Wege zum Dienstleistungsstaat: Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich 3531150898, 9783531150895

Die Studie untersucht die Entwicklung sozialer Dienste in Großbritannien, Frankreich und Deutschland von den Anfängen bi

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German Pages 361 [353] Year 2007

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Wege zum Dienstleistungsstaat: Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich
 3531150898, 9783531150895

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Thomas Bahle Wege zum Dienstleistungsstaat

Thomas Bahle

Wege zum Dienstleistungsstaat Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage Februar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15089-5

Inhalt

Tabellenverzeichnis ............................................................................................................ 9 Einleitung ......................................................................................................................... 15 Soziale Dienste und die Reform des Wohlfahrtsstaates ......................................... 16 Gegenstand der Untersuchung ................................................................................ 21 Aufbau der Arbeit ................................................................................................... 29 1

Soziale Dienste ...................................................................................................... 33 Einleitung ............................................................................................................... Elemente einer soziologischen Definition sozialer Dienste .................................... Funktionale Abgrenzung sozialer Dienste .............................................................. Organisation und soziale Kontrolle sozialer Dienste .............................................. Der Wohlfahrtsstaat als Regulierungsinstanz .........................................................

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Soziale Dienste in Westeuropa im Vergleich ...................................................... 53 Gesellschaftliche Strukturmerkmale ....................................................................... Staat und Gemeinden ................................................................................... Öffentlich und Privat ................................................................................... Staat und Familie ......................................................................................... Strukturmerkmale des Wohlfahrtsstaates im Vergleich ......................................... Soziale Dienste im europäischen Vergleich ........................................................... Dienste für ältere Menschen ........................................................................ Dienste für Kinder ....................................................................................... Trägerstruktur sozialer Dienste .............................................................................. Zusammenfassung ..................................................................................................

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33 34 36 40 42

53 53 55 58 62 64 67 70 74 80

Soziale Dienste in England und Wales ................................................................ 81 Einleitung ............................................................................................................... 81 Historische Entwicklung ........................................................................................ 86 Alten- und Behindertenhilfe ................................................................................... 89 Stationäre Einrichtungen seit Anfang der 1990er Jahre ............................... 99 Ambulante Dienste ..................................................................................... 106 Soziale Dienste für Kinder .................................................................................... 114

6

Inhalt

Sozialfürsorge ............................................................................................. Kinderbetreuung ......................................................................................... Personal sozialer Dienste ....................................................................................... Fazit: Veränderungen durch die neueren Reformen .............................................. Die Reformen von 1990 .............................................................................. Institutionalisierung sozialer Dienste .................................................................... 4

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Soziale Dienste in Frankreich ............................................................................. 143 Einleitung .............................................................................................................. 143 Historische Entwicklung ....................................................................................... 146 Soziale Dienste im Rahmen der Sozialhilfe (aide sociale) .................................... 149 Krankenhilfe für Bedürftige ........................................................................ 152 Soziale Dienste für Kinder .................................................................................... 153 Kinderbetreuung ......................................................................................... 153 Historische Entwicklung der Kinderhilfe ................................................... 157 Kinderhilfe seit den 1970er Jahren ............................................................. 160 Soziale Dienste für ältere Menschen ..................................................................... 162 Das ungelöste Problem der Langzeitpflege ................................................ 168 Quantitative Entwicklung der Altenhilfe .................................................... 171 Stationäre Einrichtungen ............................................................................. 174 Ambulante Dienste ..................................................................................... 178 Soziale Dienste für Behinderte .............................................................................. 182 Sozialhilfe für Behinderte ........................................................................... 192 Beschäftigte in den sozialen Diensten ................................................................... 193 Fazit: Konsequenzen der Dezentralisierung .......................................................... 198

5

Soziale Dienste in Deutschland ........................................................................... 207 Einleitung .............................................................................................................. 207 Historische Entwicklung ....................................................................................... 209 Exkurs: Ausdifferenzierung sozialer Dienste aus dem Armenwesen ......... 212 Soziale Dienste für ältere Menschen ..................................................................... 218 Die soziale Innovation der Pflegeversicherung 1994 .................................. 231 Soziale Pflegedienste nach der Reform von 1994 ...................................... 235 Soziale Dienste für Kinder .................................................................................... 246 Hilfen zur Erziehung ................................................................................... 253 Kindertagesstätten ....................................................................................... 258 Soziale Dienste für Behinderte .............................................................................. 268 Personal sozialer Dienste ....................................................................................... 272 Fazit: Strukturelle Konsequenzen der neueren Reformen ..................................... 280

Inhalt

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7 Die Reform sozialer Dienste im Ländervergleich ............................................. 287 Einleitung .............................................................................................................. 287 Die Struktur sozialer Dienste bis zum Beginn der Reformen ................................ 289 Die Reformen im Vergleich .................................................................................. 291 Institutionelle Auswirkungen ...................................................................... 293 Strukturelle Auswirkungen ......................................................................... 303 Der Wohlfahrtsstaat im System sozialer Dienste .................................................. 308

Ausblick ........................................................................................................................... 325 Literatur .......................................................................................................................... 339

Tabellenverzeichnis

Schaubild 1: Ausgaben für soziale Dienste, Europa 2002 ................................................. 66 Tab. 1: Typologie sozialer Dienste ................................................................................. 37 Tab. 2: Altersstruktur der Bevölkerung, Europa 2000..................................................... 65 Tab. 3: Soziale Dienste für Kinder und ältere Menschen in Westeuropa, 1995 ..................................................................................................................... 67 Tab. 4: Ausgaben für kommunale soziale Dienste, England und Wales 1977 und 1987 .............................................................................................................. 84 Tab. 5: Ausgaben für kommunale soziale Dienste, England und Wales 1993/94 und 2001/02 .......................................................................................... 85 Tab. 6: Stationäre Altenhilfe, England 1960 ................................................................... 93 Tab. 7: Bewohner über 65 in der stationären Altenhilfe nach Träger und Größe der Einrichtung, England 1960 ................................................................ 94 Tab. 8: Plätze in stationären Einrichtungen (residential care) nach Art der Einrichtung und Träger, Vereinigtes Königreich 1970-1994 ............................. 96 Tab. 9: Plätze in stationären Einrichtungen für Erwachsene und ältere Menschen nach Personengruppe, England 1994-2001 ...................................... 100 Tab. 10: Plätze in privaten Pflegeheimen nach Einrichtungsart, England 2001 ..................................................................................................... 101 Tab. 11: Plätze in stationären Einrichtungen für Erwachsene Ältere, nach Personengruppe und Trägerschaft, England 1994-2001 .................................... 102 Tab. 12: Plätze in stationären Einrichtungen für Erwachsene und ältere Menschen nach Personengruppen und Trägern, England 2001 ......................... 103 Tab. 13: Von den Kommunen unterstützte Bewohner stationärer Einrichtungen nach Gruppe und Träger: Erwachsene und Menschen über 65, England 1994-2001 .............................................................................. 105 Tab. 14: Von den Kommunen unterstützte Bewohner stationärer Einrichtungen nach Trägern: Erwachsene und ältere Menschen über 65 Jahren, England 1994-2001 .......................................................................... 106 Tab. 15: Haushaltshilfedienste, England und Wales 1950-1995 ...................................... 108 Tab. 16: Health visitors, England 1975-1998: Zahl der Fälle nach Altersgruppen .................................................................................................... 108 Tab. 17: Mahlzeitendienste, England 1992-1997: Empfänger und Träger der Dienste................................................................................................................ 109

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Tabellenverzeichnis

Tab. 18: Haushaltshilfedienste, England 1992-2001: Empfänger und Leistungsstunden nach Träger ........................................................................... Tab. 19: Von den Kommunen unterstützte oder direkt angebotene Plätze in Tageseinrichtungen nach Personengruppe und Trägerschaft, England 1992-1997 ........................................................................................... Tab. 20: Kinder in armenrechtlicher Obhut nach Art der Unterbringung, England und Wales 1900-1938 .......................................................................... Tab. 21: Kinder in Obhut der lokalen Sozialbehörden nach Art der Unterbringung, England und Wales 1952-1980, und England 19801998 ................................................................................................................... Tab. 22: Plätze in Tageseinrichtungen für Kinder nach Art der Einrichtung und Träger, England und Wales 1949-1990 und England 1990 und 1995 ................................................................................................................... Tab. 23: Plätze in Kinderbetreuungseinrichtungen nach Art der Einrichtung, England 1997-2001 ........................................................................................... Tab. 24: Trägerstruktur der Einrichtungen, England 1997 und 2001 ............................... Tab. 25: Kostenlose Teilzeitplätze für frühkindliche Erziehung nach Altersgruppe und Einrichtungsart, England und Wales 1999-2004 ................... Tab. 26: Kinder in frühkindlicher Teilzeiterziehung nach Altersgruppe und Einrichtungsart, England und Wales 1999-2004 ............................................... Tab. 27: Drei- und vierjährige Kinder in öffentlich unterhaltenen Vor- und Grundschulen nach Einrichtungsart und Dauer der Betreuung, England 1993-2002 ........................................................................................... Tab. 28: Öffentlich geförderte Plätze und Kinder in der frühkindlichen Erziehung nach Altersgruppe und Einrichtungsart, England 20002004 ................................................................................................................... Tab. 29: Beschäftigte bei den kommunalen sozialen Diensten nach Tätigkeitsbereichen, England und Wales 1973-1992 ........................................ Tab. 30: Beschäftigte bei den kommunalen sozialen Diensten nach Beschäftigungsbereichen und Zielgruppen, England 1994-2003 ...................... Tab. 31: Personal, Ausgaben und öffentliche Finanzierung freier Träger nach Arbeitsbereichen, Vereinigtes Königreich 1990 ................................................ Tab. 32: Ausgaben der Sozialhilfe nach Leistungsbereichen, Frankreich 1984-2001 .......................................................................................................... Tab. 33: Empfänger von Sozialhilfe nach Zielgruppen und Leistungsart, Frankreich 1984-1999 ........................................................................................ Tab. 34: Kinderbetreuungseinrichtungen, Frankreich 1971-1998 .................................... Tab. 35: Empfänger von Kinderhilfe nach Leistungsart, Frankreich 19841999 ................................................................................................................... Tab. 36: Altenhilfeeinrichtungen, Frankreich 1969-1975 ................................................

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Tab. 37: Einrichtungsformen der stationären und ambulanten Altenhilfe, Frankreich .......................................................................................................... 167 Tab. 38: Ausgaben und Empfänger in der Altenhilfe, Frankreich 1984-1999 ................. 172 Tab. 39: Empfänger von Sozialhilfe für ältere Menschen nach Unterbringung, Frankreich 1984-1999 ........................................................................................ 173 Tab. 40: Empfänger von Sozialhilfe für ältere Menschen nach Leistungsart und Unterbringung, Frankreich 1984-1999 ....................................................... 173 Tab. 41: Stationäre Einrichtungen für alte Menschen, Frankreich 1975 .......................... 174 Tab. 42: Stationäre Altenhilfeeinrichtungen nach Sektor und Träger, Frankreich 1987-1991 ........................................................................................ 175 Tab. 43: Stationäre Versorgung älterer Menschen: Zahl der Plätze nach Einrichtungsart, Frankreich 1990-1996 ............................................................. 176 Tab. 44: Stationäre Versorgung älterer Menschen: Zahl der Plätze insgesamt und in medizinischen Abteilungen nach Einrichtungsart, Sektor Hébergement, Frankreich 1995 ......................................................................... 176 Tab. 45: Einrichtungen und Plätze der stationären Altenhilfe, Frankreich 1995/1996 .......................................................................................................... 178 Tab. 46: Ambulante Dienste, Frankreich 1981-1990 ....................................................... 179 Tab. 47: Ambulante Dienste, Empfänger, Frankreich 1980-1996 .................................... 179 Tab. 48: Ambulante Pflegedienste nach Trägerschaft, Frankreich 1996 .......................... 180 Tab. 49: Angebot und Finanzierung ambulanter Dienste, Frankreich 1993 ..................... 181 Tab. 50: Behindertenhilfe, Frankreich 1969-1975 ........................................................... 184 Tab. 51: Einrichtungen für behinderte Kinder, Frankreich 1963-1976 ............................ 184 Tab. 52: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder, Frankreich 19851991 ................................................................................................................... 186 Tab. 53: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder: Plätze in der stationären éducation spécial, Frankreich 1985-1998 ........................................ 187 Tab. 54: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder: Plätze in ambulanten und häuslichen Diensten, Frankreich 1985-1998 ............................................... 187 Tab. 55: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Erwachsene, Frankreich 1985-1991 .......................................................................................................... 188 Tab. 56: Stationäre Behindertenhilfe, Plätze nach Einrichtungsart, Frankreich 1985-1998 .......................................................................................................... 189 Tab. 57: Offene Einrichtungen der Behindertenhilfe, Frankreich 1985-1998 .................. 189 Tab. 58: Behinderte in den stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe nach Art der Behinderung, Frankreich 1996 ..................................................... 190 Tab. 59: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Kinder, Frankreich 1987 und 2001 ................................................................................................................... 190 Tab. 60: Einrichtungen der Behindertenhilfe für Erwachsene, Frankreich 2001 ................................................................................................................... 192

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Tab. 61: Sozialhilfe für behinderte Menschen nach Hilfeart, Frankreich 19841999 ................................................................................................................... 193 Tab. 62: Übersicht über wichtige soziale Berufe in Frankreich ....................................... 195 Tab. 63: Soziale Berufe nach Beschäftigungsbereich, Frankreich 1998 .......................... 197 Tab. 64: An sozialen Einrichtungen tätige soziale Berufe nach Berufsgruppen und Art der Einrichtung, Frankreich 1998 ......................................................... 198 Tab. 65: Plätze in der stationären Altenhilfe nach Einrichtungsart, Bundesrepublik Deutschland 1961-1994 ........................................................... 221 Tab. 66: Plätze in der stationären Altenhilfe nach Einrichtungsart, Bundesrepublik Deutschland 1961-1990 ........................................................... 221 Tab. 67: Stationäre Einrichtungen der Altenhilfe nach Einrichtungsart und Träger, Bundesrepublik Deutschland 1981 ....................................................... 222 Tab. 68: Einrichtungen und Beschäftigte in den ambulanten Pflegediensten der Wohlfahrtsverbände, Bundesrepublik Deutschland 1970-1996 .................. 224 Tab. 69: Personal ambulanter Pflegedienste nach Berufsgruppe und Beschäftigungsumfang, Bundesrepublik Deutschland 1984 ............................. 225 Tab. 70: Plätze in den stationären Altenhilfeeinrichtungen der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-1996 ........................................ 228 Tab. 71: Einrichtungen, Plätze und Beschäftigte in den Altentagesstätten der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 .............................. 229 Tab. 72: Einrichtungen und Mitarbeiter der mobilen Mahlzeitendienste der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 .............................. 230 Tab. 73: Versicherte in der sozialen Pflegeversicherung nach Status, Deutschland 1995-2002 ..................................................................................... 238 Tab. 74: Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung mit ambulanter und stationärer Versorgung, Deutschland 1995-2002 ..................... 238 Tab. 75: Struktur der Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufen und Versorgungsart, Deutschland 1997-2001 ...................... 239 Tab. 76: Leistungsempfänger in der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufen und Leistungsarten, Deutschland 2002 ......................................... 239 Tab. 77: Leistungsausgaben der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten, Deutschland 1996-2003 ............................................................ 240 Tab. 78: Ambulante Pflegedienste nach Trägerschaft, Deutschland 1999 und 2001 ................................................................................................................... 241 Tab. 79: Stationäre Pflegeeinrichtungen nach Trägerschaft, Deutschland 1999 und 2001 ............................................................................................................ 242 Tab. 80: Ausgaben der Sozialhilfe nach Hilfeart, Bundesrepublik Deutschland 1963-2001 ..................................................................................... 243 Tab. 81: Ausgaben der Sozialhilfe nach Hilfearten, Deutschland 1994-2002 .................. 244 Tab. 82: Pflegeausgaben im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung und der Sozialhilfe, Deutschland 1994-2002 .................................................................. 244

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Tab. 83: Empfänger von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung und von Leistungen zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe, Deutschland 1994-2002 .......................................................................................................... 245 Tab. 84: Ausgaben für Jugendhilfe nach Aufgabenbereichen, Deutschland 1999 ................................................................................................................... 248 Tab. 85: Einrichtungen, Plätze und Beschäftigte in der Jugendhilfe nach Trägern, Deutschland 1990-1998 ...................................................................... 249 Tab. 86: Einrichtungen der Jugendhilfe nach Arbeitsbereichen und Träger, Deutschland 1998 .............................................................................................. 250 Tab. 87: Einrichtungen und Plätze bei freien Trägern in der Jugendhilfe nach Arbeitsbereich und Art des Trägers, Deutschland 1998 .................................... 251 Tab. 88: Empfänger von Erziehungshilfen nach Hilfeart, Deutschland 19912001 ................................................................................................................... 254 Tab. 89: Begonnene Erziehungshilfen außerhalb des Elternhauses, Deutschland 1991-2001 ..................................................................................... 254 Tab. 90: Versorgungsraten der erzieherischen Hilfen in der Kinder- und Jugendhilfe, Deutschland 1991 und 2001 .......................................................... 255 Tab. 91: Ambulante Erziehungshilfen nach Träger, Deutschland 2001 ........................... 256 Tab. 92: Ausgewählte Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe nach Trägergruppen, Deutschland 2002 ..................................................................... 256 Tab. 93: Plätze in Heimen für Kinder und Jugendliche, Freie Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-1996 ........................................................... 258 Tab. 94: Kindergartenplätze, Bundesrepublik Deutschland 1950-2002 ........................... 262 Tab. 95: Kinderkrippenplätze, Bundesrepublik Deutschland 1955-2002 ......................... 264 Tab. 96: Plätze in der Kinderbetreuung nach Einrichtungsart und Trägerschaft, Bundesrepublik Deutschland 1955-2002 ..................................... 265 Tab. 97: Kinderbetreuungsplätze nach Einrichtungsart und Trägergruppe, Deutschland 2002 .............................................................................................. 266 Tab. 98: Kinderbetreuungsplätze nach Zielgruppe, Einrichtungsart, Öffnungszeiten und Mittagsservice, Deutschland 2002 .................................... 267 Tab. 99: Einrichtungen, Plätze und Personal in der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrtsträger, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ................... 268 Tab. 100: Plätze in den Heimen und Tagesstätten der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrtspflege, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ................. 269 Tab. 101: Plätze in Einrichtungen der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrt, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ......................................................... 270 Tab. 102: Plätze in Einrichtungen der Behindertenhilfe der freien Wohlfahrtspflege nach Einrichtungsart, Bundesrepublik Deutschland 1981-2000 ................................................................................... 271 Tab. 103: Erwerbstätige in sozialen Berufen, Deutschland 1925-1997 ........................... 273

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Tabellenverzeichnis

Tab. 104: Beschäftigte in der freien Wohlfahrtspflege nach Aufgabenbereichen, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ........................................ Tab. 105: Beschäftigte in der Jugendhilfe nach Arbeitsfeld und fachlicher Ausbildung, Bundesrepublik Deutschland 1974-2002 ..................................... Tab. 106: Personal in der Altenhilfe der freien Wohlfahrtspflege, Bundesrepublik Deutschland 1970-2000 ......................................................... Tab. 107: Personal in Pflegeeinrichtungen nach Arbeitsfeld, Arbeitszeit und Tätigkeitsschwerpunkt, Deutschland 2001 ...................................................... Tab. 108: Personal in Pflegeeinrichtungen nach Qualifikation, Deutschland 2001 .................................................................................................................

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Einleitung

Die Rede von einer Krise beherrscht seit nunmehr über 25 Jahren die politische und wissenschaftliche Diskussion über den Wohlfahrtsstaat (vgl. OECD 1981; Huber und Stephens 2001). Doch die Schwanengesänge sowohl der Kritiker als auch der Apologeten des Wohlfahrtstaates sind längst von einem vielstimmigen Chor abgelöst worden, in dem die Themen des Umbaus und der Reform die Leitmotive bilden. Nicht das Ende des Wohlfahrtsstaates, sondern seine Anpassung an neue Herausforderungen steht nun im Mittelpunkt der Aufführung (vgl. Kaufmann 1997). Tatsächlich sind in allen europäischen Ländern große Probleme des Wohlfahrtsstaates offenkundig, aber in keinem einzigen wurde er in seinen Grundfesten erschüttert, nicht einmal in Großbritannien nach fast zwanzig Jahren ununterbrochener konservativer Herrschaft (vgl. Pierson 1994; Kuhnle 1998: S. 54). Der Mythos von einer großen, umwälzenden Krise des Wohlfahrtsstaates ist verblasst (vgl. Castles 2004) und hat einer wirklichkeitsnäheren Betrachtung von Problemen und Anpassungsleistungen Platz gemacht. Ein zentrales Thema dieser Anpassung ist der teilweise Rückzug des Staates aus den sozialen Sicherungs- und Versorgungssystemen (vgl. Ferrera und Rhodes 2000). Die „Entstaatlichung“ der sozialen Sicherung in den entwickelten westlichen Industrienationen scheint ein allgemeiner, unausweichlicher Trend. In der vielfältigen Literatur zu diesem Thema kann man drei zentrale Dimensionen der Entstaatlichung herausarbeiten (vgl. Pinch 1997). Zum einen wird eine Verlagerung von Kompetenzen und Ressourcen vom Staat auf private Akteure angenommen (Privatisierung), zum andern eine Verschiebung von Zuständigkeiten innerhalb des öffentlichen Bereichs vom (Zentral-) Staat zu Regionen und Kommunen (Dezentralisierung). Außerdem sei mit diesen Entwicklungen eine Pluralisierung von Leistungen und Angeboten durch neue Akteure verbunden, mit anderen Worten: der Staat ziehe sich auch aus der Standardisierung und Kontrolle sozialer Leistungen zurück und schaffe somit Raum für die Entfaltung pluralistischer Systeme der Wohlfahrtsproduktion (Wohlfahrtspluralismus; vgl. Johnson 1987). Dies wäre in der Tat eine einschneidende Veränderung in der Entwicklung sozialer Sicherungssysteme, die seit dem Beginn des modernen Wohlfahrtsstaates vor mehr als 120 Jahren durch einen Prozess zunehmender Verrechtlichung und Standardisierung sowie einen Ausbau sozialer Kontrolle geprägt war. Die in den westeuropäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten Systeme sozialer Dienste stehen seit dem Ende der 1970er Jahre unter großem Veränderungsdruck. Dieser Druck lastet sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite. Auf der Nachfrageseite stehen die demographische Entwicklung und Veränderungen der Familienstrukturen im Mittelpunkt, aber auch der Wandel der Arbeitswelt und der Anstieg des allgemeinen Lebensstandards. Auf der Angebotsseite drücken vor allem die Krise der klassischen freien Wohlfahrtstätigkeit und die Finanzkrise des Staates, aber auch Probleme der politischen und administrativen Steuerung von zunehmend differenzierten und komplexen Systemen (vgl. Alber 2002; Bäcker, Heinze und Nägele 1995; Kaufmann 2001). Mit der Krise des Wohlfahrtsstaats war auch die freie Wohlfahrtspflege in eine Krise geraten. Ein

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Einleitung

Großteil der von diesem Sektor erbrachten sozialen Leistungen wird in vielen Ländern öffentlich finanziert oder zumindest subventioniert. Mit der Krise der Staatsfinanzen waren somit auch die Träger der freien Wohlfahrt mit zunehmender Ressourcenknappheit konfrontiert. Die Ansicht, der Wohlfahrtsstaat verfolge heute primär eine Politik der Privatisierung und Dezentralisierung und eröffne somit Spielräume für pluralistische institutionelle Arrangements, ist weit verbreitet, ja in der heutigen politischen Diskussion beherrscht sie das Feld derart, dass entgegengesetzte Ansichten als Überzeugung Ewiggestriger erscheinen. In der Wissenschaft sind die Meinungen zwar differenzierter, aber auch hier scheint die Idee, der Wohlfahrtsstaat ziehe sich zurück, klar zu dominieren. Häufig werden nicht mehr die sozialen Probleme betrachtet, die sich aus der Entwicklung moderner Gesellschaften ergeben, sondern der Wohlfahrtsstaat selbst und seine Institutionen erscheinen als das eigentliche Kernproblem (vgl. dazu kritisch Flora 1979). Betrachtet man hingegen die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in langfristiger Perspektive, erscheint diese Idee durchaus gewagt. Angesichts historischer Erfahrungen müsste man gerade in Krisenzeiten eine Ausdehnung staatlicher Politik erwarten, nicht einen Rückzug des Staates. Doch der Glaube, ohne den Staat würden sich die sozialen Probleme von selbst lösen, ist eine schöne Illusion. Darüber hinaus scheinen Endpunkt und Ziel eines solchen Rückzugs des Wohlfahrtstaates unbestimmt, ebenso wie alternative institutionelle Arrangements im Vergleich zur klassischen wohlfahrtsstaatlichen Bearbeitung sozialer Probleme. Mit der hier vorliegenden Arbeit möchte ich einen Beitrag zur Erforschung der aktuellen Entwicklungstendenzen im Umbau des Wohlfahrtsstaates leisten. Ziel der Arbeit ist eine kritische Überprüfung der allgemeinen These vom Rückzug des Staates aus der sozialen Sicherung und Wohlfahrt. Dieser These wird eine Alternativhypothese entgegengestellt, die angesichts der anstehenden Probleme einen Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Intervention postuliert (vgl. Alber 2002 für eine kritische Diskussion). Überprüft werden sollen diese Thesen auf dem Gebiet der sozialen Dienste, die dafür in vielfacher Hinsicht geeignet erscheinen, aber auch einen klaren Sonderfall innerhalb des Wohlfahrtsstaates darstellen. Dieser Sonderstellung der sozialen Dienste bin ich mir wohl bewusst; die Ergebnisse dieser Studie lassen sich somit nicht ohne weiteres auf andere wohlfahrtsstaatliche Bereiche übertragen. Doch das ist auch nicht mein Ziel. Vielmehr kommt es mir darauf an, die allgemeinen Thesen über den Umbau des Sozialstaates in einem bestimmten Feld kritisch zu überprüfen. Dennoch glaube ich, dass einige Ergebnisse meiner Studie auch für die Wohlfahrtsstaatsforschung insgesamt von Bedeutung sind.

Soziale Dienste und die Reform des Wohlfahrtsstaates Beherrschten in den 1960er und 1970er Jahren Aufbau und Expansion wohlfahrtsstaatlicher Institutionen die vergleichende Forschung, geriet seit den 1980er Jahren der Umbau oder gar Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Einrichtungen ins Blickfeld. Nach einem beispiellosen „Wachstum zu Grenzen“ (vgl. Flora 1986 u. a.) schien der Wohlfahrtsstaat in Westeuropa am Beginn einer neuen Ära, die durch zunehmende Finanzierungs-, Legitimations- und Steuerungsprobleme gekennzeichnet war. Die Reform des Sozialstaats ist seitdem ein Dauerthema der wissenschaftlichen und politischen Debatten. Der Sozialstaat

Einleitung

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schien vor der größten Herausforderung seiner Geschichte zu stehen (vgl. Alber 2002; Kuhnle 1998; Munday 1989; Pierson 2001). Erstaunlicherweise blieben die sozialen Dienste in dieser Debatte lange Zeit unbeachtet. Zwar gehören sie nur in wenigen Ländern zum historischen Kernbestand wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen und haben sich meist auch nicht in umfassende Systeme entwickelt, aber ihre institutionellen Merkmale hätten sie eigentlich für eine Analyse des Umbaus des Wohlfahrtsstaates prädestiniert. Im Gegensatz zu den Kernsystemen der sozialen Sicherung gegen die großen Standardrisiken Unfall, Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit waren soziale Dienste mit Ausnahme des Bildungs- und Gesundheitswesens meist weniger wohlfahrtsstaatlich institutionalisiert. Sie waren weniger zentralisiert, weniger öffentlich organisiert, beruhten mehr auf lokaler und freiwilliger Initiative, waren stärker auf regionale und individuelle Bedürfnisse zugeschnitten und in geringerem Maße reguliert und standardisiert. In gewissem Sinn könnte man sagen, diese institutionellen Strukturmerkmale seien die Vorboten eines neuen Typus von Wohlfahrt, der am Ende der Umbaubemühungen des modernen Wohlfahrtsstaates stehen könnte. Doch im Fall sozialer Dienste waren diese institutionellen Merkmale weniger Anzeichen für ihre potentielle Vorreiterfunktion als Ergebnis ihrer unvollständigen Institutionalisierung im Wohlfahrtsstaat, mit anderen Worten: ihrer Entwicklungsverspätung gegenüber den klassischen Systemen der sozialen Sicherheit. Tatsächlich wurde die Zeit, in der allgemein von der Krise des Wohlfahrtsstaates und seiner Reform die Rede war, zur entscheidenden Periode, in der sich die sozialen Dienste fast überall in Westeuropa stark ausdehnten und stärker institutionalisiert wurden. Gerade in dieser Zeit schafften die sozialen Dienste in vielen Ländern ihren institutionellen Durchbruch und gehören seitdem zum Kern wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge. Diese Beobachtung ist für die Wohlfahrtsstaatsforschung von großer Bedeutung. Zum einen zeigt sie, dass sich in allen Wohlfahrtsstaaten eine Verschiebung in der Bedeutung unterschiedlicher sozialer Risiken vollzieht, die man als Wandel von der Erwerbszentriertheit zu einer stärkeren Konzentration auf allgemeine Lebensrisiken und lebenslaufbezogene soziale Lagen interpretieren kann. Ob damit bereits die Vorstellung von einem „postindustriellen Wohlfahrtsstaat“ verbunden ist, sei vorerst dahingestellt. Klar ist jedoch, dass eine Neugewichtung sozialer Lagen und Risiken innerhalb des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements festzustellen ist, die seine Grundarchitektur verändert. Hinzu kommt in vielen Ländern eine stärkere Gewichtung der Familie und damit eines weiteren Elements der sozialen Sicherheit, das nicht direkt mit Erwerbstätigkeit verbunden ist. Kein Wunder, dass diese Veränderungen vor allem in den sogenannten konservativen Wohlfahrtsstaaten zu beobachten sind, die bisher enger als andere mit Strukturen der Erwerbsarbeit verflochten waren. Zum andern wird jedoch aus dieser Entwicklung deutlich, dass von einem alle Bereiche umfassenden Rückzug des Staates aus der sozialen Daseinsvorsorge keine Rede sein kann. Man könnte im Gegenteil geradezu von einer Periode zunehmender wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierung sprechen. Diese These scheint vordergründig den gängigen Vorstellungen von einer Privatisierung und Dezentralisierung sozialer Aufgaben und einem zunehmenden Wohlfahrtsmix im Bereich sozialer Dienste unter dem Stichwort „Wohlfahrtspluralismus“ zu widersprechen. Deshalb soll im Folgenden zunächst versucht werden, den Bedeutungsgehalt dieser Charakterisierungen genauer zu fassen, um sie dann anschließend mit den zentralen Entwicklungen und Reformen im Bereich sozialer Dienste zu konfrontie-

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ren. Vereinfacht gesagt geht es also um eine Gegenüberstellung der These vom Rückzug des Staates aus der sozialen Daseinsvorsorge und der These zunehmender wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierung und Steuerung. Dabei werden in beiden Thesen zwar Unterschiede zwischen verschiedenen Wohlfahrtsstaaten angenommen, beide unterstellen jedoch grosso modo eine einheitliche Entwicklungsrichtung. Die Länder sollten sich lediglich in Niveau und Ausmaß dieser Entwicklungen voneinander unterscheiden. Bevor ich den Aufbau der Arbeit skizziere, möchte ich zunächst die Konzepte erläutern, die meinem Ansatz zugrunde liegen: die institutionelle Analyse und die Untersuchung der Beziehungen zwischen Akteuren im Feld sozialer Dienste. Diese konzeptionellen Klarstellungen sind nötig, damit der Leser mein Vorgehen im späteren Verlauf der Arbeit beurteilen kann. Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht der Wohlfahrtsstaat. Deshalb sei das von mir verwendete Konzept des Wohlfahrtsstaates zuerst erläutert. Ich gehe von der grundlegenden Definition aus, die Girvetz (1968) für den angelsächsischen Sprachraum formuliert hat und die für den größten Teil der Forschung maßgeblich geworden ist. Girvetz definierte den Wohlfahrtsstaat wie folgt: „The welfare state is the institutional outcome of a society’s assumption of legal and therefore formal and explicit responsibility for the basic well-being of all its members.” (Girvetz 1968: S. 512; zitiert in Kaufmann 2001: S. 26). Vier Elemente in dieser Definition sind hier von Bedeutung. Girvetz spricht von „institutional outcome“; es geht ihm also nicht um Sozialpolitik und policies, sondern um institutionell ausgeformte Arrangements des Wohlfahrtsstaates. Zweitens hebt er den Aspekt der „formal responsibilities“ hervor, die den genuin wohlfahrtsstaatlichen Ansatz der sozialen Wohlfahrt bilden, der in modernen Wohlfahrtsstaaten in der Verankerung sozialer Rechte gipfelt (vgl. Marshall 1964). Drittens nennt er als zentrales Ziel wohlfahrtsstaatlicher Aktivität „individual wellbeing“, die Steigerung individueller Wohlfahrt. Viertens schließlich zielt der Wohlfahrtsstaat auf die soziale Teilhabe und Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder („of all its members“), sicherlich ein Ansatz, der vor allem in der britischen und skandinavischen Wirklichkeit stärker verankert ist als in den kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten. Dieser Ansatz ist gerade für eine Analyse sozialer Dienste fruchtbar, wie sich im weiteren Verlauf meiner Arbeit erweisen sollte. Doch diese allgemeinen Merkmale des Wohlfahrtsstaates genügen nicht für die spezifische Analyse des Feldes der sozialen Dienste. Deshalb möchte ich mich dabei auch auf einen jüngst ausformulierten Ansatz von Kaufmann (1999; 2001) stützen, der den Begriff des Wohlfahrtsstaates darüber hinaus mit dem Konzept der Wohlfahrtsproduktion (vgl. Zapf 1981;1984) verknüpft. Diese Verbindung ist gerade für eine Untersuchung sozialer Dienste fruchtbar. Ich werde weiter unten begründen, weshalb. Kaufmann stellt in seiner Konzeption des Wohlfahrtsstaates zwei Elemente in den Mittelpunkt: soziale Rechte als genuines Mittel wohlfahrtsstaatlicher Interventionen und die Wohlfahrtsproduktion als zentrales Betätigungsfeld des Wohlfahrtsstaates. In beidem stimmt er mit Girvetz überein. Für meine Zwecke ist an Kaufmanns Ansatz jedoch vor allem die darin zum Ausdruck kommende potentielle Vielfalt wohlfahrtsstaatlicher Arrangements interessant, die sich in der Rolle des Staates im System der Wohlfahrtsproduktion und -verteilung ausprägt. Es ist nämlich nicht primär der Wohlfahrtsstaat, der Wohlfahrt produziert, sondern es sind Familien, Assoziationen und der Markt. Dies gilt vor allem historisch betrachtet. In einer idealtypischen historischen Welt „vor“ dem Wohlfahrtsstaat wurden zum Beispiel soziale

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Dienstleistungen fast ausschließlich innerhalb von Familien erbracht, später kamen dann karitative und humanitäre Organisationen hinzu. Von großer Bedeutung waren aber auch Städte und Gemeinden. Der Staat selbst beschränkte sich auf eine allgemeine Kontrolle und intervenierte erst später in diesem Bereich, zumeist nicht vor dem Ende des 19. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht liegt der historische Ausgangspunkt der sozialen Dienste in der Familie und – vor allem seit dem 19. Jahrhundert – bei freien Trägern der Wohlfahrt, also dem assoziativen Sektor. Auch hat der Staat das Feld der sozialen Dienste niemals so stark durchdrungen und überformt wie andere wohlfahrtsstaatliche Bereiche. Soziale Dienste waren im Vergleich zu anderen Institutionen des Wohlfahrtsstaates stets durch einen relativ hohen Grad an „Privatheit“ und Dezentralisierung gekennzeichnet. Im Unterschied dazu spielte der Markt im Feld sozialer Dienste in historischer Betrachtung keine wichtige Rolle. Der Markt war vielmehr seit dem Siegeszug der kapitalistischen, auf dem individuellen Lohnarbeitsverhältnis beruhenden Wirtschaftsweise, die zentrale Institution der Einkommensverteilung. Entsprechend wurden die wohlfahrtstaatlichen Interventionen in diesem Bereich, deren Anfänge sich ebenfalls auf das ausgehende 19. Jahrhundert datieren lassen, zum Ausgangspunkt der modernen sozialen Sicherungssysteme mit den Kerninstitutionen der Sicherung gegen die allgemeinen Risiken des Einkommensausfalls (vgl. Alber 1982). Soziale Dienste und Einkommenssicherung unterlagen somit von Anfang an einer unterschiedlichen institutionellen Entwicklungslogik und bildeten zwei getrennte Bereiche des Wohlfahrtsstaates. Von Anfang an spielten neben dem Wohlfahrtsstaat in beiden Bereichen auch andere Akteure eine Rolle. Man kann deshalb die Institutionalisierung sozialer Dienste nicht ohne eine Analyse der sozialen Beziehungen zwischen den auf diesem Gebiet tätigen Akteuren verstehen. Gerade in historischer Betrachtung ist eine solche Erweiterung der Analyseperspektive nötig, denn der Staat schärfte das Profil seiner Rolle im Feld sozialer Dienste erst unter Berücksichtigung dieser anderen Akteure und der Auseinandersetzung mit ihnen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich der für meine Arbeit zentrale konzeptionelle Ansatzpunkt: die Verbindung von institutioneller Analyse mit einer Untersuchung sozialer Akteure. Zunächst zum ersten Aspekt, der institutionellen Analyse. In der aktuellen Reform des Wohlfahrtsstaates gibt es ohne Zweifel in vielen europäischen Ländern Tendenzen, die man auf den ersten Blick als Teil einer umfassenden Privatisierung und Dezentralisierung deuten kann. Allerdings gibt es auch gegenläufige Indizien, die für einen fortgesetzten Ausbau des Wohlfahrtsstaates sprechen. Entscheidend für ein adäquates Urteil über diese Entwicklungen ist aber in jedem Fall eine differenzierte Analyse, in der die einzelnen Elemente dieser Veränderungen in ihrem institutionellen Zusammenhang betrachtet werden. Erst in einer institutionellen Kontextanalyse können die Elemente sozialer Reformen in ihrem Sinn- und Funktionszusammenhang betrachtet und somit der vorherrschende Entwicklungstrend richtig gedeutet werden. Stellt man zum Beispiel bestimmte Elemente im Umbau des Wohlfahrtsstaates, die marktmäßige Steuerungsformen enthalten, in ihren institutionellen Kontext, können sich daraus ganz andere Befunde ergeben, die zu anderen Erklärungen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung führen. Dies kann nur im Rahmen einer auf einen bestimmten Bereich wohlfahrtsstaatlicher Aktivität fokussierten Analyse geschehen. Allgemeine wohlfahrtsstaatliche Ansätze und Theorien helfen hier nicht weiter, denn sie sind zu unspezifisch und institutionenblind (vgl. Giaimo und Manow 1999). Gerade in der jetzigen Phase, in welcher der Umbau der Wohlfahrtsstaaten noch nicht abgeschlossen

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ist, erweisen sich die Instrumente der rein makrosoziologischen Wohlfahrtsstaatsforschung als zu grob, um die Feinheiten der institutionellen Veränderungen zu erfassen. Der typologische Ansatz (vgl. Esping-Andersen 1990; 1999) ist ohne Zweifel wertvoll für eine auf Grundmerkmale konzentrierte, vergleichende Analyse von Wohlfahrtsstaaten, aber völlig ungeeignet für die Erforschung historischer oder aktueller Entwicklungstendenzen. Hier hat der institutionelle Ansatz einen entscheidenden Vorteil. Sein Nachteil liegt allerdings in der begrenzten Reichweite der Ergebnisse, die strenggenommen nur für den jeweils untersuchten Bereich gültig sind. Die institutionelle Analyse wird nun um eine Betrachtung der Akteure erweitert. Dabei geht es nicht um die politics der sozialen Dienste, sondern um die institutionellen Arrangements als Ergebnis wohlfahrtsstaatlicher policies. Nicht politische Entscheidungsprozesse, sondern die Institutionalisierung sozialer Dienste steht im Mittelpunkt meiner Untersuchung. Nur auf dieser Ebene kann die zentrale Frage nach der Veränderung der Rolle des Wohlfahrtsstaates im Feld sozialer Dienste beantwortet werden. Von Bedeutung sind in dieser Hinsicht vier Dimensionen: die Beziehungen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und der Familie, zwischen Staat und Assoziationen (Wohlfahrtsorganisationen), zwischen Staat und lokalen Gemeinschaften (Gemeinden) sowie in jüngerer Zeit auch die Beziehungen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und den im Feld sozialer Dienste tätigen kommerziellen Anbietern (vgl. Alber 1995). Die Entwicklung dieser Beziehungen und die Art und Weise ihrer Institutionalisierung hat die Systeme sozialer Dienste in modernen Wohlfahrtsstaaten historisch entscheidend geprägt. Die Bedeutung von Assoziationen für das Feld sozialer Dienste wird in zwei wissenschaftlichen Diskussionskreisen außerhalb der klassischen Wohlfahrtsstaatsforschung thematisiert: dem Ansatz des Wohlfahrtspluralismus und der Forschung zum Dritten Sektor. Die Produktionsseite von Dienstleistungen steht im Mittelpunkt des Wohlfahrtspluralismus (vgl. Evers und Olk 1996). Die grundlegende Annahme dieses Ansatzes ist, dass die gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion arbeitsteilig in verschiedenen Sektoren erfolgt, die durch eine jeweils spezifische Form gesteuert werden. Unterschieden wird dabei in der Regel zwischen Markt, Staat und Familien (und anderen Primärgruppen). Zwischen diesen drei Polen liegt dann der für den Wohlfahrtspluralismus eigentlich interessante Forschungsgegenstand in Form eines vielgestaltigen assoziativen Sektors, der verschiedene Funktions- und Formelemente kombiniert und somit innerhalb des sozialen Raumes der Wohlfahrtsproduktion unterschiedlich lokalisiert werden kann, je nachdem, ob eine größere Nähe zum staatlichen, marktwirtschaftlichen oder familiären Sektor vorliegt. Während der Wohlfahrtspluralismus somit die Variabilität und Heterogenität des assoziativen Feldes betont, versucht die Forschung über den Dritten Sektor (im Unterschied zu Markt und Staat) die genuin für diesen Bereich zutreffenden Merkmale zu erfassen und einen eigenständigen Sektor der Wohlfahrtsproduktion mit spezifischer Funktionslogik in klarer Abgrenzung zu anderen Sektoren zu definieren (vgl. Salamon und Anheier 1997). Der Wohlfahrtspluralismus interessiert sich vornehmlich für die vielfältige Kombination von Elementen der gesellschaftlichen Wohlfahrtsproduktion, wobei dem assoziativen Feld die Funktion eines Verbindungsraumes zwischen den „polar“ definierten Sektoren Markt, Staat und Familie zukommt. Im Gegensatz dazu zielt die Forschung über den Dritten Sektor auf eine möglichst klare Unterscheidung dieses Bereichs von den anderen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion und auf eine Analyse der Größe und Struktur dieses Sektors im internatio-

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nalen Vergleich. Gemeinsam ist beiden Ansätzen jedoch der Fokus auf die Produktionsseite gesellschaftlicher Güter und Dienste. In dieser Perspektive können soziale Dienste in unterschiedlicher Weise arbeitsteilig produziert werden; das Muster dieser Arbeitsteilung und das daraus hervorgehende Mischungsverhältnis wird dann als Wohlfahrtsmix (welfare mix) bezeichnet. Tatsächlich haben sich empirische Studien zum Wohlfahrtspluralismus vorrangig mit sozialen Diensten beschäftigt, weil sich gerade in diesem Bereich eine Vielfalt von Akteuren bewegt, die in unterschiedlicher Weise zur Dienstleistungsproduktion beiträgt. Innerhalb der Forschung zum Dritten Sektor spielen die sozialen Dienste ebenfalls eine wichtige Rolle, sind jedoch nur ein Arbeitsfeld der voluntary organizations (vgl. Salamon 1995). In beiden Forschungsansätzen spielen die Beziehungen zwischen dem assoziativen Bereich und dem Staat zwar eine wichtige Rolle, aber die Betrachtung konzentriert sich auf die Strukturen des assoziativen Bereichs selbst. Die Wohlfahrtsstaatsforschung hat sich stattdessen meistens auf die Genese und Struktur von Wohlfahrtsregimen gerichtet und aus diesem Grund stets die Beziehungen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und anderen gesellschaftlichen Bereichen im Blick gehabt (vgl. Flora 1986 u.a.; Esping-Andersen 1990; 1999; Kohl 1993). Dieser Unterschied erklärt sich vor allem aus der makrosoziologischen Tradition der Wohlfahrtsstaatsforschung, während sowohl der Wohlfahrtspluralismus als auch die Forschung über den Dritten Sektor ihr Interesse vor allem auf Organisationen und deren Einbindung in die gesellschaftliche Umwelt richten. Der makrosoziologische Blick ist aber gerade in historischen Phasen von Bedeutung, in denen sich die Gewichte zwischen den verschiedenen Bereichen der Wohlfahrtsproduktion verschieben. Eine erste solche historische Phase war der Beginn des Wohlfahrtsstaates und seine Expansion in andere gesellschaftliche Bereiche. In dieser Phase prägten sich unterschiedliche Formen der sozialen Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Akteuren der Wohlfahrtsproduktion aus, die sich in vielfältiger Weise institutionell verfestigten. Eine zweite Phase der Verschiebung hat mit dem Umbau und der Reform des Wohlfahrtsstaates seit den 1980er Jahren eingesetzt. Wiederum geht es in diesem Prozess um eine grundlegende Veränderung in der sozialen Arbeitsteilung, diesmal anscheinend mit umgekehrtem Vorzeichen (vgl. Kuhnle 1998: S. 50): nicht Expansion, sondern der Rückzug des Wohlfahrtsstaates, nicht Standardisierung und Zentralisierung, sondern Flexibilisierung und Dezentralisierung, nicht die Ausdehnung sozialer Rechte, sondern die Individualisierung von Risiken, und nicht Verstaatlichung, sondern Privatisierung geben scheinbar neuerdings die Richtung für diese Veränderungen vor.

Gegenstand der Untersuchung Genau diese Frage soll in der vorliegenden Arbeit für den Bereich sozialer Dienste untersucht werden. Betrachtet werden dabei soziale Dienstleistungen, die sich historisch an der Schnittfläche von Familien, Assoziationen und Gemeinden herausgebildet haben und in die der Wohlfahrtsstaat erst später zu intervenieren begann. Kapitel 1 entwickelt eine Definition und Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes. An dieser Stelle genügt deshalb die Feststellung, dass ich im Rahmen dieser Arbeit soziale Dienste untersuche, die nicht den Gesundheitsleistungen oder der Bildung zugerechnet werden können. Das heißt nicht, dass

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nicht manche soziale Dienste in organisatorischer Hinsicht innerhalb des Gesundheitswesens oder des Bildungssystems erbracht werden können; tatsächlich ist dies häufig der Fall. Doch von ihrem Charakter her und in ihren entscheidenden Merkmalen unterscheiden sich soziale Dienste sowohl von Gesundheitsleistungen als auch von Bildungseinrichtungen (näheres dazu in Kapitel 1). Außerdem kann nicht das gesamte Feld sozialer Dienste abgedeckt werden, zu heterogen und vielfältig sind seine Strukturen und Institutionalisierungsformen. Deshalb konzentriere ich mich auf soziale Dienste für drei Zielgruppen, die allesamt das Potential zu einer weiten Ausdehnung haben und überall den Kern des sozialen Dienstleistungsbereichs bilden: Dienste für Kinder, Dienste für ältere Menschen und Dienste für Behinderte. Bei diesen Zielgruppen liegt in allen Ländern der quantitative Schwerpunkt sozialer Dienste. Eine solche Studie erfordert eine historische Perspektive und die Konzentration auf wenige ausgewählte Fälle (Länder). Die historische Perspektive ist aus zwei Gründen wichtig. Institutionelle und strukturelle Veränderungen können nur in langfristiger Betrachtung angemessen gewürdigt und interpretiert werden; sie entfalten sich in der Zeit. Ebenso kann die historische Betrachtung manche voreiligen Schlüsse über aktuelle Entwicklungen ins rechte Licht setzen und relativieren. Genauso wichtig ist der zweite Grund: die Institutionalisierung sozialer Dienste ist ein historischer Prozess, bei dem institutionelle Vorentscheidungen in früheren Zeiten die institutionellen Verwirklichungschancen alternativer Optionen zu einem späteren Zeitpunkt vorstrukturieren; dieser Aspekt von Institutionalisierungsprozessen wird gemeinhin als „Pfadabhängigkeit“ bezeichnet (vgl. Pierson 2000). Untersucht man aktuelle Veränderungen in historischer Perspektive, stellt sich automatisch die Frage nach der Pfadabhängigkeit der Entwicklung. Pfadabhängigkeit ist jedoch kein unabänderliches Faktum oder gar Schicksal institutioneller Arrangements, im Gegenteil lassen sich besonders in kritischen Perioden („critical junctures“) immer wieder Abweichungen vom einmal eingeschlagenen Pfad konstatieren. In dieser Hinsicht könnte man also das Auftreten institutioneller Innovationen (im Sinne von Pfadabweichungen) als Indiz für eine „kritische Konstellation“ werten. Gehört der aktuelle Umbau der sozialen Dienste im Wohlfahrtsstaat in diese Reihe kritischer Konstellationen? Der Hinweis auf die Pfadabhängigkeit institutioneller Entwicklungen ist aber selbst noch keine Erklärung. Vielmehr müssen zu diesem Zweck die Interessen und Beziehungen zwischen den daran beteiligten Akteuren untersucht werden. Institutionen folgen keiner vorgegebenen Eigenlogik, sondern regeln die Beziehungen zwischen Akteuren. Betrachtet man nun die jüngsten Reformen des Wohlfahrtsstaates aus dieser Perspektive, gibt es zwei alternative Ansatzpunkte. Zum einen die politikwissenschaftliche Analyse von Entscheidungsprozessen quasi im Vorfeld institutioneller Veränderungen (vgl. zum Beispiel Pappi, König und Knoke 1995), zum andern die soziologische Analyse von Veränderungen in den tatsächlichen institutionellen Arrangements des Wohlfahrtsstaates. Die zweite Methode ist zwar im Prinzip „indirekter“, hat aber ihrerseits den Vorteil, im internationalen Vergleich leichter durchführbar zu sein. Darüber hinaus hat sie den unschätzbaren Vorteil einer langfristigen Betrachtungsmöglichkeit institutioneller Entwicklungsprozesse. Somit könnte man aus den ex-post festgestellten Veränderungen in den sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren in einem institutionalisierten Feld indirekt auf die Interessen- und Entscheidungskonstellationen zwischen den Akteuren schließen. Das ist jedoch gar nicht meine Absicht. Entscheidend für mich ist vielmehr die Frage, ob und wie sich die Rolle des Wohl-

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fahrtsstaates im Feld sozialer Dienste durch die jüngsten Reformen in langfristiger Perspektive verändert hat. Ist der Wohlfahrtsstaat in dieser Hinsicht „aktiver“ oder „passiver“ geworden? Eine feldbezogene institutionelle Analyse über längere Zeit ist immer nur für wenige Fälle und Bereiche zu leisten. Umso wichtiger ist die Auswahl guter Vergleichsfälle. Aufgrund der Fragestellung bietet sich eine kleine Zahl ähnlich entwickelter westeuropäischer Wohlfahrtsstaaten an, die tatsächlich in neuerer Zeit grundlegende Reformen ihrer sozialen Dienstleistungssysteme durchgeführt haben. Die Länder sollten sich auch in Größe und wirtschaftlicher Entwicklung nicht sehr voneinander unterscheiden, weil von diesen Größen ein unerwünschter Einfluss auf die soziale Dienstleistungsinfrastruktur erwartet werden kann. Ebenso sollte der Wohlfahrtsstaat in den Vergleichsländern auf einem ähnlich hohen Entwicklungsstand sein, um weitere unerwünschte Niveaueffekte auszuschließen. Allein diese Kriterien engen den Kreis der potentiellen Vergleichskandidaten ein. Wünschenswert wäre darüber hinaus eine Variation in den vermuteten „unabhängigen“ Variablen, die hier untersucht werden sollen: die Beziehungen zwischen Wohlfahrtsstaat, Familien, Assoziationen und dem Markt. Natürlich setzt ein institutioneller und historischer Vergleich auch immer eine gewisse Kenntnis der allgemeinen Strukturmerkmale und Entwicklungen in den untersuchten Ländern von Seiten des Forschers voraus. Nimmt man diese Bedingungen zum Maßstab, kann man meines Erachtens die von mir getroffene Auswahl der Vergleichsländer gut begründen. Ich untersuche in meiner Arbeit die Entwicklung und Reform der sozialen Dienste in Deutschland, England und Wales und in Frankreich. Eine genauere Begründung für diese Auswahl und eine allgemeine Charakterisierung dieser drei Länder wird in Kapitel 2 gegeben. Nur soviel vorweg: in allen drei Ländern sind in den 1980er und 1990er Jahren grundlegende Reformen der sozialen Dienstleistungssysteme durchgeführt worden und die Beziehungen zwischen den Akteuren im Feld sozialer Dienste variieren. In Deutschland finden wir eine hoch entwickelte und weitgehend in den öffentlichen Sektor eingebundene freie Wohlfahrt, in Frankreich dominiert der Staat neben einem weniger starken freien Sektor der Wohlfahrtsproduktion, in England und Wales spielen öffentliche und kommerzielle Anbieter eine größere Rolle (vgl. Bauer und Thränhardt 1987; Eichhorn 1996; Bahle und Pfenning 2001). In Bezug auf die Dimension zentral-dezentral sind die drei Länder ebenfalls unterschiedlich strukturiert: in England und Wales spielen die Gemeinden eine zentrale Rolle im System sozialer Dienste, in Frankreich der Staat und die Sozialversicherung, in Deutschland daneben vor allem auch die Länder. Auch im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Staat und Familie gibt es große Unterschiede: in Frankreich finden wir eine historisch hoch entwickelte aktive Familienpolitik, in Deutschland eine davon abweichende Vorstellung von Subsidiarität und in England und Wales dominiert ein liberales Grundverständnis der „non-intervention“ in die Familie (vgl. Bahle 1995; 2003). Diese Variationen sollten genügen, um eine möglichst vielfältige Basis für die Untersuchung meiner Fragestellung zu bilden. Wenn man in diesen verschieden strukturierten Ländern gemeinsame Entwicklungen im Hinblick auf die Rolle des Wohlfahrtsstaates im System sozialer Dienste feststellen kann, wäre dies ein starkes Indiz für oder gegen die allgemeine These vom Rückzug des Staates. Dann hätten wir es in der Tat mit einer allgemeinen Problemkonstellation zu tun, die sehr stark in eine bestimmte Richtung drängt. Sollten in dieser Hinsicht jedoch Unterschiede zwischen den Ländern feststellbar sein, müssten diese

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ebenfalls im Rahmen desselben institutionellen Ansatzes zu erklären sein. Im institutionellen Ansatz stehen sich dabei das Postulat der Pfadabhängigkeit und die Idee der sozialen Innovation gegenüber. Lassen sich Unterschiede zwischen den Ländern im Sinne einer institutionellen Pfadabhängigkeit erklären oder im Gegenteil durch das Auftreten institutioneller Innovationen, die gerade die alten Strukturen zu überwinden trachten? Und wenn soziale Innovationen auftreten, welche Akteure werden dadurch gestärkt und welche geschwächt? Bei dieser Aufgabe stehen fünf Elemente der Institutionalisierung sozialer Dienste im Mittelpunkt, die von folgenden Grundfragen ausgehen (vgl. Lepsius 1990 für den allgemeinen Ansatz): x x x x x

Inwiefern sind soziale Dienste als öffentliche Aufgabe anerkannt? Welche Akteure spielen eine Rolle und wie sind ihre Beziehungen zueinander geregelt? Wer bietet Dienste an, und wer finanziert diese? Wie werden sie reguliert und kontrolliert? Auf welche Ziele sind sie gerichtet, und wie werden sie legitimiert?

Ein Rückzug des Staates oder ein Umbau des Wohlfahrtsstaates in Richtung auf Dezentralisierung, Privatisierung und zunehmenden Wohlfahrtspluralismus müsste sich in mindestens einer, am besten in mehreren Dimensionen beobachten lassen, um die erste These zu bestätigen. Eine endgültige Einschätzung gewinnt man jedoch erst dann, wenn man die Funktionsweise des institutionalisierten Systems insgesamt und die Rolle betrachtet, die der Staat darin spielt. Die Situation vor den Reformen sollte sich dabei erheblich vom neuen System unterscheiden, damit überhaupt von einer wesentlichen institutionellen Veränderung gesprochen werden kann. Darüber hinaus sollte der internationale Vergleich Ursachen und Wirkungen dieser Veränderungen in unterschiedlichen sozialen, politischen und institutionellen Kontexten erfassen (vgl. dazu und im folgenden Starr 1989; 1990; Smith 2000; Kaufmann, Majone und Ostrom 1991; Kamerman und Kahn 1989). Ein Rückzug des Staates müsste sich zum Beispiel in folgender Weise bemerkbar machen: Ein weitgehender Rückzug läge vor, wenn soziale Dienste weniger als zuvor als öffentliche Aufgabe betrachtet würden, das Risiko somit privatisiert werden würde (Dimension 1). Eine weniger weitgehende Form eines partiellen Rückzugs des Wohlfahrtsstaates aus den sozialen Diensten würden vorliegen, wenn der Staat die Akteure in diesem Bereich weniger regulieren und ihre Beziehungen zueinander offen lassen würde, mithin den Gemeinden oder freien Wohlfahrtsorganisationen einen größeren Spielraum in der Art und Weise der Aufgabenerfüllung und Arbeitsteilung einräumen würde (Dimension 2). Darüber hinaus kann sich der Staat als Eigenanbieter sozialer Dienste zurückziehen und/oder seinen Finanzierungsanteil zurückschrauben (Dimension 3). Denkbar ist auch eine Verminderung staatlicher Aufsicht und Kontrolle über die angebotenen Dienstleistungen, die stärker als zuvor den Mechanismen von Angebot und Nachfrage unterworfen oder ins Ermessen freier Träger gestellt werden könnten (Dimension 4). Ein im Hinblick auf die Institutionalisierung sozialer Dienste entscheidender Rückzug läge vor allem dann vor, wenn soziale Ziele der Dienstleistungsversorgung verworfen werden würden oder wenn ihre Legitimität nicht mehr anerkannt würde (Dimension 5).

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Auch Privatisierung kann verschiedene Formen annehmen, je nachdem, welche der oben genannten Dimensionen davon betroffen wären. Eine Privatisierung im strengen Sinn läge dann vor, wenn das Risiko der Abhängigkeit von oder des Bedarfs an sozialen Diensten in bestimmten Lebenslagen tatsächlich privatisiert wäre, mithin soziale Sicherungen in diesem Bereich abgebaut würden. Privatisiert werden können vor allem auch Angebot und Finanzierung sozialer Dienste. Hier sind jedoch unterschiedliche Formen und Grade der Privatisierung voneinander zu unterscheiden. Zum einen kann der Staat innerhalb seines öffentlichen Systems mehr private, d.h. gemeinnützige oder kommerzielle Anbieter zulassen bzw. diese stärker darin einbinden. Dies wäre eine begrenzte Form der Privatisierung innerhalb eines grundsätzlich öffentlichen Dienstleistungssystems. Zum andern kann der Staat privaten Anbietern auch weite Bereiche in Eigenverantwortung und Selbststeuerung überlassen. In diesem Fall einer weitergehenden Form der Privatisierung würden die klassischen Mechanismen des Marktes stärker zur Geltung kommen. Privatisierung kann aber auch noch etwas ganz anderes bedeuten, nämlich eine Verschiebung der Verantwortung für bestimmte soziale Aufgaben auf die Familie. Hier ist besondere Vorsicht geboten, wenn man bestimmte staatliche Maßnahmen im Hinblick auf ihren Privatisierungsaspekt beurteilen will. Kann man zum Beispiel von einem Schritt zur Privatisierung sprechen, wenn der Staat bestimmte soziale Aufgaben explizit der Familie zuweist und diese dafür unterstützt, zum Beispiel in Form von Geldzahlungen oder steuerlichen Ermäßigungen? Wenn es dabei zum Beispiel darum geht, dass der Staat eine Aufgabe, die ohnehin meist in der Familie erbracht wird, anerkennt und fördert, könnte man darin auch einen ersten wichtigen Schritt zur öffentlichen Anerkennung und damit staatlichen Regulierung dieses Bereichs sehen. Die Übertragung bestimmter sozialer Aufgaben auf die Familie bedeutet somit keineswegs in jedem Fall eine „Privatisierung“, je nach Kontext kann sich dahinter auch die umgekehrte Entwicklung verbergen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Staat damit versucht, die Familie in eine bestimmte Form der sozialen Arbeitsteilung einzubeziehen, in der die Rolle anderer Akteure ebenfalls festgelegt wird. Dann muss man vom Versuch der umfassenderen Institutionalisierung einer bestimmten sozialen Aufgabe durch den Staat unter Einbeziehung aller relevanten Akteure sprechen, und somit nicht von einer Privatisierung, sondern einer stärkeren Sozialisierung und sozialen Kontrolle durch den Wohlfahrtsstaat. Einer der in Studien zum Umbau des Wohlfahrtsstaates meistgenannten Aspekte der sogenannten Privatisierung betrifft die Frage der Finanzierung sozialer Dienste. Auf den ersten Blick scheint klar, dass eine Verminderung staatlicher Finanzierung mit einer stärkeren Privatisierung verbunden ist. Doch auch hier ist Vorsicht vor vorschnellen Interpretationen geboten. In jedem Fall muss dabei der institutionelle Kontext betrachtet werden. Zunächst muss klar zwischen einer Verminderung des staatlichen Finanzierungsanteils in einem Dienstleistungssektor und einem Absinken der realen Finanzzuweisungen unterschieden werden. Nur wenn beide Indikatoren zutreffen, ist eindeutig von einer Verlagerung der Kosten zugunsten des Staates auszugehen. Zum Beispiel kann der staatliche Finanzierungsanteil sinken, wenn ein Dienstleistungsbereich expandiert und die Leistungen anderer Finanzquellen stärker steigen als die des Staates. Dennoch kann man angesichts der tatsächlichen Zunahme öffentlicher Finanzierung und des Ausbaus der sozialen Infrastruktur in diesem Falle schwerlich von einer Tendenz zur Privatisierung sprechen. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass die Abnahme der realen staatlichen Finanzströme in einem abnehmenden Dienstleistungsmarkt nicht mit einem Rückzug des Staates verwechselt werden darf, wenn

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der Finanzierungsanteil des Staates gleich hoch bleibt oder gar steigt. In diesem Fall sollte man genau die Gründe für die Veränderung beachten. Zum einen können Dienstleistungen von einem Sektor auf einen anderen verschoben werden; ein Abbau stationärer Pflegeleistungen in einem hoch entwickelten System zugunsten ambulanter Dienste stellt deshalb keinen Rückzug des Staates dar. Zum andern kann der Bedarf an bestimmten sozialen Dienstleistungen auch aus externen Gründen absolut sinken, etwa wenn die Zahl der Kinder aus demographischen Gründen zurückgeht und ein gut ausgebautes System der Kinderbetreuung reduziert werden kann. Doch neben diesen eher methodischen Überlegungen legen andere Gesichtspunkte Vorsicht bei diesem scheinbar so klaren Indikator öffentlicher Finanzierung nahe. Der Staat kann seinen direkten Finanzierungsanteil an der Erfüllung bestimmter sozialer Aufgaben reduzieren, indem er Kosten von einem Bereich des öffentlichen Haushalts (den allgemeinen Staatsausgaben) auf andere Bereiche überträgt (zum Beispiel auf Sozialversicherungen oder andere öffentliche Kassen). Ob damit der Staatsanteil an der Finanzierung tatsächlich gesunken ist, ist zumindest genauer zu untersuchen. Ein Beispiel liefert etwa die deutsche Pflegeversicherung, mit der ein völlig neues Finanzierungsinstrument in Form einer klassischen Sozialversicherung geschaffen wurde. Zugleich wurden die entsprechenden Ausgaben der Krankenversicherungen und insbesondere der Sozialhilfe deutlich reduziert. In der komplizierten deutschen Finanzverfassung mit ihren komplexen Verschachtelungen von Bundes-, Landes- und Kommunalhaushalten und den vielfältigen Verflechtungen zwischen den unterschiedlichen Zweigen der Sozialversicherung erfordert eine Aussage über veränderte öffentliche Finanzierungsanteile eine sehr differenzierte Analyse. Privatisierung kann also ganz unterschiedliches bedeuten, je nachdem welche Dimension der Institutionalisierung sozialer Dienste betrachtet wird. Viel wichtiger ist jedoch, dass eine solche Analyse unterschiedlicher Formen der Privatisierung stets in den institutionellen Gesamtzusammenhang eingebunden bleiben muss. Tatsächlich kann eine tatsächliche Privatisierung der Finanzierung und des Angebots an sozialen Diensten mit einer Zunahme staatlicher Steuerung und Kontrolle einhergehen oder eine stärkere Einbindung der Familie wird durch eine Zunahme öffentlicher Finanzierung unterstützt. Eine Privatisierung sozialer Dienste in einer oder mehreren Dimensionen ist also stets in ihrem institutionellen Gesamtzusammenhang zu betrachten. Tatsächlich kann sie Teil einer umfassenden Strategie zur Stärkung der Rolle des Wohlfahrtsstaates sein. Nicht minder komplex ist der Aspekt der Dezentralisierung, der neben der Privatisierung oft als zweiter wichtiger Trend in den Reformen zum Umbau des Wohlfahrtsstaates genannt wird. Dezentralisierung bedeutet zunächst nichts anderes als Abbau übergeordneter staatlicher Regelungen und finanzieller Mittel bei gleichzeitiger Verlagerung von Verantwortung auf die dezentrale Ebene von Verwaltung und Politik. Dezentralisierung ist mithin klar von Privatisierung zu unterscheiden, obwohl sie in der Realität damit verbunden sein kann. Dezentralisierung kann sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor stattfinden. Hier soll zunächst nur der öffentliche Sektor betrachtet werden, also vor allem die Beziehungen zwischen Zentralstaat, Regionen und Gemeinden. Ein kompletter Rückzug des Wohlfahrtsstaates würde bedeuten, dass die Verantwortung für den Bereich der sozialen Dienste allein bei den Gemeinden liegen würde. Sie müssten entscheiden, ob und in welcher Form sie solche Dienste regulieren, anbieten oder finanzieren. Ebenso wären Art und Umfang der zu leistenden Dienste dezentral geregelt. In dem

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Maße, in dem der Wohlfahrtsstaat in diese Aspekte und Dimensionen der Institutionalisierung eingreift, wird die dezentrale Verantwortung durch zentrale Regulierung überwölbt. Als Indiz für eine weitgehende Dezentralisierung wird häufig die sogenannte Übertragung wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben an die Gemeinden betrachtet. Sehr oft jedoch ist diese Form der Dezentralisierung nicht mit einem Rückzug des Staates, sondern mit einem hohen Maß an Regulierung verbunden. Im Extremfall sind die Gemeinden nicht viel mehr als die lokalen Erfüllungsgehilfen wohlfahrtsstaatlicher Interventionen; am deutlichsten ist dies in der Sozialhilfe zu sehen. In diesem Fall wenden die Gemeinden Bundesgesetze an, die ihnen lediglich einen kleinen Ermessensspielraum lassen. Anders liegt der Fall, wenn der Zentralstaat die Gemeinden zur Erfüllung bestimmter sozialer Aufgaben verpflichtet, ihnen jedoch in der Durchführung wenig Vorschriften macht. Dennoch würde man auch in diesem Fall zögern, von einer starken Dezentralisierung zu sprechen, ist es doch der Zentralstaat, welcher Pflichtaufgaben für die Gemeinden festlegt, die vorher vielleicht rein freiwillig erfüllt wurden. Noch enger wird der Spielraum für die Gemeinden, wenn sie für die Erfüllung dieser Aufgaben bestimmte, begrenzte Mittel zugewiesen bekommen, über deren Verwendung sie gegenüber dem Staat zur Rechenschaft verpflichtet sind. Darüber hinaus können auch Art und Umfang der zu erbringenden Dienste festgelegt sein oder die Art der Zusammenarbeit von Gemeinden, freien Trägern und kommerziellen Anbietern auf dem lokalen Dienstleistungsmarkt. Von entscheidender Bedeutung ist deshalb, ob die Dezentralisierung, sofern man von einer solchen sprechen kann, sich in erster Linie auf die Verwaltung und Durchführung bestimmter wohlfahrtsstaatlicher Leistungen richtet oder ob sie auch politisch durchschlägt. Geht es um reine Verwaltungsangelegenheiten, so werden zwar die Beziehungen zwischen (zentralem) Wohlfahrtsstaat und Gemeinden in der Durchführung sozialer Aufgaben neu geregelt, im Kern jedoch ist die politische Zuständigkeit weiterhin zentralisiert und alle wesentlichen Entscheidungen, die das System und die Regelungen insgesamt betreffen, werden nach wie vor auf dieser Ebene gefällt, auch wenn die Anwendung im Einzelfall lokalen Instanzen übertragen wird. Politische Dezentralisierung würde demgegenüber bedeuten, dass die lokale Ebene selbst Ziele und Regeln des Systems bestimmen kann. Die entscheidende Frage im Zusammenhang mit der Dezentralisierung ist somit nicht, wer die Mittel verwaltet, sondern wer sie aufbringt und ihren Einsatz reglementiert und kontrolliert; nicht, wer die Dienste als solche erbringt, sondern wer die Leistungen bestimmt, mit anderen Worten: wer die Kompetenz zur Institutionalisierung besitzt und damit die Regeln des Systems festlegt. Zugegeben ist dies eine sehr zugespitzte Betrachtung von Dezentralisierung, sie ist jedoch notwendig, um den Charakter wichtiger institutioneller Veränderungen im System sozialer Dienste richtig zu erfassen und den Vollzug bestimmter Verwaltungsmaßnahmen nicht mit einem generellen Rückzug oder Abbau des Wohlfahrtstaates zu verwechseln. Auch der Begriff des Wohlfahrtspluralismus hat eine schillernde Bedeutung, die vor der empirischen Analyse geklärt werden muss. Ursprünglich bedeutet Wohlfahrtspluralismus, dass unterschiedliche Instanzen soziale Aufgaben arbeitsteilig erfüllen. Familien, freie Wohlfahrtsorganisationen, kommerzielle Anbieter, Gemeinden und der Wohlfahrtsstaat teilen sich das Feld sozialer Dienste. Doch meist ist mit diesem Begriff mehr gemeint als die schlichte empirische Feststellung, dass soziale Dienste zu unterschiedlichen Anteilen von diesen verschiedenen Leistungsträgern erbracht werden. Vor allem ist damit die Vorstellung verbunden, dass es wesentliche Unterschiede in der Aufgabenerfüllung zwischen

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diesen verschiedenen Instanzen gibt. Familie, Staat, Gemeinden, gemeinnützige Organisationen und kommerzielle Unternehmen folgen unterschiedlichen Handlungslogiken und übernehmen deshalb auch unterschiedliche Aufgaben innerhalb des arbeitsteiligen Gesamtsystems. Darüber hinaus wird jedoch auch angenommen, dass sich die von den jeweiligen Instanzen erbrachten Dienste selbst im Falle ihrer prinzipiellen Substituierbarkeit grundsätzlich oder zumindest weitgehend voneinander unterscheiden. Insbesondere die Beziehung zwischen Anbietern und Klienten unterliegen verschiedenen Handlungslogiken und Mustern (vgl. Evers und Olk 1996). Der Klient tritt dabei in verschiedenen Rollen auf: in Bezug auf die Familie ist er Teil einer primären Solidargemeinschaft, die auf Reziprozität gründet; im Hinblick auf freie Verbände ist er als deren Klient Teil einer größeren Gemeinschaft, die sich zum einen über religiöse, politische oder weltanschauliche Gemeinsamkeiten oder über Mitgliedschaft in funktional differenzierten Gruppen herstellt; in bezug auf kommerzielle Anbieter ist er Kunde auf einem Dienstleistungsmarkt, der Produkte und Preise rational vergleicht und sich für das beste Angebot entscheidet; in Beziehung zum Staat schließlich ist er entweder Untertan, der bestimmten Pflichten und Gesetzen unterliegt, und/oder mit einer Reihe von sozialen Rechten ausgestatteter Bürger. Es ist offensichtlich, dass diese Vorstellungen von den jeweiligen Rollenmustern kaum in idealtypischer Reinform anzutreffen sind. Übersehen wird dabei nämlich zweierlei. Zum einen gibt es in einem hoch institutionalisierten und arbeitsteilig aufgebauten Dienstleistungssystem keine rein dyadischen sozialen Beziehungen zwischen Nachfragern und verschiedenen Anbietern, sondern jede dyadische Beziehung ist Teil eines umfassenderen Systems sozialer Beziehungen. Die Beziehungen zwischen den Akteuren sind somit interdependent. Zum zweiten unterliegen diese Beziehungen einem hohen Maß an Regulierung und Kontrolle, das heißt, sie sind in hohem Grade institutionalisiert. Dies erschließt sich jedoch erst dann der Betrachtung, wenn die Funktionsweise des Systems in seinen Interdependenzen betrachtet wird, anstatt sich auf einzelne Beziehungen zwischen Akteuren zu konzentrieren. Ein weiterer im Zusammenhang mit dem Wohlfahrtspluralismus stehender Aspekt betrifft die große Bedeutung, die dabei der Vielfalt und dem Wettbewerb unterschiedlicher Konzepte und Ideen im Dienstleistungssektor beigemessen wird, mithin die zentrale Rolle von Differenzierung und Innovation. Im Unterschied zu ökonomisch ausgerichteten Marktanalysen, die sich auf Kosten und Preise für relativ homogene Produkte beziehen, betont der Wohlfahrtspluralismus die Bedeutung unterschiedlicher Handlungslogiken und Ziele, mithin auch verschiedener Konzepte und Ideen in der Dienstleistungsproduktion, die weniger als Tausch denn als Interaktion verstanden wird. Dabei müssen jedoch Träger- und Leistungs- bzw. Produktvielfalt streng auseinander gehalten werden, um Fehlschlüsse zu vermeiden und den behaupteten Zusammenhang nicht einfach von vornherein zu postulieren. Historisch gesehen mag ein solcher Zusammenhang weitgehend bestanden haben, ob er aber in der heutigen Zeit mit ihren hoch integrierten und institutionalisierten Systemen sozialer Dienste noch in dieser Stärke festzustellen ist darf bezweifelt werden. Die zunehmende wohlfahrtsstaatliche Regulierung und Kontrolle hat gerade auch im Feld sozialer Dienste zu einem hohen Maß an Standardisierung von Leistungen und zu einer hohen Gleichförmigkeit der Ergebnisse geführt, welche die Bedeutung der Trägerstruktur sozialer Dienste erheblich vermindert hat. Dennoch wird in manchen Studien in der Tat eine zunehmende Mischung von Anbietern immer wieder mit einer steigenden Vielfalt des Angebots gleichgesetzt. Zahlreiche Indizien weisen jedoch gerade in die umgekehrte Richtung

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eines immer mehr integrierten und institutionalisierten Systems, in dem Nischen für alternative Angebote verschwinden und der Kostenwettbewerb zwischen uniformen Leistungspaketen den Wettbewerb durch Produktvielfalt immer mehr in den Hintergrund drängt. Die erste Form des Wettbewerbs prämiert denjenigen, der das System finanziert; die zweite denjenigen, der die Leistungen erhält. Da in fast allen modernen Dienstleistungssystemen die Rolle des Finanziers von der Rolle des Konsumenten getrennt ist, mithin meist der Staat die eine und der Klient die andere Rolle übernimmt, ist es vor allem der Staat, welcher von den Vorzügen dieser Form des Wettbewerbs am meisten profitiert. Überspritzt könnte man sagen, in den modernen Dienstleistungssystemen wird der Markt so institutionalisiert, dass er den staatlichen Interessen dient und die Klienten ihrer Wahlfreiheit beraubt. Eine andere Frage ist, inwieweit diese Veränderungen ihre Ziele erreicht und welche Konsequenzen sie hervorgebracht haben. Waren sie dazu geeignet, die steigende und sich ausdifferenzierende Nachfrage nach sozialen Diensten angesichts knapper Ressourcen zu befriedigen? Wurden durch sie die Grenzen des Wohlfahrtsstaates neu gezogen? Konnten die Steuerungs- und Kontrollprobleme gelöst werden, ohne den Wohlfahrtsstaat politisch, administrativ und finanziell zu überfordern? Diese Fragen sollen im letzten Kapitel aufgegriffen werden, zunächst sollen jedoch die Veränderungen in ihrem jeweiligen institutionellen Kontext untersucht werden. Was sind die gemeinsamen Entwicklungen in den drei Ländern unseres Vergleichs und worin unterscheiden sie sich?

Aufbau der Arbeit In Kapitel 1 wird der Begriff der sozialen Dienste für die Zwecke dieser Arbeit definiert. Dabei geht es zum einen um eine Bestimmung der spezifischen Merkmale sozialer Dienste im Unterschied zu anderen Dienstleistungen, zum andern um eine Abgrenzung gegenüber den Wohlfahrtsbereichen Gesundheit und Bildung. Allerdings müssen die vielfältigen historischen und im internationalen Vergleich variierenden institutionellen Verbindungen und Trennlinien zwischen den sozialen Diensten, dem Gesundheitssystem und dem Bildungswesen berücksichtigt werden. Außerdem wird in Kapitel 1 das Konzept der Institutionalisierung vorgestellt und auf den Bereich der sozialen Dienste angewendet. Es werden dabei Dimensionen und Kriterien für den Grad und die Form der Institutionalisierung sozialer Dienste entwickelt, die eine Meßlatte für die folgende empirische Analyse im Ländervergleich bilden. Kapitel 1 thematisiert ebenso das Konzept der Wohlfahrtsproduktion in Verbindung zur komparativen Wohlfahrtsstaatsforschung. Dieser Teil liefert die Grundlage für die Analyse der Akteure im Feld sozialer Dienste und ihrer Beziehungen. Kapitel 2 vergleicht die westeuropäischen Länder empirisch im Hinblick auf die Angebotsstruktur sozialer Dienste. Ausmaß und Form der sozialen Dienste für Kinder und ältere Menschen stehen im Mittelpunkt. Über soziale Dienste für Behinderte liegen dagegen leider nur wenige vergleichende Daten vor. Außerdem werden die verschiedenen Formen ambulanter, stationärer und teilstationärer Dienste vorgestellt und für die Zielgruppen Kinder, ältere Menschen und Behinderte spezifiziert. Dieses „Inventar“ sozialer Dienstleistungen bildet die Grundlage für die empirisch-quantitative Untersuchung des sozialen Dienstleistungsangebots in den folgenden Kapiteln. In Kapitel 2 werden auch die Anbieterstrukturen sozialer Dienste im westeuropäischen Vergleich analysiert. Dabei werden wie in der

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einschlägigen Forschung drei Typen von Anbietern unterschieden: öffentliche, freie (gemeinnützige) und privat-kommerzielle Träger. Es wird dabei unterstellt, dass sich die historischen Ursprünge und Funktionsweisen dieser verschiedenen Organisationsformen in charakteristischer Weise voneinander unterscheiden, wobei sich hinter den jeweiligen Typen sehr verschiedene konkrete Organisationen verbergen können. Im öffentlichen Sektor gibt es zum Beispiel große Unterschiede zwischen lokalen und anderen Anbietern, im privatkommerziellen Sektor variiert die Organisationsform von großen kapitalstarken Unternehmen bis hin zu kleinen selbständig Erwerbstätigen. Die größte Variation findet sich aber innerhalb des freien, gemeinnützigen Sektors. Hierunter fallen einerseits große, landesweit organisierte Verbände der freien Wohlfahrt, andererseits kleine, lokale Initiativen und Gruppen. Die europäischen Länder unterscheiden sich nicht nur in der Verteilung der Dienstleistungsangebote auf die drei großen Sektoren, sondern auch im Hinblick auf die interne Struktur der jeweiligen Sektoren. Ziel des in Kapitel 2 angestrebten gesamteuropäischen Vergleichs sozialer Dienste, der sich jedoch mangels vergleichender Daten nicht auf alle Aspekte gleichermaßen anwenden lässt, ist die komparative Lokalisierung unserer drei Vergleichsländer Deutschland, England und Wales und Frankreich. Die Kapitel 3, 4 und 5 behandeln die Entwicklung der sozialen Dienste für Kinder, alte Menschen und Behinderte in England und Wales (Kapitel 3), Frankreich (Kapitel 4) und Deutschland (Kapitel 5). Die Länderkapitel sind mit kleinen Ausnahmen, die auf spezifische Entwicklungen in einzelnen Ländern eingehen, in gleicher Weise aufgebaut. Zunächst wird der Begriff der sozialen Dienste in Bezug auf das jeweilige Land spezifiziert. Gleichzeitig wird ein Überblick über das nationale soziale Dienstleistungssystem gegeben. Es folgt ein kurzer Abriss der historischen Entwicklung der sozialen Dienste hinsichtlich ihrer institutionellen Organisationsform und Trägerlandschaft. Die empirisch-quantitative und institutionelle Analyse der Entwicklung sozialer Dienste erfolgt für die drei Zielgruppen in getrennten Abschnitten. Dabei wird auf die Besonderheiten in jedem dieser Bereiche eingegangen, es werden aber auch bereichsübergreifende Gemeinsamkeiten erörtert. Die Analyse in diesen Abschnitten ist in jeweils drei Teile gegliedert: Entwicklungen vor den neueren grundlegenden Reformen, die Inhalte dieser Reformen und schließlich die strukturellen Entwicklungen nach den Reformen. Damit sollen Kontinuitätslinien oder Brüche in der Entwicklung sozialer Dienste über die Reformen hinweg festgestellt werden. Die Zeitperiode, die dabei betrachtet wird, variiert etwas von Land zu Land und von Bereich zu Bereich. Im Prinzip umfasst die Analyse aber die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahr 2000, mit einigen punktuellen historischen Rückgriffen und mit teilweise noch aktuelleren Daten. Den Abschluss jedes Länderkapitels bildet eine zusammenfassende, bereichsübergreifende Betrachtung der neueren Reformen in den sozialen Dienstleistungssystemen und ihrer Auswirkungen auf die strukturelle und institutionelle Entwicklung sozialer Dienste. Im Mittelpunkt steht dabei die Rolle des Wohlfahrtsstaates. Kapitel 6 fasst die Ergebnisse der Länderkapitel in vergleichender Perspektive zusammen. Dabei werden die zentralen Strukturmerkmale sozialer Dienste vor und nach den grundlegenden Reformen der 1980er und 1990er Jahre miteinander verglichen. Kern des Kapitels ist eine vergleichende Analyse der Reformen unter institutionellen Gesichtspunkten. Darin werden die Analysefäden der Studie, die zu Beginn aufgespannt wurden, zusammengeführt. Im Mittelpunkt der Betrachtung in Kapitel 6 steht die veränderte Institutionalisierung sozialer Dienste. Damit wird die Frage nach der veränderten Rolle des Wohl-

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fahrtsstaates im Feld sozialer Dienste beantwortet. Die Beantwortung dieser Frage bildet den Abschluss des Kapitels, zusammen mit einer Analyse der in dieser Hinsicht wichtigsten Unterschiede zwischen den Ländern. Zuletzt wird somit auch die Frage nach der Pfadabhängigkeit oder sozialen Innovation im Bereich sozialer Dienste beantwortet. Die Ergebnisse dieser Studie können nur Geltung für die hier untersuchten Länder und Bereiche des Wohlfahrtsstaates beanspruchen. Man kann daraus jedoch auch einige vorsichtige Spekulationen über die Konsequenzen dieser Entwicklung für den Wohlfahrtsstaat insgesamt ableiten. Dieser Aufgabe widmet sich der Ausblick am Schluss der Arbeit. Die Ergebnisse können zumindest für ein breites Variationsspektrum von Organisationsformen sozialer Dienste gelten, denn die drei Vergleichsländer repräsentieren sehr unterschiedliche Muster der Institutionalisierung. Einige Entwicklungslinien im Bereich sozialer Dienste münden darüber hinaus in einen breiteren Strom von Trends, der die entwickelten Wohlfahrtsstaaten in Europa generell kennzeichnet. Diese Prozesse hängen ihrerseits mit umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen zusammen, die zumeist unter dem Schlagwort der „Dienstleistungsgesellschaft“ oder der postindustriellen Gesellschaft geführt werden. Hradil (2004) weist zwar zu Recht darauf hin, dass diese Schlagworte nicht genügend berücksichtigen, inwieweit die neuen Elemente der Gesellschaftsstruktur auf der Grundlage der industriellen Errungenschaften aufbauen. Insofern überzeichnen sie die Dramatik des Wandels, aber ohne Zweifel beginnen sich überall die Beziehungen zwischen den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen und der Arbeitswelt zu lösen, die als zentrales Erbe der Industriegesellschaft für den Wohlfahrtsstaat betrachtet werden können (vgl. Alber 2002). Die sozialen Dienste spielen in dieser Hinsicht eine Pionierrolle, auch deshalb, weil sie niemals eng mit den Erwerbsstrukturen verbunden waren. Insofern könnten die Sicherungsformen, die sich heute in diesem Bereich ausprägen, durchaus modellgebend für andere Bereiche des Wohlfahrtsstaates sein. Wie Kaufmann in seiner Theorie des Wohlfahrtsstaates (1999; 2001) betont, hängen soziale Dienste sehr viel mehr mit dem Wandel von Familienstrukturen, der Rolle der Familie in der Gesellschaft und assoziativen Strukturen zusammen als mit der Arbeitswelt. Die Rolle des Staates war deshalb in diesem Bereich von vornherein anders beschaffen als in der sozialen Sicherung. Nicht Klassenkonflikte und Statussicherung, sondern Kooperation zwischen Akteuren und das Ziel der Gleichheit haben die sozialen Dienste langfristig geprägt. Auf dieser Grundlage könnte es dem Wohlfahrtsstaat gelingen, eine neue institutionelle Basis für das gegenwärtige Jahrhundert zu finden.

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Einleitung Soziale Dienste sind ein heterogener und organisatorisch vielfach differenzierter Bereich des Wohlfahrtsstaates. Sie haben weder einen gemeinsamen historischen Ursprung noch sind sie institutionell in hohem Maße integriert. Einige Bereiche wie die Armen- und Altenpflege in stationären Einrichtungen haben zwar eine lange Geschichte, die in die Zeit vor Beginn der sozialen Sicherungssysteme in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zurückreicht, andere Dienste wie die ambulante Altenpflege oder die Erziehungsberatung sind dagegen neueren Datums und wurden vielfach erst seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts institutionalisiert. Insgesamt hat sich das Feld der sozialen Dienste seither erweitert und differenziert. Im Vergleich dazu haben sich die monetären Sozialleistungen kontinuierlicher und im Rahmen einer zunehmenden organisatorischen Integration entwickelt. Das Wachstum der Kernbereiche des Wohlfahrtsstaates war an eine Standardisierung von Risiken, Lebensläufen und Leistungssystemen geknüpft, soziale Dienste blieben hingegen bis in die 1960er Jahre hinein bis auf wenige Ausnahmen wenig standardisiert und institutionell schwach integriert (vgl. Braun und Johne 1993; Johne 1993). Die geringere institutionelle Integration sozialer Dienste zeigt sich vor allem darin, dass sich bis vor kurzem keine zentralen Institutionen herausgebildet haben, die den Rentenoder Gesundheitssystemen vergleichbar gewesen wären. Soziale Dienste wurden und werden innerhalb verschiedener Institutionen des Wohlfahrtsstaates erbracht. Die Zuordnung einzelner sozialer Dienstleistungen zu bestimmten Institutionen lässt sich dabei meist nicht systematisch, sondern historisch erklären. Von größter Bedeutung sind hierbei drei Bereiche des Wohlfahrtsstaates: das Armenwesen, das Gesundheitssystem und der Bildungsbereich. Die älteren Formen sozialer Dienste entstanden in diesen drei Bereichen. Daneben entwickelte sich in den meisten Ländern ein kommunales System vielfältiger sozialer Dienstleistungen, die aber lediglich durch ihre lokale Verankerung miteinander verbunden waren. Dies war der historische Kern der modernen Sozialarbeit mit ihrem multifunktionalen Dienstleistungsangebot. Im Rahmen des städtischen Armenwesens entstanden die ersten stationären und ambulanten Einrichtungen zur Betreuung und Pflege bedürftiger Personen, insbesondere Alter und Kranker. Im Zuge der Entwicklung öffentlicher Gesundheitssysteme und staatlicher Krankenversicherungen entstand ein spezialisierter Bereich von Diensten, der auf breite Kreise der Bevölkerung ausgedehnt wurde. Vielfach übernahmen die Einrichtungen des Gesundheitssystems Pflege- und Betreuungsaufgaben für alte, behinderte und kranke Menschen. Die Betreuung von Kindern war in den meisten Ländern zunächst als Teil der Armenfürsorge im Bereich lokaler Sozialpolitik angesiedelt. Doch mit Einführung der Schulpflicht und der Entwicklung staatlicher Bildungssysteme entstanden in einigen Ländern Vorschulen, die dem Bildungsbereich zugeordnet wurden. Andere Länder bauten ihre Einrichtungen innerhalb des kommunalen Sozialwesens aus und schufen damit die Grundlage für die heutigen, vielfach differenzierten lokalen Dienste.

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Von Anfang an spielten die Gemeinden in den meisten Ländern eine zentrale Rolle für soziale Dienstleistungen. Auch hier finden sich Parallelen zu den Anfängen der heutigen sozialen Sicherungssysteme. Vielfach waren Kranken-, Sterbe- und Pensionsversicherungen sowie die Arbeitslosenversicherung zunächst auf kommunaler (oder genossenschaftlicher) Basis eingeführt worden, bevor sie durch den Wohlfahrtsstaat national vereinheitlicht wurden. Eine solche Entwicklung zu wohlfahrtsstaatlicher Zentralisierung blieb im Bereich sozialer Dienste allerdings aus. Eine weitere historische Parallele zwischen sozialen Diensten und den sozialen Sicherungssystemen findet sich in der ursprünglich freiwilligen, nichtstaatlichen Organisation dieser Leistungen. Während im Bereich sozialer Sicherheit neben den Kommunen vor allem Arbeitgeber und Gewerkschaften aktiv waren, waren es im Bereich sozialer Dienste neben den Kommunen vor allem die Kirchen sowie religiös und philanthropisch motivierte Gruppen und Organisationen. Die soziale Sicherheit wurde jedoch in den meisten Ländern im Zuge der Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates ‚verstaatlicht’, während die sozialen Dienste weit mehr durch nichtöffentliche Träger und freiwillig erbrachte Leistungen geprägt blieben. Im Gegensatz zur sozialen Sicherheit blieben also im Bereich sozialer Dienste – mit den wichtigen Ausnahmen von Bildung und Gesundheit – dezentrale und vorstaatliche Strukturen und Akteure lange Zeit maßgebend. Dies sind auch die wesentlichen Gründe dafür, weshalb der Grad der Institutionalisierung sozialer Dienste deutlich geringer entwickelt war. Der Wohlfahrtsstaat griff in diesen Bereich weniger und später ein als in die (monetäre) Sicherung der Lebensrisiken Alter, Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Soziale Dienste sind in verschiedenen Ländern in unterschiedlichen institutionellen Kontexten angesiedelt. Zudem sind sie häufig nicht-staatlich organisiert, unterliegen aber meist in irgendeiner Form staatlicher Regulierung und Kontrolle. Daraus ergeben sich für die Definition sozialer Dienste in einer vergleichenden Untersuchung zwei Schlussfolgerungen: sie muss zum einen von sozialen Diensten als sozialen Handlungen ausgehen, die in unterschiedlichen institutionellen und organisatorischen Kontexten verankert sein können; zum andern muss sie den Wohlfahrtsstaat im Kontext eines komplexen Feldes sozialer Beziehungen betrachten, in dem verschiedene staatliche und nicht-staatliche Akteure interagieren. Nur in Verbindung dieser beiden Perspektiven lässt sich die Institutionalisierung sozialer Dienste im Ländervergleich erforschen.

Elemente einer soziologischen Definition sozialer Dienste Soziale Dienste werden deshalb in dieser Arbeit als soziale Dienstleistungen verstanden, die einen bestimmten Typ sozialer Handlungen bilden und im Rahmen verschiedener institutioneller und organisatorischer Kontexte in spezifischer Art und Weise erbracht werden. Soziale Dienstleistungen sind primär soziale Handlungen, die durch bestimmte gemeinsame Merkmale gekennzeichnet sind. Als soziale Dienstleistungen sollen im folgenden solche sozialen Handlungen gelten, die als persönliche Dienstleistungen im Rahmen institutionalisierter sozialer Beziehungen zu dem Zweck erbracht werden, die soziale Handlungskompetenz der Leistungsempfänger zu erhalten, zu verbessern oder diese im Falle einer dauerhaften Einschränkung durch geeignete Handlungen zu kompensieren. Diese Definition enthält drei Elemente, die einer Erläuterung bedürfen. Zunächst gehören die sozialen Dienste zur Untergruppe von Dienstleistungen, die man als persönliche Dienstleistungen bezeichnet. Es

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handelt sich also um Dienstleistungen am Menschen, die in direkter sozialer Interaktion zwischen Anbieter und Empfänger der Leistung erbracht werden (vgl. Badura und Gross 1976; Bauer 2001; Kaufmann 2001). Zum zweiten sind soziale Dienste in dem Sinne institutionalisiert, weil sie von einer dritten Partei, in der Regel einer öffentlichen Instanz, geregelt sind und somit im Rahmen einer sozialen Beziehung dauerhaft erbracht werden. Drittens schließlich sind soziale Dienste im Unterschied zu medizinischen oder ausbildenden Dienstleistungen durch ihr spezifisches Ziel definiert, das darin besteht, die soziale Handlungskompetenz des Dienstleistungsempfängers zu stärken oder in gewissem Maße zu kompensieren, wenn diese dauerhaft beeinträchtigt ist. Zur sozialen Handlungskompetenz können all diejenigen Fähigkeiten gezählt werden, die eine Person im Rahmen eines bestimmten sozialen Umfeldes dazu befähigen, als vollwertiges Mitglied einer Gesellschaft gelten und handeln zu können. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die betreffende Person auch dazu in der Lage sein muss, diese Handlungskompetenzen tatsächlich umzusetzen. Soziale Dienste können also sowohl auf die Verbesserung von Handlungskompetenzen als auch auf eine Unterstützung ihrer Umsetzung im Alltag gerichtet sein. Diese drei Definitionselemente sollen im folgenden näher erläutert werden. Das erste Element reiht soziale Dienstleistungen in die Gruppe der persönlichen Dienstleistungen ein. Darunter sind Dienstleistungen zu verstehen, die am Menschen erbracht werden, im Unterschied zu Dienstleistungen, die für die Produktion und Verteilung von Gütern oder an sachlichen Objekten durchgeführt werden. Eine soziale Dienstleistung, wie die Pflege eines Menschen, unterscheidet sich darin zum Beispiel von Forschung und Entwicklung, Finanzdienstleistungen, Transport von Gütern oder Reinigen eines Gebäudes. Wesentliches Merkmal sozialer Dienstleistungen ist somit die unmittelbare Interaktion zwischen Erbringer und Empfänger der Leistung. Jedoch gehören in diesem Sinne auch Dienstleistungen wie Haare schneiden oder Prostitution zu den persönlichen Dienstleistungen, obwohl sie in den meisten Fällen sicherlich nicht als soziale Dienstleistungen gelten können. Deshalb müssen die sozialen Dienste aus der Gesamtheit der persönlichen Dienstleistungen durch weitere Merkmale spezifiziert werden (vgl. Badura und Gross, 1976). Zweites Element der Definition ist die Institutionalisierung der sozialen Dienstleistungen in einer sozialen Beziehung, die in der Regel durch eine dritte Partei neben dem Erbringer und dem Empfänger der Dienstleistung erfolgt. Eine solche Institutionalisierung setzt ein gewisses öffentliches Interesse an der Dienstleistung voraus, die durch verschiedene Instanzen wahrgenommen werden kann. Im historischen Rückblick waren dies meist die Kirchen, die Kommunen, philanthropische Vereinigungen und schließlich der moderne Wohlfahrtsstaat. Institutionalisierung impliziert ihrerseits eine gewisse Regelmäßigkeit und Dauerhaftigkeit der Dienstleistungserbringung, setzt also an bestimmten strukturellen Risiken und Problemlagen an, die über situationsbedingte individuelle Bedürfnisse hinausgehen. Öffentliches Interesse, Regulierung und Dauerhaftigkeit unterscheiden die meisten sozialen Dienste von persönlichen Dienstleistungen wie Haare schneiden oder Prostitution. Jedoch können diese in einem bestimmten sozialen Kontext durchaus Elemente einer sozialen Dienstleistungsbeziehung sein, etwa wenn die Haare im Rahmen einer umfassenderen häuslichen Pflege geschnitten werden oder „Liebesdienste“ als Teil einer sozialpädagogischen Maßnahme eingesetzt werden. Deshalb kann dieses Kriterium nur eine gewisse Familienähnlichkeit sozialer Dienste sicherstellen; es ist in jedem Fall darauf zu achten, in welchem sozialen Kontext eine bestimmte ‚einzelne’ Dienstleistung erbracht wird und mit welchem Ziel dies geschieht.

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Ziel und Zweck sozialer Dienste sind das dritte Definitionskriterium. In die Gruppe öffentlich institutionalisierter persönlicher Dienstleistungen fallen nämlich mit Sicherheit auch zwei Kernbereiche des Wohlfahrtsstaates: das Bildungs- und das Gesundheitswesen. Es ist der Sinn und der Zweck des Handelns, der die sozialen Dienste von diesen unterscheidet. Der zentrale Sinn des Bildungssystems besteht darin, individuelles und kollektives Humankapital zu bilden und individuelle Lebenschancen zu verteilen. Im Mittelpunkt steht die Vermittlung kognitiver Fähigkeiten und kulturell spezifischen Wissens. Das Gesundheitssystem bezieht sich primär auf die physische Beschaffenheit des Menschen und seine körperlich-geistige Funktionalität. Soziale Dienste beziehen sich dagegen primär auf die persönlich-soziale Rolle eines Menschen in der Gesellschaft. Diese Unterscheidung schließt selbstverständlich nicht aus, dass es soziale Dienstleistungen gibt, die im Bildungs- oder Gesundheitswesen erbracht werden oder umgekehrt; vielmehr ist gerade das ein wesentliches Faktum in der historischen Entwicklung sozialer Dienste. Genauso wenig soll diese Unterscheidung bedeuten, dass es im Einzelfall stets eine klare faktische Trennung von zum Beispiel Gesundheits- und sozialen Diensten gibt. In manchen Bereichen, wie der häuslichen Pflege, ist gerade das Gegenteil der Fall. Hier werden in der Regel (einfache) medizinische und soziale Dienstleistungen zusammen erbracht. Dennoch lassen sich soziale Dienste als bestimmte soziale Handlungen in den meisten Fällen sehr gut ihrem Sinn nach von ausbildenden und medizinischen Dienstleistungen unterscheiden.

Funktionale Abgrenzung sozialer Dienste In keinem Land bilden soziale Dienste eine institutionelle Einheit. Das Feld der sozialen Dienste ist vielfach differenziert, seine Ränder fließen in andere institutionelle Bereiche des Wohlfahrtsstaates hinein. Da die „internen“ Differenzierungslinien und institutionellen Überlappungen mit anderen Bereichen außerdem von Land zu Land variieren, muss der internationale Vergleich zunächst inhaltlich definierte Kriterien sozialer Dienste festlegen, bevor die institutionellen Formen im einzelnen untersucht werden. In dieser Arbeit stehen soziale Dienste für Kinder und alte Menschen im Mittelpunkt (vgl. Tabelle 1). Die Tabelle unterscheidet soziale Dienste zunächst nach ihrer primären Funktion, die den Inhalt der Dienstleistung bestimmt (Zeilen), und zweitens nach dem Ort ihrer Erbringung (Spalten). Die Kernfunktionen sozialer Dienste sind Pflegen, Betreuen und Unterstützen beziehungsweise Hilfen zur Bewältigung des Alltags (vgl. Kahn und Kamerman 1976; Munday 1992; Munday und Ely 1995). Hierzu gehören Dienste zur Unterstützung der Haushaltsführung, der Mobilität und der Sicherstellung der Verpflegung. Größere und von Land zu Land variierende Überschneidungen mit anderen Bereichen des Wohlfahrtsstaates gibt es bei den anderen in Übersicht 1 enthaltenen inhaltlichen Funktionen sozialer Dienste. Heilen und Pflegen überschneiden sich mit den Einrichtungen des Gesundheitswesens. Solche Dienste wurden und werden zum großen Teil noch heute im Gesundheitswesen erbracht. Dienste mit ausgeprägtem Wohncharakter überschneiden und verbinden sich mit der jeweiligen Wohnungspolitik, zum Beispiel im sozialen Wohnungsbau oder der Wohnungsbauförderung. Die Funktion Erziehung ist größtenteils im Bildungswesen angesiedelt, bei Kindern im Vorschulalter gibt es jedoch große Überschneidungen mit sozialen Einrichtungen. In einigen Ländern sind Erziehungs- und Betreuungsfunktion in dieser Altersgruppe kaum auseinander zu halten. In zweiter Linie kann man soziale Dienste nach dem Ort

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ihrer Erbringung differenzieren. Hierbei ist zwischen stationären und teilstationären Einrichtungen, Tageseinrichtungen und ambulanten Diensten zu unterscheiden. Nicht in dieser Übersicht erfasst sind soziale Dienste, die weniger stark standardisiert sind und/oder nicht an einen festen Ort gebunden sind. Dazu gehört in erster Linie die klassische „multifunktionale“ und „offene“ Sozialarbeit, die von ihrem Grundverständnis her weder auf bestimmte Funktionen spezialisiert ist noch regelmäßig an einem festgelegten Ort stattfindet. Tabelle 1: Typologie sozialer Dienste Funktion

Stationär

Teilstationär

Tageseinrichtung

Ambulant

Heilen

Krankenhaus

Offene Psychiatrie

Pflegen Wohnen

Pflegeheim Altenheim Kinderheim

Dialysezentren Krebszentren Tagespflege -

Betreuen

Hospize

Erziehen

Erziehungsheim

Beraten Haushalt

(enthalten)

Nachtpflege Betreutes Wohnen Wohngemeinschaften Obdachlosenunterkunft Urlaubsbetreuung Altenzentren Behindertenzentren Kinderkrippe Offene Jugendheime Vorschule, Kindergarten Beratungszentren (zum Teil enthalten) -

Medizinischer Dienst Pflege -

Mobilität

-

-

Verpflegung (enthalten)

(zum Teil enthalten)

Ausflugsdienste Spazierdienste Suppenküchen Kantinen

Tagesmütter Betreuer Erzieher Beratung zuhause Haushaltshilfen: - Putzhilfen - Wäsche - Einkaufshilfen - Kochdienste Fahrdienste Essen auf Rädern

Anmerkung: Hinzu kommen „unstandardisierte“ Dienste wie Sozialarbeit etc. Einzelfallbezogene Hilfen in besondern Lagen ohne feste örtliche Zuordnung, z.B. Stadtteilarbeit, Jugendarbeit, Hilfe für Strafentlassene, Drogenopfer etc. Kursivschrift: in allen EU-Ländern anzutreffende Dienste für Alte und Kinder (Kerneinrichtungen dieser Studie). (Quelle: Pacolet 2000). Hinzu kommt Differenzierung nach Zielgruppen, institutionellen Nachbarbereichen etc.

Soziale Dienste für ältere Menschen finden sich mit Ausnahme des Feldes der Erziehung in allen Bereichen, konzentrieren sich jedoch in funktionaler Hinsicht auf die Bereiche Pflegen, Wohnen und unterstützende Dienste. Hinsichtlich des Ortes der Erbringung konzentrieren sich soziale Dienste für ältere Menschen auf den stationären und den ambulanten Bereich, während teilstationäre Angebote und Tageseinrichtungen lediglich ergänzenden Charakter haben und nicht in allen Ländern in großem Umfang anzutreffen sind. Zentrale Institutionen sind somit einerseits Pflege- und Altenheime, andererseits ambulante Pflegedienste und Haushaltshilfen verschiedener Art einschließlich Essen auf Rädern. Diese Einrichtungen finden sich in allen Ländern der EU (vgl. Schulte 1996).

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Zwar ist das Feld der Altenhilfe nicht in allen Ländern institutionell integriert, aber es lassen sich doch drei allgemeine Entwicklungen beobachten. Zunächst findet eine zunehmende funktionale Trennung zwischen Gesundheits- und Sozialwesen statt. Wurde die stationäre Altenpflege bis vor kurzem noch häufig in Krankenhäusern erbracht, wird sie seit einigen Jahren zunehmend in spezielle Pflege- und in Altenheime ausgelagert. Innerhalb des Gesundheitswesens bilden sich zugleich immer mehr spezialisierte geriatrische Zentren und Abteilungen heraus, die jedoch keine dauerhaften Pflegedienste erbringen. Man kann also von einer zunehmenden funktionalen Spezialisierung des Gesundheitswesens auf den Aspekt der Heilung und einer entsprechenden Integration der Pflege in den sozialen Bereich sprechen. Zugleich wird der Sozialbereich stärker verknüpft: Pflege, Wohnen und Betreuung werden miteinander verbunden und institutionell integriert. Die zweite wesentliche Entwicklung betrifft den starken Ausbau der ambulanten und unterstützenden sozialen Dienste für ältere Menschen, ein Feld, das gegenüber dem stationären Sektor in vielen Ländern lange Zeit unterentwickelt war. Ambulante Pflegedienste und Haushaltshilfen haben in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen (vgl. Alber und Schölkopf 1999; Alber, Guillemard und Walker 1993). Zunehmend werden diese Dienste auch mit stationären und teilstationären Dienstleistungsformen verzahnt. Neben der funktionalen Spezialisierung findet somit auch eine größere institutionelle Integration des Bereichs der Altenhilfe statt. Hinzu kommt eine dritte wichtige Entwicklung: die Herausbildung meist neuerer Formen der Kurzzeit- und Tagespflege sowie neuer Formen des betreuten Wohnens, in denen Betreuung und Pflege sowie zahlreiche unterstützende Dienstleistungen flexibel integriert sind. Dies könnte man als eine zunehmende Binnendifferenzierung des Feldes der sozialen Dienste für ältere Menschen beschreiben. Zwar gibt es nach wie vor große Unterschiede zwischen den westeuropäischen Ländern, aber der allgemeine Trend geht deutlich in Richtung auf eine zunehmende funktionale Spezialisierung, eine größere institutionelle Integration und eine wachsende Binnendifferenzierung der sozialen Dienste für ältere Menschen. Vorangetrieben wird dieser Prozess durch neue Formen wohlfahrtsstaatlicher Finanzierung und Steuerung sozialer Dienste (siehe Kapitel 3, 4 und 5). Soziale Dienste für Kinder konzentrieren sich auf die funktionalen Bereiche Betreuen und Erziehen, in Einzelfällen ergänzt um Wohnen und Unterbringung. Diese Funktionen werden zumeist in Tageseinrichtungen erbracht, in manchen Ländern finden sich auch in stärkerem Maße ambulante Formen der Dienstleistungserbringung. Die zentralen Institutionen sind hier Kinderkrippen, Vorschulen und Kindergärten, die in ähnlicher Form in allen EU-Ländern anzutreffen sind (vgl. European Commission 1996). Tagesmütter und häusliche Betreuungsdienste sind hingegen nur in einigen Ländern fest institutionalisiert und wohlfahrtsstaatlich finanziert, während sie auf dem grauen Markt natürlich überall anzutreffen sind. In besonderen Fällen treten Kinderheime und zum Beispiel Unterbringung in Pflegefamilien hinzu, dies betrifft jedoch nur eine kleine Minderheit und besondere Gruppe von Kindern. Darüber hinaus findet sich in den meisten Ländern ein Netz von Beratungseinrichtungen, die sich vor allem an Eltern von Kindern mit sozialen und psychologischen Problemen richten. Ein Grossteil der sozialen Dienste für Kinder und Jugendliche wird außerdem im Rahmen der klassischen Sozialarbeit erbracht, die als übergreifende, stark auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Form sozialer Dienste nicht zum Kern unserer Analyse hoch standardisierter sozialer Dienste gehört. Auch im Bereich der sozialen Dienste für Kinder lassen sich drei zentrale Entwicklungen beobachten, die zu einer stärkeren Institutionalisierung dieses Feldes beitragen. Zum

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einen werden die Grenzen zwischen den verschiedenen Einrichtungsformen durchlässiger; Betreuungs- und Erziehungsaspekte vermischen sich stärker unter der Überschrift „Sozialisation“. So sind zwar Vorschulen in einigen Ländern immer noch stärker durch erzieherische Elemente geprägt, mit der verbreiteten Öffnung dieser Einrichtungen für Kinder unter vier und teilweise sogar unter drei Jahren finden jedoch auch spielerische und betreuende Aspekte zunehmend Eingang in diese Einrichtungen. Umgekehrt finden sich zum Beispiel in Kindergärten auch zunehmend Elemente, die einer besseren Vorbereitung auf die Schule dienen und den ursprünglich eher auf Spiel ausgerichteten Charakter dieser Einrichtungen durch erzieherische und „bildende“ Funktionen ergänzen. Von zentraler Bedeutung ist jedoch ein ganz anderer, übergreifender und sozusagen gesellschaftspolitischer Aspekt dieser Einrichtungen, der zunehmend in den Mittelpunkt rückt: das Problem der sozialen Integration von Kindern in die Gesellschaft. Zu dieser Entwicklung haben vor allem drei sozialstrukturelle Veränderungen wesentlich beigetragen. Familien verlieren zunehmend ihre soziale Bindekraft und müssen daher durch andere Sozialisationsinstanzen ergänzt werden. Hinzu kommt, dass immer mehr Kinder in einer Umgebung ohne gleichaltrige Kinder aufwachsen, sei es als Einzelkinder oder sei es in Wohngegenden, in denen Kontakt zu Gleichaltrigen schwieriger wird. Kindergärten und Vorschulen erfüllen somit in immer größerem Ausmaß die wichtige Funktion, Kinder unter ihresgleichen zu sozialisieren und sie aus einer zu engen Bindung an Erwachsene zu lösen. Die dritte sozialstrukturelle Veränderung, welche die Sozialisation von Kindern im Vorschulalter immer stärker zu einer gesellschaftspolitischen Aufgabe ersten Ranges erhoben hat, ist die Immigration. Die soziale Integration von Einwandererkindern ist eine wesentliche Aufgabe dieser Einrichtungen. In Frankreich zum Beispiel wird stets mit gewissem Stolz auf diesen Charakter der Vorschulen verwiesen. Die soziale Integration von Kindern im Vorschulalter, vor allem der Erwerb der französischen Sprache, gelingt tatsächlich recht gut, auch wenn die soziale Integration Jugendlicher aus anderen Gründen oft scheitert. Auch in Deutschland wird die Rolle der Kindergärten als wichtigen Einrichtungen der sozialen Integration von Minderheiten und Immigranten zunehmend betont. Zum Beispiel verlangt das Bundesland Hessen seit kurzem von Kindern ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, bevor sie eingeschult werden können, eine Fähigkeit, die in vielen Immigrantenfamilien zumeist nur im Kindergarten erworben werden kann. Die zweite zentrale Entwicklung dieses Feldes betrifft den Ausbau von ambulanten Betreuungsdiensten, zum Beispiel Tagesmüttern, und ergänzenden sozialen Dienstleistungen, welche die Kernaufgaben und Kernstrukturen der bestehenden Einrichtungen der Tagesbetreuung in wichtigen Teilen ergänzen, zum Beispiel durch Betreuungsangebote außerhalb der Kernzeiten oder durch das Angebot einer warmen Mahlzeit. Alle diese Angebote zielen auf die Erfüllung einer dritten wesentlichen Funktion dieser Einrichtungen, die in den letzten Jahren ebenfalls stärker in den Mittelpunkt gerückt ist: die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Eltern von Kindern im Vorschulund Grundschulalter. Auch im Feld der sozialen Dienste für Kinder lässt sich somit eine zunehmende Binnendifferenzierung des Angebots und eine größere institutionelle Integration und Verzahnung der verschiedenen Angebote beobachten, deutliche Hinweise auf eine wachsende eigenständige Institutionalisierung dieses Bereichs. Allerdings ist dieses Feld zumeist (noch) weniger integriert als die Altenhilfe, weil wesentliche institutionelle Neuerungen, die über eine Rahmengesetzgebung wie im Kinder- und Jugendhilferecht hinausgehen würden, bisher nicht eingeführt wurden. Hier zeigt sich der Bereich der Altenhilfe als der in den letzten Jahren wesentlich innovativere Teil der sozialen Dienste.

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Organisation und soziale Kontrolle sozialer Dienste Die Akteure, die soziale Dienste erbringen und anbieten, lassen sich im wesentlichen vier verschiedenen Typen zuordnen: Familien (und andere Primärgruppen), freie Wohlfahrtsorganisationen (wozu auch Organisationen der Selbsthilfe von Klienten gehören), kommerzielle Anbieter (einschließlich der auf eigene Rechnung tätigen Selbständigen) und Gemeinden (und andere lokale Einrichtungen). Daneben kann der Wohlfahrtsstaat selbst Dienste vor Ort einrichten und durch eigenes Personal betreiben, was jedoch im Gegensatz zum Gesundheits- oder Bildungswesen selten der Fall ist . Die eigentliche Bedeutung des Wohlfahrtsstaates im Bereich sozialer Dienste liegt in seiner Rolle als Finanzierungs-, Regelungs- und Kontrollinstanz begründet, womit er ein öffentliches System sozialer Dienste überhaupt erst schafft und institutionalisiert. Informelle Hilfe und Unterstützung in der Familie geschieht von jeher, ohne dass man von Institutionalisierung sprechen könnte. Genauso boten die freien Wohlfahrtsorganisationen zahlreiche Hilfen an, die zunächst durch keine öffentliche Regulierung erfasst waren. Auch einen kommerziellen Markt für bestimmte Dienstleistungen hat es wohl zu allen Zeiten gegeben. Von einer Institutionalisierung im hier gemeinten Sinn kann man jedoch erst sprechen, wenn es in einem bestimmten Bereich sozialer Dienste zu einer gewissen Integration der Akteure und zu einer Regelung ihrer Beziehungen untereinander sowie ihres Verhältnisses zu den Klienten gekommen ist. Dies geschieht in der Regel durch wohlfahrtsstaatliche Interventionen, die allerdings verschiedene Ansatzpunkte haben können. In dieser Hinsicht besitzt der Wohlfahrtsstaat zwei konstitutive Merkmale: er greift in die gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion und deren Verteilung ein und schafft soziale Rechte für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Ausgehend von Tabelle 1 kann man den verschiedenen Akteuren idealtypische Aktivitätsprofile zuordnen, die jedoch je nach den institutionellen Gegebenheiten von Land zu Land variieren können. Die Familie findet ihr klassisches Betätigungsfeld im Kern sozialer Dienste, im Wohnen, Pflegen und Betreuen von Familienangehörigen. Heilen und Erziehen sind dagegen Handlungsfelder, deren Nähe zum Gesundheits- und zum Sozialwesen einem größeren Einfluss außerfamiliärer, zumeist professioneller Anbieter unterliegen. Hier spielt auch der öffentliche Sektor eine wichtige Rolle. Beratung und die in Tabelle 1 nicht erfasste klassische Sozialarbeit finden dagegen prinzipiell außerhalb von Familien statt. Die Angebote der anderen Akteure kann man nun modellhaft als Unterstützung oder als teilweise oder vollständige Ersetzung von normalerweise in der Familie erbrachten Diensten auffassen. Dies kann man zum einen als einen dynamischen Vorgang in Stufen betrachten, in dem zunächst ambulante und teilstationäre Angebote greifen und am Ende stationäre Einrichtungen stehen. In dieser Vorstellung wird die Familie also sozusagen schrittweise „entlastet“. Zum andern können diese Angebote auch als Formen betrachtet werden, welche die familiären Dienstleistungen von Anfang an begleiten, unterstützen oder ersetzen können. Nimmt man die Vorstellung von einem stufenförmig ablaufenden Prozess zum Ausgangspunkt, stehen neben der Familie zunächst die ambulanten Dienste im Vordergrund, welche die Familien zuhause bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen. Der Blick auf die historische Entwicklung zeigt jedoch, dass diese Vorstellung einer idealtypischen Stufenfolge sozialer Dienste, die sich am individuellen Lebenslauf orientiert, keinesfalls der Wirklichkeit entspricht. Denn lange bevor ambulante Dienste in nennenswertem Umfang aufgebaut wurden, gab es stationäre Einrichtungen wie Anstalten und Heime, die alte, kranke und

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behinderte Menschen aufnahmen und versorgten. Die Geschichte sozialer Dienste war somit zunächst vor allem eine Geschichte des Aufbaus von geschlossenen Institutionen. Das Stufenmodell kommt jedoch den heutigen Vorstellungen von einer adäquaten Versorgung mit sozialen Diensten sehr nahe und repräsentiert somit das heute in den meisten Ländern gültige Paradigma. Ihrer Funktionslogik nach müssen ambulante soziale Dienste zur Unterstützung der Familie stets auf lokaler Ebene, ja auf einer relativ kleinräumigen Basis, angeboten und organisiert werden. Sie setzen somit eine lokale Präsenz der jeweiligen Anbieter voraus. Deshalb können die Gemeinden zunächst als idealtypischer Erbringer dieser Art von Sozialdiensten betrachtet werden, zu denen vor allem die ambulante Pflege und die vielfältigen unterstützenden Haushaltshilfen gehören. Die Gemeinden können als einzige lokale Akteure eine ausreichende Infrastruktur dieser Dienste sicherstellen. Daneben können freie Vereinigungen eine große Rolle spielen, sofern sie eine starke lokale Präsenz ausgebildet haben und somit zumindest regional an die Seite der Gemeinden treten können. Kommerzielle Anbieter werden in diesem Dienstleistungssegment so lange keine wichtige Rolle spielen, so lange die Finanzierung dieser Dienste nicht gesichert ist. Der lokale Markt einfacher sozialer Dienste ist großen Restriktionen unterworfen, nur wenige Angebote sind tatsächlich im kommerziellen Sinn „marktfähig“ und somit interessant für gewinnorientierte Anbieter. Eine Ausnahme bilden natürlich von jeher die kleinen, selbständig tätigen Haushaltshilfen und Tagesmütter, die sich auf dem meist grauen Markt für haushaltsnahe Dienstleistungen tummeln. Diese können jedoch nicht zum Kern des bestimmten Regeln unterworfenen institutionalisierten sozialen Dienstleistungssystems gerechnet werden, sondern bilden vielmehr dessen „graue“ Alternative und Ergänzung. Im Gegensatz zu den haushaltsnahen ambulanten sozialen Diensten setzt der Betrieb von Tageseinrichtungen und teilstationären Angeboten ein größeres Kapital und entsprechende Investitionen voraus. Das Angebot erfolgt auch nicht so kleinräumig wie im Fall der ambulanten Dienste. Zwar überwiegt auch in diesem Segment noch die Bedeutung der lokalen Ebene, ist jedoch nicht mehr so ausgeprägt wie bei den ambulanten Diensten. Dabei muss man sicherlich zwischen den verschiedenen Zielgruppen unterscheiden. Einrichtungen für Kinder werden stärker dezentralisiert sein als Angebote für ältere Menschen, und diese wiederum stärker als Einrichtungen für Behinderte. Dennoch setzen alle diese Einrichtungen voraus, dass sie von den Klienten bequem und kostengünstig erreicht werden können. Auch hier spielen somit die Städte und Gemeinden eine wichtige Rolle, aber andere Akteure treten hinzu. Zunächst die über den Gemeinden angesiedelten Gebietskörperschaften wie Kreise, départements oder counties, die eine etwas weiträumigere Versorgung mit entsprechenden Einrichtungen garantieren können. Außerdem finden hier unter Umständen freie und kommerzielle Anbieter ein Betätigungsfeld, sofern sie über eine ausreichende Kapitalbasis verfügen und bestimmte Produkte „marktfähig“ sind. Dies trifft für bestimmte Bereiche sicherlich zu. Insbesondere Kinderbetreuung für die arbeitende Mittelschicht kann für kommerzielle Anbieter durchaus lukrativ sein. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die entsprechenden subventionierten Angebote freier und öffentlicher Träger den Markt nicht von vornherein stark einschränken und unattraktiv machen. Da Tageszentren und teilstationäre Einrichtungen in vielen Fällen für die Betroffenen und ihre Familien keinen unausweichlichen Bedarf decken, sondern lediglich eine wichtige Ergänzung zu häuslichen und/oder stationären Angeboten liefern, werden diese auch nicht bereit sein, in jedem Fall kostendeckende Preise zu bezahlen. Dieses Segment, das sicherlich für die Dienstleistungsversorgung insgesamt von zunehmender Bedeutung ist, lebt also zum gro-

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ßen Teil von öffentlicher Subventionierung und ist deshalb für freie und/oder kommerzielle Anbieter nur dann interessant, wenn sie öffentliche Mittel erhalten und somit selbst zu Bestandteilen des öffentlichen Systems werden. Anders verhält es sich mit den stationären Angeboten. Diese gehören historisch betrachtet zum Kern des öffentlichen Dienstleistungssystems, waren aber auch von jeher für kommerzielle Anbieter besonders interessant. Dies liegt an drei Eigenschaften dieses Segments, die es deutlich von anderen Angeboten unterscheiden. Zunächst ist der Versorgungsbereich eher regional denn lokal, was die Rolle der Gemeinden von vornherein begrenzt. Staat und Länder spielen hier eine schon aus funktionalen Gesichtspunkten einleuchtende größere Rolle. Zum zweiten erfordern diese Angebote einen erheblichen Kapitalbedarf für Investitionen und erzeugen ebenfalls zumeist hohe Betriebskosten. Hinzu kommt eine zunehmende Professionalisierung, mit der die Schaffung eines relativ kontinuierlichen Personalbestands mit tariflicher Bezahlung zusammenhängt. In vielen Tageseinrichtungen, mit Ausnahme der Vorschulen, spielen zum Beispiel Aushilfskräfte oder ehrenamtlich tätige Personen eine wichtige Rolle; bei den häuslichen Diensten ist von einem erheblichen Anteil an ungelerntem Personal auf einem grauen Markt auszugehen. Stärkere Zentralisierung, Professionalisierung und erhöhter Kapitalbedarf prägen dagegen den stationären Sektor. Dieser wird in viel stärkerem Maße wie ein öffentlicher Betrieb oder wie ein kommerzielles Unternehmen geführt. Öffentliches Dienstrecht und unternehmerisches Handeln wirken auf diesen Sektor, der somit als die eigentliche Domäne öffentlicher oder kommerzieller Anbieter anzusehen ist. Freie Anbieter haben nur dann eine Chance, wenn sie öffentlich subventioniert werden oder mit einem qualitativ hochwertigen Angebot mit den kommerziellen Unternehmen mithalten können. Die Finanzierung des stationären Sektors verschlingt erhebliche Summen, die zum großen Teil durch staatliche Budgets und die Sozialversicherungen gedeckt werden. Hinzu treten private Ausgaben der Klienten in erheblichem Ausmaß. Diese Strukturmerkmale und der durch die stationäre Unterbringung bedingte dauerhafte Bedarf an Dienstleitungen seitens der Klienten macht dieses Segment für kommerzielle Anbieter besonders attraktiv. Die zumeist fest institutionalisierte Finanzierung und die Kontinuität der Dienstleistung bilden eine ideale Kalkulationsgrundlage für das eingebachte Kapital. Kommerzielle Anbieter können somit sowohl auf einem durch öffentliche Finanzierung subventionierten Markt als auch auf einem überwiegend durch private Gelder finanzierten Markt ihre Organisationsvorteile nutzen und den Markt an wichtigen Stellen „besetzen“.

Der Wohlfahrtsstaat als Regulierungsinstanz Dieses idealtypische Tableau der Tätigkeitsprofile der verschiedenen Anbieter erfährt nun in jedem Land gewisse systematische Abweichungen, die durch die jeweilige Institutionalisierung des Feldes der sozialen Dienste durch den Wohlfahrtsstaat wesentlich beeinflusst werden. Es gilt also nun, die Einflussmöglichkeiten des Wohlfahrtsstaates zunächst analytisch herauszuarbeiten und dann in den drei Ländern unseres Vergleichs zu untersuchen. Die staatlichen Interventionen beziehen sich vor allem auf drei unterschiedliche Elemente: die Verteilung von Ressourcen, die Regelung von Handlungskompetenzen (Rechte und Pflichten) und die Festlegung von Inhalt und Umfang der sozialen Dienste als solchen. Dadurch bildet sich ein integriertes System heraus, in dem den einzelnen Akteuren bestimmte Rollen zugewiesen sind. Die sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren und in

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bezug auf die Klienten werden auf diese Weise reguliert. Die Gemeinden erfüllen in dieser Perspektive sozusagen eine Doppelfunktion. Einerseits verkörpern sie als Teil des öffentlichen Sektors den Sozialstaat vor Ort, andererseits repräsentieren sie die Gesamtheit der lokalen Bevölkerung und nehmen deren Interessen wahr. Tatsächlich entstanden die ersten kommunalen sozialen Einrichtungen auf der Grundlage der Städte als lokalen Korporationen von Bürgern. Aus diesem Grund müssen die Städte und Gemeinden zwar als Teil des öffentlichen Sektors behandelt werden, zugleich aber sind sie nicht mit dem Wohlfahrtsstaat identisch. Im internationalen Vergleich variieren die Beziehungen zwischen Gemeinden und Zentralstaat erheblich, und gerade diese Variationen sind für die Institutionalisierung sozialer Dienste von großer Bedeutung. Die Vorstellung vom Wohlfahrtsstaat als einem von anderen gesellschaftlichen Institutionen klar abgegrenzten Bereich widerspricht der historischen Vielfalt wohlfahrtsstaatlicher Tätigkeit und Interventionen in die Gesellschaft. Soziale Aufgaben wurden zunächst meist von nicht-staatlichen Akteuren erfüllt. Interessant und analytisch fruchtbar ist deshalb nicht so sehr die Frage, welche Aufgaben vom Staat „übernommen“ wurden, sondern, wann, wie und mit welchen Zielsetzungen der Wohlfahrtsstaat in primär gesellschaftlich bestimmte institutionelle Arrangements interveniert hat. Der Wohlfahrtsstaat ist insofern kein von der Gesellschaft abgelöster und separater Sektor, sondern Teil der Institutionalisierung gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion. Gerade im Bereich sozialer Dienste ist diese Perspektive analytisch fruchtbar. Aus soziologischer Sicht sind nicht so sehr staatliche Geldströme und Ausgaben für öffentliches Personal bedeutsam, sondern qualitative Eingriffe und durch staatliche Interventionen beeinflusste Formen der Institutionalisierung. Selbst in den klassischen Systemen der sozialen Sicherheit wurden die nicht-staatlichen Akteure nicht einfach durch staatliche Einrichtungen ersetzt, sondern vielmehr in zunehmend durch den Wohlfahrtsstaat bestimmte neue institutionelle Arrangements eingebunden. Dies gilt umso mehr für den Bereich der sozialen Dienste, in dem nicht-staatliche Akteure nach wie vor in großem Ausmaß tätig sind. Im internationalen Vergleich interessieren somit vor allem Ausmaß und Charakter der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung sozialer Dienste. Dabei rücken die verschiedenen Akteure in diesem Bereich und ihre Beziehungen zueinander in den Mittelpunkt der Analyse. Der Wohlfahrtsstaat muss sich im Feld sozialer Dienste stets mit nicht-staatlichen Akteuren und vor-staatlichen Formen der Institutionalisierung auseinandersetzen (vgl. Galper 1975). Umgekehrt prägt er jedoch in zunehmendem Maße die institutionellen Arrangements und ist somit eine gesellschaftsstrukturierende Kraft ersten Ranges. Dabei kann man zwischen verschiedenen Zielen und Mitteln wohlfahrtsstaatlicher Intervention unterscheiden. Zudem muss zwischen verschiedenen Akteuren und sozialen Beziehungen unterschieden werden, die zum Ansatzpunkt für wohlfahrtsstaatliche Regulierung werden können. Erst wenn man die Gesamtheit der institutionalisierten Beziehungen betrachtet, kann man auch entscheiden, in welche Richtung sich die wohlfahrtsstaatlichen Interventionen im Zuge der neueren Reformen entwickelt haben. Die Ziele wohlfahrtsstaatlicher Intervention lassen sich prinzipiell in inhaltlich-materialer und in prozessual-formaler Hinsicht voneinander unterscheiden. Inhaltlich-material stehen Sicherheit, Gleichheit und Daseinsvorsorge im Mittelpunkt wohlfahrtsstaatlicher Intervention. Die Ziele variieren jedoch von Land zu Land, über die Zeit und zwischen verschiedenen Bereichen. Prozessual-formal stehen Gerechtigkeit und Effizienz (equity und efficiency) sowie Zielgenauigkeit und Angemessenheit im Vordergrund. Auch hier gibt es Variationen und Zielkonflikte.

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Hinsichtlich der materialen Ziele bewegen sich die sozialen Sicherungssysteme zwischen Gleichheit und Sicherheit, soziale Dienste betonen dagegen eher die Zieldimensionen Gleichheit und Daseinsvorsorge. Dies hängt mit dem oben behandelten Grundcharakter sozialer Dienste als Hilfe und Unterstützung in allgemeinen, sozio-demographisch und biographisch bedingten Lebenslagen zusammen, während die sozialen Transfersysteme stärker an den typischen Risiken des Erwerbslebens ansetzen. Das Gesundheitswesen nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als es in vielen Ländern die Aspekte der medizinischen Versorgung und das Risiko des Erwerbseinkommensausfalls abdeckt. In Bezug auf die prozessualen Ziele stehen Fairness (equity) und Effizienz in einem Spannungsverhältnis zueinander. Effizienz des Mitteleinsatzes ist zwar das im Zuge des Umbaus der Sozialstaaten in den Vordergrund der öffentlichen Debatte gerückte Ziel, aber immer noch muss die Regulierung des Zugangs zu und die Verteilung der sozialen Dienste auf die verschiedenen Klienten als entscheidendes Kriterium einer sozialpolitischen und soziologischen Beurteilung der Systeme gelten. Equity ist also ein Kriterium, das sich auf die Allokation des Angebots auf verschiedene Nachfrager, die Klienten sozialer Dienste, bezieht; efficiency bezieht sich dagegen auf die Allokation von Ressourcen zur Erzeugung des Angebots, also auf die Akteure der Angebotsseite und die Verteilung der Ressourcen auf verschiedene Angebote. Daneben sind aus sozialpolitischer Perspektive Zielgenauigkeit und Angemessenheit sozialer Dienste hervorzuheben. Erstere bezieht sich auf die Allokation verschiedener Angebote auf bestimmte Bedarfslagen, die zweite auf die tatsächliche Wirksamkeit dieser Maßnahmen. Sozialpolitisch begründete Interventionen des Wohlfahrtsstaates verfolgen jedoch nicht nur unterschiedliche Ziele in materialer und prozessualer Hinsicht, sie unterscheiden sich auch erheblich in ihren Mitteln und Ansatzpunkten. Die Analyse von Mitteln und Handlungsansätzen führt zurück auf genuin soziologisches Terrain, denn hierin drückt sich der Charakter der durch den Wohlfahrtsstaat geleisteten Institutionalisierung eines sozialen Aufgabenbereiches am deutlichsten aus. Zunächst kann man verschiedene Interventionsformen wohlfahrtsstaatlicher Tätigkeit unterscheiden. Diese Unterscheidung setzt an den jeweils angewandten Mitteln und den dem Wohlfahrtsstaat zur Verfügung stehenden Handlungsressourcen an (vgl. Kaufmann 2002). Kaufmann unterscheidet zwischen einer ökonomischen, rechtlichen, moralischen und infrastrukturellen Interventionsform. Diese Unterscheidung ist faktisch niemals in Reinform anzutreffen, denn jegliche wohlfahrtsstaatliche Intervention beruht stets auf moralischen und infrastrukturellen Grundlagen, benötigt ökonomische Ressourcen und stützt sich auf rechtliche Mittel. Der Wohlfahrtsstaat muss seine Handlungen politisch und moralisch legitimieren. Hierzu benötigt er einen gewissen Apparat und finanzielle Mittel zu ihrer Durchsetzung und vollzieht sie in Form von Rechtsakten, welche die Rechte und Pflichten der beteiligten Akteure regeln. Insofern sind die Institutionen des Wohlfahrtsstaats mit den Sphären der Politik, der Bürokratie, der Wirtschaft und des Rechts aufs engste verflochten; der Wohlfahrtsstaat weist stets Elemente aus allen vier Bereichen auf, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. Die Interventionen beziehen sich dabei auf jeweils verschiedene Akteure und unterschiedliche Schwerpunkte ihrer sozialen Beziehungen. Im Hinblick auf soziale Dienste würde zum Beispiel die primär ökonomische Interventionsform finanzielle Ressourcen für diesen Sektor erschließen und auf die verschiedenen Akteure verteilen. Dabei kann es sich sowohl um die finanzielle Unterstützung von Familien als auch von kommunalen Sozialdiensten handeln. Die primär rechtliche Intervention würde an den institutionalisierten

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Rechten und Pflichten der Akteure und an bestimmen Aspekten ihrer sozialen Beziehungen ansetzen. Beispielsweise können die Pflichten von Familienangehörigen bedürftiger Personen erweitert oder eingeschränkt werden oder es können die Rechte von Klienten sozialer Dienste ausgebaut werden, sei es gegenüber den Anbietern oder im Verhältnis zum Staat. Die infrastrukturelle Form der Intervention würde zum Beispiel für ein öffentliches Angebot bestimmter Dienste sorgen, also in sehr direkter Form auf das System einwirken. Staatliche Infrastruktur ist im Bereich sozialer Dienste aber eher selten anzutreffen, dagegen typisch im Bildungs- und Gesundheitswesen. Im Bereich sozialer Dienste überwiegen indirekte Formen der sozialen Kontrolle, die sich auf ökonomische und rechtliche Interventionen stützen. Kaufmann (2002) nennt noch die pädagogische Interventionsform, die auf eine Veränderung von Zielen und Handlungsformen der Akteure durch direkte Beeinflussung gerichtet ist. Hierzu würden etwa die klassische, am Einzelfall orientierte Sozialarbeit oder die Beratung in Krisensituationen gehören. In der wohlfahrtsstaatlichen Logik erfolgt diese Art der Intervention jedoch in aller Regel nicht direkt durch den Staat, sondern durch Anweisung und Beauftragung anderer Akteure. Die wohlfahrtsstaatliche Intervention setzt also lediglich den Rahmen, der dann meistens noch nicht einmal von den freien Trägern oder den Gemeinden als solchen, sondern von der Profession der Sozialarbeiter oder den professionellen Beratern interpretiert und angewandt wird. Diese Intervention kann und wird also kaum als wohlfahrtsstaatliches Standardangebot betrachtet werden können, sondern setzt in außerordentlichem Maße auf die Kompetenz lokaler Akteure. In unserer Betrachtung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen im Bereich sozialer Dienstleistungen für die allgemeine Daseinsvorsorge konzentrieren wir uns deshalb auf die ökonomische, rechtliche und infrastrukturelle Interventionsform. Diese Interventionen können nun bei den Klienten und Nutzern sozialer Dienste oder bei den verschiedenen Anbietern ansetzen. Sie können direkt auf einzelne Akteure und ihre Handlungsmöglichkeiten zielen oder auf die Regelung der sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren. Interventionen können direkt auf Ressourcen und Handlungschancen oder indirekt auf die sozialen Beziehungen zwischen Akteuren zielen. Zum Beispiel kann der Staat den Klienten sozialer Dienste unter bestimmten Voraussetzungen individuelle Rechtsansprüche auf soziale Dienstleistungen verleihen oder er kann bestimmte Dienstleistungsfelder für kommerzielle Anbieter erschließen, sofern diese bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Ein Beispiel für Eingriffe in soziale Beziehungen zwischen Akteuren wäre etwa die Festlegung von Austauschrelationen auf einem bestimmten Dienstleistungssektor oder die Etablierung marktähnlicher Koordinationsformen. Die soziale Kontrolle des Dienstleistungssystems durch den Wohlfahrtsstaat vollzieht sich also auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Intensität. Die rein ökonomische Betrachtung ist deshalb kein geeigneter Indikator, um Ausmaß und Reichweite der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung sozialer Dienste zu erfassen. Der Staat muss nicht in jedem Fall eigene Mittel einsetzen, um bestimmte Ziele zu erreichen, sondern er kann teilweise auf Mittel anderer Akteure zugreifen. Ebenso ist die rein infrastrukturelle Betrachtung staatlicher Einrichtungen unzureichend, um die Institutionalisierung sozialer Dienste zu erfassen. Der Staat muss keine eigenen Einrichtungen aufbauen und betreiben, sondern er kann diese Aufgaben delegieren und dafür Mittel bereitstellen. Als Schlüssel für ein soziologisch adäquates Verständnis der Institutionalisierung sozialer Dienste erweist sich somit vor allem die rechtliche Interventionsform in Kombination mit ökonomischen Mitteln und staatlicher Infrastruktur.

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Ein erster wichtiger Indikator für den Umfang der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung sozialer Dienste ist deshalb die Frage, welche Dienstleistungsformen und welche Akteure durch entsprechende Regelungen erfasst sind. Sind die für die Lösung einer bestimmten sozialen Aufgabe wesentlichen Dienstleistungsformen erfasst oder bezieht sich die wohlfahrtsstaatliche Intervention nur auf einen bestimmten Teilbereich? Sind alle für die Übernahme dieser Aufgabe relevanten Akteure in das System einbezogen oder befinden sich einige davon außerhalb des auf diese Weise institutionalisierten Systems? Die Intensität wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierung sozialer Dienste kann zum einen an quantitativen, zum andern an qualitativen Merkmalen gemessen werden. In quantitativer Hinsicht spielen der ökonomische Mitteleinsatz und die insgesamt durch das System bereitgestellte soziale Infrastruktur die entscheidenden Rollen. In qualitativer Hinsicht steht im Vordergrund, in welchem Ausmaß die Dienstleistungen durch staatliche Regulierung festgelegt sind und welcher Spielraum den Akteuren bleibt. Je einheitlicher der Zugang zu Dienstleistungen geregelt und mit Rechtsansprüchen verbunden ist und in je höherem Maße die Dienste standardisiert sind, desto größer ist der Einfluss des Wohlfahrtsstaates auf die Dienstleistungserbringung. Der Zugang zu sozialen Diensten kann zum Beispiel durch klare Vorgaben geregelt sein, die Bedarf und Leistungspakete im Einzelfall weitgehend festlegen und die Dienstleistungserbringung standardisieren. Umgekehrt kann diese Aufgabe auch an beteiligte Akteure vor Ort delegiert werden, ohne Zugang und Leistungsumfang im Detail zu regeln. Da soziale Dienste in der Definition dieser Arbeit in der Vergangenheit vor allem von nicht-staatlichen Akteuren, insbesondere der Familie, erbracht worden sind, kann man die staatliche Einflussnahme auch als einen historischen Prozess betrachten, in dem mehr oder weniger große Bereiche sozialer Dienste unter staatliche Regulierung fallen und in größerem oder kleinerem Ausmaß standardisiert und kontrolliert werden. Aus dieser Perspektive ist deshalb für die Institutionalisierung sozialer Dienste von entscheidender Bedeutung, inwiefern und wie stark der Staat die wichtigsten Akteure in diesem Feld in ein durch ihn geregeltes und standardisiertes System einbezieht. Dies gilt zunächst und vor allem für die wichtigste soziale Institution in diesem Bereich: die Familie. Zwar haben die meisten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen stets implizit auf der Grundlage funktionierender Familienverhältnisse und Leistungen in der Familie aufgebaut, dies stellt jedoch für sich genommen noch keine Institutionalisierung der Beziehungen zur Familie dar. Erst wenn die Familie explizit in den staatlichen Regulierungen als Akteur auftritt und eine bestimmte Rolle zugewiesen bekommt, kann man von einer entscheidenden Zunahme im Umfang der Institutionalisierung sozialer Dienste sprechen. Ein erstes, wenngleich inhaltlich nicht klar bestimmtes Indiz für die Institutionalisierung ergibt sich aus der expliziten Verpflichtung von Familien, für bedürftige Angehörige zu sorgen. Je genauer Umfang und Grenzen dieser Verpflichtung festgelegt werden, desto mehr kann man davon sprechen, dass die Familie in ein durch den Staat institutionalisiertes, quasi „öffentliches“ Dienstleistungssystem einbezogen wird. Von einem qualitativen Sprung in der Institutionalisierung kann man aber erst dann sprechen, wenn die Leistungen der Familie durch den Wohlfahrtsstaat unterstützt werden, sei es durch Geld oder durch explizit als Unterstützung geleistete ambulante Hilfsdienste. Auf dieser Stufe wohlfahrtsstaatlicher Regulierung kann man mit Fug und Recht behaupten, die Familie sei zum Bestandteil eines öffentlich regulierten sozialen Dienstleistungssystems geworden. In ähnlicher Weise nimmt der Umfang der Institutionalisierung sozialer Dienste durch den Wohlfahrtsstaat zu, wenn die drei neben der Familie wichtigsten

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historischen Anbieter sozialer Dienste enger in ein öffentliches System eingebunden werden: die freien Wohlfahrtsorganisationen, verschiedene kommerzielle Anbieter und die Gemeinden und Städte. Wie die Familien – nur auf einer höheren Ebene der gesellschaftlichen Organisation – waren und sind freie Wohlfahrtsorganisationen wichtige historische Träger sozialer Dienste, zunächst ohne dass ihre Aktivitäten durch den Staat inhaltlich geregelt worden wären. Zwar gab es natürlich Rechtsgrundlagen und Grenzen für ihre Aktivitäten, die von Land zu Land variierten, der Staat bestimmte jedoch selten und wenig im positiven Sinne die Aufgaben und Leistungen dieser Organisationen. Ihr wichtigstes Tätigkeitsfeld fanden die freien Wohlfahrtsvereinigungen im Bereich sozialer Dienste für benachteiligte, schwache und sozial auffällige Bevölkerungsgruppen, aber auch in der Hilfe und Pflege für Kranke und Behinderte, die von den Familien nicht betreut und versorgt werden konnten. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit standen nicht große Einrichtungen und Institutionen, sondern Hilfen vor Ort, in Form ambulanter Dienste oder speziell auf den Einzelfall zugeschnittenen Unterstützungen. Hier liegt deshalb auch der historische Ursprung der klassischen Sozialarbeit, die in der Regel aus der freien Wohlfahrtspflege stammt und erst später Teil eines staatlichen Systems wurde (vgl. Lorenz 1994; Landwehr und Baron 1983; Sachße3 2003). In einigen Ländern jedoch erstreckte sich der Tätigkeitsbereich der freien Wohlfahrt auch auf große Institutionen wie Krankenhäuser und Altenheime. Aufgrund des hohen Kapitalaufwands und der hohen Organisationskosten waren diese Einrichtungen jedoch meist kirchlich gebunden oder sie entstanden im Umfeld kirchlicher Verbände, die sich neben den kommunalen und den staatlichen Institutionen als zweite Säule des öffentlichen Dienstleistungssystems etablierten. Dies war auch eine wichtige Domäne der Kommunen und Städte, die sich ihrerseits zunächst weniger um die ambulanten Dienste und die klassische Sozialarbeit kümmerten. Der Wohlfahrtsstaat begann zumeist mit einer stärkeren Institutionalisierung der großen stationären Einrichtungen im Gesundheits- und Altenhilfebereich, während ambulante Dienste einen größeren Freiraum genossen. Deshalb gerieten die freien Träger der Wohlfahrt zunächst in diesem Bereich und in denjenigen Ländern, in denen sie solche Einrichtungen aufgebaut hatten, stärker unter staatliche Regulierung und wurden dadurch in öffentliche Systeme eingebunden. Kommerzielle Anbieter haben historisch betrachtet stets eine Sonderrolle im Bereich sozialer Dienste gespielt. Das kommerzielle Ziel hat ihr Tätigkeitsfeld von Anfang an stark begrenzt. Die lebenszyklisch bedingten Dienste für die große Mehrheit der Bevölkerung wurden zumeist von der Familie erbracht, die freien Vereinigungen richteten ihr Augenmerk vor allem auf diejenigen, die nicht von der Familie gepflegt und betreut wurden sowie auf soziale Problemgruppen; der Staat seinerseits hatte zunächst vor allem Interesse an sozialer Kontrolle und an den großen stationären Leistungssystemen zur Versorgung der Bevölkerung. Kommerzielle Anbieter fanden ihr klassisches Aufgabengebiet vor allem in der Versorgung wohlsituierter Kunden mit qualitativ hochwertigen Angeboten in kapitalintensiven und renditestarken Zweigen wie Wohnen und Gesundheit. In einigen Ländern kamen Betreuungsangebote für Kinder aus den Mittelschichten hinzu. Zwar wurde die Tätigkeit der kommerziellen Anbieter als solche staatlich reguliert, aber nicht durch den Wohlfahrtsstaat erfasst. Wie die familiären Dienstleistungen, aber aus ganz anderen Gründen als diese, blieben die kommerziellen Angebote sehr lange außerhalb der wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung sozialer Dienste und führten insofern ein auf bestimmte soziale Schichten und wenige Angebotsformen beschränktes Sonderdasein. Erst durch die

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neueren Reformen erlebte der kommerzielle Sektor eine gewisse Renaissance, nun allerdings als Bestandteil eines wohlfahrtsstaatlich institutionalisierten öffentlichen Sektors. Die Gemeinden verdienen im Rahmen dieser Arbeit besondere Beachtung. Sie sind sozusagen die auf lokaler Ebene präsente öffentliche Instanz, die jedoch ein gegenüber dem Staat mehr oder weniger großes Eigenleben führt. Dies ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil die lokale Gebundenheit zum Grundcharakter sozialer Dienste gehört. Die Rolle der Gemeinden ist in doppelter Hinsicht für die Analyse der Institutionalisierung sozialer Dienste interessant. Zum einen können die Gemeinden auf lokaler Ebene selbst eine wichtige Rolle für die Koordination und Institutionalisierung sozialer Dienste spielen, zum andern können sie ihrerseits zum Objekt wohlfahrtsstaatlicher Regulierung werden. Deshalb interessieren in Bezug auf die Gemeinden sowohl die Beziehungen zwischen diesen und den anderen lokalen Akteuren als auch die Beziehungen zwischen dem Staat und den Gemeinden. Von einer größeren und intensiveren Institutionalisierung sozialer Dienste durch den Wohlfahrtsstaat wollen wir jedoch nur dann sprechen, wenn der Staat als solcher gegenüber den Gemeinden eine größere Rolle zu spielen beginnt und den Spielraum für lokal eigenständiges Handeln begrenzt. Ein erster entscheidender Eingriff in kommunale Eigenständigkeit wäre zum Beispiel eine staatliche Verpflichtung zur Einführung bestimmter sozialer Dienste. Dabei verblieben jedoch Entscheidungen über Umfang und Verteilung der sozialen Dienste in Händen der Gemeinden. Weitergehende Eingriffe regelten zum Beispiel Budgets, Umfang von Dienstleistungen und Leistungsstandards. Der Staat kann auch die Zugangsbedingungen zu sozialen Diensten regeln und den Klienten im Bedarfsfall Ansprüche auf Leistungen gewähren. In allen diesen Fällen greift der Staat tiefer in das kommunale Dienstleistungsangebot ein. Denkbar sind auch Vorgaben zum Verhältnis der Gemeinden zu den anderen Akteuren im Bereich sozialer Dienste. Der Staat kann die Gemeinden beispielsweise verpflichten, andere Akteure in bestimmter Weise am kommunalen Dienstleistungssystem zu beteiligen und dabei eine koordinierende Rolle zu übernehmen. Die Möglichkeiten des Staates, den Handlungsspielraum der Gemeinden auf diese Art und Weise zu bestimmen, hängen natürlich von der politischen und administrativen Ordnung im jeweiligen Land ab. In einigen Ländern sind dem Wohlfahrtsstaat in dieser Hinsicht enge Grenzen gesetzt, in anderen kann der Zentralstaat beinahe unbeschränkt in kommunale Angelegenheiten eingreifen. In jedem Fall ist das Verhältnis von Staat und Gemeinden für die Institutionalisierung sozialer Dienste von entscheidender Bedeutung. Dies gilt umso mehr als soziale Dienste aufgrund ihres Grundcharakters stets einen räumlichen Bezug haben. Mithin ist die lokale Ebene sozusagen das natürliche Feld sozialer Dienste. Dennoch kann der Staat selbst durch eigene Behörden und Einrichtungen Dienste in der Fläche seines Territoriums organisieren und anbieten. Dies geschieht ja in großem Umfang im Gesundheits- und Bildungswesen. Im Bereich der sozialen Dienste ist diese Art des Aufbaus einer wohlfahrtsstaatlichen Infrastruktur dagegen sehr beschränkt. Meist werden diese Aufgaben an kommunale Einrichtungen „delegiert“ beziehungsweise seit jeher von diesen erbracht. Allerdings variieren die hier betrachteten Länder gerade im Ausmaß, in dem sie eine staatliche Infrastruktur in diesem Sinne aufgebaut haben. Neben diesen relativ direkten Möglichkeiten des Wohlfahrtsstaates, das Feld der sozialen Dienste stärker zu institutionalisieren und das Handeln anderer Akteure zu steuern, gibt es zwei wesentliche Aspekte der Institutionalisierung, die separat betrachtet werden müssen, weil sie das Feld zwar stärker institutionalisieren, zugleich jedoch den direkten Zugriff

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des Staates auf soziale Dienste stark einschränken. Bei diesen Aspekten handelt es sich um die Institutionalisierung des Feldes sozialer Dienste durch die Etablierung von Verfahren, die auf eine größere Autonomie dieses Bereichs gegenüber allen beteiligten Akteuren hinauslaufen. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Einrichtung eigenständiger Finanzierungsinstrumente, zumeist in Form einer Sozialversicherung, und die Professionalisierung sozialer Dienste. Beide Prozesse sind dazu geeignet, soziale Dienste als eigenständigen Bereich der sozialen Sicherheit stärker zu institutionalisieren. Die Sozialversicherung ist in dieser Hinsicht besonders interessant. Sie ist nicht nur ein im Vergleich zum allgemeinen Staatshaushalt alternatives Finanzierungsinstrument, wie die ökonomische Sichtweise betont, sondern schafft aus soziologischer Sicht eine wesentlich andere Form der Institutionalisierung sozialer Dienste, die dem direkten und unmittelbaren Zugriff staatlicher Politik entzogen ist. Die Sozialversicherung beinhaltet zumeist drei Elemente einer eigenständigen Institutionalisierung: Rechtsansprüche der Versicherten auf Leistungen, Finanzierung unabhängiger Anbieter und Selbstverwaltung. Da die Selbstverwaltung sich selten auf die Kernbestandteile der Versicherung bezieht, die ohnehin gesetzlich geregelt sind, sollen hier nur die ersten beiden Elemente betrachtet werden. Eine Sozialversicherung ist im Gegensatz zu staatlichen Leistungsgesetzen zumeist mit einem Rechtsanspruch der Versicherten auf Leistungen verbunden. Zwar sind Kürzungen und Einschränkungen jederzeit möglich, aber dies zumeist nicht rückwirkend und in begrenzterem Maße als bei öffentlich bereitgestellten Dienstleistungen. Hinzu kommt die eigenständige Finanzierungsbasis, die zwar einerseits zum Hemmschuh der Entwicklung werden kann, andererseits aber eine gewisse Sicherheit gegenüber Kürzungsmaßnahmen im allgemeinen Staatshaushalt bietet. Eingriffe können jedenfalls nur über spezielle Gesetze und nicht über den jährlichen Staatshaushalt durchgesetzt werden. Diese Elemente verleihen der Sozialversicherung eine gewisse institutionelle Autonomie und Beharrungskraft gegenüber direkten staatlichen Systemeingriffen. Darüber hinaus ist die Sozialversicherung als Finanzierungsinstrument sozialer Dienste oft mit einer Anbieterpluralität verbunden, während staatlich oder kommunal per Leistungsgesetz zur Verfügung gestellte Dienstleistungen zumeist als öffentliche Betriebe organisiert sind. Zumindest eröffnet die Sozialversicherung Chancen für alternative Anbieter, sofern das Gesetz entsprechende Möglichkeiten vorsieht. Auch in diesem Fall gewährt ein solches System mehr Autonomie als ein überwiegend durch öffentliche Betriebe organisiertes, rein öffentliches System, da der Staat weniger direkt eingreifen kann. Sozialversicherungssysteme tendieren deshalb zu größerer Eigenständigkeit als rein staatliche Dienstleistungssysteme: die Finanzierung ist unabhängiger, die Klienten genießen eine bessere Rechtsstellung und die Anbieter können eigenständiger agieren. Der Institutionalisierungsgrad von Sozialversicherungssystemen kann dabei durchaus höher sein als in staatlichen Leistungssystemen, weil mehr Akteure darin eingebunden sind und Leistungen und Ansprüche genauer festgelegt sind. In jedem Fall ist jedoch die direkte staatliche Zugriffsmöglichkeit als geringer einzustufen. Ein weiteres wichtiges Element einer eigenständigen Institutionalisierung sozialer Dienstleistungssysteme ist die Professionalisierung. Die Professionalisierung sozialer Dienste ist ein historischer Prozess, der zumeist außerhalb der staatlichen Sphäre begann und inzwischen weite Teile des Dienstleistungssystems erfasst hat (vgl. Rauschenbach 1999). Wie im Falle der Etablierung eigenständiger Finanzierungsinstrumente kann in der Professionalisierung sozialer Dienste der zweite entscheidende Schritt zu einer autonomen Form der Institutionalisierung gesehen werden. Professionalisierung bedeutet, dass wichti-

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ge Elemente bei der Durchführung sozialer Dienste durch eigenständige professionelle Standards und die Selbstverwaltung der Profession festgelegt und kontrolliert werden. Das Paradebeispiel für eine weitgehende Professionalisierung ist das Gesundheitswesen, während das Bildungssystem stärker staatlich normiert und kontrolliert wird. Im Gesundheitswesen ist die Ärzteschaft ein zentraler Akteur, der in der medizinischen Praxis und in manchen Fällen auch bei der Vergütung von Einzelleistungen weitgehende Autonomie genießt. Weder der Staat noch die Krankenversicherungen greifen direkt in die medizinische Autonomie ein. Dies gilt jedoch in stärkerem Maße für die Sozialversicherungssysteme als für die staatlichen Gesundheitsdienste, weil die Ärzteschaft in der Regel in diesen über größere Autonomie verfügt. Doch selbst in staatlichen Gesundheitssystemen bestimmen die Ärzte über die medizinischen Methoden und Leistungen, welche das System zur Verfügung stellt. Im Bildungswesen dagegen werden Lehrinhalte und Standards in stärkerem Maße durch staatliche Behörden festgelegt. Die Lehrerschaft genießt keine so große professionelle Eigenständigkeit wie die Ärzteschaft. Soziale Dienste sind nun ein Bereich, der sowohl im Vergleich zur Gesundheit als auch im Vergleich zum Bildungswesen in geringerem Maße professionalisiert ist. Häufig spricht man deshalb hier von einer Semi-Professionalisierung. Ein Grund dafür ist die spätere Entwicklung sozialer Dienste und die größtenteils einfacheren Dienstleistungen in diesem Bereich, die zumeist weniger Fachwissen und professionelle Kompetenz verlangen als der Arzt- oder Lehrerberuf. Die meisten sozialen Dienste stammen ja aus dem ursprünglichen Kompetenzbereich der Familie und wurden erst im Laufe der Zeit in stärkerem Ausmaß spezialisiert und in eigenständigen Systemen ausdifferenziert. Wohnen, Pflege und Betreuung sind die klassischen Kernkompetenzen der Familie, die in der Regel ein höheres Maß an sozialer Beziehung als spezielle Fachkenntnisse erfordern. Dennoch haben sich auch die sozialen Dienste zunehmend professionalisiert, und zwar sowohl in den größeren standardisierten Einrichtungen als auch in der ambulanten Einzelfallversorgung. Verlangten Pflege und Betreuung von alten Menschen, Behinderten und Kindern zunächst eher Empathie und soziales Engagement, das zumeist religiös untermalt war, setzten sich allmählich Krankenpfleger, Altenpfleger und Kindererzieherin als feste Berufsbilder durch. Ebenso bildete sich aus der klassischen Wohltätigkeit religiös motivierter Laien die professionelle Sozialarbeit heraus. Interessant ist, dass die Professionalisierung offenbar durch eine ursprünglich größere Trägervielfalt im Bereich sozialer Dienste eher begünstigt als behindert wurde (vgl. Sachße 2002). Offenbar erforderte ein stärker gegliedertes System sozialer Dienste ein höheres Maß an Kooperation und Koordination über die Grenzen von Organisationen hinweg, während einheitlichere Systeme, die zum Beispiel nur von der Katholischen Kirche oder nur vom Staat betrieben wurden, eine frühere Professionalisierung eher behinderten. Zudem ermöglichten organisatorisch stärker fragmentierte Systeme den Beschäftigten offenbar in höherem Maße, eigenständige professionelle Standards über Organisationsgrenzen hinweg zu etablieren. Die Loyalität gegenüber der Profession trat zunehmend neben die traditionelle Loyalität gegenüber der eigenen Organisation. Jedenfalls scheint es kein Zufall zu sein, dass die Länder mit der vielfältigsten Anbieterlandschaft im 19. Jahrhundert auch die Ursprungsländer der Professionalisierung sowohl der Pflege-, Erziehungs- und Betreuungsberufe als auch der klassischen Sozialarbeit sind: Großbritannien und Deutschland. Auch in den Niederlanden kann von einem relativ hohen Grad an Professionalisierung ausgegangen werden, der schließlich zur Ablösung des einstmals weltanschaulich fragmentierten Systems durch ein einheitliches Dienstleistungssystem geführt hat. In jedem Fall gingen die ersten Schritte zur Professionalisie-

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rung nicht vom Staat, sondern von den freien Wohlfahrtsvereinigungen aus. Kommerzielle Anbieter hatten dagegen kein Interesse an dieser Entwicklung und auch keinen großen Einfluss darauf. Später allerdings, als die Professionalisierung bereits anerkannt war, bot das öffentliche Dienstrecht eine ideale Basis für deren endgültige Etablierung im Zuge der Expansion des Wohlfahrtsstaates. Der Grad der Institutionalisierung eines sozialen Dienstleistungssystems hängt von zahlreichen Faktoren ab und kann sich somit auch in inhaltlich unterschiedlicher Form entwickeln. Entscheidend sind aber in jedem Fall sowohl quantitative als auch qualitative Merkmale. Zunächst geht es darum, welche Akteure in welcher Form in das durch den Wohlfahrtsstaat gestaltete System einbezogen sind. Je höher der Grad der Inklusion, desto größer die Institutionalisierung. Zum zweiten geht es um die Festsetzung von Regeln und Standards, welche Nachfrage und Angebot sozialer Dienste beeinflussen. Zum dritten interessieren die sozialen Beziehungen zwischen den am System beteiligten Akteuren und deren Kontrolle (vgl. Lepsius 1990). Schließlich spielen Merkmale einer eigenständigen Institutionalisierung sozialer Dienste wie Sozialversicherung und Professionalisierung eine wichtige Rolle. Sie stellen das System auf eine eigenständige Grundlage und verleihen ihm eine Schutzfunktion gegenüber Eingriffen einzelner Akteure einschließlich des Staates. Institutionalisierung durch den Wohlfahrtsstaat muss also nicht mit größerem direktem staatlichem Einfluss auf das System verbunden sein, im Gegenteil können bestimmte Elemente in diesem Prozess zu einer größeren sozialen Kontrolle bei Abnahme direkter staatlicher Einwirkung führen. Welche Entwicklung dieser Prozess in den verschiedenen Ländern genommen hat, soll in den Länderkapiteln untersucht werden. Zuvor jedoch werden die sozialen Dienste in den drei Vergleichsländern in den europäischen Kontext gestellt.

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Soziale Dienste in Westeuropa im Vergleich

In diesem Kapitel werden die drei Vergleichsländer im westeuropäischen Vergleich betrachtet. Zunächst werden die zentralen strukturellen Dimensionen untersucht, die für die Variationen in der historischen Entwicklung sozialer Dienste prägend waren: das Verhältnis von Staat und Kommunen und das Verhältnis von „öffentlichen“ und „privaten“ gesellschaftlichen Sphären hinsichtlich ökonomischer, zivilgesellschaftlicher und familialer Ordnungen (vgl. Alber 1995). Im zweiten Teil wird das Angebot an sozialen Diensten im europäischen Vergleich behandelt.

Gesellschaftliche Strukturmerkmale Staat und Gemeinden Das Verhältnis von Staat und Gemeinden variiert zwischen den europäischen Ländern. Hinzu kommen Unterschiede zwischen föderal und unitarisch aufgebauten politischen Systemen. Die Ursachen für diese Unterschiede liegen in der Geschichte der europäischen Staatenbildung (vgl. Rokkan 2000) und sollen hier nur kurz dargestellt werden, um die langfristige Wirkung struktureller Faktoren auf die Institutionalisierung sozialer Beziehungen zwischen den Akteuren im Feld sozialer Dienste zu beleuchten. Hinsichtlich des Staatsaufbaus stehen die unitarischen Länder den Ländern mit föderaler Ordnung gegenüber (vgl. Page 1991; Page und Goldsmith 1987; Norton 1991; 1994). Im westeuropäischen Kontext sind die klassischen Vertreter der föderalen Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz. Hinzu kommen Spanien (seit der Demokratisierung nach Francos Tod) und Belgien (seit der Föderalisierung zu Beginn der 1980er Jahre). Gemeinsames Merkmal dieser Länder ist die Existenz eigenständiger politischer Einheiten zwischen Zentralstaat und Gemeinden. Diese politischen Einheiten verfügen teilweise über eine eigene Verfassung und übernehmen vielfältige Staatsaufgaben in Eigenverantwortung. Darüber hinaus wirken sie zum Teil an den politischen Entscheidungsprozessen, die den Staat insgesamt betreffen, mit. Auch in Italien und Frankreich wurden Regionen zwischen Zentralstaat und den lokalen Gebietskörperschaften geschaffen, haben sich jedoch bisher nicht zu vergleichbaren Akteuren von größerem politischem Gewicht entwickeln können; ihre Kompetenzen blieben bislang begrenzt. Auch in Großbritannien erhielten Schottland und zum Teil auch Wales mehr Eigenständigkeit gegenüber der Regierung in London; Schottland bildete schon immer einen Sonderfall innerhalb Großbritanniens, ebenso besitzt Nordirland aus historischen Gründen eine Sonderstellung im Vereinigten Königreich. England (und Wales) bildet jedoch nach wie vor ein nahezu klassisches Beispiel für einen unitarischen Staat mit starker Zentralgewalt. Die Beziehungen zwischen Zentralstaat und Gemeinden variieren erheblich innerhalb Europas (vgl. Mény 1985; Hintze 1970). Die Stellung der Gemeinden ist besonders stark in

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den skandinavischen Ländern und in der Schweiz (vgl. Hesse 1991). Hier erfüllen sie nicht nur wichtige öffentliche Aufgaben, sondern genießen ein hohes Maß an Autonomie in der Bestimmung von Zielen und der Aufbringung von Mitteln. Weniger stark ist die Stellung der Gemeinden in Deutschland, wo sie innerhalb der föderalen Ordnung das schwächste Glied bilden. Ihre Kompetenzen sind begrenzt, Ziele und Mittel ihres Handelns werden ihnen größtenteils durch Bundes- und Landesgesetze vorgegeben. An dieser Stelle muss allerdings zwischen einer politischen und einer administrativen Funktion der Gemeinden unterschieden werden. Im skandinavischen und im schweizerischen Fall besitzen die Gemeinden in beiden Funktionen große Handlungsspielräume, in Deutschland ist die kommunale Selbstverwaltung dagegen auf wenige genuin kommunale Aufgaben beschränkt, und die Gemeinden verfügen gegenüber Bund und Ländern über geringen politischen Gestaltungsspielraum. Auch in administrativer Hinsicht vollziehen die Gemeinden zum großen Teil, was in Bund und Ländern beschlossen wird; dies gilt vor allem für den Sozialbereich. Dennoch bilden die Gemeinden in Deutschland eine politische und administrative Ebene mit gewissem Eigensinn und Eigengewicht. Dies gilt sowohl für Großbritannien als auch für Frankreich in geringerem Maß. In beiden Ländern ist die Stellung der Gemeinden gegenüber dem Staat schwächer als in Deutschland oder gar in der Schweiz oder Skandinavien, allerdings gibt es Unterschiede zwischen England und Frankreich (vgl. Mény 1998; Birch 1998; Mabileau 1996; Byrne 1992; 1996). Der englische Staat besitzt traditionell ein hohes Maß an politischer Zentralisierung, zugleich aber wurde die Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten traditionell in großem Ausmaß an lokale Akteure delegiert. Nur in wenigen Bereichen wurden zentrale Verwaltungsstrukturen und Behörden aufgebaut. Das englische Armenrecht zum Beispiel funktionierte lange Zeit auf der Basis des Ehrenamts lokaler Eliten, deren Tätigkeit jedoch durch staatliche Inspektion überwacht wurde (vgl. Webb und Webb 1963). Eine zentralstaatliche Bürokratie bildete sich im Vergleich zu anderen Ländern weit weniger heraus. In ähnlicher Weise sind die Kommunen heute zuständig für den Vollzug der zentralstaatlichen Gesetze und Vorschriften. Das Ehrenamt ist heute in der öffentlichen Verwaltung zwar nicht mehr vorzufinden, aber nach wie vor verfügt Großbritannien nur über eine kleine zentralstaatliche Bürokratie. Politisch allerdings herrscht die Zentralregierung bzw. die Parlamentsmehrheit in Westminster nahezu unumschränkt über alle Bereiche und Landesteile mit Ausnahme Schottlands und Nordirlands. Politische Zentralisierung ist also traditionell mit administrativer Dezentralisierung gepaart (vgl. Redlich und Hirst 1970). Die Aufgaben und Kompetenzen der Kommunen können jedoch von der Zentralregierung jederzeit politisch verändert werden; in diesem Sinne gibt es keine lokale Autonomie wie in Skandinavien oder der Schweiz. In Frankreich sind die Verhältnisse geradezu spiegelbildlich zu denen in Großbritannien. Hier ist die Administration hoch zentralisiert, die Politik dagegen fußt auf einem beinahe anachronistisch anmutenden System lokaler Ämter, das in der vielfältigen und breiten Gemeindestruktur Frankreichs verwurzelt ist (vgl. Grémion 1970). Die administrative Zentralisierung geht dabei im wesentlichen auf die Französische Revolution und die Zeit Napoleons zurück, während die politische Herrschaft der lokalen Notabeln vor allem ein Erbe der parlamentarischen Dritten Republik ist (vgl. Worms o. J.). Beide Aspekte haben auch den Übergang zum Präsidialsystem der Fünften Republik nahezu unbeschadet überstanden. Senat und assemblé nationale sind in weiten Teilen Vertretungen lokaler Mandatsträger, aber auch für höchste Regierungsämter ist ein Bürgermeisterposten eine wichtige Stufe auf der Karriereleiter. Kommunale und zentral-

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staatliche Ämter sind aufs engste verknüpft, ganz im Gegensatz zu Großbritannien, wo die lokale Politik denkbar weit sowohl von den Mandatsträgern in Westminster als auch von den Ämtern in Whitehall entfernt ist. Im deutschen Föderalismus dagegen bilden nicht wie in Frankreich die Kommunen das wichtigste Rekrutierungsfeld für zentralstaatliche Regierungsämter, sondern die Länder. Fast alle Bundeskanzler hatten zuvor Regierungsfunktionen in den Ländern inne, oft als Ministerpräsidenten. Während somit der Einfluss lokaler Politik auf die Zentralregierung in Paris relativ groß ist, reicht der administrative Arm des Staates in Frankreich viel weiter ins Land als auf der britischen Insel. Im Gegensatz zu Großbritannien ist Frankreich das klassische Land einer mächtigen zentralstaatlichen Bürokratie, deren wichtigster Vertreter in der Fläche der Präfekt des départements ist. Das département war bis zu den in Kapitel 5 ausführlich behandelten Reformen der Dezentralisierung von 1983 keine eigenständige lokale Gebietskörperschaft, sondern Teil der zentralstaatlichen Verwaltung. Der Präfekt als Chef dieser Verwaltung war nicht lokalen Interessen verantwortlich, sondern vertrat den französischen Staat in seinem Gebiet. Erst mit der Dezentralisierungspolitik erhielten die départements auch Merkmale und Funktionen einer lokalen politischen Selbstverwaltung mit direkt vom Volk gewählten Vertretern. Zusammengefasst kann man die drei Länder unseres Vergleichs im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Gemeinden wie folgt im westeuropäischen Kontext verorten. Deutschland ist ein föderales Land, in dem die Länder eigenständig verfasst sind, wichtige politische und administrative Kompetenzen besitzen und außerdem großen Einfluss auf die Bundespolitik ausüben. Die Kommunen dagegen sind trotz der kommunalen Selbstverwaltung in keiner starken Position, weil sie Ziele und Mittel ihres Handelns weit weniger selbständig bestimmen können wie zum Beispiel in der Schweiz. Deshalb sind die Kommunen auch im Sozialbereich oft nur ausführende Organe der Bundes- oder Landespolitik. Großbritannien und Frankreich können trotz devolution und décentralisation immer noch als klassische Vertreter eines unitarischen Staatsaufbaus betrachtet werden. Dennoch unterscheidet sich das Verhältnis von Kommunen und Zentralstaat in beiden Ländern. In England und Wales bilden die Kommunen die lokale Verwaltung und führen zentralstaatliche Gesetze aus. Dabei haben sie einen mehr oder weniger großen Handlungsspielraum, der jedoch jederzeit politisch aus London verändert werden kann. In Frankreich besitzen die Gemeinden dagegen großes politisches Gewicht, öffentliche Aufgaben wurden jedoch bis vor kurzem in großem Ausmaß von einer mächtigen zentralstaatlichen Bürokratie erfüllt, die im ganzen Land präsent ist.

Öffentlich und Privat Im Hinblick auf die zweite zentrale strukturelle Dimension des Vergleichs, das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Bereich, variieren die westeuropäischen Länder ebenfalls erheblich. Der Begriff „privat“ hat jedoch je nach sozialem und historischem Kontext verschiedene Bedeutung. Im Hinblick auf die Institutionalisierung sozialer Dienste sollen dabei im folgenden drei Bedeutungslinien betrachtet werden, die sich auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft beziehen: das Verhältnis von Staat und Wirtschaft bzw. Klassenstrukturen; das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft bzw. kulturellen Gruppenbildungen; und das Verhältnis von Staat und Familie.

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Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft steht heute meist im Mittelpunkt der Diskussionen über die Reform des Wohlfahrtsstaates. Markt und Wettbewerb werden als allgemeine Lösungsmechanismen für wohlfahrtsstaatliche Probleme betrachtet. Die Bedeutung kommerzieller Unternehmen im Wohlfahrtssektor und die marktmäßige Koordination von Angebot und Nachfrage variieren jedoch erheblich von Bereich zu Bereich und von Land zu Land. In einigen Ländern spielen kommerzielle Anbieter im Gesundheitswesen und in der stationären Altenhilfe eine größere Rolle. Der Markt ist jedoch meist stark reguliert und das private Angebot konzentriert sich auf wenige renditestarke und kapitalintensive Bereiche. Die größten Anteile kommerzieller Anbieter im Bereich sozialer Dienste findet man durchwegs in den liberalen Wohlfahrtsstaaten, vor allem in den USA und in Großbritannien. Hier konnte sich ein relativ großer kommerzieller Sektor entfalten, weil der Wohlfahrtsstaat die Mittelschichten nicht auf breiter Basis einbezogen hatte. Die Sozialpolitik konzentrierte sich vor allem auf ärmere Bevölkerungsschichten, so dass der Dienstleistungsbereich der Mittelschichten zum großen Teil „privat“ am Markt durch kommerzielle Anbieter gedeckt werden musste. Der private Sektor behielt also gegenüber dem Wohlfahrtsstaat eine relativ unabhängige Stellung und deckt einen großen Teil des Bedarfs an Dienstleistungen, zum Beispiel bei Altenheimen oder Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch im Bildungswesen spielen Privatschulen in diesen Ländern eine wichtige Rolle, sind jedoch meist nicht kommerziell sondern gemeinnützig organisiert. In Großbritannien hat der Staat allerdings im Zuge der großen Sozialreformen nach dem Zweiten Weltkrieg weite Teile der vormals überwiegend privat organisierten Bereiche Gesundheit und Soziales in staatliche Regie übernommen. Der Gesundheitsbereich wurde 1948 im Nationalen Gesundheitsdienst neu organisiert, der Sozialbereich in den 1970er Jahren größtenteils kommunalisiert (vgl. Cochrane 1993). Eine auf wenige Bereiche beschränkte und quantitativ eng begrenzte Rolle spielt der kommerzielle Sektor in den konservativen Wohlfahrtsstaaten, zu denen hier Deutschland und Frankreich zu rechnen sind. Obwohl Regelung und Finanzierung des Gesundheitswesens durch die Sozialversicherung und den Staat erfolgen, sind weite Teile desselben privat organisiert. Dies betrifft große Teile des stationären Sektors und vor allem die freien niedergelassenen Ärzte. Typisch für die konservativen Wohlfahrtsstaaten ist vor allem die Tatsache, dass private Organisationen in diesem System quasi öffentliche Aufgaben wahrnehmen. Die Verbände der Ärzteschaft spielen zum Beispiel eine herausragende Rolle bei der Steuerung des Gesundheitswesens. Diese korporatistische Struktur findet sich auch im Sozialwesen, hier spielen jedoch freie, gemeinnützige Anbieter eine wichtigere Rolle als kommerzielle Unternehmen. Am schwächsten ist die Stellung kommerzieller Anbieter in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens, in denen öffentliche Strukturen klar dominieren. Die Gemeinden haben beispielsweise im Sozialbereich nahezu ein Monopol der Dienstleistungsversorgung. Zusammengefasst ergeben sich folgende Variationen im Verhältnis von Staat und kommerziellem Sektor im Wohlfahrtsbereich. Der liberale Wohlfahrtsstaat richtet sich primär auf ärmere Bevölkerungsschichten und lässt somit dem kommerziellen Sektor breiten Raum in der Dienstleistungsversorgung für die wachsenden Mittelschichten. Zudem wird dieser Sektor wenig öffentlich reguliert, da er nicht als Teil wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge betrachtet wird. Kennzeichen eines liberalen Wohlfahrtsstaates ist somit ein breiter, relativ autonomer kommerzieller Sektor in verschiedenen Dienstleistungsbereichen.

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Der konservative Wohlfahrtstaat umfasst dagegen den größten Teil der Bevölkerung, legt jedoch großen Wert auf soziale Statusunterschiede und die Einbindung korporativer nichtstaatlicher Akteure. Öffentlicher und privater Sektor sind nicht voneinander getrennt, sondern private Organisationen werden ins öffentliche System integriert und erfüllen somit öffentliche Funktionen. Der kommerzielle Sektor kann mehr oder weniger groß sein, er ist jedoch stärker abhängig von staatlicher Regulierung. In sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten ist der kommerzielle Sektor rudimentär, weil fast alle sozialen Aufgaben von öffentlichen Instanzen wahrgenommen werden. Gleichheit und Universalität sind zentrale Ziele dieser Systeme; öffentliche Organisation und politische Kontrolle bieten die beste Gewähr für ihre Erfüllung. Die zweite Dimension des Verhältnisses von „öffentlich“ und „privat“ betrifft Struktur und Rolle der Zivilgesellschaft im Verhältnis zum Staat. Während für die Bedeutung kommerzieller Anbieter im Wohlfahrtssystem die Klassenstrukturen und der Klassencharakter des Wohlfahrtsstaates die entscheidende Rolle spielen, geht es bei der Bedeutung der Zivilgesellschaft vor allem um religiöse und sozial-kulturelle Aspekte der Sozialstruktur (vgl. Alber 1995; Evers und Laville 2004). Freie, gemeinnützige Organisationen haben in allen Ländern eine zentrale Rolle in der historischen Entwicklung der Sozialsysteme gespielt. Zumeist waren diese Organisationen religiös und weltanschaulich motiviert, zum Teil auch klassenspezifisch organisiert. Bürgerliche Wohltätigkeit stand neben Arbeiterselbsthilfe, katholische Vereine neben der protestantischen Inneren Mission. Die klassenspezifischen Variationen waren in ähnlicher Weise in allen sich industrialisierenden Gesellschaften anzutreffen, ihre Widersprüche wurden zumeist durch Integration in den Wohlfahrtsstaat und die Ausdehnung der Institutionen der sozialen Sicherheit auf die ganze Bevölkerung aufgelöst. Religiöse und weltanschauliche Spaltungen blieben jedoch in stärkerem Maße erhalten und entfalteten eine entscheidende Wirkung auf Struktur und Bedeutung des Dritten Sektors im Wohlfahrtsbereich. Nur in der besonderen historischen Konstellation einer durchgreifenden Reformation mit im Ergebnis homogenen protestantischen Ländern verschmolzen protestantische und öffentliche Wohlfahrtspflege weitgehend zu einem homogenen kommunalen System. In homogen katholischen Ländern ohne tiefere Spaltung zwischen einem religiös-klerikalen und einem laizistisch-antiklerikalen Lager konnte die Kirche ihre angestammte dominierende Rolle in diesem Bereich, verbunden mit einem hohen Maß an Autonomie, bewahren; die traditionellen Hilfesysteme wurden insgesamt wenig ausgebaut und kaum öffentlich institutionalisiert. Anders verlief die Entwicklung in katholischen Ländern mit starken laizistischen Kräften. Hier entwickelte sich ein duales System katholischer „privater“ und laizistischer „öffentlicher“ Dienste, wobei sich beide Säulen aufgrund konkurrierender Mobilisierung der Bevölkerung relativ weit ausdehnten und erst später unter einem gemeinsamen Dach integriert wurden, ohne jedoch die voneinander getrennten Einheiten von Grund auf aufzulösen. In Ländern mit religiös gemischter Bevölkerung entstanden zumeist unter dem Dach der Kirchen verschiedene Systeme für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Es entstanden katholische Vereine und Organisationen für die katholische Bevölkerung, protestantische für die reformierten Glaubensgemeinschaften. Daneben entwickelten sich öffentliche, weltanschaulich neutrale bzw. laizistisch oder sozialistisch orientierte Einrichtungen. In diesen Ländern konnte sich die weltanschaulich gespaltene freie Wohlfahrtspflege dauerhaft eine zentrale Stellung im System sozialer Dienste sichern, weil eine frühe Kommunalisierung bzw. „Verstaatlichung“ aufgrund dieser

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Spaltung ausgeschlossen war. In diesem Zusammenhang kann man von einem historisch bedingten Wohlfahrtspluralismus sprechen, auch wenn die Systeme später stärker integriert und vereinheitlicht worden sind (vgl. Evers und Olk 1996; Bauer und Thränhardt 1987).

Staat und Familie Die dritte Dimension des „Privaten“ betrifft das Verhältnis von Staat und Familie. Die Familie ist eine der ältesten und wichtigsten sozialen Institutionen unserer Gesellschaften. Aus diesem Grund wurde ihre Funktionsweise stets einer gewissen sozialen Kontrolle unterworfen (vgl. Bahle 1995). Im modernen Wohlfahrtsstaat erreichten dann sowohl soziale Kontrolle als auch Unterstützung der Familie ihren historischen Höhepunkt. In allen Ländern baute der Wohlfahrtsstaat implizit auf den vielfältigen Leistungen der Familie auf, insbesondere im Bereich sozialer Dienste. Die Variationen zwischen den Ländern im Verhältnis von Staat und Familie sind jedoch erheblich (vgl. Kaufmann 1994; Pfenning und Bahle 2000; Hantrais und Letablier 1996). Zunächst unterscheiden sich die Familienmodelle. In den skandinavischen Ländern und auch in Großbritannien herrscht eine individualistische Institutionalisierungsform vor, welche die Rechte und Ziele einzelner Familienmitglieder in den Mittelpunkt stellt. Die staatliche Sozialpolitik begann in diesen Ländern sehr häufig als eine Schutzpolitik zugunsten schwächerer individueller Familienmitglieder: Frauen und Kinder. Schwangere Mütter, kleine Kinder, geschiedene Frauen wurden neben ärmeren Bevölkerungsschichten, Alten und Kranken zu den wichtigsten Objekten einer zunächst meist paternalistisch verstandenen staatlichen Sozialpolitik. Nicht der Gedanke der Sicherung stand dabei im Mittelpunkt, sondern das Ziel der gesellschaftlichen Solidarität und Unterstützung Hilfsbedürftiger. Erst später wurde diese Politik, vor allem in den skandinavischen Ländern, auch mit emanzipatorischen Motiven durchwirkt und mit dem Ziel gesellschaftlicher Gleichheit verbunden. Gleichheit wurde somit zum Leitmotiv der Sozialpolitik in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten. Damit war nicht nur Gleichheit zwischen den sozialen Schichten und Klassen, sondern vor allem auch Gleichheit zwischen den Geschlechtern gemeint. Wiederum wurde die Familie bzw. wurden ihre einzelnen Mitglieder zum Angelpunkt der staatlichen Sozialpolitik. Nun ging es jedoch nicht mehr in erster Linie darum, die Schwächeren zu schützen, sondern die Familie insgesamt von sozialen Aufgaben zu entlasten und mehr in die Gesellschaft einzubinden, um den Kindern bessere Chancen zu bieten und die Frauen von familiären Pflichten zu entlasten. Verbunden mit dieser Zielsetzung war ein im westeuropäischen Vergleich einmaliges Ausmaß der Sozialisierung persönlicher Dienstleistungen für die große Mehrzahl der Bevölkerung auf qualitativ hohem Niveau. Während eine individualistisch geprägte Sichtweise der Familie traditionell auch in England vorherrscht, blieb die Sozialpolitik hier im Unterschied zu Skandinavien dem Leitbild des Schutzes der Schwachen verpflichtet und hat sich nicht so sehr dem Ziel einer gesellschaftlichen Emanzipation und Gleichheit geöffnet. Dieser Entwicklung stand die liberale englische Auffassung von der Autonomie der Familie entgegen, die in den skandinavischen Ländern weniger stark entwickelt war. Die Ursprünge dieser Auffassung liegen zum großen Teil in der englischen Religionsgeschichte mit ihren vielfältigen Verwerfungen und Konflikten. Während die Reformation in den skandinavischen Ländern durchgreifend

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erfolgreich war, blieb sie in England unvollständig. Dies hat dazu geführt, dass es in England stets einen nicht zu vernachlässigenden katholischen Bevölkerungsanteil gab und es in großem Ausmaß zu einer Abspaltung protestantischer Freikirchen von der Anglikanischen Kirche kam. Die englische Religionsgeschichte ist also weit vielfältiger als häufig angenommen und war zudem durch schwere gesellschaftliche Konflikte bis hin zum Bürgerkrieg geprägt. Der gesellschaftliche Liberalismus englischer Prägung (im Unterschied zu einem rein wirtschaftlich verstandenen Liberalismus) hat seine Ursprünge genau in dieser Struktur gesellschaftlicher Spaltungen und Konflikte. Der Staat sollte sich nur so weit ins gesellschaftliche Leben einmischen wie es für die öffentliche Ordnung nötig war. Eine staatliche Leitfunktion und eine weitergehende staatliche Steuerung des gesellschaftlichen Lebens wurden abgelehnt, individuelle Rechte und die Autonomie gesellschaftlicher Institutionen gegenüber dem Staat wurden gestärkt. So kam es dazu, dass sich im Verhältnis von Staat und Familie ein Liberalismus im doppelten Sinn herausbildete: einerseits wurden die individuellen Rechte des Einzelnen gegenüber der Institution der Familie gestärkt, andererseits wurde die Autonomie der Institution der Familie gegenüber dem Staat geschützt. Die staatliche Intervention fand genau dort ihr Ende, wo die Rechte der schwächeren Mitglieder erfolgreich geschützt waren. Weder Emanzipation noch Gleichheit wurden somit zu beherrschenden Zielen wohlfahrtsstaatlicher Politik. In den stärker vom Katholizismus geprägten europäischen Ländern herrschte dagegen ein mehr an der Institution der Familie und ihrem Charakter als sozialer Gruppe orientiertes Verständnis vor. Nicht das Individuum, sondern die soziale Gruppe und Institution der Familie stand und steht im Mittelpunkt dieser Konzeption. Diese Vorstellung hat auch in den religiös gemischten Gesellschaften Westeuropas deutliche Spuren hinterlassen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. In dieser Konzeption ist der Begriff der Subsidiarität Angelpunkt des Verhältnisses zwischen Staat und Familie. Diese Vorstellung unterscheidet sich jedoch grundlegend von der liberalen Vorstellung einer weitreichenden Autonomie wie im englischen Fall. Subsidiarität bedeutet einen Vorrang für unmittelbarer mit dem Menschen verbundene gesellschaftliche Institutionen gegenüber dem Staat bei der Erfüllung sozialer Aufgaben. Familie, Kirche und Gemeinde haben in dieser Vorstellung somit Vorrang gegenüber umfassenderen staatlichen Regelungen, weil sie näher an den Bedürfnissen des Menschen liegen. Dahinter steht jedoch auch die allgemeine Vorstellung, dass die Autonomie gesellschaftlicher Subsysteme, nicht zuletzt der Kirche selbst, gegenüber den umfassenden Regelungs- und Kontrollansprüchen des modernen Staates zu schützen ist. Mit dieser Vorstellung von Subsidiarität ist jedoch zugleich die Idee verbunden, dass die „autonomen“ primären gesellschaftlichen Institutionen bestimmte soziale Aufgaben erfüllen sollen, und zwar auf eine allgemein akzeptierte und sozial kontrollierte Weise. Soziale Kontrolle der Familie ist somit nicht ausgeschlossen, im Gegenteil. Diese soziale Kontrolle soll jedoch nicht vom Staat, sondern von der Kirche bzw. der lokalen Gemeinschaft der Gläubigen ausgeübt werden. Im Unterschied zur liberalen Idee der Autonomie, der es in erster Linie um Abwehr von als illegitim empfundenen Interventionen in einen Raum genuiner sozialer Selbstregulierung geht, ist die Vorstellung der Subsidiarität mit einer umfassenderen Konzeption der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Solidarität verbunden. Wenn primäre soziale Institutionen die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen nicht erfüllen, kann und muss die Gesellschaft diese Institutionen stärken oder im Extremfall auch deren Aufgaben übernehmen. Im Gegensatz zum liberalen Grundsatz der Nicht-

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einmischung gibt es in diesem Fall also einen klaren gesellschaftspolitischen Auftrag zur Förderung und auch zur Intervention im Interesse des gesellschaftlich höher bewerteten Gutes der Solidarität. Die religiös gemischten Gesellschaften Westeuropas, zu denen auch Deutschland gehört, verdienen in diesem Zusammenhang besonderes Augenmerk. In ihnen hat sich aufgrund der konfessionellen Spaltung eine besondere Form der Autonomie und Subsidiarität entwickelt, die weder am Individuum noch am übergeordneten gesellschaftlichen Ganzen ausgerichtet ist, sondern die Verschiedenheit der weltanschaulichen und konfessionellen Gruppen in den Mittelpunkt stellt. Soziale Dienste entwickelten sich zunächst innerhalb dieser verschiedenen Gruppen, also getragen durch die Katholische Kirche für den katholischen Bevölkerungsanteil und die evangelischen Kirchen für die protestantische Bevölkerung. In Ländern mit starken liberalen und/oder sozialistischen Strömungen, die meist areligiös oder antiklerikal orientiert waren, entstanden daneben Systeme für diesen Bevölkerungsteil. Die Familie war somit in jeweils verschiedene „Lager“ eingebunden, welche die ganze Gesellschaft umfassten und strukturierten. Die Beziehungen des Staates zur Familie waren dadurch mehrfach gebrochen, eine gemeinsame Institutionalisierung dieser Beziehungen unter einem Dach war nahezu ausgeschlossen. Aus diesem Grund entwickelte sich in diesen Ländern auch nur sehr zögerlich eine aktive Familienpolitik. Die Familie war kein „privater“ Lebensbereich, aber auch keine öffentliche Angelegenheit des Staates. Sie wurde vielmehr innerhalb der sozialen Gruppen auf verschiedene Art und Weise institutionalisiert. Die drei Länder unseres Vergleichs nehmen im westeuropäischen Kontext hinsichtlich dieser Vergleichsdimensionen jeweils charakteristische Positionen ein (vgl. Ashford 1982; Eichhorn 1996). England und Wales sind durch einen hohen Grad politischer Zentralisierung und eine große Bedeutung der Kommunen in der Durchführung der Sozialpolitik gekennzeichnet. Darin spiegelt sich die lange Geschichte englischer Politik und Verwaltung seit dem elisabethanischen Armenrecht wider. Der typische diversifizierte freie Wohlfahrtssektor beruht auf der traditionellen weltanschaulichen und religiösen Vielfalt der britischen Gesellschaft und ihrer wechselvollen Beziehungen zum Staat. Ebenso kann die sehr begrenzte Intervention des Staates in die Institution der Familie als Ergebnis dieser weltanschaulichen Vielfalt und eines starken Liberalismus betrachtet werden. Die im internationalen Vergleich außergewöhnlich bedeutende Stellung des kommerziellen Sektors im Bereich sozialer Dienste kann durch den begrenzten Umfang des britischen Wohlfahrtsstaates erklärt werden, der sich auf grundsichernde Elemente und ärmere Bevölkerungsschichten konzentrierte, wodurch insbesondere die Mittelschichten auf den Markt oder auf Eigeninitiative im Rahmen bürgerschaftlichen Engagements angewiesen waren. Frankreich ist demgegenüber durch ein hohes Maß an Verwaltungszentralisierung geprägt, der jedoch eine relativ große politische Bedeutung der Kommunen gegenübersteht. Der freie Wohlfahrtssektor ist traditionell stark katholisch geprägt und wurde daher lange Zeit vom Staat mit großer Skepsis betrachtet. Die laizistische Tradition der Französischen Republik überließ diesen Vereinigungen daher nur diejenigen Bereiche, die nicht zum Kern staatlicher Verantwortung und Politik gezählt wurden. Zwar entwickelte sich auf dieser Grundlage ein ebenso gemischtes Wohlfahrtssystem wie zum Beispiel in Deutschland, aber die Grundlagen dieses Systems waren ganz andere. Aus dem in Deutschland vorherrschenden Grundprinzip der Subsidiarität folgt die Vorstellung, dass der Staat nur in denjenigen Aufgabenbereichen tätig werden sollte, die von den gesellschaftlichen Einrichtungen nicht

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hinreichend erfüllt werden. Im französischen Fall kann man dagegen geradezu von einer Umkehrung dieses Prinzips sprechen, wodurch den freien Vereinigungen nur diejenigen Bereiche überlassen blieben, die vom Staat für minder wichtig erachtet wurden. Diese Umkehrung des klassischen Subsidiaritätsgedankens hat zwar den Aufbau eines quantitativ durchaus bedeutsamen Sektors der freien Wohlfahrtspflege in bestimmten Bereichen nicht verhindert, aber die Beziehungen zwischen diesem und dem Staat in charakteristischer Weise geprägt. In diesen Beziehungen dominierte in Frankreich stets eindeutig der Staat (vgl. Archambault 1996). Es entwickelte sich deshalb in Frankreich kein System der Verbändewohlfahrt, das dem deutschen Korporatismus vergleichbar wäre. Deutlich sieht man diese größere aktive Rolle des Staates auch in der Familienpolitik. Zwar entstand die französische Familienpolitik im internationalen Vergleich sehr früh und war ursprünglich geprägt durch freiwillige Initiativen katholischer Kreise, doch wurde sie auch relativ früh staatlich reguliert und überformt (vgl. Schultheis 1988). Nicht Subsidiarität, sondern eine aktive Unterstützung des Staates für die Familie war Kennzeichen dieser Politik. In Bezug auf den Aufbau des Wohlfahrtsstaates in den klassischen Feldern der sozialen Sicherheit ist Frankreich dagegen durch den starken Einfluss des wirtschaftlichen Liberalismus geprägt (vgl. Kaufmann 2003). Frankreich gehörte deshalb trotz früher, wenngleich weniger durchgreifender Industrialisierung zu den Ländern, die im internationalen Vergleich sehr spät wohlfahrtsstaatliche Institutionen der sozialen Sicherung aufbauten. Charakteristisch für das ganze 19. Jahrhundert und bis 1945 war vielmehr die enorme Bedeutung freiwilliger sozialer Sicherungseinrichtungen auf der Grundlage der weit verbreiteten mutualité und économie sociale (vgl. Vienney 1994). Dies spiegelt die ökonomischen und sozialen Interessen des französischen Bürgertums wider, das seit der Revolution und vor allem in der parlamentarischen Dritten Republik zur beherrschenden sozialen Klasse aufgestiegen war. Der Staat richtete sich zwar strikt gegen die Präsenz weltanschaulich geprägter Gruppen im öffentlichen Raum der Politik, überließ jedoch große Teile der Sozialarbeit katholischen Organisationen und wichtige Bereiche der sozialen Sicherheit dem bürgerlich beherrschten Mutualismus. In Deutschland verleiht die föderale politische Ordnung der Bundesregierung nur begrenzte Kompetenzen im Sozialbereich. Länder und Kommunen sind wichtige eigenständige Akteure, doch hat die Bundesgesetzgebung im Lauf der Jahre immer mehr zugenommen und die kommunale Selbstverwaltung ausgehöhlt. Aufgrund der großen Bedeutung der Sozialversicherung im deutschen Sozialstaat und der Präsenz starker freier Wohlfahrtsvereinigungen ist die Rolle der Kommunen als Finanzier und Anbieter sozialer Dienste von vornherein eingeschränkt. Hinzu kommen die von den Ländern ausgeübten regionalen Kompetenzen und die zunehmende Intervention des Bundesgesetzgebers in die soziale Daseinsvorsorge. So spielen die Kommunen eine Rolle, die sicher größer ist als in Frankreich, aber geringer als in England und Wales, weil sie sich das Feld mit anderen Organisationen, insbesondere den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, teilen müssen (vgl. Heinze und Olk 1981). Aufgabenverschränkung, Kompetenzteilung und Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren sind somit zentrale Merkmale des deutschen Sozialsystems (vgl. Bäcker et al. 2000; Pfenning und Bahle 2002). Die Macht der Verbände der freien Wohlfahrtspflege ist historisch begründet und entspricht der großen gesellschaftlichen Bedeutung, welche die Religionsspaltung einst hatte. Während das Deutsche Kaiserreich als einer der ersten Staaten überhaupt soziale Sicherungssysteme für die Arbeiterschaft auf nationa-

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ler Ebene schuf, blieb die Finanzverfassung des Reiches stark föderal geprägt; die Einzelstaaten hatten erheblichen Einfluss auf die Reichspolitik in diesem Bereich. Zugleich blieben die staatlichen Kompetenzen im Bereich sozialer Dienste gering. Hier beherrschten die religiösen Wohlfahrtsorganisationen das Feld, vor allem Caritas und Innere Mission. Im katholischen Milieu waren diese Verbände Teil einer umfassenden Strategie zur Behauptung von Autonomie und kirchlichen Einflusszonen gegenüber einem protestantisch beherrschten und dominierten Reichsverband unter der Führung des ungeliebten Preußens. Die protestantische Innere Mission und ihre Sozialwerke betonten ebenfalls den Aspekt der kirchlichen Autonomie und Zuständigkeit im Sozialbereich, doch war das klassische Konzept der Subsidiarität katholischen Ursprungs und gründete auf der defensiven Strategie einer sich nach der Reichsgründung von 1871 bedroht fühlenden katholischen Kultur in Deutschland. Zudem fand die katholische Kirche einen starken Verbündeten in Bayern. In den anderen Gliedstaaten des Reiches waren die Katholiken jedoch meist in der Position einer zahlenmäßig bedeutsamen Minderheit, so in Preußen und Württemberg. Neben der sich auf religiösem Fundament herausbildenden freien deutschen Wohlfahrtspflege hatte die städtische und kommunale Sozialpolitik eine lange Tradition (Sachße und Tennstedt 1988). Sie konzentrierte sich jedoch im 19. Jahrhundert stärker auf die allgemeinen Gesundheitsdienste, Wasser- und Abwasserversorgung und ähnliche kollektive Bereiche der Daseinsvorsorge, während die mit individuellen Lebenslagen verbundenen Bereiche der sozialen Dienste eine geringere Rolle spielten. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde schließlich das so entstandene duale System sozialer Dienste durch den Reichsgesetzgeber institutionalisiert; Kommunen und Verbände der freien Wohlfahrtspflege sollten in diesem System eng kooperieren, der Vorrang gebührte allerdings den freien Trägern. Im Unterschied zu den sozialen Diensten wurde die Sozialversicherung als zweites zentrales Merkmal des deutschen Sozialstaats früh staatlich institutionalisiert, jedoch nicht verstaatlicht, sondern blieb in Form einer paritätischen Selbstverwaltung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern erhalten. Dadurch sollten die Arbeiter in die deutsche Gesellschaft integriert werden. Trotz dezentraler Organisation der wichtigsten Zweige der Sozialversicherung auf Länderebene, waren Finanzierung und Leistungen von Anfang an zentralstaatlich geregelt. Die Sozialversicherung hat stets eine wichtige Rolle für die Finanzierung sozialer Dienste gespielt, vor allem in den Bereichen Gesundheit und Pflege. Die deutsche Struktur kann also durch eine Mischung von zentralstaatlichen, föderalen und kommunalen Kompetenzen in Verbindung mit einer im internationalen Vergleich wohl einmaligen Rolle der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege gekennzeichnet werden, deren Verbändeoligopol das Dienstleistungsangebot weithin beherrscht. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die Sozialversicherung als herausragendes Instrument zur Finanzierung sozialer Leistungen und Dienste.

Strukturmerkmale des Wohlfahrtsstaates im Vergleich Nachdem die historisch-strukturellen Variationen zwischen den drei Ländern unseres Vergleichs im europäischen Kontext dargestellt worden sind, soll nun die Entwicklung und Struktur der Dienstleistungen betrachtet werden. Zunächst geht es um die Bedeutung sozialer Dienste im Wohlfahrtsstaat insgesamt, um die Entwicklung von Diensten für verschiedene Zielgruppen und in unterschiedlichen Bereichen, und schließlich um die Angebots-

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und Anbieterstruktur im Vergleich. Wie lassen sich unsere drei Länder hinsichtlich dieser Merkmale im westeuropäischen Kontext positionieren? Der britische Wohlfahrtsstaat gilt im internationalen Vergleich häufig als Prototyp des liberalen Modells. Merkmale, die für eine solche Eingruppierung sprechen, sind zum Beispiel die Konzentration der Sozialpolitik auf ärmere Bevölkerungsschichten unter Ausschluss großer Teile der Mittelschichten, die hohe Bedeutung der Bedürftigkeitsprüfung von Sozialleistungen, der hohe Anteil an kommerziellen Anbietern und die weit verbreitete Anwendung der marktmäßigen Koordination. Doch neben diesen unzweifelhaft liberalen Strukturelementen weist der britische Sozialstaat einige zentrale Institutionen allgemeiner sozialer Staatsbürgerrechte auf, die den Charakter einer sozialen Grundsicherung haben (vgl. Kohl 1993; 2002). Dazu zählen der Nationale Gesundheitsdienst, die staatliche Grundrente, das Kindergeld und die lokalen sozialen Dienste insbesondere für ältere Menschen. Diese Elemente wurden im Zuge der grundlegenden Reform des britischen Sozialstaates nach 1945 nach der Vorlage von Beveridge eingeführt. Zwar bewegte sich diese Grundsicherung für alle Staatsbürger bzw. Einwohner des Königreichs stets auf niedrigem Niveau, sie ist jedoch aufgrund ihres universellen Charakters prinzipiell von den bedürftigkeitsgeprüften Leistungen für Ärmere zu unterscheiden. So vereinte der britische Wohlfahrtsstaat nach 1945 liberale und sozialdemokratische Elemente; Armenpolitik und soziale Grundsicherung auf einem für alle gleichen niedrigen Niveau gingen Hand in Hand. Der französische Wohlfahrtsstaat wird neben dem deutschen Wohlfahrtsstaat als typischer Vertreter des konservativen Modells genannt. Als wichtigste Kennzeichen dieses Modells gelten ein ausgebautes System der sozialen Sicherung mit starken statussichernden Elementen, die Einbindung gesellschaftlicher Gruppen und Verbände in ein korporatistisches System der Sozialpolitik und eine hohe Bedeutung der Familie mit vorwiegend traditioneller Arbeitsteilung. Der Wohlfahrtsstaat ist in diesem Modell weiter ausgebaut als im liberalen Modell, jedoch weniger „staatlich“ organisiert als im sozialdemokratischen Fall. Das Versicherungsmodell und die korporative Selbstverwaltung haben hohe Bedeutung. Soziale Dienste sind weniger entwickelt als in den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten. Doch dieses Modell muß im französischen Fall in mehrerlei Hinsicht modifiziert werden. Zwar entwickelte sich das französische System der sozialen Sicherung auf der Grundlage eines vielfältigen, zunächst oft freiwilligen, organisatorisch nach Status- und Berufsgruppen gegliederten Systems, doch wurden die meisten Sondersysteme nach 1945 Schritt für Schritt in das allgemeine System (régime général) mit gleichen Regeln integriert (vgl. Laroque 1990; MIRE 1996-1998). Der ursprüngliche Plan einer radikalen Vereinfachung und vollständigen Integration der verschiedenen Organisationen und Zweige der Sozialversicherung nach 1945 scheiterte zwar, doch wurde das System seitdem stärker integriert und vereinheitlicht. Erhalten geblieben sind jedoch die fragmentierte Organisationsstruktur und die korporative Steuerung des Systems der sozialen Sicherung durch selbstverwaltete Organe. Doch die beiden anderen Kernelemente des konservativen Wohlfahrtsstaatsmodells fehlen im französischen Fall. Im Bereich sozialer Dienste (action sociale) kann man kaum von einem korporatistischen System sprechen. Vielmehr agieren Staat und freie Akteure meist in unterschiedlichen Bereichen; freie Vereinigungen wurden nicht ins öffentliche System integriert. Im Unterschied zum klassischen konservativen Modell waren die staatlichen Dienstleistungen in Frankreich auch nicht unterentwickelt, im Gegenteil! Gerade im Bereich der Dienste für Kinder und Familien gehört Frankreich zu den führenden Nationen in

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Westeuropa, mit zum Teil höher entwickelten Diensten als in Skandinavien. Von einer Orientierung auf das traditionelle Rollenmodell der Familie kann in dieser Hinsicht auch keine Rede sein. Zwar unterstützt der französische Staat die klassische Familie sehr stark im Rahmen des Familienlastenausgleichs und der Steuerpolitik, doch von Anfang an stand auch die arbeitende Mutter im Zentrum sozialpolitischer Aktivitäten. Frankreich kann also in dieser Hinsicht eher als eine Mischung von konservativen und sozialdemokratischen Strukturmerkmalen verstanden werden. In den klassischen Bereichen der sozialen Sicherung überwiegen nach wie vor die „konservativen“ Elemente; die Familienpolitik, große Teile der Gesundheitspolitik sowie der Behinderten- und Armenhilfe müssen jedoch unter dem Aspekt einer aktiven Gesellschaftspolitik mit dem Ziel einer Versorgung der Bevölkerung mit allgemeinen Leistungen und Diensten betrachtet werden (vgl. Bode 1999). Noch mehr als Frankreich gilt Deutschland als der klassische Vertreter des konservativen Wohlfahrtsstaatsmodells. Tatsächlich ist der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich durch ein hohes Maß an Statussicherung und korporativer Organisation geprägt. Die soziale Sicherung beruht überwiegend auf dem Modell der Sozialversicherung für Arbeitnehmer. Soziale Lagen und Probleme, die nicht mit Erwerbstätigkeit verbunden sind, erfahren geringere staatliche Aufmerksamkeit. Daher haben sich soziale Dienste für Kinder und alte Menschen erst relativ spät und weniger umfangreich entwickelt als in anderen fortgeschrittenen europäischen Industriegesellschaften. Die korporative Organisationsform bestimmt auch das Feld sozialer Dienste, das zudem durch eine starke Zentralisierung der dort tätigen Verbände der freien Wohlfahrtspflege charakterisiert ist. Das Prinzip der Subsidiarität hat zwar nicht die deutsche Sozialversicherungspolitik geprägt, die durch frühen staatlichen Zwang und ein hohes Maß an staatlicher Regulierung und Verrechtlichung gekennzeichnet ist, wohl aber das Verhältnis zwischen Staat und Familie. Nach den Erfahrungen des Dritten Reiches entwickelte sich die Familienpolitik in der Bundesrepublik sehr zögerlich und war vor allem darauf gerichtet, Familien finanziell zu unterstützen und die traditionelle Arbeitsteilung zu untermauern. Auch aus diesem Grund wuchsen familienbezogene soziale Dienste nur sehr langsam. Deutschland kann in dieser Hinsicht tatsächlich als Prototyp des konservativen Wohlfahrtsstaates betrachtet werden. Soziale Statusunterschiede zwischen Beamten, Angestellten und Arbeitern, die Sonderstellung der Landwirtschaft und des alten Mittelstandes, die föderale politische Ordnung, die kommunale Selbstverwaltung und die weltanschaulich-religiöse Vielfalt der deutschen Gesellschaft haben den Aufbau eines universalistischen Wohlfahrtsstaates nach skandinavischem oder britischem Muster verhindert. Hinzu kommt ein traditionelles Familienleitbild, das vor allem in den ersten Jahrzehnten der Bundsrepublik die deutsche Familienpolitik geprägt hat.

Soziale Dienste im europäischen Vergleich Diese unterschiedlichen Merkmale der drei hier untersuchten Wohlfahrtsstaaten schlagen sich in der Angebotsstruktur sozialer Dienste nieder. Dabei stehen die europäischen Länder vor ähnlichen demographischen Herausforderungen (siehe Tabelle 2). In den „alten“ EUMitgliedsländern (EU 15) stieg der Anteil der Menschen über 75 an der Gesamtbevölkerung zwischen 1980 und 2000 um mehr als 50 % auf insgesamt 7,7 %. In unseren drei Vergleichsländern war der Anstieg in Großbritannien am ausgeprägtesten, am wenigsten stark

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war er in Deutschland. Großbritannien hat von den drei Ländern im Jahr 2000 auch den höchsten Anteil an alten Menschen in der Bevölkerung. Bei Kindern unter 5 Jahren jedoch, der zweiten hier betrachteten Zielgruppe, liegt Frankreich mit einem Anteil von 6,7% an der Bevölkerung im Jahr 2000 vor Großbritannien und deutlich vor Deutschland mit 5%. Großbritannien und Frankreich liegen in dieser Hinsicht auch beide über dem europäischen Durchschnitt, Deutschland hingegen deutlich darunter. Darin spiegeln sich natürlich die unterschiedlichen Geburtenraten in diesen drei Ländern wider. Der demographische Problemdruck hinsichtlich der Versorgung mit sozialen Diensten variiert also etwas zwischen den drei Ländern, sie befinden sich jedoch nicht auf Extrempositionen im gesamteuropäischen Vergleich, sind also hinreichend „ähnlich“ für die Zwecke unseres Vergleichs. Tabelle 2: Altersstruktur der Bevölkerung*, Europa 2000 Land

Ältere Menschen 75+ Index**