue und eine Neudeutung der Vergangenheit, die ihren partikularen Interessen besser entsprechen würde. Den Reden des Staatschefs war hingegen immer wieder eine Anti-Reue-Haltung zu entnehmen.18 Er stellte den Ruf nach Reue mit dem sogenannten „Kommunitarismus“ und mit einem ungesunden „Wettbewerb zwischen den Gedächtnissen“ gleich und lehnte ihn mit einer gewaltvollen und leidenschaftlichen Rhetorik ab, getreu dem Motto „Ich hasse die Reue“. Viele Reden zur Vergangenheit Frankreichs fanden im Rahmen von Großinszenierungen an bekannten Erinnerungsorten (zum Beispiel in Les GliÀres, 15 16 17 18

Vgl. Jeanneney, Jean-NoÚl: L’Etat bless¦, Paris: Flammarion 2012. Le Figaro magazine, 11. 02. 2012, S. 38. Übers. YB. Waresquiel, Emmanuel de: „Un d¦jeuner avec Nicolas Sarkozy“, in: Lib¦ration, 20. 09. 2011. Schon bei der Kontroverse um das Gesetz zur Kolonisierung von 2005 wurde diese Position vertreten. Vgl. Le Monde, 14. 12. 2005. Nicolas Sarkozy war damals noch Vorsitzender der UMP und bedauerte eine „unwiderstehliche Tendenz zur systematischen Reue“. Das Thema wird ab 2006 in den Reden Sarkozys öfter angesprochen.

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Verdun oder London) statt. Zugleich wurden die traditionellen Zeremonien der Republik teilweise modifiziert.19 2008 hat man dem 11. November nicht wie sonst üblich in Paris, sondern in Verdun gedacht. 2010 wurde de Gaulles Widerstandsaufruf vom 18. Juni 1940 am Originalschauplatz London begangen. Im Januar 2012 reiste Sarkozy nach Domr¦my und Vaucouleurs, um Johanna von Orl¦ans am vermuteten, aber wissenschaftlich umstrittenen Tag ihrer Geburt zu ehren. Auch in diesem Fall ist der Ort von zentraler Bedeutung für die Inszenierung, zumal der Geburtsort Johannas, Domr¦my, schon seit Jahrzehnten nicht mehr von den höchsten Autoritäten des Staates besucht wurde. Jedes Mal wurden ausgewählte symbolkräftige Bilder in der Presse veröffentlicht: Sarkozy inmitten der Grabmäler von Verdun, der Staatspräsident vor dem Bild des letzten Soldaten (poilu) des Ersten Weltkriegs vor dem Beinhaus in Douaumont, Sarkozy in inspirierter Pose in der Gruft von Vaucouleurs. In Les GliÀres rief die Inszenierung allerdings Proteste hervor. Die Kritiker warfen Sarkozy vor, er hätte sich diese Hochburg des französischen Widerstands während des Zweiten Weltkriegs (von Februar bis März 1944) ausgesucht, um eine historische Show unmittelbar vor dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2007 durchzuführen. Dennoch folgten danach mehrere ähnliche Inszenierungen am gleichen Ort. Frühere Widerstandskämpfer organisierten dort daraufhin zusammen mit jungen politischen Aktivisten ein „Picknick“, um ihrer Ablehnung einer derartigen politischen Instrumentalisierung der Vergangenheit gegenüber Ausdruck zu verleihen. Sarkozy kam, wie versprochen, die folgenden Jahre auf die Hochebene Les GliÀres zurück und jedes Mal demonstrierten diejenigen, die sich als „Staatsbürger-Widerstandskämpfer von gestern und heute“ bezeichneten, erneut gegen diese „ostentativen Pilgerreisen“. Frühere Widerstandskämpfer wie St¦phane Hessel allein oder Hessel gemeinsam mit Raymond Aubrac kamen 2008 bzw. 2009 nach Les GliÀres, um die Parallelen zwischen der Zeit des Zweiten Weltkriegs und unserer heutigen Zeit zu evozieren und den „Optimismus, der damals von allen Widerstandskämpfern ohne Ausnahme geteilt wurde“ heraufzubeschwören. 2010 veröffentlichte das Kollektiv des GliÀres das Buch „Die glücklichen Tage“ beim Verlag La D¦couverte. Es beinhaltet den Text einer berühmten politischen Plattform für Frankreich nach der Befreiung und trägt den aussagekräftigen Untertitel „Das Programm des Nationalen Widerstandsrats von März 1944; wie es geschrieben und verwirklicht wurde, und wie Sarkozy es zertört“.20 19 Der Historiker Jean-NoÚl Jeanneney, der aus einer „Dynastie“ von Abgeordneten und Ministern der Republik stammt, hat in seinem Buch „L’Etat bless¦“ sein Entsetzen öffentlich zum Ausdruck gebracht. Er sieht bei Nicolas Sarkozy eine regelrechte „Besessenheit“, in allen Bereichen mit den Usancen der Republik zu brechen. 20 Vgl. URL: http://www.editionsladecouverte.fr/catalogue/index-Les_jours_heureux9782707165541.html (15. 07. 2013).

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2) Eine enge Verbindung zwischen der nationalen Geschichte und der Auffassung einer unveränderlichen nationalen Identität, zu der sich jeder „gute“ Franzose bekennen muss. Laut Guaino ist die Nation erneut zu einem „grundlegenden Gegenstand“ der Politik geworden.21 Er fährt fort: „Aufgrund der Immigration, der Globalisierung und der hohen Arbeitslosigkeit ist heute ein Identitätsproblem entstanden.“ Sarkozy übernahm antiquierte Ansichten, als er behauptete, dass Frankreich eine „Seele“ habe, die es zu stärken gelte (La Chapelle-enVercors, Le Puy-en-Velay usw.). In zahlreichen seiner Reden findet man eine enge Verbindung zwischen Geschichte und „nationaler Identität“, so in der Rede von Vaucouleurs vom 6. Januar 2012, in der behauptet wird: „Johanna ist Teil unserer nationalen Identität. Sie hat sie geprägt, sie hat sie gefestigt.“ Sarkozys Politik ist aber nicht bei solchen vagen Andeutungen stehengeblieben. Eine restriktive Immigrationspolitik wurde dreieinhalb Jahre lang politisch umgesetzt, und zwar von einem Ministerium, das in seinem Namen den Begriff „nationale Identität“ trug, und noch mehr durch die Planung einer eigenartigen „Debatte“ um diesen Gegenstand, an der die gesamte Öffentlichkeit von Ende 2009 bis Februar 2010 hätte teilnehmen sollen. Der Fragebogen, der damals an die Präfekten gesendet wurde, um diese „Debatte“ vorzubereiten, zeigt, wie zentral die Geschichte bei diesem Unterfangen war. Darin wird mehrmals auf die nationalen historischen Kulturgüter hingewiesen, so bei den Antwortmöglichkeiten auf die Frage „Was sind die Bestandteile der nationalen Identität?“: „Unsere Geschichte, […] unsere Kirchengebäude und Kathedralen“. Mehrere Fragen sind durch ideologische Überzeugungen geleitet, beispielsweise die zum Grund der Vorbehalte der Wissenschaftler gegenüber dem Begriff „nationale Identität“ („Warum erzeugt die Frage nach der nationalen Identität bei manchen Intellektuellen, Soziologen oder Historikern Unbehagen?“22). Auch das Thema Einwanderung ist bestimmend in dieser „Debatte“: 11 der 15 Fragen beschäftigen sich mit diesem Thema. Aus verschiedenen Gründen hat diese „Debatte“ nicht den Erfolg gehabt, den sich ihre Veranstalter erhofft hatten. Der Staatspräsident musste dies letztendlich selbst zugeben.23 Mit anderen Worten: Für den „Sarkozysmus“ waren die Begriffe „Identität“ bzw. „nationale Identität“ evidente Realitäten, die man nur noch mit guten Zutaten versehen sollte, also mit den „richtigen“ Werten. Diese Ideologie fand positiven Widerhall bei Historikern, die die Frage nach der „nationalen Identität“ für legitim halten. Das gilt für Jean-Pierre Rioux, der in seinem Buch 21 Vgl. Lib¦ration, 20./21. 10. 2007. 22 Vgl. das Rundschreiben des Ministers für Immigration, Integration, nationale Identität und Entwicklungszusammenarbeit an die Präfekten vom 2. November 2009; Gegenstand: „Organisation einer großen Debatte über die nationale Identität“. Übers. YB. 23 Vgl. „Il y a eu une pol¦mique qui a d¦tourn¦ les FranÅais des enjeux essentiels…“, in: Le Figaro Magazine, 11. 02. 2012, S. 37.

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„Frankreich verliert das Gedächtnis. Wie ein Land sich von seiner Geschichte verabschiedet“ feststellt: „Wir erleben eine Gedächtnis-Epoche (,moment m¦moire‘), aber wir sind nicht mehr in der Lage, die Seele Frankreichs so wahrzunehmen, wie Michelet, P¦guy, Marc Bloch oder de Gaulle dies getan haben.“24 Der damalige Kulturminister Fr¦d¦ric Mitterrand berief sich auf diese Aussage, als er für das Projekt der Gründung eines Hauses der Geschichte Frankreichs warb, das auf den Impuls des genannten Rioux hin entstanden war. Fr¦d¦ric Mitterrand hierzu: „Tatsache ist, dass das ganze Land allmählich sein Gedächtnis verliert, wie Jean-Pierre Rioux feststellt, dass viele Franzosen über kein geschichtliches Grundwissen mehr verfügen, ganz zu schweigen von den oft überhaupt nicht mehr vorhandenen Kenntnissen zur Chronologie.“ Zugleich versteht er die Geschichte aber auch als „soziales Konstrukt“.25 Auch der Historiker Pascal Ory teilte diese Ansicht. Er bemerkte 2011: „Ich gehöre zu denen, die sich mit der Frage nach der ,nationalen Identität‘ (sei es die französische, deutsche, israelische oder palästinensische) beschäftigen.“26 In einer Rundfunksendung erklärte er, dass die Rolle des Geschichtswissenschaftlers darin bestehe, sich mit den verschiedenen Dimensionen der französischen Identität zu beschäftigen, eine Aussage, die an den zuvor erwähnten Fragebogen erinnert. Frankreich habe eine Geschichte, die aus langen („bemerkenswert langen“) Abschnitten, aus Kontinuitäten und aus „Katholizität“ besteht.27 Auf diese Aussagen reagierten die Historiker Patrick Boucheron und G¦rard Noiriel scharf: „Während die immense Mehrheit der Historiker heute weltweit behauptet, die ,nationale Identität‘ sei keine wissenschaftliche Frage, bestätigt Pascal Ory gleich am Anfang seines Beitrags Sarkozy in seiner Meinung über die Gründe der ,Krise‘ der französischen Nation. Er vergleicht die Mission des Historikers mit der eines ,Minensuchers‘, d. h. mit jemandem, dessen Aufgabe darin bestehen würde, Konsens bzw. ein nationales ,Wir‘ zu erzeugen. In seiner Schlussfolgerung geht Ory noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, die Historiker des wissenschaftlichen Beirats [des Hauses der Geschichte Frankreichs] werden die ,interessante Frage‘ beantworten müssen, ob Frankreich ,am Ende‘ oder ,nicht am Ende‘ ist. Die ewige Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Nation ist aber eine rein politische Frage; sie kann von Wis24 Rioux, Jean-Pierre: Frankreich verliert das Gedächtnis. Wie ein Land sich von seiner Geschichte verabschiedet, Paris: Perrin 2006, S. 77. Übers. YB. 25 Interview mit Le Monde, 18. 12. 2010, S. 17. Übers. YB. Jean-Pierre Rioux schreibt z. B.: „Denn alles in allem haben wir Folgendes zu befürchten: Das Land […] schreitet schon seit so langer Zeit orientierungslos weiter. Es stellte zunächst die Gedächtnisse vor die Geschichte und dann die Suche nach Identität vor die Gedächtnisse, also das Plurale vor die Einheit und die kommunitaristische Schließung vor den Lockruf der Ferne“, S. 15. Übers. YB. Zum Projekt siehe unten. 26 „Une question l¦gitime“, in: Le Monde, 04. 02. 2011, S. 21. Übers. YB. 27 Vgl. die Chronik „Et la France dans tout Åa?“, France Culture, 02. 09. 2011.

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senschaftlern nicht beantwortet werden. Die Vermischung der beiden Ebenen ist schon an sich eine Instrumentalisierung der Wissenschaft zu politischen Zwecken, egal, ob der Wissenschaftler ein Linker, ein Rechter oder ein Zentrist ist.“28

Der Schutz der „nationalen Identität“ mithilfe der Geschichte geht mit einer bestimmten Wahrnehmung des „Anderen“ (des Ausländers, des Migranten, des illegalen Einwanderers usw.) einher, die je nach politischem Interesse und je nach Zeitpunkt variieren kann.29 Als die Präsidentschaftswahl 2012 näher rückte – und besonders zwischen den beiden Wahlgängen – wurden die Aussagen schärfer. So erklärte der Innenminister Claude Gu¦ant, dass „nicht alle Kulturen gleichwertig seien“. Damit wollte er die Muslime stigmatisieren. Der Islam wurde im letzten Wahlwerbespot Nicolas Sarkozys als eine direkte Bedrohung für Frankreich dargestellt.30 3) Die stark ideologisierte, vergegenwärtigte und inszenierte Vergangenheit soll in eine voluntaristische Politik münden. Der erste Akt auf diesem Weg war die Anordnung vom Oktober 2007 zum obligatorischen Vorlesen eines Briefes von Guy Múquet, einem jungen Kommunisten, der 1941 von den Nationalsozialisten erschossen wurde, in den Gymnasien. Die patriotische und sakrifizielle Dimension dieses Ereignisses sollte an dieser Stelle unterstrichen werden. Die Tatsache, dass es sich bei Guy Múquet um einen überzeugten Kommunisten handelte, wurde dabei weitgehend ausgeklammert. Die voluntaristische Politik fand ihren Höhepunkt aber im Projekt der Gründung eines „Hauses der Geschichte Frankreichs“, dem großen Vorhaben in Sarkozys fünfjähriger Amtszeit. Das Museum sollte im Gebäude der „Archives nationales“ eröffnet werden, die Geschichte Frankreichs illustrieren und verschiedene Aktivitäten anbieten, darunter auch Forschungstätigkeiten. Wir haben es hier zweifellos mit Geschichtspolitik zu tun, da die Ziele, die der Staatspräsident in diversen Reden damit verknüpfte und die in noch subtilerer Weise durch die Expertisen von Wissenschaftlern verbreitet wurden, rein politischer Natur sind. Man wollte aus der Geschichte ein Instrument zur Verfestigung des sozialen Bandes machen, wie der „Sarkozysmus“ ihn versteht. Das geplante Museum sollte kein deutungsoffener Ort der Wissenserweiterung sein.31 28 Noiriel, G¦rard: Sur deux conceptions de l’histoire et du rúle civique de l’historien, URL: http://noiriel.over-blog.com/article-sur-deux-conceptions-de-l-histoire-et-du-role-civique-de-l-historien-66573590.html (15. 07. 2013). Siehe auch die Chronik Patrick Boucherons in der gleichen Reihe der Sendung La Fabrique de l’histoire, „Et la France dans tout Åa?“. Übers. YB. 29 Vgl. Cette France l—: X¦nophobie d’en haut. Le choix d’une droite ¦hont¦e, a. a. O. 30 Vgl. „Slalom Gu¦ant et d¦rapages“, in: Lib¦ration, 06. 02. 2012. 31 Die verschiedenen programmatischen Berichte – in chronologischer Reihenfolge: der

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Die Ankündigung, ein Museum der Geschichte Frankreichs an einem „emblematischen“ Ort, der noch zu bestimmen war, schaffen zu wollen, erfolgte durch Nicolas Sarkozy am 13. Januar 2009 im Rahmen der Neujahrwünsche, die er an die verschiedenen Akteure des Kulturbetriebs richtete. Damit sollte das „Sinnbedürfnis“ gestillt, die „Suche nach Bezugspunkten“ befriedigt und die „Identität“ des Landes gestärkt werden. Die Urheber des Projektes haben sich indes auch einen Feind gesucht: die „Gedächtnisse“, die zu einer „Perversion“ der Geschichte führen würden (so im H¦bert-Bericht). Dieser Diskurs steht mit dem „Sarkozysmus“ absolut im Einklang. 2009 wurde das Projekt „Haus der Geschichte Frankreichs“ vom Ministerium der „nationalen Identität“ betreut, bevor dieses 2010 wieder abgeschafft wurde.32 Die politischen Ziele des Unterfangens sind aus den Briefen, die zwischen den Urhebern des Projekts schon 2007 gewechselt wurden, klar zu entnehmen. Hier zwei bisher unveröffentlichte Auszüge: Brief von Herv¦ Lemoine (Denkmalpfleger) und Charles Personnaz (Administrateur civil) an Claude Gu¦ant (Generalsekretär im Elys¦e-Palast), Entwurf vom 11. 04. 2007: „Letzte Woche haben wir an der Sitzung teilgenommen, bei der Nicolas Sarkozy seine Ziele bezüglich der Kulturpolitik vorgestellt hat. Wir waren schon vorher von dem Projekt überzeugt, jetzt sind wir mit unseren begrenzten Ressourcen zum Handeln bereit. Deshalb erlauben wir uns diese spontane Anfrage, auch wenn wir damit naiv erscheinen sollten. Wir schlagen ein Projekt vor, an dem wir seit langem arbeiten und von dem wir glauben, es könnte das wichtigste aller präsidentiellen Vorhaben werden. In einer Zeit, in der die Debatte über die nationale Identität und die Rolle der Nation ins Zentrum der Wahlkampagne zur Präsidentschaftswahl gerückt ist, meinen wir, denken und hoffen zu können, dass diese Debatte während der zukünftigen fünfjährigen Amtszeit weitergeführt wird. Wir hoffen auch, dass, wie Nicolas Sarkozy selbst zusichert, seine Wahlversprechungen nicht ohne Folgen bleiben werden. Es geht um die Gründung einer Koordinationsstelle im Invalidendom [damals waren die ,Archives nationales‘ noch nicht im Gespräch] für die zahlreichen Geschichtsmuseen, die sich auf unserem Territorium befinden, die jedoch Schwierigkeiten haben, ihren jeweiligen Platz [im Kollektivgedächtnis] zu finden und ihren Diskurs zu erneuern. Dieses Projekt könnte den Anlass zur Schaffung eines öffentlichen Ortes geben, der sich der Grundfrage nach der Identität widmet, die nicht nur für die Kultur, sondern auch für

Lemoine-, der Rioux- und der H¦bert-Bericht – sowie die Projekte selbst können unter URL: http://www.maison-histoire.fr/nous-connaitre/projet/#le_projet (15. 07. 2013) nachgelesen werden. Man sollte aber auch den Vorbericht von Lemoine lesen, der aber nicht unter der angegebenen Webadresse zu finden ist. Er ist der ideologisch am stärksten belastete aller Berichte. 32 Brief des Präsidenten der Republik und des Premierministers an Eric Besson, Minister für Immigration, Integration, nationale Identität und Entwicklungszusammenarbeit, 31. 03. 2009, S. 6.

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die Forschung und Lehre relevant ist, und zwar rund um die sich in diesem hochkarätigen Ort unserer Geschichte schon befindenden Institutionen.“33

Brief von Herv¦ Lemoine und Charles Personnaz an Claude Gu¦ant vom 22. 05. 2007: „Projekt für die Gründung eines nationalen Museums der Geschichte Frankreichs im Invalidendom. Xavier Darcos [seit 18. 05. 2007 Bildungsminister Frankreichs], an den Sie unseren Brief vom 11. April weitergeleitet haben, hat uns vor dem ersten Wahlgang in Ihrem Namen kontaktiert, um uns über das Interesse, das Sie unserem Projekt entgegenbringen, zu informieren; ein Projekt, dessen Realisierung jetzt möglich geworden ist. Die letzten Aussagen Nicolas Sarkozys in Montpellier und auf der Hochebene Les GliÀres, seine erste Amtshandlung nach seiner Investitur – die Erwähnung Guy Múquets und der Widerstandsbewegung – bestätigen die Sensibilität des neuen Staatschefs für das Bedürfnis der französischen Bevölkerung nach Geschichte. Es handelt sich um eine der Grundlagen der politischen und ideologischen Erneuerung, die Sarkozy eingeleitet hat. Die eröffneten Debatten um das Konzept der ,Nation‘ und der ,nationalen Identität‘ laufen derzeit, wie der Rücktritt aus Protest von Akademikern, die gegen die Schaffung eines Ministeriums der Immigration, der Integration, der nationalen Identität und der Entwicklungszusammenarbeit sind, zeigt. Ein nationales Museum, das die Geschichte Frankreichs im Invalidendom, die Forschungstätigkeiten, Ausstellungen und Herausgeberschaft kombinieren würde, kann den neuen öffentlichen Ort entstehen lassen, der für eine solche Debatte unentbehrlich ist. Es erscheint uns notwendig, dass fünf Ministerien sich mit der Realisierung dieses nationalen, politischen und kulturellen, also präsidentiellen, Projekts befassen: das Bildungsministerium, das Ministerium für Kultur und Kommunikation, das Ministerium für die höhere Bildung und Forschung, das Verteidigungsministerium und das Ministerium für Immigration, nationale Identität und Entwicklungszusammenarbeit. Würden Sie diesem Unternehmen zustimmen, könnte eine ,Gründungsmission‘ – so die gängige Bezeichnung bei solchen Angelegenheiten – den wissenschaftlichen Inhalt und den Tätigkeitsbereich eines solchen Projektes festlegen. Wie schon in unserer Aufzeichnung vom 11. April – Sie finden eine Kopie davon im Anhang dieses Briefes – erwähnt, geht es hier nicht um eine Schöpfung ex nihilo, sondern um die Bündelung bereits existierender Strukturen – die meisten davon sind schon im Invalidendom angesiedelt. Der Präsident der Republik könnte diese Aufgabe einer anerkannten Persönlichkeit, die wir beratend begleiten könnten, anvertrauen. Wir denken an Max Gallo. Es handelt sich um einen Historiker bzw. einen Intellektuellen, der aufgrund seiner Veröffentlichungen bzw. seiner Forschung schon jetzt an dieser Debatte beteiligt ist. Er ist der Erfinder des Schlagworts ,nationale DNA‘, das in der Öffentlichkeit große Beachtung gefunden hat und dem Präsidenten gefällt. Da wir davon überzeugt sind, dass diese grundlegende Debatte nach den Wahlen nicht ohne Auswirkung bleiben sollte, und da wir den Standpunkt Nicolas Sarkozys voll und ganz teilen, der Ideen und Worte ins Zentrum seiner politischen Visionen gesetzt hat, deren ideologischen Charakter er mit aller Deutlichkeit betont, erlauben wir uns, diese neue Anfrage zu stellen. 33 Abgetippt. Quelle aus der Verwaltung.

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Dank der Wahl Sarkozys zeigt sich ein Riss im Einheitsdenken. Lassen wir nicht zu, dass er durch die Anhänger des Einheitsdenkens und womöglich auch durch den Konformismus der Verwaltung wieder geschlossen wird“.34

Aufgrund zahlreicher Kritiken und um das Projekt weiterzubringen, wurde im Januar 2011 ein wissenschaftlicher Beirat mit mehreren universitären Historikern gegründet. Ein solcher Beirat ist stets das Ergebnis eines Kräftemessens, einer Abwägung zwischen unterschiedlichen Positionen und agonalen Machtkämpfen. Er garantiert mitnichten das Entstehen eines globalen und konsensualen Wissenschaftsdiskurses; er wird durch die Überzeugungen der einzelnen Mitglieder geprägt. Im beschriebenen Fall gab es einige, die ihre Tätigkeit geschichtlich-moralisch oder sogar rein politisch verstanden, so, wie bereits zuvor erwähnt, Jean-Pierre Rioux bzw. Pascal Ory. Nach dem Vorprojekt des Museums vom Juni 2011, das immerhin durch einen stärkeren Willen zur Öffnung hin zu verschiedenen Sichtweisen der Geschichte charakterisiert war, sollten im Haus der Geschichte Frankreichs nicht nur die nationalen Symbole wie die Trikolore oder die Marseillaise erklärt werden, einige unter ihnen sollten „(wieder-)verwurzelt werden“. In der letzten Fassung des Projektes sollte das Museum hingegen dazu beitragen, „Frankreich gemeinsam zu gründen“. Man stellt daher eine Entwicklung fest von der Suche nach einem fundierten Wissen zur Verwirklichung identitärer Anliegen. Roger Chartier vom CollÀge de France hat sich in einem Interview des TV-Senders France 2 über diese (Rück-)Entwicklung empört: „[Das Projekt des Hauses der Geschichte Frankreichs] ist auch in meinen Augen moralisch und staatsbürgerlich zu verwerfen, da es Bestandteil einer Politik der Überhöhung einer vermuteten nationalen Identität ist, die ich nur ablehnen kann. […] Es handelt sich um eine Politik, die aus der Angst vor Unterschieden und aus Misstrauen gegenüber den Ausländern besteht, auch wenn diese legal im Land wohnen. Sie leistet den schlimmsten nationalistischen und fremdenfeindlichen Instinkten Vorschub.“

Das Museum ist also Gegenstand eines Kräftemessens und das Ergebnis eines Streits unter Geschichtswissenschaftlern. Nicht wenige fürchten sich vor dem kraftvollen Aufstieg der World History, die die gute alte lineare Geschichte Frankreichs von ihrem Thron geworfen hat, die Bedeutung der französischen Historiografie weltweit relativiert und in eine „Verurteilung des Europazentrismus“35 mündet. Das Haus der Geschichte Frankreichs sollte in diesem Umfeld ein Bollwerk sein bzw. eine Waffe zur Wiedereroberung von Deutungsmacht.

34 Gleiche Quelle wie beim zuvor erwähnten Brief. 35 Vgl. Nora, Pierre: „La question coloniale: une histoire politis¦e“, in: Le Monde, 16. 10. 2011.

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Am Ende des Vortrags „Rendez-vous de l’histoire“36 vom Oktober 2011 schrieb Gadz Minassian: „Aufgrund der Dezentrierung der Perspektive [das Tagungsthema 2011 war ,der Orient‘] ist eine historiografische Konfrontation zwischen den Verteidigern der Nationalgeschichte, wie Pierre Nora von der Acad¦mie FranÅaise, und den Verfechtern einer vernetzten und globalen Geschichte, wie der indische Forscher Sanjay Subrahmanyam, dessen Konferenzen während der vier Tage viel Beachtung fanden, entstanden. […] Benutzt jemand wie Pierre Nora, der die Geschichte vor der Gefahr der Politisierung schützen will, letztendlich nicht dieselben Waffen wie seine Kontrahenten und betreibt er nicht eine Art Ideologisierung der Methode unter dem Vorwand, allein epistemologische Aussagen zu machen? Die Zukunft wird uns zeigen, ob Noras letzte Erfindung, die Hymne an den ,nationalen Roman‘, ein genialer Einfall war oder nicht eher die Grabrede einer versunkenen nationalen Geschichte.“37

Der Sieg FranÅois Hollandes bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2012, der dem Projekt des Hauses einer Geschichte Frankreichs höchst skeptisch gegenüber stand, wie auch der finanzielle Engpass im Staatshaushalt haben die Kulturministerin Aur¦lie Filippetti dazu veranlasst, einen Ausstieg aus diesem Projekt zu beschließen.38

II.

Welche Vorstellungen der Vergangenheit und der Geschichte wurden damals bemüht?

Die erwähnte Geschichtspolitik hat zu einem breiten Widerstand seitens der Historiker und zahlreicher Intellektueller geführt, der nicht nur politisch motiviert war. Sarkozys Vorstellungen der Geschichte waren das Ergebnis eines instrumentellen, wenig dynamischen Bildes der historischen Arbeit. Es geht uns hier selbstverständlich nicht um eine Evaluierung der historischen Kenntnisse der Politiker, was keinen Sinn machen würde. Der öffentliche Diskurs zur Geschichte hat, wie schon in der Einführung erwähnt, seine eigene Logik, die wiederum ihre eigene Legitimität und Legitimation erzeugt. Wir wollen hier lediglich die Logik des „Historischer Sarkozysmus“ sowie die dahinterstehenden politischen Ziele besser verstehen.

36 Es handelt sich um ein Historikertreffen, bei dem sich alljährlich zahlreiche sowohl universitäre als auch Laienhistoriker in Blois begegnen. 37 Vgl Minassians, Gadz: „L’histoire globale peine encore — supplanter le ,roman national‘ en France“, in: Le Monde, 20. 10. 2011. 38 Im Juli 2012. Die Körperschaft des öffentlichen Recht „Maison de l’histoire de France“ wurde durch eine Verordnung vom 31. 12. 2012 aufgelöst.

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1) Eine besondere Sicht der Vergangenheit, verstanden als „nationaler Roman“ Die Auffassung von Geschichte hinter dem erwähnten Diskurs unterscheidet sich grundlegend von der geschichtswissenschaftlicher Debatten und Arbeiten. Die Deutung der Geschichte durch die Anhänger Sarkozys bedeutet eine Rückkehr zum „nationalen Roman“. Die Geschichte wird als eine Reihe von Ereignissen und wichtigen Persönlichkeiten – oder deren Karikaturen – betrachtet, von denen wir alle angeblich die „Erben sind“ (Rede in Vaucouleurs vom 6. Januar 2012). Sarkozy stellte in seiner Rede in La Chapelle-en-Vercors am 12. November 2009 fest: „Unser nationales Bewusstsein ist aus Schicksalsprüfungen entstanden. Seit dem Hundertjährigen Krieg bis zu den Maquis im Vercors, […] seit Valmy bis zum Chemin des Dames.“ In Vaucouleurs fügte er hinzu: „Johanna hat ihren festen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis neben Victor Hugo, General De Gaulle, Jean Moulin, Aim¦ C¦saire und den Widerstandskämpfern, die nach Ravensbrück deportiert wurden. Sie alle sind miteinander verwandt. Es gibt ein Band, das im Laufe der Jahrhunderte geheimnisvoll gewoben wurde.“ Damit lässt sich eine Widerstandskämpferin zur „direkten Erbin von Jeanne d’Arc“ stilisieren. In dieser Großerzählung wird Frankreich stets als etwas Selbstverständliches betrachtet, als ein Ganzes und eine Essenz: „Johanna, das ist Frankreich.“39 Wenig Raum bleibt für eine hinterfragende Geschichtsschreibung, die zeigt, wie stark die Nationen als politische Einheiten in ihrer Gestalt und in ihrem Selbstverständnis je nach Kontext und manchmal sogar je nach politischer Überzeugung wandelbar sind. Henri Guaino beschrieb das „französische Volk“ als „eine Person“ „mit einer kollektiven Psyche und einem Charakter“, als er die Figur von Michelet erwähnte. Um ein Volk zu bilden, bräuchte man eine „geschichtliche Tiefe“.40 Guaino hat mittlerweile bedauernd zugegeben, dass das Projekt eines Hauses der Geschichte Frankreichs gescheitert ist. Zur selbstgestellten Frage „Warum?“ antwortete er so: „Weil der Staatspräsident verdächtigt wurde, den ,nationalen Roman‘ reaktivieren zu wollen.“ Eine solche „Geschichte Frankreichs“ tendiert dazu, die soziale Dimension, also die Geschichte der sozialen Bewegungen oder die Gender-Geschichte, wenn überhaupt, nur am Rande wahrzunehmen. Sie beschäftigt sich kaum mit den sozialen und politischen Kämpfen und mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. In einem demokratischen und republikanischen Land betont sie, wie schon erwähnt, den Platz des Ancien R¦gime und der katholischen Kirche in der Konstruktion von dem, was als das heutige Frankreich gilt. Sie dient nicht dem Zweck einer distanzierten Analyse (die Bedeutung des Ancien R¦gime und des Katholizismus ist für jeden, der sich mit der Geschichte Frankreichs beschäftigt, 39 Aus der Rede in Vaucouleurs. 40 Interview in der Sendung „Ce soir ou jamais“, France 3,01. 05. 2012.

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eine Selbstverständlichkeit), sondern will das Ancien R¦gime und die katholische Kirche in einem positiven Licht erscheinen lassen. Das führt zu einer Unterbewertung einer der wichtigsten Eigenschaften der Geschichte Frankreichs: die Geschichte der Revolution bzw. der Revolutionen. Es liegt auf der Hand, dass der Historiker hier zu einem einfachen aufgeklärten Chroniker degradiert wird, wie Henri Guaino zugeben musste, als er behauptete: „Ich habe das unaufhebbare Recht, in der Vergangenheit meines Landes oder in der Weltgeschichte die Bezugspunkte, die mir einleuchten, zu suchen. Der Historiker hat dazu überhaupt nichts (betont) zu sagen. […] Seine Aufgabe ist die Überprüfung der Fakten. Danach gehört die Deutung, die jeder liefern kann, allein jeder von uns.“41 Die Argumentation, die Erzählung des Historikers lässt sich allerdings nicht so einfach von den „Fakten“, die er ans Tageslicht bringt, um sie zu analysieren, trennen. 2) Die Geschichte als „Familienhaus“ und als „Schoßhund“ Im Bericht zu den Gedenktagen, der 2008 unter der Obhut des Historikers Andr¦ Kaspi, eines UMP-Abgeordneten, verfasst wurde, findet man folgende Aussage: „Der Zugang zur nationalen Gemeinschaft impliziert die Übernahme (adoption) der Geschichte seines neuen Vaterlandes.“ Was heißt denn eine Geschichte „adoptieren“? Man kann nur etwas übernehmen, das schon gänzlich da ist, das schon vollständig erfolgt ist. Man geht also davon aus, dass es nur einen einzigen, festgefahrenen geschichtlichen Plot gibt, der für alle verpflichtend ist und mit einem weitverbreiteten Diskurs über „die“ und „uns“ kombinierbar ist. Die Geschichte, wie der Sarkozysmus sie sieht, ist wie ein nationales Symbol (wie die Marseilles oder die Flagge), das es zu ehren gilt. Es handelt sich um eine durch und durch glorreiche Geschichte, zumal Frankreich keine „Reue“ empfinden sollte. Im sarkozystischen Story-Telling bedeutet das den Ausschluss jeglicher Hinterfragung bzw. Infragestellung des Staats aufgrund früherer Gewaltverbrechen (Kolonisierung, Sklaverei, Vichy-Regime usw.) – und zwar sowohl in Form einer kritischen moralischen Beurteilung wie auch einer wissenschaftlichen Analyse. Henri Guaino hierzu: „Ich werde nicht etwas bereuen, für das ich nicht verantwortlich bin und das ich verurteile.“42 Um zu beweisen, dass die Geschichte Frankreichs als Ganzes wie ein „Schoßhund“ zu „adoptieren“ ist, zitierte der frühere Staatschef gern einen Satz des Historikers Marc Bloch: „Es gibt zwei Kategorien von Franzosen, die die Geschichte Frankreichs nie begreifen werden: diejenigen, welche sich von der Erinnerung an die Königsweihe in Reims nicht anrühren lassen, und diejenigen, welche den Bericht über das Bundesfest ohne innere Anteilnahme 41 Interview mit France 3, Oktober 2008, URL: http://info.france3.fr/jt/47838310-fr.php (05. 11. 2008). Übers. YB. 42 Zitiert in: Lib¦ration, 20./21. 10. 2007, S. 7.

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lesen.“43 Sarkozy stellte in La Chapelle-en-Vercors die Geschichte als Block dar: „Man ist Franzose, weil man das Christentum und die Aufklärung wie zwei Seiten der selben Zivilisation sieht, gegenüber derer man sich als Erbe fühlt.“ Wer aber das Zitat von Marc Bloch im Kontext der Zeit deutet, versteht, dass er mit seiner Aussage das Ziel verfolgte, die Engstirnigkeit der Arbeitgeber der 1930er Jahre, die vor allem während der Volksfront 1936 nicht in der Lage waren, die Wucht der Arbeitskämpfe zu verstehen, anzuprangern. Denn für Bloch kehrte bei der Volksfront – der echten, der der Massen, nicht der Politiker – etwas von der „Atmosphäre des Champ de Mars beim großen Licht des 14. Juli 1790“ wieder.44 Marc Bloch verurteilte vor allem die Unfähigkeit der damaligen Eliten, Massenversammlungen zur Verteidigung der Demokratie zu organisieren – in einer Zeit, in der die Faschisten die Massen durch große Inszenierungen begeisterten. Der oben zitierte Satz taucht bei Marc Bloch zwar schon während des Ersten Weltkriegs auf, dennoch warnen Experten vor einer falschen Deutung. Sie liefern mehrere mögliche Interpretationen und betonen alle die Bedeutung des damaligen Kontexts. Ein solcher Diskurs, der zum Burgfrieden einlädt, kommt verständlicherweise während eines Krieges oft vor und muss aus diesem besonderen Umfeld heraus verstanden werden.45 Wie immer hat der frühere Staatschef, seinen Beratern und Redeschreibern folgend, Wörter und Ikonen aus dem Kontext und aus den politischen Engagements der Zeit herausgerissen, um sie neu im Sinne des Nationalen zu interpretieren, ohne die Ereignisse zu berücksichtigen, die sie erzeugt haben. Dadurch wird ein echtes Verständnis der zeitlich gebundenen politischen Streitfragen unmöglich. G¦rard Noiriel hierzu: „Während Nicolas Sarkozy das kritische Denken als Gefährdung der nationalen Identität stets beanstandet, hat Marc Bloch dieses stets gefördert.“ Im Unterschied zum Verständnis von Geschichte als Wissenschaft, die aus ihrem Forschungsfeld einen Untersuchungsraum macht, wird die Vergangenheit hier anhand eines bipolaren Musters gedacht, das dann in einem mit dem Ziel der „Adoption“ erfundenen Ganzen aufgehoben wird. Die Vergangenheit wird zuallererst mit Identifizierung und Identität assoziiert. Man versteht, dass dies zu zahlreichen Einwänden seitens der Historiker führen musste, auch von denjenigen, die dem damaligen Staatspräsidenten politisch nahestanden. Gegen Ende des Mandats Sarkozys haben sich neue Berater im Elys¦e-Palast – wie der 2010 in diese Funktion eingetretene Camille Pascal – darum bemüht, dem politischen Macht43 In einer Rede in La Chapelle-en-Vercors, Zitat von Bloch, Marc: L’Etrange d¦faite. T¦moignage ¦crit en 1940, Paris: Franc-Tireur 1946, S. 183, dt. Übers.: Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge, Fischer Verlag: Frankfurt am Main 1992, S. 222. 44 Ebd. 45 Vgl. Dumoulin, Oliver: Marc Bloch, Paris: Presses de la Fondation Nationale des Sciences politiques 2000, S. 243 – 247.

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zentrum willige Historiker näherzubringen. Pascal hat mehrere von ihnen zu einem Mittagsessen in den Elys¦e-Palast eingeladen, um sie anzuhören, und er hat eine Begegnung mit den universitären Jeanne d’Arc- Experten in Domr¦my organisiert.46 Selbstverständlich bildeten die Diskurse, die Überzeugungen und die Politiken, die wir erwähnt haben, kein unzertrennliches Ganzes. Je nach Zeit und Streitfrage wurde der „nationale Roman“ mehr oder minder stark bzw. mehr oder weniger flexibel eingesetzt. Obschon ein „Wettbewerb zwischen den Gedächtnissen“ meist als virulent abgelehnt wurde, findet man einige Stellungnahmen und Reden, die dem „Kommunitarismus“ bzw. den „Gedächtnissen“ wohlgesonnen waren. Nach Kolja Lindner lieferte unter Sarkozy die öffentliche Ehrung des Kampfeinsatzes der Soldaten aus den Kolonien für das Vaterland einen Ausgleich für die staatliche Ablehnung jeder Art von „Reue“.47 Man setzte außerdem den Akzent auf die „integrierte Gesellschaft“, indem man zwischen den beiden Gedächtnissen hin und her schwankte. In mehreren Reden erinnerte Sarkozy zudem an das Schicksal der französischen Soldaten, die während des Ersten Weltkriegs füsiliert wurden. Er verurteilte ihre Hinrichtung und erwähnte die Möglichkeit ihrer Rehabilitierung von Schadensersatz. Es handelt sich hier offenkundig um einen Diskurs der „Reue“. Sarkozy stand 2012 weiterhin hinter dem Gesetz, das die öffentliche Verherrlichung, Leugnung oder grobe Banalisierung von Genoziden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen (darunter auch der Genozid gegen die Armenier) unter Strafe stellen sollte. Dies alles wird von manchen als Beweis angesehen, dass der „Sarkozysmus“ eine pragmatische Haltung den „Gedächtnissen“ gegenüber vertrat. Er hätte je nach Thema das „Nationale“ oder die „Gedächtnisse“ betont.48 Diese These scheint mir falsch zu sein. Man sollte nicht übersehen, dass die Unterstützung eines Gesetzes, welches wiederum die „Gedächtnisse“ unterstützt, dazu beitragen kann, die Legitimation des Staatschefs zu steigern. Außerdem stellen diese Nebenkämpfe die Hauptlinien des „Sarkozysmus“ nicht infrage. Sie sind vielmehr Teil eines gesamten Kulturkampfes, der von 46 Vgl. „Les hommes et les femmes du Pr¦sident-Candidat“, in: Le Figaro, 18./19. 02. 2012, S. 4.; vgl. auch sein kurzes Interview „Plume de pr¦sident“, in: L’Histoire, Nr. 375, 25. 04. 2012, S. 11. 47 Siehe hierzu auch die Rede Sarkozys vom 26. 01. 2010 in Notre-Dame de Lorette. Der damalige Staatspräsident sagte u. a. zu den Grabschändern: „Wussten diese, dass in Verdun 70.000 muslimische Soldaten für Frankreich ihr Leben geopfert haben?“ Er erwähnte aber auch das Schicksal der Harkis (algerische Gehilfen der französischen Armee während des Algerienkrieges 1954 – 1962). »Frankreich hat stets diejenigen als die Besten unter seinen Söhnen geehrt und geliebt, die das höchste Opfer bringen.« Er sprach in diesem Zusammenhang auch vom Schutz der muslimischen französischen Staatsbürger und von dem Zusammenschluss im Tod all derer, die in Lorette begraben sind. 48 Siehe z. B.: Salor, Audrey : „G¦nocide arm¦nien: un enjeu de m¦moire opportun pour Sarkozy“, in: Le Nouvel Observateur, 18. 03. 2012.

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zahlreichen Konservativen auf dem „geschichtlichen“ Gebiet ausgefochten wird und nicht allein mit Wahltaktiken zu tun hat.49

Bibliographie Andrieu, Claire/Lavabre, Marie-Claire/Tartakowsky, Danielle (Hrsg.): Politiques du pass¦: Usages politiques du pass¦ dans la France contemporaine, Aix-en-Provence: Publications de l’Universit¦ de Provence 2006. Bloch, Marc: L’Etrange d¦faite. T¦moignage ¦crit en 1940, Paris: Franc-Tireur 1946. Cette France l—: X¦nophobie d’en haut. Le choix d’une droite ¦hont¦e, Paris: La D¦couverte 2012. Crivello, Marvline/Garcia, Patrick/Offenstadt, Nicolas (Hrsg.): La Concurrence des pass¦s: Usages politiques du pass¦ dans la France contemporaine, Aix-en-Provence: Publications de l’Universit¦ de Provence 2006. De Groot, Jerome: Consuming History : Historians and Heritage in Contemporary Popular Culture, London, New York: Routledge 2009. Dumoulin, Oliver: Marc Bloch, Paris: Presses de la Fondation Nationale des Sciences politiques 2000. Garcia, Patrick: „Usages publics de l’histoire“, in: Delacroix, Christian/Dosse, FranÅois/ Garcia, Patrick/Offenstadt, Nicolas (Hrsg.): Historiographies: Concepts et d¦bats II, Paris: Gallimard 2010, S. 912 – 926. Hardtwig, Wolfgang: Verlust der Geschichte, Berlin: Vergangenheitsverlag 2010. Hartog, FranÅois: R¦gimes d’historicit¦: Pr¦sentisme et exp¦rience du temps, Paris: Seuil 2003. Jeanneney, Jean-NoÚl: L’Etat bless¦, Paris: Flammarion 2012. Noiriel, G¦rard: Sur deux conceptions de l’histoire et du rúle civique de l’historien, URL: http://noiriel.over-blog.com/article-sur-deux-conceptions-de-l-histoire-et-du-role-civique-de-l-historien-66573590.html (15. 07. 2013) Offenstadt, Nicolas: L’Histoire Bling-Bling. Le retour du roman national, Paris: Stock 2009. Offenstadt, Nicolas: Brauchen wir ein „Haus der Geschichte Frankreichs“? Oder die Rückkehr der nationalen Meistererzählung, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 55 – 74. Rioux, Jean-Pierre: La France perd la m¦moire, Paris: Perrin 2006. Thiesse, Anne-Marie: La cr¦ation des identit¦s nationales. Europe XVIIIe – XXe siÀcle, Paris: Seuil 1999.

49 Zu den jüngsten Entwicklungen siehe: URL: http://aggiornamento.hypotheses.org/1039 (15. 07. 2013).

Hans-Ulrich Thamer (Münster)

Das Deutsche Historische Museum – ein nationaler Erinnerungsort?

Knapp zwanzig Jahre nach der offiziellen Gründung im Jahr 1987 konnte das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin im Juni 2006 seine Dauerausstellung eröffnen. Nach einer langen Planungsphase fand der Aufbau des Museums, welches bereits seit 1989 Wechselausstellungen zu unterschiedlichen Themen präsentiert hatte, damit seinen Abschluss. Vor allem die Gründungsphase war von teilweise hitzigen öffentlichen Diskussionen begleitet. Viele Beobachter sahen darin eine Art Stellvertreterdebatte, mit der der intellektuelle Diskurs über den seinerzeit heftig umstrittenen Gedanken einer deutschen Nation geführt wurde.1 Seither wurde dem (historischen) Museum, ganz im Sinne der Tradition des 19. Jahrhunderts, wieder die Rolle eines nationalen Erinnerungsortes zugeschrieben, nachdem Museen in der Nachkriegszeit fast ausschließlich als Orte der Unterhaltung und seit den 1970er Jahren als Lernorte definiert wurden. Seit dem Erfolg großer historischer Ausstellungen, an der Spitze die „Preußen-Ausstellung“ in Berlin 1981, kreisten die Museums-Diskussionen in den Medien und in öffentlichen Hearings um die Geschichtspolitik der (alten) Bundesrepublik und um das Konzept bzw. die Zeitgemäßheit eines Nationalmuseums.2 Die Erwartungen und Befürchtungen, die die Kontroversen der 1980er Jahre befeuerten, veränderten und entschärften sich seit den 1990er Jahren. Das hatte seine Ursachen in den einschneidenden historischen Umbrüchen der Jahre 1989/90 und in den ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Wandlungen der vergangenen zwanzig Jahre.

1 Maier, Charles: Die Gegenwart der Vergangenheit: Geschichte und nationale Identität der Deutschen, Frankfurt am Main, New York: Campus 1992. 2 Große Burlage, Martin: Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland.1960 – 2000, Münster : LIT Verlag 2005; Puhle, Matthias: Geschichtsmuseen. Historische Großausstellungen und neue Häuser der Geschichte, in: Graf, Bernhard/Rodekamp, Volker (Hrsg.): Museen zwischen Qualität und Relevanz. Denkschrift zur Lage der Museen, Berliner Schriften zur Museumsforschung, Bd. 30, Berlin: G+H Verlag 2012, S. 349 – 356.

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Vom Streitfall zur Erfolgsgeschichte. Die Macht des Wandels Dass sich die öffentliche Wahrnehmung des deutschen Geschichtsmuseums seither deutlich verändert hat und dass das Deutsche Historische Museum seit der Eröffnung der Dauerausstellung jährlich Besucherzahlen von bis zu 800.000 Menschen verzeichnet, hat verschiedene Gründe. Vor allem haben sich die politisch-kulturellen Rahmenbedingungen verändert. Seit der historischen Zäsur des Jahres 1989 erfuhr die Idee der deutschen Nation eine Neubewertung und zum ersten Mal in der deutschen Geschichte fand das mittlerweile fest im politischen Denken verankerte Prinzip des Verfassungsstaates seine Versöhnung mit dem Nationalstaat, der nun nur noch als Gehäuse für einen praktizierten Verfassungspatriotismus galt.3 Auch die Gründung und der Aufbau des DHM waren Teil des politischen Mentalitätswandels. Sichtbaren Ausdruck fanden diese Veränderungen auch im neuen Ausstellungsort, der nun in das Zentrum der historischen Erinnerungslandschaft Berlins rückte und mit dem Zeughaus – ohne dass es darüber noch lange öffentliche Kontroversen gab – einen preußischen Traditionsbau nutzte. Denn inzwischen stand der barocke Repräsentationsbau mit seiner wechselvollen Geschichte, zu der zuletzt auch die Nutzung für das DDR-Museum für deutsche Geschichte gehörte, nicht mehr im Verdacht, nur Symbol einer preußisch-militaristischen Tradition zu sein. Um die Museumsidee erst gar nicht mit diesem Eindruck zu belasten, hatte man 1987 in der ursprünglichen Planungsphase für das neue deutsche historische Museum – natürlich auch mangels fehlender baulicher Alternativen – in West-Berlin erst einen neuen (sehr viel größeren) Museumsbau in einer postmodernen Architektur des italienischen Architekten Aldo Rossi errichten wollen, der aber durch die historische Entwicklung im geteilten und dann wiedervereinigten Deutschland (und Berlin) über erste Entwürfe nicht hinauskam. Vor allem aber hat, nachdem das Zeughaus an der alten Magistrale „Unter den Linden“ für das neue Historische Museum zur Verfügung stand, die spezifische Logik der Museums- und Ausstellungspraxis einen deutlichen Wahrnehmungswandel herbeigeführt. Der einfühlsam restaurierte, monumentale viergeschossige barocke Vierflügelbau mit seinem reliefgeschmückten Binnenhof und einer meisterhaft gestalteten klassizistischen Fassade machte allein schon mit seinem postmodernen Erweiterungsbau und der beeindruckenden verglasten Treppenspirale sichtbar, dass in diesem Gehäuse keine engstirnige und rückwärtsgewandte Traditionspflege betrieben werden sollte; die mittlerweile dank der Übernahme der alten Bestände des DDR-Museums für deutsche Ge3 Jeismann, Michael: Alter und neuer Nationalismus, in: Ders./Ritter, Henning (Hrsg.): Grenzfälle: Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig: Reclam 1993, S. 9 – 26; Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus: Geschichte, Formen, Folgen, München: Verlag C. H. Beck 2001.

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schichte zu einem riesigen Fundus angewachsenen Sammlungsbestände erlaubten die Umsetzung moderner geschichtswissenschaftlicher Konzepte, in der die traditionell dominierende politische Geschichte um sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven und um europäische Dimensionen erweitert werden konnte. Schließlich verhinderten der Eigensinn und die Imaginationskraft der Objekte endgültig, dass die anfangs befürchtete Engführung auf eine verklärte preußisch-deutsche Nationalgeschichte ausblieb. Spätestens mit der konkreten Umsetzung des zunächst nur abstrakten Museumskonzeptes ist deutlich geworden, dass hier keine „nationale Identitätsfabrik“ entstehen sollte, wie man das in den 80er Jahren noch befürchtet hatte. Dazu war das Bemühen um die Vermittlung offener, pluralistischer Geschichtsbilder viel zu offensichtlich, und dieser Eindruck wurde durch die dichte Folge thematisch unterschiedlicher Sonderausstellungen noch verstärkt. Die inhaltlich überzeugende Sonderausstellung „Mythen der Nationen“4, die die Thesen der modernen, konstruktivistischen Nationalismusforschung in überzeugende Bilder übersetzte, war ein Beispiel für diesen Paradigmenwechsel. Das führte jedoch nicht dazu, dass die 2006 eröffnete Dauerausstellung nur mit Beifall bedacht wurde. Im Gegenteil, es regte sich heftige Kritik, die sich aber nicht mehr an dem Gedanken eines Deutschen Historischen Museums selbst, sondern an seiner musealen Umsetzung bzw. an dem angeblichen Mangel eines klar erkennbaren Ausstellungsnarrativs bzw. einer „Meistererzählung“ entzündete; auch erhob sich die Frage, ob entgegen aller Beteuerungen durch die starke Fixierung der Ausstellung auf eine Herrscher- und Elitenperspektive – wie durch die gestalterische Hervorhebung von Hauptwegen durch den Ausstellungsparcours – nicht doch der Eindruck einer klassischen Nationalgeschichtserzählung entstünde.5 Damit werden grundsätzliche Probleme einer Präsentation moderner Geschichte im Museum angesprochen, die möglicherweise jedem Geschichtsmuseum und seinen Realisierungsmöglichkeiten immanent sind. Immerhin hat die Kritik längst ihre Schärfe verloren und beschränkt sich in der Regel auf methodisch-professionelle Fragen, die vor allem die Dauerausstellung mit einer gewaltigen Zahl dicht gedrängter Exponate aufwirft. Dessen ungeachtet hat sich das Deutsche Historische Museum in den ersten Jahren seines Bestehens sehr rasch zu einer einzigartigen Erfolgsgeschichte entwickelt. Nicht nur dank seines herausragenden Standortes erweist sich das Museum in der öffentlichen Aufmerksamkeit und bei den Besuchern als Publikumsmagnet, 4 Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Begleitband zur Ausstellung vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998, 2 Bde, Berlin: Deutsches Historisches Museum 1998. 5 Dazu die Beiträge – in Verbindung mit „Zeitgeschichte.online“ – in dem Sonderheft der Zeitschrift Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2 (2007).

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der um die 800.000 Besucher pro Jahr, vor allem in die Dauerausstellung, lockt.6 Es findet vor allem eine mittlerweile millionenfache Aufmerksamkeit, weil es mit einer erstaunlichen Zahl und Vielfalt von Bildern und Objekten ein Publikum anzieht, das sich im Zeitalter der Bilder von visuellen Eindrücken gern beeindrucken lässt und von der Begegnung mit dem authentischen Objekt bzw. Bedeutungsträger fasziniert ist. Zur Erfolgsgeschichte des DHM gehört schließlich auch die Tatsache, dass es sehr rasch in die oberste Liga der europäischen Museen aufgestiegen und mittlerweile zum Vorbild für andere europäische Museumsplanungen geworden ist. Dieser Befund führt zu einer Menge von Fragen hinsichtlich der Idee und Konzeption des Museums, zur Rolle von Politikern, Parteien und Parlamenten ebenso wie von Historikern und Museumsleuten bei der Planung und Verwirklichung des Projekts. Aber auch weitergehende Fragen drängen sich auf: nach dem Beitrag von Museen zur Bildung eines nationalen Gedächtnisses und einer nationalen Identität, nach der Bedeutung, Zeitgemäßheit und Struktur von Nationalmuseen am Ende des 20. Jahrhunderts, nach den Möglichkeiten der Visualisierung von Geschichte im Museum und den Gemeinsamkeiten und Unterschieden mit bzw. zu Kunstmuseen. Dem Thema des Sammelbands entsprechend sollen hier vor allem die Museumsidee und ihre Umsetzung, ihre politisch-kulturellen Bedingungen und die Auseinandersetzung mit dem Medium Museum in der Geschichtskultur der Bundesrepublik sowie die Rolle des DHM als vermeintliches Nationalmuseum behandelt werden. Diese Fragen, die eng miteinander zusammenhängen, beziehen sich, im Unterschied und in Weiterführung bisheriger Studien, die sich vor allem auf die „heroischen Kontroversen“ der Gründungsphase des DHM konzentrierten,7 auf den gesamten Zeitraum der zwanzigjährigen Gründungs- und Realisierungsgeschichte. Das erlaubt vor allem die Frage, welche der damaligen Kritikpunkte und Erwartungen sich eingestellt haben, was sich verändert hat und wodurch dies bewirkt wurde.8

6 Dazu die Jahresberichte des DHM, z. B. Das Deutsche Historische Museum 2008, Berlin: Deutsches Historisches Museum 2008, S. 66 – 70; Das Deutsche Historische Museum 2010/ 2011, Berlin: Deutsches Historisches Museum 2011, S. 50 ff. 7 Dazu vor allem Mälzer, Moritz: Ausstellungsstück Nation: Die Debatte um die Gründung des Deutschen Historischen Museums in Berlin, Gesprächskreis Geschichte, Nr. 59, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 2005. 8 Diese Frage stellt vor allem Jürgen Kocka als Mitglied der Sachverständigenkommission des DHM aus Anlass der Eröffnung der Dauerausstellung: Kocka, Jürgen: Ein chronologischer Bandwurm: Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: Geschichte und Gesellschaft, 32 (2006), S. 398 – 411.

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Die Museumsidee und ihre politisch-kulturellen Bedingungen Zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Idee und Planung eines nationalen historischen Museums in der Mitte der 1980er Jahre gehörten zwei kulturhistorische Phänomene, die auch das öffentliche Interesse und die geschichtspolitischen Kontroversen um die Museumsgründung bestimmen sollten. Einerseits hatten die erstaunlichen Publikumserfolge von historischen Großausstellungen – von den Staufern 1977 bis zur Berliner Preußen-Ausstellung von 1981 und weiter – den Anreiz und Beleg für ein wachsendes öffentliches Interesse an Geschichte und für die Möglichkeiten einer wirksamen Präsentation dieser im Museum erbracht. Der Dornröschenschlaf der historischen Museen in Deutschland, die nur auf lokaler und regionaler Ebene existierten, und umgekehrt die Konkurrenz der DDR, die seit den 1950er in Ost-Berlin ein Museum für Deutsche Geschichte zur Propagierung ihres marxistisch-leninistischen Staatsund Geschichtsverständnis betrieb, weckten vor dem Hintergrund der Erfolge der historischen Landesausstellungen in der Bundesrepublik das Bedürfnis nach einer repräsentativen Museumspräsentation auf nationaler Ebene – mit dem Ziel, die Möglichkeiten des Museums für erinnerungskulturelle Ressourcen zu nutzen. Begriffe wie „Museumsboom“ oder „Musealisierung“ unserer Lebenswelten beschäftigten das Feuilleton und wurden von Philosophen und Soziologen als Signaturen eines veränderten Kultur- und Politikverständnisses betrachtet.9 Mit einer gewissen Phasenverschiebung – aber durchaus im Zusammenhang damit – wuchs in dem geteilten Deutschland ein neues nationales Bewusstsein, das sich deutlich von den alten intransigenten Nationalismen unterscheiden sollte, das aber für einen Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu einem wichtigen Fixpunkt eines erwachten Identitätsbedürfnisses geworden war. In vielen publizistischen Beiträgen wurde die ungebrochene Existenz einer nationalen Frage und vor allem ihre Offenheit beschworen. Vor allem galten, nach den Jahren eines auf Zukunft und Emanzipation gerichteten Denkens und nach den neuerlichen Erfahrungen von ökonomisch-politischen Krisen bzw. Zweifeln an der bislang dominanten Fortschritts- und Machbarkeitsideologie, historisches Wissen und Geschichtsbewusstsein als Voraussetzung für ein Bewusstsein der eigenen Identität und als ein Mittel politischer Integration.10

9 Thamer, Hans-Ulrich: Das „zweite Museumszeitalter“: Zur Geschichte der Museen seit den 1970er Jahren, in: Graf/Rodekamp: Museen zwischen Qualität und Relevanz, a. a. O., S. 33 – 43. 10 Dazu Stürmer, Michael: Deutsche Frage oder die Suche nach der Staatsräson. Historischpolitische Kolumnen, München: Piper 1991.

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Die Idee eines repräsentativen Geschichtsmuseums: von der Berliner Debatte zu einem Gegenstand bundesdeutscher Geschichtspolitik Erkennbaren Ausdruck fand die potentielle Verschränkung beider Denkansätze in der zunächst in Berlin vertretenen Forderung nach einem historischen Museum der deutschen Nation, das mit seinem möglichen Standort und seinem Konzept an die Preußen-Ausstellung in Berlin anknüpfen sollte, die in dem wiederentdeckten historistischen Bau des ehemaligen Kunstgewerbemuseums – dem heutigen Martin-Gropius-Bau – präsentiert worden war. Zu einem Politikum wurde dann die Idee eines deutschen historischen Museums, als Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Regierungserklärung im Mai 1983 diese Pläne aufgriff und zum Vorschlag eines nationalen Geschichtsmuseums von europäischer Bedeutung zuspitzte und dies der Stadt Berlin zum Geschenk des Bundes zu ihrem 750. Stadtjubiläum machen wollte.11 Zusätzliche Brisanz erhielt die öffentliche Debatte um die Pläne eines „Nationalmuseums“ – wie es zwar öffentlich nicht genannt, aber durchaus gedacht und zu diesem Zweck mit Begriffen wie mit Museum für „Nationalkultur“ umschrieben wurde – durch die Verschränkung mit dem „Historikerstreit“ von 1986.12 Obwohl es sich dabei nicht um einen wissenschaftlichen Streit unter Historikern, sondern um einen Streit über die kulturelle Deutungshegemonie in einer historisch fundierten politischen Kultur handelte, der nach verbreitetem Urteil wissenschaftlich nur einen geringen Ertrag brachte, besaß der Historikerstreit insofern eine gewisse Verbindung zur Museumsidee, als es ebenfalls um die Bedeutung einer Nationalgeschichte und um die Rolle der NS-Geschichte innerhalb dieser Geschichtsbetrachtung ging: War die NS-Zeit eine zwar furchtbare, aber keineswegs singuläre Epoche deutscher Geschichte? Dann war sie in den breiten Strom deutscher und europäischer Geschichte einzuordnen. Oder hatte sie bei der Konstituierung von Geschichtsbewusstsein die Funktion eines Filters, durch den alle historischen Betrachtungen und Deutungen hindurch müssten? Das konnte sehr konkrete Auswirkungen nicht nur auf das Konzept einer deutschen 11 Stölzl, Christoph: Wie die Idee eines Deutschen Historischen Museums Gestalt annahm, 1985 – 1999, in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Zwanzig Jahre Deutsches Historisches Museum, Festschrift 1987 – 2007, Berlin: Deutsches Historisches Museum 2007, S. 33 – 46. 12 Dazu „Historikerstreit“: Die Dokumentation der Kontroverse über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Hrsg. von Ernst Reinhard Piper, München: Piper (5. Aufl.) 1987; jetzt bilanzierend: Herbert, Ulrich: Historikerstreit: Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte, in: Sabrow, Martin/Jessen, Ralph/Große Kracht, Klaus (Hrsg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte: Große Kontroversen nach 1945, München: Verlag C. H. Beck 2003, S. 94 – 113.

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Nationalgeschichte haben, sondern auch auf die Konzeption und die Struktur eines deutschen Geschichtsmuseums. Der alles überlagernde Einwand in dieser zweiten Phase der Politisierung und der Zuspitzung gegen den Museumsplan lautete nun, hier solle einer „Entsorgung“ der deutschen Geschichte Ausdruck verliehen und ein einseitiges, nationalpolitisch gefärbtes regierungsoffiziöses Geschichtsbild zementiert werden, das dieser Filterfunktion der NS-Geschichte eben nicht Rechnung tragen, sondern die NS-Diktatur relativieren sollte.13 Die Museumsidee gewann Gestalt durch die Denkschriften, die zwischen Oktober 1985 und März 1986 von einer Sachverständigen-Kommission, bestehend aus Historikern, Kunsthistorikern und Museumspraktikern, in einer ersten Fassung vorgelegt und dann auch zwei Jahre später durch eine neu zusammengesetzte Kommission konkretisiert wurden.14 Nicht so sehr die Tatsache, dass die Rolle der wissenschaftlichen Experten relativ groß war und bis zur späteren Umsetzung auch blieb, soll hier interessieren, sondern die Museumskonzeption, die vorgelegt wurde. Denn weder bestätigte das Konzept, vor allem das der zweiten Kommission, den Verdacht, hier hätten sich Wissenschaftler in den Dienst einer „nationalen Identifikationsfabrik“ begeben, noch ließen letztere sich von einem engen Nationalismus leiten, der über alle Katastrophen der deutschen Geschichte hinweg nur den Glanz und die Höhepunkte deutscher Geschichte präsentieren möchte und diese gegen die zwölf düsteren Jahre der NS-Herrschaft gleichsam aufrechnen oder diese relativieren wollte. Der entsprechende Verdacht blieb freilich erhalten und verlor erst nach der Wiedervereinigung und vor allem mit der Präsentation der ersten Wechselausstellungen und dann der Dauerausstellung seine Wucht, bis er schließlich fast ganz verstummte. Vielmehr fand die Kommission am Ende einen mittleren Weg: Einerseits trennte man sich von dem ursprünglichen Gedanken, ausschließlich die Geschichte des deutschen Nationalstaats bzw. der nationalen Bewegung seit dem späten 18. Jahrhundert zu zeigen. Man verständigte sich darauf, stattdessen die Geschichte der Vormoderne bis weit in das Mittelalter zu thematisieren und sich dabei auch an Leitfragen zu orientieren, die den Wandel und die regionalen/ territorialen bzw. sozial-kulturellen Unterschiede bzw. Ungleichheiten und damit die Vielfalt und Widersprüchlichkeit deutscher Geschichte thematisieren sollten. Damit hoffte man – mit guten Gründen –, der Verengung auf den zentralistischen Macht- und Nationalstaat vorzubeugen. Umgekehrt war man sich einig, dass – entgegen den Befürchtungen der Kritiker – den zwölf Jahren

13 Wehler, Hans-Ulrich: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit“, München: Verlag C. H. Beck 1988. 14 Zur Tätigkeit der Sachverständigenkommissionen zusammenfassend: Stölzl: Wie die Idee eines Deutschen Historischen Museums Gestalt annahm, a. a. O.

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deutscher Diktatur ein breiter Raum eingeräumt werden müsse, was in der Dauerausstellung auch tatsächlich geschieht.

Was ist deutsche Geschichte? Von der Offenheit der Geschichte und ihrer Präsentation im Museum Mit der Erweiterung der Museumskonzeption auf die Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit stellte sich nicht nur die Frage, was deutsche Geschichte überhaupt sei, man sah sich in der Ausstellungskonzeption und ihrer Realisation darüber hinaus vor die Notwendigkeit gestellt, in einer auf Sachzeugnissen basierten Ausstellung gerade die Offenheit, Wechselhaftigkeit und Widersprüchlichkeit deutscher Geschichte, die im Widerspruch zur Meistererzählung vom preußisch-deutschen nationalen Machtstaat stehen, zu thematisieren. Das wurde schließlich nach den anfänglichen Kontroversen, auch um die erste Denkschrift von 1982, in einer überarbeiteten, von der erweiterten Kommission vorgelegten „Konzeption für ein Deutsches Historisches Museum“ vom 24. Juni 1987 deutlich gefordert. Für eine Museumspräsentation wurden damit sehr hohe Hürden aufgestellt: Ein Museum in einer pluralistischen Gesellschaft müsse, so hieß es dort, Platz „für mehrere, auch konkurrierende Geschichtsbilder“ bieten. Darum gelte es, „die Perspektivität historischer Auffassungen und Urteile zum Thema und zum Darstellungsprinzip“ zu machen.15 Das gelingt der Dauerausstellung nur bedingt, da sich allein schon aus museumsdidaktischen Gründen für einen chronologisch aufgebauten Hauptweg entschieden wurde und man aus Raumgründen – der Standort Zeughaus bietet nur die Hälfte des ursprünglich geplanten Ausstellungsraumes – auf die Einrichtung von Themenräumen verzichten musste. Die Widersprüchlichkeit und Wechselhaftigkeit der deutschen Geschichte wird dafür an deren Veranschaulichungsverfahren erfahrbar gemacht, indem immer wieder die Veränderungen der Grenzen und die Einbettung in die europäische Geschichte gezeigt werden. Die Sorge der Kritiker allerdings, dass im Deutschen Historischen Museum ein vaterländischer Geschichtsunterricht im Sinne Preußens und des Kaisers Glanz und Gloria betrieben würde, wurde spätestens damit, eigentlich aber auch schon mit den ersten Wechselausstellungen, widerlegt. Die Gefahren einer rückwärtsgewandten Identitätsstiftung werden vermieden, und die Frage, was denn 15 Sachverständigenkommission für ein deutsches Historisches Museum in Berlin: Konzeption für ein Deutsches Historisches Museum. Überarbeitete Fassung. Endgültige Konzeption der Sachverständigenkommission für ein deutsches Historisches Museum in Berlin, überreicht am 24. Juni 1987, in: Stölzl, Christoph (Hrsg.): Deutsches Historisches Museum: Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Frankfurt am Main: Propyläen 1988, S. 609 – 636.

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deutsche Geschichte sei, wird dadurch beantwortet, dass die Definition durch die Sprache und sprachliche Zugehörigkeit gesucht wird. Was damit jedoch nicht sichtbar gemacht wird (und auch nur mit Mühen sichtbar gemacht werden kann), ist der Unterschied oder auch der schwierige Zusammenhang zwischen dem Konstrukt (oder dem Entwurf) von Geschichte und Nation und dem realen historisch-politischen Befund und Wirkungsmechanismus. Die Notwendigkeit, die Pluralität der deutschen Geschichte auf jeden Fall zu thematisieren, und dies auch zu garantieren, meinten Politiker und Publizisten (vereinzelt auch Museumsleute) zu Beginn der Gründungsdebatte durch einen Alternativvorschlag auffangen und in eine offenere Bahn lenken zu können, während sie umgekehrt befürchteten, diese Chance werde durch eine festzementierte Dauerausstellung vereitelt. Es war die Idee eines Forums für Geschichte, das thematisch wechselnde, von einer Vielzahl von Konzepten ausgehende und von unterschiedlichen Direktoren oder Kuratoren zu verantwortende Wechselausstellungen präsentieren und auf eine Dauerausstellung entweder gänzlich oder nur zu Beginn verzichten sollte. Die Motive für diesen Vorschlag waren unterschiedlich: Man sperrte sich gegen jede Auratisierung und Zementierung von Geschichtsbildern, man wünschte dem neuen Museum den Charakter einer Experimentierstätte oder eines Laboratoriums, wo man auch neue Medien und Visualisierungen erproben könne, man hatte Sorge um die notwendigen Exponate für eine große Dauerausstellung, die es nicht gab und die auch kaum durch Dauerleihgaben anderer Museen zu gewinnen gewesen wären. Das Argument der fehlenden Exponate – immerhin hatten sich die Museumspraktiker und auch einige Historiker mit der Forderung durchgesetzt, dass vorwiegend authentische Objekte und keine Repliken oder Videos eingesetzt werden sollten – hat der unvorhergesehene Gang der Geschichte obsolet gemacht, als mit dem Zusammenbruch der DDR dem neuen Museum die Depots des Museums für deutsche Geschichte in Berlin (Ost) zufielen und als vor diesem Hintergrund der Einsatz großer finanzieller Mittel zum Ergänzungskauf sinnvoll erschien. Den Gedanken des offenen Forums haben schließlich die Historiker (in ihrer Mehrheit) in der Sachverständigenkommission, im Verbund mit Helmut Kohl, zurückgewiesen und ausgehebelt – auch um auf diesem Wege durch eine Dauerausstellung in einem repräsentativen Gebäude einen repräsentativen nationalen Erinnerungsort zu schaffen bzw. wiederzubeleben. Die ersten Wechselausstellungen, vor allem die im Zeughaus, zeigten die Attraktivität und die identifikatorische Kraft eines solchen Gebäudes. Die Möglichkeiten einer künftigen Dauerausstellung demonstrierte bereits 1995 der Gründungsdirektor Christoph Stölzl, der sich immer für eine Dauerausstellung mit authentischen Objekten als Ziel der Museumsarbeit stark gemacht hatte, mit der provisorischen Ausstellung „Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnis-

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sen“, die einen Parcours durch die gesamte deutsche Geschichte anbot und vor allem auch die Erklärungskraft und Attraktivität von Werken der bildenden Kunst auch für ein Geschichtsmuseum andeutete. Dabei demonstrierte er auch den Eigensinn und die Mehrdeutigkeit der Aussagen von Kunstwerken, die er immer gegen das Bemühen der Historiker um eine theoriegeleitete, abstrakte Konzeption bzw. ein Drehbuch augenzwinkernd ins Feld geführt hatte. Eine weitere konzeptionelle Entscheidung war schon in den beiden Sachverständigenkommissionen gefallen und hatte die Forderung nach einem offenen, pluralistischen und reflexiven Geschichtsbild ein Stück weit relativiert. Gemeint ist der Grundsatz einer vorwiegend chronologischen Gliederung der Dauerausstellung in Abgrenzung von einer stärker thematisch oder systematisch gegliederten Darstellungsform. Die zweite Kommission hatte sich in dieser Grundsatzfrage, vor die jedes historische Museum gestellt ist, auf einen vernünftigen Kompromiss geeinigt, der aber nur in einer entsprechenden Museumsarchitektur zu realisieren gewesen wäre. Man wollte die chronologische Grundgliederung durch Vertiefungs- und Themenräume, die räumlich voreinander getrennt und deutlich auf Leitfragen fixiert sein sollten, ergänzen und reflexiver gestalten. Bereits mit dem vorzeitigen Scheitern der Neubaukonzepte infolge der Wiedervereinigung, die dem DHM mit dem Zeughaus zwar wesentlich kleinere, aber dafür traditionsreichere und zentral gelegene Räumlichkeiten bescherten, war abzusehen, dass diese räumlich-konzeptionelle Dreigliederung aufgegeben werden musste. Und so ist es in der Dauerausstellung dann auch geschehen: Der chronologische Durchgang überwiegt vor allem optisch-inszenatorisch deutlich und die Vertiefungsräume sind nur noch für den Kenner und in den zahlreichen Medienstationen erkennbar. Auch die Leitfragen wurden eher an den Rand gedrängt. Mit diesen bereits von der faktischen Kraft der Räumlichkeiten vorgegebenen konzeptionellen Beschränkungen und Schrumpfungen erhielt vor allem die politische Geschichte als Grundmuster des Ausstellungsnarrativs ein noch stärkeres Gewicht, als es ursprünglich gedacht war. Dies wurde dann durch den reichen Fundus an zur Verfügung stehenden Objekten, vor allem für die Geschichte der frühen Neuzeit, verstärkt. Die großen Gemälde, Möbel und Herrscherinsignien, über die das DHM mittlerweile verfügt, verleihen dem Herrscherglanz zusätzliches Gewicht, gegen das die Schilderung des Lebens des gemeinen Mannes vollständig abfällt. Das lässt sich in der Tat auch aufgrund der Materiallage nur mit großen Anstrengungen mit inszenatorischen und bildlichen Gegenmitteln einigermaßen konterkarieren, aber in der neuen Dauerausstellung geschieht das sehr selten und es überwiegt in dem opulent ausgestatteten und aufwendig präsentierten Obergeschoss des Museums die Herrschergeschichte. Immerhin (und das kann kein zweites historisches Museum aufweisen) wird für die Geschichte des 20. Jahrhunderts, vor allem für die NS-Zeit,

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das gesamte Untergeschoss reserviert und mit wichtigem Material sehr umfassend bestückt, wenn dies auch längst nicht so liebevoll und prächtig geschieht wie in dem Obergeschoss mit der Frühen Neuzeit des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, das zum Staunen einlädt. Wenn in der Präsentation der Geschichte der Weimarer Republik das Graue und die Tristesse überwiegen, dann trifft das sicherlich den Grundton der Befindlichkeiten der ersten deutschen Republik, wird aber – auch in der inzwischen nachträglich ergänzten Ausstellungsabteilung – den kulturellen Innovationen der Zwanziger Jahre, die unsere ästhetische Kultur bis heute beeinflussen, nicht gerecht und verzerrt das Bild von der Weimarer Republik etwas. Vor allem muss es sich diese Abteilung gefallen lassen, dass sie in ihrer Präsentation von den grellen Propagandafarben der NS-Zeit, die anschließend sehr ausführlich gezeigt wird, eindeutig überlagert und an die Seite gedrängt wird. Das Übergewicht der Kunstwerke und Bilder vom politischen Porträt bis zur Karikatur hat nicht nur mit der Überlieferungs- und Objektlage zu tun, sondern beruht auf einer museologischen Entscheidung der beiden bisherigen Generaldirektoren, die „die Mittel einer politischen Ikonographie in Bildern, Zeichen, Symbolen“ einsetzten, die „in der Vergangenheit gefertigt wurden, um Geschichte zu bezeugen und darzustellen“.16 Die Diskussion darüber, ob sich Geschichte allein oder vor allem durch Kunstwerke visualisieren lässt, hält bis heute an. Dabei wurden in der Hitze der Kontroverse jedoch gelegentlich künstliche inhaltliche Gegensätze aufgebaut, die wenig hilfreich sind, indem sie Gegenpositionen konstruieren, die die Praxis des historischen Museums auf die bloße Präsentation von „Flachware“, d. h. von Begriffen und Texten reduziert. Noch weniger trägt diese Debatte freilich zur Frage nach dem Charakter eines historischen Museums bei, das eigentlich von der Vielfalt und auch dem Gegensatz der historischen Botschaften und ihren Medien leben sollte und sich dadurch auch viel einprägsamer in die Erinnerung eingräbt. Die Präsentation der Dauerausstellung bündelt jedoch, und darin liegt jenseits aller geschichtspolitischen Kontroversen ihr kultur- und museumswissenschaftlicher Erkenntniswert, die bisherigen museumsmethodischen und didaktischen Debatten wie in einem Brennglas. Sie bietet ein Lehrstück für die Grenzen der Umsetzung eines abstrakten Konzepts, das weniger von den Präferenzen der Ausstellungsmacher als vielmehr von der Macht der Bilder und der Räume bestimmt ist. Sie fordert überdies zur Diskussion darüber heraus, wie viel Kunst ein Geschichtsmuseum verträgt. Doch auch wenn durch die Präsentation von Kunstwerken die vor- und frühmodernen Epochen optisch-ästhetisch 16 Ottomeyer, Hans: Aufgaben und Zeile des Deutschen Historischen Museums, in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Zwanzig Jahre Deutsches Historisches Museum, Festschrift 1987 – 2007, a. a. O., S. 47 – 66, hier S. 48.

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dominieren, so besitzt dennoch für die Mehrzahl der Besucher, vor allem für die jüngeren, die Zeitgeschichte im Untergeschoss in der Publikumsnachfrage die größte Attraktivität. Die Macht der Erinnerung überragt die Macht der Bilder.

Das DHM – Nationalmuseum oder „Gedächtnis der Nation“? Ob ein Nationalmuseum für das 20. oder 21. Jahrhundert noch angemessen oder repräsentativ sei, lautete die kritische Frage in der Diskussion der Gründungsphase. Dahinter verbirgt sich auch eine aktuelle kulturwissenschaftliche Diskussion, die das (kulturhistorische) Museum vor allem als Ort der „Konstruktion nationaler Identitäten“ kritisch durchleuchtet.17 Die Sachverständigen haben mit ihrem endgültigen Konzept Geschichtsbilder und Museumskonzepte miteinander zu vereinen versucht, die kaum noch etwas mit den traditionellen Geschichtsbildern von Nationalmuseen zu tun haben. Auch ist die Ausstellungskonzeption in den Fragestellungen und Themenentwürfen wie in den auszustellenden Objekten und den Vermittlungsformen viel zu pluralistisch, um noch an die traditionelle Konzeption eines Nationalmuseums zu erinnern. Eine nationale Meistererzählung im Sinne des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es nicht. In der Dauerausstellung wird vielmehr auch die Geschichte der europäischen Nachbarländer in Bildern und Zeugnissen einbezogen, wann immer es deutliche Berührungspunkte und wechselseitige Wahrnehmungen gibt. Allein die Leitfragen, die in dem Konzept für die Strukturierung einer Dauerausstellung vorgeschlagen worden waren und die Aspekte der Herrschafts- und Staatsbildung ebenso angesprochen wissen wollten wie Themen von Wirtschaft und Arbeit, von sozialer Ungleichheit und kulturellen Institutionen und Praktiken, stehen einem solchen Ansinnen einer scheinbar homogenen und integralen Geschichtsdeutung entgegen. Überdies ist ein Museum mit der Vielfalt seiner Objekte und Medien und der Multiperspektivität der Aussagen und Deutungen dieser Objekte nur schwer geeignet, ein Nationalgefühl zu produzieren. Dies gilt auch für die dann tatsächlich umgesetzte Dauerausstellung, die die erwähnten Leitfragen allerdings zugunsten der Objekte und ihrer Pracht oder Eindringlichkeit an den Rand gedrängt hat und der Überzeugung folgt, allein durch die Authentizität der Exponate und ihre Einbindung in einen historischen Kontext käme die „Sprache der Dinge“ zum Tragen. Denn nicht wenige der Bildzeugnisse, die ausgestellt werden, so das Argument der Ausstellungsmacher, 17 Dazu Uhl, Heidemarie: Learning from Berlin? Zur Darstellung des nationalsozialistischen Völkermordes in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, URL: http:// www.zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/documents/dhm_uhl.pdf (15. 07. 2013).

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sind mit der Absicht hergestellt worden, „Geschichte vor Augen zu führen und Erinnerungsstücke ihrem legitimierenden Zweck zuzuführen“.18 Das ist vielfach als zu wenig kritisiert worden: Man erkenne die Zusammenhänge zu wenig und das Ausstellungsnarrativ sei zu positivistisch und biete zu wenig Anstöße zur Reflexion über die Verwendung und Aussagen der Objekte.19 Auch wenn für den Besucher tatsächlich erst einmal einzelne spektakuläre Objekte oder Objektgruppen ins Auge fallen und sich ihm der historische Bedeutungszusammenhang, in dem viele der Objekte entstanden und genutzt wurden, nicht auf den ersten Blick erschließt, werden ihm diese vermutlich in Erinnerung bleiben. Anregungen zur historischen Re-Kontextualisierung der Objekte, weniger durch ausführliche Texttafeln als durch eine kluge und reflektierte Szenografie, die durch Montage und Arrangements verschiedener Objekte wirk- und erklärungsmächtige Bildräume schafft und damit verdeutlicht, dass auch das Museum eine Re-Konstruktion von Bildern, reflektiert oder unreflektiert, darstellt, können zur Interpretation beitragen und den Erinnerungsort schließlich zum Erkenntnisort machen. Die Dauerausstellung bleibt bei der Nutzung solcher szenografischer Gestaltungsformen häufig hinter ihren Möglichkeiten zurück – in der Sorge vor einem Zuviel an Theatralik und einengender Deutung. Kritiker haben darum mit guten Gründen darauf verwiesen, dass es dem Museum damit nicht gelungen sei, „die Lücke zwischen Theoriediskussion [gemeint ist die gegenwärtige kulturwissenschaftliche Debatte, d. Verf.] und musealer Praxis“ zu schließen.20 Umgekehrt wird der Besucher an keiner Stelle mit einem dezidierten und verengten Geschichtsbild konfrontiert. Auch die begleitenden Raum- und Sequenztexte einschließlich der Objektbeschriftung sind von auffallender Offenheit und Neutralität; das war auch dem Versuch geschuldet, nach den heftigen Kontroversen der Gründungsphase eine möglichst konsensuale Darstellung zu finden. Diese Zurückhaltung spiegelt sich auch in der Darstellungsform wider : Die Ausstellung argumentiert sehr nüchtern und verzichtet auf spektakuläre Inszenierungen. Sie vertraut auf die „auratische Qualität des Objekts“21 und auf dessen Eigenlogik. Man kann diese Darstellungsformen und -ästhetik als symbolischen Ausdruck einer kulturellen Selbstdarstellung der frühen „Berliner Republik“ verstehen, die auf Pomp und Grandeur wie auf den einen oder anderen Versuch der Etablierung einer Deutungshegemonie verzichtet. Insofern ist sie kein Nationalmuseum, wohl aber ein nationaler Erinnerungsort, der den kulturellen Reichtum und seine Vielfalt, aber auch die Ambiguität und Pluralität deutscher 18 19 20 21

Ottomeyer : Aufgaben und Ziele des DHM, a. a. O., S. 49. Vor allem Kocka: Ein chronologischer Bandwurm, a. a. O., S. 407 f. Uhl: Learning from Berlin, a. a. O., S. 2. Ebd., S. 4.

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Geschichte zum Ausdruck bringt und damit – freilich unter Verzicht auf erkennbare Analysen und Selbstreflexivität22 – eine Deutungskultur spiegelt, mit der sich Wissenschaft und Öffentlichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts der schwierigen deutschen Geschichte stellen.

Bibliographie Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Begleitband zur Ausstellung vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998, 2 Bde., Berlin: Deutsches Historisches Museum 1998. Große Burlage, Martin: Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland 1960 – 2000, Münster : LIT Verlag 2005. Herbert, Ulrich: Historikerstreit: Politische, wissenschaftliche, biographische Aspekte, in: Sabrow, Martin/Jessen, Ralph/Große Kracht, Klaus (Hrsg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte: Große Kontroversen nach 1945, München: Verlag C. H. Beck 2003, S. 94 – 113. Jeismann, Michael: Alter und neuer Nationalismus, in: Ders./Ritter, Henning (Hrsg.): Grenzfälle: Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig: Reclam 1993, S. 9 – 26. Kocka, Jürgen: Ein chronologischer Bandwurm: Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: Geschichte und Gesellschaft, 32 (2006), S. 398 – 411. Maier, Charles: Die Gegenwart der Vergangenheit: Geschichte und nationale Identität der Deutschen, Frankfurt am Main, New York: Campus 1992. Mälzer, Moritz: Ausstellungsstück Nation. Die Debatte um die Gründung des Deutschen Historischen Museums in Berlin, Gesprächskreis Geschichte, Nr. 59, Bonn: FriedrichEbert-Stiftung 2005. Ottomeyer, Hans: Aufgaben und Zeile des Deutschen Historischen Museums, in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Zwanzig Jahre Deutsches Historisches Museum, Festschrift 1987 – 2007, Berlin: Deutsches Historisches Museum 2007, S. 47 – 66. Piper, Ernst Reinhard (Hrsg.): „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München: Piper (5. Aufl.) 1987. Puhle, Matthias: Geschichtsmuseen. Historische Großausstellungen und neue Häuser der Geschichte, in: Graf, Bernhard/Rodekamp, Volker (Hrsg.): Museen zwischen Qualität und Relevanz. Denkschrift zur Lage der Museen, Berliner Schriften zur Museumsforschung, Bd. 30, Berlin: Institut für Museumsforschung 2012, S. 349 – 356. Stölzl, Christoph (Hrsg.): Deutsches Historisches Museum: Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Frankfurt am Main: Propyläen 1988. Stölzl, Christoph: Wie die Idee eines Deutschen Historischen Museums Gestalt annahm, 22 Dass dies auch im Museum möglich sein kann, demonstriert das soeben eröffnete Militärhistorische Museum in Dresden. Dazu Thamer, Hans-Ulrich: Die Kulturgeschichte der Gewalt im Militärhistorischen Museum in Dresden, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 11 – 12 (2012), S. 658 – 669.

Das Deutsche Historische Museum – ein nationaler Erinnerungsort?

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1985 – 1999, in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Zwanzig Jahre Deutsches Historisches Museum, Festschrift 1987 – 2007, Berlin: Deutsches Historisches Museum 2007, S. 33 – 46. Stürmer, Michael: Deutsche Frage oder die Suche nach der Staatsräson. Historisch-politische Kolumnen, München: Piper 1991. Thamer, Hans-Ulrich: Das „zweite Museumszeitalter“: Zur Geschichte der Museen seit den 1970er Jahren, in: Graf, Bernhard/Rodekamp, Volker (Hrsg.): Museen zwischen Qualität und Relevanz. Denkschrift zur Lage der Museen, Berliner Schriften zur Museumsforschung, Bd. 30, Berlin: Institut für Museumsforschung 2012, S. 33 – 43. Thamer, Hans-Ulrich: Die Kulturgeschichte der Gewalt im Militärhistorischen Museum in Dresden, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 11 – 12 (2012), S. 658 – 669. Uhl, Heidemarie: Learning from Berlin? Zur Darstellung des nationalsozialistischen Völkermordes in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: Zeitgeschichte-online, 2 (2007), URL: http://zeitgeschichte-online.de/sites/default/ files/documents/dhm_uhl.pdf. Wehler, Hans-Ulrich: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit“, München: Verlag C. H. Beck 1988. Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus: Geschichte, Formen, Folgen, München: Verlag C. H. Beck 2001.

Beate Binder (Berlin)

Vom Preußischen Stadtschloss zum Humboldt-Forum: Der Berliner Schlossplatz als neuer nationaler Identifikationsort

„Graue Wolken hängen über dem Schlossplatz. Schwarze Limousinen fahren durch die Pfützen zum Baufeld. Eine Ramme mit langem, gelbem Hubarm hat einen gewaltigen Bohrkopf auf dem Boden angesetzt. An ihr vorbei waten Honoratioren in blank polierten Business-Schuhen durch den Matsch. Bauminister Peter Ramsauer (CSU), Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) stellen sich unter dem weißen Plakat auf. Darauf steht in großen Lettern: ,Jetzt geht’s los‘. Berlin bekommt nun wirklich sein Schloss zurück. Zehn Jahre liegt der Bundestagsbeschluss zurück, nun beginnen die Arbeiten für ein Projekt ,von großartiger patriotischer Bedeutung für unser Land‘, wie Ramsauer sagte. Ob es nun das ,größte kulturelle Bauprojekt des Bundes‘ ist, wie Ramsauer ausführte oder sogar das ,größte (deutsche) Kulturprojekt in diesem Jahrhundert‘, wie dessen Duzfreund Naumann meint – zu einer ,nationalen Aufgabe‘, so Wowereit, sei das Humboldt-Forum, das der Begegnung der Weltkulturen gewidmet ist, auf jeden Fall geworden.“1

So beginnt der Bericht der Berliner Tageszeitung Tagesspiegel über den ersten Spatenstich und damit den Beginn des „Großprojekts Humboldt-Forum“: zwar skeptisch in Hinblick auf den Eröffnungstermin – noch steckt die Erfahrung mit anderen Berliner Großbaustellen, vor allem dem Berlin-Brandenburgischen Flughafen, zu sehr in den Knochen –, doch voller Überzeugung von der symbolischen Bedeutung des projektierten Bauwerks wird (nicht nur) hier ein Bild der neuen Berliner Mitte als Repräsentationsraum des Nationalen entworfen. Tatsächlich setzte die Entscheidung, das Stadtschloss in Teilen zu rekonstruieren und mit den außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, den Wissenschaftssammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin und der Berliner Landesbibliothek zu bespielen, einem sich über mehr als zehn Jahre hinziehenden Streit um die zukünftige Nutzung dieses innerstädtischen

1 Schönball, Ralf: „Raumsauer gräbt fränkische Wurzeln des Stadtschlosses aus“, in: Tagespiegel, 22. 06. 2012, URL: http://www.tagesspiegel.de/berlin/humboldt-forum-ramsauergraebt-fraenkische-wurzeln-des-schlosses-aus-/6783322.html (24. 06. 2012).

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Raums ein (vorläufiges?) Ende.2 Zu Beginn der 1990er Jahre, als sich die anderweitige Nutzung und Neugestaltung des Platzes zum Thema stadtentwicklungspolitischer Debatten entwickelte, wurden verschiedene miteinander konkurrierende historische Narrative aktiviert, durch die der Platz bedeutungsvoll gemacht und seine weitere Gestaltung und Nutzung begründet werden sollte. Der Konflikt darum, welche dieser Deutungen eine stadtbauliche Entwicklung des Platzes plausibilisieren und legitimieren kann, hat über einen langen Zeitraum eine nachhaltige und langfristige Bebauung dieses innerstädtischen Ortes verhindert. Zugleich wurden der Schlossplatz und die um ihn zentrierten geschichtspolitischen Debatten zu einem symbolischen Raum,3 in dem weitergehende Fragen verhandelt wurden: etwa solche, was Stadt und Urbanität heute ausmacht, wer das Recht haben soll, über Planung und Nutzung dieses Orts zu entscheiden, wie die Veränderungen Berlins zu deuten sind und eben auch über die Rolle des Nationalen in der deutschen Hauptsstadt, verknüpft mit der Frage, welche Rolle Geschichte und Tradition bei der Gestaltung von Stadt und für die Entstehung von Zugehörigkeitsgefühlen spielen (sollen). In die Begründungen für die eine oder andere gestalterische Lösung des „Schlossplatzproblems“ waren und sind Vorstellungen von Raum, von an Raum gebundenen historischen Narrativen und damit in Zusammenhang gebrachte Vorstellungen von Stadt, Urbanität sowie Stadt- und Staatsbürgerschaft eingelagert. Ich möchte im Folgenden in Ausschnitten und aus stadtanthropologischer Perspektive erläutern, wie im Prozess dieser Auseinandersetzungen nicht nur ein stadtplanerisches Problem – was soll mit der Fläche auf der Spreeinsel geschehen? – „gelöst“ wurde, sondern auch eine Lesart dieses Raums dominant werden konnte, die in erster Linie mit nationalen Selbstbildern operiert, diese aber zugleich in spezifischer Weise mit kosmopolitischen Vorstellungen amalgamiert.4 Dafür werde ich zunächst Platz und Konflikt skizzieren, um daran

2 Zu den Auseinandersetzungen vgl. ausführlich meine Habilitation: Binder, Beate: Streitfall Stadtmitte: Der Berliner Schlossplatz, Köln u. a.: Böhlau Verlag 2009. Zum Humboltforum vgl. Flierl, Thomas/Parzinger, Hermann (Hrsg.): Die kulturelle Mitte der Hauptstadt. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 1009, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009. Einen Überblick über den Verlauf der Debatte findet sich auch bei Hennet, Anna-In¦s: Die Berliner Schlossplatzdebatte im Spiegel der Presse. Berlin: Verlagshaus Braun 2005; Beutelschmidt, Thomas/Novak, Julia M. (Hrsg.): Ein Palast und seine Republik. Ort – Architektur – Programm, Berlin: Verlag Bauwesen 2001, 220 – 245. 3 Ich greife damit den Begriff auf von Fejo˝ s, Zoltan: Coca-Cola and the Chain Bridge of Budapest. A Multi-Ethnographic Experiment, in: Ethnologia Europaea, 30 (2000) 1, S. 15 – 30. 4 Das bedeutet auch, dass ich nicht auf die museologische Debatte eingehen werde, die sich an das Konzept des Humboldt-Forums anschließt. Vgl. hierzu etwa Flierl/Parzinger: Die kulturelle Mitte der Hauptstadt, a. a. O.; Förster, Larissa: Nichts gewagt, nichts gewonnen. Die Ausstellung „Anders zur Welt kommen. Das Humboldt-Forum im Schloß. Ein Werkstattbericht“, in: Paideuma, Mitteilungen zur Kulturkunde, 56 (2010), S. 241 – 261.

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anschließend die Entstehung des Humboldt-Forums in die Stadtentwicklung Berlins nach 1990 einzubetten.

Städtischer Raum als Gegenstand und Forum gesellschaftlicher Konflikte Um diesen Prozess in seiner kulturellen Logik zu verstehen, nutze ich stadtanthropologische und geschichtspolitische Konzepte für die Analyse. Anknüpfend an Henri Lefebvre5 verstehe ich urbane Räume als komplexe Gebilde, die sich aus der Dramaturgie gebauter Formen, aus performativen (Selbst-)Inszenierungen sowie alltagskulturellen Beständen und Praxen zusammensetzen;6 damit sind städtische Landschaften auch Ergebnis, Träger und Ausdruck historischer Entwicklungen. Doch obzwar erzählte und/oder gelesene Geschichte in städtischen Räumen eingeschrieben ist, erschließt sich die urbane Landschaft in ihrer historischen Tiefe nur denjenigen, die um den Schlüssel für diese Codes wissen, die Geschichte und Raum in Relation zueinander bringen können. Das Lesen der Stadt ist ein aktiver Prozess, der bestimmt wird von dem Wissen um Deutung und Bedeutung. Oder wie es der Geograph Yi-Fu Tuan formuliert: „A landscape littered with old buildings does not compel anyone to give it a historical interpretation; one needs a ,discerning eye‘ for such a viewpoint.“7 Zwar macht in europäischen Städten bereits das Nebeneinander wechselnder Architekturen auf das Vergehen von Zeit und damit auf Geschichte aufmerksam, aber erst weil das „wahrnehmende Auge“ in ein System von Deutungen und Bedeutungen und damit in individuelle wie kollektive Sinnstiftungen und Identitätskonstruktionen eingebunden ist, wird dem Überlieferten wie Neugebauten auch Bedeutung und historische Tiefe beigegeben. Städtische Gedächtnislandschaften ändern sich fortwährend; nicht nur, weil in Städten ständig gebaut wird, alte Gebäude neuen weichen müssen und Straßen neu vermessen werden, sondern weil die symbolischen Texturen von Städten in ihren Bedeutungen umgeschrieben und neue Lesarten von städtischen Räumen dominant werden. Als Medium des kulturellen Gedächtnisses8 5 Lefebvre, Henri: Writings on Cities. Selected, translated and introduced by Elonore Kofman and Elizabeth Lebas, Oxford: Blackwell 1996; Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford: Blackwell 1991. 6 Vgl. Knecht, Michi/Niedermüller, Peter : Stadtethnologie und die Transformation des Städtischen. Eine Einleitung, in: Berliner Blätter, ethnographische und ethnologische Beiträge, 17 (1999), S. 3 – 13. 7 Tuan, Yi-Fu: Space and Place. The Perspective of Experience, Minneapolis: University of Minnesota Press 1977, S. 192. 8 Jan Assmann definiert das kulturelle Gedächtnis als „Sammelbegriff für alles Wissen, das im

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befindet sich Stadtraum in einem stetigen Prozess der De- und Rekonstruktion. Dabei trägt die Macht, Stadträumen Namen, Erzählungen – also Bedeutungen – zuzuweisen, entscheidend zu deren Aneignung und Nutzung bei. Auch wenn Denkmäler übersehen werden, die Bedeutung von Straßennamen vergessen werden kann und an Nationalfeiertagen ein Ausflug ins Grüne gemacht wird, gilt, dass, wie es die Stadtsoziologin Sharon Zukin formuliert, „the look and feel of cities reflect decisions about what – and who – should be visible and what should not, on concepts of order and disorder, and on uses of aesthetic power.“9 Dabei ist, so nochmals Sharon Zukin, eine der zentralen Strategien in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um Raum, diesen zu vereindeutigen:10 Wem es gelingt, Raum eine möglichst essentialistische und scheinbar unhintergehbare „Identität“ zuzuweisen, bestimmt auch darüber, wie dieser genutzt werden soll;11 wer die vieldeutigen und sich überlagernden Erzählungen zur eindeutigen Geschichte formieren kann, kann auch über die Zukunft eines Ortes entscheiden. Oder wie es die Geographin Doreen Massey fasst: „The identity of places is very much bound up with the histories which are told of them, how those histories are told, and which history turns out to be dominant.“12 Die Produktion und Stabilisierung stadträumlicher Lesarten bilden daher politische Handlungsfelder, in die soziale Gruppen mit unterschiedlichen Handlungsoptionen eingreifen (können). Gerade weil sich gesellschaftliche Deutungen in der Spätmoderne zunehmend pluralisiert haben und grundsätzlich neben- und auch gegeneinander bestehen, sind Städte Foren wie Objekte symbolischer und politischer Kämpfe um soziale Positionen und gesellschaftliche Hierarchien. Die (Um-)Deutung der Stadtlandschaft öffnet für einige soziale Gruppen Anknüpfungspunkte, lässt Imaginations- und Handlungsräume entstehen, für andere werden sie in demselben Moment verschlossen oder eingeschränkt. Die Auseinandersetzung um die Deutung des Stadtraums als historisch gesättigter Landschaft und als entlang gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen strukturierter Raum ist ein politisches Konfliktfeld, in dem soziale, geschlechtliche, ethnische und andere Differenzen, die gesellschaftliche Posi-

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spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.“ Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 9 – 19, hier S. 9. Zukin, Sharon: The Cultures of Cities Cambridge/Mass., Oxford: Blackwell 1995, S. 7. Zukin, Sharon: Postmodern urban landscapes: mapping culture and power, in: Lash, Scott/ Friedman, Jonathan (Hrsg.): Modernity and Identity, Oxford, Cambridge/Mass.: Blackwell 1992, S. 221 – 247. Massey, Doreen: Places and their Pasts, in: History Workshop Journal, 39 (1995), S. 182 – 192, hier S. 185 f. Ebd. S. 186.

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tionen und Praxen strukturieren, ausgehandelt, bestätigt, modifiziert und/oder gefestigt werden.

Der Schlossplatz als Konfliktfeld und Verhandlungsraum Was bedeutet das nun bezogen auf den Schlossplatzkonflikt? Bevor ich verdeutliche, was auf und mit dem Schlossplatz verhandelt wurde, möchte ich zunächst zumindest knapp dessen Entwicklung und gegenwärtige Gestalt skizzieren. Bis 1950 nahm das Hohenzollernschloss zwei Drittel der Fläche des heutigen Schlossplatzes ein. Das Schloss, das mit dem Abdanken des Kaisers und der Einführung der parlamentarischen Demokratie seine eigentliche Funktion als Repräsentationsort der preußischen Könige und deutschen Kaiser verloren hatte, wurde seit den 1920er Jahren für kulturelle Zwecke genutzt. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Bau stark beschädigt, doch auch nach 1945 zunächst weiter als Ausstellungsort genutzt. Erst mit der Sprengung im Jahr 1950 verschwand das Stadtschloss endgültig aus dem Stadtbild. Damals setzte die Regierung der DDR den Plan um, das bauliche Überbleibsel des Feudalismus zugunsten eines neu zu gestaltenden politischen Zentrums der DDR zu beseitigen.13 Bis zum gegenwärtigen Abriss des Palasts der Republik war der Platz – in Folge der Entscheidung, an diesem Ort die Staatsfunktionen zu konzentrieren – von den Repräsentationsbauten der DDR geprägt: von dem Staatsratsgebäude und dem Palast der Republik, einem in der Tradition der Volkshäuser der Arbeiterbewegung errichteten Gebäude, das bis 1990 den Volkskammersaal und eine Fülle kultureller und gastronomischer Angebote beherbergte, sowie dem Außenministerium, das bereits zu Beginn der 1990er Jahren abgerissen wurde. Der Palast der Republik, bereits 1990 wegen Asbest-Belastung geschlossen und ab 2006 „rückgebaut“,14 ist inzwischen vollständig verschwunden. Stattdessen bestimmen Rasenstücke, Ausgrabungsgelände und seit 2012 der Anfang der Großbaustelle das Bild des Platzes. Außerdem hat im Juni 2011 die sogenannte Humboldt-Box geöffnet, in der eine Ausstellung nach dem Konzept des Humboldt-Forums auf die geplante Nutzung des rekonstruierten Schlossbaus einstimmen soll. Seit der Eröffnung dieses „Schaufensters eines Zukunftsprojekts“15 konnte der mehrstöckige Bau mit Aussichtsplattform im ersten Jahr 13 Zur Geschichte des Berliner Schlosses vgl. Peschken, Goerd/Althoff, Johannes: Das Berliner Schloß. Berlin: Berlin-Ed. 2000; Peschken, Goerd: Das königliche Schloß zu Berlin, München: Deutscher Kunstverlag 1992 – 2001; sowie zur offiziellen Präsentation der Diskussion: URL: http://www.schlossberlin.de/ (Juli 2006). 14 URL: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/bauen/palast_rueckbau/ (Juli 2006). 15 URL: http://www.humboldt-box.com/konzept.html#middle (28. 06. 2012). Zuvor war bereits in der Ausstellung „Anders zur Welt kommen: Das Humboldtforum im Schloß. Ein Werk-

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bereits über 250.000 Besucher_innen zählen.16 Während sich nun also bereits die zukünftige Gestaltung mit dem Schlossneubau und Humboldt-Forum in den Platz einzuschreiben beginnt, waren die beiden Jahrzehnte nach 1990 zunächst von dem Konflikt um das Gebiet geprägt. Dabei lassen sich die Auseinandersetzungen grob in zwei Phasen unterteilen. Zunächst, bis etwa zur Jahrtausendwende, war die Debatte vor allem durch den Gegensatz „Schloss versus Palast“ bestimmt, später rückte die Frage der zukünftigen Nutzung ins Zentrum. Zu Beginn der Auseinandersetzungen standen sich im Grunde drei Lesarten des Stadtplatzes gegenüber. Definitorische Macht für den Konflikt hatte jedoch von Beginn an die Sichtweise derjenigen, die einen stadtplanerischen Blick auf diesen Raum warfen. Aus dieser Perspektive stellte sich der Platz als Entwicklungsgebiet dar, als ein stadtplanerisch vernachlässigter bzw. durch die Stadtplanung der Moderne ruinierter Raum, der durch die vorsichtige Wiederaufnahme historischer Kontinuitäten mit neuem Sinn und Inhalt gefüllt werden sollte. Dabei wurde von Beginn an betont, so zu lesen etwa im 1997 publizierten Planwerk Innenstadt, dass die hier lokalisierte historische Mitte Berlins lokaler wie nationaler Ort ist, der in „Zukunft nicht nur Zentrum einer 3,5 MillionenEinwohner-Stadt“ sein soll, „sondern ebenso ein räumlicher, funktionaler und emotionaler Bezugspunkt der Bundesrepublik“17. Die gegenwärtige Gestalt, so heißt es dort weiter, könne zwar als Ergebnis sozialistischer Planungsgeschichte gesehen werden, erfülle die Erwartung an die Gestalt des historischen Zentrums aber keineswegs. Der Schlossplatz wurde vielmehr als „leer“ und „desolat“ gekennzeichnet, als Ort einer „inflationären Weite“ und als Auswuchs der Moderne unter sozialistischen Planungsparametern. Da die städtebauliche Moderne es weder unter kapitalistischen noch unter planwirtschaftlichen Bedingungen vermocht habe, Stadträume zu gestalten, sondern vielmehr Städte mit Solitären bestückt habe, sollte die Bezugnahme auf die Vorkriegsgeschichte des Platzes dazu dienen, identifizierbaren Stadtraum herzustellen, der als Teil eines Bildes vom „Neuen Berlin“ zur Identität der Stadt beitragen sollte. Aufgrund des Verlusts der historischen Bausubstanz wurde jedoch zunächst vor allem an tiefer liegende historische Schichten angeknüpft, etwa an den einstigen Straßenverlauf oder frühere Platzstrukturen. Durch einen solchermaßen gestalteten Dialog mit der Geschichte des Orts sollte der Schlossplatz zu einem symbolischen Raum der Stadt- wie der Staatsmitte werden. stattbericht“ (Altes Museum, Berlin, 2009) ein erster Einblick in Überlegungen gegeben, vgl. Förster : Nichts gewagt, nichts gewonnen, a. a. O. 16 URL: http://www.tagesspiegel.de/berlin/temporaerer-ausstellungsbau-magnet-humboldtbox/6205162.html (28. 06. 2012). 17 Stimmann, Hans: Identität, Permanenz und Modernisierung, in: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie (Hrsg.): Planwerk Innenstadt. Ein erster Entwurf. Berlin: Kulturbuch-Verlag 1997, S. 14 – 23, hier S. 20.

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Die Ablehnung der aktuellen Gestalt des Platzes durch Stadtplanungsbehörden rief schnell massiven Protest hervor. Während aus planerischer Perspektive ein äußerst abstrakter Bezug zu historischen Spuren hergestellt wurde, knüpften jedoch die Erzählungen derjenigen, die den Palast der Republik retten wollten, an lebensweltliche Erfahrungen an. Nachdem 1990 der Palast der Republik wegen Asbestbelastung geschlossen und 1993 von der Bundesregierung dessen Abriss beschlossen wurde, hatten, wie ein Interviewpartner mir erzählte, die „Leute eine mächtige Wut im Bauch“. Es entstand eine ganze Reihe von Protestgruppen und Bürgerinitiativen, deren Anliegen es zunächst war, „ihren“ Palast der Republik zu retten. Protestmärsche um den Palast, wöchentliche Konzerte und Lesungen auf dessen Terrasse, vor allem mit Kulturschaffenden aus der ehemaligen DDR, Eingaben und Petitionen sollten Entscheidungsträger_innen für den Schlossplatz18 und die Bedeutung des Palasts der Republik als Erfahrungsraum sensibilisieren. Vor allem der Palast der Republik wurde als Ausdruck gelebter Erfahrung, als Ort von Betriebs-, Hochzeits- und anderen Familienfeiern, von Tanzturnieren der Kinder, von Kulturveranstaltungen und Bowlingabenden geschildert. Diese Erzählungen stellten die vor allem von Planern und Architekten vertretene ästhetische Bewertung des Stadtraums infrage: Mit dem Hinweis auf die an diesem Ort gemachten Erfahrungen und Erlebnisse wurde vielmehr das soziale Gedächtnis als identitätsstiftende Kraft hervorgehoben. Die Argumentation basierte auf der Vorstellung, dass die Identität einer Stadt durch die Menschen hergestellt wird, die die Räume beleben. Gegen das in Stadtgrundrissen und in Gebäuden geronnene kollektive Gedächtnis wurde die alltagsnahe kommunikative Erinnerung ins Feld geführt. Bezogen auf den Palast der Republik hieß das, dass die kulturelle Erfahrung mit „Erichs Lampenladen“ – so der Spitzname für das Gebäude – in den Mittelpunkt gerückt wurde, während die politische und ästhetische Bedeutung des Gebäudes in diesen Berichten keine oder eine untergeordnete Rolle spielte. Im Gegenteil wurde der Ort jenseits politischer Ideologien als Repräsentation einer eigenen Erfahrungsdimension des Berliner-Seins markiert. Zugleich aber wurde der Abriss politisch gedeutet und als Beleg für die Übernahme des „Ostens“ durch den „Westen“ interpretiert und somit der Konflikt um den Schlossplatz in weiten Teilen als Ost-West-Konflikt gedeutet. Im Diskurs um den Schlossplatz wurde mit dem Palast der Republik ein wirkmächtiges Symbol geschaffen, das für die Schwierigkeiten der Wiedervereinigung stand. Von den Schlossbefürwortern wurde das Argument der verlorenen Identität radikalisiert und zugleich in eine andere Richtung geführt. Die Interessenvertretung dieser Gruppe übernahmen seit Beginn der 1990er Jahre mehrere Ver18 Bzw. zunächst noch Marx-Engels-Platz: Die Umbenennung in Schlossplatz erfolgte 1994 im Zuge der allgemeinen Rückbenennung von Straßen in Ostberlin.

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eine, darunter die Gesellschaft Historisches Berlin sowie den 1992 gegründeten Förderverein Berliner Stadtschloß e.V. Von diesen Gruppierungen wird die Sprengung des Schlosses im Jahr 1950 als ein Akt der Barbarei bewertet, der den wahren Charakter der DDR offenbare. Ihre Lesart des Areals stellte das ehemalige Schloss ins Zentrum eines „Gesamtkunstwerks“ Berlin: „Das Schloss liegt nicht in Berlin, Berlin ist das Schloss“, so lautet einer der zentralen Slogans, der von Schlossbefürworter_innen von dem Berliner Verleger und Publizisten Wolf Jobst Siedler übernommen wurde.19 Schloss und Schlossplatz wurden aus dieser Perspektive als entscheidende Identifikationsorte der Berliner, aber auch der preußischen bzw. deutschen Geschichte vor 1933 markiert. Dabei gerinnt der städtische Raum weitgehend zur Bühne oder zum Tableau, das der Erbauung dient:20 Schönheit – nicht Erfahrung – stand in dieser Argumentation im Vordergrund. Um den ästhetischen Eindruck des alten Schlossplatzes zu veranschaulichen, ließ der Förderverein 1993/94 eine Gerüstkonstruktion in den Ausmaßen des alten Gebäudes errichten, auf das Zeltbahnen mit der Fassade des Stadtschlosses gespannt waren. Im „Innenhof“ dieser Schlossattrappe wurde eine Ausstellung über die kunsthistorische Bedeutung des Stadtschlosses präsentiert, zudem fanden Konzerte und Lesungen statt. Durch diese Inszenierung wurde die imaginäre Gestalt des Schlosses schon früh verräumlicht und die Forderung nach Rekonstruktion visualisiert. Auch in Broschüren und Erzählungen wurde ein geschlossenes Bild der Berliner Geschichte erzeugt, in dem Identität und Geschichte verschmelzen. Auch die Schlossbefürworter wollen keine politische Rekonstruktion der Vergangenheit oder gar die Wiederherstellung der Monarchie. Gleichwohl verweigern sie sich der Möglichkeit, die Brüche der deutschen Geschichte im Stadtraum sichtbar werden zu lassen oder den Verlust des Stadtschlosses als Teil der deutschen Geschichte anzuerkennen. Die „Schönheit“ des Schlosses, sein kunsthistorischer Wert und seine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Berliner Stadtgeschichte gelten ihnen als Basis für eine Identitätskonstruktion, die es Berlinern und ihren Gästen erlaubt, sich mit dieser Stadt – letztlich in nostalgischer Weise21 – zu identifizieren. Die bis 2001 dauernde Asbestentfernung ermöglichte es, mit endgültigen Entscheidungen zu warten. Doch wurde der Schlossplatz zunehmend als schmerzende „Wunde“ im Stadtkörper wahrgenommen. Neben diesen Körpermetaphern waren es vor allem Bezeichnungen, die das Ungestaltete, Unfertige und „Unzivilisierte“ des Platzes hervorhoben: Als Brache, Wüste oder Öde 19 Diese Sicht wird auch von denjenigen geteilt, die einen Neubau an Stelle des Stadtschlosses befürworten. 20 Vgl. Boyer, Christine M.: The City of Collective Memory. Its Historical Imagery and Architectural Entertainments, Cambridge/Mass., London: MIT Press 1994. 21 Zum Begriff der Nostalgie vgl. Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia, New York: Basic Books 2001.

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bezeichnet wurde der Schlossplatz aus der gestalteten Stadt exterritorialisiert und damit die Notwendigkeit einer Entscheidung und Neugestaltung immer dringlicher gemacht. Die Unmöglichkeit, zu einer Einigung zu gelangen, veranlasste Bundesregierung und Berliner Senat, eine Expertenkommission einzusetzen, die nach Anhörung und Begutachtung der unterschiedlichen Positionen Empfehlungen zur Nutzung und Gestaltung aussprechen sollte. Die Einsetzung der Kommission markiert den Beginn der zweiten Phase in der Auseinandersetzung um den Schlossplatz. Im Zuge des Arbeitsprozesses wurde die Frage nach der zukünftigen Nutzung des Schlossplatzes immer stärker ins Zentrum gerückt. Dabei strukturierte die Frage der Relationierung und Zuordnung des Schlossplatzes – Stadt oder Staat, Stadtplatz oder nationales Zentrum – noch deutlicher den Entscheidungsprozess.22 Im April 2002 übergab die Kommission ihre Empfehlungen, auf deren Grundlage der Bundestag mit franktionsübergreifender Mehrheit entschied, die Neubebauung des Schlossplatzes an der Kubatur des alten Schlossbaus zu orientieren, drei der Fassaden zu rekonstruieren sowie den so geschaffenen Neubau als Humboldt-Forum zu nutzen.23

Das Humboldt-Forum als „nationales Zukunftsprojekt“ Damit wurde die nationale Bedeutung des Schlossplatzes so dominant, dass das geplante Kulturprojekt nun als nationales Zukunftsprojekt bezeichnet werden konnte. Legitimiert wurde das Humboldt-Forum außerdem durch eine Reihe weiterer Stichworte. Bereits kurz nach der Entscheidung im Bundestag war zum Nutzungskonzept auf den Seiten der Berliner Senatsverwaltung zu lesen: „Der Name ist Programm: Im Humboldt-Forum, benannt nach den Brüdern Alexander und Wilhelm von Humboldt, sollen sich künftig Kultur und Wissenschaft auf einem Marktplatz des Wissens begegnen.“24 Ebenfalls dort sowie in einer Ausstellung, die am Bauzaun während des Rückbaus des Palasts der Republik das Projekt erläuterte und plausibilisierte, wurde die Leitidee der Planungen als „Dialog der Kulturen“ beschrieben – bebildert mit dem Foto einer exotisch an22 Bereits das Scheitern eines von Senat und Bund veranlassten Interessenbekundungsverfahren zur Suche von Investoren bestärkte die Haltung, dass an diesem historischen Ort kein rein privatwirtschaftliches Konzept, sondern vielmehr etwas entstehen soll, was auch in Hinblick auf die Nutzung der Zentralität dieses Ortes und seinen öffentlichen Charakter angemessen erscheint. 23 Im Deutschen Bundestag stimmte eine fraktionenübergreifende Mehrheit von 87 % für Rekonstruktion und Nutzungskonzept, während 65 % zumindest für die Rekonstruktion des Schlosses votierten. 24 URL: www.stadtentwicklung.berlin.de/bauen/palast_rueckbau/de/dialogderkulturen.shtml (Juli 2006).

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mutenden Tänzerin vom Karneval der Kulturen.25 Bereits bei der Öffentlichen Anhörung, die die Expertenkommission 2002 veranstaltet hatte, um die Positionen der Konfliktparteien zur Kenntnis zu nehmen und in die eigene Entscheidung einzubeziehen, hatte sich die Nutzungsvision Humboldt-Forum abgezeichnet. Gegenwärtig wird an der Realisierung des Konzepts gearbeitet und in verschiedenen Foren dessen Umsetzung diskutiert. Im Kern sollen in den teilrekonstruierten Schlossneubau die außereuropäischen Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, ziehen, in einem „Schaufenster des Wissens“ die wissenschaftshistorischen Sammlungen der Humboldt-Universität präsentiert und diese museale Ausstellung durch ein multimediales Informationszentrum der Zentral- und Landesbibliothek Berlin ergänzt werden. Hinzu kommt eine „Agora“, ein „großer Veranstaltungs- und Begegnungsbereich mit Orten für Theater-, Film-, Musik- und Tanz-Aufführungen und mit vielfältiger Gastronomie.“26 Aufgefasst werden sollte, so Hermann Parzinger und Thomas Flierl, die Idee des Humboldt-Forums als „das neue Dritte […], das die Antinomie von Schoss und Palast im dialektischen Sinn aufhebt.“27 Der große Enthusiasmus für das Projekt erschließt sich nicht auf den ersten Blick, greift die Idee des Humboldt-Forums doch zunächst auf konventionelle kulturpolitische Konzepte zurück und privilegiert unter dem Stichwort „Wissen“ etablierte Institutionen bürgerlicher Hochkultur. Museum und Bibliothek, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu ihrer gegenwärtigen Gestalt fanden, bieten Formen der Repräsentation und Klassifikation von Wissen, die wesentlich waren für den Prozess der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und der Herstellung nationaler Gemeinschaften. Das unter dem Label Humboldt-Forum firmierende Konzept folgt somit der „idea of the museum as an institution administered by the state for the instruction and edification of an undifferentiated public.“28 Damit ist die nationale Zuschreibung zwar evident, doch noch nicht die Begeisterung erklärt. Diese erschließt sich eher daraus, dass die Idee Humboldt-Forum es vermochte, den grundsätzlichen Streit zu befrieden. Dies gelang, weil das Projekt trotz aller Konventionalität unterschiedliche Ansprüche und Ideen bedient, die im Verlauf der Schlossplatzdebatte als wesentlich (an-)erkannt worden waren. Das mit dem Humboldt-Forum verknüpfte Narrativ verzahnt diese untereinander und zugleich mit nationalen Selbstbildern. 25 URL: www.stadtentwicklung.berlin.de/bauen/palast_rueckbau/de/humboldtforum.shtml (Juli 2006). 26 URL: www.stadtentwicklung.berlin.de/bauen/palast_rueckbau/de/dialogderkulturen.shtml (Juli 2006). 27 Flierl, Thomas/Parzinger, Hermann: Humboldt-Forum Berlin. Das Projekt – Ortsbestimmung, in: Flierl/Parzinger: Die kulturelle Mitte der Hauptstadt, a.a.O, S. 8 – 9, hier S. 8. 28 Evans, Jessica: Introduction, in: Boswell, David/Evans, Jessica (Hrsg.): Representing the Nation: A Reader, London, New York: Routledge, Open University 1999, S. 1 – 8, hier S. 7.

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Zunächst fließen in das Konzept Stadtentwicklungsstrategien ein, in denen Museen und Bibliotheken als Orte öffentlichen Interesses eine zentrale Rolle spielen. Insbesondere aufwendige Kunstausstellungen und historische Schauen, die hohe Besucherzahlen aufweisen und auf breite Medienresonanz stoßen, werden als wichtige Faktoren städtischer symbolischer Ökonomie gehandelt: Städte nutzen (attraktive) Kulturinstitutionen im translokalen Wettbewerb. Spektakuläre Museumsbauten und Ausstellungsprojekte, wie sie in den letzten Jahrzehnten etwa in Paris, Bilbao, London und Frankfurt am Main entstanden sind, tragen zur Attraktivität dieser Städte bei und lassen auf unternehmerische Standortentscheidungen und Tourismus hoffen. Zugleich bedient das Humboldt-Forum die Vorstellung, am Schlossplatz ein zivilgesellschaftliches Zentrum zu errichten. Aus kulturpolitischer Perspektive gelten Museen wie Bibliotheken als Räume zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit. Sie werden wahrgenommen als Orte, die Urbanität im doppelten Sinn von lebendiger Stadtkultur und gesellschaftlicher Öffentlichkeit zu erzeugen vermögen. In diesem Sinn begründete bereits die Expertenkommission ihre Empfehlung: „Die Schnittstellen des Humboldt-Forums zur Gesellschaft ergeben sich aus seiner Struktur. Im Zentrum des urbanen und touristischen Lebens der Hauptstadt Berlin gelegen, entwickelt es [das Humboldt-Forum, Anm. d. Verf.] Attraktivität durch ein breit gefächertes Programm […]. bis in die Abendstunden, durch eine vielfältige Gastronomie und durch seine Läden.“29

Imaginiert wird nicht allein eine attraktive Stätte des Konsum- und Freizeitvergnügens, wie sie zur Ausstattung spätmoderner Städte gehört, sondern darüber hinaus ein öffentlicher Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung – auch dies ist ein Faktor, der mit Vorstellungen von nationaler Gemeinschaft korrespondiert. Damit kann die Idee des Humboldt-Forums jedoch auch die Forderung nach einem „Ort für alle“ bedienen, die vor allem von denjenigen ins Spiel gebracht worden war, die sich für die Rettung des Palasts der Republik stark gemacht hatten. Als nämlich deutlich wurde, dass das Bauwerk selbst nicht zu retten war, sollte zumindest Intention und Wahrnehmung des Palasts der Republik als einem offenen Ort für Kultur und Freizeit „gerettet“ werden. So waren auch die meisten der Palastbefürworter mit der Idee Humboldt-Forum versöhnt. Dieses als öffentlichen bzw. zivilgesellschaftlichen Ort wahrzunehmen, gelang allerdings nur, weil in der Debatte die kulturellen Barrieren de-thematisiert wurden, die Kulturinstitutionen für verschiedene soziale Gruppen darstellen. Unbefragt konnte vielmehr die Utopie einer inkludierenden gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die sich in zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzung konstituiert, in die Rede über 29 Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin: Abschlussbericht. Hrsg. vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Berlin 2002, S. 26.

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das Humboldt-Forum verlängert werden. Entstehen soll nunmehr ein „Ort des Diskurses der internationalen Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, für den die Einbeziehung der Öffentlichkeit und deren aktive Teilhabe konstituierend ist.“30 Angesprochen werden die – in Hinblick auf soziale Differenzen unpositioniert bleibenden – zukünftigen Besucher_innen nicht als Tourist_innen, sondern als Bürger_innen, die insbesondere in der die Bildungslandschaft ergänzenden Agora zur Mitgestaltung aufgerufen sind. Denn: „Der angestrebte Dialog der Kulturen und Wissenschaften ist nur als Dialog der Menschen untereinander und über die Kulturen und Wissenschaften der Menschheit überhaupt zu verwirklichen und zwar aus ihrer aktuellen Interessenlage.“31

Der Begriff des „Dialogs“ steht an prominenter Stelle: „Das Verstehen der zugrundeliegenden Vielfalt und der Dialog zwischen den Kulturen sind heute wichtige Voraussetzungen für die Gestaltung unserer Zukunft“.32 Wissen soll nicht nur repräsentiert, sondern an diesem Ort der Kommunikation produktiv gemacht werden. Das Konzept des Humboldt-Forums gilt gerade deshalb als zukunftsweisend, weil es den dialogischen Austausch und damit ein Moment der Reflexivität in das (haupt-)städtische Zentrum einschreibt: „Der abendländische Blick auf die Welt wird um andere Sichtweisen ergänzt und damit ein Perspektivwechsel provoziert“.33 Von dieser zukunftsweisenden Konzeption wird ein Bogen zur Vergangenheit geschlagen und die neue Institution als zivilgesellschaftlicher bzw. bürgerschaftlicher Raum in die Funktion eines kollektiven Gedächtnisortes gesetzt: „Denn erst über die Interessen der Bürgerinnen und Bürger an ihrem gegenwärtigen Leben auf dem Weg in die Zukunft können die Schätze der Vergangenheit sinnvoll erschlossen werden. Gerade dadurch kann sich der Dialog über die drängenden Probleme der Menschen unserer heutigen Zeit – Probleme auf dem Weg der inneren Vereinigung von Ost und West in Deutschland, der fortschreitenden Europäisierung und Globalisierung – wissenschafts- und kulturgestützt entfalten, über Veranstaltungen und Begegnungen zum Erlebnis werden und ein lebendiger kultur- und wissenschaftsgeprägter Ort als bürgerschaftliche Mitte der deutschen Hauptstadt entstehen.“34

Die Begründung des Humboldt-Forums greift damit die zentralen Anforderungen an den Schlossplatz auf, die im Laufe der Auseinandersetzung formuliert worden waren. Es erscheint als eine plausible Lösung, weil es den Schlossplatz als 30 Ebd., S. 26. 31 Ebd., S. 25. 32 Parzinger, Hermann/Lux, Claudia/Markschies, Christoph: Humboldt-Forum – Das integrative Grundkonzept, in: Flierl/Parzinger : Die kulturelle Mitte der Hauptstadt, a. a. O., S. 18 – 22, hier S. 18. 33 Ebd. 34 Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin: Abschlussbericht, a. a. O., S. 25 f.

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einen urbanen Ort imaginiert, dessen Attraktivität gleichermaßen nach außen wie nach innen wirken soll. Schlagworte wie Wissensvermittlung, „Marktplatz des Wissens“ und „Stätte der Wissenschaft“ leiteten bereits während der Öffentlichen Anhörung mehrere Beiträge und werden nun für das HumboldtForum zentral positioniert, indem Agora, Museum und Informationszentrum als solche Orte des Wissens und des Austauschs von Wissen beschrieben werden – auch hier, ohne die Modi der Repräsentation und Vermittlung von Wissen genauer zu bestimmen. Im Abschlussbericht der Expertenkommission heißt es: „Ein Konzept, das die Gleichberechtigung und die Dialogfähigkeit aller Kulturen zum Programm erhebt und den Schlossplatz in der Mitte Berlins dafür als Fokus wählt, setzt einen kulturpolitischen Impuls von enormer Ausstrahlungskraft, verändert die festgefahrenen Vorstellungen zu einer lebendigen gleichrangigen Zeitgenossenschaft der Weltkulturen und schafft einen urbanen einprägsamen Ort mit großer öffentlicher Wahrnehmung.“35

Plausibilität wie Legitimität des Konzepts werden durch ein historisches Narrativ gestützt. Denn, so wird Wilhelm von Humboldt zitiert: „Wenn wir eine Idee bezeichnen wollen, die durch die ganze Geschichte hindurch in immer mehr erweiterter Geltung sichtbar ist; […] so ist es […] das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben.“36

Das Humboldt-Forum verweist auf den „Humanismus (res et verba), die große Geschichte deutscher und Berliner Wissenschaft, aber auch auf die Faszination des kulturell Entfernten“,37 der durch die Trias der Institutionen mit ihren jeweiligen Sammelbeständen gewissermaßen reinszeniert werden soll. Das historische Narrativ fokussiert auf die bildungs- und kulturpolitische Leistung Preußens zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die „eindrucksvollen Reformbestrebungen, Bildung und Wissenschaft zum Motor der gesellschaftlichen Entwicklung“ wurden. Die Bezugnahme auf die preußische Reformpolitik schließt an die Wiederentdeckung Preußens an, die sich bereits in der Preußen-Ausstellung im Berliner Gropius-Bau und im Historikerstreit andeutete, und setzt diesen Teil deutscher Geschichte als kollektiven Bezugspunkt. Ähnliche Argumente waren auch auf der Öffentlichen Anhörung vom damaligen Generaldirektor der Staatlichen Museen vorgetragen worden.38 Das „preußische Dilemma“ soll via Schlossplatz zu einer „glanzvollen Lösung“ finden: 35 Ebd., S. 24. 36 URL: www.stadtentwicklung.berlin.de/bauen/palast_rueckbau/de/wahumboldt.shtml (Juli 2006). 37 Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin: Abschlussbericht, a. a. O., S. 24. 38 Vgl. Seibt, Gustav : Preußen ohne Sonderweg, in: Die Zeit, Nr. 20, 10. 05. 2001.

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„Genau an jenem Platz, auf dem in effigie der Untergang Preußens symbolisch vollzogen wurde, macht nun das Beste von Preußen, der nur in seinen Museen enzyklopädisch gesammelte Reichtum der Kunst und Kulturen der außereuropäischen Welt, die besondere Leistung Preußens sichtbar.“39

In diesem Kontext werden Universität und Museumsinsel als „bauliche Zeichen dieser Verpflichtung“ Preußens auf Kultur und Bildung interpretiert. Das gilt auch für das Gebäude selbst: „Das inhaltliche Konzept des Humboldt-Forums greift also Funktionen des alten Stadtschlosses auf und entwickelt sie im modernen Sinne weiter, seine Bestandteile sind historisch im Schloss verankert.“40 Die symbolische Textur der Stadtmitte wird so vermessen, dass sie die Pläne stärkt. In dieser dominant gewordenen Lesart wird das Humboldt-Forum in Beziehung zu Museumsinsel, Humboldt-Universität und schließlich auch zum Zeughaus gesetzt, in dem das Deutsche Historische Museum untergebracht ist. Damit wird das Thema Wissen in ein Konzept nationaler Zugehörigkeit eingefügt und verräumlicht: Die Tradition der europäischen Zivilisation auf der Museumsinsel, die deutsche Geschichte im Zeughaus und die Wissensproduktionen der Humboldt-Universität bilden die Referenzpunkte für den Dialog der Kulturen, der auf dem Schlossplatz initiiert werden soll. Bereits auf der Anhörung argumentierte ebenfalls der damalige Generaldirektor der Staatlichen Museen: „Wenn dieser gewaltige europäische Sammlungskomplex auf der Museumsinsel zukünftig jenseits des Lustgartens auf dem Schlossareal sein außereuropäisches Pendant mit dem ganzen Reichtum der Berliner Sammlungen zur Kunst Ostasiens, Indiens, Afrikas, Alt- und Mesoamerikas sowie Ozeaniens finden würde, […] dann wäre die Mitte Berlins im komplementären Zusammenspiel von Schlossareal und Museumsinsel wirklich der anschauliche Ort des Weltkulturerbes.“41

Es wäre, so der Museumsvertreter weiter, ein „entscheidender Impuls weit über das eigentliche Museumsfeld für die Wiederherstellung Berlins und für ein reflektiertes nationales Selbstverständnis“42 gesetzt. Das Museum wird als Erfahrungsraum des „menschlich Möglichen“ beschrieben, der reflexive Verständigung auch durch Momente der Überraschung und des Infragestellens zulässt.43 39 Erste Anhörung der Internationalen Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“. BMVBW, Geschäftsstelle der Internationalen Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“ in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Abt. II, Hauptstadtreferat, Berlin 2001, S. 40. 40 Parchinger/Lux/Markschies: Humboldt-Forum, a. a. O., S. 21. 41 Erste Anhörung der Internationalen Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“, a. a. O., S. 39. 42 Ebd. 43 Diese Museumskonzeption stellt sich weit entfernt von dem im ICOM-Kodex von 1989 vorgelegten Entwurf des Museums als Ort der Gegenkultur dar (vgl. Korff, Gottfried: Be-

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Diese Reflexivität zielt letztlich auf die (nationale wie europäische) (Selbst-) Vergewisserung, für die insbesondere die musealen Teile eine zentrale Instanz darstellen sollen. Denn die Vision des Humboldt-Forums wird schließlich darin ausgemacht, dass sich hier „ein neuer universaler Blick auf die Zivilisationen der Welt“ eröffnet,44 der zugleich Orientierungsfunktion für das partikulare Eigene erhalten soll: „Der kostbarste Platz dieser Bundesrepublik wird vorgehalten für die anschauliche Kenntnis und Vermittlung des Anderen, des Außereuropäischen, das mit dem Vertrauten und dem Eigenen, dem Europäischen, in intensive Dialoge tritt.“45 Mit einer solchen Legitimation und Begründung wird das Nationale eingebettet in europäische Denk- und Handlungstraditionen und zugleich gegenüber einem Außen des Nicht-Europäischen abgegrenzt. Die Parallelität, die mittels dieser historischen Erzählung zwischen dem Umbau des preußischen Staats und der gegenwärtigen Situation Deutschlands hergestellt wird, setzt das Humboldt-Forum in die Tradition des, wie Jessica Evans es formuliert, „nation state supplying a language of historical continuities and cultural unities governing the terms in which communities were typically ,imagined‘“.46 Präsentiert wird eine „große Erzählung“, die Tradition als eine Möglichkeit fasst, auch in Zukunft Kohärenz herstellen zu können. Dies entspricht zunächst Konzepten nationaler Repräsentation: In diese wird der Schlossplatz eingebunden und das Nationale in der symbolischen Textur Berlins verankert. Insofern steht das Humboldt-Forum in der Kontinuität der Strategien, die Kultur nicht länger als Kitt des Nationalen, sondern als Raum entwerfen, in dem die Nation erzeugt wird.47 In das Konzept ist die Trennung in fremd und eigen tief und unhinterfragt eingeschrieben: Gerade die Gegenüberstellung zur europäischen Zivilisation, die auf der Museumsinsel ihren Ort hat, grenzt Europa vom Rest der Welt ab. Der Erfahrung, dass sich durch Globalisierungsprozesse Räume, Orte, Artefakte, Traditionen und Denkweisen zu neuen Landschaften der Zugehörigkeit, des „Eigenen“ und „Fremden“, verweben, wird damit eine Weltdeutung gegenübergestellt, in der das „Eigene“ (noch)

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merkungen zur öffentlichen Erinnerungskultur, in: Bönisch-Brednich, Brigitte/Brednich, Rolf W./Gerndt, Helge (Hrsg.): Erinnern und Vergessen: Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses, Göttingen 1989. Göttingen: Schmerse 1991, S. 163 – 176, hier S. 175). Vielmehr wird es als gegen die durch Globalisierungsprozesse ausgelöste Verunsicherung konzipiert. URL: www.stadtentwicklung.berlin.de/bauen/palast_rueckbau/de/humboldtforum.shtml (April 2006). Erste Anhörung der Internationalen Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“, a. a. O., S. 40. Evans: Introduction, a. a. O., S. 7. Kaschuba, Wolfgang: Geschichtspolitik und Identitätspolitik. Nationale und ethnische Diskurse im Vergleich, in: Binder, Beate/Kaschuba, Wolfgang/Niedermüller, Peter (Hrsg.): Inszenierungen des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln u. a.: Böhlau Verlag 2001, S. 19 – 42.

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klar bestimmbar erscheint.48 Die Auseinandersetzung mit Effekten der Globalisierung wird damit im Grund verhindert, die Lokalität als identitär eindeutig bestimmbarer Ort imaginiert. Doch neben diese enzyklopädische Vision tritt – keineswegs zufällig – der Dialog. Damit kann das Nationale um Momente der Weltoffenheit und des Universalismus ergänzt werden, die zum Repertoire eines Konzepts von Kosmopolitanismus gehören. Das Partikulare des Nationalen wird durch diese Verschiebung in einem humanistischen Ideal im doppelten Wortsinn aufgehoben. Die Neukonzeption des Schlossplatzes mit teilrekonstruiertem Schloss und Hunboldt-Forum stellt sich als „geplanter Kosmopolitanismus“ dar, wie ihn Ulf Hannerz beschreibt: „The opportunities for the cultivation of cosmopolitanism in cities would seem to have been, as such, unplanned. That would appear, for one thing, to make serendipity an important aspect of cosmopolitanism. […] In some of the ,cosmopolitan dreams‘ of today and tomorrow, perhaps there is less serendipity, more planning; sites which are rather more stages designed for the experience of novelty and diversity.“49

Mit dem Humboldt-Forum wird im Zentrum der Hauptstadt ein Ort geschaffen, der einen solchen Raum geplanten Kosmopolitanismus darstellen wird. Zentriert um die Begriffe Begegnung, Offenheit und kulturelle Erfahrung wird das Humboldt-Forum als Reflexionsraum entworfen, in dem das Nationale innerhalb einer sich globalisierenden Welt verstetigt werden kann und zugleich von der Toleranz und Offenheit der deutschen Nation spricht.

Der Schlossplatz im Gefüge der Stadt als zentraler Ort der Hauptstadtwerdung Dieses Moment wird durch die Einbindung des Schlossplatzes in das Gefüge der Stadt unterstützt. Aus dieser Perspektive wird der Schlossplatzkonflikt im Rahmen der gesamtstädtischen Entwicklung nach 1989/90 gelesen. Denn Mauerfall, deutsch-deutsche Vereinigung und nicht zuletzt der Beschluss, den Regierungssitz nach Berlin zu verlegen, konfrontierten Berlin zeitgleich mit der Aufgabe, Hauptstadt zu werden, sich als urbanes Zentrum neu zu erfinden und die Gegensätze von Ost und West in einer Stadt zu überwinden – jeweils gekoppelt an besondere Herausforderungen. Hauptstädte sind seit dem 19. Jahrhundert und bis heute besondere Städte. 48 Zu dieser Kritik auch Kramer, Dieter: Alle Völker und Zeiten, in: Der Freitag, 14. 09. 2001. 49 Hannerz, Ulf: Two-Faced Cosmopolitans: Consumer and Citizens. Unveröffentlichter Vortrag auf der Tagung „Cosmopolitan Dreams: Urban Life in 21st Century“, Berlin, 22.–24. 03. 2002.

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Eine Hauptstadt ist, so Werner Süß und Ralf Rytlewski, „nach allgemeinem Verständnis die Stadt, in der sich die Geschicke eines Landes verdichten, die in besonderem Maße für das Schicksal einer Nation einsteht.“50 Im Zuge der Formierung der Nationalstaaten wurden nicht nur die zentralen staatlichen Institutionen in Hauptstädten gebündelt, vielmehr wurden diese Städte auch als Räume des Nationalen sowie als Bühne entworfen, auf denen nationale Erzählungen und die wechselnden Vorstellungen nationaler Gemeinschaft zur Darstellung gebracht werden. Trotz Europäisierung und Globalisierung gelten europäische Hauptstädte auch gegenwärtig noch in erster Linie als spezifische Versionen differenter nationaler Kulturen: In diesem Sinn ist Paris die französische, London die englische und Berlin eben die deutsche Hauptstadt. Doch da diese Konzeptionalisierung einer Hauptstadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr ganz so selbstverständlich ist und zudem durch die spezifische deutsche Geschichte gestört wird,51 löste der Regierungsumzug zunächst Diskussionen darüber aus, wie die „neue, alte Hauptstadt“ gestaltet und wie in Berlin das Nationale repräsentiert werden soll. Gerade weil Berlin mit der wechselhaften deutschen Geschichte – von Preußen bis zur DDR – dicht verknüpft ist, bedurfte es neben dem materiellen Umbau auch der symbolischen Transformation von Stadt und städtischem Raum, damit mit Berlin Vorstellungen eines demokratischen und europäisch orientierten Deutschlands aufgerufen werden (können). Das Narrativ der Berliner Republik, das die durch den Regierungsumzug initiierten Veränderungen des politischen wie symbolischen Raums Berlin bündelte und formte, war dabei maßgeblich um Konzepte von Geschichte, Tradition und Kontinuität gruppiert. Es berührte nationale Selbstbilder, Erzählungen der Herkunft und Probleme der Grenzziehung um die nationale Gemeinschaft und zielte nicht zuletzt darauf, für das vereinigte Deutschland einen angemessenen Platz im europäischen bzw. internationalen Staatengefüge zu finden. Daneben wurde im Narrativ des „Neuen Berlin“ die Zielsetzung gefasst, im Rahmen einer global wirksamen Restrukturierung von Wirtschafts- und Finanzräumen zu einer prosperierenden und wettbewerbsfähigen Stadt zu werden. Dafür wird das Bild einer weltoffenen, kreativen und kosmopolitisch orientierten Stadt gezeichnet und für Berlin als einer „Stadt der Jungen“ geworben, die als „Gründer der Unternehmungen des 21. Jh.s“ die Zukunft der Stadt bilden sollen, wie es in einer Werbekampagne der Marketinggesellschaft Partner für

50 Süß, Werner : Berlin auf dem Weg zur nationalen Hauptstadt und europäischen Metropole, in: Süß, Werner (Hrsg.): Hauptstadt Berlin, Bd. 1: Nationale Hauptstadt. Europäische Metropole, Berlin: Verlag Arno Spitz 1995; S. 11 – 22, hier S. 11. 51 Vgl. hierzu auch Ladd, Brian: Ghosts of Berlin. Confronting German History in the Urban Landscape, Chicago, London: University of Chicago Press 1997.

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Berlin aus den 1990er Jahren heißt.52 Berlin steht hier nicht für die deutsche Geschichte, sondern vor allem für seine Fähigkeit, Neues hervorzubringen, kreativ und innovativ zu sein, vorhandene kulturelle Materialien neu zu kombinieren und in Kapitalien zu transformieren. Metropole und Hauptstadt repräsentieren zwei stark differierende Zielsetzungen. Während letztere durch Referenzen auf Vergangenheit, Tradition und eine historisch gewachsene nationale Gemeinschaft geprägt wird, spricht die Vorstellung der Metropole von Veränderung, Innovation und Zukunft. Während es im Kontext der Hauptstadtwerdung gilt, via Berlin die nationale Rolle Deutschlands im Staatengefüge zu (re-)formulieren, lebt die werdende Metropole Berlin von transnationalen Bezugnahmen, Lebensweisen und der Integration von Fremdem. In diesem Gefüge nimmt der Schlossplatz eine Scharnierfunktion ein, indem er weder eindeutig in die Landkarte der Hauptstadt noch in die der globalen Metropole eingefügt wird. Dies gelingt insbesondere auch durch die Relationierung des Schlossplatzes zu anderen Orten Berlins. In der Regel dienen zwei prominente Orte des „Neuen Berlins“ bzw. der „Berliner Republik“ als Referenzpunkte, die gewissermaßen als Gegenorte entworfen werden. Maßgeblich wird erstens immer wieder auf den Potsdamer Platz verwiesen, dessen Neugestaltung als Ausdruck von grundlegenden gesellschaftlichen wie ökonomischen Wandelprozessen gedeutet wird. In diesem Kontext steht der Potsdamer Platz gewissermaßen für das Globale, gegen das der Schlossplatz als lokaler Ort entworfen wird: Während dort die „(Spät-)Moderne“ ihren Ort fand, sollen am Schlossplatz „Tradition“ und „Geschichte“ bestimmend wirken; während dort die Ökonomie die Gestaltung bestimmt, soll hier die Zivilgesellschaft ein Zentrum haben; während dort Investoren und das Finanzkapital das Sagen haben, soll hier das Lokale zum Identifikationsraum von Stadt und Bewohnerschaft profiliert werden – so können die zentralen Botschaften zusammengefasst werden, die den Vergleich von Schlossplatz und Potsdamer Platz strukturieren. Wenn in der Schlossplatzdebatte auf den Potsdamer Platz verwiesen wird, wird dessen Bedeutungszuschreibung als Ort des Vergnügens und Konsums aufgegriffen. Und vor diesem Hintergrund werden Potsdamer Platz und Schlossplatz in ein antagonistisches Spannungsverhältnis gesetzt: Der Potsdamer Platz gilt dabei als Ort der Globalisierung, der über die Stadt hinausweist. Positiv gewendet heißt dies, dass der Potsdamer Platz für die Weltoffenheit und den Kosmopolitanismus der Stadt steht. An diesem Ort, so könnte etwas zugespitzt formuliert werden, ist in verdichteter Form Berlin bereits zur Metropole geworden. In einer negativen bzw. kulturpessimistischen Auslegung wird der Potsdamer Platz als kalt und 52 URL: www.partner-berlin.de (2004); Werbeflyer von Partner für Berlin aus den späten 1990er Jahren, eigenes Archiv.

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fremdbestimmt beschrieben, als ein Ort, der keine identitären Anknüpfungspunkte bietet – Aspekte, deren Realisierung dann für den Schlossplatz ins Zentrum gerückt werden. Zweitens soll der Schlossplatz einen Gegenort zum Regierungsviertel bilden – dem zweiten wichtigen Referenzort, durch den die besondere Position des Schlossplatzes in der Textur der Stadt bestimmt wird. Mit der eher unscharfen Bezeichnung „Regierungsviertel“ wird in der Regel das Gebiet um Reichstagsgebäude, Bundeskanzleramt und Abgeordnetenbüros im Jakob-Kaiser-, Elisabeth-Lüders- und Paul-Löbe-Haus bezeichnet. Der Vergleich mit dem Regierungsviertel verläuft auf zwei Ebenen: Im Gegensatz zu den Regierungsbauten soll am Schlossplatz ein Ort der Zivilgesellschaft, im Gegensatz zu dem Ort nationaler Politik ein Ort des Lokalen entstehen. Auch in dieser Argumentation wird versucht, den Schlossplatz als identitären Bezugspunkt zu profilieren. Mit dem Beschluss, den Regierungssitz des vereinigten Deutschlands nach Berlin zu verlegen, begannen Planungen und Diskussion um die Verteilung der Regierungsfunktionen im Stadtraum.53 In diesen Überlegungen spielte zunächst auch der Schlossplatz eine zentrale Rolle, gehörte er doch zu einem der als Kerngebiete für die Regierungs- und Hauptstadtplanung ausgewiesenen Areale. Noch im städtebaulichen Wettbewerb Spreeinsel war vorgesehen, auf dem Schlossplatz zwei Ministerien und ein Konferenzzentrum zu errichten.54 Erst als aus Kostengründen beschlossen wurde, die Mehrzahl der Ministerien in Altbauten unterzubringen, sich außerdem der Protest gegen die Schließung und den geplanten Abriss des Palasts der Republik formiert hatte, wurden diese Pläne fallengelassen. Es ist eines der Ergebnisse der Schlossplatzdebatte, dass dieser Ort zwar Teil der hauptstädtischen Karte Berlins sein, aber nicht für Regierungsfunktionen zur Verfügung steht. Vielmehr wurde im Verlauf der Diskussion – in direkter Korrespondenz mit Vorstellungen von urbaner Öffentlichkeit und dem Verweis auf die Prinzipien der europäischen Stadt – dem Schlossplatz, wie oben ausgeführt, eine zivilgesellschaftliche Funktion zugewiesen, die zugleich national konnotiert ist: Der Schlossplatz, so eine Formulierung von Manfred Sack, soll dem Souverän gehören.55 Der Schlossplatz wird in der symbolischen Karte von Berlin insofern am 53 Zur Hauptstadtplanung vgl. ausführlich Welch Guerra, Max: Hauptstadt Einig Vaterland. Planung und Politik zwischen Bonn und Berlin, Berlin: Verlag Bauwesen 1999. 54 Zu den dem Wettbewerb vorausgehenden Kontroversen, bei denen das Schlossplatzareal unterschiedlich stark in die Hauptstadtplanung einbezogen wurde, vgl. ebd., S. 51 ff.; zu den Ergebnissen des Wettbewerbs vgl. auch „Historische Mitte Berlin – Schlossplatz, Ideen und Entwürfe 1991 – 2001.“ Hrsg. von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen, Berlin 2001, S. 44 ff. 55 Zitiert nach Kramer, Dieter: Alle Völker und Zeiten, a. a. O.

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Schnittpunkt von zwei zentralen Entwicklungsdynamiken lokalisiert, die in den 1990er Jahren für die Stadt bestimmend waren: Deutlicher noch dort, wo die zukünftige Nutzung diskutiert wird, als in Hinblick auf seine Gestaltung wird dem Schlossplatz die symbolische Rolle zugewiesen, zwischen beiden zu vermitteln. Er soll sowohl Tradition, Geschichte und Herkunft als auch Weltoffenheit und kosmopolitische Haltungen repräsentieren, zugleich identitätsstiftend nach innen und wirkungsvoll nach außen sein. Das Humboldt-Forum adressiert Berlin als Hauptstadt und als Metropole: Am Schnittpunkt von nationalen und kosmopolitischen Bezugnahmen wird der symbolische Raum der Stadt- und Staatsmitte hervorgebracht als Zusammentreffen von historischen Traditionen mit Erzählungen von kultureller Differenz. Aus räumlicher Perspektive sollen am Schlossplatz zwei Karten von Berlin zur Deckung gebracht werden: eine nationale und eine kosmopolitische. Während die nationale Vorstellungen von historischer Kontinuität und der Identität einer Wir-Gemeinschaft bedient, greift die kosmopolitische die Vorstellung einer auf universale Werte verpflichteten Menschheit auf. An diesem Schnittpunkt kann das Kosmopolitische zum Ausweis einer geläuterten (föderalen) nationalen Identität und das Nationale Teil eines weltoffenen Dialogs werden, das sich in Verbindung mit einem Europa der Regionen und in Anerkennung wie Abgrenzung zu anderen Zivilisationen konstituiert. Mit dieser Verbindung werden eine Reihe von Oppositionen bedient, die in der Schlossplatzdebatte hervortraten: Indem die symbolische Textur der Stadt Nationales und Kosmopolitisches miteinander verschmilzt, vermittelt das Humboldt-Forum als identifikatorisches Angebot zwischen eigen und fremd, auf der Ebene der Nutzer werden Unterschiede zwischen Stadtbürger_innen und Tourist_innen eingeebnet, nicht zuletzt soll es Raum für die Verständigung von Ost und West bieten.

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Julia Oppermann (Rostock)

Mediale Geschichtsbilder: „Die Deutschen“ im ZDF

Fragen der Gegenwart „Wer sind wir?“, „Woher kommen wir?“ und „Wohin gehen wir?“: Nach über zwei Dekaden der Wiedervereinigung wird in Deutschland nach einer stabilen kollektiven Identität, nach einem angemessenen Selbstbewusstsein innerhalb Europas und der Welt und nach einem neuen Patriotismus gefragt. Es besteht offensichtlich ein Bedarf an deutscher Geschichte und die entsprechenden Angebote sind mannigfaltig. Die Zahl der Museen und Ausstellungen steigt in Deutschland immer weiter an, historische Themen verkaufen sich gut. Ein „Geschichtsgefühl“ verbreitet sich, das sich als Wunsch nach emotionaler Rückbesinnung auffassen lässt. Die Sehnsucht nach Verortung in einem Kollektiv und einer nationalen „Normalität“ wird von verschiedenen Instanzen aufgenommen und bedient, auch weil Vergangenheit als eine Machtressource begriffen werden kann.1 Am erfolgreichsten agieren in diesem Zusammenhang die Massenmedien. Im Bildersturm der Gegenwart sind sie immer mehr zu Normvermittlern geworden und haben mittlerweile den Status einer zentralen Bildungs- und Erziehungsinstanz übernommen.2 Kaum eine andere Institution reicht dabei an das Fernsehen heran, das gleichzeitig eine Filterfunktion erfüllt. Was an Ereignissen und Personen nicht in visueller Form präsentiert wird, kann schwerlich Teil einer öffentlichen Geschichtsvorstellung werden. Die Themen, die durch das Fernsehen verbreitet werden, bestimmen das Geschichtsbild eines Großteils der Bevölkerung.3

1 Schönhoven, Klaus: Geschichtspolitik: Über den öffentlichen Umgang mit Geschichte und Erinnerung, Gesprächskreis Geschichte, Nr. 49, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 2003, S. 18. 2 Keupp, Heiner : Sich selber finden: Identitätskonstruktionen heute und welche Ressourcen in Familie und Gesellschaft sie benötigen, URL: http://www.ipp-muenchen.de/texte/sich_selber_finden.pdf (05. 04. 2009). 3 Berghaus, Margot: Geschichtsbilder. Der „iconic turn“ als „re-turn“ zu archaischen visuellen

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Die Darstellung der Vergangenheit im Fernsehen Edgar Lersch und Reinhold Viehoff behaupten: „Geschichte ist […] zu einem neuen, medialen Wochenbett deutscher Identitätsgeburten geworden.“4 Das Aufkommen von Film und Fernsehen leitete einen dynamischen Medialisierungsschub ein, der auch eine Änderung der Geschichtsinhalte und -vermittlung mit sich brachte.5 Viele Wissenschaftler waren früh der Überzeugung, dass das Fernsehen Einfluss auf die Art und Weise hat, wie Vergangenheit wahrgenommen wird. So stellte Pierre Sorlin in den 1990er Jahren fest: „Ich selbst bin überzeugt, daß das Fernsehen dabei ist, unser Erkenntnisvermögen zu verändern, und daß sich die Geschichtsschreibung der Zukunft von der, die uns geläufig ist, erheblich unterscheiden wird.“6 Zweifelsohne wird heute aus Filmen und Dokumentationen ein Großteil der allgemeinen Geschichtsvorstellungen gespeist.7 Quantitative Erhebungen aus der Medienforschung belegen, dass sich das Fernsehen zum favorisierten Medium der Geschichtsaneignung entwickelt hat.8 Mit Rainer Wirtz lässt sich feststellen: „[…] Geschichtsfernsehen vermag die populäre Rezeption der Vergangenheit, damit auch kollektives Erinnern [zu] prägen und so den Blick auf ihre Interpretation von Vergangenheit [zu] lenken.“9 Filme und Fernsehdokumentationen können als Quelle einer Mentalitätsund Alltagsgeschichte dienen, die Rückschlüsse auf die Verfasstheit des Publi-

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Erlebniswelten, in: Lindner, Martin (Hrsg.): Drehbuch Geschichte. Die antike Welt im Film, Münster : LIT Verlag 2005, S. 10 – 24, hier S. 14. Lersch, Edgar/Viehoff, Reinhold: Geschichte im Fernsehen. Eine Untersuchung zur Entwicklung des Genres und der Gattungsästhetik geschichtlicher Darstellungen im Fernsehen 1995 – 2003, Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien NordrheinWestfalen, Bd. 54, Düsseldorf: VISTAS 2007, S. 35. Das Fernsehen wird als ein Kommunikationsmittel verstanden, das die Geschichtskultur selektierend und sinnbildend neu gestaltet und gleichzeitig auch speichert. Vgl. Bösch, Frank: Audiovisuelle Geschichtsschreibung. Fernsehnarrative in Ost- und Westeuropa, URL: http:// www.uni-giessen.de/cms/fbz/fb04/institute/geschichte/fachjournalistik/loewe (08. 01. 2012). Sorlin, Pierre: Fernsehen: Ein anderes Verständnis von Geschichte, in: Küttler, Wolfgang/ Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst (Hrsg.): Geschichtsdiskurs in 5 Bänden: Globale Konflikte. Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Bd. 5, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, S. 314 – 333, hier S. 318. Hoffmann, Hilde: Geschichte und Film – Film und Geschichte, in: Horn, Sabine/Sauer, Michael (Hrsg.): Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 135 – 143, hier S. 135. Brockmann, Andrea: Erinnerungsarbeit im Fernsehen. Das Beispiel des 17. Juni 1953, Köln: Böhlau Verlag 2006, S. 1. Wirtz, Rainer: Irgendwas mit Medien – Irgendwas mit Geschichte. Einige Folgen des Gebrauchs von Geschichte durch das Fernsehen, Konstanz: UVK 2010, S. 32.

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kums erlauben.10 So sind Medieninhalte Indikatoren für ihre eigenen Entstehungsbedingungen, z. B. für ökonomische Einflüsse, das gegenwärtige Werteund Normensystem oder aktuelle geistige Strömungen. Durch sie ist es möglich, ein bestimmtes Selbstbildnis einer Gemeinschaft zu erkennen, welches auf dem Wege einer Geschichtsdarstellung transportiert wird. Lersch und Viehoff umreißen es deutlich: „Weil die nationale Geschichte einen wichtigen Hintergrund dafür bildet, wie wir unsere politische und kulturelle Identität jeweils verstehen, führt der mediale Blick in diese Geschichte immer auch dazu, ein spezifisches historisches Bewusstsein zu formulieren.“11 Auch im wissenschaftlichen Diskurs wird davon ausgegangen, dass das Fernsehformat nachhaltige Wirkung auf das Geschichtsbewusstsein12 und somit auch auf das Selbstverständnis der Bürger hat. In erfolgreichen Geschichtssendungen spiegelt sich mehr wider als der Zeitvertreib eines historisch interessierten Publikums. Dennoch werden die Motive für den Konsum von Geschichtsdokumentationen häufig allein auf den Unterhaltungswert reduziert. Dem gegenüber kamen Wissenschaftler bei der Auswertung von qualitativen Studien zu dem Schluss, dass die wichtigsten Motive, sich mit Geschichtsformaten im Fernsehen zu beschäftigen, Identitätsmanagement und die Ansammlung von kulturellem Kapital waren. Die Zuschauer würden sich vor allem von anderen abheben wollen und erhofften sich Hilfe bei ihrer eigenen Identitätsarbeit.13 Das Interesse an historischen Persönlichkeiten scheint außerdem

10 Gronau, Martin: Der Film als Ort der Geschichts(de)konstruktion. Reflexionen zu einer geschichtswissenschaftlichen Filmanalyse, in: AEON – Forum für junge Geschichtswissenschaft, 1 (2009) 1, URL: http://wissens-werk.de/index.php/aeon/article/viewFile/10/pdf_3 (28. 01. 2012). 11 Lersch/Viehoff: Geschichte im Fernsehen, a. a. O., S. 17. 12 Geschichtsbewusstsein wird von Jörn Rüsen beschrieben als: „[…] ein komplexer Zusammenhang von Erinnerung an die Vergangenheit, Deutung der Gegenwart und Erwartung der Zukunft. Es realisiert diesen Zusammenhang, indem es aktuelle Erfahrungen von der zeitlichen Veränderung des Menschen und seiner Welt als Fragen an die Erinnerung der Vergangenheit adressiert, das Wissen um die Vergangenheit auf die Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart hin aktualisiert und von ihm her Zukunftserwartungen durch historische Erfahrung abstützt.“ Rüsen, Jörn: Geschichtsbewusstsein und menschliche Identität. Gefahren und Chancen der Geschichtsschreibung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 41 (1984), S. 3 – 10, hier S. 6. 13 Rezeptionsstudien bilden jedoch noch immer ein Forschungsdesiderat. Obwohl die Instrumente der historiographischen Forschung durchaus in der Lage sind, Wirkungsfelder, Rezeptionskontexte und Deutungsgeschichten von Bildern bzw. Bildergruppen zu rekonstruieren, stehen Analysen zu Wirkungen und Wahrnehmungen derselben erst am Anfang. Wir verfügen noch immer über zu wenig Wissen über die Entstehung von Kollektivgedächtnissen bei Kino und Fernsehen. Zwischen Darstellung und Gebrauch scheint eine wissenschaftliche Grenzlinie zu verlaufen.

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einem Bedürfnis nach sozialem Vergleich geschuldet zu sein; die prominenten Köpfe der Geschichte dienen dabei als Vergleichs- und Projektionsfläche.14 Diese Erwartungen an eine Produktion müssen erfüllt werden, um sie aussichtsreich im Programm zu platzieren. „Das Publikum ist nicht Öffentlichkeit im gesellschaftlichen, sondern Markt im ökonomischen Sinne“, so Saskia Handro.15 Wird der Zuschauer als Konsument begriffen, zeigen sich im Fernsehen auch die Bedürfnisse des Publikums. Um tatsächlich Agenda-Setting betreiben und nachdrückliche Effekte erzeugen zu können, muss das Fernsehen zunächst auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zugeschnitten sein.16 Für den Erfolg von Film und Fernsehen muss das Medium dynamisch und flexibel auf sein Publikum reagieren, Diskurse aufgreifen und Strömungen erspüren.

Die Redaktion Zeitgeschichte des ZDF Einen übergeordneten Platz im deutschen Geschichtsfernsehen nehmen die Produktionen von Guido Knopp und seiner Redaktion „Zeitgeschichte“ im ZDF ein. Auch im öffentlichen Raum erfahren seine Sendungen die meiste Beachtung und werden mittlerweile in allen großen Feuilletons Deutschlands ausgewertet. Die Geschichtsdokumentationen aus dem Hause ZDF sind zu einer eigenen Marke herangewachsen, sie werden in zahlreichen Ländern vertrieben und ihre Methodik gilt als stilbildend.17 Guido Knopp und seine Mitarbeiter haben sich zunächst über Jahre hinweg intensiv mit dem Thema Nationalsozialismus beschäftigt. Dies war der Schlüssel für den heutigen medialen Erfolg der ZDF-Redaktion und deren Leiter. HansJürgen Jakobs stellt fest, dass „[k]einer […] beim Massenpublikum mehr Deutungsmacht in Sachen Drittes Reich [hat].“18 Dies begründet sich u. a. in den außergewöhnlich guten Quoten der sechsteiligen Serie „Hitler – Eine Bilanz“ von 1995 und „Hitlers Helfer“, die in zwei Staffeln mit jeweils sechs Folgen 1996 14 Meyen, Michael: Was wollen die Zuschauer sehen? Erwartungen des Publikums an Geschichtsformate im Fernsehen, in: Drews, Albert (Hrsg.): Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm, Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie 2008, S. 55 – 73, hier S. 71. 15 Handro, Saskia: Mutationen. Geschichte im kommerziellen Fernsehen, in: Oswalt, Vadim/ Pandel, Hans-Jürgen (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach: Wochenschau Verlag 2009, S. 75 – 97, hier S. 76. 16 Jones, Priska: Visuelle Repräsentationen im politischen Kontext: Formen und Funktionen, in: Baberowski, Jörg (Hrsg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft?, Frankfurt am Main: Campus 2010, S. 63 – 78, hier S. 77. 17 Kümmel, Peter : Ein Volk in der Zeitmaschine, in: Die Zeit, Nr. 10, 26. 02. 2004, URL: http:// www.zeit.de/2004/10/Steam_Punk (16. 05. 2010). 18 Jakobs, Hans-Jürgen: Die Clip-Schule vom Lerchenberg, in: Der Spiegel, Nr. 46, 15. 11. 1999, S. 136 – 138, hier S. 136.

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produziert wurde.19 Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung der beiden Dokumentationen war ihr Format neuartig und markierte den Aufstieg der Redaktion „Zeitgeschichte“. Auch wenn die Redaktion unter Guido Knopp vor allem aufgrund der HitlerReihen bekannt ist, befasst sie sich ebenfalls mit einer Vielzahl weiterer Themen. Ein Großprojekt, das nachfolgend vorgestellt werden soll, sticht dabei besonders heraus: die Dokumentationsreihe „Die Deutschen“. Sie markiert einen weiteren großen Erfolg nach der umfangreichen medialen Bearbeitung des Dritten Reiches. Diese Produktion richtete den Blick auf die angebliche „tausendjährige Vergangenheit“ Deutschlands und wollte dessen Wurzeln ergründen. Erst auf der Grundlage der Erfolge der Redaktion und der breiten Diffusion der Produktionen zum Nationalsozialismus war eine Dokumentationsreihe wie „Die Deutschen“ überhaupt möglich. In der Redaktion „Zeitgeschichte“ zirkulierte schon länger die Idee, eine solche Reihe zu drehen. Doch erst nach der Jahrtausendwende schien die Zeit reif zu sein, das Projekt umzusetzen. Die Resonanz beim Publikum gab dem Gespür der Produzenten Recht. Auch in der Redaktion weiß man den Bildungsauftrag auf das Zuschauerinteresse zu gründen: Kann sie die Stimmung in der Gesellschaft richtig deuten, wird dies durch entsprechende hohe Zuschauerquoten belohnt. Die Sehnsucht nach nationaler Identität prägt auch die Sicht auf die eigene Geschichte, das wiederum beeinflusst das nationale Selbstbild. In eben diese Wechselseitigkeit ordnet sich der Versuch ein, eintausend Jahre deutsche Geschichte in der Reihe medial darzustellen.

„Die Deutschen – Ein Jahrtausend deutsche Geschichte“ Die Fernsehreihe wurde in der ersten Staffel vom 26.10. bis zum 25. 11. 2008 und in der zweiten Staffel vom 14.11. bis zum 21. 12. 2010 ausgestrahlt; eine Staffel umfasst jeweils zehn Folgen. Die Sendereihe gilt als Leuchtturmprojekt des ZDF und als eine gewaltige Investition. Da in Zukunft solche epischen Formate für Dokumentationen kaum zu erwarten sind, handelt es sich um eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Fernsehlandschaft. Die Reihe spürt den Ursprüngen der deutschen Geschichte vom 8. bis zum 20. Jahrhundert nach. Sie schlägt eine Schneise in eine brüchige Vergangenheit. Nach Aussagen der Produzenten wollte man herausfinden, was in den „Rucksack“ der deutschen Identität hineingepackt und bis in die heutige Bundesrepublik mitgenommen wurde. Der DVD-Klappentext der ersten Staffel fasst die 19 Es folgten weitere Produktionen zu Adolf Hitler, so „Hitlers Krieger“, „Hitlers Frauen“, „Hitlers Kinder“ und „Familie Hitler – Im Schatten des Diktators“.

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Darstellung von „tausend Jahren“ deutscher Geschichte folgendermaßen zusammen: „Die zehnteilige ZDF-Dokumentarreihe ,Die Deutschen‘ spannt den historischen Bogen von den Anfängen unter Otto dem Großen im 10. Jahrhundert bis zur Ausrufung der ersten deutschen Republik durch Philipp Scheidemann im November 1918. Es geht um zehn Jahrhunderte wechselvoller Vergangenheit – ihre Spuren führen bis in unsere Gegenwart.“20 Der Fernsehreihe wurden folgende Leitfragen vorangestellt: „Wer sind wir? Woher kommen wir? Fragen an eintausend Jahre deutsche Geschichte.“21 Sie zielen eindeutig auf die Herkunftsneugier und das Bedürfnis der Gesellschaft nach Identität. „Die Deutschen“ entstand als Zusammenarbeit der Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft mit dem Programmbereich Zeitgeschichte/ Zeitgeschehen des ZDF. Deren Leiter, Peter Arens und Guido Knopp, werden in ihrer Entscheidungsgewalt als gleichrangig beschrieben. Es ging den beiden dabei nicht nur um die Menschen, die Geschichte machten, sondern auch um die Frage, was die Geschichte mit den Menschen machte. Um dies zu illustrieren, wurde neben einer attraktiven Form der Vermittlung auch auf eine intensive Beratung durch Historiker Wert gelegt, so „[…] fanden zwei Gewerke zusammen: die Präzision der Forschung und die Darstellungskunst der Fernsehmacher.“22 Die Dokumentationsreihe folgt bei ihrer Darstellung der deutschen Vergangenheit der konventionellen Methode der Beschreibung exemplarischer Einzelfälle. Sie stellt insgesamt zwanzig Personen der deutschen Geschichte vor, die nicht zwangsläufig Deutsche sein müssen, wie z. B. die Folge „Napoleon und die Deutschen“ zeigt. Ausschlaggebend für die Wahl der Personen waren ihr Bekanntheitsgrad und ihre Verbindung mit zentralen Ereignissen der deutschen Geschichte. Jeder der gewählten Vertreter soll einen Teil seiner Zeit repräsentieren, als Stellvertreter für eine bestimmte Epoche oder Zäsur in der Geschichte stehen. Über diese Personen soll der Zuschauer dann in das Jahrhundert hineingeführt werden. In den Schlusssequenzen jeder Folge wird die Biografie der Person in größere Zusammenhänge gestellt, es wird aufgezeigt, welchen Einfluss die gezeigte Persönlichkeit auf sein Handlungsfeld, seine Epoche und darüber hinaus hatte. Die Geschichte der Deutschen in dieser Dokumentationsreihe ist eine Geschichte von bedeutenden Figuren und Persönlichkeiten, ausgestattet mit Regierungsmacht oder anderen Formen des politischen bzw. gesellschaftlichen 20 „Die Deutschen“, Otto und das Reich, ZDF Enterprises GmbH 2008. 21 Otto und das Reich, ZDF Mediathek, URL: http://www.zdf.de/ZDFmediathek/kanaluebersicht/ aktuellste/565650#/beitrag/video/616394/Otto-und-das-Reich, 00:21 – 00:35 (04. 06. 2012). 22 ZDF Jahrbuch 2008: „Die Deutschen“, URL: http://www.zdf-jahrbuch.de/2008/programmarbeit/ arens_knopp.php (14. 03. 2010).

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Einflusses. Es sind Personen, denen Autorität schon in die Wiege gelegt wurde oder die sie später errangen. Von den zwanzig Folgen widmen sich elf Folgen Kaisern, Königen, Fürsten; nur zwei portraitieren Frauen. Die erste Staffel beginnt mit Otto dem Großen im 10. Jahrhundert. Obwohl zu dieser Zeit noch niemand von „den Deutschen“ sprach, wären die Menschen bereits durch einen gemeinsamen fremdbestimmten Namen verbunden gewesen. Die zweite Staffel setzt sogar noch früher ein: mit Karl dem Großen im 8. Jahrhundert, ein Herrscher, auf den sich nicht nur die Deutschen, sondern auch die Franzosen in ihrem Nationalmythos berufen. Beide Staffeln enden in ihren letzten Folgen in der Weimarer Republik und geben im Zeitraffer noch einen Ausblick auf das heutige Deutschland. Jede ausgesuchte Persönlichkeit sollte nicht nur ihre Zeit, sondern auch ihr Erbe für das gegenwärtige Deutschland repräsentieren. So soll Martin Luther durch seine Bibelübersetzung und seine Fixierung der Sprache die Bevölkerung geeint, das Land jedoch infolge der angestoßenen Reformation gespalten haben. Otto von Bismarck verwirklichte die langersehnte staatliche Einheit, vertiefte jedoch die Gräben in der Gesellschaft mit seinem Vorgehen gegen die katholische Geistlichkeit und Sozialdemokratie. In der zweiten Staffel lassen sich solche Perspektiven schwerer aufzeigen. Mit August dem Starken von Sachsen und Ludwig II. von Bayern werden hingegen Männer portraitiert, die vor allem ihre eigenen Länder prägten. Auf die Legendenbildung zu mythischen Figuren der deutschen Geschichte – wie Friedrich Barbarossa, dem Gang nach Canossa von Heinrich IV. oder Otto von Bismarck – wird nicht explizit eingegangen. Während in der ersten Staffel noch mehr oder minder erfolgreiche Kriegsherren wie Albrecht von Wallenstein, Friedrich der Große und Wilhelm II. die „deutsche Geschichte“ formten, sind es in der zweiten auch revolutionäre Denker und Kämpfer wie Thomas Müntzer und Karl Marx. In der ersten Staffel wurde keiner einzigen Frau eine Folge gewidmet, dafür sechs männlichen Herrschern. Die weiblichen Nebendarstellerinnen tauchen als politische Widersacherinnen auf, wie Maria Theresia bei Friedrich dem Großen, als Lieblinge des Volkes, wie Königin Luise bei Napoleon oder als treusorgende Ehefrauen, wie Katharina von Bora bei Martin Luther. Manchmal sind sie stolz und schön, wie Königin Luise, sie können aber auch kaltherzig und abweisend sein, wie die Mutter von Wilhelm II. Erst in der zweiten Staffel werden zwei Frauen eigenständige Sendungen gewidmet: der Heiligen Hildegard von Bingen als herausragenden Frau des Mittelalters und Rosa Luxemburg, dem Gründungsmitglied der KPD. Zwei Personen der „Deutschen“ stehen für die demokratische Tradition Deutschlands: Robert Blum und Gustav Stresemann. In der Redaktion sah man sich diesen Vorbildern der deutschen Demokratie verpflichtet und widmete ihnen jeweils eine Folge, auch wenn diese die niedrigsten Zuschauerquoten ihrer

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jeweiligen Staffel hatten. Blum und Stresemann werden ganz im Sinne ihres Vorbildcharakters gezeichnet, ihre Darstellungen fallen weit weniger ambivalent aus als die anderer Protagonisten. Was deutlich werden soll, ist ihr unermüdlicher Einsatz für ein demokratisches Deutschland, der letztendlich auch ihr Leben forderte. Das demokratische Gedankengut ist also keineswegs das Produkt der Nachkriegszeit, so die Botschaft.

Die visuelle Umsetzung der Geschichte Das Geschichtsfernsehen der Prime Time gründet sich auf Personalisierung, Emotionalisierung und Dramatisierung. Sie bilden die Schlagwörter, unter denen sich Produktionen am Geschichtsmarkt positionieren und auch dem Konkurrenzdruck ihres Sendeplatzes standhalten müssen. Sie bestimmen die Ausgestaltung der Produktion bis zum Einsatz der Musik, der Kamera und der Schnittfrequenz. Es muss ein historisches Drama entstehen, welches das Publikum fesselt. Der Medienhistoriker Edgar Lersch weist darauf hin, dass sich das ästhetische Formenarsenal von Geschichtsdokumentationen schon seit Jahrzehnten immer derselben Mittel bedient, allein das Mischungsverhältnis und das Tempo haben sich verändert, um sich den geänderten Nutzungsgewohnheiten der Zuschauer anzupassen.23 Wirklich neu ist meist nur die verbesserte technische Umsetzung. Die vier Basiselemente der gegenwärtigen historischen Dokumentationen sind der Sinn vermittelnde Kommentar, die Zeitzeugenaussage (falls vorhanden), die Bildpräsentation und die szenische Rekonstruktion, auch szenisches „Nachempfinden“ (Spielfilmszenen) genannt.24 Robert Toplin hat darüber hinaus weitere Merkmale filmischer Geschichtsdarstellungen herausgearbeitet: die Vereinfachung historischer Zusammenhänge, die Exklusion historischer Details, die Orientierung am klassischen Drei-Akt-Schema, eine parteiische und bewertende Sichtweise auf die Vergangenheit sowie klar zu identifizierende Helden und Gegenspieler. Damit in Verbindung stehen moralisch eindeutige Geschichten über Gut und Böse, eine Vereinfachung von Plots durch wenige repräsentative Charaktere, die Schaffung von Gegenwartsbezügen, die Integration romantischer Geschichten sowie die Herstellung eines spezifischen Geschichtsgefühls durch die Nachbildung von Details früherer Zeiten.25 23 Lersch, Edgar : Zur Geschichte dokumentarischer Formen und ihrer ästhetischen Gestaltung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, in: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hrsg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz: UVK 2008, S. 109 – 136, hier S. 91. 24 Lersch/Viehoff: Geschichte im Fernsehen, a. a. O., S. 26. 25 Ebbrecht, Tobias: Geschichte, in: Vollbracht, Ralf/Wegener, Claudia (Hrsg.): Handbuch

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In „Die Deutschen“ gibt es wie in jeder Produktion der „Zeitgeschichte“Redaktion den allwissenden Kommentator und einen Zusammenschnitt von Aufnahmen historischer Orte, Gebäude, Dokumente usw. Zeitzeugenaussagen konnte es für die Reihe allerdings nicht geben. Man entschied sich dafür, die Arbeit mit Historikern, die als wissenschaftliche Berater fungierten, und anderen Fachwissenschaftlern auszuweiten und Interviews mit ihnen zu führen. Ausschnitte davon haben in der Dokumentation eine kommentierende Funktion. Dadurch gewinnt die Produktion an Seriosität und Authentizität, gleichzeitig sollte den Wissenschaftlern eine Plattform geboten werden, um mit dem Medium Fernsehen zu arbeiten und ihre Forschung damit einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die Kooperation mit etwa dreißig Experten ist nicht das einzige Novum in dieser Reihe. Sie wurde so aufwendig gestaltet wie keine andere Dokumentarreihe des ZDF vor ihr, untermalt mit etlichen Computeranimationen und aufwendigen Spielszenen. Gerade für „Die Deutschen“ wurde durchgängig mit „szenischen Zitaten“ gearbeitet, die zentraler Baustein der Serie sind. Für den Großteil der Folgen war kein originales filmisches Material vorhanden. Im Gegensatz zu Filmmaterial, das aus dem sendereigenen Archiv verwendet werden kann, sind Schauspielszenen kostenintensiver : Kostüme, Komparsen, die Miete für Drehorte und professionelle Schauspieler wären in solchem Umfang z. B. für Produktionen der Dritten Programme unerschwinglich. Das ZDF hingegen konnte sogar bekannte Schauspieler wie Stefan Jürgens und Udo Schenk engagieren.26 Dies wird einen Teil dazu beigetragen haben, dass eine Folge bis zu eine halbe Million Euro gekostet hat.27 Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung der Sendereihe gab es keine besseren Animationen und Visual Effects in internationalen Dokumentationen.28 In vielerlei Hinsicht orientierten sich die Produzenten an den großen TV-Events, was die digitale Bearbeitung der Massenszenen, historischen Stadtbilder oder auch Karten anbelangt. Um den Zuschauern aus filmästhetischer Sicht das zu bieten, was sie aus Kinosälen gewohnt sind, wurden Spannungseffekte und schnelle Schnitte genutzt, sodass sich einige Szenen einer Videoclip-Ästhetik annähern. Mediensozialisation, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 341 – 348, hier S. 343. 26 Beide Schauspieler haben in einer Vielzahl deutscher Kinofilme mitgespielt. Stefan Jürgens ist daneben bekannt durch Auftritte im „Tatort“ und wurde mit dem Bambi ausgezeichnet. Udo Schenk ist Synchronsprecher diverser amerikanischer Schauspieler. 27 Kellerhoff, Sven Felix: Tausend Jahre Geschichte als TV-Serie verpackt, in: Welt Online, 25. 01. 2008, URL: http://www.welt.de/fernsehen/article2621844/Tausend-Jahre-Geschichteals-TV-Serieverpackt.html (09. 08. 2011). 28 Arens, Peter : Zur ZDF-Doku „Die Deutschen“: Lasst uns gelassener sein, in: Süddeutsche Online, 15. 11. 2008, URL: http://www.sueddeutsche.de/kultur/zur-zdf-doku-die-deutschenlasst-uns-gelassener-sein-1.555998 (14. 03. 2011).

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Auch wenn das in Hinblick auf den Anspruch an Bildungsfernsehen befremdlich wirkt, so ist dies nur die konsequente Umsetzung von Guido Knopps Devise „Aufklärung braucht Reichweite“29, denn das Publikum ist eine bestimmte Reizdichte gewöhnt. Insbesondere die „Entscheidungsschlachten“ erinnern oft an einschlägige Kinofilme. Dabei sorgen solche Szenen nicht nur für Spannung, sie sind auch für den „Rucksack der Identität“ von Bedeutung. Die deutsche Geschichte wird als Kampffeld dargestellt. Die besagte Gegenüberstellung von Helden und Gegenspielern fällt besonders bei einem Sendeformat wie „Die Deutschen“ ins Auge: „Geschichte erscheint wieder als Geschichte großer Männer und Abfolge bedeutender Schlachten.“30 Dies gilt zwar als wissenschaftlich überholt; Strukturen und Strömungen in Komplexität und Kontext darzustellen (z. B. Mentalitätsgeschichte o. ä.), ist aber oftmals langatmig und spannungslos. Strukturgeschichte ist nur schwer verfilmbar. Gefragt im Geschichtsfernsehen sind Stoffe, die sich als geschlossene Stücke erzählen lassen. Der Journalist Fritz Wolf resümiert, dass kein Interesse an einer Erzählkultur der offenen Fragen, Brüche und Widersprüche bestehen würde.31 Guido Knopp betont selbst, dass die modernen medialen Dokumentationen nicht ohne Emotionen auskommen können. Ein emotionales Spektrum lässt sich viel leichter durch Einzelpersonen oder schicksalhafte Momente transportieren als etwa durch komplexe, mehrdimensionale Prozesse. Zuschauererfolge werden für die Redakteure nur über das Element Spannung erzielt.32 Geschichte soll sinnlich erfahrbar sein, denn erst dann könne es im Idealfall Neugier, Anteilnahme und Betroffenheit auslösen.33 Daher soll die Darstellung der Protagonisten konsequent dramatisch und emotional verlaufen, auch wenn dies natürlich eine nüchterne Beantwortung der Leitfragen „Wer sind wir?“ und „Woher kommen wir?“ konterkariert. Vielerlei Episoden aus dem Leben der Hauptfiguren haben keinerlei Relevanz für die Gegenwart Deutschlands. Die Produzenten folgen jedoch der Fernsehlogik. Daraus ergibt sich ein 29 Zitiert nach Linne, Karsten: Hitler als Quotenbringer. Guido Knopps mediale Erfolge, in: 1999, Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 17 (2002) 2, S. 90 – 101, hier S. 92. 30 Wolf, Fritz: Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen. Eine Fortschreibung der Studie „Alles Doku – oder was. Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen“, Redemanuskript, Düsseldorf 2005, S. 1 – 19, hier S. 13, URL: http://www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/wolf_dokuform/wolf_dokuform.pdf (23. 20. 2010). 31 Wolf: Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen, a. a. O. 32 Winkler, Tobias: „Das Thema Hitler ist abgehandelt.“ Interview mit ZDF-Historiker Guido Knopp, URL: http://www.medienhandbuch.de/news/das-thema-hitler-ist-abgehandelt-interview-mit-zdf-historiker-guido-knopp-8065.htm (23. 06. 2009). 33 Gehrmann, Alva: „Wir legen viel Wert auf Authentizität.“ Interview mit Guido Knopp, in: Das Parlament, Nr. 42, 17. 10. 2005, URL: http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=1717& id=1149 (13. 09. 2010).

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Fokus auf Liebesgeschichten, innere Konflikte (getrieben sein, Überheblichkeit, Gewissensbisse) und schicksalhafte Begebenheiten (wie z. B. das fehlgeschlagene Attentat auf Bismarck). Die Darstellungskonventionen des Fernsehens entscheiden im großen Maße über Erfolg oder Misserfolg einer Produktion. Das gilt in besonderer Weise für das jugendliche Publikum. Das Schicksal (der Platz im Leben), der Kampf (gegen Feinde, um Macht) und die Liebe (Sexualität im Allgemeinen oder auch Verehrung) sind Motive, die einen Film oder eine Fernsehsendung erfolgreich machen. Es sind allgemeingültige, universelle und überzeitliche Motive. So bauen historische Stoffe auf ahistorischen „Basismotiven“ auf.34 Die Hauptdarsteller begegnen dem Zuschauer zwar im historischen Gewand, geben ihm jedoch das Gefühl, ihre Sorgen und Herausforderungen seien den Problemen im 21. Jahrhundert erstaunlich ähnlich. Mit ihren Sehnsüchten, ihrer Zerrissenheit, den Intrigen und Nöten schaffen sie immer auch eine emotionale Nähe. Auf den Sendeplätzen zur Prime Time kommen die ökonomischen Zwänge besonders stark zum Tragen, da auch das öffentliche Fernsehen ein Massenpublikum erreichen will und muss. So bemerkt Guido Knopp in einem Interview: „Wenn Sie um 20:15 Uhr historische Themen anbieten, dann unter der Maßgabe, dass Geschichte spannender sein kann, als jeder Krimi […].“35 Die Konkurrenz zu den parallel laufenden Unterhaltungsprogrammen wird in dieser Aussage deutlich. Mit seiner Einschätzung liegt Knopp aber auch dicht an den Bedürfnissen des Publikums. In Zuschaueraussagen wurde oft genau dies unterstrichen: Das Fernsehen dürfe nicht langweilen und dies stehe durchaus nicht im Widerspruch zu einem Lerneffekt, vielmehr sollen Zuschauer durch Geschichtsfernsehen entspannen und lernen zugleich.36 Laut Fritz Wolf bedient sich das deutsche Fernsehen der modernsten narrativen Mittel, propagiert jedoch ein altes Geschichtsdenken. Es setzt auf vertraute Erzählmuster.37 Die eingängigen Darstellungsweisen eines Großteils des Geschichtsfernsehens haben sich beim Publikum etabliert und schaffen Erwartungshaltungen. Durch die mediale Wiederholung von Geschichtsbildern entstehen zusätzliche Bezugspunkte für die eigenen historischen Erfahrungen. Die Gestaltung einer Produktion ist von großer Wichtigkeit für die Akzeptanz beim Publikum: Es muss „konsumierbar“ sein. Da nur ein Drittel der Zuschauer eine Sendung gezielt einschaltet, stehen die Produzenten unter dem Druck, die 34 Berghaus: Geschichtsbilder. Der „iconic turn“ als „re-turn“ zu archaischen visuellen Erlebniswelten, a. a. O., S. 17. 35 Zitiert nach: Wirtz, Rainer : Alles authentisch: so war’s. Geschichte im Fernsehen oder TV History, in: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hrsg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz: UVK 2008, S. 9 – 32, hier S. 9. 36 Meyen: Was wollen die Zuschauer sehen?, a. a. O., S. 71. 37 Wolf: Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form in Fernsehen, a. a. O., S. 13.

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zwei Drittel der Zuschauer, die nur zufällig einschalten oder im Programm hängen bleiben, durch die Machart der Sendung zu binden.38

Vermarktung und Erfolg von „Die Deutschen“ Die Produktionen Guido Knopps sind zwar mittlerweile als Marke etabliert, die Vermarktung der Reihe „Die Deutschen“ wurde jedoch in unübliche Dimensionen ausgeweitet, die sich jenseits des herkömmlichen Verkaufs von Begleitbüchern und DVD-Boxen bewegte. Das ZDF setzte zur Bewerbung der Sendereihe eine Medienlawine in Gang und platzierte die Produkte zur Reihe in der Vorweihnachtszeit. Gezielte Marketingaktionen sollten den Erfolg beim Publikum absichern. Dazu wurde auf einen Mix aus Anzeigenwerbung, Onlineangeboten und Voraus- bzw. Begleitsendungen gesetzt.39 In der Anzeigenwerbung für die Printmedien und den Plakatierungen für die Reihe wurden z. B. einige Protagonisten mit jugendlichen, zeitgenössischen Attributen versehen: Otto von Bismarck trägt eine Sonnenbrille und macht eine Kaugummiblase, Hildegard von Bingen rasiert sich die Beine, August der Starke wird tätowiert in einer Lederweste gezeigt und Karl der Große verspeist eine Pizza. Der Slogan der Werbung lautete: „Wer wir waren, wer wir sind.“ Bereits in der Werbekampagne wurde auf den Aspekt der Identitätsfindung hingewiesen, ja sogar ausdrücklich damit geworben: Wer sich mit seiner Vergangenheit beschäftigt, wird auch herausfinden können, wer er ist. Als PR-Aktion wurde die Vergangenheit in die Gegenwart geholt und mit Anachronismen versehen. Die Eigenwerbung wurde auch auf andere Programme des Senders ausgedehnt, so berichteten die eigenen Nachrichtenmagazine (wie das heute-journal) über den Erfolg der Fernsehreihe, schließlich hatten die Folge zu Otto dem Großen fast 6,5 Millionen Zuschauer gesehen.40 Nicht nur hinsichtlich der Höhe der Produktionskosten waren „Die Deutschen“ eine große Investition. Gleichzeitig wurde ein eigenes interaktives Online-Modul aufgebaut und in die ZDFMediathek integriert. Hier können alle Einzelfolgen und Trailer abgerufen und die Historikerinterviews in voller Länge gesehen werden, es gibt ein Quiz, ein 38 Reichhold, Klaus/Endl, Thomas: Krakau mit kleinem Licht, und den Henker mach’ ich selber. Zur Praxis historischer Fernsehdokumentationen, in: Lindner, Martin (Hrsg.): Drehbuch Geschichte. Die antike Welt im Film, a. a. O., S. 25 – 49, hier S. 26. 39 Hömberg, Walter : Die Aktualität der Vergangenheit. Konturen des Geschichtsjournalismus, in: Arnold, Klaus/Hömberg, Walter/Kinnebrock, Susanne (Hrsg.): Geschichtsjournalismus. Zwischen Information und Inszenierung, Münster : LIT Verlag 2010, S. 15 – 30, hier S. 25. 40 Krekeler, Elmar : „Die Deutschen“ und das stinkende Eigenlob, in: Welt Online, 29. 01. 2008, URL: http://www.welt.de/fernsehen/article2643911/Die-Deutschen-und-das-stinkende-Eigenlob.html? (13. 11. 2011).

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Forum zum Austausch mit anderen Zuschauern und interaktive Karten mit Zusatzmaterial. Das gesamte Angebot findet man ebenfalls in Wissenssendungen wie „Terra X“. Die Seiten sind professionell gestaltet und leicht zu navigieren, jeder Nutzer kann sich individuell nach seinen Wünschen entweder nur einen kurzen Überblick verschaffen oder intensiver mit dem Thema beschäftigen. Erstmalig wurde dem interessierten Publikum ein solch breites Angebot für eine Dokumentationsreihe zur Verfügung gestellt, wobei dies auch auf die Verbesserung der technischen Möglichkeiten zurückzuführen ist. So wird die Dokumentationsreihe nicht nur einmal ausgestrahlt und dann auf anderen Sendeplätzen oder Sendern wiederholt, sie ist dauerhaft abrufbar und für den Nutzer, dem eine „virtuelle Zeitreise“ geboten wird, immer präsent. In einer Zeit, in der Jugendliche als „digital natives“ bezeichnet werden, sollte nicht hinter das Internet zurückgefallen werden. Das ZDF hat seine Reichweite mit der Pionierarbeit in der Mediathek enorm erhöht und damit auch vielversprechende Wege der Vermarktung gefunden. Die Dokumentationsreihe wurde auch als Bildungsangebot konzipiert. In einer Kooperation mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands wurden für die Einzelfolgen zusätzliche Unterrichtsmaterialien erarbeitet, die ebenfalls online in der Mediathek zur Verfügung stehen. Dadurch wird dem Bildungsauftrag des Senders nachgekommen und ein junges Publikum an die eigenen Formate herangeführt. Nicht nur die Wohnzimmer Deutschlands werden erreicht, sondern auch die Klassenräume, in denen mithilfe der Folgen Geschichte vermittelt und abgefragt wird. „Die Dokumentarreihe ,Die Deutschen‘ hat auf dem Gebiet historischer Themen die Grundlage für eine nachhaltige Zusammenarbeit zwischen dem ZDF und den Schulen geschaffen.“41 Zweifelsohne wurden für dieses Projekt materielle und personelle Investitionen im großen Stil getätigt. Daher erscheint die Aussage im ZDF-Jahrbuch, man hätte mit dem Erfolg nicht gerechnet, wenig glaubhaft.42 Zumindest wurde das Bestmögliche dafür getan und so wenig wie möglich dem Zufall überlassen. Die erste Staffel war in der Tat ein Erfolg mit einer Durchschnittsquote von 5,1 Millionen Zuschauern (und konnte damit an die Erfolge der Hitler-Reihen aus den 1990er Jahren anknüpfen), wohingegen die nachfolgende Staffel einen Schnitt von nur noch vier Millionen Zuschauern aufweisen konnte. Auch die Online-Angebote zur Sendung fanden positiven Anklang. Das Video zu Otto

41 „Dokumentarreihe ,Die Deutschen‘ setzt Standards für Zusammenarbeit mit Schulen“, Pressemitteilung der ZDF-Pressestelle, 12. 12. 2008, URL: http://www.unternehmen.zdf.de/ uploads/media/FSR-Die_Deutschen_-_1212_01.pdf (14. 06. 2011). 42 Arens, Peter : „Die Deutschen“, in: ZDF Jahrbuch, Band 45, Mainz 2008, S. 143 – 146, hier S. 143.

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dem Großen war das erfolgreichste seines Jahres in der ZDF-Mediathek.43 „Die Deutschen“ finden sich als Zugabe zum Zeitungsabo, auf YouTube und mit eigenem Wikipedia-Eintrag. Die Investition scheint sich gelohnt zu haben.

„Die Deutschen“ – Ein neues mythisches Narrativ? Die Redaktion stieß mit ihrer Produktion auf eine große Resonanz beim Publikum Vor allem die jüngeren Generationen scheinen mehr von ihrer Geschichte wissen zu wollen, dabei blicken sie über 1933 hinaus. Mit den umfangreichen Beiträgen zum Dritten Reich und der neuen Ausrichtung auf die ältere Vergangenheit Deutschlands wurde eine Brücke geschlagen. Guido Knopp hatte schon vorher in dieser Hinsicht mit seinen erfolgreichen Hitler-Reihen den Gap zwischen Vergangenheit und Gegenwart ausgefüllt. Mit „Die Deutschen“ wurde der Bruch des Zweiten Weltkriegs teilweise überwunden. Der Nationalsozialismus wird als ein Kapitel der deutschen Geschichte, nicht aber als das Kapitel dargestellt. Generell hat sich in Deutschland seit der Wiedervereinigung eine veränderte Sicht des eigenen Lands durchgesetzt. Es ist gerade dieses neue Nationalbewusstsein, das auch Interesse an der deutschen Geschichte vor Hitler und dem Zweiten Weltkrieg bewirkt. Ein neues deutsches Selbstbewusstsein trifft somit auf die Frage nach Selbstverortung und bildete das Fundament für die mediale Umsetzung und die Wirkung der Reihe „Die Deutschen“. Nach Aussagen von Guido Knopp und Peter Arens ging es bei „Die Deutschen“ nicht um die Fixierung auf das Nationale, sondern um die Vermittlung der langen föderalen Tradition, das Ringen um Einheit und Freiheit im internationalen Kontext und natürlich um die „lange unerfüllten Hoffnungen und Ziele unserer Geschichte – Einheit, Freiheit und Frieden“. Dies alles sollte widergespiegelt werden.44 Die Aussage, dass es ein Ziel der Geschichte gäbe, impliziert eine Ganzheitlichkeit der Geschichte. Vergangenheit und Zukunft werden dadurch miteinander verbunden. Mit Sicherheit ist davon auszugehen, dass aufgrund der großen Reichweite der Sendungen und des etablierten Stils ein Einfluss auf die deutsche Erinnerungskultur und das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung ausgemacht werden kann. Besonders konstruktivistische Medientheoretiker gehen davon aus, dass das Fernsehen ein „Erinnerungsgenerator“ ist.45 Gerade bezüglich dieser „weit 43 „Dokumentarreihe ,Die Deutschen‘ setzt Standards für Zusammenarbeit mit Schulen“, Pressemitteilung der ZDF-Pressestelle, a. a. O. 44 Arens: „Die Deutschen“, a. a. O., S. 143. 45 Handro, Saskia: „Erinnern sie sich…“ Zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Fernsehen, in: Popp, Susanne/Sauer, Michael/Alavi, Bettina/Demantowsky, Marko/Paul, Gerhard (Hrsg.):

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entfernten“ Vergangenheit gibt es kaum Bilder z. B. von Karl dem Großen oder Heinrich IV., welche in der Erinnerung der Menschen mit anderen Darstellungen der Person konkurrieren müssten. Aber bei allen Spekulationen darüber, wie viel oder wie wenig Einfluss eine Fernsehsendung auf ein Geschichtsbild hat – und empirische Befunde dazu fehlen noch –, muss man sich doch stets darüber im Klaren sein, dass die Bilder einer solchen Reihe nicht ungefiltert auf den Zuschauer übergehen. Der Prozess der Rezeption ist weitaus komplexer und von unterschiedlichsten Faktoren abhängig. Die Verarbeitung von Fernsehbildern ist immer im Kontext zu sehen, z. B. von individuellen Faktoren wie Wissensstand oder der Frage, ob die Sendung allein oder in Gesellschaft angeschaut wird, ob und welche Anschlusskommunikation es gibt und vieles mehr. Daher sollten Rückschlüsse auf die Beeinflussung der Massen durch solche Formate eher vorsichtig formuliert werden. Es liegt auf der Hand, dass mit einigen kurzen Ausflügen in die deutsche Vergangenheit die Frage nach Herkunft und Identität nicht umfassend beantwortet werden kann. Diese Fragen sind Appetitanreger für den Zuschauer – erfüllen sie ihren Zweck, haben die Produzenten alles richtig gemacht. Der Erfolg der Sendereihe beweist, wie gut Letztere die Stimmung in der Bevölkerung deuten konnten, eine deutsche Geschichte jenseits des Zweiten Weltkriegs zu präsentieren, eine Geschichte, die viel länger und reicher ist. Auch wenn die alten Nationalmythen und Helden für die Bevölkerung nicht mehr sinnstiftend sind, so bringen sie doch Struktur in die Vergangenheit des Landes. Mit ihnen lassen sich Ereignisse und Orte verbinden und das Vergangene mit Bedeutung füllen.46 So wie der politische Mythos ein Instrument ist, die Welt zu verstehen, und von der Entstehung einer Gemeinschaft erzählt, so wird auch bei „Die Deutschen“ von den Ursprüngen des Landes erzählt.47 Die Sendereihe will die Fundamente unserer heutigen Gemeinschaft erkunden und zeigt den Bürgern Gemeinsamkeiten ihrer Herkunft auf. Der Titel „Die Deutschen“ brachte der Redaktion Kritik ein. Auch wenn für einen Titel solche Verkürzungen notwendig zu sein scheinen, gibt es natürlich keine homogene Einheit der Deutschen als solche.48 Dass viele der szenischen Zitate der Folgen mangels Quellen eben keine Zitate, sondern reine Erfindung Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung, Göttingen: V& R Unipress 2010, S. 201 – 218, hier S. 217. 46 Münkler, Herfried: Geschichtsmythen und Erinnerung, Dossier Geschichte und Erinnerung der Bundeszentrale für politische Bildung, URL: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39792/geschichtsmythen?p=all (29. 06. 2012). 47 Bizeul, Yves: Theorien der politischen Mythen und Rituale, in: Bizeul, Yves (Hrsg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin: Duncker & Humboldt 2000, S. 15 – 39, hier S. 15 ff. 48 Vielmehr handelt es sich bei dieser Bezeichnung um ein Konstrukt, welches vor allem im 19. und 20. Jahrhundert wirkmächtig war.

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sind, läuft dem wissenschaftlichen Anspruch ebenfalls zuwider, nicht jedoch dem Ziel, ein massentaugliches Format zu liefern. Dabei ist die Annahme, Geschichte werde von großen Männern gestaltet und stoße dem Rest der Bevölkerung einfach zu, ein antiquiertes Geschichtsverständnis, welches die Wissenschaft lange hinter sich gelassen hat. Wo bleiben „Die Deutschen“, wenn es im Grunde genommen nur ein paar Stellvertreter sind, denen sich genähert wird? Doch lässt sich in diesen personifizierten Geschichten das Ringen der Menschen (z. T. auch der Kampf von Gut gegen Böse) am effektvollsten veranschaulichen: Otto gegen die Ungarn, Luther gegen Karl V. oder Stresemann gegen die Nazis. Mit ihren Leistungen kann sich auch das Kollektiv identifizieren, auch wenn dieser Darstellungszwang eine moderne Sicht auf die Geschichte verwehrt – eine, die komplex, grenzübergreifend und kontrovers ist. Die Reihe bewegt sich in den bekannten Schemata und erfüllt die Erwartungshaltung an seine Gestaltung, die von den Produzenten zum Teil selbst geschaffen wurde. Der Sehnsucht, in der Geschichte etwas über seine Identität zu erfahren, in ihr einen Sinn zu generieren, der auch Hoffnung für die Zukunft gibt, wird in der Serie mit der Geschichte einer jahrhundertelangen Anstrengung um ein spätes Glück begegnet. Dem deutschen Volk sei es allezeit darum gegangen, zusammenzuwachsen. Stets wird darauf hingewiesen, worin die einenden Momente für die Deutschen bestanden hätten, sei es im geteilten Leid oder im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind. Die deutsche Geschichte ist dann doch ein Weg, der wohl zu mancher Zeit schwierig war, der nun aber endlich zu dem führte, was über Jahrhunderte ausgefochten wurde. Die historischen Krisen der Vergangenheit mussten überwunden werden, damit die erstrebte Ordnung im Land wahr werden konnte. Es kann den Redakteuren und Autoren unterstellt werden, dass sie zum Ausdruck bringen wollten, dass die Geschichte der „Deutschen“ mit all ihren Wendungen nur ein Ziel vor Augen hatte: die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit. Schon in der Vergangenheit strebten die Einwohner der deutschen Lande nach den gesellschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart. Darum kämpfte anscheinend bereits der Priester und Revolutionär Thomas Müntzer im Bauernkrieg 1525: „Der Traum von Freiheit und Gleichheit sollte in Deutschland erst Jahrhunderte später in Erfüllung gehen.“49 Die demokratische Tradition Deutschlands wird mit der Präsentation von Robert Blum und Gustav Stresemann betont – ein demokratisches Erbe, das es zu bewahren gilt, für das diese Männer ihr Leben gaben, um nun selbst zu neuen mythischen Figuren zu werden. So weist Yves Bizeul darauf hin: „Nationale 49 „Die Deutschen“, Thomas Müntzer und der Krieg der Bauern, URL: http://www.zdf.de/ ZDFmediathek/kanaluebersicht/ aktuellste/565650#/beitrag/video/1184826/Folge-5:-Thomas-M%C3 %BCntzer, 42:51 – 42:57 (20. 06. 2012).

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Mythen erzählen von der Aufopferungsbereitschaft der Vorfahren für das Gemeinwesen.“50 Diese herausragenden Personen stehen für einen anderen Befreiungskampf, sie setzten sich für eine neue politische Ordnung ein. Das System, in dem wir heute leben, wurde von Generationen von Deutschen erträumt und erhofft, wir müssen es stützen, verteidigen und dürfen uns vor allem glücklich schätzen, in dieser jetzigen Zeit zu leben. Erinnerungsarbeit ist auch eine Pflicht und wenn eine Redaktion politischen Personen wie Blum und Stresemann eine filmische Aufarbeitung ihrer Verdienste zuteilwerden lässt, dann auch, weil sie Erinnerung und Bewusstsein für ein demokratisches Deutschland schaffen will. Die mythische Verklärung dieses langen Wegs durch die Jahrhunderte kann als Demokratieerziehung angesehen werden, sie legitimiert zumindest das gegenwärtige politische System. Auch wenn die Protagonisten nicht verklärt werden sollten, so ist der mythische Moment im Narrativ der „Deutschen“ der lange Weg der Bevölkerung zu einem geeinten, freiheitlichen und friedlichen Deutschland. Die Dokumentationsreihe stellt für die deutsche Geschichte eine Ordnung her, sie stiftet Sinn durch die Erzählung, einen historischen Glücksmoment erreicht zu haben. Gefragt wurde danach, wie Identifikation und Orientierung aus der Geschichte gezogen werden können, und die Botschaft ist positiv : Was „damals“ noch nicht geschafft werden konnte, ist heute Realität. Die Ziele der Schlachten und der Kämpfe der Vergangenheit erfüllen sich im heutigen Deutschland. Es bietet seiner Bevölkerung ein positives Selbstbild: In einer solch glücklichen Situation hat sich das Land noch niemals befunden, dieses Gefühl sollte sich auf die Menschen übertragen.

Bibliographie Berghaus, Margot: Geschichtsbilder. Der „iconic turn“ als „re-turn“ zu archaischen visuellen Erlebniswelten, in: Lindner, Martin (Hrsg.): Drehbuch Geschichte. Die antike Welt im Film, Münster : LIT Verlag 2005, S. 10 – 24. Bizeul, Yves: Theorien der politischen Mythen und Rituale, in: Ders. (Hrsg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin: Duncker & Humboldt 2000, S. 15 – 39. Bösch, Frank: Audiovisuelle Geschichtsschreibung. Fernsehnarrative in Ost- und Westeuropa, Justus-Liebig-Universität Gießen, LOEWE-Scherpunkt, URL: http://www.unigiessen.de/cms/fbz/fb04/institute/geschichte/fachjournalistik/loewe (08. 01. 2012). Brockmann, Andrea: Erinnerungsarbeit im Fernsehen. Das Beispiel des 17. Juni 1953, Köln: Böhlau Verlag 2006. 50 Bizeul: Theorien der politischen Mythen und Rituale, a. a. O., hier S. 17.

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Ebbrecht, Tobias: Geschichte, in: Vollbracht, Ralf/Wegener, Claudia (Hrsg.): Handbuch Mediensozialisation, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 341 – 348. Gronau, Martin: Der Film als Ort der Geschichts(de)konstruktion. Reflexionen zu einer geschichtswissenschaftlichen Filmanalyse, in: AEON, Forum für junge Geschichtswissenschaft, 1 (2009), URL: http://wissens-werk.de/index.php/aeon/article/ viewFile/ 10/pdf_3 (28. 01. 2012). Handro, Saskia: Mutationen. Geschichte im kommerziellen Fernsehen, in: Oswalt, Vadim/ Pandel, Hans-Jürgen (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach: Wochenschau Verlag 2009, S. 75 – 97. Handro, Saskia: „Erinnern Sie sich…“ Zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Fernsehen, in: Popp, Susanne/Sauer, Michael/Alavi, Bettina/Demantowsky, Marko/Paul, Gerhard (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung, Göttingen: V& R Unipress 2010, S. 201 – 218. Hoffmann, Hilde: Geschichte und Film – Film und Geschichte, in: Horn, Sabine/Sauer, Michael (Hrsg.): Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S, 135 – 143. Hömberg, Walter: Die Aktualität der Vergangenheit. Konturen des Geschichtsjournalismus, in: Arnold, Klaus/Hömberg, Walter/Kinnebrock, Susanne (Hrsg.): Geschichtsjournalismus. Zwischen Information und Inszenierung, Münster : LIT Verlag 2010, S. 15 – 30. Jones, Priska: Visuelle Repräsentationen im politischen Kontext: Formen und Funktionen, in: Baberowski, Jörg (Hrsg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft?, Frankfurt am Main: Campus 2010, S. 63 – 78. Keupp, Heiner : Sich selber finden: Identitätskonstruktionen heute und welche Ressourcen in Familie und Gesellschaft sie benötigen, URL: http://www.ipp-muenchen.de/texte/ sich_selber_finden.pdf (05. 04. 2009). Lersch, Edgar : Zur Geschichte dokumentarischer Formen und ihrer ästhetischen Gestaltung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, in: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hrsg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz: UVK 2008, S. 109 – 136. Lersch, Edgar/Viehoff, Reinhold: Geschichte im Fernsehen. Eine Untersuchung zur Entwicklung des Genres und der Gattungsästhetik geschichtlicher Darstellungen im Fernsehen 1995 – 2003, Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Bd. 54, Düsseldorf: VISTAS 2007. Linne, Karsten: Hitler als Quotenbringer. Guido Knopps mediale Erfolge, in: 1999, Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 17 (2002) 2, S. 90 – 101. Meyen, Michael: Was wollen die Zuschauer sehen? Erwartungen des Publikums an Geschichtsformate im Fernsehen, in: Drews, Albert (Hrsg.): Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm, RehburgLoccum: Evangelische Akademie 2008, S. 55 – 73. Münkler, Herfried: Geschichtsmythen und Erinnerung, Dossier Geschichte und Erinnerung der Bundeszentrale für politische Bildung, URL: http://www.bpb.de/geschichte/ zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39792/geschichts mythen p=all (29. 06. 2012). Reichhold, Klaus/Endl, Thomas: Krakau mit kleinem Licht, und den Henker mach’ ich

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selber. Zur Praxis historischer Fernsehdokumentationen, in: Lindner, Martin (Hrsg.): Drehbuch Geschichte. Die antike Welt im Film, Münster : LIT Verlag 2005, S. 25 – 49. Rüsen, Jörn: Geschichtsbewusstsein und menschliche Identität. Gefahren und Chancen der Geschichtsschreibung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 41 (1984), S. 3 – 10. Schönhoven, Klaus: Geschichtspolitik: Über den öffentlichen Umgang mit Geschichte und Erinnerung, Gesprächskreis Geschichte, Heft 49, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 2003. Sorlin, Pierre: Fernsehen: Ein anderes Verständnis von Geschichte, in: Küttler, Wolfgang/ Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst (Hrsg.): Geschichtsdiskurs in 5 Bänden: Globale Konflikte., Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Geschichtsdiskurs, Bd. 5, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, S. 314 – 333. Wirtz, Rainer : Alles authentisch: so war’s. Geschichte im Fernsehen oder TV History, in: Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hrsg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz: UVK 2008, S. 9 – 32. Wirtz, Rainer : Irgendwas mit Medien – Irgendwas mit Geschichte. Einige Folgen des Gebrauchs von Geschichte durch das Fernsehen, Konstanz: UVK 2010. Wolf, Fritz: Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen. Eine Fortschreibung der Studie „Alles Doku – oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen“, Redemanuskript, Düsseldorf 2005, S. 1 – 19, URL: http://www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/wolf_dokuform/wolf_dokuform.pdf (23. 02. 2010).

Irene Götz (München)

Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989. Einige Streiflichter auf die Pluralisierung und Informalisierung eines polyvalenten Konzeptes

Überall in Europa zeigen sich identitätspolitische Diskurse, nationale Praktiken und Repräsentationen in Zeiten der Globalisierung, Europäischen Einigung und Migration – oft als Gegenbewegung gegen Transnationalismus, Transformation und Entgrenzung. Auch in Deutschland lässt sich nach 1990 ein pluraler gewordener Umgang mit nationalen Selbst- und Fremdbildern in Politik und Alltag beobachten. Zu nennen sind hier, besonders augenfällig, das fröhliche Flaggezeigen in den Fußballarenen, aber auch ernste Debatten um „Leitkultur“ und nationale Identitätsbestimmung in einem wiedervereinigten Einwanderungsland, in dem auch das „kulturelle Erbe“ der Einwanderer wie der Ostdeutschen zu integrieren ist. Zu denken ist – im Zusammenhang der nationalen Selbstfindung und Neujustierung dieses wieder einflussreichen Staates in Europa – an Jubiläen und Einheitsfeiern, an Ausstellungen und neu gegründete Museen und Gedenkstätten, die zur Auseinandersetzung mit den beiden Bezugspunkten deutscher Erinnerungskultur herausfordern. Dies sind weiterhin die NS-Geschichte und in jüngerer Zeit auch die Suche nach einer ausgewogenen Präsentation der DDR zwischen Diktaturgeschichte und persönlichem Alltagserleben. Zu denken ist überdies auch an ein Revival des Wirtschaftspatriotismus in Zeiten der Staaten-, Finanzmarkt- oder Eurokrise, ferner an Kampagnen, die die Nation mit ihren Produkten und Ideen als spezifische Marke und Standort im europäischen Staatenreigen positionieren. Diese unterschiedlichen Beispiele geben Einblick in die vielfältig gewordenen und jeweils kontextspezifischen Semantiken, Vermittlungs- und Ausdrucksformen, die sich mit dem Nationalen gegenwärtig in Deutschland verbinden.

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Irene Götz

Neue Auseinandersetzungen mit nationalen Fragen im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung1 Im Folgenden werden einige zentrale Kontexte, Akteure und kulturelle Formen skizziert, die das vielschichtige Phänomen der Wiederkehr des Nationalen in Diskursen, Leitbildern wie auch alltäglichen Praktiken ausmachen. Im Zentrum steht das wiedervereinigte Deutschland, also der Zeitraum der letzten 20 Jahre, insbesondere jedoch die 1990er Jahre und die frühe „Berliner Republik“. Auch wenn nach den Epochenereignissen der Jahre 1989 – 90 generell, vor allem jedoch im „östlichen“, postsozialistischen Europa ein ethnisch-kultureller NachWende-Nationalismus auffiel, so wurde bereits seit den 1980er Jahren auch im „Westen“ das Nationale in mannigfaltiger Form neu belebt.2 In Frankreich wurde beispielsweise das „kulturelle Erbe“ der Nation in dem Großprojekt der „nationalen Erinnerungsorte“3 ausgewiesen, und es fand in vielen Ländern Europas Nachfolger. Auch in Deutschland entwickelten sich seit den 1980er Jahren „kulturelle Erbe“-Bewegungen, die mit geplanten Museen wie dem Haus der Geschichte in Bonn (und Leipzig) und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin solche nationalen Erinnerungsorte auch in den Stadtraum einschrieben.4 Eine regelrechte Konjunktur erfuhren geschichtspolitische Inszenierungen und nationale Rhetoriken in unterschiedlichen politischen und alltäglichen Verwendungszusammenhängen dann nach der deutsch-deutschen Vereinigung. Mit dieser trat auch der Begriff des Volkes wieder auf den Plan, sei es im Sinne des republikanischen „demos“, das sich auf den Straßen in einer „friedlichen Revolution“ von der DDR-Herrschaft befreite, wie die Geschichtsbücher später im Sinne eines neuen gesamtdeutschen Gründungsmythos urteilen sollten, sei es zunehmend im Sinne des „ethnos“-Konzeptes. Denn insbesondere die Frage der Nations(neu)bildung des, wie es im Vereinigungsjubel zunächst hieß, einen Volkes, das jetzt „zusammenwachsen“ dürfe und müsse, beschäftigt(e) die 1 Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner europäisch ethnologischen Habilitationsschrift, siehe: Götz, Irene: Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2011. 2 Hier soll keinesfalls der überkommenen und an anderer Stelle bereits kritisierten Typologisierung eines „östlichen“ („rückständigen“) und eines „westlichen“ („modernen“, zivilgesellschaftlich grundierten) Nationalismus das Wort geredet werden, sondern dafür plädiert werden, die jeweils kontextspezifischen Formen und Funktionen nationaler Identitätsangebote fallstudienartig und damit situativ auszuloten, siehe dazu auch: Götz, Irene: Regionale Forschung in transnationaler Perspektive. Anmerkungen zum Erkenntispotenzial ethnografischer „Ost/West“-Studien, in: Volkskunde in Sachsen, 19 (2007), S. 157 – 176, hier S. 156. 3 Nora, Piere (Hrsg.): Les lieux de m¦moire [7 Bde], Paris: Gallimard 1984 – 1992. 4 Siehe: FranÅois, Etienne: Von der wiedererlangten Nation zur „Nation wider Willen“. Kann man eine Geschichte der deutschen „Erinnerungsorte“ schreiben?, in: Ders./Siegrist, Hannes/ Vogel, Jakob (Hrsg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 93 – 110.

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deutsche und auch die ausländische Öffentlichkeit. Im Kontext des Diskursfeldes um die „innere Einheit“ war häufig wieder die überkommene Vorstellung von der Volks- und Kulturnation die explizite Prämisse oder implizite Folie der Argumentation. Hier schien die „ethnos“-Vorstellung die Konzeption eines „demos“ als Fundament der Berliner Republik zu überlagern oder sogar zeitweise abzulösen. Dies ließ sich gerade auch dort beobachten, wo in der Wissenschaft wie in der veröffentlichten Meinung von der „einen Nation“ mit „zwei Gesellschaften“5 die Rede war, wo sich Enttäuschung breit machte, dass dieses Volk der Deutschen eben doch kulturell, sozial und von seinem Selbstverständnis her nicht „eins“ sei, und „das Bild von der Mauer in den Köpfen“ sowie wechselseitige Stereotypisierungen dem „feierlichen Kampfruf der Wendezeit“ – „Wir sind ein Volk“ – Platz machten. Dass dieser Ruf nun in die „Sphäre des sarkastischen Humors“ abrutschte – „,Wir sind ein Volk!‘, sagt der ,Ossi‘ und darauf der ,Wessi‘: ,Wir auch.‘“6–, lässt sich nicht zuletzt als ein Indikator dafür verstehen, dass das „Revival“ der „großen“ Homogenitätskonstruktion Gegenbewegungen provozierte. So fanden sich im Alltag vor allem neuartige regionale und häufig essentialistisch verstandene Gruppenbildungen: Der „Ossi“ und der „Wessi“ waren als neue „Ethnien“ geboren, die sich wechselbezüglich durch Abgrenzung konturierten und formierten. Die Vielfalt in der Einheit, wie sie in Deutschland Tradition hat, erhielt nun – neben der ebenfalls im Osten wiederbelebten regionalen Gliederung in Bundesländer – eine neue Komponente: Der bis dato oft konstruierte Gegensatz zwischen dem Süden und dem Norden wurde durch die sich schnell verbreitenden ost- und westdeutschen Selbst- und Fremdbilder im öffentlichen Diskurs wie im Alltagsgespräch zumindest vorübergehend in den Hintergrund gedrängt. Des Weiteren deutete sich zu Beginn der 1990er Jahre mit sich entladender Ausländerfeindlichkeit und mit längst überwunden geglaubtem rechten Nationalismus an, dass trotz – oder wegen – der zu beobachtenden Denationalisierung7 staatlicher, politischer und ökonomischer Strukturen und wissenschaft5 Siehe z. B.: Kudera, Werner : Eine Nation, zwei Gesellschaften? Eine Skizze von Arbeits- und Lebensbedingungen in der DDR, in: Jurczyk, Karin/Rerrich, Maria S. (Hrsg.): Die Arbeit des Alltags. Beiträge zu einer Soziologie der alltäglichen Lebensführung, Freiburg: Lambertus 1993, S. 133 – 159; siehe auch Schroeder, Klaus: Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung 2006, Stamsried: Vögel 2006. 6 Zitiert nach Bausinger, Hermann: Typisch Deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen?, München: Verlag C. H. Beck 2000, S. 128. 7 Denationalisierung lässt sich dadurch kennzeichnen, dass der herkömmliche Nationalstaat einen Teil seiner Aufgaben an neu geschlossene Verbünde (z. B. Vereintes Europa, transnationale Wirtschaftsunternehmen, bürgerschaftliche Organisationen) abgibt, oder auch dadurch, dass seine imaginierte kulturelle Homogenität durch eine sich verändernde Zusammensetzung und definitorische Bestimmung von „citizenship“ aufgebrochen wird. Siehe auch: Zürn, Michael: Was ist Denationalisierung und wieviel gibt es davon, in: Soziale Welt, Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, 48 (1997) 4, S. 337 – 360.

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licher Paradigmenwechsel im Sinne der Überwindung eines „methodischen Nationalismus“ zugleich wieder auch ernste und bisweilen sogar extremistische Renationalisierungstendenzen auf dem Vormarsch waren. Einen solchen (vergleichsweise harmlosen) Rückbezug auf tradierte nationale Bilder und Semantiken auch im politischen Diskurs zeigten etwa die Sprachwissenschaftler auf: Nach der Wiedervereinigung – und nach der 1990 gewonnenen Fußballweltmeisterschaft – hielten außer dem Begriff „Volk“ auch andere lange tabubelastete Begriffe wie „Vaterland“, „Nation“, „Nationalstolz“, „Nationalbewusstsein“ oder auch „deutsch“ verstärkt Einzug in den öffentlichen Sprachgebrauch8 (wie auch die Nationalflagge seither zu solchen Feiern auf den Straßen als Requisit mehr und mehr dazugehört). Als Indikator für die seit Beginn der 1990er Jahre besonders von linksliberal eingestellten Wissenschaftlern und Politikern kritisch gesehene Renationalisierung wurde vor allem die unerwartete Konjunktur der Nation in Feuilletons, Talkshows und Symposien, ihre „Enttabuisierung als analytische[r] Kategorie“, gewertet, die sich insbesondere auch anlässlich der zahlreichen Jubiläen und Gedenktage zeigte.9 So warnte der hier zitierte Zeithistoriker Konrad Jarausch vor einem „nationale[n] und machtpolitische[n] Ansatz einer affirmativen Grundhaltung zur Vergangenheit“.10 Besonders unmittelbar zeigt(e) sich dieser Aspekt einer Renationalisierung beispielsweise, wenn politische Entscheidungen weiterhin – vom Kosovo-Einsatz der deutschen Bundeswehr bis zur Debatte um das Verbot der embryonalen Stammzellforschung11 – mit der „besonderen deutschen Geschichte“ legitimiert wurden. Solche affirmativen Rückbezüge auf das „Eigene“ im Sinne einer eigenwilligen, von tagespolitischen Interessen be8 Hermans, Fritz: Deutsche, deutsch und Deutschland. Zur Bedeutung deutscher nationaler Selbstbezeichnungswörter heute, in: Reiher, Ruth/Läzer, Rüdiger (Hrsg.): Von „Buschzulage“ und „Ossinachweis“. Ost-West-Deutsch in der Diskussion, Berlin: Aufbau-Taschenbuch 1996, S. 11 – 31. 9 Jarausch, Konrad: Normalisierung oder Re-Nationalisierung? Zur Umdeutung der deutschen Vergangenheit, in: Geschichte und Gesellschaft, 21 (1995) 4, S. 571 – 584, hier S. 576 ff. Rituell begangenes Erinnern nahm zu und fächerte sich thematisch auf. Hat es doch neben der jüngeren deutschen Geschichte – 50 bzw. dann 60 Jahre Kriegsende, 50 Jahre Bundesrepublik – auch eine jüngste Geschichte als zusätzlichen Bezugsrahmen erhalten: 10 bzw. 20 Jahre Mauerfall, 10 bzw. 20 Jahre „Wiedervereinigung“ sind weitere symbolische Erinnerungsorte, die zur Auseinandersetzung mit Fragen der nationalen Identität Anlass gaben. 10 Ebd. 11 So sprach sich im Jahr 2001 die damalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin vor der Bundestagsentscheidung zur umstrittenen Embryonenforschung gegen den Import embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken aus und begründete ihre ethischen Bedenken mit den Lehren aus dem Nationalsozialismus. Der 60. Jahrestag der Wannseekonferenz, der unmittelbar bevorstand, solle eine Mahnung sein, diese deutsche Sonderrolle im internationalen Forschungskontext nicht aufzugeben. Siehe den Artikel „Differenzen über den Import von Stammzellen im Kabinett“, in: Süddeutsche Zeitung, 21. 01. 2001, S. 6.

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stimmten Reinterpretation des „deutschen Sonderwegs“ folg(t)en meist als Reaktionen auf globale Verpflichtungen oder Forderungen – der Europäischen Union, der international vernetzten Forschung –, die „Alleingänge“ einzelner Staaten und nationalen Selbstbezug besonders legitimationsbedürftig erscheinen lassen. Im Falle des Kosovo-Einsatzes der Bundeswehr bezogen sich nicht nur die Befürworter, sondern auch die Gegner auf das Narrativ von der „besonderen deutschen Verantwortung“, eben um sich dem internationalen Druck, sich zu beteiligen, zu entziehen.12 In solchen Debatten wurde der in der Nachkriegszeit omnipräsente Fokus deutscher Geschichtsschreibung, der Nationalsozialismus und insbesondere Auschwitz, einmal mehr zur moralischen Legitimationsinstanz, was stets heftige Kritik an dieser Instrumentalisierung hervorrief. Das Nationale gewann in dem nach 1990 gewissermaßen neu gegründeten Nationalstaat mit veränderten Grenzen und einer um die Ostdeutschen erweiterten Bevölkerung in Form von regelrechten Identitätsdebatten eine neue Bedeutung. Nationale Identität, in den beiden Deutschlands der Nachkriegszeit bis auf die erste formative Staatsgründungsphase13 ein Tabuthema, wurde unter neuen Prämissen ein Reflexionsgegenstand. So entdeckten Politiker verschiedener Couleur, Journalisten und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Kontext der deutsch-deutschen Vereinigung und der Einwanderungsdebatte verschiedene Fragen neu. Verhandelt wurde so zum Beispiel, ob eine nationale Identität der Deutschen notwendig und demnach zu entwickeln und zu pflegen sei – etwa, weil ein positiver, „gesunder“ Patriotismus als „Einheitskitt“ fungiere oder weil die selbstbewusste Rückbesinnung auf die „integrative Kraft“ einer „Leitkultur“ gerade auch den Immigranten erst die nötige Orientierung und den nötigen Integrationsanreiz biete. Andere argumentieren, dass der Begriff der Identität und die Identitätsdebatten überflüssig oder sogar gefährlich seien, weil sie Ethnisierungen, Ausgrenzungen und Bekenntniszwängen Vorschub leisteten. Es wurde diskutiert, ob diese Identität zu schwach oder zu stark ausgebildet, beziehungsweise als Gegenstand der Debatte überoder unterbewertet sei, und es wurde gefragt, ob sie eine verfassungspatriotische und/oder traditionalistisch-kulturalistische, eine gemeinsame oder noch immer geteilte sei oder sein solle.14 Im Folgenden soll nun skizziert werden, wie polyvalent und plural das Nationale als eine an sehr unterschiedliche Kontexte und Ideen, Strategien und Praktiken anschlussfähige kulturelle Formation in Deutschland gegenwärtig 12 Siehe zur Instrumentalisierung nationaler Rhetorik im Kontext des Kosovo-Krieges: Götz: Deutsche Identitäten, a. a. O., S. 185 – 195. 13 Wolfrum, Edgar : Der Kult um den verlorenen Nationalstaat in der Bundesrepublik Deutschland bis Mitte der 60er Jahre, in: Historische Anthropologie, 5 (1997) 1, S. 83 – 114. 14 Siehe entsprechende Diskursbelege bei Götz: Deutsche Identitäten, a. a. O., S. 145 – 150.

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geworden ist. Und dabei geht es nicht immer um eine Bindung des Konzeptes des Nationalen an eine damit markierte Staatlichkeit.

Das Nationale als polyvalentes Phänomen Das Nationale als traditionales Vergemeinschaftungsmodell, das regionale oder soziale Unterschiede homogenisiert und dabei zwischen eigen und fremd klare Grenzen zieht, ist gerade nicht an einen (existenten oder angestrebten) Nationalstaat als Bezugsrahmen gebunden, sondern liegt gelegentlich quer zu diesem oder bezieht sich auf die (Um-)Bildung, Vergegenwärtigung und Legitimation auch kleinerer oder größerer imaginierter Gemeinschaften. So wird Europa gegenwärtig selbst als kultureller Raum nach ähnlichen Konstruktionsprinzipien wie die alten Nationalstaaten im 19. Jahrhundert imaginiert, etwa wenn der Europarat das nationale Kulturerbe, jetzt zur Identifikation mit dem größeren europäischen Rahmen, herausstellt. Wie im 19. Jahrhundert regionale Trachten, Feste und Volkslieder für die Etablierung der Idee einer regional vielfältigen, aber einheitlichen Kulturnation in den Dienst genommen wurden, so setzt die kulturelle Praxis des „Building Europe“, etwa wenn europäische Kulturhauptstädte gekürt werden, auf eine Neukontextualisierung von vormals nationalen Traditionsbeständen.15 So legt die EU-Kulturpolitik, die die Vielfalt der „Nationalkulturen“ im Vereinten Europa repräsentiert sehen will, immer neue Programme auf, die auf eine besondere Hochbewertung und zugleich Umwertung oder Öffnung des nationalen Erbes, der Bauwerke, Bücher, Bibliotheken und Bilder hin zu einem europäischen Erbe hinarbeiten. Wenn das alte Ordnungsmodell des Nationalstaates überdies Kompetenzen und Aufgaben an Europa oder regionale Governance-Netzwerke abgibt, von globalen ökonomischen Verflechtungen entmachtet wird und soziale Rechte aufkündigt, begünstigt dies wiederum Renationalisierungsprozesse auf mehreren Ebenen. Gerade angesichts der „Kosmopolitisierung“ des Alltags16, der weltweiten Mobilität von Waren, Wissen und Menschen und der damit verbundenen Dezentrierung von Identität, Bürgerschaft und Teilhabe kann das Nationale je nach Kontext als Teil einer Retraditionalisierungsstrategie „von unten“ und darüber hinaus als neue politische Führungstechnologie „von oben“ beobachtet werden. Letzteres ist der Fall, wenn sich der Staat, Medien und Nation Branding-Agenturen dem Thema annehmen (s. u.). Ersteres findet sich 15 Dieser im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter ausführbare Vergleich vermag demnach der Europäisierungsforschung eine interessante historische Perspektivierung zu geben. 16 Siehe zu diesem Konzept allgemein: Beck, Ulrich/Grande, Edgar : Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

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gerade auch im transnationalen Migrationsraum, wenn Transmigranten das Nationale als einen ethnischen Baustein einer fluiden Identitätsbildung nutzen; dabei werden Imaginationen einer „fernen Heimat“ in ein vielschichtiges persönliches Identitätsgebäude einlagert und mit neuen Erfahrungen an anderem Ort mehr oder weniger produktiv und kreativ gemischt. Generell gilt: Das Nationale ist ein im kollektiven Gedächtnis verankertes, gleichwohl relativ frei flutierendes Material, das bei Sinnsuchen und Verortungen an variable Vergemeinschaftungsversuche und moderne Marktgesetze anschlussfähig ist. Die kulturellen Semantiken und Formen, die medial als Identifikationsangebote angeboten und vermarktet werden, haben sich zugleich modernisiert und informalisiert. Lifestyle und neue Helden aus der Popkultur (man denke an den „Lena“-Hype, bei dem diese als neue nationale Botschafterin des European Song Contest der Jahre 2010 und 2011 gefeiert wurde) stehen längst nicht mehr im Gegensatz zur Bildlogik nationaler Vergemeinschaftung; und diese hat oft an zwingender patriotischer Ernsthaftigkeit eingebüßt, ist keinesfalls per se auf Dauer angelegt, jedenfalls im „Westen“ Europas. Dies zeigte sich in Deutschland nicht nur angesichts der internationalen Sportereignisse in den Arenen, auf den Fanmeilen und den neuen sozialen Räumen der Public Viewings, sondern auch in diversen anderen Kontexten. Das Nationale wird in den letzten Jahren beispielsweise von der Kreativindustrie als ein kulturelles Kapital für Produktmarketing geschätzt. Diese Beobachtungen sollen jedoch auch nicht über die sicherlich in anderen Feldern bestehenden ernsten, rassifizierenden Formen eines ethnischen Nationalismus hinwegtäuschen.

Einwanderung, Leitkultur, kulturelles Erbe Fragt man beispielsweise nach der wechselbezüglichen De- und Renationalisierungsdynamik im Feld staatlicher Einwanderungspolitik, dann ergibt sich ein differenzierter und ambivalenter Blick auf ein neues normatives Deutschlandbild, das durch verschiedene politische Strategien und Praktiken in den Alltag vermittelt wird. Diese spezifischen Formen eines „governing by culture“ sind bislang in der sozialwissenschaftlichen Forschung lediglich auf der normativen Ebene der Strategien und weniger in Bezug auf deren Adressaten, d. h. auf die in ihrem Alltag zu mobilisierenden Bürger, praxeologisch untersucht worden.17

17 Siehe z. B.: Speth, Rudolf: Wirtschaftskampagnen und kollektive Selbstbilder : Von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ bis zu „Du bist Deutschland“, in: Münkler, Herfried/Hacke, Jens (Hrsg.): Wege in die neue Bundesrepublik. Politische Mythen und kollektive Selbstbilder nach 1989, Frankfurt am Main: Campus 2009, S. 213 – 240. Ferner : Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin: Rowohlt 2009; Reichel, Peter :

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Als entsprechende Vermittlungspraktiken zu nennen sind hier etwa die Festtagsreden am Tag der Deutschen Einheit, auf diesen inzwischen zu Megaevents avancierten „Bürgerfesten“, mit denen die jeweiligen Veranstalter auch ihre Stadt medienwirksam aufwerten. Wenn etwa Bundespräsident Horst Köhler am 18. Einheitsfest in Hamburg die „Kulturnation“ als buntes Einwanderungsland propagierte, das vom mitgebrachten Erbe der Neubürger profitiert,18 und der hier dem Festpublikum gezeigte offizielle Film „Einheitsmelodie“ die Nationalhymne als vergemeinschaftendes Motiv für Deutsche unterschiedlichster Herkunft vorführte (wobei im Film der türkischstämmige Taxifahrer seinem „ethnisch“ deutschen Fahrgast den Text erst beibringen muss)19, dann propagieren und erläutern diese neuen symbolischen Inszenierungen die in den letzten Jahren verabschiedeten Gesetze und Maßnahmen zur Anerkennung, Regulierung und Regierung der Einwanderung. Anzumerken ist, dass es angesichts der antinationalen Haltung und „negativen“ deutschen Identität bemerkenswert ist, dass hier das seit Auschwitz desavouierte Konstrukt der „Kulturnation“ wieder als Leitbild, allerdings mit neuer, offener semantischer Belegung, aufgegriffen wurde. Zu nennen sind hier des Weiteren die in Folge dieser Umcodierung des nationalen Selbstbildentwurfs eingeführten staatlichen Institutionen und Maßnahmen, etwa die neu geschaffenen Integrationskurse und Einbürgerungstests. Wie auch andere offizielle Handreichungen zur „Integration“ zeigen diese sich speziell an die Migranten und Migrantinnen wendenden Vermittler des – unter Anerkennung von Einwanderung rekonfigurierten – Deutschlandbildes einen neu bestückten Bestand an „nationalem Erbe“. Lange bevor Bundespräsident Christian Wulff dann in seiner Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit sogar den Islam als Teil Deutschlands würdigte,20 stand die Frage nach einem Schwarz Rot Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945, München: Verlag C. H. Beck 2005. 18 Siehe eine ausführliche Analyse dieses Events: Götz: Deutsche Identitäten, a. a. O., S. 11 – 18. Zu der Rede Horst Köhlers siehe URL: http://www.freiheit-und-einheit.de/cln_104/SharedDocs/Reden/FuE/bpraes_hamburg. html?nn=731682 (07. 03. 2012): „Wir alle wissen es: Die nächste Generation unseres Landes wird noch viel stärker von Menschen geprägt sein, deren Wurzeln fern von Deutschland liegen. Ich sehe eine große, aber eben auch eine schöne Aufgabe darin, sie für unsere Kulturnation zu gewinnen. Das wird diese Kulturnation verändern, weil noch mehr Traditionen, Herkünfte, Glaubensgewissheiten, Talente und Familiengeschichten in ihr aufgehen.“ 19 Der Film Einheitsmelodie von Neele L. Vollmar (i. A. der Freien und Hansestadt Hamburg) ist abrufbar unter URL: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Videos/FuE/Standardartikel/ einheitsmelodie.html?nn=622512 (07. 03. 2012). Siehe hierzu: Götz: Deutsche Identitäten, a. a. O., S. 13 ff. 20 Wulff, Christian: Vielfalt schätzen – Zusammenhalt fördern. Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der

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gemeinsamen „kulturellen Erbe“ im Einwanderungsland auf dem Prüfstand. Welches Erbe müssen und können Einwanderer teilen? Wie, so frag(t)en Geschichtsdidaktiker, Bildungsforscher und Soziologen21, können Einwanderer mit dem Holocaust als nationalem Vermächtnis an Verantwortung umgehen? Können die Einwanderer ihrerseits ihr „kulturelles Erbe“, ihr mitgebrachtes Gepäck, in einen neu zu verhandelnden Bestand an Werten und Wissen in der neuen Staatsbürgernation einbringen? Worin kann und soll dieses gemeinsame Erbe eigentlich bestehen? Geht es lediglich um die Beherrschung der deutschen Sprache (nach welchem Standard?), um die Achtung der Verfassung und zivilgesellschaftlicher Werte oder aber vor allem um einen Kanon kultureller Praktiken, Symbole und historischen Wissens? Inzwischen orientieren sich Einbürgerungstests und Integrationskurse an Sprachkenntnissen und an staatsbürgerkundlichem Wissen über die Grundwerte und erst an zweiter Stelle an einem historischen und landeskundlichen Lexikonwissen. Doch entstand auch hier zunächst, in den Vorformen dieser Tests, die Kulturnation der „Dichter und Denker“ wieder und führte bereits im Jahr 2006, als in Deutschland wie Österreich entsprechende Fragebögen-Entwürfe durch die Presse gingen, zu heftiger Kritik an einem gleichermaßen elitären wie unsinnigen und oberflächlichen Testverfahren.22 In Deutschland lassen sich in jüngerer Zeit immer öfter identitätspolitische Aktionen beobachten, welche die Einwanderer nicht auf ein traditionales und fixes kulturelles Repertoire einschwören. Ein als Integrationshilfe für Neubürger konzipiertes „Handbuch für Deutschland“, das von der „Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration“ (BAMF) herausgebracht wurde, ist zwar ebenfalls nicht frei von Entdifferenzierungen regionaler und sozialer Vielfalt bei der Aufbereitung von Landeskunde und Geschichte, deutscher Kultur und deutschem Alltag, doch werden hier durch eine transkulturelle Perspektive – „typisch deutsch ist europäisch, international und multikulturell“23 – Anknüpfungspunkte für die Integration und Identifikation von eingewanderten Neubürgern gegeben, auch wenn die Beispiele dieser Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Siehe: URL: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Christian-Wulff/Reden/2010/10/20101003_Rede.html (07. 03. 2012). 21 Siehe z. B.: Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Liebertz, Till (Hrsg.): Erziehung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen, Weinheim, München: Beltz 2000; siehe auch Motte, Jan/Ohliger, Rainer (Hrsg.): Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen: Klartext Verlag 2004. 22 Siehe die Beispiele in: Götz: Deutsche Identitäten, a. a. O., S. 342 – 348, bes. S. 344. 23 Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.): Ein Handbuch für Deutschland, Berlin: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2003, hier S. 29.

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transkulturell erweiterten Alltagskultur oft auf stereotype, ästhetisch präsentierte Bildschablonen reduziert erscheinen. Aber immerhin: Mit französischem Baguette und türkischem Fladenbrot, mit Integrationserzählungen türkischer Restaurantbesitzer und „Ruhrpolen“, mit der „Love Parade“ und dem Berliner „Karneval der Kulturen“ wird doch – im Vergleich zum überlieferten nationalen Bilderreservoire der Trachten- und zeitlich stillgestellten Deutschtümelei – ein relativ offenes Bild einer Einwanderungsgesellschaft gezeichnet, das neuerdings alltagskulturelle Aspekte und Lebensweisen in den Mittelpunkt stellt und fast beliebig scheinende Anknüpfungspunkte für alle bietet. Besonders im historischen Teil wird deutsche Geschichte als die transkulturelle Geschichte einer „Einwanderungsgesellschaft“ konzipiert, in der Hugenotten, polnische Einwanderer, Flüchtlinge und die Arbeitsmigranten der Nachkriegszeit das kulturelle Leben, eine Hoch- wie auch die Alltagskultur mitgeprägt haben.24 Insofern ist die hier vorgeführte nationale Inszenierung relativ neu und unterscheidet sich sehr von den kulturalistischen, homogenisierenden Nationalismen so mancher europäischer, insbesondere postsozialistischer Länder. Hier wird auf einer gewissen offiziellen, politischen Ebene ein Bemühen ersichtlich, vom überkommenen „kulturellen Erbe“, dem Goethekult und den „Sauerkrautmahlzeiten“, oder auch von den besonders in Deutschland gepflegten tabubehafteten antinationalen Haltungen der Nachkriegszeit wegzukommen und greifbarere und einladendere Motive für Einwanderer in ihrem neuen Alltag anzubieten. Auch wenn das Handbuch als Orientierungshilfe zu oberflächlich und in seiner Wirkung höchst begrenzt sein mag, so lässt es sich doch als eine symbolische Geste interpretieren, in diesen additiven bunten Kulturreigen die eigene Stimme, die eigene Farbe und Tradition mit einzuspielen und auf diese Weise hier anzukommen. Auch im weiteren politischen Diskurs hat sich einerseits einiges getan hinsichtlich Stil und Form der Debatte, hinsichtlich einer neuen, oft differenzierteren Streitkultur. Dies gilt jedenfalls im Vergleich mit den 1990er Jahren für den Fall Deutschlands. Hier erhitzten noch vor einigen Jahren zu Wahlkampfzeiten populistische „Leitkultur“-Debatten die Gemüter und es war höchst streitbar, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei. Andererseits zeigt sich seit dem 11. September 2001 auch in Deutschland eine Verschärfung von (islamistischen) Fremden-Bildern und damit eine weitere Tendenz zur Renationalisierung und Rassifizierung des öffentlichen Diskurses: Gefordert wird inzwischen, etwa in Streits um Moscheen im Stadtbild, um Kopftücher an Schulen oder in einem verschärften Sicherheitsdiskurs, die Entwicklung oder Bewahrung eines nationalen und christlichen, aufgeklärten Wertefundus. Jedenfalls schlägt das Pendel, angeschürt durch populistische Zwischenrufe einer sich quer zu den etablierten 24 Ebd., S. 30 – 35.

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Parteien formierenden Neuen Rechten, immer häufiger auch wieder zugunsten nationalistisch-chauvinistischer Töne aus: Neue alte Untergangsszenarien des „überfremdeten“, „islamisierten“, „jüdisch-christlich geprägten“ Abendlandes operieren inzwischen wieder mit neo-biologistischen Argumentationsmustern und „ethnisieren Klassenprobleme“.25 Doch verändert sich auf der anderen Seite, seit im Jahr 2000 mit der Staatsbürgerschaftsreform der Umbau Deutschlands zu einer Bürgernation weiter vorangetrieben wurde, das offizielle Selbstbild, welches neuartige Netzwerke aus Politik, Medien und Wirtschaftsverbänden mit Nation-Branding-Kampagnen anlässlich dieser jährlichen Einheitsfeiern, anlässlich Fußballwelt- oder Europameisterschaften oder eines neuen Regierungsprogramms inszenieren. Hier geht es auch in Deutschland, das im Unterschied zu den meisten westlichen Nachbarländern bis 2000 offiziell Staatsbürgerschaft nach dem „ethnos“-Prinzip zuteilte, längst nicht mehr um eine auf Abstammung pochende, kulturalistisch verstandene „Leitkultur“, sondern vielmehr um die Propagierung eines Kanons an demokratischen Grundwerten26 und vor allem gemeinsamer zivilgesellschaftlicher Aufgaben.

Nation Branding als Akivierungsimperativ „Du bist Deutschland“, mit dieser multimedialen Kampagne, die, unmittelbar nach der Bundestagswahl 2005 gestartet, sofort zur „prime time“ 17 Millionen Menschen über alle großen Fernsehkanäle erreichte, wurden die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Regierung („Hartz IV“) legitimiert. Schmackhaft gemacht werden sollte das Konzept der Eigeninitiative als Basis eines jetzt aufzubauenden neuen Gemeinschaftsinns. Jeder, ob prominenter Medienstar oder Hinterhofbewohner, solle und könne sich selbst zum maximalen Einsatz motivieren, um den „Laden Deutschland“ zusammen- und profitabel zu halten, 25 Zitiert aus der Analyse zu Thilo Sarrazin (Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München: DVA 2010) nach Kreye, Adrian: Sarrazins Dreisatz. Die verführerische Logik der Demagogie imitiert die Muster amerikanischer Bestseller, um die Ängste der Bildungsbürger zu bedienen, in: Süddeutsche Zeitung, 03. 09. 2010, S. 11. 26 Wie Jan-Werner Müller in seinem Beitrag über „Integrationsbegriffe“ beobachtet, gibt es in Europa auf der politisch-institutionellen Ebene die „Konvergenz hin zu allgemein akzeptierten politischen Zielen und Integrations-Instrumenten“, siehe Müller, Jan-Werner : Nation, Verfassungspatriotismus, Leitkultur : Integrationsbegriffe vor und nach 1989, in: Münkler/Hacke (Hrsg.): Wege in die neue Bundesrepublik, a. a. O., S. 115 – 130, hier S. 127. Ein solches sei der „Verfassungspatriotismus“ infolge der inzwischen von allen demokratischen Parteien anerkannten Konzeption Deutschlands als Einwanderungsland. Hinter der ursprünglich partikularistischen Idee der „Leitkultur“, wie sie manche Christsoziale immer wieder einforderten, verberge sich längst kaum mehr als die universalistische Idee demokratischer Grundwerte.

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so lautete die hymnische Botschaft dieser Kampagne. Die dahinterstehende Logik definiert Zugehörigkeit und Teilhabe nicht nach der ethnischen, regionalen oder sozialen Herkunft, sondern Bürgerschaft hängt von dieser „Nützlichkeit“ und Fertigkeit ab, sich im Sinne eines neuen – ökonomisch grundierten – Kommunitarismus „von unten“ selbst zu aktivieren.27 Auch außerhalb von Einheitsfeiern und Fußballfesten lancieren Werbeagenturen inzwischen solche Kampagnen im Auftrag von Politik und Wirtschaftsverbänden. Netzwerkartig mit den Medien zusammenwirkend verhelfen sie durch multimediale Großoffensiven der Idee eines „unverkrampften Patriotismus“28 zur Durchsetzung, den sie für (wirtschafts-)politische Botschaften und die Vermarktung von wahlweise Ideen oder Produkten in den Dienst nehmen. Subjekt wie auch Objekt und Adressat dieses emphatischen Patriotismus ist das Leitbild der neuen kreativen Klasse, die mithilfe der Inszenierungen des Nationalen das eigene Selbstentfaltungs- und Kreativitätsideal als allgemeine bürgerschaftliche Handlungsmaxime verbreiten will. So wird, während der Sozialstaat und die Arbeitsmarktpolitik umgebaut werden, die Mutation des fordistischen Angestellten zum postfordistischen Unternehmer seiner Selbst durch die Kampagnen gefordert und gefördert. Das propagierte zivilgesellschaftliche Engagement des aktiven Bürgers und kreativen, innovativen Unternehmers, der sich selbst immer neu auf dem Markt der Ideen herausfordert und das Land potent und attraktiv macht, ist „strategisches Element liberaler Regierungspraxis“. Nation Branding dient als Führungsinstrument, als „politische Technologie“29. Dieses kreative Subjekt als neuer Leistungsträger im „Land der Ideen“, so der Titel einer weiteren Kampagne,30 wird symbolisch aufgewertet. Es mutet fast paradox31 und doch zugleich folgerichtig an, dass das Nationale 27 Siehe die profunde Analyse bei Speth: Wirtschaftskampagnen, a. a. O. 28 Zitat aus der Rede Christian Wulffs: Vielfalt schätzen – Zusammenhalt fördern, a. a. O. 29 Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 7 – 40, hier S. 27. 30 Siehe: URL: http://www.land-der-ideen.de/de/initiative/willkommen-im-land-ideen (07. 03. 2012). „Deutschland – Land der Ideen“ ist eine einzigartige Standortinitiative für die Marke „Deutschland“, siehe auch: URL: http://www.land-der-ideen.de/de/projektarchiv/100-koepfe/100-koepfe-von-morgen (07. 03. 2012). Entsprechende Kreativfiguren sind im „Land der Ideen“ die Vorbilder, die in immer neuen Projekten und Besten-Galerien vorgeführt werden. „100 Köpfe von morgen“, junge Leute aus dem Kreativbereich, dem Sport oder der Wirtschaft, die in jungen Jahren Spitzenleistungen aus eigener Kraft für ihr Land mit fast spielerischer und genialischer Kreativität hingelegt haben, werden hier porträtiert, oder es werden „365 Orte im Land der Ideen“ auf der jährlichen Feier des Tages der Deutschen Einheit prämiert. 31 Siehe auch: Sassen, Saskia: Das Paradox des Nationalen. Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

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als symbolisches Vermittlungsmedium eines Entwurfs von neuen Selbsttechnologien gerade dort dient, wo der Nationalstaat selbst nicht mehr regiert und sich aus traditionellen Zuständigkeitsfeldern – der Regulation von Ökonomie und Arbeitsbedingungen, als Garant sozialer Rechte – zurückgezogen hat. Im Dienst des Ökonomischen folgt das Nationale hier gewissermaßen als ästhetischer Überbau und harmonisierender Kitt dem Credo des „governing by fun“32, das nationale Symbole popkulturell inszeniert. Das Nationale steht auch hier längst nicht mehr für angestaubte Deutschtümelei, sondern ist Sinnbild für Innovation und Leistungsbereitschaft. Die Nation selbst wird in diesen Kampagnen als marktgängiges Produkt gehandelt: Sie steht für einen Produktionsund Warenumschlagplatz, für die Reisedestination und den urbanen Erlebnisort für mobile Eliten. Wenn sie durch die Mantras der Werbetexter und -filmer den Status einer unverwechselbaren Marke erhalten hat, dann wird sie sich auch im global verflochtenen Wirtschaftsraum positionieren und behaupten – so lautet die „Place Making“-Strategie der „Nation Branding“-Aktivisten. In einem neoliberal grundierten Gemeinschaftskonzept gilt auch der Migrant/die Migrantin als zugehörig, sofern er/sie aktivierbare/r Bürger/in und ökonomisch potente/r Selbst-Unternehmer/in ist. Auf der normativen Diskursebene, in den Besten-Galerien im „Land der Ideen“, sind immer wieder auch kreative Migranten-Aufsteiger als Vorbilder in Szene gesetzt.33 Dass angesichts zunehmend ausdifferenzierter transnationaler Mobilitätsmuster ohnehin „citizenship“ und Teilhabe der (Trans-)Migranten immer häufiger dem Einfluss staatlicher Governance und nationaler Ordnungsmuster entzogen sind, begünstigt dabei jedoch auch wieder das Aufflackern kulturalistisch eingefärbter Verteilungskämpfe und Rassismen mit Grenzziehungen zwischen einem „Wir“ und „den Anderen“, zum Beispiel den „Nicht-Aktivierbaren“ in den sogenannten „Parallelgesellschaften“.34 Ein weiterer ökonomischer Kontext, in dem Re- und Denationalisierungsdynamiken dialektisch verwoben sind, war der Diskurs rund um die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise.

32 Siehe: Legnaro, Aldo: Subjektivität im Zeitalter ihrer simulativen Reproduzierbarkeit. Das Beispiel des Disney-Kontinents, in: Bröckling/Krasmann/Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität, a. a. O., S. 286 – 314, hier S. 297 ff. 33 Siehe: „100 Köpfe von morgen“, URL: http://www.land-der-ideen.de/de/projektarchiv/100koepfe/100-koepfe-von-morgen (07. 03. 2012). 34 Zum „migrantischen Sozialschmarotzer“ und anderen „Nicht-Aktivierbaren“ siehe: Lehnert, Katrin: „Arbeit, nein danke“!? Das Bild des Sozialschmarotzers im aktivierenden Sozialstaat, München: Utz-Verlag 2009.

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Deregulierte Ökonomie und die Rückrufaktion des Nationalstaates Nach dem Zusammenbruch des US-amerikanischen Finanzsystems an der Wall Street im September 2008 waren die Medien mit Zukunftsszenarien voll, die auf die jetzt sichtbaren Folgen der Liberalisierung der Weltmärkte und eines „entfesselten“ Kapitalismus sowie der fehlenden oder wenig wirksamen (trans-) nationalen Regulationsinstanzen hinwiesen.35 Die Entmachtung der Nationalstaaten mit ihren alten Volkswirtschaften und entsprechenden moralischen Ordnungen des alten „bürgerlichen“ Kapitalismus wird seither mit großer Besorgnis oder sogar mit nostalgischer Wehmut thematisiert, und es entstand besonders in den ersten Monaten der Krise der Eindruck, dass sich hier gewisse Umwertungen zurück „zum alten Nationalstaat“ Raum verschafften. Schien bis dahin im hegemonialen liberalen Diskurs das Leitbild des Fordismus, der sparsame, dem Gemeinwohl verpflichtete, Gewinne reinvestierende Unternehmer-Produzent der sogenannten „Realwirtschaft“ von einer flexibilisierten, auf den Börsengang des Unternehmens fixierten, transnational operierenden Managerkaste abgelöst werden zu müssen, so wendete sich nach dem Zusammenbruch der US-Finanzwirtschaft das Blatt. Es wurde allenthalben betont, dass der alte Unternehmer-Typ den nationalen „Wohlstand für alle“ verantwortungsvoll mit aufgebaut habe, wohingegen der neue „homo oeconomicus“, verkörpert in der Figur des Spekulanten und Finanzkapitalisten, die Volkswirtschaften weiter entmachte und aushöhle. Zwinge er doch als profitgieriger Investmentbanker, als skrupelloser Spieler mit Finanzderivaten und anderen spekulativen Börsengeschäften ganze Unternehmen und Volkswirtschaften in die Knie. Unter dem Schock dieser Krise des Anlage-Kapitalismus und der Erkenntnis der Folgen des Abbaus nationalstaatlicher Steuerungsmomente und umfassender Privatisierungen in einer deregulierten Ökonomie deutete sich zunächst ein gewisser Wandel der Bewertungen einer Politik an, die in den letzten Jahren auf „weniger Staat“ oder jedenfalls auf eine andere Form des „aktivierenden Sozialstaates“36 gesetzt hatte. Inmitten der weltweiten Finanzkrise erschien es zumindest kurze Zeit denkbar, dass die auf Deregulierung setzende Wirtschaftspolitik einer „neuen Reformsprache“ weichen würde. Vorsichtig war von Poli-

35 Siehe z. B.: Schmidt, Helmut: Der Markt ist keine sichere Bank. Nur internationale Regeln können die außer Kontrolle geratenen Bankmanager zähmen, in: Die Zeit, Nr. 40, 25. 09. 2008, S. 1; Prantl, Heribert: Die kapitale Läuterung, in: Süddeutsche Zeitung, 19. 09. 2008, S. 4; Richter, Nicolas: Welt ohne Regeln, in: Süddeutsche Zeitung, 25. 09. 2008, S. 4. 36 Siehe: Lessenich, Stephan: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: Transcript 2008; siehe auch Lehnert: „Arbeit, nein danke“!?, a. a. O.

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tikern unterschiedlicher Couleur zu hören: „[M]ehr Staat wagen. […] Politik in der Postfinanzkrise wird Regulierungspolitik sein.“37 Wie weit und in welcher Form sich hier tatsächlich eine Konsolidierung des Staates abzeichnet, ist derzeit nicht absehbar ; die Signale gegenwärtiger Politik machen hier eher skeptisch. Auch stellt sich die Frage, wie sinnvoll solche Versuche im Einzelfall noch sind, den finanziell geschwächten, verschuldeten oft inkompetenten Staat zu stärken, vor allem angesichts der transnationalen Machtkonstellationen und der globalen Probleme von Klimawandel bis Terrorismus, von Staatsschulden- und Eurokrise. Dem Staat ist längst in so mancher Hinsicht kaum noch zu trauen und viel zuzutrauen. So warnen nicht nur liberale Ökonomen vor diesen Rückrufaktionen des Staates als Lenker von Wirtschafts-, Finanz und Währungspolitik. Die meisten Europa-Befürworter betonen den Ausbau eines wirkmächtigen transnationalen europäischen Ordnungsrahmens für diese Politikfelder. Auch neue linke Bewegungen sehen den Staat als überkommenes Ordnungsmodell, das Grenzregimes aufrechterhält und damit Migrantinnen und Migranten illegalisiert. So würden die Globalisierung „von unten“ behindert sowie postkoloniale, Europa-zentrierte Herrschaftsverhältnisse zementiert. Weiterführende Analysen könnten an den Beobachtungen anknüpfen, wie sie für die 1990er Jahre gemacht worden sind, als sich nicht zuletzt auch im Feld der ökonomischen Praxis De- und Renationalisierungsprozesse wechselseitig vorangetrieben haben: zum Beispiel anlässlich des bevorstehenden Übergangs der D-Mark zum Euro oder der ersten „feindlichen Übernahme“ der „deutschen Industrielegende“ Mannesmann durch Vodafone Airtouch im Jahr 1999, was seinerzeit als „Dammbruch“ hin zum „entfesselten“ Kapitalismus und der Entmachtung nationaler Politik verhandelt wurde.38 Hier gab es im Rahmen dieser strukturellen Denationalisierung jeweils nationale Identität beschwörende Abschiedsrituale (zum Beispiel Feiern der guten alten D-Mark), verbunden mit Beschwörungen des alten bundesdeutschen Systems von Erhards sozialer Marktwirtschaft als Garant von Wohlstand, Stabilität und sozialer Sicherheit. Diese Renationalisierungstendenzen konnten allerdings der Internationalisierung von Unternehmen und Finanzmärkten auch damals bereits nur noch nostalgische Regulations-Rhetorik in Erinnerung an die überkommene volkswirtschaftliche Ordnungsmacht entgegensetzen.

37 Ulrich, Bernd: Kapital, Macht, Gier, in: Die Zeit, Nr. 40, 25. 09. 2008, S. 3. 38 Siehe: Götz: Deutsche Identitäten, a. a. O., S. 196 – 222, siehe die Quellenbelege hierzu S. 205 ff.

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Neue und alte Formen eines Alltagsnationalismus Renationalisierung heißt im Falle des vereinigten Deutschlands nicht einfach die Wiederbelebung traditionaler Versatzstücke aus dem nationalen Zeichenrepertoire des 19. Jahrhunderts, sondern verbindet sich vielmehr mit neuen Institutionen, Geschichtsbildern, identifikativen Überzeugungen, zivilgesellschaftlichem Sinn und überdies auch informellen Spielarten mit den nationalen Symbolen.39 Der in der Nachkriegszeit vorherrschende antinationale Diskurs wird jedenfalls spätestens in den 1990er Jahren von einer Konjunktur der nationalen Thematik und ihrer zunehmenden Veralltäglichung abgelöst. Das Konstrukt der nationalen Identität und der „Leitkultur“ wurde hierzulande in den Einwanderungsdebatten zunächst in den 1980er und 1990er Jahren als analytische Kategorie aufgewertet und essentialisiert. Das Nationale wurde und wird trotz struktureller Denationalisierungsprozesse weiterhin in volksfestartigen Jubiläumsspektakeln (20 Jahre Mauerfall, 20 Jahre deutsche Einheit) inszeniert oder zur Stiftung einer gemeinsamen nationalen Erinnerung rekonsolidiert. Alle hier gestreiften Kontexte, in denen solche Renationalisierungsprozesse zu verzeichnen sind – deutsch-deutsche Einigung, globale gesellschaftliche und ökonomische Transformationsprozesse nach 1989, Einwanderung, Europäisierung und die reflektierte Neuausrichtung von Gedächtnisgemeinschaften –, markieren Prozesse des Wandels, die offensichtlich bei aller gleichzeitigen Öffnung hin zu neuen transnationalen Denk- und Handlungshorizonten und trotz der Vermittlung europäischer Leitbilder doch auch einer Neu- oder Rückbesinnung auf das kulturelle Repertoire des Nationalen Raum geben. Insbesondere im Feld der Erinnerungspolitik haben sich in Europa seit 1989 allerdings lokale und (trans-)nationale Formen zunehmend verschränkt und ausdifferenziert. So hat sich inzwischen, wie Daniel Levy und Natan Sznaider im Jahr 2001 erwarteten, einerseits tatsächlich die Debatte über die Möglichkeiten eines kosmopolitischen Erinnerns – an den Holocaust, an den Zweiten Weltkrieg, an Flucht und Vertreibung – intensiviert.40 Andererseits zeigen sich in der Praxis weiterhin viele partikulare nationale und regionale Interpretationen von Tätern und mehr noch von konkurrierenden Opfergruppen. Außerdem ist im 39 Siehe: Müller, Jan-Werner : Another Country. German Intellectuals, Unification and National Identity. New Haven, London: Yale University Press 2000; Götz: Deutsche Identitäten, a. a. O.; Münkler/Hacke (Hrsg.): Wege in die neue Bundesrepublik, a. a. O. Ferner : Münkler : Die Deutschen und ihre Mythen, a. a. O.; Reichel: Schwarz Rot Gold, a. a. O.; Kronenberg, Volker : Patriotismus 2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland, München: Olzog 2010. 40 Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main: Campus 2001.

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Zuge des Verschwindens der Zeitzeugengeneration allerorts eine Zunahme von Privatisierung, Ästhetisierung, Kommerzialisierung und Historisierung von Erinnerung, an die NS-Zeit und in jüngerer Zeit auch an die Ereignisse des Jahres 1989/90, zu erkennen.41 Es wäre eine weitere Untersuchung wert, hier, nicht nur auf dem Feld der Erinnerungspolitik, die sich andeutenden Unterschiede zwischen den ernsten, homogenisierenden Nationalisierungsstrategien des „östlichen“ Europa mit den pluralen und zunehmend auch spielerischen, fluiden, individualisierten Formen im „westlichen“ Europa zu vergleichen. Dabei wäre zu untersuchen, wie jeweils auf die Vermittlungsformen und Motive zurückgegriffen wird, die im Prozess des „Nation Building“ im 19. Jahrhundert bereits wirksam waren: auf nationalisierte Industrieprodukte, auf das „kulturelle Erbe“, auch auf die Religion, des Weiteren auf traditionale symbolische Inszenierungen wie (Volks-)Feste und Gedenkfeiern, auf alte und neuartige nationale Helden, zum Beispiel gegenwärtig auf Ikonen aus den Bereichen Sport und Pop, auf Alltagsgegenstände und repräsentative Bauwerke, auf Institutionen wie Museen oder Vereine, auf historische Lesestoffe und Narrative. Im Zeitalter der Massenmedien finden sich insbesondere neuartige „Nationalisierungsagenten“: Die Kreativindustrie mit ihren multimedial inszenierten Kampagnen hat auf jeden Fall eine führende Rolle übernommen. Weitere räumlich und zeitlich vergleichend ausgerichtete Forschungen sollten, gerade auch mithilfe des ethnografischen Blickes, in die einschlägigen Prozesse der Alltagswelt hineinleuchten. Hier zeigt sich das Nationale durch die Kombination von Medien- und Diskursanalysen, von Beobachtungs- und Interviewmethoden als be- und gelebte identifikatorische Praxis, als eine Alltagslogik des Handelns, ausgerichtet an einem traditionalen kulturellen Formenrepertoire wie zunehmend auch an neuen Leitbildern und Praktiken. Gerade für das Feld der Nationalismusforschung erscheint diese genuin kulturanthropologisch-ethnologische Perspektive, die immer wieder von der Bühne des politischen, ökonomischen und medialen Feldes in die Kleinräumigkeit des unmittelbaren Alltagsgeschehens hinüberwechselt, als substanzielle Ergänzung zu den übrigen sozialwissenschaftlichen und historischen Nachbarfächern besonders fruchtbar. Und nicht zuletzt erlaubt es gerade erst die historische Dimensionierung zu verstehen, was es in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten auf sich hat mit dem Phänomen eines „Nation-Rebuilding“, der Wiederentdeckung des Nationalen zwischen Wiederbelebung tradierter Topoi, Motive und Formen sowie kreativer Aneignung oder auch Neuschöpfung. 41 Insbesondere anlässlich der runden Jubiläen zu 10 Jahre/20 Jahre Mauerfall und Wiedervereinigung wurde eine Erinnerungsmaschinerie in Gang gesetzt, siehe auch: Münkler/ Hacke (Hrsg.): Wege in die neue Bundesrepublik, a. a. O., S. 25 – 28.

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Gleichgeblieben ist, dass das Nationale weiterhin polyvalent ist. War es doch auch in der Ersten Moderne eine Ideologie, die sich mit allen möglichen politischen Zielen verbinden ließ. Je nachdem verband sie sich mit liberalen oder autoritär-militaristischen Zielen; auch damals war das Nationale einmal an dem „demos“-Konzept und einmal an der Idee des „ethnos“ orientiert; alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen von politisch links bis rechts bedienten sich dieser Ideologie für ihre Interessen. Doch gegenwärtig scheint das funktionale Spektrum, die Kontexte und die emotionalen und kognitiven Rollen, in denen nationale Praktiken sich zeigen, gegenüber der Ersten Moderne noch weitaus pluraler geworden zu sein. Dies deuten die beobachtbaren informellen und spielerischen Formen an: auf den Fanmeilen, in der Werbeindustrie und Popkultur. Hier werden die Hymne und Flagge, einst sakrosankte offizielle Symbole, in Werbespots und Branding-Kampagnen oder von den Akteuren für ihre individuellen schwarz-rot-goldenen Maskeraden zur Stilisierung (in) der Fangemeinde fröhlich verfremdet. Hier geht es nicht mehr um gestrenge Bekenntnisse, sondern um situative und lokale Vergemeinschaftungen auf den Partymeilen, sei es während der Feiern zum Tag der Deutschen Einheit, sei es bei internationalen Sportwettkämpfen. So gesehen hat sich das Nationale längst auch aus staatlicher Bevormundung, auch aus dem Versuch einer Definitionsmacht durch die Eliten, befreit und ist Teil kreativer Alltagsstrategien geworden. Wie weit diese Formen der Vergemeinschaftung von „unten“ tragen, ob sie tatsächlich auch neuen Gemeinsinn und Bürgerstolz zu aktivieren vermögen, wie es die „Du-bist-Deutschland“-Kampagne zu hoffen wagte, sei jedoch dahingestellt. Wie auch die teilweise EU-skeptischen Rückrufaktionen des Nationalstaats angesichts von Finanzmarkt- und Staatenkrisen zeigen, kann es weiterhin genauso gefährlich sein, das Nationale zu über- wie zu unterschätzen. Aus Sicht einer europäischen Ethnologie gilt es ohnehin, vor allem die in diversen gesellschaftlichen Kontexten beobachtbaren Re- und Denationalisierungsdynamiken dekonstruktiv zu beobachten und in Mikroanalysen jeweils kontextspezifisch zueinander in Beziehung zu setzen.

Bibliographie Bausinger, Hermann: Typisch Deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen?, München: Verlag C. H. Beck 2000. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.): Ein Handbuch für Deutschland, Berlin: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2003. Beck, Ulrich/Grande, Edgar : Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas: Gouvernementalität, Neolibera-

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Manuel Becker/Volker Kronenberg (Bonn)

Patriotismus und nationale Identität in der „Berliner Republik“. Eine Verortung des „Sommermärchens“ Fußball-WM 2006 in der politischen Kultur der Bundesrepublik

Wer hätte das vor sechs Jahren gedacht? „Deutschland. Ein Sommermärchen“: Kaum hatte die Fußballweltmeisterschaft 2006 begonnen, ging ein Stimmungsaufschwung durch das Land. Politische Sachthemen traten mit der Eröffnungsfeier und dem ersten Anpfiff in den Hintergrund. Kaum jemand bemerkte, dass die Regierung in den vier fröhlichen Fußballwochen die Kürzung der Pendlerpauschale, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Streichung der Eigenheimzulage auf den Weg gebracht hatte. Die (Fußball-)Nation Deutschland hatte anderes im Sinn. Von der Nordsee bis in die Alpen, von Karlsruhe bis Görlitz wurden schwarz-rot-goldene Fahnen geschwenkt, Kinder, Jugendliche und Erwachsene zogen mit in den Nationalfarben geschminkten Gesichtern durch die Straßen und der BILD-Zeitung ließen sich Millionen von Stickern mit dem Aufdruck „Schwarz-Rot-Geil“ entnehmen. Daher setzte in Medien und Öffentlichkeit parallel zur Fußball-Weltmeisterschaft auch eine breite Diskussion über einen vermeintlich „neuen“ Patriotismus in Deutschland ein.1 „Deutschsein“ war im Sommer 2006 wieder „in“, sich zum eigenen Land zu bekennen fast eine Selbstverständlichkeit geworden; und der Begriff des „Patriotismus“ galt nicht länger als Fremdwort, das aus dem deutschen Sprachgebrauch vollständig verschwunden schien. Der Innenminister wertete die WM als erfolgreiche Integrationsveranstaltung und der Bundestagspräsident sprach von einem „fröhlichen Patriotismus“2 ; auch die Wissenschaft diagnostizierte einen „entspannten Enthusiasmus“ und einen „weltoffenen Patriotismus“3. Es mischten sich jedoch auch einige beschwichtigende Stimmen in diesen Chor euphorischer Lobeshymnen: Die einen wiesen darauf hin, es habe sich ja nur um Fußball gehandelt, den anderen galt der vermeintlich neue Patriotismus lediglich als ein postpatriotischer „Partyotismus“, der kaum 1 Vgl. Schediwy, Dagmar : Sommermärchen im Blätterwald. Die Fußball-WM 2006 im Spiegel der Presse, Marburg: Tectum-Verlag 2008. 2 Lammert, Norbert: Fröhlicher Patriotismus. Ein Rückblick auf die WM, in: Das Parlament, Nr. 28/29, 17. 07. 2006, S. 1. 3 Vgl. Jesse, Eckhard: Der weltoffene Patriotismus, in: Berliner Republik, 2 (2007), S. 79 – 82.

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mehr darstellte als eine bloße Befriedigung eines Massenbedürfnisses nach Feierlichkeiten. Wie ist das in Anlehnung an Bern 1954 titulierte „Wunder von Berlin“4 zu erklären? Wie lässt es sich im Rückblick bewerten und einordnen?5 Sagt es tatsächlich etwas aus über die politische Kultur des Landes, besonders im Hinblick auf die lange Zeit heiklen Fragen nach einer aufgeklärten „nationalen Identität“ der Deutschen? Zur Beantwortung dieser Leitfragen soll zunächst noch einmal das Stimmungsbild während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 eingefangen werden, das anhand einiger empirischer Daten unterfüttert werden soll (1). Anschließend wird den Gründen für die Ereignisse im Sommer 2006 nachgegangen. Drei Ursachenkomplexe gilt es dabei genauer unter die Lupe zu nehmen: Zunächst soll der Wandel des deutschen Geschichtsbildes in den vergangenen 20 Jahren beschrieben werden. Es kam nämlich in diesem Zusammenhang zu einer Perspektivenverschiebung – oder präziser ausgedrückt: einer Perspektivenergänzung im deutschen Geschichtsbewusstsein, die konstitutiv für den gewandelten deutschen Identitätsdiskurs ist (2). Im Anschluss daran wird auf die Bedeutung der rot-grünen Bundesregierung in diesem Kontext eingegangen, die – von vielen unerwartet und vermutlich nicht einmal bewusst intendiert – zu einem zentralen Träger des neuen Identitätsdiskurses avancierte (3). Anschließend sollen die demografische und die migrationspolitische Krise thematisiert werden, die – einander wechselseitig verstärkend – zu einem kulturellen Selbstverständigungsprozess der Deutschen über ihr Land geführt haben (4). Auf dieser Grundlage soll abschließend der Versuch einer Verortung des viel zitierten „Sommermärchens“ 2006 in der politischen Kultur der Bundesrepublik unternommen werden (5).

1.

Deutschland im WM-Sommer 2006

Am 9. Juni 2006 gewann die deutsche Mannschaft ihr erstes Vorrundenspiel mit einem 4:2-Eröffnungssieg gegen Costa Rica. Damit leiteten die Nationalspieler einen vierwöchigen Feiermarathon in der deutschen Gesellschaft ein, dem man sich nur schwer entziehen konnte und der auch mit dem unglücklichen Ausscheiden gegen Italien in der Verlängerung des Halbfinales am 4. Juli 2006 noch nicht beendet war. Die sonst so ordnungsliebenden Deutschen legten nach gewonnen Spielen in vielen ihrer Innenstädte regelrecht den Verkehr lahm. Überall 4 So etwa Urban, Johannes: Das „Wunder von Berlin“ – Was Deutschland aus der WM-Erfahrung lernen sollte, in: Die Politische Meinung, 442 (2006), S. 71 – 75. 5 Vgl. dazu auch Hebeker, Ernst/Hildmann, Philipp W. (Hrsg.): Fröhlicher Patriotismus? Eine WM-Nachlese, München: Hanns-Seidel-Stiftung 2007.

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sah man Autos mit kleinen schwarz-rot-goldenden Fähnchen. Auch wenn sie dem Betrachter heute schon so vertraut bei größeren internationalen Fußballmeisterschaften vorkommen, so gilt es sich dennoch in Erinnerung zu rufen, dass die Autofähnchen erst für die WM 2006 erfunden wurden. Aber nicht nur an den Autos, überall wurden schwarz-rot-goldene Fahnen geschwenkt. Das „public viewing“ von Fußballspielen avancierte zur neuen Form des sozialen Events und etablierte eine neue Feierkultur von bis dato ungekanntem Ausmaß – nicht zufällig wurde „Fanmeile“ zum Wort des Jahres 2006 gekürt. Das Wetter tat sein Übriges dazu, sodass sich Deutschland vier Wochen lang zu den Klängen von Herbert Grönemeyer und der Sportfreunde Stiller einem berauschenden Fest hingab. Natürlich war spätestens seit dem „Wunder von Bern“ bei der WM 1954 bekannt, wie wichtig der Fußball psychologisch für das nationale Identifikationsgefühl in Deutschland ist.6 Daher waren sich Sportfunktionäre und Berliner Politiker durchaus darüber im Klaren, dass die Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land eine hervorragende Bühne für nationale Imagepolitik darstellen würde. Auch wurden dementsprechende Maßnahmen eingeleitet – nichtsdestoweniger hatte man die Eigendynamik dieses Sommers in dieser Form nicht planen können.7 Empirische Untersuchungen aus der Zeit bestätigen diesen Eindruck: Nach einer Umfrage, die das Allensbacher Institut für Demoskopie nach der WM durchführte, waren 58 Prozent der Bevölkerung überrascht, dass das ganze Land plötzlich Flagge zeigte, 62 Prozent hielten dieses Phänomen gleichzeitig für den Beleg, dass in Deutschland mittlerweile ein ähnliches Nationalgefühl existiere wie in anderen Ländern auch. 79 Prozent der Deutschen sahen in der Identifikation mit dem eigenen Land grundsätzlich etwas Positives, das die Haltung zu anderen Nationen in keiner Weise negativ präge; nur 3 Prozent der Bevölkerung, gerade einmal 2 Prozent der Altersgruppe unter 30 Jahren, hielten es für gefährlich, wenn durch Fahnen oder andere schwarz-rot-goldene Symbole die Identifikation mit dem eigenen Land zum Ausdruck gebracht werde. Nur knapp 10 Prozent der Deutschen erachteten die patriotische Identifikation mit dem eigenen Land angesichts der europäischen Integration für überholt – 74 Prozent waren dagegen überzeugt, dass die Nationen auch im vereinten Europa die entscheidende Identifikationsebene bleiben werden.8 Wer in dieser Zeit noch vor nationalem Überschwang warnte bzw. einen neuerlichen Nationalismus be6 Vgl. Seitz, Norbert: Doppelpässe. Fußball und Politik, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 1997. 7 Vgl. dazu: Kronenberg, Volker/Becker, Manuel: Sommermärchen reloaded? Die FußballWeltmeisterschaften 2006 und 2010 im Lichte eines neuen Patriotismus, in: MUT, Forum für Kultur, Politik und Geschichte, 513 (2010), S. 22 – 32. 8 Vgl. Köcher, Renate: Ein neuer deutscher Patriotismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 08. 2006, S. 5.

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schwor, hatte einen schweren Stand. Die Rolle der nationalen Kassandra, in der Vergangenheit stets dutzendfach besetzt, war nicht gefragt. Aber nicht nur das deutsche Selbstbild erfuhr eine signifikante Aufwertung, auch das Ausland fühlte sich „zu Gast bei Freunden“. Die hohe Identifikation mit der eigenen Nationalmannschaft wurde durch ein signifikantes Interesse an der Kultur der anderen Nationen flankiert, das erfreulicherweise auch von den Medien durch umfassende Informationsangebote bedient wurde. Wenn selbst die traditionell deutschskeptische britische Presse mit euphorischen Schlagzeilen aufmacht9 – und dies auch noch im Zusammenhang mit dem Fußball –, so kann man in der Tat davon ausgehen, dass sich grundlegend etwas im Deutschlandbild der Welt gewandelt hat. Da die Türkei in der Relegation unglücklich gegen die Schweiz ausgeschieden war und deshalb nicht an der WM hatte teilnehmen können, solidarisierten sich die in Deutschland lebenden türkischen Mitbürger mit ihrer Wahlheimat und nahmen fröhlich und ausgelassen an den nächtlichen Feierlichkeiten nach gewonnen Spielen teil. In einer von Saskia und Gernot Brauer verfassten Studie, in der eine umfassende Auswertung von Interviews und der Medienberichterstattung zur WM 2006 vorgenommen wurde, werden interessante Ergebnisse zum Deutschlandbild in der Welt zusammengetragen.10 Dabei fanden die Autoren heraus, dass die bisher als typisch deutsch geltenden Attribute Ordnung, Gründlichkeit, Sauberkeit, Pünktlichkeit und Sicherheitsbewusstsein um die bisher weniger gesehenen Attribute Herzlichkeit, Offenheit, Gastfreundschaft, Lebensfreude und Fairness ergänzt wurden.11 Viele Journalisten nahmen eine so nicht erwartete heitere Grundstimmung, Festlaune und Partystimmung wahr und berichteten ausführlich darüber. Jim White vom Londoner Telegraph schrieb: „Unser Stereotyp von den Deutschen war das von vorschriftengläubigen und humorlosen Bürokraten, die stur und rechthaberisch auf ihre knallharten Vorschriften pochten. […] Was Zehntausende von Besuchern von überall her aus der Welt jedoch feststellten, war, wie überholt dieses Image ist. Denn was wir erlebten, war eine Nation, der nichts wichtiger ist als eine gute Zeit zu haben.“12

Wirft man einen Blick auf die historischen Bezüge in der Berichterstattung zur Fußballweltmeisterschaft, so fällt auf, dass ungeachtet aller positiven Ausstrahlungskraft Deutschlands im Jahr 2006 der Nationalsozialismus nach wie vor das dominierende Thema blieb. In 23,3 Prozent aller analysierten Presse9 Vgl. „Germans start to have fun“, in: Daily Telegraph, 21. 06. 2006. 10 Vgl. Brauer, Saskia/Brauer, Gernot: Was ist bloß los mit den Deutschen? Die Fußball-WM 2006 und das Deutschlandbild in der Welt, URL: http://de.fifa.com/mm/document/afmarketing/marketing/sport3_57408.pdf (05. 01. 2012). 11 Vgl. ebd., S. 50 – 51. 12 Deutsche Übersetzung zit. nach ebd., S. 27.

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berichte weltweit wurde die NS-Vergangenheit von den Journalisten konkret erwähnt, in 16,6 Prozent der Berichte wurde Adolf Hitler persönlich direkt genannt. Die Geschichte der Weimarer Republik, des Kaiserreiches und der Zeit nach 1945 nahm demgegenüber – mit der wichtigen Ausnahme des Mauerfalls – einen deutlich unterprivilegierten Status ein.13 Gleichwohl kam die Studie schlussendlich zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die WM durch ihre emotionalisierende Kraft und ihre weltweite Ausstrahlung die Reputation Deutschlands in der Welt deutlich positiv beeinflusst hat. Am eindringlichsten kommt dieser Befund in einem Statement der Deutschen Botschaft in Abu Dhabi zum Ausdruck, die in der WM die „ohne Zweifel beste PR-Maßnahme für die Bundesrepublik seit Bestehen“ sah.14 Doch rechtfertigen es diese Beobachtungen, von einem Wunder von Berlin zu sprechen? Für den Politikwissenschaftler stellte sich an dieser Stelle bereits ein terminologisches Problem: „Wunder“ ist eher eine Kategorie für Theologen und Religionswissenschaftler, die nicht recht in das sprachliche Arsenal der Sozialwissenschaften passen will. Von einem schwarz-rot-goldenen „Wunder“ kann streng genommen keine Rede sein, denn Wunder entziehen sich einer rationalen Erklärung. Wunder sind kein Menschenwerk, sondern Zeichen göttlichen Waltens bzw. göttlicher Güte. Auch wenn der Himmel zur Zeit der WM heiter und der Fußballgott der deutschen Mannschaft nicht nur gnädig, sondern überaus gütig war, so handelte es sich keineswegs um ein unerklärliches, unvermitteltes Vorkommnis. Im Gegenteil: Die unbefangene Identifikation mit der eigenen Nationalmannschaft wurzelt in einer grundsätzlich veränderten Einstellung der Deutschen gegenüber ihrem Gemeinwesen. Sie hat klar identifizierbare Voraussetzungen im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Raum.15 Auf drei von ihnen soll im nun Folgenden eingegangen werden.

2.

Veränderungen im Geschichtsbild der Deutschen

Was das Geschichtsbild einer Nation im Generellen angeht, so ist in der Wissenschaft unbestritten, dass es in einem engen Zusammenhang zum Selbstbild eines Staates steht.16 Geschichtsbilder greifen häufig auf bestimmte Grün-

13 Vgl. ebd., S. 30. 14 Vgl. ebd., S. 51. 15 Vgl. dazu grundsätzlich im Gesamtkontext Kronenberg, Volker : Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (3. Aufl.) 2013. 16 Vgl. dazu Schulz, Evelyn/Sonne, Wolfgang (Hrsg.): Kontinuität und Wandel. Geschichtsbilder in verschiedenen Fächern und Kulturen, Zürich: vdf Hochschulverlag 1999. Vgl.

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dungsmythen zurück17 – mit der Französischen Revolution für das moderne Frankreich, dem Unabhängigkeitskrieg für die USA und dem antifaschistischen Gründungsmythos in der DDR seien exemplarisch drei unterschiedlich gelagerte Beispiele genannt. Auch die Bundesrepublik nach 1945 verfügte über ihre eigenen Gründungsmythen: Neben dem positiv akzentuierten „Wirtschaftswunder“ war es vor allem die Abgrenzung vom Nationalsozialismus – also die Fokussierung auf ein negatives Geschichtsbild –, die maßgeblich war. Dies war der Grund für ein lange Zeit gebrochenes Verhältnis zur Kategorie der „nationalen Identität“ und auch der Grund dafür, warum der Begriff „Patriotismus“ vielen Deutschen lange Zeit als ein Fremdwort erschien. Die Epochenzäsur von 1989 – 1991 hat diese Perspektive grundlegend verschoben: Es kam für die Bundesrepublik die Bewältigung einer zweiten deutschen Diktatur hinzu. Unabhängig vom politischen Standpunkt des Betrachters eröffneten sich nun neue Perspektiven, die deutsche Geschichte zu bewerten und einzuordnen. Der eher der politischen Linken zuzuordnende Historiker Heinrich August Winkler schreibt in der Einleitung seines Bestsellers „Der lange Weg nach Westen“: „Historische Darstellungen bedürfen eines Fluchtpunktes. Fluchtpunkte ändern sich im Verlauf der Zeit. Für Darstellungen der jüngeren deutschen Geschichte bildeten nach dem Zweiten Weltkrieg die Jahre 1933 und 1945 die Fluchtpunkte, auf die hin deutsche Geschichte geschrieben wurde. Inzwischen gibt es einen neuen Fluchtpunkt: das Jahr 1990. […] Das Jahr 1990 als Fluchtpunkt zu wählen heißt auch manche Deutung überprüfen, die die deutsche Geschichte von 1945 bis 1990 erfahren hat.“18

Winkler wählt sich als Leitnarrativ seiner Geschichte der Deutschen von 1806 bis 1990 das Diktum vom „langen Weg nach Westen“.19 Die deutsche Geschichte ist bei ihm also nicht mehr die Geschichte des moralisch-politischen Verfalls im Nationalsozialismus, sondern ein 200-jähriger Weg hin zum vollen Anschluss an das westliche Wertesystem. Diese Perspektivenverschiebung weg vom alleinigen negativen Fixpunkt des Nationalsozialismus macht eine weitere Neuerung möglich: In der „alten Bundesrepublik“ vor 1990 wurde – gerade unter Intellektuellen – vielfach mit dem eigenen Land gehadert. Gerade in den 1960er Jahren kritisierten viele die Bundesrepublik als Fortsetzung des autoritären ferner Ferro, Marc: Geschichtsbilder. Wie die Vergangenheit vermittelt wird. Beispiele aus aller Welt, Frankfurt am Main: Campus 1991. 17 Vgl. Gehrke, Hans-Joachim (Hrsg.): Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg: Ergon 2001; Bizeul, Yves (Hrsg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin: Duncker & Humblot 2000. 18 Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, Band 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München: Verlag C. H. Beck 2000, S. 2. 19 Vgl. dazu auch der Beitrag von Matthias Waechter in diesem Band.

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Staates im formal- und scheindemokratischen Gewand. Doch hatte der vielfach befürchtete „Schlussstrich“ mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik – glücklicherweise – nie eine Chance und wird auch in Zukunft angesichts dieses überwältigenden Konsenses in Politik und Gesellschaft keine haben. Heute ist, anders noch als während des „Historikerstreits“20 vor nunmehr 25 Jahren, unter Historikern weitestgehend unumstritten, dass sich die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte beschreiben lässt. Eckhard Fuhr schreibt: „Die Geschichtswende von 1989, das Wiedererstehen eines deutschen Nationalstaates, das Ende der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges und die Öffnung der Geschichtsräume Mittel- und Osteuropas haben jenes spezifisch bundesrepublikanische Geschichtsgefühl, aber auch die melancholische und verbitterte Widerrede, obsolet gemacht. Die Verhältnisse sortieren sich neu.“21

Und eine der prominenten Überblicksdarstellungen über die Bundesrepublik aus der Feder des Heidelberger Historikers Edgar Wolfrum trägt den programmatischen Titel: „Die geglückte Demokratie“. Wolfrum zufolge ist das Aufregende an der bundesdeutschen Geschichte gerade das Ausbleiben der großen Katastrophe und die schlichte Tatsache, „daß dieser Staat zu einer der stablisten und angesehensten westlichen Demokratien geworden ist.“22 Der Weg dorthin sei nach 1945 alles andere als selbstverständlich gewesen. Dieses bereits in der Titelgebung durchschimmernde positiv akzentuierte Urteil über die bundesdeutsche Geschichte als demokratische Erfolgsgeschichte spiegelt paradigmatisch die Wahrnehmung einer Mehrheit der Deutschen auf ihre Vergangenheit wider. Die über Jahrzehnte hinweg unbestrittene identitätspolitische Schlüsselfrage „1945 und wir“23 wird sukzessive um jene nach „1848 und wir“, „1949 und wir“ und „1989 und wir“ erweitert – nicht ohne die wesentliche Bedeutung der Shoah für die Erinnerungskultur der Bundesrepublik in Form des 2005 eingeweihten Mahnmals für die ermordeten Juden in Europa an zentraler Stelle der Bundeshauptstadt zu demonstrieren. Um den oben bereits erläuterten Zusammenhang zwischen Geschichtsbild und Selbstbild noch einmal aufzugreifen: Die Perspektivenweitung im Bereich des deutschen Geschichtsbewusstseins konnte nicht ohne Konsequenzen für die nationale Identifikation bleiben – zumal auch die Politik diese geschichtskulturellen Neujustierungen 20 Vgl. dazu Kronenberg, Volker : Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der „Historikerstreit“ – 20 Jahre danach, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. 21 Fuhr, Eckhard: Was ist des Deutschen Vaterland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1 – 2 (2007), S. 3 – 7, hier S. 3 f. 22 Wolfrum, Edgar : Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 11. 23 Frei, Norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München: dtv 2009.

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aufnahm. Dies geschah insbesondere durch eine Bundesregierung, von der man dies vor ihrem Antritt so nicht erwartet hatte: Rot-Grün.

3.

Die Rolle der rot-grünen Bundesregierung

Es scheint paradox, aber um die Ereignisse aus dem Sommer 2006 erklären zu können, muss auf den Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung 1998 zurückgegriffen werden: Der bereits zitierte Journalist Eckhard Fuhr hat in verschiedenen Publikationen das „Ende der Nachkriegszeit“ als so etwas wie das „Leitmotiv“ der Ära Schröder bezeichnet.24 Schon die erste Regierungserklärung Schröders schlug unübersehbar neue Töne an: „Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muß, die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, doch nach vorne blickt.“25

Es sollte nicht bei diesem bloßen Lippenbekenntnis bleiben: Die Ereignisse auf dem Balkan stellten die rot-grüne Bundesregierung vor ihre erste große außenpolitische Herausforderung, die sich gleich zu einer Belastungsprobe für den Fortbestand des Regierungsbündnisses auswachsen sollte. Jenseits politischer Einzelfragen kann man retrospektiv Rot-Grün womöglich gar als staatspolitischen Glücksfall bezeichnen. Mit Rot-Grün übernahmen Repräsentanten der viel zitierten und diskutierten 68er-Generation politische Verantwortung. Diese Generation trug nun Verantwortung für ein Gemeinwesen, an dessen innerer Liberalität und demokratischer Stabilität sie lange Zeit ernsthafte Zweifel geäußert hatte. Kaum vorstellbar ist es aus heutiger Sicht, dass Rot-Grün in der Opposition die parlamentarische Zustimmung zu einem Einsatz deutscher Soldaten auf dem Balkan ohne UN-Mandat gegeben hätte. Im Gegenteil: Der politische wie gesellschaftliche Aufruhr wäre beträchtlich, vermutlich nur mit jenem der Nachrüstungsdebatte vergleichbar gewesen. Große Teile der Bevölkerung wurden von Gerhard Schröder und Joschka Fischer auf einen verantwortungsethischen Weg der deutschen Mittelmacht im Zentrum Europas geführt, der noch unter Kohl als gefährlicher neuerlicher Sonderweg pazifistisch beargwöhnt wurde. Bekanntermaßen bemühte der grüne Außenminister den Handlungsimperativ „Nie wieder Auschwitz…“ zur Legitimation des Kosovo-Einsatzes. Dieser rot-grüne Weg wurde durchaus im 24 Vgl. z. B. Fuhr: Was ist des Deutschen Vaterland?, a. a. O. 25 Schröder, Gerhard: „Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen…“. Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 10. 11. 1998 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn, in: dpa-bulletin, Dok.-Nr. 98074, S. 28.

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Einklang mit sozialdemokratischen Vordenkern und Urgesteinen beschritten. Hier ist beispielsweise die Publikation „Der deutsche Weg – selbstverständlich und normal“ zu nennen, die Egon Bahr, der seinerzeitige intellektuelle Kopf hinter Willy Brandts „neuer Ostpolitik“, veröffentlicht hat.26 Bahr vertritt hierin die Auffassung, die Bundesrepublik habe außenpolitisch ihre Pubertät erfolgreich hinter sich gebracht und sei nun erwachsen geworden. Das bedeute neue Rechte und auch neue Pflichten. Es sei normal, dass Deutschland wie jeder andere Staat nun seine Interessen vertrete und seine Ziele durchsetzen wolle, ohne sich von der Vergangenheit lähmen zu lassen. Ein weiteres Beispiel: Unter SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping wurde eingeführt, dass 1999 erstmals am 20. Juli Rekruten der Bundeswehr im Bendlerblock vereidigt wurden – an jenem Ort also, an dem 1944 die HitlerAttentäter um Stauffenberg hingerichtet wurden. Daran lässt sich nachvollziehen, wie sich die Geschichtspolitik in den vergangenen Jahren zunehmend von der negativen Fixierung auf den Nationalsozialismus zu lösen begann und positive Traditionslinien in den Mittelpunkt rückten. Ebenso könnte man das Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen nennen, das 2000 zwar von konservativen Kreisen initiiert wurde, aber auch prominente sozialdemokratische Unterstützer fand, neben Peter Glotz als Vorsitzendem der „Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen“ insbesondere Bundesinnenminister Otto Schily.27 Die Tatsache, dass die Themen Flucht und Vertreibung um die Jahrtausendwende einen signifikanten medialen Aufschwung erlebten, ging mit der Tendenz einher, auch die Deutschen nicht ausschließlich in der Täterrolle, sondern mitunter auch in der Rolle als Opfer des Nationalsozialismus zu begreifen. Interessanterweise waren nicht nur die konservativen Vertriebenenverbände, sondern auch viele „Altlinke“ Schrittmacher dieses Prozesses.28 Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“, die den Untergang des Flüchtlingsschiffes der Wilhelm Gustloff zum Thema hat,29 dürfte wohl das prominenteste Beispiel hierfür sein. Die Verständigung und der Diskurs über das eigene Land wurden im Rückblick in den sieben Jahren der rot-grünen Bundesregierung gerade von jenen Vertretern befördert, die ehemals über weite Strecken der bundesrepublikanischen Geschichte jedwede derartige Verständigung als Deutschtümelei, als nationalistischen Rückfall oder einfach als rechte Tendenzwende abgetan hatten. 26 Vgl. Bahr, Egon: Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München: Blessing 2003. 27 Vgl. Bund der Vertriebenen: Otto Schily erhält Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen, Pressemitteilung vom 29. 01. 2009, URL: http://www.bund-der-vertriebenen.de/presse/index.php3?id=812 (05. 01. 2012). 28 Vgl. Becher, Peter : Die deutsche Linke und die Vertriebenen, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 12 (2000), S. 649 – 653. 29 Grass, Günter : Im Krebsgang. Eine Novelle, München: dtv 2002. Das Buch ist bei dtv mittlerweile bereits in der 11. Auflage erschienen.

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Gerhard Schröder, Joschka Fischer oder auch Jürgen Trittin sind heute, auch mit unterschiedlichem zeitlichen Vorlauf, in der Bundesrepublik als „ihrem“ Land angekommen. Die einstigen (geschichts-)politischen Reflexe samt LinksRechts-Retourkutschen gehören heute auch dank Rot-Grün der Vergangenheit an. Sie sind der Möglichkeit einer konstruktiven, nicht länger von Misstrauen und Verdächtigung geprägten Verständigung über die gemeinsame Zukunft, über das Ethos von Republik und Patriotismus in Zeiten eines nachhaltigen gesellschaftlichen Wandels gewichen. Es gibt genügend Indizien für die eingangs zitierte Fuhr’sche Wendung vom „Ende der Nachkriegszeit“ als Leitmotiv der Ära Schröder. Unter der Regierung Schröder/Fischer wurden die tradierten geschichtspolitischen Koordinaten der Bundesrepublik als revisionsbedürftig entlarvt. Nun ließe sich einwenden, dass dieser Prozess einer neuen Selbstverortung des wiedervereinigten Deutschlands in historischer, kultureller wie gesellschaftspolitischer Hinsicht in diesen Jahren gleich unter welcher Regierung auch immer ohnehin stattgefunden hätte. Gerade das Jahr 1999 bot durch den Regierungswechsel von Bonn nach Berlin, die Feierlichkeiten zu 50 Jahren Grundgesetz und zu zehn Jahren „friedlicher Revolution“ genügend Anlass zu grundlegenden politisch-kulturellen Reflexionen. Dennoch wird man im Rückblick konstatieren müssen, dass Rot-Grün diesen Prozess aktiv aufgriff und ihn von staatlicher Seite aus in einer Weise unterstützte, die man nicht hatte erwarten können. Damit fand sich die Republik in einem neuen Prozess der Selbstverortung wieder. Während der rot-grünen Bundesregierung wurde, ob von den politischen Protagonisten gewollt oder ungewollt, ein Prozess angestoßen, dessen Resultat noch nicht absehbar ist. Damit wurde zugleich auch ein wesentlicher Teil der Voraussetzungen für den unverkrampften Umgang mit nationaler Symbolik geschaffen, wie er sich bei der Weltmeisterschaft 2006 manifestierte.

4.

Demografie und Integration

Die demografische Krise in Deutschland und die Debatte um geeignete Kriterien der Einwanderung bzw. der Integration lässt die abstrakten Überlegungen über das Verhältnis zur eigenen Nation sehr konkret und virulent werden. Die Fakten liegen auf dem Tisch: Sollte künftig die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau in Deutschland von durchschnittlich 1,4 unverändert bleiben und im Gegenzug die Lebenserwartung der Bürger weiter zunehmen, so würde sich die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik – nach pessimistischen Schätzungen – ohne Ausgleich durch Wanderungen bis zum Jahr 2050 von rund 82 Millionen auf 50,7 Millionen und bis zum Jahr 2100 auf 22,4 Millionen reduzieren. Sollte die Geburtenrate innerhalb eines Zeitraums von 15 Jahren auf das Niveau der EU

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(im Durchschnitt 1,5) steigen, so betrüge die Bevölkerungszahl im Jahre 2050 55,4 Millionen und 2100 32,2 Millionen. Bereits vor der Jahrtausendwende hat sich die Linie des Anteils der noch nicht 20-Jährigen sowie der über 60-Jährigen – bezogen auf den Zeitraum zwischen 1900 und 2030 – gekreuzt. Schon im Jahr 2030 wird die Bundesrepublik Deutschland den höchsten Rentneranteil in der Europäischen Union haben.30 Im Lichte dieser Zahlen erübrigt sich jedes Ausweichen vor den familienpolitischen, aber eben auch integrationspolitischen Herausforderungen, vor denen unser Land steht. Hat sich der Geburtenrückgang in Deutschland also zu einem „Jugendschwund“ fortentwickelt, der nicht beliebig lang mit ökonomischer Produktivitätssteigerung kompensiert werden kann, so kommt der Frage nach Zuwanderung politisch ein hoher Stellenwert zu. Damit sind die Herausforderungen bezeichnet, die sich mit der Debatte um „Leitkultur“, „Multikultur“ bzw. „kulturellen Pluralismus“ verbinden, die Bundestagspräsident Norbert Lammert sehr behutsam und zielführend initiiert hat.31 Beinahe vergessen zu sein scheint, dass auch Friedrich Merz 2000 eine ähnliche Debatte anzustoßen versucht hat. Da dies damals allerdings in einem gesellschaftspolitisch aufgeladenen Klima nach dem Brandanschlag auf eine Düsseldorfer Synagoge stattfand, hat man den Begriff „Leitkultur“ damals noch als rechtskonservative Kategorie mit latentem Hang zur Ausländerfeindlichkeit abgetan. Merz sah sich von dem von Schröder ausgerufenen sogenannten „Aufstand der Anständigen“ überrollt, sodass eine solide Debatte im Kern ersticken musste. Es war eine kurzatmige und unfruchtbare Debatte, die weniger an Verständigung und mehr an trotzigen Behauptungen orientiert war. Als Norbert Lammert 2005 verschiedene Prominente bat, ihre Überlegungen zum Thema Leitkultur niederzuschreiben, gab es keinen vergleichbaren Aufschrei wie noch fünf Jahre zuvor bei seinem Parteikollegen Merz. Auffallend ist, wie stark sich Ton und Tenor im Verlauf der Integrationsdebatte verändert haben. Beide sind nachdenklicher geworden: der Ton leiser, der Tenor abwägender. An die Stelle eines parteipolitischen Kampfes um „Leitkultur“, den manche Medien gar zu einem Weltanschauungskrieg stilisierten, ist eine sachbezogene, problembewusste und ausführliche Debatte getreten. Dies gilt durchaus auch noch nach der leidenschaftlichen Kontroverse um das Buch „Deutschland schafft sich ab“ des früheren Bundesbankers Thilo Sarrazin,32 in der man zeitweise den Eindruck gewinnen konnte, dass alte, ungute Reflexe erneut aufblitzten. Doch solche von der medialen Eskalationsspirale erhitzte Debatten wie jene um Sarrazin dürfen keinesfalls den Blick dafür verstellen, dass „Leit-“ und „Multikul30 Vgl. Kronenberg: Patriotismus in Deutschland, a. a. O., S. 260. 31 Vgl. Lammert, Norbert (Hrsg.): Verfassung, Patriotismus, Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. 32 Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München: DVA 2010.

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tur“ gerade keine Gegensätze sind. Es scheint mittlerweile gesellschaftlicher Konsens zu sein, dass gerade eine multikulturelle Gesellschaft einer gemeinsamen kulturellen Leitidee bedarf.33 Dies fordern jüngere Intellektuelle mit Migrationshintergrund wie Seyran Ates¸, Feridun Zaimoglu oder Zafer Zenocak ebenso wie Renate Künast, die angesichts „jahrzehntelang verdrängter Integrationsprobleme“ in Deutschland einräumte, „der Grundbestand an Regeln und geteilten Überzeugungen, der die Gesellschaft zusammenhält“, dieser „Minimalkonsens“ könne „nicht nur aus Paragraphen bestehen“.34 Die über Jahrzehnte hinweg entweder verweigerte oder mit ideologischen Borniertheiten geführte Debatte darüber, was die Deutschen eint, welche soziomoralischen Werte sie zusammenhalten und auch, was als nicht tolerabel gilt, wurde in Deutschland vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 begonnen. Sie ist auch heute noch bei Weitem nicht abgeschlossen und kann durch die richtige Entscheidung, mit Aygül Özkan 2010 erstmals in Deutschland eine Muslimin zur Sozial- und Integrationsministerin zu ernennen, weitere produktive Dynamik gewinnen. Ohne Zweifel jedenfalls kann die Debatte über Integration, Gemeinwohl und Bürgersinn als ein Erklärungsfaktor dafür herangezogen werden, warum nicht nur Deutsche ihre Nationalität unbefangener artikuliert haben, sondern warum auch so mancher Fußballfan mit türkischem Migrationshintergrund sein Gesicht schwarz-rot-gold geschminkt hatte. Lange vor den Sommerfreuden 2006 ist eine Debatte über die Neujustierung des Staat-Bürger-Verhältnisses angestoßen worden, die auf eine Stimulierung der bürgerlichen Selbsthilfebereitschaft und ihrer Fähigkeiten im Dienste einer solidarischen Verantwortungs- und Zivilgesellschaft zielt, wie sie beispielsweise Udo Di Fabio, Meinhard Miegel oder Paul Nolte in ihren Streitschriften „Die Kultur der Freiheit“35, „Epochenwende“36 bzw. „Generation Reform“37 fordern. Eine solche Gesellschaft will ihrerseits den Staat und seine ihm obliegenden klassischen Funktionen keineswegs ersetzen, sie versucht eher, ihn auf diese klassischen Funktionen zu reduzieren. Es geht nicht um die Abkehr vom Sozi33 Vgl. Kronenberg, Volker : Zwischenbilanz einer deutschen Debatte, die notwendig ist: Leitkultur, Verfassung und Patriotismus – was eint uns?, in: Vogel, Bernhard (Hrsg.): Was eint uns? Verständigung der Gesellschaft über gemeinsame Grundlagen, Freiburg im Breisgau: Herder 2008, S. 188 – 200. 34 Vgl. Künast, Renate: Grundwerte und Teilhabe. Wir brauchen eine Debatte – aber nicht über „Leitkultur“, in: Lammert: Verfassung, Patriotismus, Leikultur, a. a. O., S. 128 – 133, hier S. 129. 35 Di Fabio, Udo: Die Kultur der Freiheit, München: Verlag C. H. Beck 2005. 36 Miegel, Meinhard: Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?, Berlin: Propyläen 2007. 37 Nolte, Paul: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München: Verlag C. H. Beck (4. Aufl.) 2004.

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alstaat oder um die Errichtung eines „Nachtwächterstaates“, vielmehr sucht eine bürgerliche Verantwortungsgesellschaft Konsequenzen daraus zu ziehen, dass sozialstaatliche Umverteilung die Gesellschaft auf Dauer nicht von innen heraus zusammenzuhalten vermag. In einem beachtenswerten Beitrag zum MerkurSonderheft „Ein neues Deutschland? Zur Physiognomie der Berliner Republik“ formuliert der Zeit-Redakteur Jörg Lau sehr zutreffend: „Der Staat – das ist das schlichte Geheimnis aller unserer Reformdebatten – kann nicht mehr alle gesellschaftlichen Wunden mit Geld zupflastern. In Teilen der Gesellschaft fehlt ein Minimalkonsens darüber, wer wir sind, was das Land zusammenhält und welche Regeln gelten. Dieser Konsens muss neu ausgehandelt werden – mit den Eingewanderten, die sich nicht wie erhofft selbstverständlich hier beheimatet haben, und mit einer einheimischen Unterschicht, die sich in ihren Lebensgewohnheiten zusehends vom Mainstream der Gesellschaft entkoppelt. Das Aushandeln hat längst begonnen. Fast alle unserer aktuellen Debatten sind in diesem Zusammenhang zu verstehen.“38

Eines der zentralen Gründungsversprechen der Bundesrepublik war der soziale Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten. Und einer der zentralen Gründe, warum die „Bonner Republik“ als erste wirkliche Demokratie in Deutschland im Rückblick ja ohne Zweifel so hervorragend funktioniert hat, war der materielle und soziale Wohlstand ihrer Bürger. Wenn nun aber, worauf Lau abzielt, der soziale und ökonomische Wohlstand als verbindender Kitt einer demokratischen Gesellschaft zunehmend schwindet, so muss etwas anderes an seine Stelle treten. Dies verweist auf die demokratietheoretische Relevanz eines wohlverstandenen Patriotismus. Wenn ein Großereignis wie die Fußballweltmeisterschaft die Gesellschaft dazu einlädt, über etwas eigentlich so Abstraktes wie Patriotismus oder die soziomoralischen Bestandsvoraussetzungen deutscher Demokratie im 21. Jahrhundert zu diskutieren, dann ist dies nur zur begrüßen.

5.

Der Ort des „Sommermärchens“ 2006 in der politischen Kultur des Bundesrepublik

Es zeigt sich also, dass keinesfalls erst die WM 2006 das veränderte Verhältnis der Deutschen zur eigenen Nation, über das sich so mancher Feuilletonist verwundert die Augen rieb, hervorgebracht hat. Insofern haben Kommentatoren des „Partyotismus“ einerseits Recht, wenn sie die Bedeutung der WM für das deutsche Nationalbewusstsein etwas geringer veranschlagen, als es so manch euphorische Schlagzeile aus der Zeit nahe legt. Natürlich war es in erster Linie 38 Lau, Jörg: Selbstachtung und Selbstverbesserung. Der Patriotismus der Berliner Republik, in: Merkur, 9 – 10 (2006), S. 800 – 812, hier S. 806.

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der Spaß am Spiel und die Lust am Feiern, die die Menschen auf die Straßen trieb. Aber die Fußball-Weltmeisterschaft erfüllte eine gewisse Ventilfunktion, in der die Entwicklung hin zu einem neuen Verhältnis zur eigenen Nation in der allgegenwärtigen Unterstützung der Nationalmannschaft einen emotionalsymbolischen Ausdruck fand.39 Das heißt also: Ja, es handelte sich um einen „Partyotismus“, doch die Party war nur möglich, weil sich das patriotische Bewusstsein der Deutschen gewandelt hatte. Die Feierkultur war staatsbürgerlich betrachtet schließlich nicht das Entscheidende im Sommer 2006. Maßgebend war vielmehr, dass erstmals vor aller Augen – sowohl vor denen der Deutschen wie auch der Welt – ein heiterer und fröhlicher Umgang mit der eigenen Nation zu beobachten war, der nicht in Ressentiments gegenüber Anhängern anderer Nationen umschlug. Und eine ähnlich gelagerte praktizierte und gelebte Toleranz hat es bei den nachfolgenden großen Sportevents ebenfalls immer wieder gegeben. Inzwischen hat sich die schwarz-rot-goldene Feierkultur ja auch vom runden Leder abgekoppelt. Schwarz-rot-goldene Fahnen werden mittlerweile bekanntermaßen auch geschwungen, wenn junge attraktive Damen europäische Gesangswettbewerbe gewinnen. Bei dergleichen Veranstaltungen wird eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Nationen im Geiste der von Spiel und Sport vorgegebenen Regeln ausgetragen, die auf dem wechselseitigen Respekt der Teilnehmer und ihrer Anhänger gründen. Anstatt den mahnenden Zeigefinger zu erheben und die Gefahr des wiedererstarkten deutschen Nationalismus abermals an die Wand zu malen, lässt sich das neuerliche Großereignis auch affirmativ als Chance für die Integrationsfähigkeit und den Selbstvergewisserungsprozess des Gemeinwesens begreifen. Zur Europameisterschaft 2008 forderte der damalige Nationalspieler Christoph Metzelder in der WELT offensiv den Patriotismus der deutschen Fans ein: „Wir brauchen diesen Patriotismus, der uns über den Mangel an Qualität hinweg trägt.“40 Man mag dies zwar als erlaubte Form des emotionalen und mentalen Dopings gutheißen. Aus der Perspektive des Fußballfans ist nichts dagegen einzuwenden, ein diffuses patriotisches Grundgefühl zur Unterstützung der eigenen Mannschaft einzusetzen – aus der Perspektive des Staatsbürgers gilt es jedoch, anzumahnen, dass sich Patriotismus darin nicht erschöpft. Patriotismus geht über das rein Symbolische, das Emotionale hinaus und meint wesentlich das gemeinwohlorientierte Handeln der Bürger, das tätige Eintreten der Bürger für ihre Patria; banal formuliert in der berühmten Sentenz: „Frag nicht, was dein 39 Vgl. Laetsch, Stefan: Sind wir Deutschland? Eine politikwissenschaftliche Erklärung für das Fußballmärchen 2006, Hamburg: Diplomica 2008, S. 101. 40 Zitiert nach: Kreitling, Holger : Der deutsche Patriotismus schwillt wieder an, in: Die Welt, 02. 06. 2008.

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Land für dich tun kann, frag was du für dein Land tun kannst.“ Der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Besonderen können hierbei als hilfreiches Vehikel dienen. In diesem Sinne wurde das Fußballfest 2006 zur katalysatorischen Projektionsfläche für ein sich im Wandel befindendes Deutschlandbild. Die WM wirkte gleichsam wie ein gesamtgesellschaftliches Brennglas, das Entwicklungen bündelte, die auf tektonische Verschiebungen im politisch-kulturellen Tiefenbewusstsein der „Berliner Republik“ verweisen und die im Vorangegangenen nur in Umrissen skizziert werden konnten. Die Entfaltung ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirkkraft liegt in jedem Fall deutlich vor dem 9. Juni 2006, dem Tag des furiosen 4:2-Sieges im Eröffnungsspiels der Deutschen gegen Costa Rica. Wollte man die Ursprünge dieser Prozesse zeitlich bestimmen, müsste man sie sicherlich irgendwo in der Zeitspanne zwischen der Deutschen Einheit und der rot-grünen Bundesregierung datieren. Zeitliche Zäsuren sind ja stets nur ein heuristisches Rüstzeug des analytischen Betrachters, die nur einen groben Rahmen vorgeben können, da sich politisch-kulturelle Grundkoordinaten nicht von einem auf den anderen Tag gleichsam schlagartig verändern. Nicht die Epochenzäsur 1989/90 hat mit einem Schlag zu einem veränderten nationalen Identifikationsgefühl in Deutschland geführt. Auch der Machtantritt der rotgrünen Bundesregierung lässt sich nicht so einfach als die entscheidende Zäsur angeben – dies wäre im Übrigen auch eine zu staatszentrierte Perspektive. Aber diese beiden Leitmarken, kombiniert mit dem Hauptstadtwechsel, geben zumindest einen Rahmen vor, in dem sich die skizzierten Änderungen abzeichneten. Der etwas schwammige und auch in vielerlei Hinsicht problematische Begriff „Berliner Republik“ eignet sich zur Kennzeichnung dieses verschobenen Koordinatengefüges.41 Und zur politischen Kultur der „Berliner Republik“ gehört ohne Zweifel ein deutlich unverkrampfterer Umgang mit der Kategorie des Patriotismus als zu Zeiten der „Bonner Republik“. Mancher mag sich noch immer an der Terminologie als solcher stören, aber in der Sache dürfte konsensfähig sein, dass eine affirmative politische Einstellung zum eigenen Gemeinwesen das Bewusstsein für das Wohlergehen desselben ungemein schärft. Eine solche Haltung vermag dem unpolitischen Rückzug ins Private vorzubeugen, jener Form von Einigelung, die bereits Alexis de Tocqueville unter dem Schlagwort „indiviualisme“ als gemeinschaftszerstörend brandmarkte.42 Der Patriotismus verweist auf eine Kultur verantwortungsbewusster Freiheit der Bürgergesellschaft und auf deren 41 Vgl. ausführlich Becker, Manuel: Geschichtspolitik in der ”Berliner Republik”, Wiesbaden: Springer VS 2013. 42 Vgl. Tocqueville, Alexis de: De la d¦mocratie en Am¦rique II, Paris: Gallimard 1999, S. 143 – 145.

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Primat gegenüber dem bürokratischen bzw. allzuständigen Wohlfahrts- und Interventionsstaat. Solidarität und Gemeinsinn bedürfen eines Fundaments spezifischer Gemeinsamkeit, die über die Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht hinausgreift, und sie verdichten und verfestigen sich in personalen wie funktionalen Beziehungen wie Familie und Betrieb, im lokalen, regionalen Bereich, auf nationaler Ebene. Ein wohlverstandener Patriotismus im Dienste des freiwilligen Eintretens für das bonum commune kann ein nützliches Instrument gegen Politik- bzw. Parteienverdrossenheit sein – ein Allheilmittel, das man gleichsam wie ein Medikament verordnen und einnehmen könnte, ist er nicht und kann er nicht sein. Patriotismus kann zwar gefördert, aber nicht verordnet werden. Es wäre verfehlt, ihn vorschreiben und institutionalisieren zu wollen, beispielsweise durch einen morgendlichen Flaggenappell wie wir ihn aus amerikanischen Schulen kennen. Politiker dürfen auf der einen Seite den Patriotismus nicht nur gewissermaßen als ein bunt verpacktes Placebo für eine immer weiter steigende Belastung der Bürger ohne überzeugende Begründung und ohne ideell tragfähige Perspektive missbrauchen. Auch kann es zukünftig nicht zielführend sein, die reformpolitisch notwendigen „Grausamkeiten“ immer nur in Zeiten großer Fußballereignisse durchzusetzen, wie es während der WM 2006 geschehen ist. Aber auf der anderen Seite sollten auch die Bürger ein höheres Maß an Eigenverantwortung nicht einfach nur hinnehmen, sondern als realisierte Subsidiarität als Ausdruck einer neuen „Kultur der Freiheit“ anerkennen. Gerade in Zeiten, wo über „Wutbürger“ und „Mutbürger“ diskutiert wird, ist es umso wichtiger, die Chance zur politischen Mitbestimmung zu ergreifen und das Recht darauf aktiv einzufordern. Es kommt nämlich darauf an, dass die schwarz-rot-goldenen Fahnen nicht nur zu Fußballgroßereignissen fröhlich geschwenkt und hernach umgehend weggeschlossen werden, denn dann degeneriert die patriotische Symbolik wirklich zur Party-Requisite und würde so gründlich missverstanden. Es bleibt abschließend zu unterstreichen, dass die „Berliner Republik“ auf die Vergewisserung ihrer nationalen Identität und auf patriotische Tugenden ihrer Bürger angewiesen ist. Sei es im Großen, bis hin zur Frage der Landesverteidigung bzw. von Auslandseinsätzen, oder sei es im Kleinen, „vor Ort“, wo in „Schulen der Demokratie“ wichtige kommunitäre Hilfe geleistet und damit das republikanische Fundament stabilisiert wird. Patriotismus opponiert von seinem Selbstverständnis her als freiheitlicher Republikanismus einem jeden Staatszentrismus ebenso wie einem Gesellschaftsmodell egoistischer, bindungsloser „Ichlinge“ ohne Verantwortung für den Nächsten und das Gemeinsame. Seine normative Verpflichtung auf Werte jenseits partikularer und situativer Interessenlagen macht ihn zugleich zu einem wichtigen Kompass, wenn

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es um die Beantwortung der Frage geht, welche Wege die Bürger der „Berliner Republik“ in Zukunft beschreiten.43

Bibliographie Bahr, Egon: Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München: Blessing 2003. Becher, Peter : Die deutsche Linke und die Vertriebenen, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 12 (2000), S. 649 – 653. Becker, Manuel: Geschichtspolitik in der „Berliner Republik”, Wiesbaden: Springer VS 2013. Bizeul, Yves (Hrsg.): Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin: Duncker & Humblot 2000. Brauer, Saskia/Brauer, Gernot: Was ist bloß los mit den Deutschen? Die Fußball-WM 2006 und das Deutschlandbild in der Welt, URL: http://de.fifa.com/mm/document/afmarketing/marketing/sport3_57408.pdf (05. 01. 2012). Di Fabio, Udo: Die Kultur der Freiheit, München: Verlag C. H. Beck 2005. Ferro, Marc: Geschichtsbilder. Wie die Vergangenheit vermittelt wird. Beispiele aus aller Welt, Frankfurt am Main: Campus 1991. Frei, Norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München: dtv 2009. Fuhr, Eckhard: Was ist des Deutschen Vaterland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1 – 2 (2007), S. 3 – 7. Gehrke, Hans-Joachim (Hrsg.): Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg: Ergon 2001. Grass, Günter : Im Krebsgang. Eine Novelle, München: dtv 2002. Hebeker, Ernst/Hildmann, Philipp W. (Hrsg.): Fröhlicher Patriotismus? Eine WMNachlese, München: Hanns-Seidel-Stiftung 2007. Jesse, Eckhard: Der weltoffene Patriotismus, in: Berliner Republik, 2 (2007), S. 79 – 82. Kronenberg, Volker : Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (2. Aufl.) 2006. Kronenberg, Volker : Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der „Historikerstreit“ – 20 Jahre danach, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. Kronenberg, Volker : Zwischenbilanz einer deutschen Debatte, die notwendig ist: Leitkultur, Verfassung und Patriotismus – was eint uns?, in: Vogel, Bernhard (Hrsg.): Was eint uns? Verständigung der Gesellschaft über gemeinsame Grundlagen, Freiburg im Breisgau: Herder 2008, S. 188 – 200. Kronenberg, Volker : Patriotismus 2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland, München: Olzog 2010. Kronenberg, Volker/Becker, Manuel: Sommermärchen reloaded? Die Fußball-Weltmeisterschaften 2006 und 2010 im Lichte eines neuen Patriotismus, in: MUT, Forum für Kultur, Politik und Geschichte, 513 (2010), S. 22 – 32. 43 Vgl. hierzu auch Kronenberg, Volker : Patriotismus 2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland, München: Olzog 2010.

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Künast, Renate: Grundwerte und Teilhabe. Wir brauchen eine Debatte – aber nicht über „Leitkultur“, in: Lammert, Norbert (Hrsg.): Verfassung, Patriotismus, Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Hamburg: Hoffmann und Campe 2006, S. 128 – 133. Laetsch, Stefan: Sind wir Deutschland? Eine politikwissenschaftliche Erklärung für das Fußballmärchen 2006, Hamburg: Diplomica 2008. Lammert, Norbert (Hrsg.): Verfassung, Patriotismus, Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. Lau, Jörg: Selbstachtung und Selbstverbesserung. Der Patriotismus der Berliner Republik, in: Merkur, 9/10 (2006), S. 800 – 812. Miegel, Meinhard: Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?, Berlin: Propyläen 2007. Nolte, Paul: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München: Verlag C. H. Beck (4. Aufl.) 2004. Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München: DVA 2010. Schediwy, Dagmar : Sommermärchen im Blätterwald. Die Fußball-WM 2006 im Spiegel der Presse, Marburg: Tectum-Verlag 2008. Schulz, Evelyn/Sonne, Wolfgang (Hrsg.): Kontinuität und Wandel. Geschichtsbilder in verschiedenen Fächern und Kulturen, Zürich: vdf Hochschulverlag 1999. Seitz, Norbert: Doppelpässe. Fußball und Politik, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 1997. Tocqueville, Alexis de: De la d¦mocratie en Am¦rique II, Paris: Gallimard 1999. Urban, Johannes: Das „Wunder von Berlin“ – Was Deutschland aus der WM-Erfahrung lernen sollte, in: Die Politische Meinung, 442 (2006), S. 71 – 75. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, Band 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München: Verlag C. H. Beck 2000. Wolfrum, Edgar : Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta 2006.

Matthias Waechter (Nizza)

Nach dem Sonderweg? Konstruktion und Rekonstruktion der deutschen Geschichte nach 1990

Das Verhältnis zwischen Mythos und Geschichtsschreibung ist komplex. Traditionell sehen Historiker ihre Aufgabe darin, Mythen zu entzaubern. Diese gehören für sie dem Reich der Legenden, der Sagen, des Unbewiesenen, der bloßen Glaubenswahrheiten an. Thukydides, der Begründer der kritischen Geschichtsschreibung, distanzierte sich betont von den „Dichtern“, welche die Ereignisse „in hymnischer Aufhöhung aufgeschmückt haben“, ebenso wie von den „Geschichtsschreibern, die alles bieten, was die Hörlust lockt, nur keine Wahrheit“.1 Der Historiker sollte nach Thukydides über das Sammeln und Vergleichen verschiedener Zeugnisse den tatsächlichen Ereignisablauf rekonstruieren und so die „herkömmlichen Meinungen“ über die Geschichte entkräften. Aufgrund ihres tief verwurzelten Wahrheitsanspruchs setzt die kritische Geschichtsschreibung Mythos und Realität einander scharf entgegen. Mythos, so wird oft suggeriert, ist notwendigerweise eine Entstellung der Wirklichkeit, ein deformiertes, falsches Bild eines historischen Prozesses oder einer Person, ein aufgeblähter Ballon von Legenden, in den der Historiker mit dem Seziermesser der kritischen Wissenschaft hineinsticht.2 Ebenso aber sind Meinungen über Geschichte, gedankliche Konstrukte und kollektive Vorstellungen mit gleichem Recht Teil der Realität wie die „harten” historischen Fakten. Insofern müssen Mythen Gegenstand historischer Erforschung sein – nicht nur, indem sie entlarvt, sondern auch und vor allem indem ihre Funktionen und Wirkungsweisen analysiert werden. Schließlich haben Historiker immer wieder 1 Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Hrsg. und übertragen von Georg Peter Landmann, München: dtv 1981, S. 35. Vgl. Meineke, Stefan: Thukydidismus, in: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth/Landfester, Manfred (Hrsg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 15/3, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2003, S. 480 – 494. Ich danke Dr. Stefan Meineke für wertvolle Hinweise zu diesem Beitrag. 2 Siehe zu diesem Zusammenhang: Weber, Wolfgang: Historiographie und Mythographie. Oder : Wie kann und soll der Historiker mit Mythen umgehen?, in: Völker-Rasor, Anette/ Schmale, Wolfgang (Hrsg.): MythenMächte – Mythen als Argument, Berlin: Verlag Arno Spitz 1998, S. 65 – 87.

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gegen die Maßgaben ihres Gründervaters Thukydides verstoßen und sich unter diejenigen begeben, welche die Ereignisse „in hymnischer Aufhöhung“ dargestellt haben: Sie haben sich an der Schaffung von Mythen, von Heldenkulten und Volksepen selbst beteiligt. Insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert erwiesen sich Historiker als wichtige Akteure im Prozess der Nationalisierung: Wenn Nationen „vorgestellte Gemeinschaften“ sind, wie Benedict Anderson argumentiert, dann bedürfen sie Erzählungen, die von gemeinsamen Ursprüngen und Ideen, herausragenden Individuen, prägenden Ereignissen und durchlittenen Prüfungen berichten.3 Wenn es darum geht, eine nationale Identität auszuprägen, ist die Vorstellung von einer gemeinsamen Geschichte ein wesentliches Element. Das „nation building“ des 19. Jahrhunderts ging einher mit der Etablierung der Historie als akademische Disziplin, ihrer Institutionalisierung an Universitäten und Forschungseinrichtungen. Viele Historiker sahen in der Erforschung der Nationalgeschichte ihre vorrangigste Aufgabe: Sie wollten ihren Beitrag dazu leisten, dass sich unter den Bürgern das Bewusstsein verbreitete, einer gemeinsamen Nation anzugehören.4 Ihr Anspruch, dabei wissenschaftlich vorzugehen und aus den Quellen den „eigentlichen“ Ereigniszusammenhang zu rekonstruieren, schützte sie nicht davor, sich an der Entstehung und Perpetuierung von Nationalmythen zu beteiligen; denn zwischen Geschichtswissenschaft und Mythologie besteht kein logischer Widerspruch: Mythos ist keine notwendig falsche Präsentation von Geschichte, sondern eine besondere Form, diese darzustellen. Die mythische Erzählweise von Geschichte beteiligt sich an der Identitätsbildung eines Kollektivs, indem sie aus der Vergangenheit einzelne, vorbildhafte Gestalten oder gemeinsame Erlebnisse auswählt und überhöht darstellt, andere Traditionsbestände dagegen kritisiert, um der Geschichte und damit auch der Gegenwart Sinn zu geben. Gerade die Nationalgeschichtsschreibung ist für mythologische Tendenzen besonders anfällig, da sie aus der Vielzahl invididueller Entwicklungstendenzen einen Hauptstrom zu destillieren sucht und so suggeriert, dass die Angehörigen einer Nation tatsächlich ein gemeinsames Schicksal durchleben würden. So haben Historiker der Vereinigten Staaten eine „American experience“ konstruiert, die von verschiedenen gemeinsamen Grunderfahrungen gekennzeichnet sei, wie etwa der Westexpansion, dem sozioökonomischem Aufstieg oder der Erfüllung einer dem Land zugewiesenen Mission. Französische Historiker erblickten in ihrem Land das „Modell“ einer egalitären Republik mit 3 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, revised edition, London, New York: Verso 2006. 4 Schulin, Ernst: Deutsche und amerikanische Geschichtswissenschaft. Wechselseitige Impulse im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ders.: Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne, Frankfurt am Main: Campus 1997, S. 164 – 191, hier S. 168.

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universalistischem Anspruch, das seit der Revolution von 1789 die Avantgarde der europäischen Gesellschaften bildete. Deutsche Historiker entdeckten im 19. und 20. Jahrhundert den besonderen „Weg“ ihrer Nation darin, dass diese sich von ihren parlamentarisch-demokratischen Nachbarn unterscheide und in Gestalt des monarchischen Machtstaats ihre eigene, ihrer geopolitischen Lage angemessene Organisationsform ausgeprägt habe. Sie definierten Deutschland als eine kontinentale Mittelmacht und sahen in seiner expansiven Entwicklung eine geradezu zwangsläufige Konsequenz aus seiner geographischen Lage. Sie konstruierten einen scharfen Gegensatz zwischen deutscher Kultur und französischer Zivilisation, angelsächsischen Händlern und deutschen Helden und feierten den autoritären Staat als die naturgegebene politische Organisationsform für das deutsche Volk. Die Tendenz, den Nationalstaat geschichtlich-kulturell zu legitimieren, kulminierte in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs, als Intellektuelle und Universitätslehrer in Form der „Ideen von 1914“ ein „deutsches Alternativprogramm zur westlichen Idee einer demokratisch verfassten Gesellschaft“ entwickelten. Der konstitutionelle Machtstaat, so die mehrheitliche Auffassung der deutschen Akademikerschaft, sei dem westeuropäischen demokratischen Parlamentarismus hoch überlegen.5 In der Weimarer Republik behielten die meisten deutschen Historiker ihre ablehnende Haltung gegenüber der parlamentarischen Demokratie bei, die sie nicht als eine genuin deutsche, sondern von den Siegermächten aufgezwungene politische Organisationform verstanden.6 Um nach 1945 eine Demokratie in Deutschland zu stabilisieren, dies war insbesondere den unter dem Nationalsozialismus emigrierten Historikern deutlich geworden, musste die deutsche Geschichte umgeschrieben werden. Man musste historisch erklären, warum der Nationalsozialismus an die Macht gekommen war und warum große Teile der deutschen Bevölkerung sich an seinen Gewaltexzessen beteiligt bzw. sie gebilligt hatten. Es waren exilierte Intellektuelle, die in der deutschen Geschichte nun nicht mehr einen positiven, sondern einen negativen Sonderweg entdeckten.7 Zuvor hatte man es als eine Auszeichnung der deutschen Nation begriffen, dass sie sich frühzeitig von seinen westlichen Nachbarn und den USA isoliert hatte, indem sie das Erbe der Französischen Revolution nur partiell integriert und den Liberalismus und 5 Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg, in: Ders. (Hrsg.): Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München: R. Oldenbourg Verlag 1996, S. 1 – 15, Zitat S. 3. 6 Faulenbach, Bernd: Die Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München: Verlag C. H. Beck 1980. 7 Vgl. Waechter, Matthias: Repenser l’histoire en exil. L’exil comme lieu de r¦interpr¦tation de l’histoire allemande, in: Cahiers de la M¦diterran¦e, 82 (2011), S. 101 – 106.

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Egalitarismus der Moderne mehrheitlich zurückgewiesen hatte. Nun sah man in dieser Abweichung vom Hauptstrom der westeuropäischen Geschichte die tiefere Ursache für die deutsche Diktatur.8 Diese Interpretation wurde unter verschiedenen Perspektiven umgesetzt. Helmuth Plessner beschrieb Deutschland als eine „verspätete Nation“, die sich nach dem Zusammenbruch des alten Reichs nicht auf eine politische Idee, sondern auf die ethnisch-kulturelle Kategorie des Volks berief.9 Thomas Mann betonte die nachteiligen Auswirkungen der Luther’schen Innerlichkeit, welche die individuelle Beziehung des Einzelnen zu Gott hervorhob und dem Gläubigen Gehorsam gegenüber der weltlichen Autorität abverlangte.10 Hans Rosenberg, ein emigrierter Schüler Friedrich Meineckes, ging sozialgeschichtlich vor und zeigte auf, wie eine feudale Führungsschicht, nämlich die preußischen Junker, ins demokratische Zeitalter hinein einen überproportionalen Einfluss behielten und die Weimarer Republik erfolgreich bekämpft hatten. Die gegenwartsbezogene Funktion dieser Geschichtsdeutungen war offenkundig: Sie sollten die Deutschen über Traditionen aufklären, die sie abzulegen hatten, wollten sie eine demokratische Gesellschaft dauerhaft stabilisieren. Hans Rosenberg verstand sein Buch über die Junker als seinen „universitären und ideologischen Beitrag zur demokratischen Umgestaltung Deutschlands“.11 Die Rezeption dieser Interpretationen vollzog sich im Deutschland der Nachkriegszeit nur sehr zögerlich. Im Jahre 1950 kam es zu einer charakteristischen Kontroverse zwischen einem Exil-Historiker, Hajo Holborn, und dessen im Lande gebliebenen akademischen Lehrer Friedrich Meinecke. Holborn plädierte für eine „radikale geschichtliche Kritik“ als „eine der allerdringendsten nationalen Pflichten, um dem deutschen Volke sein gegenwärtiges Schicksal begreiflich zu machen“. Auf dem Weg einer Kausalanalyse von „Ursachen und Gründen“ müssten die „Irrwege“ der deutschen Geschichte identifiziert werden.12 Meinecke dagegen plädierte für eine „vertikale“ Geschichtsbetrachtung: 8 Vgl. Schulze, Winfried: Vom „Sonderweg“ bis zur „Ankunft im Westen“. Deutschlands Stellung in Europa, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 53 (2002) 4, S. 226 – 240. 9 Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp (3. Aufl.) 1988. 10 Mann, Thomas: Deutschland und die Deutschen (1945), in: Pollmann, Bernhard: Lesebuch zur deutschen Geschichte, Bd. 3: Vom Deutschen Reich bis zur Gegenwart, Dortmund: Chronik Verlag 1984, S. 181 – 200. 11 Brief von Hans Rosenberg an Friedrich Meinecke, 06. Mai 1946, in: Meinecke, Friedrich: Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910 – 1977. Eingeleitet und bearbeitet von Gerhard A. Ritter, München: R. Oldenbourg Verlag 2006, S. 350. Rosenberg, Hans: Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian experience 1660 – 1815, Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1958. 12 Holborn, Hajo/Barraclough, Geoffrey : „Irrwege in unserer Geschichte?“ Zwei ausländische Autoren kommentieren Friedrich Meineckes Aufsatz, in: Der Monat, 17 (1950), S. 531 – 538, Zitat S. 532.

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Diese würde die Komplexität einer Epoche nicht auf ihre Funktion in einer Kausalkette reduzieren, sondern in ihrer Vielfalt zu erfassen und verstehen suchen. Auch inmitten der deutschen Tragödie erschienen „Züge von echter Kultur, eingesprengt in die überwiegende Masse menschlicher Unvollkommenheiten, Gebrechen und Laster“.13 Nur sehr wenige Exil-Historiker erhielten nach 1945 Lehrstühle an deutschen Universitäten. Es dominierten zunächst die im Lande gebliebenen Historiker, die sich mit einer radikalen Infragestellung des nationalen historischen Erbes nicht identifizieren konnten. Erst die nachfolgende, in den 30er Jahren geborene Historikergeneration verbreitete die Idee des deutschen Sonderwegs innerhalb der Fachwissenschaft und in der Öffentlichkeit. Diese Historiker hatten weder am Zweiten Weltkrieg teilgenommen, noch waren sie vom Nationalsozialismus stark geprägt worden. Sie schenkten Exil-Historikern wie Hans Rosenberg großes Vertrauen und hörten ihre Vorlesungen, wenn diese nach Deutschland kamen. In den 70er Jahren begann diese Generation, eine einflussreiche, ja hegemoniale Stellung in der Fachwissenschaft einzunehmen. Der deutsche Sonderweg, so Hans-Ulrich Wehler – einer der herausragenden Vertreter dieser Generation –, war ein „eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne“.14 Einerseits hatte das Deutsche Kaiserreich Anteil an der Industrialisierung und technologischen Modernisierung, andererseits aber bewahrte es traditionelle, vordemokratische politische und gesellschaftliche Strukturen. Feudale Eliten blieben einflussreich, der Arbeiterbewegung wurde die Integration in das politische System lange Zeit verwehrt, die Mitwirkungsrechte des Parlaments blieben reduziert. Während in anderen Ländern die wirtschaftliche Modernisierung mit der politisch-gesellschaftlichen einherging, wurde Deutschland zu einem Paradebeispiel für die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Eine hochmoderne Industriegesellschaft konservierte eine vormoderne politische Ordnung. Auch in der Weimarer Republik, dies betonte Heinrich August Winkler in seinen Forschungen, konnten die postfeudalen Eliten ihren Einfluss bewahren; sie hatten einen erheblichen Anteil am Scheitern der ersten deutschen Demokratie.15 Die These vom Sonderweg avancierte zur dominanten Interpretation der deutschen Geschichte zu Zeiten der alten Bundesrepublik. Sie war eines der Paradigmata der „historischen Sozialwissenschaft“, welche eine Abkehr von personen-, diplomatie- sowie rein politikgeschichtlich ausgerichteten Deu13 Meinecke, Friedrich: Irrwege in unserer Geschichte?, in: Der Monat, 13 (1949), S. 3 – 6, Zitat S. 5 f. 14 Wehler, Hans-Ulrich: Preußen ist wieder chic… – Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 33. 15 Winkler : Heinrich August: Weimar 1918 – 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München: Verlag C. H. Beck (4. Aufl.) 2005.

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tungsmustern verfocht und in sozioökonomischen Strukturen das Subjekt der Geschichte erkannte.16 Gleichermaßen verbreitete sich diese These im öffentlichpolitischen Diskurs sowie im Schulunterricht. Für unseren Zusammenhang sind insbesondere die Perspektiven des Sonderwegsparadigmas auf die Frage der deutschen Nation sowie der nationalen Identität der Deutschen von Interesse. Diese konturierten sich im Umfeld des sogenannten „Historikerstreits“, der im Jahre 1986 die bundesdeutsche Öffentlichkeit beschäftigte. Die Kontroverse hatte sich an einem Artikel des Philosophen Jürgen Habermas entzündet, der bei vier bundesdeutschen Historikern das Ansinnen vermutet hatte, die deutsche Vergangenheit zu „entsorgen“. So kritisierte er etwa den Historiker Michael Stürmer, weil dieser an die integrative und sinnbildende Funktion von Geschichte erinnert hatte. Hinter dieser Forderung verbarg sich für Habermas eine „apologetische“ Tendenz, welche die deutsche Geschichte von ihren belastenden Elementen befreien und so die Identifikation mit ihr erleichtern sollte. Doch hatte der Philosoph zugleich seinen eigenen, auf der Sonderwegsidee beruhenden Identitätsentwurf für die Bundesrepublik parat: Diese habe sich von „naiven Identifikationen mit der eigenen Herkunft“ verabschiedet und sei dabei, eine „postkonventionelle Identität“ auszubilden. „Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens“ sei die „große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit“, auf die gerade seine Generation „stolz sein“ könne. Der „einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus“. Habermas wies so das Stürmer’sche Programm einer identitätsbildenden Geschichtswissenschaft zunächst mit dem Argument zurück, dass es nicht den Ansprüchen einer aufklärerischen, kritischen Sozialwissenschaft entspreche, um im gleichen Atemzug seine eigene, auf Glaubenswerten (wie „dem Westen“) beruhende Sichtweise der bundesdeutschen Identität stark zu machen.17 Mehrere tonangebende bundesdeutsche Historiker pflichteten Habermas in seiner Sichtweise der deutschen Vergangenheit bei. Die Jahre 1933 bis 1945, so die Botschaft zahlreicher Autoren, waren der Fluchtpunkt der deutschen Geschichte. Der Zweite Weltkrieg, Auschwitz, die deutsche Katastrophe waren die ultimative Konsequenz des deutschen Sonderwegs. Die Geschichte des deut16 Vgl. Welskopp, Thomas: Identität ex negativo. Der „deutsche Sonderweg“ als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 109 – 139. 17 Habermas, Jürgen: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung (1986), in: Piper, Ernst Reinhard (Hrsg.): „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München: Piper (5. Aufl.) 1987, S. 62 – 76, Zitate S. 75.

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schen Nationalstaats war nicht etwa von Kontingenz gekennzeichnet, sondern folge einer Logik, die geradezu zwangsläufig in die Diktatur Hitlers mündete. Gleichzeitig aber bedeutete 1945 auch ein Neubeginn, nämlich der Auftakt einer „entschlossenen Westorientierung der deutschen Politik und des politisch-gesellschaftlichen Bewusstseins“, wie es Wolfgang J. Mommsen formulierte. Man hatte sich seitdem bewusst von negativen Traditionsbeständen abgewandt und für „Vorbilder, wie sie uns in Westeuropa und namentlich den Vereinigten Staaten von Amerika vor Augen standen“ optiert.18 Zugleich rechtfertigte die Sonderwegsidee die damalige Teilung des Landes. Da die verspätete nationalstaatliche Einigung Deutschlands unter autoritären Vorzeichen zu zwei Weltkriegen geführt hatte, musste die Aufhebung der nationalen Einheit als Konsequenz nicht nur akzeptiert, sondern geradezu begrüßt werden, beruhte doch der Frieden Europas und die Westorientierung des Teilstaats gerade auf dem Abschied vom Nationalstaat. So resümierte Wolfgang J. Mommsen die historisch-politische Situation der Bundesrepublik folgendermaßen: „In einer derartig langfristigen Perspektive erscheint es als eine offene Frage, ob das von Bismarck begründete Deutsche Reich wirklich den unabdingbaren Maßstab politischer Organisation der Deutschen abzugeben vermag, oder ob nicht gleichsam die Existenz einer Mehrzahl deutscher Staaten in der Mitte Europas der europäischen Normallage – wenn es eine solche in der Geschichte überhaupt gibt – viel mehr entspricht. In mancher Hinsicht scheint es, als ob mit der Entstehung zweier deutscher Staaten auf dem Boden des ehemaligen Deutschen Reiches und dem Wiedererstehen eines selbständigen Österreich die deutsche Geschichte in die Ära vor 1867 zurückgekehrt ist, m.a.W. der Existenz mehrerer Staaten deutscher Nation in der Mitte Europas.“19

Wesentlich apodiktischer, und mit einer an Klarheit nicht zu überbietenden politischen Konsequenz urteilte Heinrich August Winkler : „Angesichts der Rolle, die Deutschland bei der Entstehung der beiden Weltkriege gespielt hat, kann Europa und sollten auch die Deutschen ein neues Deutsches Reich, einen souveränen Nationalstaat, nicht mehr wollen. Das ist die Logik der Geschichte, und die ist nach Bismarcks Wort genauer als die preußische Oberrechenkammer.“20

Die deutsche Frage war nach dieser Lesart keine Frage der nationalen Einheit mehr, sondern lediglich eine Frage der Menschenrechte. Sobald diese im östli18 Mommsen, Wolfgang J.: Weder Leugnen noch Vergessen befreit von der Vergangenheit. Die Harmonisierung des Geschichtsbildes gefährdet die Freiheit (1986), in: Piper: „Historikerstreit“, a. a. O., S. 300 – 321, Zitat S. 319. 19 Ebd., S. 318. 20 Winkler, Heinrich August: Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen (1986), in: Piper : „Historikerstreit“, a. a. O., S. 256 – 263. Zitat S. 263.

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chen Teil Deutschlands garantiert sein würden, könne man sich mit der Teilung des Landes gut abfinden. Eine nationale Einigung, welche die atlantische und westeuropäische Integration des Landes nicht infrage stellte, war aus der Perspektive der Sonderwegsidee nicht denkbar. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir berechtigt, das Paradigma vom Sonderweg als einen legitimierenden Mythos des westdeutschen Teilstaats zu bezeichnen. Es abstrahierte von einer Vielzahl besonderer Entwicklungen und legte nahe, dass die Deutschen gemeinsam einen Weg gegangen waren, der sie in die Katastrophe geführt hatte. Daraus leitete sich eine unzweideutige Botschaft für die Gegenwart ab: Die westdeutsche Teilnation durfte unter keinen Umständen von ihrem seit 1945 eingeschlagenen Weg in die westliche Normalität abweichen. Schließlich erbrachte das Sonderwegsparadigma nicht nur eine Konstruktion der Gegenwart, sondern auch der Zukunft: Eine Vereinigung mit dem ostdeutschen Teilstaat war weder realistisch noch zu wünschen. Langfristig würden die Deutschen in zwei Staaten leben; und dies war angesichts der Erblast des deutschen Nationalstaats nur zu begrüßen. Die demokratische Revolution 1989 und die friedliche Vereinigung 1990 wirkten so aus der Perspektive des Sonderwegsparadigmas wie das Scheitern einer Prophezeiung: Weder war der europäischen Nachkriegsordnung die vorausgesehene lange Dauer beschert, noch mündete die Vereinigung der beiden Teilstaaten in einem neuen Deutschen Reich, noch hatte der Umbruch die europäische und transatlantische Einbindung der Bundesrepublik infrage gestellt. Es erhob sich nun die Frage, ob das Paradigma des Sonderwegs die Ereignisse von 1989/90 überleben konnte. Bedeutete die gescheiterte Prophezeiung auch das Scheitern eines Geschichtsbilds? Erforderte das vereinigte Deutschland in einem Europa der Osterweiterung ganz neue Ansätze historischer Deutung? Oder ließ sich das Narrativ des deutschen Sonderwegs an veränderte Umstände anpassen? Um in der vereinigten Bundesrepublik weiterwirken zu können, musste es von seinen geschichtspolitischen Funktionen der Teilungszeit gereinigt werden. Es konnte nicht mehr legitimierender Mythos einer „postnationalen Demokratie unter Nationalstaaten“, wie Karl Dietrich Bracher die Bundesrepublik einmal genannt hatte, sein. Wollte man sie nicht aufgeben, musste die Idee vom deutschen Sonderweg nun einem vereinigten Deutschland als selbstverständigende, identitätsbildende Geschichtsauffassung dienen. Derjenige, der sich dieser Aufgabe stellte, war Heinrich August Winkler. Sein Werk „Der lange Weg nach Westen“ (erschienen im Jahre 2000) stellte er unter folgendes Leitmotiv : „Die Frage, ob die Besonderheiten der deutschen Geschichte es rechtfertigen, von einem ,deutschen Sonderweg‘, vielleicht auch von mehreren ,deutschen Sonderwegen‘ zu sprechen, ist der Ausgangspunkt dieser

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zweibändigen Darstellung.“21 Bereits der erste Satz des ersten Kapitels machte dem Leser deutlich, dass Winkler eine andere Argumentationsrichtung als in seinen Werken aus der „alten“ Bundesrepublik einschlagen würde: „Im Anfang war das Reich“, so äußerte der Autor, der sich so bewusst von Thomas Nipperdey absetzte, der seine „Deutsche Geschichte 1800 – 1866“ mit den Worten „Im Anfang war Napoleon“ begonnen hatte.22 Für Winkler hat das, „was die deutsche Geschichte von der Geschichte der großen westeuropäischen Nationen unterscheidet“, in der Reichsidee ihren Ursprung. Bereits im Mittelalter „trennten sich die Wege“: In England und Frankreich begann man damit, Nationalstaaten herauszubilden, während in Deutschland „ein Gebilde fort[bestand], das mehr sein wollte als ein Königreich unter anderen: das Heilige Römische Reich“.23 Das Reich war für Winkler ein Mythos, der über Jahrhunderte hinweg die Deutschen inspiriert hatte. Der Reichsmythos hatte religiöse Konnotationen, war mit einem europäischen Sendungsbewusstsein verknüpft und gab den Deutschen ein Gefühl der Herausgehobenheit unter den sie umgebenden Nationalstaaten. Als sich Deutschland 1871 einigte, geschah dies unter den Vorzeichen des Reiches und nicht der Nation als politischem Projekt. Die Reichsidee stellte Winkler auch als das Bindeglied zwischen dem deutschen Bürgertum und Hitler dar : Der völkische Expansionsdrang des Nationalsozialismus vermählte sich mit dem zentraleuropäischen Sendungsbewusstsein des Reichsgedankens. „Nicht der Nationalstaat, sondern der Mythos vom Reich, das mehr sein wollte als ein Nationalstaat, führte in die Selbstzerstörung Deutschlands in den Jahren 1933 bis 1945.“ Mit der deutschen Kapitulation 1945 endete das Reich als historisches Phänomen und vereinender Mythos. Es endete aber nicht der deutsche Sonderweg, denn beide deutschen Staaten, so Winkler, schlugen Pfade ein, die sie wiederum von der europäischen Norm unterschieden: Beide waren keine souveränen Nationalstaaten, sondern legten sich Ersatzidentitäten zu; die DDR schlug einen „internationalistischen“ Sonderweg ein und berief sich auf die Weltgemeinschaft der Proletarier, während die Bundesrepublik ihre „postnationale Demokratie“ zum „Lebensgefühl“ erhob.24 Mit der Wiedervereinigung 1990 enden diese beiden Sonderwege; als demokratischer Nationalstaat kommt Deutschland schließlich im Westen an. Auf diese Weise gibt Winkler der deutschen Geschichte mit dem Jahre 1990 21 Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen [2 Bde.], Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München: Verlag C. H. Beck 2000, S. 1. 22 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschiche 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München: Verlag C. H. Beck (5. Aufl.) 2012, S. 11. 23 Winkler : Der lange Weg nach Westen, a. a. O., S. 5. 24 Winkler : Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, a.a.O, S. 652.

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einen neuen Fluchtpunkt. 1933, Auschwitz und der Nationalsozialismus sind nicht mehr Dreh- und Angelpunkte der deutschen Geschichte, sondern die friedliche Neukonstitution des deutschen Nationalstaats 1990, die einen über Jahrhunderte währenden Weg nach Westen beendet. Indem Winkler beiden deutschen Staaten Sonderwege attestiert – einen postnationalistischen im Westen und einen internationalistischen im Osten –, vermeidet er es, die DDR vom Hauptstrom der deutschen Geschichte zu isolieren und ihre Identität als einen reinen Irrweg abzuwerten. Auf diese Weise erscheint die DDR als integraler Teil einer von vielen Sonderwegen gekennzeichneten deutschen Geschichte, die mit 1990 in eine neue Epoche eintritt. Heinrich August Winklers Deutung stellt somit die historische Konstruktion einer neuen Gegenwart dar : Sie vermag es, Deutschen in West und Ost Identifikationspunkte zu geben. Sein Narrativ erklärt die schuldhaften Verstrickungen des deutschen Volks, ordnet sie in einen säkularen Zusammenhang ein, ohne sie dabei zu relativieren, verficht eine entschieden europäische Perspektive und erhebt den Tag der Wiedervereinigung zum Kulminationspunkt der deutschen Geschichte. Dem Nationalstaat wird in dieser neuen Version der Sonderwegsidee eine völlig veränderte Bedeutung beigemessen: Zu Teilungszeiten sollte diese den Abschied vom Nationalstaat erklären und legitimieren; dieser galt als eine vergangene, überwundene Periode der deutschen Geschichte. In Winklers „langem Weg“ ist der Sonderweg nun die Vorgeschichte des demokratischen deutschen Nationalstaats. Winkler verfehlte es nicht, die vielfach geäußerte Kritik an der Sonderwegsidee zu erwähnen: Gab es jemals einen europäisch-atlantischen Normalweg, von dem sich Deutschland unterschied? Können Staaten wie Großbritannien, Frankreich und die USA überhaupt als eine Einheit betrachtet werden, von deren Gemeinsamkeit sich Deutschland unterschied? Für Winkler besteht diese Gemeinsamkeit im Bekenntnis zu Menschen- und Bürgerrechten und dem tief in der politischen Kultur verankerten Freiheitsideal. Doch hat auch Frankreich für sich einen „exceptionnalisme“ in Anspruch genommen und die USA sind bis heute stolz auf ihre weltgeschichtliche „uniqueness“. Warum also auf einem „deutschen Sonderweg“ beharren? „Wenn auch alle Geschichte eine Geschichte von Sonderwegen ist, so gibt es doch einige, die noch besonderer sind als die anderen“, rechtfertigt er seine Entscheidung, Deutschland als einen Sonderfall zu behandeln.25 Heinrich August Winkler, der mit seinem „langen Weg nach Westen“ eine sinnbildende, politisch-didaktische Sicht der deutschen Geschichte entwirft, sieht sich zugleich dem Ideal einer aufklärerischen Geschichtswissenschaft verpflichtet. Im letzten Absatz seines Werkes stellt Winkler sein Werk in den 25 Ebd., S. 657.

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Zusammenhang der Dekonstruktion europäischer Geschichtsmythen: „Die europäischen Nationen diesseits und jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs“, so schreibt er, „haben Anlass, sich mit ihrer Geschichte und ihren Mythen, den älteren wie den neuere, selbstkritisch auseinanderzusetzen.“26 Es bleibt indes zu fragen, ob auf die Dekonstruktion von Mythen nicht notwendig die Erschaffung neuer Mythen folgt; ob Nationen und Nationalgeschichtsschreibung überhaupt ohne Mythen überleben können. Was ist der „Westen“, zu dem hin Deutschland unterwegs war und in dem es mittlerweile angekommen ist? Handelt es sich um eine konkrete historische Realität, ein Ensemble von Staaten? Oder geht es eher um einen Idealtypus, um das normative Modell einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen und demokratisch regierten Gesellschaft? Ist der Westen vielmehr ein Mythos im Sinne einer sinnstiftenden, handlungsleitenden und identitätsbildenden Vorstellung? In der Winkler’schen Darstellung erfüllt der Westen diese Funktion, denn er gibt der deutschen Geschichte Ziel und Sinn. Der Mythos des Westens ist sozusagen das Gegenbild zum Reichsmythos, von dem Deutschland sich über Jahrhunderte hinweg nicht verabschieden konnte. Das Bild des „langen Wegs“ suggeriert – indem es in hohem Grade von kulturellen, regionalen und politischen Verschiedenheiten abstrahiert – eine die Angehörigen der deutschen Nation verbindende gemeinsame Erfahrung. Indem er die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter das Leitmotiv der nur zögerlichen und langsamen Verwestlichung stellt, versucht er, ihr eine Einheit, ja eine Kontinuität zu geben, welche sie nach 1945 endgültig verloren zu haben schien. „Der lange Weg nach Osten“, so ist ein Kapitel des Buchs „Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte“ des Historikers Karl Schlögel überschrieben. Die Abgrenzung von Winklers Buchtitel scheint bewusst gewählt: „Angeblich ist Deutschland auf dem langen Weg nach Westen endlich im Westen angekommen“, so schreibt Schlögel. „Das ist eine Formulierung, die verrät, dass an dieser Behauptung etwas nicht stimmt.“ Die von der Nachkriegsordnung „erzwungene“ Westwendung habe auch die „Züge einer Flucht – buchstäblich und vor allem mental“ gehabt. Seit 1989 bestehe kein Grund mehr zu einer „Perpetuierung“ dieser Abwendung von den östlichen Nachbarn Deutschlands, vielmehr eröffne sich die Chance, „das Verhältnis neu zu justieren“.27 Schlögel begibt sich auf den Weg einer Wiederentdeckung, der Rekonstruktion einer verschütteten Geschichte: Diese dreht sich um eine Region, die man einst Mitteleuropa nannte und in deren vielfältigen, multiethnischen Gemengelage die Präsenz von Deutschen über Jahrhunderte zur Normalität ge26 Ebd. 27 Schlögel, Karl: Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte, München: Carl Hanser Verlag 2005, S. 259.

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hörte. Die Komplexität Mitteleuropas war durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts absichtlich reduziert worden, durch Vertreibungen, Völkerverschiebungen, Kriege; durch Grenzziehungen, die ethnisch homogene Nationalstaaten erzeugen wollten. Das dichotomische, bipolare Weltbild des Kalten Kriegs hatte aus dieser Region einen Teil des „Ostens“ gemacht und damit künstlich vom „Westen“ abgetrennt. Erst nach 1989, nach dem Fall der Denkblockaden auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, lässt sich über die Geschichte dieser Region wieder vorurteilsfrei diskutieren. Ebenso bietet sich nun die Chance, eine andere, zu Zeiten des Kalten Kriegs stets unter ideologischen Vorzeichen betrachtete Geschichte unvoreingenommen zu betrachten: die Vertreibung der in dieser Region ansässigen Deutschen; ein Geschehen, das Teil der vielen Bevölkerungsverschiebungen des 20. Jahrhunderts war. Vor 1989 war, so Schlögel, der „ganze Flüchtlings- und Vertreibungskomplex in die Matrix einer Kultur der bedingten Reflexe eingeschweißt“ – seitens der Gegner der Vertriebenen ebenso wie ihrer Fürsprecher. Heute besteht nun die Chance, „den ganzen Komplex des deutschen Ostens neu zu denken, auf die Höhe der Gegenwart und aus der Ecke der Folklore und Tradition herauszuholen“.28 Der „lange Weg nach Osten“, wie ihn Schlögel vorschlägt, ist keine ideologische oder geopolitische Neuausrichtung, sondern die Suchbewegung des Historikers, der eine teils verschüttete und unter der Blockbildung des Kalten Kriegs grenzenlos politisierte Geschichte rekonstruieren möchte. Die literarische Form seines Suchens ist nicht die Nationalgeschichtsschreibung, die eine geschlossene Logik suggeriert, sondern die offene, aperÅuhafte Gestalt des Essays. „Man muss Abschied nehmen von der Illusion, wir hätten längst den Überblick, und wir hätten diese ganze Geschichte auf den Begriff gebracht. Eher ist es umgekehrt: wir müssen erst einmal anfangen, sie wieder oder neu zur Kenntnis zu nehmen – sie wahrzunehmen – nach allen Richtungen hin.“29 Der lange Weg nach Westen und der lange Weg nach Osten – zwei Sichtweisen, nach 1989 deutsche Geschichte zu denken.30 Die erste verortet das Land in einem Ideenhorizont, sie beinhaltet ein festes, von der Gegenwart ausgehendes politisches Bekenntnis und will einen Beitrag dazu leisten, die Zugehörigkeit der Deutschen zur Wertegemeinschaft des Westens historiographisch zu untermauern. Sie geht, wie einst die Sonderwegsthese der Teilungszeit, vom Heute aus und liefert historische Argumente für eine politische Grundorientierung. „Dies Heute mag dürftig sein, zugegeben. Aber es mag sein wie es will, man muss es 28 Ebd., S. 265 f. 29 Ebd., S. 264. 30 Weitere Perspektiven zu der hier entwickelten Fragestellung bietet der Band: Ruge, Undine/ Morat, Daniel (Hrsg.): Deutschland denken. Beiträge für die reflektierte Republik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005.

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fest bei den Hörnern haben, um die Vergangenheit befragen zu können“, hat Walter Benjamin geschrieben.31 Aus dieser Perspektive hat Heinrich August Winkler die Aufgabe eines Historikers, der eine historische Konstruktion der Gegenwart erbringen will, meisterhaft erfüllt. Die zweite Sichtweise, der „lange Weg nach Osten“, verortet Deutschland nicht in einem Ideenhorizont, sondern in seinem geographischen Raum und geht auf eine Spurensuche, deren Ziel die „Rückgewinnung von Komplexität“ ist.32 Es ist ein perspektivenreicher Blick auf die deutsche Geschichte, der die Arbeit des Historikers als ständigen Rekonstruktionsversuch begreift.

Bibliographie Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, revised edition, London, New York: Verso 2006. Benjamin, Walter : Wider ein Meisterwerk, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. Faulenbach, Bernd: Die Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München: Verlag C. H. Beck 1980. Habermas, Jürgen: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung (1986), in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Hrsg. von Ernst Reinhard Piper, München: Piper (5. Aufl.) 1987, S. 62 – 76. Holborn, Hajo/Barraclough, Geoffrey : „Irrwege in unserer Geschichte?“ Zwei ausländische Autoren kommentieren Friedrich Meineckes Aufsatz, in: Der Monat, 17 (1950), S. 531 – 538. Mann, Thomas: Deutschland und die Deutschen (1945), in: Pollmann, Bernhard (Hrsg.): Lesebuch zur deutschen Geschichte, Bd. 3: Vom Deutschen Reich bis zur Gegenwart, Dortmund: Chronik Verlag 1984, S. 181 – 200. Meinecke, Friedrich: Irrwege in unserer Geschichte?, in: Der Monat, 13 (1949), S. 3 – 6. Meineke, Stefan: „Thukydidismus“, in: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth/Landfester, Manfred (Hrsg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 15/3, Stuttgart: Verlag J. B. Metzler 2003. Mommsen, Wolfgang J.: Weder Leugnen noch Vergessen befreit von der Vergangenheit. Die Harmonisierung des Geschichtsbildes gefährdet die Freiheit (1986), in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse über die Einzigartigkeit der national-

31 Benjamin, Walter: Wider ein Meisterwerk, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 259. 32 Schlögel: Marjampole, a. a. O., S. 279.

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sozialistischen Judenvernichtung. Hrsg. von Ernst Reinhard Piper, München: Piper (5. Aufl.) 1987, S. 300 – 321. Mommsen, Wolfgang J.: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg, in: Ders. (Hrsg.): Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München: R. Oldenbourg Verlag 1996, S. 1 – 15. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschiche 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München: C. H. Beck (5. Aufl.) 2012. Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp (3. Aufl.) 1988. Ruge, Undine/Morat, Daniel (Hrsg.): Deutschland denken. Beiträge für die reflektierte Republik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. Schlögel, Karl: Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte, München: Carl Hanser Verlag 2005. Schulin, Ernst: Deutsche und amerikanische Geschichtswissenschaft. Wechselseitige Impulse im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ders.: Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne, Frankfurt am Main: Campus 1997, S. 164 – 191. Schulze, Winfried: Vom „Sonderweg“ bis zur „Ankunft im Westen“. Deutschlands Stellung in Europa, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 53 (2002) 4, S. 226 – 240. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Hrsg. und übertragen von Georg Peter Landmann, München: dtv 1981. Waechter, Matthias: Repenser l’histoire en exil. L’exil comme lieu de r¦interpr¦tation de l’histoire allemande, in: Cahiers de la M¦diterrann¦e, 812 (2011), S. 101 – 106. Weber, Wolfgang: Historiographie und Mythographie. Oder : Wie kann und soll der Historiker mit Mythen umgehen?, in: Völker-Rasor, Anette/Schmale, Wolfgang (Hrsg.): MythenMächte – Mythen als Argument, Berlin: Verlag Arno Spitz 1998. Wehler, Hans-Ulrich: Preußen ist wieder chic… – Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. Welskopp, Thomas: Identität ex negativo. Der „deutsche Sonderweg“ als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 109 – 139. Winkler, Heinrich August: Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen (1986), in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Hrsg. von Ernst Reinhard Piper, München: Piper (5. Aufl.) 1987, S. 256 – 263. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München: Verlag C. H. Beck 2000. Winkler, Heinrich August: Weimar 1918 – 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München: Verlag C. H. Beck (4. Aufl.) 2005.

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Zwischen Stolz und Missbilligung. Der Zweite Weltkrieg in der Erinnerungspolitik der Russländischen Föderation und der Ukraine

Im 21. Jahrhundert erwachte erneut ein reges Interesse an Mythen und Kulturen in allen hoch entwickelten Gesellschaften der Welt, die sich mit zunehmender Intensität mit der Suche nach dem Sinn des Lebens beschäftigen. Gerade angesichts der wachsenden Zukunftsunsicherheit der im postsowjetischen Raum lebenden Menschen gewann diese Rückbindung an die geschichtlichen Ereignisse, wie beispielsweise an den 1945 errungenen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, durch den Mythos an Bedeutung. Bereits in den 1980er Jahren begann sich in der UdSSR ein Bewusstsein zu entfalten, dass die Bewältigung der Gegenwart untrennbar mit der Bewältigung der Vergangenheit zusammenhinge. Die Interpretation sowie die damit einhergehende Mythologisierung des Großen Vaterländischen Krieges löste dabei ein kräftiges Diskussionsfeuerwerk aus, dessen Funken bis zum aktuellen Zeitpunkt vor allem in den „slawischen Bruderländern“ der Russländischen Föderation und Ukraine glühen. Während in Moskau noch langsam der Schnee schmilzt, laufen alljährlich die Vorbereitungen anlässlich der Feierlichkeiten zu Ehren des am 9. Mai 1945 errungenen Sieges über Nazideutschland auf Hochtouren: Die mit der Ausschmückung der Metropole beauftragten Unternehmen montieren an sämtlichen sich dafür eignenden Punkten über 50.000 Fahnen, großformatige Plakate und Installationen, die meist sowjetische Kriegsorden, Militärtechnik sowie mit Medaillen ausstaffierte Kriegsveteranen abbilden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei einer adäquaten, dem grandiosen Anlass gebührenden Verzierung des Roten Platzes: Das als Kulisse der Regierungstribüne dienende Lenin-Mausoleum verdeckt das Zentralsymbol der Gedenkfeiern, ein überdimensionaler, rotorangefarbener, fünfzackiger Stern. Gegenüber spannt sich eine mit Fotografien aus dem Krieg zurückkehrender Soldaten ausgestattete, 122 Meter lange Aussichtsgalerie am Kaufhaus GUM; an der Kremlmauer lehnen Sitze in den Nationalfarben weiß-blau-rot für Ehrengäste. Vor dem Eingang zur „Seele der Hauptstadt“ am Manegeplatz prangen hinter dem Reiterdenkmal des „Siegesmarschalls“ Georgij Zˇukov Porträts sowjetischer Feldherren, über 12.000 ak-

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kurat eingepflanzte Blumen formen im Alexandergarten die Jahreszahlen „1941 – 1945“. Nach dem Verstummen der Glocken des Spasski-Turms um 10:00 Uhr startet in ganzer Pracht, Perfektion und Präzision die zentrale Militärparade: Etwa 10.000 Soldaten aller Waffengattungen marschieren entlang der Ehrentribüne, gefolgt von einem Defilee imposanter Waffentechnik – Panzerkolonnen, Atomraketenträger, Kampfflugzeuge und Hubschrauber. Den angegrauten, mit Orden behängten Kriegsveteranen, die in 130 eigens gebauten, optisch auf die legendären SIS-5-Anderthalbtonner getrimmten Kleinlastern über den Roten Platz rollen, applaudiert das hochrangige Auditorium stets stehend. Mancherorts erheben die stolz auf ihre heroische Vergangenheit zurückblickenden Russländer an den festlich gedeckten Tischen, den Live-Übertragungen des siebzigminütigen Spektakels auf den heimischen Bildschirmen beiwohnend, ihre Gläser „Auf Stalin, Sieg und Vaterland“. Der aus der Sowjetzeit stammende, arbeitsfreie, in erster Linie positive Emotionen entfachende „Tag des Sieges“ scheint sich, dem Ausmaß der auf informeller sowie privater Ebene vollzogenen Aktivitäten nach zu urteilen, bei der Bevölkerung der Russländischen Föderation als Feiertag fest etabliert zu haben. Etwas differenzierter verhält es sich mit dem Gedenken an das „heilige Datum“ in der Ukraine. Während sich in gewohnter Weise in der auf der Halbinsel Krim gelegenen Stadt Sevastopel über 40.000 Menschen versammelten, um die traditionell von der ukrainischen Marine und der Schwarzmeerflotte Russlands gemeinsam ausgetragene Festveranstaltung zu begleiten,1 dominierte auf den öffentlichen Plätzen westukrainischer Ortschaften ein davon stark abweichendes Bild. So prägten am 9. Mai 2011 in der „heimlichen Hauptstadt der Ukraine“ L’viv statt pathetisch anmutender Stimmung, huldvoller Dankesworte an die Kriegsteilnehmer oder fulminanter Feuerwerke vielmehr gewalttätige Ausschreitungen und Handgreiflichkeiten die Ereignisse. Am 66. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland verwehrten rund 100 nationalistisch gesinnte Jugendliche am „Hügel des Ruhmes“ den Besuchern, welche das in Russland als Symbol der militärischen Tapferkeit geltende Georgsband an ihrer Kleidung trugen, den Zugang zum Grabmal des Unbekannten Soldaten. Die Spannungen erreichten ihren Höhepunkt, als die Nationalisten einen Blumenkranz mit den Füßen zertraten, den der Generalkonsul der Russländischen Föderation, Oleg Astachov, auf dem Militärfriedhof niederzulegen gedachte. „Ehre der Ukraine! Ehre den Helden“ skandierend verbrannte eine Gruppe junger Ukrainer vor dem

1 „Rossijskije i ukrainskije morjaki vmeste ucˇastvujut v parade v Sevastopele [Russländische und ukrainische Seemänner marschieren gemeinsam auf der Parade in Sevastopel]“, in: Rossijskaja gazeta, 09. 05. 2011.

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Gebäude des Stadtrates einige rote, mit der sowjetischen beziehungsweise der russländischen Armee assoziierte Fahnen.2 Trotz der vehementen Wiederholung eindringlicher Appelle seitens der ukrainischen Machtspitze zur Einhaltung der nationalen Einheit erinnerten sich die im Osten sowie Süden des Landes lebenden Bürger mit Stolz und Freude an das Ende des Großen Vaterländischen Krieges, wohingegen die westliche Bevölkerung diesen Festivitäten eher mit einer unverkennbaren Ablehnung gegenübertrat. Kriege, wie es der renommierte deutsche Geschichtsforscher Reinhart Koselleck einmal formulierte, allegorisieren „Erinnerungsschleusen“ und fundamentale Erfahrungszäsuren, welche wie kein anderes Ereignis das historische Bewusstsein der Menschen bestimmen.3 Zu allen Zeiten, in allen Regionen und in allen Gesellschaften entstanden daher vielfältige narrative, bildnerische sowie metaphorische Formen des Umgangs mit solchen mnemonischen Erlebnissen. Die Aufarbeitung einzelner Facetten der Kriegsgeschehnisse folgte dabei sehr unterschiedlichen Zielen: Einerseits konzentrierte sie sich auf eine Bewältigung individueller Trauer und auf ein mahnendes Erinnern zur Vermeidung jeglicher bewaffneter Auseinandersetzungen, andererseits diente sie der Herstellung nationaler Einheit ebenso wie der Mobilisierung für neue Gewaltakte. Jeder Nationalstaat verfügt über ein zweckbetontes Inventar von symbolischen, den staatlichen Patriotismus oftmals kleidenden Normen, das sehr viel über das kollektive Selbstverständnis sowie dessen kommunikative Vermittlung verrät. Militärische Themen absorbieren indes eine exorbitante Aufmerksamkeit, da Kriege oftmals über eine konstitutive Bedeutung verfügen: Sie erzeugen Nationen, schaffen solidarische Gemeinschaften und lassen die Armeen auch in Friedensperioden als Träger des nationalen Selbstbewusstseins erstrahlen. Darüber hinaus erheben sämtliche Streitkräfte den Anspruch, als Erziehungsanstalten zu fungieren, die Soldaten im Zeichen der Nation zu beeinflussen und zusammenschweißen.4 Ferner gibt es eine Identifikation der Nation mit dem Krieg, die über diese faktische und psychologische Wechselwirkung weit hinausreicht – die Ineinssetzung der Nation mit der existentiellen Erfahrung ent-

2 Lisˇcˇenko, Julija/Dorotycˇ, Marija: „9 travnja u L’vovi: svjato zi sl’ozoginnym gazom na ocˇach [9. Mai: Feiertag mit Tränengas in den Augen]“, in: Vysokyj zamok, 12. 05. 2011. 3 Koselleck, Reinhart: Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewusstsein, in: Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 265 – 287, hier 265 ff. 4 Frevert, Ute: Nation, Krieg und Geschlecht im 19. Jahrhundert, in: Hettling, Manfred/Nolte, Paul (Hrsg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München: Verlag C. H. Beck 1996, S. 151 – 170, hier S. 151 ff.

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scheidender Feldzüge und Schlachten, die fast religiöse Weihe, welche die Nation durch das Blut empfängt, das Menschen für sie im Krieg vergießen.5 Vor diesem Hintergrund erscheint es äußerst reizvoll, die einzelnen Gedenkpraktiken in den einstigen Sowjetrepubliken Russland und Ukraine, welche auf eine gemeinsame jahrhundertlange historische Entwicklung zurückblicken, näher zu beleuchten: Dient die Erinnerungskultur in erster Linie den patriotischen Legitimationserfordernissen der führenden Eliten oder versucht sie vorrangig, die psychischen sowie kulturellen Komfort- und Kompensationsbedürfnisse der Bevölkerung beider Staaten zu befriedigen? Welche Erinnerungsproduzenten – und mit welchen Zielen – beteiligen sich in den jeweiligen Arbeitsprozessen daran, einen umfassenden, breitenwirksamen Prototyp des Großen Vaterländischen Krieges zu entwerfen, um diesen anschließend im Bewusstsein der Massen zu manifestieren? Welche unterschiedlichen Gruppen von Vergangenheitsadressaten und welche unterschiedlichen Formen der Vergangenheitsbewältigung lassen sich angesichts ausgesprochener sozialer, regionaler, professioneller, geschlechts- sowie altersspezifischer Ungleichheiten beobachten?

Im Blätterwald der Definitionen – Zweiter Weltkrieg, Großer Vaterländischer Krieg oder Deutsch-Sowjetischer Krieg? Die direkt nach dem Kriegsausbruch in offensichtlicher Anlehnung an die Bezeichnung für den gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons im 19. Jahrhundert von Josef Stalin in einer Radioansprache angeführte Bezeichnung „Großer Vaterländischer Krieg“ gehört zu den wenigen Segmenten, welche die postkommunistische „Umwertung der sowjetischen Geschichte“ – sowohl in Russland als auch in der Ukraine – nahezu unbeschadet überstanden haben. Der Zweite Weltkrieg als Ganzes (1939 – 1945) spielte in Russland stets eine eher nachgeordnete Rolle mit einem ziemlich inferioren Erinnerungswert, wenn auch im Laufe der letzten 20 Jahre immer wieder Ereignisse und Prozesse hitzige Wortgefechte entzündeten, die sich nicht unmittelbar auf die Schlachten auf sowjetischem Territorium bezogen – insbesondere die Bedeutung der von den westlichen Alliierten aufgemachten „zweiten“ Front sowie die geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt.6 Die mit dem Begriff „Großer Vaterlän5 Becker, Frank: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864 – 1913, München: R. Oldenbourg Verlag 2001, S. 30. 6 Vgl. hierzu Fedosov, Dmitrij: Militärhistoriker, Publizist. Interview am 23. 04. 2008 in Moskau; Strastenko, Nikolaj: Geschichtsprofessor, Dekan der Historischen Fakultät der Russländischen Staatlichen Sozialen Universität (RGSU). Interview in Moskau am 19. 05. 2008.

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discher Krieg“ etikettierte Zeitspanne fällt in diesem Zusammenhang nicht mit den von Adolf Hitler initiierten weltweiten Kriegshandlungen in den Jahren 1939 – 1945 zusammen, sondern umklammert die Geschehnisse zwischen dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die UdSSR am 22. Juni 1941 und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 9. Mai 1945. In der Russländischen Föderation ranken sich die mit erinnerungskulturellen und politischen Themenkomplexen zusammenhängenden Debatten hauptsächlich um den Großen Vaterländischen Krieg sowie dem damit verbundenen Sieg der Roten Armee über Hitlerdeutschland, der sich laut dem Präsidenten Dmitrij Medvedev für das Volk Russlands „nie zu einer historischen Abstraktion, zu einem bloßen Datum entwickeln darf, das lediglich auf Postkarten steht oder einfach mit Schlachtenepisoden in Filmen rekapituliert wird“.7 So nimmt dieses Problemgerüst einen übergeordneten Platz im gegenwärtigen sozialpolitischen sowie geistigen Leben des Landes ein, wofür unter anderem der Umfang der auf reges öffentliches Interesse stoßenden belletristischen und wissenschaftlichen Produktionen spricht. Die jahrzehntelang nahezu luftdicht isolierte, entsprechend der sowjetischen Lesart hypertrophierte sowjetukrainische Geschichtswissenschaft sah sich bereits in der Spät-Perestrojka-Phase mit einem massiven Re-Import (west-) ukrainischnationalistischen Denkens aus den Exilzentren Kanada und USA konfrontiert – mit der Folge, dass die kulturell-politische Segmentierung des neuen Staates in einen ukrainophonen Nordwesten sowie einen russophonen Südosten bald ihre Parallele in der Historiografie fand. Aus der nationalpatriotischen Perspektive der jungen Ukraine Anfang der 1990er Jahren handelte es sich in der Periode 1939 – 1945 um einen Krieg zur Befreiung der Ukraine – zunächst von der sowjetischen Vorherrschaft, dann aber auch von deutscher Besatzung und polnischer Präsenz. Entsprechend entstand die übergeordnete Formel vom „Deutsch-Sowjetischen Krieg“, der zwar schwerpunktmäßig auf dem Territorium der Ukraine stattfand, der aber nicht das Werk der Ukrainer, sondern eben das der Deutschen und der „Sowjetmenschen“ veranschauliche. Aus dieser Sicht galt der „Befreiungskampf der Ukrainer“, der sich teils qua Waffenbruderschaft mit der Wehrmacht, teils gegen diese vollzog, als regionaler, indes ukrainisch-nationaler Teilkonflikt im „Deutsch-Sowjetischen Krieg“.8 7 Medvedev, Dmitrij: „Velikaja Otecˇestvennaja vojna nikogda ne budet dlja nasˇego naroda istoricˇeskoj abstrakciej. 8 maja 2010 g [Der Große Vaterländische Krieg wird für unser Volk niemals zu einer historischen Abstraktion. 08. 05. 2010]“, URL: http://blog.kremlin.ru/post/ 80 (15. 05. 2010). 8 Vgl. hierzu Jilge, Wilfried: The Politics of History and the Second World War in Post-Communist Ukraine (1986/1991 – 2004/2005), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 54 (2006) 1, S. 50 – 81, hier S. 50 ff.

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Im späteren Verlauf des Konsolidierungsprozesses einer souveränen Ukraine etablierte sich die neutrale Bezeichnung „Zweiter Weltkrieg“ mit der Datierung dessen Beginns auf 1939, wodurch in weiten Teilen des Landes heftige Proteste entfesselt wurden. Einserseits ging es dabei um das Festhalten an der heroischsowjetischen Formel „Großer Vaterländischer Krieg“, andererseits um das Insistieren auf die Periodisierung 1941 – 1945, was Debatten über die sowjetische Besetzung Ostpolens 1939 und damit über die Westerweiterung der Sowjetukraine als Akte kriegerischer Aggression und Kooperation mit dem nationalsozialistischen Deutschland vermeiden sollte.9 Schließlich favorisierten laut einer im Jahr 2007 vom Kiever Razumkov-Zentrum für ökonomische und politische Forschung durchgeführten Umfrage rund 70 Prozent der Befragten die Bezeichnung „Großer Vaterländischer Krieg“, lediglich 23 Prozent zogen den „Zweiten Weltkrieg“ vor und nur drei Prozent sprachen sich für „Deutsch-Sowjetischen Krieg“ aus; die übrigen vier Prozent plädierten für andere Bezeichnungen oder hatten keine Meinung.10 So lädt schon allein die terminologische Beständigkeit des Großen Vaterländischen Krieges geradewegs zur Frage nach den Kontinuitäten und Brüchen der sowjetischen Geschichtsbilder des Ereignisses sowie den diesbezüglichen Darstellungen, Analysen und Interpretationsvorschlägen in der Russländischen Föderation und Ukraine ein.

Der patriotische Geist russländischer Polit-Architekten Als die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Dezember 1991 zerfiel, ging ein in der Oktoberrevolution 1917 seinen Ausgang genommenes sozialistisches Experiment zu Ende, welches neben der territorialen und militärischen Auflösung des Riesenreiches auch die Annullierung einer als unerschütterlich empfundenen Weltmachtidentität induzierte. Der schlagartige Verfall gewohnter Wertvorstellungen verursachte sowohl in der Russländischen Föderation als auch in der Ukraine ein ideologisches Vakuum, eine massenhafte moralische Desorientierung sowie eine Infragestellung der nationalen Selbstdefinition in einer veränderten internationalen Umwelt. Wie auch in anderen Fällen „erfundener Traditionen“ zeigte sich in den postsowjetischen Staaten die Notwen9 Bruder, Franziska: Geschichtspolitik in der Ukraine. Die unabhängige Ukraine entdeckt für sich und die ganze Welt ihre wahre Geschichte, in: Flierl, Thomas/Müller, Elfriede (Hrsg.): Osteuropa. Schlachtfeld der Erinnerungen, Berlin: Dietz Verlag 2010, S. 175 – 189, hier S. 175 f. 10 Troebst, Stefan: Geschichtswissenschaft im postkommunistischen Ost(mittel)europa. Zwischen Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur, in: Deutschland Archiv, 1 (2009), S. 87 – 95, hier S. 90.

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digkeit der Etablierung einer neuen historischen Identität vor dem Hintergrund fundamentaler politischer, sozialer und kultureller Umbrüche, welche die bisherigen ideologisch geprägten, die Gesellschaft einigenden und mobilisierenden Mechanismen außer Kraft setzten. In dieser Situation entstand für die russländischen und ukrainischen Führungseliten die Gelegenheit der Abwendung von der sowjetischen Vergangenheit, um das symbolische Band mit dem diskreditierten Erbe der UdSSR weitgehend zu lösen. Zur Verwirklichung dieses Ziels bot sich die Möglichkeit einer aktiven Wiederbelebung einzelner Elemente der vorkommunistischen Epoche, verknüpft mit der Formierung neuer nationaler Wertvorstellungen, an. Schlugen die neuen Machtinhaber nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 jedoch tatsächlich diesen Weg ein oder hielten sie eher an den altbewährten Mythen fest, welche in gewohnter Manier einen wichtigen Bestandteil ihrer Nationalgeschichte verkörperten? Von den 15 Staaten, in welche das „Rote Imperium“ auseinanderdriftete, bildete die Russländische Föderation mit 17.075.000 von 22.402.200 Quadratkilometern und 147 von 285,7 Millionen Einwohnern der früheren UdSSR im Jahr 1989 nach wie vor das Herzstück Eurasiens. Auch von nationalen Konflikten, die sich innerhalb des multiethnischen Konglomerats sozialistischer Republiken allmählich anstauten und ihr Ende beschleunigten,11 drohte der Russländischen Föderation keine eigentliche Gefahr, hielten doch die Russischsprachigen 1989 in der UdSSR mit 50,8 Prozent nur noch knapp die Mehrheit, in der RSFSR stellten sie allerdings 81,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.12 Zwar sah Russland sich nunmehr seiner prestigeträchtigen Rolle als Weltreich beraubt und größtenteils wieder auf die Grenzen des früheren 18. Jahrhunderts zurückgeworfen, doch erwuchsen daraus erstmals seit der Machtergreifung der Bolschewiki erneut Chancen, die Kräfte nicht mehr auf die Pflege der imperialen Größe, sondern auf die innere Entwicklung zu konzentrieren. Nach der spöttisch mit dem Kunstbegriff „Anokratie“ versehenen El’cinDekade erwischte der neue Kremlchef Vladimir Putin mit seinem ordnungspolitischen Gestaltungsdrang den Nerv der Zeit und eroberte mit den Reizworten „Diktatur des Gesetzes“, „starker Staat“ sowie „Vertikale der Macht“13 im

11 Khazanov, Anatoly : After the USSR: Ethnicity, Nationalism, and Politics in the Commonwealth in Independent States, Madison: University of Wisconsin Press 1995, S. 3 ff. 12 Kotov, V.: Narody sojuznych respublik SSSR. 60 – 80-e gody. Etnodemograficˇeskie processy [Völker der Räterepubliken der UdSSR. 60 – 80er Jahre. Ethnodemografische Prozesse], Moskva: IRI RAN 2001. 13 Vgl. hierzu Casula, Philipp (Hrsg.): Identities and politics during the Putin presidency. The ˇ adaev, A. / Loginov, K. discursive foundations of Russia’s stability, Stuttgart: Ibidem 2009; C

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Handumdrehen das Vertrauen der der ökonomischen Hysterie der 1990er überdrüssigen Bürger. Da Russland, solange die Weltmarktpreise für Erdöl, Erdgas sowie Buntmetalle seit Januar 2000 stiegen, auf einem üppigen Geldtopf saß, entspannte sich die wirtschaftliche Lage und die Majorität der Bevölkerung erfreute sich an regelmäßigen, die allgemeine soziale Sicherheit potenzierende Lohnauszahlungen. Aufgrund der sich daraus ergebenden Kumulierung des Lebensstandards begegneten die meisten Russländer, in deren Bewusstsein der Wunsch nach einer Rückkehr zum alten, vertrauten System des autoritären Paternalismus die Idee der Konsolidierung demokratischer Maxime beträchtlich eindämmte, den von dem entschlossenen Staatsoberhaupt präferierten Taktiken – verschärfte Kontrolle der Massenmedien, drakonische Einschränkung des Handlungsspielraums der Regionalbehörden zugunsten der Zentralorgane, enorme Reduzierung des politischen Einflusses großer Wirtschaftskonzerne, welche Putins Vorwärtskommen überhaupt erst ermöglichten – mit einer bestimmten Passivität. Die Leitmotive Patriotismus und Großmachtvisionen, die sich in erster Linie auf den Sieg der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg stützten, zogen sich wie ein roter Faden durch das Denken und Handeln des zweiten Staatsoberhaupts der Russländischen Föderation während seiner Amtszeit von 2000 bis 2008. Nach der „Aufklärungsphase“ der 1990er Jahre dominierte ein politisch funktionalisiertes Patchwork nationaler Mythenarsenale, das sowohl die russische und als auch die sowjetische Vergangenheit durchkreuzte, die offizielle Geschichtsschreibung.14 Diese modellierten maßgeblich zwei gegenläufige Tendenzen: Einerseits bestanden klare Versuche – erfahrungsgemäß seitens des politischen Zentrums und zum Unwillen oppositioneller Kräfte in Wissenschaft und Journalismus –, die Interpretation der zurückliegenden Ereignisse als eine Einheitsvariante zu fixieren. „Vaterländische Geschichte“ versinnbildlicht in diesem Zusammenhang die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks, nämlich die Geschichte des und simultan für das Vaterland. Andererseits neigt die äußerst unüberschaubare alternative Strömung dazu, Vergangenheit unter dem Vorzeichen der Differenzierung in pluralistischer Form zu repräsentieren. Es handelt sich dabei um Darstellungen einzelner politischer, sozialer, ethnolinguis-

(Hrsg.): Plan Putina. Slovar’ politicˇeskich terminov [Putins Plan. Ein Lexikon politischer Termini], Moskva: Evropa 2007. 14 Romov, Roman: „Pravda o vojne“ i pravda vojny [Die „Wahrheit über den Krieg“ und die Wahrheit des Krieges], in: Velikaja Vojna: Trudnyj put’ k pravde. Interv’ju, vospominanija, stat’i [Der Große Krieg: Der schwierige Weg zur Wahrheit. Interviews, Erinnerungen, Berichte], Moskva: Jauza 2005, S. 8.

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tischer oder religiöser Gruppen, die sich gegen die Homogenisierungsbestrebungen der staatlichen Autorität auflehnen.15 Seit 2000 formt also eher die Mythosbildung als die Ergründung der „weißen Flecke“ die russländische Geschichtsschreibung im Hinblick auf den Großen Vaterländischen Krieg, wobei sich die Bestrebungen der Richtigkeitsfindung in der Praxis als Waffen unterschiedlicher Denkweisen und Weltanschauungen äußern.16 Es findet ein in der Öffentlichkeit ausgetragener, von der Suche nach einer für die Gegenwart geeigneten ideologischen Stütze begleiteter Disput um die historische Wahrheit statt: Die Legende von einem erfolgreichen, das Land zum Sieg führenden Generalissimus Josef Stalin ringt gegen die Charakterisierung dieser Person als einen talentlosen, die UdSSR in den Ruin treibenden Oberbefehlshaber ; die von einer starken, zum Wohle der weltweiten Allgemeinheit kämpfenden Armee gegen die Manifestation dieser als einen Zusammenschluss unbarmherziger Kollaborateure. Der Diskussionsverlauf hinterlässt nicht nur in den wissenschaftlichen und journalistischen Beiträgen seine Spuren, sondern auch in den Geschichtslehrbüchern, deren mittlerweile kaum überschaubare Menge die in den Schulen und Universitäten Lehrenden vor eine komplizierte Auswahlentscheidung stellt. Zudem kristallisierte sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ein „patriotischer Konsens“ heraus, der den Großteil der politischen Klasse miteinander verband und die meisten Vereinigungen und Parteien überspannte. Dieser basierte auf folgenden Faktoren: Russland sei eine Groß- und Weltmacht, welche eine eigenständige Zivilisation verkörpere und deshalb für ihre Wirtschaft ein eigenes ordnungspolitisches Modell erfordere. Ferner müsse sich die neue Regierung im Rahmen der Konstituierung eines starken Staates vehement für die Interessen der Russen sowie der im „nahen Ausland“ lebenden Russischsprachigen, insbesondere für die individuellen Freiheitsrechte und das Streben nach Wohlstand, einsetzen.17 Den „patriotischen Konsens“, dessen zentrale Idee die Kontinuität der Expansionsgeschichte des Moskauer Machtstaats von den Anfängen im Mittelalter über die bolschewistische Diktatur bis in die Gegenwart bildete, prägten somit vor allem althergebrachte Elemente des russisch-sowjetischen Selbstverständnisses. Für die vorherrschende politische Kultur erschien die Bedeutung des „Großen Siegs“ als höchst inklusiv, da er die Zustimmung aller Schichten der russländischen Gesellschaft genoss und für viele zuvorderst den im Krieg errun15 o. A.: Vereinheitlichung und Differenzierung. Spielregeln des Streits über Geschichte, in: kultura, 1 (2008), S. 2 f., hier S. 2. 16 Afanas’ev, Michail: Direktor der öffentlichen historischen Staatsbibliothek in Moskau. Telefoninterview am 20. 04. 2008. 17 Simon, Gerhard: Auf der Suche nach der „Idee für Russland“, in: Osteuropa, 11 – 12 (2001), S. 1169 – 1190, hier S. 1171 ff.

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genen, allerdings massiv verblassenden Großmachtstatus Russlands mit der Kontrolle eines „Sechstels der Landfläche der Erde“ in Erinnerung rief. Darüber hinaus korrespondierte der Heldenmythos der Beteiligung des „gesamten sowjetischen Volks“ an der Zerschlagung des nationalsozialistischen Feindes mit der offiziellen Doktrin der „russländischen Nation“ als Trägerin der Staatsgewalt. So nutzte Boris El’cin die Siegesfestivitäten in Moskau am 9. Mai 1995 anlässlich des 50. Jahrestags der Beendigung des Zweiten Weltkriegs, um auf friedliche Art Russlands Größe nach außen und innen zu demonstrieren. Zu dem prunkvollen Jubiläum, zu dessen Ehren das amtierende Staatsoberhaupt vorsorglich eine Waffenruhe für den in Tschetschenien tobenden, allseits scharf kritisierten Krieg anordnete, fanden sich zahlreiche hochrangige Gäste aus dem Ausland ein, darunter der amerikanische Präsident Bill Clinton, der französische Staatschef FranÅois Mitterrand, der britische Premier John Major und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl. Boris El’cin präsentierte sich währenddessen ganz als der weltoffene, aufmerksame Gastgeber der Großmacht Russland und des Nachfolgers der siegreichen UdSSR. Noch ein Jahr zuvor mahnte er vor der gleichen festlichen Kulisse, jedoch in Abwesenheit der Mächtigen der Welt, mehr Achtung des Westens gegenüber seinem Land an und forderte die Ansprache Russlands mit „Sie“.18 Am 15. Mai 2009 ordnete Dmitrij Medvedev per Dekret die Bildung einer „Kommission beim Präsidenten der Russländischen Föderation zur Bekämpfung der Fälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands“ an. Der schwierige geopolitische Rahmen, welcher das 65. Jubiläum des Siegs über den Faschismus im Jahr 2010 umspannt, sowie die Verunglimpfung historischer Tatsachen seitens einiger ehemaliger Republiken der UdSSR erfordere die Schaffung eines Gremiums dieser Art, konstatierte die russländische Präsidialadministration.19 Medvedev wies darauf hin, dass es unerhört wäre, die Klagen der Veteranen gegen die Verzerrung historischer Wahrheit und die Bagatellisierung der Rolle der Roten Armee im Großen Vaterländischen Krieg zu ignorieren: „Wir müssen gegen jegliche Form der Geschichtsfalsifikation mit aller Macht und Härte vorgehen. Das ist, wenn Sie wollen, unsere zivile Pflicht.“20

18 Mommsen, Margareta: Wer herrscht in Rußland? Der Kreml und die Schatten der Macht, München: Verlag C. H. Beck 2004, S. 124 ff. 19 „Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii ot 15 maja 2009 g. N 549 ,O Komissii pri Prezidente Rossiskoj Federacii po protivodejstviju popytkam fal’sifikacii istorii v usˇcˇerb interesam Rossii‘ [Dekret des Präsidenten der Russländischen Föderation vom 15. Mai 2009, Nr. 549; Über die Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Bekämpfung der Fälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands’]“, in: Rossijskaja gazeta, 20. 05. 2009. 20 Zitiert nach Stenograficˇeskij otcˇet o zasedanii Rossijskogo organizacionnogo komiteta „Pobeda“. 27 janvarja 2009 goda. Strel’na [Stenografischer Bericht über die Sitzung des

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Zu den 28 Mitgliedern des „Falsifikationskollegiums“ zählen neben dem Leiter der russländischen Archivbehörde, Vladimir Kozlov, und vier Historiˇ ubar’jan und Nikolaj kern, Natal’ja Narocˇnickaja, Andrej Sacharov, Aleksandr C Svanidze, vornehmlich hohe Beamte des Justizministeriums, der Auslandsaufklärung, des Generalstabs, des Außenministeriums, des Sicherheitsrats, des Inlandsgeheimdiensts sowie der Präsidialverwaltung.21 Diese Zusammensetzung lässt ahnen, dass es der Kommission wohl kaum um eine Neuauflage des „Streits der Fakultäten“22 um die historische Wahrheit geht. Über die Methoden, mit welchen die Kommission gegen die potenziellen Falsifikationen und Falsifikatoren operieren soll, gibt der Erlass keine Ausˇ ubar’jan widmete sich das künfte. Nach Angaben des Historikers Aleksandr C Kuratorium im ersten Schritt einer präzisen Überprüfung der historischen Literatur sowie diverser massenmedialer Beiträge, welche russlandfeindliche Haltungen popularisieren.23 Anhand der personellen Konstellation der von Medvedev einberufenen Kommission, die größtenteils aus Geheimdienstlern, Militärs und Funktionären besteht, können weitere Schlussfolgerungen über die Verfahrensweisen der „Wahrheitswächter“ gezogen werden. Seit der Gründung des Ausschusses gibt es bislang allerdings keine näheren Informationen über dessen Aktivitäten, Arbeitstechniken oder bereits gewonnene Erkenntnisse. Die russländische Regierung dürfte kein großes Interesse daran haben, die von dem Gremium erzielten Zwischenergebnisse zu veröffentlichen, sichtbar soll letztlich das Endresultat ausfallen: das aufpolierte Image Russlands. Auf diesem Fundament erwachte im postsowjetischen Russland eine historische Deutungs- und Forschungskultur, die sich letztendlich den Überzeugungen und Handlungen der jeweiligen amtierenden Präsidenten anpassen musste. Zunehmend ertönen laute Lehrerstimmen, die das Ende des in den 1990er Jahren erzeugten Pluralismus der Lehrutensilien, der über 40 verschiedene Varianten der Geschichtslehrbücher auf den russländischen Markt brachte, fordern und somit die Idee Vladimir Putins von einem einheitlichen Geschichtsbuch unterstützen.24 Angesichts der nahezu unüberschaubaren Anzahl

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Russländischen Organisationskomitees „Sieg“. 27. 01. 2009. Strel’na], URL: http:// www.kremlin.ru/transcripts/2960/print (11. 01. 2010). Minin, Stanislav : „Medvedev nazval borcov s fal’sifikacijami [Medvedev hat die Falsifikationskämpfer ernannt]“, URL: http://www.ng.ru/columnist/2009 – 05 – 20/100_false.html (22. 05. 2009). Vgl. hierzu Kant, Immanuel: Der Streit der Fakultäten, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2004. Novoselova, Elena: „Pravda o vojne i mire. Kak gosudarstvo sobirajt’sja borot’sja s fal’sifikaciej istorii [Die Wahrheit über Krieg und Frieden. Wie der Staat gegen die Geschichtsfalsifikation kämpfen will]“, in: Rossijskaja gazeta, 20. 05. 2009. Fuks, A.: Sˇkol’nye ucˇebniki po otecˇestvennoj istorii kak istoriograficˇeskoe javlenie,

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diverser, sich ständig wandelnder Interpretationen des Großen Vaterländischen Krieges und anderer in der Öffentlichkeit umstrittener Geschehnisse in diesen Textsammlungen erklang innerhalb der Lehrerschaft sogar der Vorschlag, auf diese gänzlich zu verzichten. Äquivalent dazu sollten Originalquellen wie Soldatenbriefe, journalistische Kriegsberichte oder Dokumentarfilmvorführungen eine eminentere Rolle im Unterricht spielen.25 Da die Mentoren für die Informationsweitergabe der Besonderheiten der Jahre 1941 – 1945 an die Jugendlichen eine kolossale Verantwortung tragen und größtenteils die Auffassung vertreten, dass es unter anderem zu den Hauptfunktionen des Geschichtsunterrichts gehöre, die Jugend patriotisch zu erziehen, die Gesellschaft zu konsolidieren, jedoch nicht die verschiedenen Meinungen zu repräsentieren, versuchen sie, das ihnen neben den Schulbüchern zur Verfügung stehende pädagogische Arsenal auszuschöpfen: Errichtung von Schulmuseen, Gedenktafeln, Denkmälern zu Ehren der Kämpfenden oder Durchführungen von Exkursionen zu ehemaligen Schlachtfeldern. Die Darbietung des Großen Vaterländischen Krieges sowie der sich daraus ableitenden Schlussfolgerungen hängt in der aktuellen Erinnerungspolitik der Russländischen Föderation zu Beginn des 21. Jahrhunderts stark von der politischen Konjunktur des Landes sowie von der Erschließung neuer Primärquellen ab. Ungeachtet der zunehmenden Annäherung der offiziellen Geschichtsschreibung an die historischen Fakten und der damit zusammenhängenden Objektivitätsversuche, die derzeit allerdings vermehrt restauratorische Wesenszüge der Sowjettradition adoptiert, werden die heroischen „alten Wahrheiten“ die unangenehmen „neuen Wahrheiten“ im Bewusstsein der Russländer vermutlich noch eine lange Zeit überschatten.

Alte und neue Wahrheiten – Wertung der Kriegsereignisse in der postsowjetischen Ukraine Am 24. August 1991 verabschiedete die Verchovna Rada zunächst eine formale Unabhängigkeitserklärung, welcher 92,3 Prozent der sich am 1. Dezember 1991 an einem Referendum beteiligenden Ukrainer eindeutig beipflichteten. Aus der „Kornkammer der UdSSR“26, der drittgrößten Republik des kommunistischen Imperiums, entwickelte sich ein selbständiger Nationalstaat, der seither unter [Schulbücher zur Vaterlandsgeschichte als historiografische Erscheinung], in: Prepodavanie istorii i obsˇcˇestvoznanija v sˇkole, 7 (2007), S. 12 – 21, hier S. 12 ff. 25 Koloskov, A.: Poznavatel’nye zadanija k teme: Velikaja Otecˇestvennaja vojna 1941 – 1945 gg [Aufschlussreiche Aufgabestellungen zum Thema: Der Große Vaterländische Krieg 1941 – 1945], in: Prepodavanie istorii i obsˇcˇestvoznanija v ˇskole, 2 (2006), S. 3 – 18, hier S. 3 ff. 26 Gubarev, W. K.: Istorija Ukrajiny [Geschichte der Ukraine], Donezk: BAO 2004, S. 257.

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hellblau-goldener Flagge nach einer unantastbaren Identität, nach Selbstbestimmung und Anerkennung auf der politischen Weltbühne sucht. Bei der territorialen Ausdehnung der heutigen Ukraine, die sich über nahezu 603.700 km2, auf denen etwa 45,6 Millionen Menschen leben, erstreckt und somit als kartographisch größter rein europäischer Flächenstaat figuriert, handelt es sich um ein Produkt des Zweiten Weltkriegs.27 Während die links des Flusses Dnipro gelegene Ukraine bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Russischen Reich und anschließend zur UdSSR gehörte, vollzog sich die Eingliederung der rechtsufrigen Ukraine erst in Folge der Teilungen Polens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Süden schloss sich nach siegreichen Kriegen gegen das Osmanische Reich zu Beginn des 19. Jahrhunderts an, gefolgt von Galizien, Bukowina und Transkarpatien in den Jahren 1939 – 1945.28 Der junge osteuropäische Staat blickt mit seiner sehr heterogenen Bevölkerung auf eine äußerst komplexe Vergangenheit zurück, ohne aber zugleich auf ein kontinuierliches Geschichtsbild im Sinne einer durchgehenden Einheit von Gesellschaft, Territorium, Staatswesen und Kultur zurückgreifen zu können. Die wechselvollen historischen Ereignisse zwischen Fremdherrschaften, Trennungen und Teilungen, Kriegen und Friedensschlüssen sowie die Einflüsse der verschiedenen Kulturen hinterließen am „Rande Europas“ vielfältige Spuren. Die daraus resultierende multikulturelle Bevölkerungsstruktur der Ukraine setzt sich heute aus etwa 110 verschiedenen Volksgruppen zusammen, deren größte Repräsentanten die ethnischen Ukrainer (77,8 Prozent), die Russen (17,3 Prozent) sowie die Weißrussen (0,6 Prozent) darstellen.29 Aus diesem Grund verwundert es wenig, dass sich die Ukraine nach der erstmaligen Erlangung der Souveränität neben dem neuralgischen Erbe der über 70 Jahre andauernden sozialistischen Periode – Korruption, Lohngefälle, Blockaden, Stagnation, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, extreme Ausbeutung, Entvölkerung – vor allem mit der Staats- und Nationsbildung konfrontiert sah. Ausgehend von dem historischen Werdegang des Landes unterscheiden sich die einzelnen Gebiete durch kulturelle Einflüsse, kirchliche Zugehörigkeit, den Grad der Bewahrung der ukrainischen Sprache als Familien- und Umgangssprache, das Niveau der industriellen Entwicklung sowie das Wahlverhalten voneinander. Häufig tritt eine triviale Reduktion der überaus vielschichtigen regionalen Kontraste innerhalb der Ukraine auf einen „pro-europäischen“ 27 Vseukrajins’kyj perepys naselennja 2001 [Volkszählung in der Ukraine 2001], URL: http:// 2001.ukrcensus.gov.ua/ (3. 11. 2011). 28 Haran, Oleksij: Der regionale Faktor in der ukrainischen Politik, in: Simon, Gerhard (Hrsg.): Die neue Ukraine. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik (1991 – 2001), Köln: Böhlau Verlag 2002, S. 99 – 127, hier S. 99. 29 Vgl. hierzu Vseukrajins’kyj perepys naselennja 2001 [Volkszählung in der Ukraine 2001], a. a. O.

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Westen und einen „pro-russischen“ Osten ein, begründet mit der Schwäche der staatlichen Institutionen sowie der politischen Krisenanfälligkeit. Mit den von der „Orangenen Revolution“ begleiteten Präsidentschaftswahlen 2004 gelang es den vermeintlich „pro-westlichen“ Kräften erstmals, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, wobei der damalige Wahlsieger Viktor Jusˇcˇenko und sein Herausforderer Viktor Janukovicˇ geradezu perfekt die innerukrainischen räumlichen Gegensätze personifizierten: Auf der einen Seite die ukrainischsprachige, agrarisch und vorwiegend griechisch-katholisch geprägte, patriotische, progressiv-demokratische Westukraine – trotz der Herkunft Jusˇcˇenkos aus dem östlichen Bezirk Sumy –, auf der anderen die russischsprachige, industrialisierte, orthodox dominierte, national-nihilistische, sowjetnostalgische, autoritäre Ostukraine.30 Damit korrelierten zwei konkurrierende nationale Ideen, die „ethnisch-ukrainische“ sowie die „ost-slawische“, woraus sich zwei konträre Konzeptionen der ukrainischen Geschichts- und Identitätspolitik ergaben. Solange die Ukraine zur UdSSR gehörte, fungierte der Große Vaterländische Krieg mit seinen exemplarischen Helden- sowie Opfertaten als ausgezeichnetes Material für die Schaffung patriotischer Symbole und kollektiver Gedenkmuster, gefüllt mit faden ideologischen Vorgaben: den gemeinsamem ethischen und politischen Werten der sozialistischen Gesellschaft, der Führungsrolle der Kommunistischen Partei von Front und Hinterland, der glühenden Heimatverehrung, der bedingungslosen Opferbereitschaft, der beispiellosen Tapferkeit sowie der Freundschaft aller Völker der Sowjetunion.31 Obwohl die Geschehnisse der Jahre 1941 – 1945 auch weiterhin ein zentrales Themenfeld der ukrainischen Erinnerungskultur darstellten, begannen nach 1991 durch aufstrebende Politiker, Nationalhistoriker und Journalisten initiierte intensive, partiell von massiven Auseinandersetzungen gekennzeichnete Neudeutungsinitiativen. In den Mittelpunkt staatlicher Geschichtspolitik und öffentlicher Debatten rückte insbesondere der Untergrundkampf der „Organisation der Ukrainischen Nationalisten“ (OUN) sowie der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA), zu deren Aktivitäten unter anderem die Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht sowie die Verwicklung in die grausamen Judenmorde zählen.32 Der Versuch einer Aufwertung sowie formellen Anerkennung der beiden Organi30 Shulman, Stephen: The Contours of Civic and Ethnic National Identification in Ukraine, in: Europe-Asia Studies, 1 (2004), S. 35 – 56. 31 Wanner, Catherine: Burden of Dreams. History and Identity in Post Soviet Ukraine, Pennsylvania: St. Univ 1998, S. 34. 32 Vgl. hierzu Friedman, Philip: Ukrainian-Jewish Relations During the Nazi Occupation, in: Ders.: Roads to Extinction: Essays on the Holocaust. Hrsg. von Ada June Friedman, New York: Jewish Publication Society of America 1980; Hrynevycˇ, Ljudmyla: Istorija OUN, UPA na tli politycˇnoji borot’by v sucˇasnij Ukrajini [Geschichte der OUN, UPA im Licht des politischen Kampfes in der zeitgenössischen Ukraine], Kijiv : Libyd’ 1999.

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sationen entfachte nicht nur offene innenpolitische Konflikte zwischen den Anhängern der in der Perestrojka-Dekade gegründeten Nationalbewegung Ruch und der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), sondern überlagert seit der Unabhängigkeit auch die außenpolitischen Kontroversen mit Russland – etwa um die Stationierung der russländischen Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel Krim. Gleichwohl gelang es in den ersten Jahren der Souveränität verhältnismäßig zügig, die individuelle und juristisch-vergangenheitspolitische Dimension der OUN-UPA-Problematik zu lösen. Das am 22. Oktober 1993 verabschiedete Gesetz „Über den Status der Kriegsveteranen und die Garantien ihres sozialen Schutzes“ erkannte die Mitglieder der Ukrainischen Aufstandsarmee, welche an dem bewaffneten Widerstand gegen die deutsch-faschistischen Eroberer in dem zwischenzeitlich besetzten Territorium der Ukraine von 1941 bis 1944 teilnahmen und keine Verbrechen gegen Menschlichkeit begingen, ausdrücklich als „Teilnehmer an Kampfhandlungen“ an und verlieh diesen den Status der Kriegsveteranen.33 Höchst umstritten blieb allerdings die geschichtspolitische Dimension der Ehrenrettung der OUN- und UPA-Soldaten sowie die damit verknüpfte Frage, wer sich mehr um die ukrainische Staatlichkeit verdient gemacht habe – die Ukrainer, die unter dem roten, oder jene, die unter dem blaugelben Banner um die Unabhängigkeit der Ukraine rangen. Die einstmaligen Rotarmisten ernteten dabei das Image von widerwärtigen Okkupanten und Staatsfeinden, während gegen die Angehörigen der OUN-UPA vornehmlich Vorwürfe der Kooperation mit der deutschen Wehrmacht, des Vaterlandsverrats sowie der Unterstützung des Faschismus erhallten. Der nach einem turbulenten Wahlprozess im Januar 2005 als Präsident vereidigte Viktor Jusˇcˇenko und die ihn zunächst stützenden „orangefarbenen Regierungen“ setzten in ihrer Geschichtspolitik, verglichen mit der späten Ära seines Vorgängers Leonid Kucˇma, deutlich stärkere nationale Akzente. Im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung, umrahmt von der Neubestimmung sozialer Orientierungs- und Anknüpfungspunkte sowie einem staatlich „verordneten“ Nationalismus, zeichnete sich der Trend des Ersetzens der falschen, sowjetideologisch definierten, künstlich erzeugten historischen Darbietungen durch eine „wahrhaftige“ Nationalgeschichte ab. Die Rehabilitierung der OUN und der UPA als „Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine“ gewann erneut exorbitante Aufmerksamkeit, wobei Jusˇcˇenko wiederholt versicherte, dass sich die Bemühungen um die Einstufung dieser Vereinigungen als nationale Befreiungsbewegungen keineswegs gegen die Russländische Födera33 Zakon Ukrajiny „Pro status veteraniv vijny, garantiji jich social’nogo sachistu“. 22. 10. 1993 [Gesetz der Ukraine „Über den Status der Kriegsveteranen und die Garantien ihres sozialen Schutzes“. 22. 10. 1993], URL: http://zakon2.rada.gov.ua/laws/show/3551 – 12 (01. 12. 2011).

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tion oder andere Länder richten, sondern darauf zielen, der Opfer der Verbrechen eines totalitären Regimes gebührend zu gedenken.34 Die von dem „orangenen“ Staatsoberhaupt protegierten Ansichten, welche sämtliche Etappen der ukrainischen Nationsbildung als einen linearen Hergang freiheitlich-liberaler, (proto-)demokratischer Erfahrungswerte beschrieb, ließen die sowjetische Phase nahezu ausschließlich als Zeit der „Okkupation der Ukraine“ erscheinen. Mit der Aufgabe der Wiederherstellung und Sicherung eines „wahren“ Geschichtsbilds betraute Viktor Jusˇcˇenko das im Jahr 2005 von ihm ins Leben gerufene, als zentraler Sinnproduzent der Präsidialadministration unterstellte „Ukrainische Institut des Nationalen Gedenkens“. Ferner beauftragte er eine innerhalb der Strukturen des Ukrainischen Geheimdienstes (SBU) angesiedelte Historiker-Arbeitsgruppe mit der auf der Freigabe einiger Archivdokumente fußenden Vergangenheitsbewältigung, welche eine angemessene Verbreitung geschichtspolitischer Vorgaben, wie beispielsweise die sukzessive Popularisierung der kontrovers diskutierten OUN-UPA-Aktivitäten, anvisierte. Anlässlich des Gründungstages der UPA im Oktober 2006 wies Jusˇcˇenko die mittlerweile unter seinem Kontrahenten Viktor Janukovicˇ amtierende Regierung an, anhand der seitens der Historiker-Arbeitsgruppe konkretisierten fachlichen Schlussfolgerungen einen Gesetzentwurf zur Anerkennung von OUN und UPA als ukrainische Befreiungsbewegung der 1920er bis 1950er Jahre auszuarbeiten. Der Präsident wählte das wohl problematischste Interpretationssegment des Großen Vaterländischen Krieges, um die „Konsolidierung […] der ukrainischen Nation“ sowie die „Erneuerung des nationalen Gedächtnisses“ zu fördern.35 Die größte Oppositionskraft, die Partei der Regionen, welche an Stereotypen des sowjetischen Kriegsmythos und der damit verzahnten Brudervolk-Rhetorik festhält, lehnte jedoch das Vorhaben, vordergründig staatstragend argumentierend, entschieden ab: Der Gesetzentwurf begünstige weniger eine nachhaltige Verankerung, sondern viel eher eine stärkere Spaltung des Volks. Seit der Übernahme des Präsidentschaftsamts durch Viktor Janukovicˇ im Februar 2010 ließ sich daher eine klare Abwendung von den Grundzügen und Bezugspunkten der Geschichts- und Identitätspolitik seines Gegenspielers beobachten, die nicht zuletzt auf einige durch den teilweise unnahbaren Messianismus sowie nationalen Dogmatismus bedingten Verfehlungen Jusˇcˇenkos zurückzuführen sind.36

34 Jilge, Wilfried: Nationalukrainischer Befreiungskampf: Die Umwertung des Zweiten Weltkrieges in der Ukraine, in: Osteuropa, 6 (2008), S. 167 – 187, hier S. 169 ff. 35 Vgl. hierzu Juchnovskyj, Igor’: Pro ideologiju i polityku Ukrajins’skogo institute nacional’noji pam’jati [Über die Ideologie und Politik des Ukrainischen Instituts des Nationalen Gedenkens], in: Zerkalo nedeli, 27. 10. 2007; offizielle Website des Ukrainischen Instituts des Nationalen Gedenkens, URL: http://www.memory.gov.ua/ (01. 01. 2012). 36 Bredies, Ingmar : „Volle Fahrt zurück!“ Richtungswechsel in der Geschichts- und Identi-

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Anstelle der beabsichtigten Generierung eines gesamtukrainisch relevanten, einheitlichen nationalen Bewusstseins der Bürger kristallisierte sich eine verschärfte Konsensuntauglichkeit und generelle Realitätsentrücktheit heraus, welche die ohnehin wankende Autorität des scheidenden Staatschefs immens beeinträchtigten. Tendenziell neigte Jusˇcˇenko zu einer unausgewogenen Verharmlosung, Romantisierung und Idealisierung der 1929 gegründeten OUN sowie der seit 1941 bestehenden UPA, die Aspekte ihrer Zusammenarbeit mit den deutschen SSStaffeln, das Begehen brutaler Verbrechen gegen die friedliche Zivilbevölkerung oder die Beteiligung an der Judenverfolgung dabei ausblendend, wohingegen die neuen Machtinhaber die aus der Sowjetperiode stammende Verteuflung und Stigmatisierung der beiden Organisationsstrukturen präferierte. Die bisherigen Deutungsschemata der ukrainischen Geschichte sowie den von der obersten Leitungsinstanz „stimulierten“ Nationalismus wurden nun abgelöst durch die Renaissance des „autoritären Eklektizismus“37 der Kutschma-Periode, die gewisse Elemente der sowjetischen und der nationalukrainischen Historiografie miteinander vermischte. Doch diese scheinbar radikale Kehrtwende Janukovicˇs betraf nicht alle Bereiche: Obwohl die Ukraine einer der Hauptschauplätze des Holocaust war und auch in den meisten Schulbüchern auftaucht, findet meist nur eine marginale Auseinandersetzung mit dieser Begebenheit statt. Bis in die Gegenwart betrachten die meisten Ukrainer die Vernichtung der Juden als eine abstrakte und fremde Begebenheit, welche sich in erster Linie in unterschiedlichen europäischen Ländern, weniger jedoch auf dem heimatlichen Territorium ereignete. Verweise auf die angebliche Verbindung der Juden mit dem sowjetischen Regime, wie beispielsweise die westukrainischen Pogrome im Sommer 1941, rechtfertigen sogar die antisemitischen Unternehmungen der „eigenen“ Nation.38 In Galizien und Wolhynien, wo die jüdischen Gemeinden vor dem Zweiten Weltkrieg kumulierten, fehlt bislang nicht nur eine offizielle Gedenkstätte an den Holocaust, vielmehr werden Orte des jüdischen Lebens sowie des von den Deutschen organisierten Massenmords sogar mit Denkmälern zu Ehren der Helden ukrainischer Nationalistenbewegungen überbaut. Die Bewertung des Großen Vaterländischen Krieges sowie die daraus resultierenden Konsequenzen für die kontemporäre Erinnerungskultur der tätspolitik, in: Ukraine-Analysen, 75 (2010), URL: http://www.laender-analysen.de/ukraine/ pdf/UkraineAnalysen75.pdf (08. 02. 2012). 37 Bredies: „Volle Fahrt zurück!“, a. a. O. 38 Berkhoff, Karel C./Carynnyk, Marco: The Organization of Ukrainian Nationalists and Its Attitude toward Germans and Jews: Iaroslav Stets’ko’s 1941 Zhyttiepys’, in: Harvard Ukrainian Studies, 3 – 4 (1999), S. 149 – 184; Brandon, Ray/Lower, Wendy (Hrsg.): The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization, Bloomington: Indiana UP 2008.

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postsowjetischen Ukraine beruhen stets auf den persönlichen Erwägungen der gerade das Machtruder besitzenden politischen Kräfte, welche sich zur Kreation einer alle Bevölkerungsschichten umspannenden kollektiven Identität und zur Konsolidierung einer einheitlichen Nation auf unterschiedliche Interpretationen dieses Ereignisses stützen. Allerdings verhindern das fahrlässige Verschweigen mancher unangenehmer historischer Momente, wie die zeitweise Kollaboration einiger ukrainischer Freiheitskämpfer, sowie die verantwortungslose Ignoranz der Holocaustproblematik eine veritable Vergangenheitsaufarbeitung.

Opfer, Täter, Heldenkulte Die klassische Mythologie stattete ihre Helden von der Zeugung an mit außergewöhnlichen Kräften aus und gestaltete ihre Lebensabläufe durch faszinierende Wunder sowie atemberaubende Abenteuer, weshalb sie als vom Schicksal begünstigte Ausnahmegeschöpfe figurierten. Der Schriftsteller Maksim Gor’kij erteilte dieser göttlichen Vorbestimmung eine klare Absage: Seine Heroen wirkten als Bewusstseinskatalysator und aktivierten die vorgeblich in jedem Menschen schlummernden heroischen, das Wohl der Allgemeinheit anvisierenden Talente. Ferner agierten die Helden, die aufgrund ihrer Willensanstrengung solch einen würdigen Status erlangten, als Lehrer der Massen, eruierte Gor’kij. Zudem herrsche generell eine gewisse Gleichgültigkeit darüber, wer den Rang eines Helden einnimmt: „Max Lindner, Jack the Ripper, Mussolini, ein Boxer oder ein Zauberer, ein Politiker oder ein Pilot – jeder Einzelne aus der Menge will sich an der Stelle oder in der Lage eines dieser Leute sehen, die es fertiggebracht haben, aus dichtem Dunkel des alltäglichen Lebens herauszuspringen.“39 Diese entzauberte, der traditionellen Transzendenz beraubte sozialistische Herosallegorie substituierte letztlich die Trauer, Besinnung sowie eine unbefangene Rückschau auf die Begebenheiten der Jahre 1941 – 1945 durch Stärke, Optimismus und Pflichterfüllung. Die in der UdSSR praktizierte „Agitation zum Glück“40, welche über die rein rationale Begründung hinausging und ein Beleben von Herz und Verstand auf den patriotischen Prinzipien Vaterländischer Geschichtsschreibung forderte, blühte in der Russländischen Föderation erneut nach der nebulösen Periode der 1990er auf. Insbesondere stieß das daraus resultierende Konglomerat von 39 Zitiert nach Günther, Hans: Der Sozialistische Übermensch: Maksim Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 1993, S. 92. 40 Vgl. hierzu Ljubimowa, Alisa/Gassner, Hubertus (Hrsg.): Agitation zum Glück. Sowjetische Kunst der Stalinzeit, Bremen: Ed. Temmen 1994.

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Normen, welchen Begriffe wie Treue, Nation, Heimat, Muttererde oder Blutsverwandtschaft zugrunde liegen, bei den „Erinnerungsmanagern“ auf flagrante Resonanz. Den heranwachsenden Russländern offenbart sich im Rahmen ihrer Ausbildung zu patriotischen Bürgern ein recht eindimensionales, zum Nachahmen animierendes Geschichtsbild: Der um die Weltherrschaft ringende deutsch-italienisch-japanische faschistisch-militante Block provozierte, perfide Aggressionen ausbreitend, den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der in seinem Orbit 61 Länder und somit 80 Prozent der Erdbevölkerung resorbierte. Als unüberwindbares Hindernis hätte sich für die Okkupanten die Sowjetunion herausgeschält, klangen doch die diffizilen, sich auf dem Boden von 40 europäischen, asiatischen und afrikanischen Staaten zugetragenen Gefechte an der deutsch-sowjetischen Front aus.41 Die sich von September 1939 bis Juni 1945 erstreckende Periode resümierend, projiziert nahezu jedes Geschichtslehrbuch die gelungene Bändigung der mitunter größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts auf die Meriten der tollkühnen Rotarmisten. Am häufigsten blitzen in den Unterrichtsmaterialien, feierlichen Ansprachen oder seitens der Russländischen Streitkräfte für die Allgemeinheit organisierten Veranstaltungen neben dem sagenumwobenen Generalfeldmarschall Michail Kutuzov, welcher im Großen Vaterländischen Krieg gegen Napoleon 1813 die französische Grand Arm¦e zerschlug, die militärischen Idole des 20. Jahrhunderts Ivan Kozˇedub und Aleksandr Matrosov auf. Der weltweit als erfolgreichster alliierter Pilot des Zweiten Weltkriegs angesehene sowjetische Fliegermarschall und dreifache Träger des Titels „Held der Sowjetunion“ Kozˇedub ging im November 1942 als Jagdpilot an die Front, wo er in 326 Einsätzen bei 120 Luftkämpfen mit den Kampfflugzeugen Lavocˇkin La-5 oder Lavocˇkin La-7 insgesamt 62 Siege errang.42 Der als Schlosser in einer baschkortostanischen Möbelfabrik tätige Aleksandr Matrosov fand sich im Januar 1943 in der „Stalinbrigade“, einer im Oktober 1942 von Freiwilligen in Sibirien aufgestellten Schützeneinheit, ein. Am 27. Februar 1943, später auf den 23. Februar 1943 – den Gründungstag der Roten Armee – zurückdatiert, begann ein Angriff seines Bataillons auf eine der bestgesichertsten Feuerstellungen des Gegners an der Kalininer Front. Nach schweren Gefechten und der Sprengung einer feindlichen Einkesselung ebnete Matrosov seinen Kameraden den weiteren Weg, indem er sich mit dem Körper vor eine 41 Vgl. hierzu Baskaev, Arkadij: Simvoly ratnoj slavy kak sredstvo patrioticˇeskogo vospitanija voinov. Slavnye tradicii russkoj armii [Symbole der Militärehre als Mittel der patriotischen Erziehung von Soldaten. Ehrenhafte Traditionen der russländischen Armee], in: Al’manach, 5 (2007). 42 Vgl. hierzu Biografija Ivana Kozˇeduba [Biografie von Ivan Kozˇedub], in: Bodrichin, N.: Sovetskie asy. Ocˇerki o sovetskich letcˇikach [Sowjetische Asse. Abhandlungen über sowjetische Flieger], Moskva: Nauka 1998, S. 256 – 259.

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Schießscharte des deutschen Hauptbunkers warf.43 Den dabei tödlich verunglückten, vom Präsidium des Obersten Sowjets am 19. Juni 1943 mit dem Ehrentitel „Held der Sowjetunion“ prämierten Rotarmisten würdigte sogar der Generalissimus Josef Stalin persönlich mit dem Befehl Nr. 229 vom 8. September 1943, worin es lautet: „[…] dem 254. Gardeschützenregiment der 56. Gardeschützendivision ist der Name ,254. Gardeschützenregiment Aleksander Matrosov‘ zu verleihen.“44 Mit dem aus dem Fundus sowjetischer symbolisch-politischer Praktiken in die postkommunistische Realität hinübergetretenen Mythos des Großen Vaterländischen Krieges gewann auch die Person Josef Stalin, der Oberste Befehlshaber und „Vater aller Völker“, stetig an Aufmerksamkeit. Biographien über den Generalissimus überlagerten die Regale der russländischen Buchläden, postum veröffentlichte Memoiren seiner engsten Gefolgsleute oder die Erinnerungen ihrer Kinder standen auf den Bestsellerlisten.45 Die quotenstarken Fernsehsender des Landes strahlten endlose Dokumentationen über ihn aus, Postämter verkauften Karten mit Illustrationen von klassischen Gemälden des Obersten Befehlshabers im Kampf gegen Hitlerdeutschland, Verkaufsstände und Kioske auf dem Roten Platz boten Sweatshirts samt anderer Memorabilien mit Bildnissen Stalins an. Der ergraute, vom Leben gezeichnete Mann zitiert gern aus der Bibel und wiegt sein Haupt so nachdenklich wie ein mit voller Leidenschaft seinem Beruf zugewandter Philosoph. Problemlos könnte er einen liebevollen und umsorgenden Großvater spielen, doch der Produzent Grigorij Ljubomirov wies ihm eine andere Rolle zu: die des sowjetischen Diktators Josef Stalin. Unter dem Titel „Stalin. Live“ strahlte der russländische Fernsehsender NTV im Februar 2007 eine Seriality, eine Kreuzung aus Reality-Show und Seifenoper, über den Ge43 Matrosov, Aleksandr, in: Sovetskaja Voennaj Enciklopedija, Tom 8 [Sowjetische Militärische Enzyklopädie, Bd. 8], Moskva: Nauka 1978, S. 195. 44 Narodnyj komissar oborony Marsˇal Sovetskogo Sojuza I. Stalin: Prikaz „O prisvoenii 254-mu Gvardejskomu strelkovomu polku imeni Aleksandra Matrosova i zacˇislenie Aleksandra Morosova navecˇno v spisok polka“. N 269. Ot 8 sentjabrja 1943 g [Volkskommissar für Verteidigung Marschall der Sowjetuinion I. Stalin: Befehl „Über die Benennung des 254. Gardeschützenregiments nach Aleksandr Matrosov und Aufnahme Aleksandr Matrosovs für immer in die Liste des Regiments“. Nr. 269. 08. 09. 1943], in: Russkij archiv : Velikaja Otecˇestvennaja. Prikazy Narodnogo komissara oborony SSSR (1943 – 1945 gg.), T. 13 [Russisches Archiv : Der Große Vaterländische Krieg. Befehle des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR (1943 – 1945). Bd. 13], Moskva: Sojuz 1997, S. 199. 45 Vgl. hierzu Chuev, F.: Sto sorok besed s Molotovym [Hundertvierzig Gespräche mit Molotov], Moskva: Terra 1991; Kaganovicˇ, L.: Pamjatnye zapiski [Erinnerungsnotizen], Moskva: Vagrius 1996; Medvedev, Roj: Blizˇnij krug Stalina. Soratniki vozˇdja [Der engste Kreis Stalins. Mitstreiter des Führers], Moskva: Jauza 2005; Melenkov, O.: O moem otce Georgii Melenkove [Über meinen Vater Georgij Malenkov], Moskva: Iskra 1992; Mikojan, A.: Tak bylo [So war es], Moskva: Vagrius 1999.

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neralissimus aus. In der 40-teiligen Serie, welche die letzten Lebtage Stalins zwischen dem 1. und 28. Februar 1953 schildert, erinnert sich der „Rote Zar“ reumütig an die zentralen Stationen seiner Biografie. Zur Überraschung aller Zuschauer erscheint auf dem Bildschirm kein tobender und paranoider Tyrann, sondern ein introvertierter Intellektueller, verkörpert von dem georgischen Schauspieler David Giorgobiani. Der Akteur erlangte seine Berühmtheit in der Perestrojka-Zeit, als er in dem bahnbrechenden Geschichtsfilm „Die Reue“ ein Opfer des stalinistischen Terrors darstellte. Grigorij Ljubomirov, der Iosif Vissarionovicˇ Dzˇugasˇvili nicht lediglich für eine frugale menschliche Figur, sondern für ein „fundamentales historisches Ereignis“ hält,46 verstand es als seine Pflicht, neue Akzente auf die Charakterisierung der stark umstrittenen, allseits verurteilten und von finsteren Geheimnissen umwobenen Persönlichkeit zu setzen. Trotz der teilweise recht brüsken Kritik der russländischen Medien, welche die Verfilmung als unnatürlich und voyeuristisch bezeichneten, stieß „Stalin. Live“ auf eine durchaus positive Resonanz beim Publikum. Der „Erzieher der Nation“, „letzte national-denkende Politiker“, „orthodoxe Sozialist“, „effektive Manager“ und „beste Freund der Flieger und Sportler“ erlebt nach Einschätzungen sowohl in- als auch ausländischer Beobachter eine offenkundige Renaissance.47 Angesichts der Tatsache, dass die Symbolkraft des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg innerhalb der postsowjetischen Gesellschaft Russlands stetig zunimmt, wächst auch die Autorität des ehemaligen Obersten Befehlshabers der Roten Armee. Es verwundert also nicht, dass der Genosse Stalin in den zeitgenössischen Debatten rund um die Kriegsereignisse eine besondere Berücksichtigung erfährt. Die stalinistischen Repressionen, die großen und kleinen Terrorwellen sowie die künstlich erzeugten Hungersnöte zur „Säuberung“ der Gesellschaft gerieten dabei zunehmend in die kollektive Vergessenheit. Bereits während der ersten Amtszeit des ehemaligen KGB-Offiziers Vladimir Putin als Staatsoberhaupt erhöhte sich die Anzahl derjenigen, die Stalins Gebaren affirmativ beurteilten, von vorherigen 19 auf 53 Prozent. Im Januar 2003 zeigten sich sogar 27 Prozent der Bürger bereit, den einstmaligen „Roten Tyrannen“, wenn er noch am Leben wäre, zum Präsidenten Russlands zu wählen.48 Letztlich gelang es eben jenem Genossen Stalin, das Volk zum Sieg über die nationalsozialistischen Angreifer zu führen und dem Land eine der Hauptrollen auf der politischen Weltbühne zu 46 Zitiert nach Bossart, Alla: „Stalin zˇil. Stalin LIVE. Stalin budet zˇit’ [Stalin lebte. Stalin LIVE. Stalin wird leben]“, in: Novaja gazeta, 26. 01. 2007. 47 Gudkov, Lev : Stalina na nas net [Auf uns lastet kein Stalin], in: Ezˇenedel’nyj zˇurnal, 04. 03. 2003. 48 Dubin, Boris: Leiter der Abteilung für soziopolitische Forschung am Levada-Centrum, Dozent an der Russländischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften (RGGU). Telefoninterview am 03. 04. 2010.

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verschaffen – ein Sieg, der für die Mehrheit der Russen den Glanzpunkt ihrer dunklen Vergangenheit wie auch der neuen, durch Verarmung, Enttäuschung oder Perspektivlosigkeit der 1990er Jahre gekennzeichnete, Ordnung darstellte. Die Auseinandersetzung über die Bedeutung für die vaterländische Geschichte der Person Stalin, die auch weiterhin den Posten des bekanntesten und legendenumwobendsten Politikers des Landes bekleidet, lebt auf den Seiten von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und im Fernsehen fort. Dabei kristallisieren sich die Anstrengungen der Autoren heraus, die heutige Stalin-Sicht auf die Vergangenheit zu projizieren und ihn in die Koordinaten der eigenen Wertvorstellungen „einzuzwängen“. Während die „Liberalen“ und „Demokraten“ Iosif Dzˇugasˇvili als den monströsen Tyrannen und Verbrecher präsentieren, erlassen ihm die „Patrioten“ und Sympathisanten eines „starken Staats“ alle Beschuldigungen. Sie rechtfertigen alle „Unkosten“ des Stalinismus mit Churchills Worten: „Stalin erhielt ein Russland mit dem Hakenpflug, hinterließ es aber mit einer Atombombe.“49 Soziologische Meinungsfragen enthüllten, dass anlehnend an die TV-Show „Name Russlands“, welche die Zuschauer zur Abstimmung über die wichtigste historische Persönlichkeit animierte, im Sommer 2008 rund 16 Prozent der Respondenten Josef Stalin als ihr Idol betrachteten und weitere 54 Prozent sich von seinen Führungsqualitäten äußerst beeindruckt zeigten. Die Anzahl derer, die dem „Roten Pharao“ noch zu Anfang der 2000er Jahre mit Angst, Aversion oder Verachtung begegneten, sank um das Doppelte, während das Kontingent seiner Bewunderer konstant blieb und das der Gleichgültigen von 12 auf 38 Prozent im Frühjahr 2010 anstieg.50 Offensichtlich prävalieren nicht die unverhohlenen Stalinisten das kollektive Geschichtsverständnis der russländischen Bürger, deren Majorität den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg untrennbar mit der Person Stalin assoziiert, sondern erstrangig die Gleichgültigen, welche laut dem renommierten Soziologen Boris Dubin ein ungeheures Gefahrenpotential für die Entwicklung der politischen Kultur Russlands darstellen: „Es fällt sehr leicht, solchen Menschen eine beliebige Ideologie zu indoktrinieren. Obwohl das Stalinsche Gedankengut immer noch ziemlich viele Sympathisanten an49 Khavkin, Boris: Postsowjetische Abrechnung mit dem Stalinismus, in: Rill, Bernd (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung im Osten – Russland, Polen, Rumänien, München: Hans Seidel Stiftung 2008, S. 43 – 51, hier S. 50. ˇ erepova, Polina: Rossijane o Staline. Press-vypusk Levada-Centra ot 05. 03. 2010 50 Vgl. hierzu C [Russländer über Stalin. Pressemeldung des Levada-Centers vom 05. 03. 2010], URL: http:// www.levada.ru/press/2010030507.html (04. 03. 2010); Kto dlja Vas tovarisˇcˇ Stalin? Opros tvsˇou „Imja Rossiii“ v ijune 2008 g [Wer ist für Sie, Genosse Stalin? Eine Umfrage der TV-Show „Name Russlands“ im Juni 2008], URL: http://www.nameofrussia.ru/voting.html?cid=1& p=2 (15. 12. 2010).

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zieht, wird kaum daran erinnert, dass der Triumph der UdSSR im Mai 1945 keineswegs eine wahrhaftige Befreiung des sowjetischen Volkes bedeutete.“51

Der einstige „Führer der UdSSR“ versinnbildlicht, trotz der aufkeimenden Aufhellungsversuche demokratisch gesinnter Strömungen, für viele Russländer einen Akkord der nationalen Stärke, den Sieg über Hitlerdeutschland, den Aufstieg des Landes nach dem zerstörerischen Krieg, die Festigung des Staates, die atomare Potenz, die Stilistik des Imperiums, den Bau architektonischer Wunderwerke sowie die ehrwürdige, heimgekehrte sowjetische Nationalhymne. Dieser Tatbestand reflektiert das Maß der Regulierung des politischen Diskurses und verdeutlicht, welche Richtung die Machthabenden im Sozialisierungsprozess und in der Erziehung der Gesellschaft einschlagen. Erst auf mehrmaliges Klopfen hin öffnet sich ein schmales Sichtfenster in der schweren Eichenholztür, der Lauf einer Maschinenpistole lugt hervor. „Parole! “, ruft aus dem Innern ein Mann, von dem die Gäste zunächst nur seine olivgrüne Militärmütze erkennen können. „Ruhm der Ukraine“, lautet die Losung, ohne die der Zutritt in das im Zentrum der westukrainischen Stadt L’viv gelegene Restaurant „Kryjivka“ (Unterschlupf) versperrt bleibt. „Ruhm den Helden“, antwortet der in eine deutsche Landseruniform eingehüllte Türsteher und gibt den Weg in das Kellergewölbe frei. Anschließend überreichen die mit schwarzroten, den ukrainischen Dreizack sowie Schriftzug der nationalistischen Aufstandsarmee UPA abbildenden T-Shirts ausgestatteten Kellner den Besuchern die einem alten Propaganda-Flugblatt gleichende Speisekarte, die unter anderem Gerichte wie den „Wehrmachtsteller“ ausweist. Die Wände des wohl skurrilsten Etablissements L’vivs schmücken neben den verschiedenen, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammenden deutschen Gewehre, Pistolen und Kleidungstücken auch historische, die vermeintlichen Befreiungskämpfer der Ukraine, SS-Offiziere sowie Rotarmisten porträtierende Gemälde. An einer für das gesamte Lokalpublikum gut sichtbaren Stelle prangen Fahnen der ukrainischen Untergrundkämpfer sowie eine Reihe von Illustrationen, Zeitungsartikel und Gedenktafeln, die den die postsowjetische Gesellschaft stark polarisierenden Stepan Bandera thematisierten. In der postsowjetischen Ukraine provoziert der Name Bandera umgehend leidenschaftliche und kontroverse Stellungnahmen – im Westen repräsentiert er einen ruhmreichen Nationalhelden, die Bewohner der restlichen Landesteile assoziieren mit der vermutlich undurchschaubarsten Figur der jüngsten Geschichte größtenteils Begriffe wie Bandit, Vaterlandsverräter, Mörder, Faschist

51 Dubin, Boris: Leiter der Abteilung für soziopolitische Forschung am Levada-Centrum, Dozent an der Russländischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften (RGGU). Telefoninterview am 03. 04. 2010.

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oder Nazi-Scherge.52 Der 1909 in der Familie eines griechisch-katholischen Priesters in von der Österreich-Ungarischen Monarchie beherrschten Ostgalizien geborene Stepan Bandera stand dem radikaleren der beiden Flügel der OUN vor und beabsichtigte, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu gründen. 1934 in Polen wegen des Verdachts der Beteiligung an der Ermordung des polnischen Innenministers Bronisław Pieracki zum Tode verurteilt, saß er nach der Umwandlung dieser Strafe in lebenslange Haft bis 1939 im Gefängnis. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht befreiten die deutschen Truppen den Häftling in der Hoffnung, Bandera würde die OUN und die UPA auf die Seite der Deutschen bringen.53 Als die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion attackierte, marschieren in ihrem Rücken auch die – von Deutschen ausgebildeten – ukrainischen Bataillone „Nachtigall“ und „Roland“,54 welche eine zeitweilige Unterstützung des als radikal, kompromisslos sowie opferbereit geltenden „Freiheitskämpfers“ Stepan Banderas genossen. Am 30. Juni 1941 beteiligte sich das Bataillon „Nachtigall“ an der Ermordung von 7.000 Kommunisten und Juden in L’viv – jenem Tag, an dem Bandera eine souveräne Republik Ukraine proklamierte. Diese Handlung entsprach jedoch ganz und gar nicht der Konzeption der Nationalsozialisten und führte zur Auflösung dieser militärischen Formation sowie zur Festnahme Banderas, der bis 1944 im sogenannten Zellenbau des Konzentrationslagers Sachsenhausen einsaß. In der Sowjetunion zum Tode verurteilt, hielt sich der untergetauchte Bandera nach dem Kriegsende weiter in Deutschland auf, wo er in München 1959 einem Attentat durch einen KGBAgenten zum Opfer fiel.55 Seit 1991 erlebte der rätselhafte Rebell eine eklatante Wiedergeburt – insbesondere in westlichen Regionen stapeln sich in den Buchhandlungen bergeweise Bandera-Biographien, an kaum einem Souvenirstand fehlt sein markantes Konterfei. Ein wenig abseits des verkehrsreichen Alten Marktes von L’viv beginnt die Bandera-Straße, an deren Ende sich das 2007 eingeweihte Denkmal vor der einst polnisch-katholischen Elisabeth-Kirche erhebt. In Bronze gegossen erhebt sich eine gewaltige Statue auf einem drei Meter hohen Granitsockel, dahinter ein überdimensionaler, mit einem strahlend goldenen Dreizack deko52 „Stepan Bandera: Hero or Nazi sympathizer?“, in: Kyiv Post, 02. 10. 2008. 53 Vgl. hierzu Butko, S.: Stepan Bandera. Zbirnyk materialiv i dokumentiv [Stepan Bandera. ˇ astyj, R.: Stepan Bandera. Mify, Material- und Dokumentensammlung], Kijiv : Lybid’ 2009; C legendy, dejstvitel’nost’ [Stepan Bandera. Mythen, Legenden, Wirklichkeit], Char’kov : Folio 2007. 54 Kosyk, V.: Ukrajina i Nimecˇcˇina u drugij svitovij vijni [Ukraine und Deutschland im Zweiten Weltkrieg], L’viv : Vidrodzˇennja 1993, S. 441 ff. 55 Marples, David R.: Stepan Bandera: The Resurrection of a Ukrainian National Hero, in: Europe-Asia Studies, 4 (2006), S. 555 – 566, hier S. 555 f.

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rierter Triumphbogen. Vor dem Monument liegen immerfort mit wetterfesten blau-gelben Plastikrosen sowie gleichfarbigen Schleifen geschmückte Kränze, gewidmet „Dem Nationalhelden der Ukraine“ und „Dem Führer der UPA“. Bei der Bevölkerung des russophonen Ostens sowie der Halbinsel Krim rufen indes jegliche Stepan Bandera lobpreisenden Embleme wenig Begeisterung hervor; dort gilt er als Terrorist, Kollaborateur und Verräter. So pflegen sich die frisch getrauten Hochzeitspaare in der sich entlang des Dnepr ausdehnenden ˇ erkassy, die klassische sowjetische Tradition einhaltend, vor dem örtliStadt C chen Wahrzeichen – der voluminösen, den gefallen Soldaten der Roten Armee gewidmeten Skulptur „Mutter Heimat“ auf dem „Hügel der Ehre“ – zu versammeln. Auch wenn Bandera in der im Mai 2008 ausgestrahlten TV-Show „Große Ukrainer“ des beliebten Senders „Inter“ laut einer telefonischen Zuschauerabstimmung nach dem Großfürsten von Kiev Jaroslav Mudryj und dem Chirurgen Nikolaj Amossov den dritten Platz belegte, bringen ihm in der Tat nicht viele Ukrainer Sympathien entgegen. Im Rahmen einer von der Research & Branding Group landesweit durchgeführten Meinungsumfrage im April 2010 bewerteten lediglich 22 Prozent der Befragten Bandera als positiv und 62 als negativ, wohingegen 52 Prozent der Bürger eine affirmative Bewertung der ebenfalls äußerst zwiespältigen Persönlichkeit Josef Stalin abgaben.56 Anlässlich des „Tages der Versöhnung“ (Den’ Sobornosti), der an die Vereinigung der Westukrainischen Volksrepublik und der Ukrainischen Volksrepublik am 22. Januar 1919 erinnern soll, erklärte Viktor Jusˇcˇenko im Januar 2010 Stepan Bandera zu einem „Helden der Ukraine“. Die Verleihung der höchsten staatlichen Auszeichnung „für die Unzerstörbarkeit des Geistes bei der Vertretung der nationalen Idee, dem gezeigten Heldenmut und der Selbstaufopferung im Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine“57 an den die ukrainische Nation spaltenden OUN-Anführer stieß sowohl im In- als auch im Ausland auf große Vorbehalte. Neben Russland kritisierte vor allem der damalige polnische Präsident Lech Kaczynski den Beschluss seines Amtskollegen im eigentlich befreunden Nachbarland: „Die neuesten Schritte des ukrainischen Präsidenten sind gegen historischen Dialog und Aussöhnung gerichtet. Die aktuellen politischen Interessen haben damit die historische Wahrheit bezwungen.“58 Das 56 Repräsentative Umfrage der Research & Branding Group vom 13.–22. 04. 2010, URL: http:// www.rb.com.ua/rus/politics/ research/2010/6355.html (01. 12. 2011). 57 Ukaz Prezidenta Ukrajiny, Nr. 46/2010, „Pro prysvojennja S. Banderi zvannja Geroj Ikrajiny“ 22. 01. 2010, [Erlass des Präsidenten der Ukraine Nr. 46/2010 „Über die Verleihung des Titels Held der Ukraine an S. Bandera“ 22. 01. 2010], URL: http://www.president.gov.ua/documents/10353.html (15. 01. 2012). 58 Kaczynski verurteilt Juschtschenkos Glorifizierung des Nazi-Kollaborateurs Bandera, URL: http://de.rian.ru/world/20100205/124987049.html (15. 02. 2012).

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Europäische Parlament sah sich in einer Resolution vom 25. Februar 2010 dazu veranlasst, sein Missfallen über diese Entscheidung auszudrücken und äußerte zudem die Hoffnung, dass die künftige Regierung „ihr Bekenntnis zu europäischen Werten aufrechterhält.“59 In Übereinstimmung mit der Haltung des neugewählten Staatsoberhaupts Viktor Janukovicˇ erwirkte das Oberste Verwaltungsgericht im Juni 2010 in einem recht kurzen Verfahren die Annullierung der von Jusˇcˇenko veranlassten Prämierung, die in einigen Regionen bereits vorher durchgesetzt wurde.60 Das Aufkeimen von Heldenkulten tritt vorrangig in politischen Systemen auf, die ein Legitimations-, Integrations- oder Identifikationsdefizit aufweisen. Sie eignen sich aufgrund ihrer sinnlichen Erlebbarkeit hervorragend als Mittel der Kommunikation der Regierenden mit den Volksmassen sowie zu deren Mobilisierung. Ihre spezifische Wirkungsweise befriedigt emotionale sowie soziale Grundbedürfnisse einer Gesellschaft, bietet ihr Orientierung und Halt unter der Verwendung eines (pseudo-)religiösen Vokabulars.61 Da sowohl die Russländische Föderation als auch Ukraine, obgleich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, nach wie vor eine politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Transformation durchleben, prägen hitzige sowie oftmals stark konträre Debatten die Schaffung von adäquaten, sich für eine nachhaltige Festigung der jeweiligen nationalen Identität eignenden Vorbilder.

Gegensätze und Balanceakte des kollektiven Gedächtnisses In den vergangenen Jahrzehnten kam es in nahezu allen Teilen der Welt zu einer explosionsartigen Vermehrung historischer Mythen, deren Ursprung in der zunehmenden Pluralisierung sowie Differenzierung der sozialen, religiösen und kulturellen Milieus, der verschiedenartigen Lebenswelten, der einzelnen Subkulturen sowie der Lebensstilgruppierungen liegt. Der Werdegang einer Nationsformierung zeigt, dass das kollektive Gedächtnis der Nation nicht folgt, sondern im Prozess der eigentlichen Konstitution ihr eher vorauseilt. Erst durch die Konstruktion und Kanonisierung einer vereinigenden, das Selbstwertgefühl potenzierenden Erinnerung über Generationen hinweg kann sich eine nationale Identität als seriöse sozialpolitische Größe etablieren. Die Auswahl der von Attributen wie Stolz, Faszination oder Enthusiasmus begleiteten Gedenkfrag59 Resolution des Europäischen Parlaments zur Situation in der Ukraine vom 25. 02. 2010, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2010 – 0035+0+DOC+XML+V0//EN (12. 02. 2012). 60 „Stepan Bandera is no longer a Hero of Ukraine“, in: Kyjv Post, 12. 01. 2011. 61 Hernegger, Rudolf: Der Mensch auf der Suche nach Identität. Kulturanthropologische Studien über Totemismus, Mythos, Religion, Bonn: Rudolf Habelt Verlag 1978, S. 54 ff.

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mente führt häufig dazu, dass im Fall der Divergenz von Selbstbild und historischen Fakten die Gemeinschaft nicht etwa die Eigenbewertung relativiert, sondern durch gewandte Manipulation der Reminiszenz die Vergangenheit und Gegenwart einander anzunähern versucht.62 Die Protagonisten eines völkischen Erinnerungsverbundes engagieren sich deshalb fortwährend auf unterschiedlichen Ebenen für eine nachhaltige Stabilisierung des nationalen Bewusstseins durch Vergewisserung, Fixierung, Verbreitung sowie Ritualisierung einiger gezielt auserkorener Geschichtsereignisse. Besonders im Kontext entscheidender politischer Umbrüche, nach Revolutionen, Kriegen, Aufständen oder Regime- und Systemwechseln spitzt sich die Frage der Modellierung einer den veränderten Lebensumständen angepassten Erinnerungskultur zu. Die neuen Machthaber stehen dabei vor einer unausweichlichen Legitimierungsaufgabe, die zwei inkongruente Lösungsansätze anbietet – eine absolute, mit der Herabwürdigung einstiger Handlungsweisen einhergehende Abgrenzung von dem jeweiligen Vorgänger oder eine konziliante Fortführung seiner Regierungsmethoden.63 Daher verwundert es nicht, dass, obwohl das öffentliche Gedenken Russlands und der Ukraine stets der staatlichen Monopolisierung unterlag, sowohl die sowjetische als auch die gegenwärtige, sich auf den Großen Vaterländischen Krieg stützende Erinnerungspolitik eklatante Brüche, manchmal sogar offensichtlich miteinander konkurrierende Variationen und Nuancen aufweist. Sowohl die Entstehung der Russländischen Föderation als auch der Ukraine im Jahr 1991 überschattete das katastrophale Scheitern eines viele Generationen übergreifenden politischen Projekts – der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken. Zudem erschwerten die wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheiten nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft sowie der fortschreitende Machtverlust auf dem internationalen Parkett in den 1990er Jahren die Identifikation mit den neuen Staatswesen für weite Teile der jeweiligen Bevölkerung, die einer dreifachen Negation der vorherigen Zustände gegenüberstand: der Zersetzung der bisherigen gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, der Erosion bestehender kultureller Institutionen sowie der kollektiven Deutungs- und Wertungsmuster, der Zerstörung des von den meisten Bürgern seit dem Zweiten Weltkrieg zumindest mitgetragenen Mythos der sowjetischen Supermacht. Die primär mit wohlgemuten Emotionen wie Stolz, Freude und Ehrgefühl verzahnte Reminiszenz an den Großen Vaterländischen Krieg trug bereits in der UdSSR das Siegel einer gewissen Janusköpfigkeit. Nach vier turbulenten 62 König, Helmut: Politik und Gedächtnis, Göttingen: Wallstein Verlag 2008, S. 38. 63 Vgl. hierzu Kohlstruck, Michael: Erinnerungspolitik: Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie, in: Schwelling, Birgit (Hrsg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft: Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 173 – 193.

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Kampfjahren sah sich die Sowjetunion im Mai 1945 mit desaströsen Folgen konfrontiert: 27 Millionen Tote, sechs Millionen zertrümmerte Häuser in 70.000 verwüsteten Städten, Ortschaften und Dörfern, 98.000 zerstörte Bauernhöfe, 32.000 zerbombte Fabriken, 82.000 zerschmetterte Schulen, 43.000 beschädigte Büchereien, 6.000 demolierte Krankenhäuser, abertausende vernichtete Kilometer an Straßen und Eisenbahnverbindungen – kein anderer Staat registrierte höhere Verluste im Zweiten Weltkrieg.64 Doch zugleich endete der Krieg mit einer verheißungsvollen, für das gesamte Europa befreienden Zerschlagung der nationalsozialistischen Regentschaft durch den wahrhaftigen, selbstlosen und entschiedenen Heimatverteidigungswillen der heldenhaften Rotarmisten. Daher gingen Triumph und Trauma, welches jedoch gemäß den Vorgaben der offiziellen Geschichtslesart stets im Schatten pompöser Ehrenveranstaltungen wie illustrer Militärparaden oder fideler Volksfeste stand, eine enge Verflechtung im kollektiven Gedächtnis der Menschen ein. In Russland versuchte der kämpferisch-antikommunistisch gestimmte Boris El’cin zunächst, originär öffentliche Vergangenheitsdebatten vehement durch eine völlige Abkopplung seines Landes von der UdSSR zu reglementieren, wobei eine plakative Glorifizierung des vorrevolutionären Reichs als das „goldene Zeitalter“ der despektierlichen Diffamierung der sowjetischen Periode als Negation und Destruktion der wahren russischen Werte gegenüberstand.65 Mit der nüchternen Vergegenwärtigung, dass die von El’cin angepriesene Demokratie nicht das erhoffte, automatisch den unbegrenzten Wohlstand bringende Allheilmittel verkörperte, stieg innerhalb der Bevölkerung das Verlangen nach der Stabilität und Ruhe der „goldenen“ Brezˇnev-Epoche, welche Eigenschaften wie Volksnähe, Gesetzlichkeit, Gerechtigkeit, Stärke sowie Zuverlässigkeit symbolisierte.66 Ferner bewirkte der 1995 entfesselte Erste Tschetschenienkrieg nicht nur das erneute Aufbrennen der dogmatischen Rhetorik Josef Stalins, die plötzlich in höchst expressiv formulierten Reportagen aufleuchtete, sondern auch die Sehnsucht nach den Methoden des Generalissimus, der 1944 die unbezähmbaren kaukasischen Bergbewohner schnell durch die Verbannung in die entlegensten Provinzen des Landes bändigte.67 Boris El’cin selbst, der zunehmend populistischer operierte und sich allmählich offenkundig gegen das 64 Wosnesenski, N.: War Economy of the USSR in the Period of the Great Patriotic War, Moskau: Nauka 1948, S. 126 ff. 65 Simon: Auf der Suche nach der „Idee für Russland“, a. a. O., S. 1173 ff. 66 Golov, A.: Vlast’ sovetskaja i vlast’ nynesˇnjaja. Itogi predstavitel’nogo oprosa Centra Jurija Levady 11 – 14 nojabrja 2005 goda [Sowjetische Macht und heutige Macht. Umfrageergebnisse des Levada-Zentrums vom 11.–14.11. 2005], URL: http://www.levada.ru/press/ 2005120200.html (12. 06. 2007). ˇ ecˇne pojavilsja memorial’nyj kompeks Slavy [Von 67 Kovalev, Viktor : „Ot Tereka do El’by. V C Terek bis zur Elbe. In Tschetschenien gibt es jetzt ein Erinnerungskomplex des Ruhmes]“, in: Rossijskaja gazeta, 13. 09. 2010.

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westliche Demokratiemodell auflehnte, wandte sich letztendlich empathisch der Aktivierung sowjetischer Mythen zu. Diese Umstände berücksichtigend, entschied sich Vladimir Putin für eine Intensivierung der konservativen politischen Trends, welche Hand in Hand mit einer Rehabilitierung des Nationalstolzes, mit der Wiederbelebung der Großmacht-Rhetorik sowie mit der Suche nach den gravitätischen „geistigen Fundamenten“ der russischen Kultur ging. Er entschied sich für die Konstruktion einer russländisch-sowjetischen „Mischindentität“, zu deren Grundelementen die „epochenübergreifende Tradition eines erfolgreichen starken Staates“, der „militärischen Sieghaftigkeit“ und der „territorialen wie machtpolitischen Größe des Landes“68 zählten. Der Große Vaterländische Krieg stellte jenes geschichtliche Ereignis dar, welches sämtliche soziale Milieus der postsowjetischen Russländischen Föderation positiv stimmend umspannte. Die weniger erquicklichen Facetten des über vier Jahre hinweg teuer erkämpften Triumphs über das nationalsozialistische Deutschland – das auf ein kaum vorstellbares Minimum gesunkene Lebens- und Konsumniveau, die unermessliche Zerstörung des Landes, die primitivsten Wohnverhältnisse, die völlig aus dem Gleichgewicht geratene demographische Zusammensetzung sowie das Heer verstümmelter, auf soziale Hilfe angewiesener Invaliden – blieben dabei meist unerwähnt. Daraus resultierend assoziiert die Mehrheit der Bürger Russlands den Großen Vaterländischen Krieg in erster Linie mit Tapferkeit, Selbstaufopferung, Kampfbereitschaft, Stärke, Heldenmut und Heimatliebe. Der somit von Putin erzielte patriotische Minimalkonsens skizziert jedoch keine allgemein wegweisende Struktur, die öffentlich ausgetragenen Diskursen unterliegt und gerade deswegen Kritik zulassen kann, sondern ein Wahrnehmungsraster, das solche Kontroversen abschneidet. Er ermöglicht eine momentane Stabilität in der offiziellen Selbstthematisierung Russlands, die aber prekär bleibt, da sie enorm von der Monopolisierung der Auslegung seitens der herrschenden Eliten sowie deren sinnbildhafter Stärke abhängt. Nach der formellen Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 erkannte die internationale Staatengemeinschaft umgehend alle 15 Republiken, darunter auch die Ukraine, als gleichberechtigte Subjekte des Völkerrechts an. Neben der politischen und ökonomischen Umgestaltung des Landes stand der jungen Ukraine die Bewältigung einer schwierigen Herausforderung bevor: die Schaffung einer möglichst alle Schichten der überaus kulturell, ethnisch und kon68 Uhlig, Christian: „Russland – die Grossmacht – fürchtet niemanden und nichts“. Die Vorstellungen der russischen Staatsführung von einer postsowjetischen Identität und die verschiedenartigen Versuche, diese der russischen Gesellschaft zu vermitteln, in: Bosˇkova, Nada/Collmer, Peter/Gilly, Seraina (Hrsg.): Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas, Köln: Böhlau Verlag 2002, S. 279 – 299, hier S. 279 ff.

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fessionell heterogenen Bevölkerung inkludierenden nationalen Identität. Die Ukraine zwischen Ost und West, zwischen Orthodoxie und Katholizismus, zwischen asiatischen Steppennomaden und sesshaften Ackerbauern, zwischen Russland und Europa, das ukrainische Volk als demokratische Westler in Abgrenzung von den despotischen Russen im Osten, die Ukraine als leidende Märtyrerin69 – an diesen der Formung eines kollektiven Bewusstseins dienenden Geschichtsmythen orientierten sich primär die ersten ukrainischen Präsidenten Leonid Kravcˇuk (1991 – 1994) und Leonid Kucˇma (1994 – 2005). Der im Zuge der „Orangenen Revolution“ an die Macht gelangte Präsident Viktor Jusˇcˇenko (2005 – 2010) unternahm deutliche Bemühungen, die ukrainische Nationswerdung als einen linearen Prozess freiheitlich-liberaler, (proto-) demokratischer Erfahrungswerte darzustellen. In der Lesart historischer Entwicklungen, Geschehnisse und Persönlichkeiten sowie der Herleitung der Legitimationsgrundlage der ukrainischen Staatlichkeit hob sich Jusˇcˇenko von seinem Amtsvorgänger Leonid Kutschma, welchem ein „autoritärer Eklektizismus“70 attestiert wurde, merklich ab. Zu den Schwerpunkten der geschichtspolitischen Agenda Jusˇcˇenkos, welcher einen großen Wert auf die Kultivierung eines neuen nationalen Selbstverständnisses legte, gehörte eine substanzielle Aufarbeitung der totalitären sowjetischen Vergangenheit. Als unmittelbaren Anlass für dieses Anliegen nannten die regierungsnahen Historiker die drohende Rückkehr der „Stalinschen-Brezˇnevschen Konzeption der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“71 in die ukrainische Öffentlichkeit, welche die linken beziehungsweise kommunistischen Kräfte und der Veteranenverband der Soldaten der Roten Armee betrieben. Als problematisch erwies sich in diesem Zusammenhang der Versuch des sich als einen „westlich ausgerichteten Demokraten“ begreifenden Präsidenten, den von der amoralischen und unethischen Sowjetpropaganda geschmiedeten Interpretationsfesseln nun mit der Wiederherstellung „wahrer“ Fakten und nachholender Geschichtsentdeckung zu begegnen.72 Paradox erschien dabei, dass gerade ein solch absoluter Wahrheitsanspruch, die einseitige Politisierung und Vereinnahmung der Vergangenheit wiederum der sowjetischen Praxis verblüffend ähnelten. Zur Konstituierung reputierlicher, möglichst „makello69 Kappeler, Andreas: Der schwierige Weg zur Nation. Beiträge zur neueren Geschichte der Ukraine, Wien: Böhlau Verlag 2003, S. 19. 70 Jilge, Wilfried: The Politics of History and the Second World War in Post-Communist Ukraine, a.a.O, S. 70 ff. 71 Kuzio, Taras: National Identity and History Writing in Ukraine, in: Nationalities Papers, 4 (2006),S. 407 – 427, hier S. 407 f. 72 Kravcˇenko, V.: Boj s tenju: sovetskoe prosˇloe v istoricˇeskoj pamjati sovremennogo ukrainskogo obsˇcˇestvo [Kampf mit dem Schatten: Sowjetische Vergangenheit in der historischen Erinnerung der heutigen ukrainischen Gesellschaft], in: Ab Imperio, 2 (2004), S. 339 – 351, hier S. 342 ff.

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ser“ Helden gerieten delikate Aspekte der Vergangenheitsaufarbeitung wie die Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht, Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und die Beteiligung an der Verfolgung von Juden beiläufig in die Vergessenheit. Seit der Ablösung Viktor Jusˇcˇenkos durch Viktor Janukovicˇ im Februar 2010 ließ sich in der Ukraine eine klare Trendwende von den Grundzügen der Geschichts- und Identitätspolitik seines Gegenspielers beobachten, die nicht zuletzt auf einige Verfehlungen des „orangenen Präsidenten“ zurückzuführen sind. Anstelle der beabsichtigten Generierung eines gesamtukrainisch relevanten, einheitlichen nationalen Bewusstseins der Bürger kristallisierte sich eine verschärfte Konsensuntauglichkeit heraus, welche das ohnehin oszillierende Image des scheidenden Staatschefs zusätzlich ramponierte. Denn trotz der spürbaren gesellschaftlichen Öffnung kennzeichneten Politisierung, Instrumentalisierung, Selektivität und ein absoluter Wahrheitsanspruch die Erinnerungspraxis der „pro-westlichen“ Regierung, welche die Relevanz regionaler Kontraste des Landes verschärfte und diplomatische Verstimmungen, beispielsweise mit Polen oder Russland, auslöste.73 Die Tatsache, dass der Osten die sowjetische Erfahrung nicht externalisieren kann und der Westen sich wehrt, sie als Teil der eigenen Geschichte zu akzeptieren, stellt den amtierenden Präsidenten Viktor Janukovicˇ vor eine äußerst komplizierte Aufgabe bezüglich der Lösungsfindung dieses verzwickten Problems. Insgesamt weisen die geschichtspolitisch relevanten Debatten in der Russländischen Föderation und Ukraine eine Menge Gemeinsamkeiten auf; vor allem fällt die graduelle Fusion des sowjetischen Narrativs mit einigen Komponenten des konservativen Nationalismus, einige liberale Akzente dabei miteinbeziehend, sowie die jeweilige Betonung ihrer extraordinären Rolle in der historischen Entwicklung Europas auf. Allerdings treten erhebliche Differenzen im Hinblick auf das Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander auf – einerseits die teils höchst resolute, das Engagement der Herausbildung einer neuen politischen Nation unterstützende Distanzierung der ukrainischen Machtspitze vom sowjetischen Auslegungsmodell des Großen Vaterländischen Kriegs, andererseits die prononcierte Stellung der patriotisch-militärischen Vergangenheitspräsentation im allgemeinen Diskurs der russländischen Führungsriege.

73 Vgl. hierzu Bredies: „Volle Fahrt zurück!“, a. a. O.

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Memories of “Holodomor” and National Socialism in * Ukrainian political culture

The 20th century in Ukraine was a period characterized by very significant political violence. The years around the turn of the century was characterized by political unrest following the revolution of 1905 followed by a wave of antiJewish pogroms. The period 1914 – 1920 was defined by World War I, revolutions, civil war, the Polish-Soviet war, more pogroms, and a devastating famine in 1921. Stalin’s “revolution from above” initiated in 1928, brought a forced industrialization and brutal collectivization of agriculture, the consequences of which were particularly devastating in Ukraine, Kazakhstan, the Volga region, Northern Caucasus and the Kuban. The political terror culminated in the late 1930s with mass arrests, deportations, and shootings. The Molotov-Ribbentrop treaty, for the first time in modern history, united Ukraine into one political unit, but also expanded political violence into Western Ukraine. Between 1941 and 1944 Ukraine was subjected to a very brutal German occupation, which claimed the lives of up to one sixth of its population. The return of the Soviets did not end the violence, but was followed by an armed insurgency in the west which was brutally pacified.1 Another famine, in 1947 claimed the lives of many people.2 Only the death of Stalin saw a liberalization and stabilization of the republic, which in the 1950s and 1960s experienced significant economic growth and a rise in the standard of living. In the late Soviet period, Ukraine was seriously impacted by the nuclear disaster at the Chernobyl nuclear power plant close to Kyiv. The collapse of the Soviet Union led to a sharp drop in the standard of living and the 1990s were characterized by severe economic hardship and a rampant spread of corruption. Viktor Yushchenko, the third president of Ukraine (2005 – 2010), came to * The author wishes to thank Tarik Cyril Amar, John-Paul Himka and David Lee Preston for constructive criticism, and primary source material. 1 Burds, Jeffrey : Sovetskaia Agentura: Ocherki istorii SSSR v poslevoennyie gody, Moscow, New York: Sovremennaia istoriia 2006. 2 Ellman, Michael: The 1947 Soviet famine and the entitlement approach to famines, in: Cambridge Journal of Economics, 24 (2000) 1, p. 603 – 630.

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power in the so-called Orange Revolution, a popular wave of protest against the falsified presidential elections of 2004. As president, Yushchenko pursued a new national memory politics, focused on two of these events of political violence: the 1932 – 33 famine, and a glorification of the most radical Ukrainian fascist organization, the Bandera wing of the Organization of Ukrainian Nationalists (OUN), and its armed wing, the Ukrainian Insurgent Army (known under its Ukrainian acronym UPA, Ukrains’ka Povstans’ka Armiia).3

The Famine of 1932 – 33 The 1932 – 33 famine constituted one of Stalin’s great crimes. The collectivization claimed millions of lives, and Ukrainian SSR was one of the areas most heavily affected. Historians and historical demographers debate its causes; there is an emerging consensus on its horrific scope: between 2,5 and 3,9 million deaths in the Ukrainian SSR alone.4 By 1932 – 33, this enormous atrocity had few parallels in the history of Europe. Without that forced collectivization, initiated in 1929, which forced the peasantry into collective farms under state control, there would not have been a famine.5 The scope and the consequences were made worse due to the introduction of domestic passports in 1932, the sealing of the borders around the Ukrainian republic, and the export of grain as there were mass famine deaths. There are clear indications that the central government in Moscow was well aware of its scope, yet chose not to alleviate the suffering but exploited the disaster for political purposes, to break remaining resistance to collectivization and Sovietization of the republic.6 3 For a discussion on the fascist nature of the OUN, see Umland, Andreas: Der ukrainische Nationalismus zwischen Stereotyp und Wirklichkeit, in: Ukraine-Nachrichten, 11. 10. 2012, URL: http://ukrainenachrichten.de/ukrainische-nationalismus-zwischen-stereotyp-wirklichkeit_3655_meinungen-analysen (22. 11. 2012). 4 For a discussion on the historiography of the 1932 – 33 famine, see Marples, David R.: Heroes and Villains: Creating National History in Contemporary Ukraine, New York, Budapest: Central European University Press 2007, S. 35 – 77. For a recent discussion on the numbers, see Snyder, Timothy : Bloodlands: Europe between Hitler and Stalin, New York: Basic Books 2010, p. 53, who argues that “it seems reasonable to propose a figure of approximately 3.3 million deaths by starvation and hunger-related disease in Soviet Ukraine in 1932 – 33”. Davies, Robert-W./Wheatcroft, Stephen: The Years of Hunger : Soviet Agriculture, 1931 – 1933, London: Palgrave 2004; Ellman, Michael: The Role of Leadership Perceptions and of Intent in the Soviet Famine of 1931 – 1934, in: Europe-Asia Studies, 57 (2005) 6, p. 823 – 841. 5 Jilge, Wilfired: Die “Große Hungersnot” in Geschichte und Erinnerungskultur der Ukraine, in: Gleinig, Ruth/Heindenreich, Ronny/Kaminsky, Anna (eds.): Erinnerungsorte an den Holodomor 1932/33 in der Ukraine, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2008, p. 12. 6 See, for instance Davies, Robert W./Tauger, Mark B./Wheatcroft, Stephen G.: Stalin, Grain Stocks and the Famine of 1932 – 33, in: Slavic Review, 54 (1995) 3, p. 642 – 657.

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In combination with the brutal repression of much of the intellectual elite in the Ukrainian SSR in the years around 1930, the collectivization and famine left deep scars on central and eastern Ukraine. Until the late 1980s, the famine was denied by the Soviet authorities. Even in the diaspora, which was dominated by Western Ukrainians, there was little knowledge of the famine until the 1970s.

National Socialism and Mass Murder The famine was followed by mass purges. The infamous NKVD Order 00447, “On the Operations to Repress Former Kulaks, Criminals, and Other Anti-Soviet Elements” of July 31, 1937 affected Ukraine severely. All in all the NKVD shot 70,868 people in the Ukrainian SSR during the kulak operation of 1937 – 38. Most were Ukrainians, but Poles constituted a disproportionate section of the victims.7 The period between 1939 – 1947 saw serious continuous violence in Ukraine: the Molotov-Ribbentrop treaty partitioned Poland and paved the way for the unification of Ukraine and Belarus (and Lithuania in 1940) into national Soviet republics. It also expanded the Soviet terror into the formerly Polish territories. In 1939 – 41, Soviet terror brought mass deportations and imprisonments. As of August 1941, there were 210,271 deportees from the newly annexed Western oblasts of the Ukrainian SSR in the GULag. Of these, 117,800 were Poles, 64,533 Jews, and 13,448 were Ukrainians.8 The political violence climaxed following the German invasion of the USSR. Operation Barbarossa, the German invasion of the Soviet Union, led to a further escalation of political violence. In June, 1941, Heinrich Himmler declared that the upcoming invasion of the USSR would result in the death of 30 million Slavs.9 To the Nazi leadership, it marked the transition from Europäischer Normalkrieg to Rassenideologischer Vernichtungskrieg, a war of racial extermination.10 7 Snyder: Bloodlands: Europe between Hitler and Stalin, l.c., p. 81 – 86; on the ethnic aspects of the Soviet purges, see Martin, Terry : The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923 – 1939, Ithaca, London: Cornell University Press 2001, S. 335 – 343. 8 Slyvka, Iurii (ed.): Deportatsii: Zakhidni zemli Ukrainy kintsia 30-kh – pochatku 50-kh rr. Dokumenty, materialy, spohady u tr’okh tomakh, vol. 1, 1939 – 1945 rr., Lviv: In-t ukrainoznavstva im. I. Krypiakevycha NANU 1996, p. 154. 9 Eichholtz, Dietrich: “Generalplan Ost” zur Versklavung osteuropäischer Völker in: Utopie kreativ, 167 (2004) 9, p. 800 – 809, p. 801. On Generalplan Ost, see Madajczyk, Czesław (ed.): Generalny Plan Wschodni: Zbiûr dokumentûw, Warszawa: Glûwna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce 1990. 10 Mylliniemi, Seppo: Die Neuordnung der Baltischen Länder 1941 – 1945: Zum nationalsozialistischen Inhalt der deutschen Besatzungspolitik, Helsingfors: Vammalan Kirjapaino OY 1973, p. 46.

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Subsequently, World War II brought nearly incomprehensible suffering and population losses.11 A 2004 study lists the total Ukrainian war deaths at 6,850,000 people, or 16.3 % of the population. Of these, a full 5,200,000 were civilians, whereas military victims “only” constituted 1,650,000.12 Of these civilian deaths, at least 1,4 million, but perhaps as many as 2,1 million Jews were murdered in Ukraine.13 The German occupation of Ukraine was extraordinarily harsh. Ukraine was divided between German, Romanian, and Hungarian occupants, the largest part organized as the so-called Reichskommisariat Ukraine. The westernmost part was incorporated into the Greater German Reich, as the Distrikt Galizien. Here the occupation was considerably milder, and the Ukrainian population played off against the Poles. Whereas Ukrainian national sentiments were suppressed in the rest of Ukraine they were partially supported in Galicia.14 Talented Ukrainians were offered scholarships to study in the Reich, and in 1943 even a Galician Waffen-SS Division was formed.15 The occupying authorities strictly guarded the sealed border to the Reichskommissariat, where the situation was quite different.16 The brutal Reichskommissar Erich Koch banned education above the third grade, and mused that “if I find a Ukrainian who is worthy of sitting at the same table with me, I must have him shot.”17 Ukraine saw considerable resistance to the Nazi occupation. 4.5 million Ukrainians fought in the Red Army to which

11 The estimates differ greatly, and have been manipulated by various political interest groups. Gregorovich, Andrew: Ukraine’s Population Losses in World War II: 7.5 million of 13,614,000?, URL: http://www.infoukes.com/history/ww2/page-17.html (22. 10. 2011). 12 Erlikhman, Vadim: Poteri narodonaseleniia v XX veke: spravochnik, Moscow: Russkaia panorama 2004, p. 23 – 35. Ray Brandon and Wendy Lower list estimates which range between 5.5 to 7 million. Brandon, Ray/Lower, Wendy : Introduction, in: Brandon, Ray/Lower, Wendy (eds.): The Shoah in Ukraine: History, Testimony, Memorialization, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press in association with the United States Holocaust Memorial Museum 2008, p. 11. 13 Kruglov, Alexander : Jewish Losses in Ukraine, 1941 – 1944, in: Brandon/Lower (ed.): Shoah in Ukraine, l.c., p. 284 – 287. 14 Kurylo, Taras: Syla ta slabkist’ ukrains’koho natsionalismu v Kyivi pid chas nimetskoi okupatsii (1941 – 1943), in: Ukraina Moderna, 2 (2008) 13, p. 115 – 130, URL: http:// www.franko.lviv.ua/Subdivisions/um/um_13/13_pdf/5_UM_13_Doslidzennia_Kurylo.pdf (28. 10. 2011). 15 Rudling, Per A.: “They Defended Ukraine”: The 14. Waffen-Grenadier-Division der SS (Galizische Nr. 1) Revisited, in: The Journal of Slavic Military Studies, 25 (2012) 3, p. 329 – 368. 16 Kurylo, Taras: “The biggest calamity that overshadowed all other calamities”: Recruitment of Ukrainian “Eastern workers” for the war economy of the Third Reich, 1941 – 1944, Ph.D. dissertation, Edmonton: Department of History and Classics, University of Alberta 2009, p. 140 – 141. 17 Berkhoff, Karel C.: Harvest of Despair: Life and Death in Ukraine under Nazi Rule, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2004, p. 37.

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should be added the 250,000 strong Soviet partisan forces in Ukraine.18 Yet there was also collaboration, up to one million Soviet soldiers, many of which Ukrainian, served in various German formations during World War II.19

Wartime Ukrainian Nationalism The Germans engaged Ukrainian nationalists of the OUN, the leadership of which was concentrated to German-occupied Poland. In May, 1941, the OUN(b) set up an action program for cleansing the terrain under their control from nations “inimical to us – us Muscovites, Poles, and Jews” to be “destroyed in the course of struggle.”20 On June 25, Yaroslav Stets’ko wrote to Bandera “we are setting up a militia that will help remove the Jews and protect the population.”21 OUN(b) flyers encouraged the population not to lay down their weapons, but to destroy Jews, communists and national minorities.22 On June 30, 1941, the OUN (b) declared the “renewal” of Ukrainian statehood. Modelling this state after Tiso’s Slovakia or Pavelic´’s Croatia, Yaroslav Stets’ko, its self-proclaimed 29year-old prime minister enthusiastically declared his dedication to the new Europe and endorsed “German methods of exterminating Jewry.”23 Organized by the OUN(b) militia, pogroms broke out in at least 58 localities across Western Ukraine. The number of pogroms differ significantly, from 35 to over 140, as does the the estimates of number of victims, which ranges between 13,000 and 35,000.24 The Germans from 1940 trained OUN men for military service, and 18 Krawchenko, Bohdan: Soviet Ukraine under Nazi Occupation, 1941 – 44, in: Boshyk, Yury (ed.): Ukraine during World War II: History and its Aftermath, Edmonton: Canadian Institute of Ukrainian Studies, University of Alberta 1986, p. 30 – 31. 19 Elliott, Mark R.: Soviet Military Collaborators during world War II, in: Boshyk, Yury (ed.): Ukraine during World War II: History and its Aftermath. l.c., p. 98. 20 Patryliak, Ivan K.: Viis’kova diial’nist OUN(B) u 1940 – 1942 rokakh, Kyiv : Kyivs’kyi natsional’nyi universytet imeni Tarasa Shevchenka Instytut istorii Ukrainy NAN Ukrainy 2004, p. 323. 21 Tsentral’nyi Derzhavnyi Arkhiv Vyshyi Orhaniv Vlady Ukrainy (Henceforth TsDAVOV), f. 3833, op. 1, spr. 12, l. 10 Telegram Iaroslav Stets’ko, 25. 06. 1941, Nr. 13. 22 “Ukrains’kyi narode!” OUN(b) flyer, TsDAVOV Ukrainy, 01. 07. 1941, f. 3833, op. 1, spr. 42, l. 35. See also Pohl, Dieter : Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941 – 1944: Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München: Verlag R. Oldenbourg (2nd ed.) 1997, p. 57. 23 Berkhoff, Karel C./Carynnyk, Marco: The Organization of Ukrainian Nationalists and Its Attitude toward Germans and Jews: Iaroslav Stets’ko’s 1941 Zhyttiepys, in: Harvard Ukrainian Studies, 23 (1999) 3 – 4,p. 149 – 184. Rossolin´ski-Liebe, Grzegorz: The “Ukrainian National Revolution” of 1941: Discourse and Practice of a Fascist Movement, in: Kritika, Explorations in Russian and Eurasian History, 12 (2011) 1, p. 83 – 114. 24 Pohl, Dieter: Anti-Jewish Pogroms in Western Ukraine – A Research Agenda, in: Barkan, Elazar/Cole, Elizabeth A./Struve, Kai (eds.): Shared History – Divided Memory. Jews and

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OUN-organized formations in German service took part in the mass murder of Jews.25 When Hitler refused to recognize the OUN as allies, much of the OUN leadership, including Bandera and Stets’ko, was arrested and incarcerated, whereas many of the local rank-and-file members continued as collaborators. The battles of Stalingrad and Kursk were major turning points in the war, and foreshadowed the demise of the Third Reich. Many nationalists who had collaborated until 1943 now felt emboldened to break with the Germans. In the spring of 1943 the OUN(b) violently took over the control of the Ukrainian Insurgent Army, UPA. About 50 % of its leadership had been in German service before joining the ranks of the OUN-UPA in 1943.26 This year saw some battles between OUN-UPA and the German forces, but the collaboration was again resumed in the fall of 1944, when Bandera, Stets’ko, and some other OUN leaders were released from prison. Whereas nationalist history writing has greatly exaggerated the OUN-UPA fighting with German forces, its fighting with the Germans was a secondary priority to its campaign of ethnic cleansing of Galicia and Volhynia, in which up to 100,000 Poles were killed in 1943 and 1944.27 The war resulted in the unification of Ukraine into one republic, and its homogenization, as the Holocaust had sharply diminished the once-sizable Jewish population and Stalinist and nationalist ethnic cleansing had removed most of Others in Soviet-Occupied Poland, 1939 – 1941. vol. V of Leipziger Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2007, p. 306; Struve, Kai: Rites of Violence? The Pogroms of Summer 1941, in: Bartal, Israel; Polonsky, Anthony and Ury, Scott (eds.): Polin: Studies in Polish Jewry, Jews and their Neighbours in Eastern Europe since 1750, Oxford, Portland: Littman Library of Jewish Civilization (vol 24) 2012, p. 268. Himka, John-Paul: The Lviv Pogrom of 1941: the Germans, Ukrainian Nationalists, and the Carnival Crowd, in: Canadian Slavonic Papers, 53 (2011) 2 – 3 – 4, p. 209 – 243. Carynnyk, Marco: Furious Angels: Ukrainians, Jews, and Poles in the Summer of 1941 (forthcoming); Ders.: All Monstrous and Hellish: The Zolochiv Pogrom, July 1941, paper presented at the American Association for the Advancement of Slavic Studies Conference, 12. 11. 2009; Lower, Wendy : Pogroms, mob violence and genocide in western Ukraine, summer 1941: varied histories, explanations and comparisons, in: Journal of Genocide Research, 13 (2011) 3, p. 217 – 247. 25 Berkhoff: Harvest of Despair, l.c., p. 289, 298. On the participation of the OUN(b)-organized Nachtigall formation in mass shootings of Jews, see TsDAVO Ukrainy, f. 3833, op. 1, spr. 57, ark. 17. Also Patryliak: Viis’kova diial’nist’ OUN(b), l.c., p. 361 – 362. 26 Katchanovski, Ivan: Terrorists or National Heroes? Politics of the OUN and the UPA in Ukraine, Paper presented at the Annual Conference of the Canadian Political Science Association, Montreal: Concordia University, 01 – 03. 06. 2010. 27 Ewa Siemaszko estimates the Polish victims of the OUN-UPA’s “ethnic cleansing” to 60,000 in 1943 – 1944 in Volhynia and 32,000 in Eastern Galicia in 1944, see Siemaszko, Ewa: Bilans Zbrodni, in: Biuletyn instytutu pamieci narodowej, 7 – 8 (116 – 117) (2010), p. 77 – 94, see p. 85, 88, 92. Grzegorz Motyka estimates that the OUN and UPA killed between 70,000 and 100,000 Poles. Motyka, Grzegorz: Ukrainska partyzantka 1942 – 1960: Działalnos´c´ Organizacji Ukrainskich Nacjonalistûw i Ukrainskiej Powstanczej Armii, Warsaw: Instytut Studiûw Politycznych PAN, RYTM 2006, p. 411.

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its German and Polish minorities.28 In Soviet Ukraine, the Great Patriotic War was heavily emphasized as a founding myth, particularly from 1965 onwards.29

Diaspora Nationalist Myth Production Following the war, hundreds of thousands Ukrainians remained in the West. Canada became a center for the Ukrainian diaspora. Following the introduction of official multiculturalism in 1971, Canadian government agencies actively aided the development of Ukrainian nationalist myth making. They sponsored the Ukrainian Canadian Congress, funded the construction of nationalist memorials, and supported the ultra-nationalist press.30 The ¦migr¦s developed their own narrative of the war, in many ways as a counter narrative to the Soviet master narrative of heroic popular resistance to the Nazi invaders, which served to legitimize Soviet power.31 In the narrative that dominated in the diaspora, the OUN was presented as a leading force in the struggle against the Nazis and the Soviets. The ¦migr¦s developed a mythical historical narrative, which not only omitted the Holocaust from the narrative, but which, in fact, excluded and obfuscated it. The OUN’s fascism, pro-German orientation, anti-Semitism and totalitarianism were denied, as was its involvement in the pogroms. UPA was presented as having rescued Jews during the Holocaust.32 The focus on a handful of Jewish survivors, mainly doctors, within its ranks was used to deny the OUN’s participation in mass killing of Jews.33 Yet, despite its conspicuous absence from its memory, the Holocaust nevertheless 28 Snyder, Timothy : The Reconstruction of Nations: Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569 – 1999, New Haven: Yale University Press 2003, p. 154 – 201. 29 Tumarkin, Nina: The Living & the Dead: The Rise and Fall of the Cult of World War II, New York: Basic Books 1994; Weiner, Amir : Making Sense of War : The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution, Princeton: Princeton University Press 2001. 30 Rudling, Per A.: Multiculturalism, memory, and ritualization: Ukrainian nationalist monuments in Edmonton, Alberta, in: Nationalities Papers, 39 (2011) 5, p. 733 – 768, see p. 740 – 741, 744. 31 Elliott: Soviet Military Collaborators, l.c., p. 98. For a recent example of this sort of narrative see, for instance Matsiv, Bohdan (ed.): Ukrains’ka dyviziia “Halychyna”: Istoriia u svitlynakh vid zasnuvannia u 1943 r. do zvil’nennia z polunu 1949 r., Lviv : ZUKTs 2009, URL: http:// www.voiakudg.com/books/index.html (22. 10. 2011). 32 Rudling, Per A.: The OUN, the UPA, and the Holocaust: A Study in the Manufacturing of Historical Myths, Carl Beck Papers in Russian and East European Studies, Nr. 2107, Pittsburgh: University Center for Russian and East European Studies 2011, p. 28 – 32. 33 On OUN-UPA killing of Jews, see Himka, John-Paul: “The Ukrainian Insurgent Army and the Holocaust”. Paper presented at the forty-first national convention of the American Association for the Advancement of Slavic Studies, Boston, 12 – 15. 11. 2009; Golczewski, Frank: “Shades of Grey : Reflections on Jewish-Ukrainian and German-Ukrainian Relations in Galicia”, in: Brandon/Lower (eds.): The Shoah in Ukraine, l.c., p. 142 – 143.

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played an important indirect role in the diaspora narrative. Lucy Dawidowicz’s important 1975 book The War Against the Jews, 1933 – 1945 presented Ukrainians as active participants in the Holocaust, whose brutality surpassed that of the Germans. In particular, the miniseries Holocaust on NBC television in April, 1978, and thereafter across Western Europe came to play a significant role in raising awareness of the plight of the Jews.34 This infuriated Ukrainian diaspora nationalists.35 They feared that to North Americans, Holocaust collaboration would be perceived as a defining feature of these nationalities. “It sometimes happens that Westerners know little about Ukrainians and Lithuanians except their reputation as anti-Semites and willing collaborators in the Holocaust” writes John-Paul Himka.36 The Ukrainian diaspora was further alarmed by the increased attention from the Wiesenthal Center, which kept raising concerns about Holocaust perpetrators in their midst. The establishment of the Office for Special Investigations in the United States and the DeschÞnes commission on War Criminality in Canada only reinforced these sentiments.37 Thus, in 1982 – 83, in time for the 50th anniversary of the famine diaspora academics, publicists, and Nationalist activists launched a major effort to produce a new national mythology, centered on the 1932 – 33 famine. Diaspora academics referred to the famine as a deliberate genocide, in which the western states were complicit. References to the Holocaust were often explicit: “The victims of the famine in Ukraine were consigned to their slow and agonizing deaths as surely as the Jews of Europe were delivered to the planners of the Final solution, when once again democratic governments maintained ,normal relations‘ and co-operated in suppressing news about a genocide” wrote Marco Carynnyk.38 At this time, the term “Holodomor” was not yet in use. The event was instead referred to as “the Holocaust” “the Famine Holocaust” or “the Ukrainian Holocaust” as a rule linked to the number “over seven million.”39 In the late 1980s, diaspora activists began using the term “Holodomor” to describe 34 Dietsch, Johan: Making Sense of Suffering: Holocaust and Holodomor in Ukrainian Historical Culture, Lund: Lund University Press 2006, p. 125. 35 The OUN(b) press categorically denied any OUN(b) involvement in the pogroms, but claimed that the OUN militia had actually stopped, not perpetrated the Lviv pogrom. See, for instance Shan-sky, Lew: The Teaching of “Holocaust”, in: ABN Correspondence, 30 (1979) 2, p. 45. 36 Himka, John-Paul: Obstacles to the Integration of the Holocaust into Post-Communist East European Historical Narratives, in: Canadian Slavonic Papers, 5 (2008) 3 – 4, p. 359 – 372, see p. 361. 37 Dietsch: Making Sense of Suffering, l.c., p. 126. 38 Carynnyk, Marco: Blind Eye to Murder : Britain, the United States and the Ukrainian Famine of 1933, in: Serbyn, Roman/Krawchenko, Bohdan (eds.): Famine in Ukraine 1932 – 1933, Edmonton: Canadian Institute of Ukrainian Studies, University of Alberta 1986, p. 135 – 136. 39 See, for instance “In Memory of the Seven Million” and Homin Ukrainy, Ukrainian Echo, 01. 06. 1983, p. 1 – 2.

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the experience of Ukrainians, i. e. delineate and ethnicize the victims of the 1932 – 33 famine, and to distinguish a unique, nationally Ukrainian experience. The line between scholarship and activism was blurred as diaspora academics and nationalists jointly organized the erection of the world’s first famine memorial on Churchill Square in Edmonton, Canada, in 1983. Funded partly by various OUN front organizations, high-profile Waffen-SS Galizien veterans drafted a statement on the famine to be read in the legislature.40 The provincial leader of the society of Ukrainian Waffen-SS veterans’ simultaneously served on the board of the Canadian Institute of Ukrainian Studies and as Chancellor of the University of Alberta. Publishing a table of “Major instances of genocide in the 20th century” the English-language edition of the OUN(b) organ Homin Ukrainy, edited by Andrii Bandera, the son of the OUN leader, pedagogically listed 15,000,000 Ukrainian genocide victims next to the 6,000,000 Jewish victims.41 “As a result of the ‘peacetime’ Soviet occupation between 1921 and 1956, some 12,000,000 Ukrainians lost their lives under artificially created famine conditions in 1921, 1932 – 33, 1945 – 47. Considering the additional losses incurred, due to the mass deportations and executions, the total demographic damage suffered by Ukraine would approach 15,000,000 victims. The dead and deported Ukrainians were replaced by at least 12 million Russian colonialists and their offspring who settled in the ‘emptied’ areas of Ukraine.”42

As the DeschÞnes commission probed the history of the Ukrainian Waffen-SS veterans, some of them became educators and promoters of genocide awareness.43 Not all diaspora activists instrumentalized the famine for nationalist purposes, yet the strongest support for the genocidal interpretation of the famine came from ultra-nationalists who presented the memories of the Holocaust and Holodomor in a way that made them mutually exclusive. In 1986, the publishing house of the UPA veterans published a book, which explicitly stated that “Zionist Jews” launched the famine as the “real Holocaust” in which Jewish Bolsheviks killed Christians, and in which an allegedly Jewish-controlled press covered up the genocide.44

40 Todosiichuk, Dmytro: Spysok zhertvodavtsiv na pam’’iatnyk zhertvam holodu, in: Ukrains’ki visti/Ukrainian News, 09. 11. 1983, p. 9; Snihurowych, Melety/Todosijczuk, Dmytro/Shulakewych, Bohdan/Flak, Ostap/Nycka, Methodius: Famine statement read in legislature, Ukrains’ki visti/Ukrainian News, 28. 10. 1983, p. 2; Levyts’kyi, Marko: Techut’ sl’ozy na vidkrytti pam’’iatnyka zhertvam holodu, Ukrains’ki Visti/Ukrainian News, 28. 10. 1983, p. 1 – 2. 41 “Major instanced of genocide in the 20th century”, Ukrainian Echo: A Monthly English Language Supplement to “Homin Ukrainy”, 7 (1983) 3, p. 2. 42 “The 1932 – 33 holocaust in perspective”, ibid., p. 1. 43 Rudling: Multiculturalism, memory, and ritualization, l.c., p. 752 – 753. 44 For a discussion of Chumatskyj, Yurij: Why is One Holocaust Worth More than Others?

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Fig. 1. Diaspora instrumentalization of history. Monument to the “over seven million victims of the famine genocide 1932 – 1933.” Monument erected by the Ukrainian Canadian Congress, Windsor, Ontario, Canada, 2005.

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Fig. 2. Poster used in campaigns by the Ukrainian diaspora during the fiftieth anniversary of the 1932 – 1933 famine. The map depicts the OUN’s vision of a greater Ukraine, from the Danube to the Caspian Sea. The inclusion of large territories beyond the interwar borders of the USSR falsely implies that the famine extended into the Second Polish Republic, Romania, and Czechoslovakia.

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Re-Export of National Myths to post-Soviet Ukraine With the collapse of the USSR and the emergence of an independent Ukraine the genocidal interpretation of the famine and glorification of the OUN-UPA was reexported to Ukraine. Soviet textbooks were discarded and replaced with textbooks of diaspora authors, in particular York University historian Orest Subtelny’s Ukraine: A History, which became the standard textbook at Ukrainian universities during the decade following the Soviet collapse. Compared to Estonia, Latvia, and Lithuania, where diaspora activists have become heads of state, the role of ¦migr¦s has been more limited in Ukraine. Some important nationalists relocated to Ukraine and came to exercise some political power, such as Roman Zvarych, Yaroslav Stets’ko’s secretary, who became the deputy head of the OUN(b)-organized Congress of Ukrainian Nationalists (Konhres Ukrains’kykh Natsionalistiv, KUN) and twice Ukrainian minister of justice under Yushchenko.45 Returning ¦migr¦s also included a former first lady of Ukraine,46 and Yaroslav Stets’ko’s widow Yaroslava, who served as President of Seniority of the Verkhovna Rada.47 If their formal political power was limited, the ¦migr¦s’ historical memory came to have a significant impact on Ukrainian society. As nation building also entails the overcoming of previous or rivaling identities, it, as Walker Connor observed, also involves nation destruction.48 Yushchenko, a former communist who had joined the Communist Party of the Soviet Union in 1977, opted for this narrative in his attempt to delegitimize the Soviet Union. Whereas the rulers of Central Asian republics invested significant efforts in developing national and patriotic myths needed to consolidate their polities the Yushchenko government could rely on ready concepts, developed in the 1970s and 80s, and re-exported from Canada and the United States. Under Yushchenko, these narratives became state policy and were aggressively promoted through state channels. In order to root this politically expedient and

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(Lidcombe: Veterans of the Ukrainian Insurgent Army, 1986), see Dietsch: Making Sense of Suffering, l.c., p. 135 – 136. Shekhovtsov, Anton: The Creeping Resurgence of the Ukrainian Radical Right? The Case of the Freedom Party, in: Europe-Asia Studies, 63 (2011) 2, p. 203 – 228, see p. 210; Marples: Heroes and Villains, l.c., p. 102. The former first lady of Ukraine, Kateryna Yushchenko has a background in the SUM and the World Anti-Communist League: 16th WACL conference, Luxembourg, 20 – 23 September 1983: Proceedings, Seoul: WACL General secretariat 1983. Umland, Andreas/Shekhovtsov, Anton: Pravoradikal’naia partiinaia politika v postsovetskoi Ukraine i zagadka elektoral’noi marginal’nosti ukrainskikh ul’tranatsionalistov v 1994 – 2009 gg., in: Ab Imperio, 2 (2010), p. 12. Connor, Walker : Nation-Building or Nation-Destroying?, in: World Politics, 24 (1972) 3, p. 319 – 355.

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Fig. 3. Exporting the OUN cult. “Here lived and worked the couple Yaroslav and Yaroslava Stets’ko for the freedom of Ukraine. We honor their outstanding achievements. The President of Ukraine.” Memorial plaque to the 1941 OUN(b) “Prime Minister” Yaroslav Stets’ko at the entrance of Zeppelinstraße 67, Munich. After 2006.

patriotically edifying narrative among the population, Yushchenko established a number of institutions of memory management, ironically working within the framework of the Ukrainian security services and working out of the offices of the former KGB. Yushchenko and his legitimizing historians promoted a narrative, resting upon two main pillars; the portrayal of the famine as a deliberate genocide against the Ukrainian nation, and a heroic representation of the activities of the OUN-UPA, referred to as the “Liberation Movement” and presented as a forerunner to the current Ukrainian democratic state. The OUN’s involvement in pogroms against Jews was denied, the UPA’s atrocities against the Polish minority in Volhynia and Galicia downplayed and obfuscated. Instead a mythological narrative was developed, partly on the basis of the OUN’s own deliberate forgeries, in which the UPA was presented as having sheltered Jews from the Nazis and fought shoulder to shoulder within the ranks of “the Ukrainian national liberation movement” against Hitler and Stalin.49 Their narrative was 49 V’’iatrovych, Volodymyr : Stavlennia OUN do ievreiv : Formuvannia pozytsii na tli katastrofy, Lviv : Tsentr dolidzhen’ vyzvol’nohu rukhu and Vydavnytstvo “Ms” 2006, particularly

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often naively simplistic. Ihor Yukhnovs’kyi, the then-director of the Ukrainian Institute of National Memory endorsement of Volodymyr V’’iatrovych’s propaganda book UPA: The Army of the Undefeated is representative of this narrative: “I am convinced that every Ukrainian citizen who reads it will be convinced that our people is not only good, beautiful, and hard working, but also heroic. The reader will be convinced that independence came to us as a result of a long, heroic struggle. Read this book. Looking at the faces of the heroes of the UPA, you may also, perhaps, find your own likeness.”50

The legitimizing historians at the SBU Archives worked together with the Institute for National Memory, established by Yushchenko in 2006, and with the Center for the Study of the Liberation Movement, a OUN(b) “front organization” which connected the OUN, diaspora institutes as the Canadian Institute of Ukrainian Studies at the University of Alberta, the Harvard Institute of Ukrainian Studies, and the Lithuanian Genocide and Resistance Center, which, on the behalf of the Lithuanian government pursues a very similar policy of self-victimization and glorification of far-right nationalists.51 The propaganda institutes have served as a link between ¦migr¦ nationalist historians and a new generation of far right followers. For instance, activist historian and OUN(b) veteran Wolodymyr Kosyk (b. 1924), who in the 1950s was OUN(b) liaison to Fransisco Franco and Chiang Kai-Shek, serves as honorary director of the Center for the Study of the Liberation Movement.52 It’s director, Volodymyr V’’iatrovych (b. 1977) became a central figure in Yushchenko’s instrumentalization of history. He simultaneously ran the propaganda activities at the SBU archives, while controlling the access to the collections. On May 30, 2007, Yushchenko inaugurated The Museum of Soviet Occupation p. 76 – 81. Oksana Zabuzhko, one of the most popular contemporary writers, published a massive volume of “historical fiction” the main heroines of which is modeled on the OUN(b) hoax Stella Krentsbakh/Krentzbach, a fictive Jewess, whose alleged rescue by the OUN-UPA during the Holocaust was invoked in order to “disprove” the OUN-UPA’s anti-Semitism. V’’iatrovych’s Center for the Study of the Liberation Movement supplied Zabuzhko with material for her research. The book recently appeared in German translation as Sabuschko, Oksana: Museum der vergessenen Geheimnisse, trans. Alexander Kratochvil, Graz: Droschl 2010. The original title is Oksana Zabuzhko, Muzei pokynutykh sekretiv, Kyiv: Fakt 2010; on Zabuzhko’s writing on the OUN-UPA, see Rudling: The OUN, the UPA, and the Holocaust, l.c., p. 32. 50 Endorsement by Ihor Yukhnovs’kyi, head of the Ukrainian Institute of National Memory, in: V’’iatrovych, Volodymyr (ed.): Ukrains’ka Povstans’ka Armiia: Armiia neskorennykh, Kyiv : Tsentr doslidzhen’ vyzvol’noho rukhu 2007, back cover. 51 “Partnery”, URL: http://cdvr.org.ua/content/`Qac^VaY (15. 10. 2011); Lypovet’kyi, Sviatoslav : Orhanizatsiia Ukrains’kykh Natsionalistiv (banderivtsi): frahmenty diial’nosti ta boot’by, Kyiv : Ukrains’ka Vydavnycha Spilka 2010, p. 84. 52 Rudling: The OUN, the UPA, and the Holocaust, l.c., p. 28, 55, 196.

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in Kyiv, presenting Soviet rule as fundamentally alien, a genocidal occupation regime bent on exterminating the Ukrainians.53 The museum claims that “Ukrainian losses resulting from the famine of 1932 – 33 total no fewer than ten million people.”54 Genocide is the ultimate crime. By presenting the Soviet project as a genocidal project, aimed at the extermination of the Ukrainian people, these myths aimed at delegitimizing the Soviet legacy and to excise it from the imagined community. Some of this narrative of othering the Soviet past, attributing Soviet atrocities to ethnic others has anti-Semitic undercurrents. Levko Luk’’ianenko, the chairman of the Association of Holodomor Researchers in Ukraine interprets “the organizers of the criminal government” as a Jewish conspiracy, led by Stalin, “Iosip David Vissarionovich DzhuhashviliKoba. Georgian Jew.”55 Luk’’ianeko alleges that “7 – 8 million citizens of Ukraine” were killed in the 1932 – 33 famine, and has argued for an international tribunal, “a Nuremberg-2” to try the Communist Party of the Soviet Union, to “liberate Ukraine from the Judeo-Zionist communism.”56 In July 2008, the SBU archives published a list of 19 perpetrators of the “Holodomor-genocide” responsible for the famine. Eight of these people, or 40 % were Jews, at the same time a both arbitrary and deliberate selection. The perpetrators were presented in the Soviet fashion, listing their “real” Ashkenazi names next to their Slavic names.57 Following the November 2006 Verkhovna Rada legislation that the 1932 – 33 famine was genocide,58 the Ukrainian Ministry of Education and Science established “methodological recommendations” for propagating and create a memory of the “Holodomor of 1932 – 33 – the greatest tragedy in the history of the Ukrainian people.” The issued guidelines of creating and managing the memory of the tragedy : “The representation of the Holodomor in folklore – songs, poems, anecdotes, even it retelling, and how it changed over generations, took on new characteristics, on their

53 See the museum’s website: URL: http://memorial.kiev.ua/expo/eng/second.html (27. 10. 2011). 54 untitled, URL: http://memorial.kiev.ua/expo/eng/1932_p.html (25. 10. 2011). 55 Luk’’ianenko, Levko: Zlochynna sut’ KPRS-KPU: Niurnberh-2, Kyiv : MAUP 2005, p. 42; On Luk’’ianenko, see Dietsch: Making Sense of Suffering, l.c., S. 208 – 209, and Rudling, Per A.: Organized Anti-Semitism in Contemporary Ukraine, in: Canadian Slavonic Papers, 158 (2006) 1 – 2, p. 90 – 94. 56 Luk’’ianenko, Levko: Zlochynna sut’ KPRS-KPU: Niurnberh-2, a.aO., p. 28; Dietsch: Making Sense of Suffering, l.c., p. 209. 57 Pres-tsentr SB Ukrainy : Sluzhba bezpeky Ukrainy vidkryvae dlia shyrokoho zahalu arkhivni materialy shchodo osib, prychetnykh do orhanizatsii ta zdiisnennia polityki HolodomoruHenotsydu i represii, in: Sluzhba bezpeky Ukrainy, 23. 07. 2008, URL: http://www.sbu.gov.ua/sbu/control/uk/publish/article?art_id=80420& cat_id=395 (19. 10. 2011). 58 N 376-V: Zakon Verkhovna Rada Ukrainy pro Holodomor 1932 – 1933 rokiv v Ukraini, 28. 11. 2006, URL: http://zakon.nau.ua/doc/?code=376 – 16 (27. 10. 2011).

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basis could be based the memory about other, analogous events (for instance, the famine of 1946 – 1947).”59

While the legislature legislated the “correct” version of Ukrainian history, the Security Service of Ukraine disseminated the myths. In 2009 the SBU director Valentyn Nalivaichenko presented material to the effect that the victims of the “Holodomor-Genocide” of 1932 – 33 in the Ukrainian SSR amounted to exactly 10,063,000 people, of which 91,2 % were Ukrainians. The SBU arrived at this number by taking the highest scholarly estimate, 3,941,000 famine deaths, to which they added 6,122,000 “unborn” people.60 Also the court system was assigned a role in the process; in the final days of Yushchenko’s presidency the Kyiv court of appeals posthumously found Stalin and the “leadership of the Bolshevik totalitarian regime guilty of genocide of the Ukrainian national group.”61 A politicized version of the past was resurrected; if Stalin was posthumously put on trial, UPA commander Roman Shukhevych, OUN leader Stepan Bandera, and the 1941 OUN(b) “Prime Minister” Yaroslav Stets’ko were posthumously elevated as national heroes. The glorification of the extreme right faced mounting criticism, not only from Jewish groups, but towards the end of Yushchenko’s presidency also from Poland and the European Union. Hyperbolic instrumentalization of the famine was used to counter the sharp international condemnation regarding Yushchenko’s history politics. When his designation of Shukhevych as “Hero of Ukraine” was sharply condemned by Yad Vashem, Yushchenko attempted to counter the criticism by sponsoring the performance of a Ukrainian choir and ensemble performing a “Requiem for 10,000,000” in Jerusalem in April 2008. The Requiem was scheduled to be performed in “dozens” of Western countries thereafter.62 59 Ministerstvo osvity i nauki Ukrainy : Lyst 06. 11. 2007 n 1/9 – 673: Metodychni rekomendatsii shchoda provedennia v navchal’nykh zakladakh temetychnykh urokiv, lektsii, vykhovnykh zakhodiv, Holodomor 1932 – 1933 rokiv v Ukraini, URL: http://zakon.nau.ua/doc/ ?uid=1038.1629.0 (23. 10. 2011). 60 “SBU nayvala ostatochnu kil’kist’ zhertv Holodomoru v Ukraini”, Tsn.ua, N.d., URL: http:// tsn.ua/ukrayina/sbu-nazvala-ostatochnu-kilkist-zhertv-golodomoru-v-ukrayini.html (30. 10. 2011); “Hlava SBU: Obvynuvachuval’nyi vorok u spravi pro Holodmor pochinaet’sia zi Stalina”, in: Novynar, 24. 12. 2009, URL: http://novynar.com.ua/politics/95810 (30. 10. 2011). 61 “Sud Kyieva vyznav Stalina vynnym u heotsydi ukraintsiv”, URL: http://tsn.ua/ukrayina/ sud-viznav-stalina-vinnim-u-genotsidi-ukrayintsiv.html (30. 10. 2011). 62 “Visit of Ukrainian President Yuschenko to Yad Vashem: Yad Vashem Chairman Chalev Thanks Ukrainian President Yushchenko for Instructing the Relevant Professionals to Reach an Agreement regarding the Bruno Schultz Murals, Chairman of the Council Lapid Protest Granting Honor to man Involved in Murder of Jews During Holocaust”, URL: http://yadvashem.org.il/about_yad/what_new/data_whats_new/Yuschenko.html (10. 04. 2008, link no longer available); Iakirevich, Dmitrii: Rekviem pamiati 10.000.000, in: My Zdes’, Nr. 157, 25. 04. 2008, URL: http://www.newswe.com/index.php?go=Pages& in=view& id=280 (16. 10. 2011). Thanks to Mykola Riabchuk for this reference.

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Fig. 4. “Requiem for 10,000,000” (http://www.newswe.com/index.php?go=Pages& in=view& id=280)

Yushchenko’s policies not only polarized Ukraine, but also tested the patience of his closest supporters in Europe. In 2010 he received 5,5 % of the popular vote, a world record for an incumbent president.63

Ukrains’ka Pravda/Istorychna Pravda – Ukrainian Truth/Historical Truth: “Truth” as a National Value Ironically the mythmakers present their narratives as truths, which they juxtapose with the “a-historical, amoral and a-ethical realm of socialism.” The legitimizing historians claim to “recover” the true, national version about the past, which they, in turn, contrast with a “false Soviet history.”64 “Nationalist intellectuals equated national history with the formerly repressed and thus today both morally superior and ,true‘ memory of the […] Ukrainian people” Wilfried Jilge has observed. The OUN and UPA are presented as fighting on behalf of the people, their opponents reduced to “traitors” and “enemies”. “Thus, the silence of the national view of history about their participation in criminal acts against the ,others‘ is justified.”65 The titles of the “national-democratic” venues are telling: one of the most 63 Kompaneets, Andrei: Komu dostanetsia trezubets, in: Trud, 19. 01. 2010, URL: http:// www.trud.ru/article/19 – 01 – 2010/235109_komu_dostanetsja_trezubets.html (26. 10. 2011). 64 Jilge, Wilfried: Competing Victimhoods – Ukrainian Narratives on World War II, in: Barkan/ Cole/Struve (eds.): Shared History – Divided Memory, l.c., p. 105. 65 Jilge: Competing Victimhoods, l.c., S. 115.

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prominent organs is the internet journal Ukrains’ka Pravda, [The Ukrainian Truth] and its sub-section Istorychna Pravda [Historical Truth] betraying the deep Soviet roots of this narrative. Ukrains’ka Pravda has been particularly active on the revisionist front, publishing outright falsifications in order to legitimize nationalist ideology, something particularly apparent in their denial of, or justification of OUN collaboration with the Nazis.66 To the mythmakers there is literally a subjective Ukrainian truth, to which the “nation” is entitled. Despite the claims to truth and scholarly objectivity, this rather crude form of myth making is indifferent and unreceptive to scholarly scrutiny.67 Despite its claims to truth and scholarly objectivity, these ideologists operate outside the realms of accepted scholarly practice, and without regards to the universal values upon which academic inquiry is based.68 The mythmakers have presented OUN forgeries as authentic documents, whereas anti-Semitic statements by the OUN leaders are dismissed as KGB forgeries.69 V’’iatrovych has dismissed the OUN’s anti-Semitism and participation in the Holocaust as ‘a historical myth,’ presented its role in the progroms and antiJewish murders as subject of ‘much academic controversy.’70 V’’iatrovych has 66 “The USSR and Nazi Germany collaborated for over ten years. They started World War II together.” Ol’ha Riznychenko, “Z Khar’kova tak i ne vyishlo zrobyty Berlin” in: Istorychna Pravda, 01. 07. 2011, URL: http://www.istpravda.com.ua/columns/2011/07/1/44420/ (16. 10. 2011), or that Goebbels supposedly certified in 1935 that “Holodomor took place.” Vitalii Chervonenko, “Hebbels u 1935-mu: ,Holodomor buv.‘ Navit’ natsisty vyznaly”, Ukrains’ka Pravda/Istroychna Pravda, 04. 10. 2011, URL: http://www.istpravda.com.ua/digest/2011/10/ 4/57744/ (16. 10. 2011). 67 Wheras the legitimizing “national democratic” historians appear in the forum on a daily basis, critical voices are often barred. See, for instance Amar, Tarik Cyril: Roman Shukhevych. Fantaziia, in: Zaxid.net, 26. 06. 2008, URL: http://zaxid.net/home/showSingleNews.do?roman_shuhevich_fantaziya& objectId=1059559 (29. 10. 2011). 68 Bruder, Franziska: “Strasti za Banderuiu [Bandera Passion]”, in: DefendingHistory.com, 20. 11. 2011, URL: http://defendinghistory.com/strasti-za-banderoju-’bandera-passion’-byfranziska-bruder/25453?mid=5343411 (26. 02. 2012). 69 Hunczak, Taras: Problems of Historiography : History and Its Sources, in: Harvard Ukrainian Studies, 25 (2001) 1 – 2, p. 129 – 142. For a critical study of the Ukrainian postcommunist negationist narrative, see Kurylo, Taras/Himka, John-Paul [Khymka, Ivan]: “Iak OUN stavylasia do ievreiv? Rozdumy nad knyzhkoiu Volodymyra V’’iatrovycha”, in: Ukraina Moderna, 13 (2008) 2, p. 252 – 265. On the OUNs anti-Semitism, see Carynnyk, Marco: Foes of Our Rebirth: Ukrainian nationalist discussions about Jews, 1929 – 1947, in: Nationalities Papers, 39 (2011) 3, p. 315 – 352; Himka, John-Paul: Collaboration and or Resistance: The OUN and UPA during the War, Paper prepared for the Ukrainian Jewish Encounter Shared Narrative Series, Conference on Issues Relating to World War II, Potsdam, 27.–30. 06. 2011. 70 Arkhivni dokumenty ruinuiut’ mif pro antysemityzm OUN, – V’’iatrovych, in: Zik: syla informatsii, URL: http://zik.com.ua/ua/news/2011/01/09/265640 (09. 01. 2011); O’Neil, Peter : Historian hopes Harper’s visit to Ukraine museum will help shed light on war atrocities, in: The Montreal Gazette, 10. 11. 2010, URL: http://www.montrealgazette.com/news/ Historian+hopes+Harper+visit+Ukraine+museum+will+help+shed+light/3807727/

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defended and justified war crimes, such as the murder of civilians by Ukrainian Schutzmänner in German service in Belarus.71 Promoters of “national history” regularly dismiss Soviet documents as propaganda when they do not serve the ideological “national truth” narrative, but accept them at face value as evidence when they do. Regarding the OUN-UPA murder of the Volhynian and Galician Poles, V’’iatrovych and his center present the Polish victims of OUN-UPA not as victims of systematic mass murder but as casualties of a “Second Polish-Ukrainian War” in which “there was no disproportionality between the Ukrainian and Polish [victims].”72 Needless to say, this sort of denial, in combination with a cult of the perpetrators has not been helpful for Polish-Ukrainian reconciliation. While V’’iatrovych enthusiastically endorses the interpretation of the 1932 – 33 famine as genocide and was instrumental for the dissemination of the 10 million claim, he dismisses it as a political game when the Polish Sejm uses the same term to describe the OUN-UPA’s mass murder of Polish civilians in Volhynia and Galicia in 1943 – 44: “the concept (of genocide) has no legal basis, but is exclusively political” V’’iatrovych asserted,73 adding that “I am frightened by the hunt for corpses.”74 In contrast to the sizable resources invested in rehabilitating, “the Ukrainian National Liberation movement” Ukrainian funding of research on the Holocaust has been minimal, and the little research on the Holocaust that takes place in Ukraine is largely funded by foreign organizations and NGOs.75 This is no

71 72

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story.html (10. 11. 2010). For a discussion on the obfuscation, see Rybakov, Dmytro: Marko Tsarynnyk: Istorychna napivpravda hirsha za odvertu brekhniu in: Levyi bereh, 05. 11. 2009, URL: http://lb.com.ua/article/society/2009/11/05/13147_marko_tsarinnik_istorichna.html (05. 11. 2009). Mishchenko, Masha: Pratsivnyk SBU: My izdyly v Izrail’ pobachaty dos’e proty Shukhevycha – a ioho prost one isnue, in: UNIAN, 25. 03. 2008, URL: http://unian.net/news/print.php?id=242913 (08. 04. 2008). Solod’ko, Pavlo: Volodymyr V’’iatrovych: ‘Volynns’ka trahediia – chastyna pol’s’koukrains’koi viiny, in: Istorychna Pravda, 12. 07. 2011, URL: http://www.istpravda.com.ua/ articles/2011/07/12/45443/view_print/ (19. 10. 2011); V’’iatrovych, Volodymyr : Druha pol’sko-ukrains’ka viina 1942 – 1947, Kyiv : Vydavnychyi dim “Kyevo-Mohylians’ka akademiia” and Tsentr doslidzhen’ vyzvol’noho rukhu 2011. Solod’ko, Pavlo: Volodymyr V’’iatrovych, ‘Volyns’ka trahediia – chastyna pols’koukrains’koi viiny’, in: Ukrains’ka Pravda, 12. 07. 2011, URL: http://www.istpravda.com.ua/ articles/2011/07/12/45443/ (16. 10. 2011). V’’iatrovych, Volodymyr : Mene liakae take sobi ,honka trupiv‘ u Volyns’kii trahedii, in: zaxid.net, 27. 09. 2011, URL: http://zaxid.net/home/showSingleNews.do?volodimir_vyatrovich_mene_lyakaye_taka_sobi_gonka_trupiv_u_volinskiy_tragediyi& objectId=1237 092 (12. 10. 2011). On these problems, see for instance “Diskussii o Kholokoste na terrirorii Ukrainy i pamiaty o nem: mneniia Anatoliia Podol’skogo, Andreia Portnova, Vitaliia Nakhmanovicha”, in: Ab Imperio, 01. 10. 2011, URL: http://net.abimperio.net/node/2098 (27. 10. 2011).

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coincidence, Wilfried Jilge has pointed out the exclusion of Holocaust and that these victims cannot be included, as long as OUN is celebrated as heroes: “At the end, the UPA struggling for freedom and independence becomes an exclusive victim of both totalitarian powers; thus, its criminal actions against the ,others‘ during the war are also morally justified by a narrative of victimization.”76 “Only by excluding the Holocaust from a narrative of Ukrainian national history are nationalist intellectuals able to preserve an unambiguously positive image of the OUN and UPA, and thus their function as state-legitimizing symbols, as well as of the Ukrainians as a victim nation, and, finally, of a morally superior collective self.”77

Similarly, University of Lund historian Johan Dietsch, points at a similar exclusive relation between Holocaust and “Holodomor.” “[T]he Holocaust in Ukraine could seriously undermine the tragic conceptualization of Ukrainian history. There is no room for competing narratives of victimization, and acknowledging the Holocaust in Ukraine would cast a long shadow over the heroic Ukrainian national movement.”78

The instrumentalization and manipulation of history has not been without its critics. Viktor Yushchenko established the “scientific-propagandistic” SBU with the functions of the political police and a Ukrainian institute of National Memory, in the role of a “Ministry of Historical Truth” liberal Ukrainian historian and publicist Vasyl Rasevych writes.79

The Diaspora Echo Chamber While Yushchenko’s propaganda met significant resistance, also among young people, his myths were received enthusiastically within the Ukrainian diaspora and by the Ukrainian extreme right. In Canada, Yushchenko emboldened the Ukrainian Canadian Congress to seek Canadian state recognition for veterans of the OUN and the UPA. On Remembrance Day 2010 the UCC saluted veterans of the Waffen-SS Galizien.80 The UCC’s celebration of Ukrainians in service of Nazi Germany went hand in hand with inflation of the famine deaths numbers. Supplied with figures from 76 Jilge: Competing victimhoods – Ukrainian Narratives on World War II, l.c., p. 114 – 115. See also Bartov, Omer : Erased: Vanishing Traces of Jewish Galicia in Present-Day Ukraine, Princeton: Princeton University Press 2007. 77 Jilge: Competing victimhoods – Ukrainian Narratives on World War II, l.c., p. 122. 78 Dietsch: Making Sense of Suffering, l.c., p. 228. 79 Rasevych, Vasyl’: Zamknute kolo ‘spetsial’noi‘ ukrainskoi istorii, in: Zaxid.net, 13. 09. 2010, URL: http://zaxid.net/article/74357 (16. 09. 2010). 80 Rudling: Multiculturalism, memory, and ritualization, l.c., p. 755.

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the UCC, and seeking to court the “ethnic” vote, Canadian Prime Minister Stephen Harper, during his official visit to Ukraine in October, 2010, repeated the 10,000,000 number. “Almost as many Ukrainians died in the Holodomor during the 1930s as there were Canadians alive at that time” Harper claimed. (In 1932, there were 10,6 million Canadians.) This number UCC president Paul Grod further exaggerated, claiming that “more people were killed during that horror than were alive in Canada at that time.”81As a source for this claim, Grod cited Journal of Holodomor Studies editor Roman Serbyn, professor emeritus at the Universit¦ du Qu¦bec — Montr¦al (UQAM), who to “the man-made famine that ravaged Ukraine in 1932 – 1933 and caused the deaths of 7 to 10 million people”82 adds “the destruction of the 8,000,000 ethnic Ukrainians living on the eve of the genocide in the Russian Republic (RSFSR).”83 Taken to task by the press for their inflation of the famine number, the UCC quietly removed their exaggerated numbers from their website, but continues to make the ten million claim in mailing to their members and sympathizers.84 Generally, attitudes are more radical among the politically active segments of the Ukrainian diaspora than public opinion in Ukraine proper. There are some diaspora historians who have taken Yushchenko to task for not making the 81 O’Neil, Peter : Harper’s Ukraine famine exaggerated, scholar says, in: Edmonton Journal, 30. 10. 2010, URL: http://www2.canada.com/edmontonjournal/news/story.html?id=ea26329dc6c5 – 4e76-b8f5 – 48ff37f57537 (02. 10. 2011). 82 Serbyn, Roman: The First Man-Made Famine in Soviet Ukraine 1921 – 1923, in: The Ukrainian Weekly, 56 (1988) 45, URL: http://www.artukraine.com/famineart/serbyn2.htm (02. 05. 2011). 83 Serbyn, Roman: Raphael Lemkin on the Ukrainian Genocide, [aaus-list] in: Brama.com, 04. 10. 2008, URL: http://www.brama.com/pipermail/aaus-list/2008-October/002849.html (24. 03. 2011). 84 Compare “UCC Launches Join Fundraiser for African Famine Relief”, UCC Press Release, 19. 08. 2011, URL: http://www.ucc.ca/2011/08/19/ucc-launches-joint-fundraiser-for-africanfamine-relief/ (19. 10. 2011) to the mass email “Ukrainians unite for Somali famine relief: ,Be kind. Save Somalia‘ urges Ukrainian genocidal famine Holodomor survivor”, in: UCC mailing, 19. 08. 2011, sent out to members and sympathizers the same day. This message contained the statement: “,Ten million Ukrainians perished. Ten million‘ Horlatsch said. That is the population of Canada at the time.” At the ASN Convention in New York, philanthropist Jim Temerty, Chairman of the Ukrainian Canadian Congress National Advisory Council and the main sponsor of the conference series called the Ukrainian-Jewish Encounter, asserted “Ukrainians are sensitive to genocide, after all ,at least ten million‘ Ukrainians perished in the famine.” Himka, John-Paul: letter to the author, 04. 05. 2011. Temerty, James, UJE Chair, Panel U10: The Ukrainian Jewish Encounter : Towards a Shared Historical Narrative (Roundtable) ASN Convention, 14.04. 2011, The Association for the Study of the Nationalities 2011 World Convention, URL: http://www.nationalities.org/convention/pdfs/ASN-2011-final-program-April.pdf (27. 10. 2011). For the June, 2011 meeting of the UJE in Potsdam, Germany, V’’iatrovych was invited as one of very few Ukrainian scholars. As critics of the UCC historical narrative were not invited, some scholars opted out of the conference.

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rehabilitations far-reaching enough. Serbyn, who also serves on the board of the UCC National Executive, would like to see more Ukrainian military formations in Hitler’s service included in the honoring and myth making, similarly to the UCC’s promotion of the Waffen-SS Galizien in Canada.85 Commenting on Yushchenko’s myth making, Serbyn wrote that “This fostering of a shared Ukrainian heritage was a noble one. What Yushchenko can be reproached with is not having brought into the project the Ukrainian veterans of the Waffen-SS Division Halychyna and other units of the armed forces of the Axis powers.”86

“Communism = Nazism” On June 22, 2011, the Lviv city council, in which Svoboda constitutes the largest faction, covered the city with posters to mark the 70th anniversary of the German invasion of the Soviet Union.87 One of the images is a famous photo of a woman who discovered a loved one: a son, a husband, or a father, among the many victims, killed by the NKVD before the Soviets retreated in panic. The posters purport to highlight two crimes, committed in wartime Lviv. The choice of images and the text, COMMUNISM=NAZISM. The notion of absolute equality of Soviet and Nazi crimes, sometimes referred to as the “red-brown” equation, is not unique to Lviv, but is encountered in several post-communist states. The imagery on the poster is representative of this narrative. The poster externalizes the violence and reduces Ukrainians to victims without agency. However, the original photos actually depict three atrocities, acts of political violence committed by three totalitarian forces: the Soviets, the Germans, and Ukrainian Nationalists. On the original photo from the Lonts’kyi prison we see Jews sitting while militiamen from the OUN(b)-organized militia issue instructions. The Jews are awaiting to be assigned new tasks or else to be executed. After the Poles, in 1941, Jews constituted the second largest ethnic group in Lviv, more than twice as big as the Ukrainians. Very few survived the Holocaust, which in Lviv started with the pogroms of June-July 1941. After being forced to exhume the bodies of NKVD victims, thousands of Jews were killed in the OUN(b)85 On the UCC celebration of the Waffen-SS Galizien, Rudling: Multiculturalism, memory, and ritualization, l.c., p. 755 – 756. 86 Serbyn, Roman: Erroneous Methods in J.-P. Himka’s Challenge to ,Ukrainian Myths‘, 07. 08. 2011; Marples, David (ed.): Current Politics in Ukraine, URL: http://ukraineanalysis.wordpress.com/ (16. 10. 2011). 87 The posters appear to have been produced by the Center for the Study of the Liberation Movement. “U L’vovi z’’iavylys’ bilbordy u pam’’iat’ pro zhertv natsysts’koho ta komunistychnoho rezhymiv”, in: Tsentr Doslidzhen’ vyzvol’nohu rukhu, 22. 06. 2011, URL: http:// www.cdvr.org.ua/content/d-\mS_Sw-XpSY\Ybm-Rw\R_aUY-d-`Q]’pcm-`a_-WVacS-^QgYbcbm[_T_cQ-[_]d^wbcYh^_T_-aVWY]wS (16. 10. 2011).

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Fig. 5. “Communism=Nazism” propaganda poster by the Svoboda-dominated Lviv City Council, June 2011. (http://www.cdvr.org.ua/content/d-\mS_Sw-XpSY\Ybm-Rw\R_aUY-d-`Q]’pcm`a_-WVacS-^Q gYbcbm[_T_-cQ-[_]d^wbcYh^_T_-aVWY]wS)

organized pogroms.88 Lonts’kyi prison became one of the main stages of pogrom activity.89 The Lonts’kyi prison is now a museum, dedicated to Soviet atrocities. It was initially intended to be run by Yushchenko’s Institute of National Memory. After the institute’s dissolution and reorganization in 2010, the SBU leased the premises of the former prison to the Center for the Study of the Liberation Movement.90 The Museum is a prime example of postcommunist Holocaust negationism. In its permanent exhibit we again encounter the photo of the traumatized woman, photoshopped to obfuscate the plight of the Jews at the hands of their tormentors from the OUN militia. The Jews, awaiting their death at the hands of the OUN militia are literally covered up with large target boards of Soviet crimes. A target board with an exact number of 1,681 depicts the number of NKVD victims at Lonts’kyi prison.91 There is no mentioning of the pogrom, nor the role of the OUN its execution.

88 The exact number of pogrom victims is hard to ascertain. The Lviv Judenrat estimated 2,000 Jews perished in the pogrom, German internal correspondence 7,000 Jews. Himka: The Lviv Pogrom of 1941, l.c., p. 221. 89 Himka: The Lviv Pogrom of 1941, l.c., p. 211. 90 Tsentr doslidzhen’ vyzvol’noho rukhu – zasnovnyk Natsional’noho muzeiu-memorialu zhertv okupatsiinykh rezhymiv “Tiurma na Lonts’koho”, URL: http://www.lonckoho. lviv.ua/muzej/tsdvr (24. 11. 2012). 91 Pohl: Anti-Jewish Pogroms in Western Ukraine, l.c., p. 306.

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Fig. 6. The Lonts’kyi prison, Lviv, June 30, 1941. Collection of David Lee Preston, Philadelphia.

Fig. 7. Lonts’kyi prison, Lviv, June 30, 1941. The back side carries the text “Juden warten” [“Jews are waiting”]. Collection of David Lee Preston, Philadelphia.

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Fig 8. Holocaust negationism, Lviv, 2010. The same photo at the permanent exhibit at the Lonts’kyi Street Museum Prison, Lviv. The Jews, forced to bury the bodies of the NKVD victims, surrounded by the OUN(b) militia are photoshopped out and literally covered with statistics of Stalinist terror. Photo courteousy of John-Paul Himka.

Both posters are typical for this sort of selective, ethnicized victimization narratives. Ukrainians figure in the role of victims, not only of the Soviets, but also of the Nazis, whereas there the plight of the Jews is passed over in silence. In particular, the role of Ukrainians as perpetrators is actively obfuscated. The equating of communism with Nazism serves the purpose of whitewashing the OUN, which is presented as “freedom fighters”. In Western Ukraine, local initiatives have moved ahead beyond the initiative set up by Yushchenko’s government. Paradoxically, given the presentation of the OUN as anti-Nazi resistance fighters, in Lviv also the veterans of the Ukrainian Waffen-SS division Galizien are treated as heroes, streets renamed after its initiators and sponsors. The anniversary of the establishment of Waffen-SS Galizien in 1943 are celebrated with festivities and marches in Lviv and other Galician cities. In Lviv a taxi company, named after Waffen-SS Galizien opened. The uniformed cab driver greets the customer with the OUN salute “Slava Ukrainy! Heroiam Slava! SS Galizien greets you! Please have a seat” and entertain their customers with patriotic music in the cab during the ride. “To most people in Lviv, SS Galizien are heroes, who fought for Ukrainian independence – in a way

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they found acceptable” the director of the company opines.92 On June 30, 2011, Lviv re-enacted the June 30, 1941 declaration of “statehood.” Fl–neurs in their folkloristic Sunday best enthusiastically applauded men in SS uniforms reenacting the German conquest, Stets’ko’s declaration of statehood was read out loud. The NKVD murders were heavily emphasized, but no mentioning of the pogroms.93 Currently there is a discussion about renaming the Lviv airport after Stepan Bandera.94 The multiple Stalinist, Nazi, and Nationalist crimes have become political currency for ideologues, legitimizing historians, mythmakers and memory managers. Typically, the nationalist narratives telescope the traumas of the ingroup, obfuscating the suffering of others. Atrocities are upgraded, downgraded, obfuscated and manipulated for transparent political purposes. Nation-state consolidation is placed above universal values, human tragedy exploited for political ends, a process in which more emphasis is put on the ethnicity than humanity of the victims. Typical for this sort of ethnic narcissism is the reaction to Timothy Snyder’s blockbuster Bloodlands when it appeared in Ukrainian translation. Istorychna Pravda presented it under the headline “Timothy Snyder: ‘There were two Holodomors in Ukraine, a Soviet and a Nazi one.’”95

One imagined community – or two Despite massive propaganda efforts, Yushchenko’s narrative has had a limited impact outside Western Ukraine. Opinion polls indicated that at the end of Yushchenko’s presidency roughly one-fifth of Ukrainians shared the interpretation of Yushchenko and his legitimizing historians. According to a October 2009, survey, 14 percent of Ukrainians had a positive or very positive attitude towards the OUN(b), 13 per cent to the UPA, whereas 45 negative and very negative to the OUN(b), the same number as for the UPA.96 In 2012, 24 % of 92 “U L’vovi z’’iavylos’ taksi SS ‘Halychyna.’ Video”, in: Ukrains’ka Pravda Zhyttia, 12. 10. 2011, URL: http://life.pravda.com.ua/society/2011/10/12/87447/ (19. 10. 2011). 93 Rossolin´ski-Liebe, Grzegorz: The Act of 30 June 1941, and its 2011 Commemoration in Ukraine, in: DefendingHistory.com, 25. 06. 2011, URL: http://defendinghistory.com/grzegorz-rossolinski-liebe-on-the-act-of-30-june-1941 – 2011june25/17975 (19. 10. 2011). 94 “Ianukovych ne proty, shchob aeroport u L’vovi nazvaly imenem Bandery”, in: Zaxid.net, 28. 10. 2011, URL: http://zaxid.net/home/showSingleNews.do?yanukovich_ne_proti_ shhob_aeroport_u_lvovi_nazvali_imenem_banderi& objectId=1239803 (29. 10. 2011). 95 Solod’ko, Pavlo: Timoti Snaider : ‘V Ukraini bulo dva holodomory – radians’kyi i hatsysts’kyi, in: Istorychna Pravda, 24. 10. 2011, URL: http://www.istpravda.com.ua/articles/ 2011/10/24/60277/ (25. 10. 2011). 96 Katchanovs’kyi, Ivan: Ukraintsy ne veriat v mify ob OUN i UPA, in: Fraza, 14. 10. 2009, URL: http://www.fraza.ua/print/14.10.09/76064.html (16. 10. 2011).

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Ukrainians surveyed supported the idea of recognizing OUN-UPA as “participants of the struggle for Ukrainain state Independence” whereas 57 % were opposed.97 Similarly in July, a 2011 Ukrainian poll showed that 36 % of Ukrainians regard Stalin a “great leader” whereas 34 % do not.98 National myths on the basis of a victimization narrative around the famine have more potential as a mobilizing national myth: according to a November, 2007 poll by the Kyiv International Institute of Sociology 63, 2 % of Ukrainians approved of the 2006 law which legislated the famine as genocide.99 While he endorses the interpretation of the famine as genocide, Yushchenko’s successor Yanukovych fired V’’iatrovych and announced his plans to close the Institute of National Memory.100 It was later reopened under new management, its instrumentalization of history less explicit and its memory management tasks much diminished.101 He, and his controversial minister of education Dmytro Tabachnyk have continued Yushchenko’s practice of polarizing the political landscape. With Yushchenko discredited and Yulia Tymoshenko sentenced to a lengthy prison sentence on corruption charges in a trial which has been internationally condemned as a political process, Svoboda is now the main champions of the OUN cult. Years of state propaganda have increased the appeal of Bandera, Stets’ko, and Shukhevych, something that has benefited their ideological successors. Yushchenko’s legitimizing historians cleared the path for the neo-fascist, anti-Semitic, anti-Polish, and anti-Russian Svoboda party. Regionally limited to Galicia, in the local elections the Ternopil region, in 2008 it became the by far largest political party with 34,69 % of the votes cast. It has received similar numbers in Lviv and Ivano-Frankivsk.102 Its national breakthrough came in the October, 2012 parliamentary elections, when it received 10,4 % of the vote nationally.103 Tymoshenko, who as prime minister and presidential candidate 97 “57 % ukraintsiv ne khochut’ vvazhaty OUN-UPA bortsiam za nezalezhnist’”, in: Istorychna pravda, 13. 03. 2012, URL: http://www.istpravda.com.ua/short/2012/03/13/76675/ (22. 11. 2012). 98 Stavlennia ukraintsiv do postati Iosifa Stalina, Kiev International Institute of Sociology, 22. 07. 2011, URL: http://kiis.com.ua/ua/news/view-86.html (16. 10. 2011). 99 Jilge: Die “Große Hungersnot”, l.c., p. 21. 100 “Famine of 1930s was genocide against people of Ukraine, Kuban, Kazakhstan, Belarus, says Yanukovych”, in: Interfax-Ukraine, Kyiv, 25. 02. 2011. 101 Kirichuk, Serhii: “Ia ynaiu, chto takoe ukrainskaia revoliutsiia”, in: Liva.com.ua, n.d., URL: http://liva.com.ua/valery-soldatenko.html (22. 11. 2012). 102 Umland/Shekhovtsov : Pravoradikal’naia partiinaia politika, l.c., p. 1 – 15; Shekhovtsov : The Creeping Resurgence, l.c., p. 206. Yanukovych made a more direct contribution to the Svoboda landslide in Lviv by preventing Tymoshenko’s BYuT to run there. 103 Umland, Andreas: Nichtideologische Motivationen det Swoboda-Wähler : Hypothesen zum Elektorat der ukrainischen radikalen Nationalisten bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2012, in: Ukraine-Analysen, Nr. 109, 13. 11. 2012, p. 8 – 9; Shekhovtsov, Anton: Ukraine: the far-right in parliament for the first time, Opendemocracy.net, 01. 11. 2012, URL: http://

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remained cool to Yushchenko’s OUN cult, made her appearance in court by three times defiantly shouting the OUN greeting “Slava Ukraini!” to her supporters, who responded “Heroiam slava!”104 After 20 years of independence, memory and identity in Ukraine remains divided. The spectacular failure of Yushchenko’s attempts at myth making and memory management, the return of Yanukovych and the rise of the ultra-right has disheartened and disillusioned large sectors of society. Leading public intellectuals, among them Mykola Riabchuk and Iuryi Andrukhovych have openly called for the division of Ukraine, challenging the entire imagined community, calling into doubt the existence of one Ukrainian nation.105 “To be honest, I would not have any problem with this country being a little bit smaller. Also very small – with a capital in, say, Lviv. For me personally, Ukraine ends where the Ukrainian language ends. …The Kyiv residents, I guess, don’t really know where they belong – to the Ukrainian-European or the Orthodox-Russian world. …For me, personally, Ukraine ends on the historical borders of the Rzeczpospolita and the Hetmanate. All the rest constitutes wild plains [Dyke Pole].”106

The western part of the country seems to be stepping up its efforts at myth making, expressed in ever more radical forms, while questioning the Ukrainian credentials of the eastern part of the country. At the same time, increasingly powerful voices seriously raise the question about dividing the country. Increasingly, the hegemonic nationalism in the West is articulated in opposition to the eastern and southern parts of the country, associating the critique of the nationalist myths with lack of Ukrainian credentials. Ironically, a nation building myth constructed on victimization (primarily of eastern Ukrainians) is simultaneously bringing into question the Ukrainian credentials of those parts of the country where famine was the most severe. In some cases they are even orientalized and othered as non-Europeans, their part of Ukraine presented as the “wild fields” fundamentally different and alien to the “true” “European” and cultured Ukrainian Kulturträger from Galicia. After www.opendemocracy.net/od-russia/anton-shekhovtsov/ukraine-far-right-in-parliamentfor-first-time (22. 11. 2012). 104 Naiem, Mustafa: Iulia Tymushenko ne vypravylas’, in: Ukrains’ka pravda, 09. 08. 2011, URL: http://www.pravda.com.ua/articles/2011/08/9/6474149/ (19. 10. 2011). 105 Dubasevych, Roman: Dity rozpachu, in: Zaxid.net, 20. 12. 2010, URL: http://www.telekritika.ua/daidzhest/2010 – 12 – 20/58543 (23. 10. 2011). Similar suggestions have also appeared among Western analysts. See, for instance Burger, Ethan S.: Could partition solve Ukraine’s problems?, in: oD Russia, 19. 02. 2010, URL: http://www.opendemocracy.net/odrussia/ethan-s-burger/could-partition-solve-ukraine’s-problems (28. 10. 2011). 106 Vil’chyns’kyi, Oleksandr : Mykola Riabchuk: Iashchirky, iakym shkoda pozbutys’ khvosta, pozbuvaiut’sia holovy – Interv’’iu, in: Zaxid.net, 09. 08. 2010, URL: http://zaxid.net/home/ showSingleNews.do?mikola_ryabchuk_yashhirki_yakim_shkoda_pozbutis_hvosta_poz buvayutsya_golovi& objectId=1110717 (23. 10. 2011).

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twenty years of independence, there is not one, but several rivalling and antogonistic myths in circulation, as diverse as the historical experiences of this young state.107

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Yves Bizeul (Rostock)

Fazit: Vom Nationalmythos zum Mythos Europa

Der Sammelband soll nicht nur einen Beitrag zur Erforschung der Reaktivierungsversuche des Nationalmythos in der Spätmoderne leisten. Er beleuchtet auch einen Teil des politischen Imaginären unserer Zeit und der mit ihm zusammenhängenden politischen Praxis. Zugleich wird aus den einzelnen Aufsätzen auch die immer noch auffällige nationale Ausprägung des heutigen Imaginären sichtbar. Im „postheroischen“ (Habermas) Westeuropa werden als Bestandteil des Nationalmythos anstelle der alten Heldenerzählungen bescheidenere Narrationen einzelner Ereignisse und Gedächtnisorte bevorzugt.1 Während einige versuchen, diese Vielfalt in einer Ganzheitlichkeit und linearen Zeitgerichtetheit einzuordnen, ziehen andere gegen den heutigen Trend des Nationalmythos-redivivus zu Felde. Es ist aber auch möglich, wie der Fall des Berliner Humboldt-Forums zeigt, einen spätmodernen Umgang mit mythischen Erzählungen zu pflegen. In diesem Fall ähneln die heutigen politischen mythischen Erzählungen den u. a. von Claude L¦vi-Strauss untersuchten Mythen der schriftlosen Kulturen, die dazu tendieren, Gegensätze aufzuheben, anstatt diese – wie in den modernen Mythen unter dem Druck ideologischer Überzeugungen – nachzuzeichnen und zu zementieren. Die Wichtigkeit der „Bedeutsamkeit“, die laut Chiara Bottici den Mythos charakterisiert,2 ist daher je nach Land 1 Vgl. Nora, Pierre (Hrsg.): Les Lieux de m¦moire, 7 Bde., Paris: Gallimard 1984 – 92. Mittlerweile ist auch in Deutschland die Anzahl der Werke, die sich mit den Gedächtnis- bzw. Erinnerungsorten beschäftigen, inflationär gestiegen. Siehe hierzu u. a.: Boer, Pim den/Duchhardt, Heinz/Kreis, Georg/Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. Gesamtausgabe, München: R. Oldenbourg Verlag 2012; Olschowsky, Burkhard/Weber, Matthias/Petransky´, Ivan A. (Hrsg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven, Reihe Schriften des Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 42, München: R. Oldenbourg Verlag 2011; Markschies, Christoph/Wolf, Hubert (unter Mitarbeit von Barbara Schüler) (Hrsg.): Erinnerungsorte des Christentums, München: Verlag C. H. Beck 2010; Sabrow, Martin (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR, München: Verlag C. H. Beck 2009; FranÅois, Etienne/Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München: Verlag C. H. Beck 2008. 2 Vgl. Bottici, Chiara: A Philosophy of Political Myth, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 125, 178 u. 245.

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Yves Bizeul

und nach Epoche unterschiedlicher Natur und vor allem unterschiedlicher Intensität. Die Forderung nach Stellung- und Parteinahme, die keine Indifferenz duldet, war im Zeitalter des Nationalismus aufgrund des großen Einflusses der politischen Ideologien besonders stark ausgeprägt. In der mehr oder weniger postideologischen Spätmoderne tendiert die „Bedeutsamkeit“ dazu, eher die Form der „subjektiven Wertbesetzung“ anzunehmen, die nach Hans Blumenberg ihr Wesen auszeichnen würde.3 In Deutschland ist dies klarer als in Frankreich oder gar in der Ukraine zu erkennen. In den einzelnen Ländern sehen die Nationalmythen ohnehin unterschiedlich aus. In Frankreich versuchte der Staat unter der Präsidentenschaft Sarkozys eine einheitliche, primordialistische bzw. essentialistische Deutung des Nationalmythos durchzusetzen, während in Deutschland angesichts eines stärkeren kulturellen Pluralismus eher ein großes konstruktivistisches Narrativ mit variabler Geometrie bevorzugt wird. Auch die Hauptakteure der nationalmythischen Rekonstruktionsbemühungen, die sich zugleich als sogenannte „Identitätsunternehmer“4 betätigen, sind je nach Land unterschiedlich. Die Reaktivierungsversuche des Nationalmythos in Frankreich und in der Ukraine werden vordergründig von öffentlichen bzw. staatlichen Akteuren vorangetrieben, während sie in Deutschland vor allem einen medialen und zivilgesellschaftlichen Ursprung haben. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Kreisen, die möglicherweise als Träger des neuen Mythos fungieren könnten (z. B. Arbeitslose oder das Bildungsbürgertum). In Deutschland ist die Lage vermutlich besonders komplex. Einerseits ist in den neuen Bundesländern die Rezeption des Nationalmythos angesichts jahrzehntelanger Trennung nicht gerade einfach. Andererseits hat dort die Mythendekonstruktion der 1960er Jahre kaum stattgefunden. Vor allem die in bestimmten Gebieten stark vertretenen Extremrechten zeigen sich für den Nationalmythos besonders empfindlich, während die in den alten Bundesländern stark repräsentierte Extremlinke diesem Narrativ traditionell ablehnend gegenübersteht. Die von den Akteuren verfolgten Strategien bezüglich der Reaktivierung des Nationalmythos sind ebenfalls nicht einheitlich. Im Westen haben wir es mit einer Mischung von politischen Überzeugungen und politischer Taktik der Seduktion und der Medieninszenierung zu tun. So wurde in Frankreich die Debatte über die nationale Identität von manchen als legitim erachtet, um der Politikverdrossenheit entgegenzuwirken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Republik zu stärken, während andere sie als politische Manipulation de-

3 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 77. 4 Vgl. Giesen, Bernhard: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 212.

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nunzierten.5 Sie sahen in ihr den Ausdruck eines heute erneut grassierenden Populismus, der bewusst eingesetzt wird, um bei Wahlen Stimmen zu gewinnen. Die Gründe der jeweiligen Eliten bei diesem Prozess lassen sich nur schwer ermitteln. Während laut einiger Autoren sie mit dem Einsatz von Mythen ihre Machtposition festigen wollen,6 weisen andere Forscher auf die Möglichkeit hin, dass die Elitenmitglieder selbst fest an ihre Mythen glauben.7 Die Antwort, die die vorliegenden Analysen liefern, ist nicht eindeutig, zumal in Deutschland bei Mythosproduzenten wie Guido Knopp die Grenzen zwischen Unterhaltung und Meinungslenkung fließend sind, während in Frankreich bei Politikern wie Nicolas Sarkozy politisches Kalkül meist eng mit inneren Überzeugungen vermischt ist. Es ist davon auszugehen, dass in der Ukraine Mythosglaube und Mythosinstrumentalisierung kaum unterscheidbar sind. Ein bedeutendes Ziel des Sammelbands ist weiterhin die Erfassung der verschiedenen Widerstandsformen gegenüber den Reaktivierungsbemühungen des Nationalmythos und der Akteure, die hinter diesem Protest stehen. Aufgrund des Traumas der Shoah ist die Gegenwehr in Deutschland zwar besonders ausgeprägt und laut, in Frankreich ist sie jedoch stärker institutionalisiert. So haben die Entscheidungen, neue Nationalmuseen zu eröffnen, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich heftige Polemiken entfacht.8 In der Bun5 Vgl. Meyran, R¦gis: Le Mythe de l’identit¦ nationale, Paris: Berg International 2009. 6 Vgl. Cassirer, Ernst: Der Mythos des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1994; Edelman, Murray : Politik als Ritual: Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt am Main/New York: Campus 2005; Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. 7 Vgl. Flood, Christopher G.: Political Myth. A Theoretical Introduction, New York/London: Routledge 2002; Tudor, Henry : Political Myth, London: Pall Mall 1972. 8 Zur französischen Diskussion vgl. Offenstadt, Nicolas: Brauchen wir ein „Haus der Geschichte Frankreichs“? Oder die Rückkehr der nationalen Meistererzählung, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 55 – 74. Siehe hierzu auch: Geifes, Stephan/Seidendorf, Stefen: Einleitung, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010, a. a. O., S. 11 – 22; Revel, Jacques: Diskordanz der Zeiten. Die Franzosen und ihre Nationalgeschichte heute, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010, a. a. O., S. 41 – 54; Stenzel, Hartmut: Eine postmoderne nationale Identität? Die Banalisierung des historischen Gedächtnisses in der aktuellen Debatte in Frankreich, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010, a. a. O., S. 75 – 90. Zur deutscher Diskussion vgl. Kocka, Jürgen: Ein chronologischer Bandwurm. Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: Geschichte und Gesellschaft, 32 (2006), S. 398 – 411, Reichel, Peter : Geschichtspolitisches Desaster. Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: Tribüne, Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 45 (2006) 3, S. 95 – 106; Mälzer, Moritz: Ausstellungsstück Nation. Debatte um die Gründung des Deutschen Historischen Museums in Berlin, Bonn: Friedrich Ebert Stiftung 2005;FranÅois, Etienne: Naissance d’une nation. Le mus¦e historique allemand de Berlin, in: VingtiÀme SiÀcle, Revue d’histoire, 34 (1992) 2, S. 69 – 84; Werner, Michael: Deux nouvelles

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desrepublik wurden diese jedoch zwischen einzelnen Journalisten und Intellektuellen ausgetragen. In Frankreich kamen zudem staatliche Akteure und Vereine hierzu, so das „Comit¦ de vigilance face aux usages publics de l’histoire“ (CVUH, Wachsamkeitskomitee in Anbetracht des öffentlichen Gebrauchs der Geschichte), das öffentlich und dezidiert gegen das ihrer Auffassung nach antiquierte Vorhaben des damaligen Staatspräsidenten Stellung nahm. Es sah die geschichtswissenschaftliche Objektivität gefährdet und warnte vor einer politischen Instrumentalisierung der Massen. Auch zum Gesetz vom 23. Februar 2005 zur Würdigung des „positiven Beitrags der französischen [kolonialen] Anwesenheit in Übersee“ in den Schulcurricula hat es sich ablehnend positioniert. Die Mitglieder des CVUH haben sich hingegen für die u. a. von renommierten Historikern wie Jean-Pierre Az¦ma, Jacques Julliard, Pierre Nora, Mona Ozouf, Ren¦ R¦mond, Jean-Pierre Vernant, Paul Veyne, Pierre Vidal-Naquet und Michel Winock im Namen der Freiheit der Forschung abgelehnten „lois m¦morielles“ (Gesetze also, in denen bestimmte Deutungen von staatlicher Seite festgeschrieben bzw. unter Strafe gesetzt werden) ausgesprochen. In der Ukraine kommt der Widerstand vorwiegend aus der Diaspora und zielt nicht auf eine Dekonstruktion des Nationalmythos, sondern auf seine Umgestaltung. Er sollte jetzt gegen die frühere Sowjetmacht gerichtet werden. Solche Debatten zeugen von einer agonistischen Demokratie, wie sie u. a. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in ihren Werken reflektiert haben.9 Angesichts der Heftigkeit derartiger Auseinandersetzungen stellt sich die Frage, ob die Zeit der Dekonstruktion des Nationalmythos wirklich hinter uns liegt. Das zeigt sich an den bedeutenden Konsequenzen, die eine Remythologisierung nach sich ziehen kann. Bei dem heutigen Streit geht es aber auch um die respektive Rolle und Bedeutung der Gedächtnisse einzelner Gemeinschaften und der Geschichte der Historiker. Ob die Opposition von Gedächtnissen und Geschichte wirklich so steril und heuristisch wenig ergiebig ist, wie Nicolas Offenstadt behauptet,10 sei dahingestellt. Vielmehr ist die Wahrnehmung dieses Gegensatzes die Voraussetzung, um die neuesten Entwicklungen richtig zu verstehen. Gerade in einer Zeit der „Auseinandersetzung der Gedächtnisse“ (guerre des m¦moires) ist die Versuchung groß, durch eine Reaktivierung des mises en scÀne de la nation allemande. Les exp¦riences du Deutsches Historisches Museum (Berlin) et du Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Bonn), in: Hartog, FranÅois/Revel, Jacques (Hrsg.): Les Usages politiques du pass¦, Paris: Editions de l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, S. 77 – 98; Stölzl, Christoph (Hrsg.): Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Berlin: Propyläen 1988. 9 Vgl. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie: zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen-Verlag (4. Aufl.) 2012. 10 Vgl. Offenstadt, Nicolas: L’Histoire Bling-Bling. Le Retour du Roman National, Paris: Stock 2009, S. 141.

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Nationalmythos erneut Einheitlichkeit zu stiften. Das gemeinsame Bekenntnis zur Nation und ihrer Geschichte wird dann als Garant des sozialen Friedens im Land betrachtet. Eine weitere Dimension des Problems ist die des Einflusses der Reaktivierungsversuche des Nationalmythos auf den Umgang mit dem Fremden bzw. mit den Migranten, zumal sowohl der Nationalmythos als auch die Debatte um die nationale Identität nicht nur zur Abgrenzung der Staatsbürger von der Außenwelt, sondern auch von inneren „Fremden“ oder zumindest von so wahrgenommenen Zeitgenossen benutzt werden können. Bisher wurden in Frankreich und Deutschland die Erwartungen des Staates und der Gesellschaft an die Migranten, sich zum Nationalmythos zu bekennen, von der Forschung nicht gründlich genug untersucht. Freilich hat man sich damit in Deutschland im Zuge der Debatte über die „deutsche Leitkultur“ intensiv beschäftigt.11 Die angebliche Plicht der Migranten zur Aneignung einer konstruierten „Leitkultur“ samt ihrer negativen Seiten (Shoah) ist allerdings bisher nicht unter dem Aspekt der Übernahme des Nationalmythos thematisiert worden. Allenfalls liegen erste Untersuchungen zum Geschichtsbewusstsein von Migranten in Deutschland vor.12 Ähnliches gilt auch für Frankreich, obschon die Politiker mit der Debatte um die nationale Identität der 2000er Jahre auch das Ziel verfolgten, die Assimilierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund voranzutreiben und den Schein einer Aufarbeitung der Kolonialzeit zu vermitteln. Der Vergleich der Rekonstruktionsbemühungen des Nationalmythos hat über den reinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn hinaus aber auch eine offensichtlich gesellschaftliche Relevanz, da die Rekonstruktion eines Nationalmythos und eine eventuelle Neubewertung des Nationalstaats zwangsläufig gravierende gesellschaftspolitische Folgen mit sich bringen würden. Man stellt heute in den beiden EU-Ländern Frankreich und Deutschland eine Abkühlung des gemeinsamen Willens, die europäische Idee als „Zweitaktmotor“ voranzutreiben, fest. Die besorgten Reaktionen des Europarats zur französischen Debatte um die nationale Identität zeigen, dass schon jetzt Befürchtungen dieser 11 Vgl. Nowak, Jürgen: Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag 2006; Löffler, Berthold: „Leitkultur“ im Fokus. Was der umstrittene Begriff meint, und wozu er gut sein soll, in: Die politische Meinung, 435 (2006), S. 14 – 18; Pautz, Hartwig: Die deutsche Leitkultur. Eine Identitätsdebatte: Neue Rechte, Neorassismus und Normalisierungsbemühungen, Stuttgart 2005; Ders.: The Politics of Identity in Germany : the Leitkultur Debate, in: Race & Class, 46 (2005) 4, S. 39 – 52; Tibi, Bassam: Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglückten deutschen Debatte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1 – 2 (2001), S. 23 – 26; Oberndörfer, Dieter: Leitkultur und Berliner Republik. Die Hausordnung der multikulturellen Gesellschaft Deutschlands ist das Grundgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1 – 2 (2001), S. 27 – 30. 12 Vgl. u. a. Georgi, Viola B.: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition 2003.

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Art auch bei institutionellen Akteuren vorhanden sind. Die Aufwertung des Nationalismus könnte zudem angesichts der aktuellen Euro-, Wirtschafts- und Finanzkrise in den europäischen Ländern zu einer Kettenreaktion protektionistischer Maßnahmen mit nicht zu unterschätzenden negativen Folgen für den europäischen Wirtschaftsraum führen. Außerdem hätte ein wiedererstarkter Nationalmythos unmittelbare Konsequenzen für die Regionen und deren Autonomie. In der Ukraine kann der Nationalmythos ein mobilisierender Faktor in den nationalen Gemeinschaften sein und ungeahnte Energien befreiender oder zerstörerischer Natur freisetzen. Die spärlichen Versuche, anstelle der einzelnen europäischen Nationalmythen einen für ganz Europa relevanten Mythos zu erzeugen, sind bisher ohne großen Erfolg geblieben. Das hat nicht nur mit der nüchternen Monnet-Methode zu tun, sondern auch mit der Weigerung, die alten Nationalmythen auf dem Altar des europäischen Integrationsprozesses zu opfern. Weder Karl der Große noch der Hanse- bzw. der universitas-Mythos können als überzeugende europäische mythische Narrationen fungieren. Dennoch ist die Behauptung der ungarischen Philosophin Ýgnes Heller sicherlich zu einseitig: „Modernity, the creation of Europe, itself created Europe“13. Die europäischen Mythen ziehen ihre Überzeugungskraft in erster Linie aus einem negativen Kollektivgedächtnis, vor allem – aber nicht ausschließlich – aus der Shoah und aus der Tragödie des Zweiten Weltkriegs.14 Die EU wird heute in den Medien und in wissenschaftlichen Publikationen als Garant für den Frieden in Europa und als Verkörperung des Einigungswillens in einem durch Vielfalt und divergierende Interessen charakterisierten Kontinent dargestellt.15

Bibliographie Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. Boer, Pim den/Duchhardt, Heinz/Kreis, Georg/Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. Gesamtausgabe, München: R. Oldenbourg Verlag 2012. 13 Heller, Agnes: Europe: An Epilogue?, in: Nelson, Brian/Roberts, David/Veit, Walter (Hrsg.): The Idea of Europe – Problems of National and Transnational Identity, New York/Oxford: Berg 1992, S. 12 – 25, hier S. 12. 14 Vgl. Leggewie, Claus: Der Kampf um die europäische Erinnerung: ein Schlachtfeld wird besichtigt, München: Verlag C. H. Beck 2012. 15 Vgl. Journal of Common Market Studies, Special Issue: Political Myth, Mythology and the European Union, 48 (2010) 1, hier vor allem der Aufsatz von Della Sala, Vincent: Political Myth, Mythology and the European Union, S. 1 – 19; Puntscher Rieckmann, Sonja: The Myth of European Unity, in: Hosking, Geoffrey/Schöplin, George (Hrsg.): Myths & Nationhood, London: C. Hurst & Co. 1997, S. 60 – 71.

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Bottici, Chiara: A Philosophy of Political Myth, Cambridge: Cambridge University Press 2007. Cassirer, Ernst: Der Mythos des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1994. Della Sala, Vincent: Political Myth, Mythology and the European Union, in: Journal of Common Market Studies, Special Issue: Political Myth, Mythology and the European Union, 48 (2010) 1, S. 1 – 19. Edelman, Murray : Politik als Ritual: Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns. Frankfurt am Main/New York: Campus 2005. FranÅois, Etienne: Naissance d’une nation. Le mus¦e historique allemand de Berlin, in: VingtiÀme SiÀcle, Revue d’histoire, 34 (1992) 2, S. 69 – 84. FranÅois, Etienne/Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München: Verlag C. H. Beck 2008. Flood, Christopher G.: Political Myth. A Theoretical Introduction, New York/London: Routledge 2002. Geifes, Stephan/Seidendorf, Stefen: Einleitung, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 11 – 22. Georgi, Viola B.: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition 2003. Giesen, Bernhard: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. Heller, Agnes: Europe: An Epilogue?, in: Nelson, Brian/Roberts, David/Veit, Walter (Hrsg.): The Idea of Europe – Problems of National and Transnational Identity, New York/Oxford: Berg 1992, S. 12 – 25. Kocka, Jürgen: Ein chronologischer Bandwurm. Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums in: Geschichte und Gesellschaft, 32 (2006), S. 398 – 411. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie: zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen-Verlag (4. Aufl.) 2012. Leggewie, Claus: Der Kampf um die europäische Erinnerung: ein Schlachtfeld wird besichtigt, München: Verlag C. H. Beck 2012. Löffler, Berthold: „Leitkultur“ im Fokus: Was der umstrittene Begriff meint, und wozu er gut sein soll, in: Die politische Meinung, 435 (2006), S. 14 – 18. Mälzer, Moritz: Ausstellungsstück Nation. Debatte um die Gründung des Deutschen Historischen Museums in Berlin, Bonn: Friedrich Ebert Stiftung 2005. Markschies, Christoph/Wolf, Hubert (unter Mitarbeit von Barbara Schüler) (Hrsg.): Erinnerungsorte des Christentums, München: Verlag C. H. Beck 2010. Meyran, R¦gis: Le Mythe de l’identit¦ nationale, Paris: Berg International 2009. Nora, Pierre (Hrsg.): Les Lieux de m¦moire, 7 Bde., Paris: Gallimard 1984 – 92. Nowak, Jürgen: Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag 2006. Oberndörfer, Dieter : Leitkultur und Berliner Republik: Die Hausordnung der multikulturellen Gesellschaft Deutschlands ist das Grundgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1 – 2 (2001), S. 27 – 30. Offenstadt, Nicolas: L’Histoire Bling-Bling. Le Retour du Roman National, Paris: Stock 2009.

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Offenstadt, Nicolas: Brauchen wir ein „Haus der Geschichte Frankreichs“? Oder die Rückkehr der nationalen Meistererzählung, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 55 – 74. Olschowsky, Burkhard/Weber, Matthias/Petransky´, Ivan A. (Hrsg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven, Reihe Schriften des Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 42, München: R. Oldenbourg Verlag 2011. Pautz, Hartwig: Die deutsche Leitkultur: Eine Identitätsdebatte. Neue Rechte, Neorassismus und Normalisierungsbemühungen, Stuttgart: Ibidem-Verlag 2005. Pautz, Hartwig: The Politics of Identity in Germany : the Leitkultur Debate, in: Race & Class, 46 (2005) 4, S. 39 – 52. Puntscher Rieckmann, Sonja: The Myth of European Unity, in: Hosking, Geoffrey/Schöplin, George (Hrsg.): Myths & Nationhood, London: C. Hurst & Co. 1997, S. 60 – 71. Reichel, Peter : Geschichtspolitisches Desaster. Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: Tribüne, Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 45 (2006) 3, S. 95 – 106. Revel, Jacques (2010): Diskordanz der Zeiten. Die Franzosen und ihre Nationalgeschichte heute, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 41 – 54. Sabrow, Martin (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR, München: Verlag C. H. Beck 2009. Stenzel, Hartmut: Eine postmoderne nationale Identität? Die Banalisierung des historischen Gedächtnisses in der aktuellen Debatte in Frankreich, in: Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.): Frankreich Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte. Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 75 – 90. Stölzl, Christoph (Hrsg.): Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Berlin: Propyläen 1988. Tibi, Bassam: Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglückten deutschen Debatte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1 – 2 (2001), S. 23 – 26. Tudor, Henry : Political Myth, London: Pall Mall 1972. Werner, Michael: Deux nouvelles mises en scÀne de la nation allemande. Les exp¦riences du Deutsches Historisches Museum (Berlin) et du Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Bonn), in: Hartog, FranÅois/Revel, Jacques (Hrsg.): Les Usages politiques du pass¦, Paris: Editions de l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales 2001, S. 77 – 98.