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German Pages 190 S. [197] Year 2012
Refresher Course Aktuelles Wissen für Anästhesisten Nr. 38 05. - 07. Mai 2012, Leipzig
Herausgegeben von der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung
Aktiv Druck & Verlag GmbH
Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (DAAF) Schriftführung: Prof. Dr. med. T. Koch Direktorin der Klinik und Poliklinik für Anaesthesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Fetscherstraße 74 01307 Dresden Internet: www.uniklinikum-dresden.de E-Mail: [email protected]
ISSN 1431-1437 ISBN 978-3-932653-38-4 Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach Aktuelles Wissen für Anästhesisten: Refresher Course / hrsg. von der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung. ISSN 1431-1437 Nr. 38, Mai 2012, Leipzig- (2012) ISBN 978-3-932653-38-4 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
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IV
Geleitwort
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
,, Wissen ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt!" In diesem Sinne laden wir sie ein, das auch im diesjährigen Refresher Course Band 2012 von renommierten Experten dargestellte aktuelle Wissen mit uns zu teilen. Wissens- und Kompetenzerhalt sind eine lebenslange Herausforderung in unserem Beruf zur Erhöhung der klinischen Versorgungsqualität und der Sicherheit der uns anvertrauten Patienten! Der Refresher Course auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DAC) hat sich - neben den weiteren etablierten Veranstaltungen und Repetitorien der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (DAAF) - zu einem der herausragenden Instrumente der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Sinne der Continuing Medical Education (CME) entwickelt. Auf dem DAC 2012 in Leipzig wird der nunmehr 38. Refresher Course der DAAF angeboten, der in bewährter Tradition eine breite Palette von aktuellen Themen beinhaltet und alle Bereiche, von klinischer Anästhesie über die lntensivmedizin und Notfallmedizin bis zur Schmerztherapie, abdeckt. Namhafte Referenten geben in zehn Sitzungen einen Überblick über den aktuellen Wissensstand unseres Fachgebietes und tragen somit maßgeblich zur Qualitätssicherung in unseren täglichen Aufgaben bei. Die Beiträge sind in dem vorliegenden Buchband zusammengefasst. Er soll interessierten Kolleginnen und Kollegen die Gelegenheit geben, die Themen nachzulesen, nachzuarbeiten und zu vertiefen. Ein besonderer Dank gilt den Referenten und Autoren, die sich neben ihren klinischen Verpflichtungen die Mühe gemacht haben, einen aktuellen Überblick über die Entwicklungen des Fachgebietes herauszuarbeiten. Wir wünschen den Lesern viel Freude mit diesem Werk und hoffen, dass die ausgewählten Themen ihr Interesse finden und hilfreiche Informationen für die tägliche Praxis liefern.
Prof. Dr. med. Thea Koch - Präsidentin der DAAF -
Prof. Dr. med. Hans Anton Adams - Vizepräsident der DAAF -
V
Inhaltsverzeichnis
Der antikoagulierte Patient vor der Operation - was müssen Anästhesist und Operateur beachten? K. A. BOOST . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 Differenzierte Therapie mit Blutprodukten in der akuten Blutung gibt es eine Evidenz? C. VON HEYMANN, L. KAUFNER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Krankes Kind - kleiner Eingriff M. JöHR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Ist Narkose für Kinder schädlich? J. S'fRAUSS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
......... ..........................
33
A. GOTTSCHALK . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . .
39
Patientensicherheit in der Anästhesie
Intraoperative Hypotension - na und? A. WEYLAND, F. GRÜNE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Die neuen Empfehlungen zur präoperativen anästhesiologischen Evaluierung- wie konkret anwenden? F. W APPLER . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Ambulante Anästhesie - Der Wandel des Anästhesisten zum perioperativen Mediziner M. MöLLMANN, A. HEMPING-BOVENKERK . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . .
73
Mikrozirkulationsstörungen - Diagnostik und Therapie M. FRIES, V. MATHEIS, G. MARX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Prävention nosokomialer Pneumonien
s. LAUDI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . 95 Postoperative Ernährung - früher oder später? T.W. FELBINGER, H.P. RICHTER . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . ...
................
101
B . ELLGER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Einstellung des Blutzuckers beim Intensivpatienten
Patientenversorgung im Großschadens- und Katastrophenfall das EVK-Konzept H.A. ADAMS, A. FLEMMING, C. LANGE, F. HILDEBRAND, C. KRETIEK, W. KOPPERT . . . . . . . . . . . . : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Panikreaktionen und Massenphänomene
s. A. PADOSCH
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
VII
Die neue S3 - Leitlinie zur Polytrauma-Versorgung M. D. FRANK ........................................................ 141 Medikamentenfehler bei Kindernotfällen - und wie sie vermieden werden können J. KAUFMANN, M. LASCHAT, F. W APPLER .••.....•..•..•....•..••.•••••..•.. 163 Postoperative Schmerztherapie M. POELS, R. JOPPICH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Update - Chronische Schmerzen M. KARST . . . . . . . . . . . . • . • . . • . • • • . • . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . 185
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Autorenverzeichnis
BoosT K. A., PD. DR. Klinik für Anaesthesiologie, Intensivmedizin und Notfallmedizin Klinikum der Universität München Nussbaumstr. 20, 80336 München VON HEYMANN CH., PROF. DR., DEAA Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin Charite-Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum/Campus Charite Mitte Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin JöHR M., DR.
Institut für Anästhesie, Chirurgische Intensivmedizin, Rettungsmedizin und Schmerztherapie (IFAIRS) Luzerner Kantonsspital, 6000 Luzern 16 / Schweiz STRAUSS J. M., PROF. DR. Klinik für Anästhesie, perioperative Medizin und Schmerztherapie HELIOS Klinikum Berlin Buch Schwanebecker Chaussee 50, 13125 Berlin GOTTSCHALK A., PD DR., MBA Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerzmedizin Diakoniekrankenhaus Friederikenstift gGmbH Diakonische Dienste Hannover Humboldtstr. 5, 30169 Hannover WEYLAND A., PROF. DR. Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie Klinikum Oldenburg gGmbH Rahel-Straus-Str. 10, 26133 Oldenburg WAPPLER F., PROF. DR. Klinikum der Universität Witten / Herdecke - Köln Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Krankenhaus Köln-Merheim Ostmerheimer Str. 200, 51109 Köln MöLLMANN M., PROF. DR. St. Franziskus Hospital Münster Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin Hohenzollernring 72, 48145 Münster MARX G., UNIV.-PROF. DR. Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care Universitätsklinikum der RWTH Aachen Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen
IX
s., DR. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Leipzig Liebigstr. 20, 04103 Leipzig
LAUDI
FELBINGER TH. w., PD DR. Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie Klinikum Neuperlach, Städtisches Klinikum München GmbH Oskar-Maria Graf Ring 51, 81377 München ELLGER B., PROF. DR. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Universitätsklinikum Münster Albert-Schweitzer-Str. 33, 48149 Münster ADAMS H. A., PROF. DR. Interdisziplinäre Notfall- und Katastrophenmedizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover PADOSCH S. A., PD DR. Klinik für Anästhesiologie und Operative lntensivmedizin Uniklinik Köln 50924 Köln MARK F., DR. MED. Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und lntensivtherapie Universitätsklinikum Dresden Fetscherstr. 74, 01307 Dresden KAUFMANN J., DR. Abteilung für Kinderanästhesie Kinderkrankenhaus, Kliniken der Stadt Köln gGmbH Amsterdamerstr. 59, 50735 Köln
M.,DR. Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße Kliniken der Stadt Köln gGmbH Amsterdamer Str. 59, 50735 Köln-Riehl
POELS
KARST M., PROF. DR. Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin Schmerzambulanz, Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
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Der antikoagulierte Patient vor der Operation - was müssen Anästhesist und Operateur beachten? K.A. BoosT
Vorbemerkung Durch zunehmendes Alter und Erkrankungsschwere unserer Patienten werden Anästhesist und Operateur immer häufiger mit dauerhaft antikoagulierten Patienten konfrontiert. Zusätzlich sind in den letzten Jahren durch die vermehrte Anwendung von medikamentenbeschichteten Koronarstents (DES) Wirkstoffkombinationen in die klinische Praxis eingeführt worden, die eine profunde thrombozytäre Aggregationshemmung bewirken. Dies wirft regelmäßig die Frage auf, wie das optimale Gerinnungsmanagement eines solchen Patienten in der perioperativen Phase zu planen ist. Die Gefahr einer erhöhten Blutungsneigung muss hierbei nicht nur im Hinblick auf die operative Intervention, sondern auch auf die Wahl des anästhesiologischen Verfahrens (z. B. rückenmarknahes Regionalverfahren) in Abwägung mit dem thromboembolischen Risiko beachtet werden.
Gerinnungshemmung Gerinnungshemmende Substanzen werden bei verschiedenen arteriellen und venösen thromboembolischen Krankheitsbildern angewandt (siehe Tabelle 1). Dabei wird unterschieden, ob die gerinnungshemmenden Substanzen zur Prophylaxe oder Therapie einer thromboembolischen Situation eingesetzt werden. Beispiele einer prophylaktischen Gerinnungshemmung: • unfraktioniertes Heparin (UFH) in prophylaktischer Dosierung • niedermolekulares Heparin (LMWH) in prophylaktischer Dosierung • synthetisches Pentasaccharid Fondaparinux (Arixtra®) in prophylaktischer Dosierung (präoperativ keine Zulassung) • Heparinoide in prophylaktischer Dosierung (z.B. Orgaran®) • Zyklooxygenase-1-Hemmer (z. B. ASS, nichtsteroidale Antirheumatika) • antiaggregatorische Prostaglandine Beispiele einer therapeutischen Gerinnungshemmmung: • UFH in therapeutischer Dosierung • LMWH in therapeutischer Dosierung • synthetisches Pentasaccharid Fondaparinux in therapeutischer Dosierung (keine Zulassung) • Heparinoide in therapeutischer Dosierung • Vitamin-K-Antagonisten (z.B. Phenprocoumon, Warfarin) • Hirudine (z.B. Desirudin, Lepirudin) • ADP-Rezeptorantagonisten (z.B. Thienopyridine; Ticlopidin, Clopidogrel, Prasugrel) • Glycoprotein-(GP) Ilb/lIIa-lnhibitoren (z.B. Abciximab, Tirofiban, Eptifibatid)
• Vorhofflimmern, -flattern
• vaskuläre Demenz (Multiinfarktsyndrom)
• tiefe Beinvenenthrombose
• Z. n. koronarer oder vaskulärer Stentimplantation
• Lungenembolie
• Z. n . Herzklappenersatz
• periphere arterielle Verschlußkrankheit
• längere Immobilisation
• Thrombophilie
• intrakardiale Thromben
Tab. 1: thromboembolische Krankheitsbilder.
Die Kenntnis über die Indikation der dauerhaften Gerinnungshemmung des Patienten (prophylaktisch vs. therapeutisch) ist obligat und muss in die perioperative Planung des Gerinnungsmanagements einfließen, um das thromboembolische Risiko abschätzen zu können. Erst dann kann eine sinnvolle Abwägung zwischen Thrombembolierisiko und Blutungsrisiko stattfinden.
Blutungsrisiko unter Antikoagulation Die wichtigste Komplikation einer gerinnungshemmenden Therapie ist die akute Blutung. In der Literatur wird zwischen der geringfügigen (,,minor bleeding") und der schweren (,,major bleeding") Blutung unterschieden, jedoch gibt es keine exakte Definition und Trennung zwischen beiden. Einige Autoren unterscheiden zwischen geringfügiger und schwerer Blutung an Hand des Grades der Transfusionsbedürftigkeit [l] , andere an Hand der Interventionsnotwendigkeit [2]. Die Inzidenz einer akuten Blutung ist unterschiedlich und wird durch das individuelle Risikoprofil und durch die Art der eingesetzten Substanz bestimmt (siehe Tabelle 2). Bekannte Risikofaktoren sind [mod. n. 3]: l. Alter, Geschlecht und Begleiterkrankungen des Patienten 2. Maß der Gerinnungshemmung (gemessen z. B. mit der International Normalized Ratio (INR)) 3. Kombination von mehreren Substanzen 4. Indikation der Therapie (prophylaktisch oder therapeutisch)
Tritt eine akute Blutung unter laufender Therapie mit Antikoagulantien auf, so muss im Hinblick auf die Evaluation der therapeutischen Optionen für jeden Patienten das individuelle Risiko für ein thromboembolisches Ereignis während einer möglichen Unterbrechung der Gerinnungshemmung abgeschätzt werden. In die individuelle Entscheidung für oder gegen die Unterbrechung der gerinnungshem.menden Therapie müssen die Schwere der Blutung und die Notwendigkeit einer Intervention gegen das Risiko einer unzureichenden Antikoagulation abgewogen werden. Fällt die Entscheidung zu Gunsten einer Unterbrechung der antikoagulatorischen Therapie, so muss kontinuierlich der frühest mögliche Wiederbeginn einer erneuten Gerinnungshemmung mit Zeitpunkt und Substanz engmaschig interdisziplinär überprüft werden.
2
Inzidenz (%/Jahr)
Halbwertszeit
unfraktionierte Heparine (UHF)
2 -4,5
1-4 h ( dosisabhängig)
niedermolekulare Heparine (LMWH)
1,5 -4,7
3-5 h (substanzabh.)
Fondaparinux
I ,2 -2,7
17-21 h
Lepirudin
18,8
80 min
Argatroban
6,1
40-70 min
Vitamin-K-Antagonisten
0,5 / Jahr Behandlung
9-90 d
ASS
2,6
1-2 h
Clopidogrel
4,6
7-8 h
ASS + Clopidogrel
3,7
ASS+ Clopidogrel + Vit-K-Antag.
12,0
Tab. 2: Inzidenz von Blutungsereignissen [mod. nach I und 4].
Die Unterbrechung einer gerinnungshemmenden Dauertherapie kann aber nicht nur durch eine akute, spontan auftretende Blutung notwendig werden, sondern auch durch die Indikation zu einer elektiven, operativen Intervention (Operation, diagnostische Verfahren, etc.), die ebenfalls ein eigenes individuelles Blutungsrisiko beinhaltet. Eine solche Situation verlangt dann ebenfalls die zeitlich und quantitativ kontrollierte Aufhebung der Gerinnungshemmung. Nachfolgend soll deshalb zuerst das Vorgehen bei der geplanten Unterbrechung der Antikoagulation zu einem elektiven Eingriff beschrieben werden und danach das Vorgehen bei ungeplanter Unterbrechung der Antikoagulation im Rahmen einer akuten interventionsbedürftigen Blutung.
Perioperatives Management des dauerhaft antikoagulierten Patienten zur elektiven chirurgischen Intervention Bei der Planung des perioperativen Gerinnungsmanagements dauerhaft antikoagulierter Patienten ist eine sorgfältige interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig. Hierbei stellt das perioperative Umfeld vertreten durch Anästhesie, Chirurgie und/oder interventioneller Fachabteilung besondere Ansprüche an das pharmakologische Management der Antikoagulation: Eine gute Steuerbarkeit der gerinnungshemmenden Wirkung soll sowohl das Blutungsrisiko bei der operativen als auch anästhesiologischen (z. B. rückenmarknahes Regionalverfahren) oder diagnostischen Intervention minimieren und gleichzeitig das individuelle thromboembolische Risiko für den Patienten möglichst gering halten. Hier wird das therapeutische Dilemma sichtbar, dem sich die betreuenden Fachabteilungen stellen müssen: Mit der Minimierung des operativen Blutungsrisikos durch Unterbrechung der Antikoagulation ist immer auch ein zunehmendes Risiko der Thromboembolie vergesellschaftet und vice versa. Somit droht von beiden Seiten Gefahr für den Patienten, so dass perioperativ ein sehr differenziertes und häufig individualisiertes Vorgehen notwendig wird. Im Folgenden soll nun auf zwei besondere Patientenkollektive im perioperativen Umfeld eingegangen werden: 1. Der Patient mit dauerhafter Antikoagulation durch Vitamin-K-Antagonisten und 2. Der Patient nach Koronarstent mit dualer Thrombozytenaggregationshemmung Für das perioperative Gerinnungsmanagement des Patienten zur Anlageeinesrückenmarknahen Regionalverfahrens sei auf die einschlägigen Empfehlungen der Deutschen Gesell3
schaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und der European Society of Anaesthesiology (ESA) verwiesen.
1. Der Patient mit dauerhafter Antikoagulation durch Vitamin-K-Antagonisten Im Rahmen eines hohen Embolierisikos (z.B. dauerhaftes Vorhofflimmern, mechanischer Klappenersatz, stattgehabte Lungenembolie bei tiefer Beinvenenthrombose oderThrombophilie unterschiedlicher Genese etc.) werden Patienten dauerhaft mit Vitamin-K-Antagonisten antikoaguliert. Wird die Antikoagulation mit einem Vitamin-K-Antagonisten perioperativ unterbrochen, so beträgt das Risiko für thromboembolische Ereignisse 0,020,05 % pro Tag und muss gegen das operative Blutungsrisiko abgewogen werden [5]. Im ersten Schritt muss daher in Absprache mit dem Operateur das perioperative Blutungsrisiko bestimmt werden: Besteht durch die Art des Eingriffs für den Patienten nur ein geringes perioperatives Blutungsrisiko (z.B. Katarakt-OP, kleinere dermatologische Eingriffe, Zahnextraktion, diagnostische Eingriffe ohne Probenentnahme), so sollte die Antikoagulation perioperativ ohne Unterbrechung fortgeführt werden [6]. Besteht perioperativ ein hohes Blutungsrisiko, erfordert dies die Unterbrechung der Antikoagulation mit dem Vitamin-K-Antagonisten. Um die Phase ohne Antikoagulation möglichst kurz zu halten, kann für den Eingriff folgendes Vorgehen vorgeschlagen werden (mod. nach [5] und [6]):
-
-
präoperatives Absetzen des Vitamin-K-Antagonisten in Abhängigkeit seiner Halbwertszeit (z.B. Marcumar mind. 72 h präoperativ) Beginn mit Heparin oder LMWH in therapeutischer Dosierung sobald INR < 2,0 (Dosierung von Heparin nach Ziel-PTT: 55-70 s, Monitoring für LMWH: anti-XaSpiegel) Heparin-Gabe 6 h präoperativ beenden, letzte LMWH-Gabe 24 h präoperativ Operation Wiederbeginn von Heparin oder LMWH innerhalb der ersten 24 h postoperativ, sobald chirurgisch vertretbar Wiederbeginn mit Vitamin-K-Antagonist (z.B. Marcumar) sobald chirurgisch keine Blutungsgefahr oder Re-Eingriff zu erwarten. Absetzen von Heparin oder LMWH sobald INR > 2,0
Wegen der besseren Steuerbarkeit und noch nicht ausreichender Studienlage sollte unfraktioniertem Heparin vor LMWH der Vorzug gegeben werden. Sind Patienten zusätzlich mit niedrig dosiertem ASS (100 mg/d) antikoaguliert, so sollte die ASS-Gabe perloperativ nicht unterbrochen werden. Hierzu konnte in einer Metaanalyse gezeigt werden, daß die Gefahr einer zwar intraoperativ um das 1,5fache erhöhten Blutungsneigung nicht mit einer Erhöhung der perioperativen Letalität verbunden war [7]. In Ausnahmefällen und speziellen Indikationen (z. B. neurochirurgische Intervention) kann es sein, dass auch das Fortführen der ASS-Gabe nicht sinnvoll erscheint. In solchen Fällen ist das ASS-freie Intervall möglichst kurz zu halten (z. B. Absetzen von ASS 5 Tage vor Operation). Da die Restwirkung von ASS zwischen dem 3. und 5. Tag großen individuellen Schwankungen unterworfen ist [8], könnte eine Überprüfung der ASS-Wirkung ab dem 3. Tag helfen, die Pausenzeit unter individueller Anpassung des Operationstermins zu minimieren.
2. Der Patient nach Koronarstent mit dualer Thrombozytenaggregationshemmung Patienten nach perkutaner Koronarintervention (PCI) und Einlage eines Koronarstents besitzen ein vulnerables, hoch thrombogenes Gefäßendothel und müssen deshalb lebenslang mit niedrig dosiertem ASS (100 mg/d) sowie für mindestens 4 Wochen (Patienten mit unbeschichtetem „bare metal" Stent, BMS) oder mindestens 12 Monate (Patienten mit ,,drug eluting" Stent, DES) mit ADP-Antagonisten (z.B. Clopidogrel, Prasugrel) behandelt werden (,,kritisches Zeitintervall") [9] . Muss die duale Thrombozytenaggregations4
hemmung mit ASS und ADP-Antagonist im kritischen Zeitintervall abgesetzt werden, haben diese Patienten ein deutlich erhöhtes Risiko für eine kardiale Komplikation [10] . Dies hat zu den aktuellen Empfehlungen der Fachgesellschaften geführt, elektive Operationen frühestens 4 Wochen nach Anlage eines BMS und frühestens 12 Monate nach Anlage eines DES unter Fortführen der niedrig dosierten ASS-Gabe durchzuführen [11, 12] . Besteht bei einem Patienten die Indikation für einen Eingriff innerhalb des kritischen Zeitintervalls nach Stentimplantation (s.o.), und kann dieser nicht verschoben werden, so muss auch hier wieder das individuelle Blutungsrisiko unter fortlaufender dualer Plättchenhemmung abgeschätzt werden: Hat der Eingriff ein geringes Blutungsrisiko, sollte die duale Plättchenhemmung ohne Pause fortgeführt werden. Ist jedoch auf Grund des durch den Eingriff bedingten Blutungsrisikos ein Aussetzten der Thrombozytenaggregationshemmung notwendig, kann folgendes Vorgehen zur Minimierung des plättchenaggregationsfreien Intervalls vorgeschlagen werden (nach [131): -
Absetzen von Clopidogrel 5 Tage präoperativ, ASS fortführen -Beginn einer lnfusionstherapie mit einem kurzwirksamen Gpllb/llla-Antagonisten (z. B. Tirofiban 0,4 µg/kg/min über 30 min als Bolus gefolgt von 0,1 µg/kg/min als Dauerinfusion, Cave! Niereninsuffizienz). Gleichzeitige Gabe von Heparin oder LMWH in prophylaktischer Dosis zur Hemmung der Thrombinbildung. - Absetzen von Heparin 4-6 h präoperativ und Gpllb/llla-Antagonist (Tirofiban 4-6 h, Eptifibatid 2-4 h) - Operation - Wiederbeginn der Therapie mit Clopidogrel idealerweise 4-6 h postoperativ (Aufsättigungsdosis 600 mg p.o., dann 75 mg/d). Sollte die postoperative Wiederaufnahme der Clopidogreltherapie wg. eines unklaren postoperativen Blutungsrisikos aus chirurgischer Sicht erst verzögert möglich sein, so kann zur Überbrückung wieder mit der Infusion des gut steuerbaren Gpllb/illa-Antagonisten begonnen werden. - Beginn der venösen Thromboseprophylaxe mit Heparin oder LMWH am 1. postoperativen Tag Da bei diesem besonderen Patientenkollektiv auch außerhalb des kritischen Zeitintervalls durch das Absetzen der lebenslangen Sekundärprophylaxe mit ASS das kardiale Risiko erhöht wird [14], sollte die ASS-Gabe auch perioperativ nicht unterbrochen werden. Beinhaltet die Operation jedoch ein besonders hohes Blutungsrisiko (z.B. neurochirurgische Intervention) und muss die Prophylaxe mit ASS deshalb unterbrochen werden, so ist das plättchenaggregationsfreie Intervall möglichst kurz zu halten. Ein Absetzen der ASSGabe empfiehlt sich 5 Tage vor der Operation. Da die Restwirkung von ASS zwischen dem 3. und 5. Tag großen individuellen Schwankungen unterworfen ist [8], könnte eine Überprüfung der ASS-Wirkung ab dem 3. Tag helfen, die Pausenzeit unter individueller Anpassung des Operationstermins zu minimieren.
Perioperatives Management der Antikoagulation bei akuten, schweren Blutungen (,,major bleedings") Bei Auftreten einer akuten schweren Blutung sollte die Gabe des gerinnungshemmenden Medikaments gestoppt werden. Die Überwachung der Vitalparameter des Patienten ist obligat und sollte auf einer Überwachungs- oder Intensivstation erfolgen. Hier kann eine möglicherweise notwendige Wiederherstellung der Homöostase durchgeführt und die engmaschige Überwachung des Patienten gewährleistet werden. Nach Evaluation und je nach Zugänglichkeit des Blutungsortes muss eine lokale Blutstillung mit Hilfe chirurgischer Intervention oder Kompression und/oder Einbringen von lokalen Hämostyptika (Watte, Fibrinkleber, Antifibrinolytika) versucht werden. Zusätzlich sollte die Möglich5
keit einer endoskopischen oder radiologischen Intervention (z. B. Coiling) geprüft werden. Dies erfordert die frühzeitige Information der beteiligten Interventionsabteilungen (Chirurgie, Radiologie, Endoskopie). Die Wertigkeit eines globalen Gerinnungstests ist unter dauerhafter Antikoagulation kritisch zu sehen, da dieser die gerinnungshemmenden Effekte nur weniger Substanzen darstellen kann. Trotzdem sollte eine Bestimmung der Standardgerinnungsparameter (aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTf), Thrombinzeit, INR) erfolgen, um eine möglicherweise notwendige Therapie mit Gerinnungsfaktoren kontrollieren zu können. Führen lokale chirurgische oder interventionelle Maßnahmen nicht zum Erfolg oder wird eine operative Intervention notwendig, muss die Antagonisierung der gerinnungshemmenden Wirkung je nach eingesetzter Substanz durch spezifische und unspezifische Maßnahmen erfolgen: - Unfraktioniertes und niedermolekulare Heparine (LMWH) Die Wirkung von unfraktioniertem Heparin kann zu 100 % durch die Gabe von Protaminsulfat aufgehoben werden. Zur Antagonisierung von 100 IE Heparin wird dazu 1 mg Protarninsulfat verabreicht. Die Wirkung von niedermolekularen Heparinen kann ebenfalls durch Protaminsulfat aufgehoben werden, dies jedoch nur partiell (zu max. 60 %) [15]. Hierzu wird die erste Dosis Protaminsulfat (1mg/1mg LMWH) aus der Menge der in den letzten 4 Stunden verabreichten LMWH berechnet. In Abhängigkeit der Halbwerstzeit der zu antagonisierenden Substanz und dem Zeitpunkt der letzten Dosis, wird dann die Hälfte der errechneten Menge appliziert [16]. Die Gabe der Restdosis richtet sich danach nach der verbleibenden klinischen Blutungsintensität. - Vitamin-K-Antagonisten Zur Antagonisierung der Vitamin-K-Antagonisten bieten sich mehrere Strategien an, die sich jedoch durch die zeitliche Latenz ihrer Wirksamkeit unterscheiden. Mittelfristige Wirksamkeit: Vitamin-K-Gabe (2-5 mg/Dosis), dies kann oral, subcutan oder auch intravenös erfolgen (Cave! Besonders bei i.v.-Applikation muss auf die Möglichkeit der anaphylaktischen Reaktion geachtet werden). Mit einem Wirkeintritt ist - je nach Applikationsform - frühestens nach 3-12 h zu rechnen, da erst wieder neue VitaminK-abhängige Gerinnungsfaktoren (11, VII, IX, X) in der Leber gebildet werden müssen, so dass eine alleinige Gabe von Vitamin K bei schweren Blutungen nicht ausreichend ist. Kurefristige Wirksamkeit: Gabe von Prothrombinkomplexkonzentrat (PPSB). Je nach Ausgangs-INR sollten 25-100 IE/kg KG gegeben werden. Es ist sofort wirksam und deshalb für schwere Blutungen geeignet [17]. Bei nicht ausreichender Wirkung können auch Fresh-Frozen-Plasma (FFP)-Präparate gegeben werden (10-20 ml/kg KG). Hierin sind alle Gerinnungsfaktoren enthalten, jedoch in geringerer Menge. Eine Überinfusion des Patienten mit Volumen ist bei der Gabe von FFP's zu vermeiden. Als letzte Therapieoption kann die Gabe von rekombinantem Faktor Vlla (rFVIla) (einmalig 90 µg/kg KG) erwogen werden [18], dies jedoch nur in einem „off label"-Einsatz, da eine Zulassung für diese Indikation nicht besteht. - Pentasaccharide (Fondaparinux) Pentasccharide blockieren selektiv den Antithrombin-III-abhängigen Faktor Xa. Da Protaminjedoch nicht in der Lage ist, Fondaparinux aus seiner Bindung mit Antithrombin III zu verdrängen, steht dieses nicht zur Antagonisierung zur Verfügung. Experimentell konnte Heparinase I Fondaparinux durch enzymatische Spaltung abbauen und damit antagonisieren [19). Diese Substanz befindet sich jedoch noch nicht im klinischen Gebrauch. Eine Empfehlung zur Gabe von rFVIIa kann aus kleineren Studien abgeleitet werden [20]. 6
- direkte Thrombininhibitoren (z.B. Lepirudin, Argatroban) Für alle direkten Thrombininhibitoren gibt es keine spezifischen Antagonisten. Hier kann nur eine unspezifische - aber unbedingt rationale - Substitution mit Gerinnungsfaktoren erfolgen. Die Studienlage gibt hierfür Hinweise auf eine mögliche Wirksamkeit von rFVIIa und FFP [21]. - Thrombozytenaggregationshemmer (ASS, Clopidogrel, Prasugrel) Für die Reversion der Wirkung der Plättchenaggregationshemmer gibt es keine spezifischen Antagonisten. Hier können nur unspezifische Maßnahmen zum Einsatz kommen: Gabe des synthetischen Vasopressin-Analogons DDAVP (Minirin~) (0,04 µg/kg KG) zur gesteigerten Ausschüttung des Von-Willebrand-Faktors aus dem Gefäßendothel und damit verbesserten Thrombozytenadhäsion und -aggregation [22]. Gleichzeitig können auch Antifibrinolytika zum Einsatz kommen (z.B. Tranexamsäure, 10 mg/kg KG). Je nach Schwere der Blutung kann auch die Gabe von Thrombozytenkonzentraten erwogen werden. Hierbei sollte darauf geachtet werden, daß die Gabe der Konzentrate in ausreichendem Abstand zur letzten Einnahme der Thrombozytenaggregationshemmer liegt (zu niedrig dosiertem ASS mind. 1-2 h, zu Clopidogrel mind. 7-8 h), um eine sofortige Inaktivierung der transfundierten Thrombozyten durch restaktive Substanz zu vermeiden [6, 13].
Grundsätzlich ist für die unspezifische Antagonisierung der gerinnungshemmenden Wirkung von Antikoagulantien anzumerken, daß diese umsichtig und zielorientiert erfolgen sollte. Vor allem die unspezifische Antagonisierung mit nicht rekombinant hergestellten Blutprodukten (FFP's, Thrombozytenkonzentrate, PPSB, etc.) birgt hier auf Grund des Nebenwirkungsprofils profunde Gefahren: Nicht nur die Fehltransfusion durch Verwechslung, die Entstehung eines transfusionsassoziierten Lungenödems (TRAU), allergische Reaktionen, bakterielle Kontamination, etc. gefährden den Patienten, sondern auch die Überinfusion und Überkorrektur mit überschießender prokoagulatorischer Situation. Deshalb sollte kontinuierlich während der laufenden Antagonisierung an Hand klinischer Parameter (z. B. Blutungsintensität) und ggf. geeigneten Laborparametern die weitere Gabe von Gerinnungsprodukten überprüft werden.
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Differenzierte Therapie mit Blutprodukten in der akuten Blutung - gibt es eine Evidenz? C.
VON HEYMANN,
L. KAUFNER
Vorbemerkung Akute Blutungen stellen für den Anästhesisten, Chirurgen und lntensivmediziner immer eine besondere Herausforderung dar. Der akute Charakter und die häufig bedrohten Vitalfunktionen erfordern eine sofortige und zielgerichtete Therapie, um einerseits die durch den Blutverlust gefährdete globale und regionale Hämodynamik zu erhalten und andererseits eine zugrundeliegende Gerinnungsstörung effektiv und sicher zu behandeln. Die fehlende Planbarkeit und die nur selten kontrollierbaren Bedingungen akuter Blutungen sind die Ursachen, dass prospektiv-randomisierte Studien zur Therapie der akuten Blutung fehlen. Somit basieren die Therapieansätze akuter Blutungen häufig auf Fallberichten/Fallserien bzw. auf Studien zur vorbeugenden Therapie von Blutungen bei Patienten mit bekannten Gerinnungsstörungen. Nach den Kriterien der Evidenz basierten Medizin sind daher Evidenzgrad und Empfehlungsstärke in der Regel niedrig. Dennoch geben Evidenz basierte Leitlinien unterschiedlicher Fachgesellschaften wertvolle Empfehlungen für die differenzierte Therapie mit Blutprodukten in der akuten Blutung. Hier ist insbesondere die Querschnitts-Leitlinie zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2009 zu nennen (1). In der Therapie akuter Blutungen kommt neben der oft fehlenden Evidenz erschwerend hinzu, dass die Ursache der Blutung nicht immer bekannt oder eine operativ-interventionelle Therapie nur eingeschränkt möglich ist. Primäres Ziel der Therapie in der akuten Blutung muss die Wiederherstellung eines stabilen Kreislaufs durch den Ersatz des verlorenen Blutvolumens sein, welches idealerweise parallel durch eine differenziertere Therapie mit Gerinnungstherapeutika und/oder Faktorenkonzentraten bei Vorliegen laborchemischer Befunde ergänzt wird. Die Wiederherstellung der physiologischen Bedingungen (Temperatur, pH-Wert und Calcium), unter denen Gerinnung am besten funktioniert, stellt eine weitere unabdingbare Grundlage für den Erfolg der Behandlung dar. Neben der frühzeitigen differenzierten Therapie mit Blutprodukten und Plasmaderivaten ist die erfolgreiche Behandlung auch abhängig von der interdisziplinären Kommunikation und Abstimmung der verschiedenen Aufgaben des Behandlungsteams: -
Anästhesist/lntensivmediziner: Wiederherstellung von Blutvolumen und Hämodynamik Operative Medizin: Chirurgische Blutstillung oder intermittierendes „Packing" Angiographie: Lokalisation und Embolisation chirurgisch nicht stillbarer Blutungen Hämostaseologie: Beratung und Diagnostik v.a. bei speziellen hämostaseologischen Krankheitsbildern.
Der vorliegende Beitrag versucht das Krankheitsbild der akuten Blutung nach der zu Grunde liegenden Ursache zu systematisieren und für jede Ursache differenzierte Therapieansätze mit Blutprodukten und Plasmaderivaten aufzuzeigen. Der Fokus dieser Arbeit liegt jedoch in der Behandlung der akuten Verlust- und Dilutionskoagulopathie, die als erworbene Gerinnungsstörungen bei fast jeder akuten Blutung auftreten und den Behandlungsverlauf erheblich erschweren können.
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Gliederung Folgende Ursachen einer akuten Blutung, die eine jeweils differenzierte Therapie erfordern, können unterschieden werden: Blutungen traumatischer oder chirurgischer Ursachen Medikamentös induzierte Blutungen Peripartale Blutungen Angeborene Koagulopathien (z.B. von Willebrand-Syndrom, Hämophilie A und B sowie andere seltene angeborene und Erkrankungen des Gerinnungssystems) Erworbene Koagulopathien (z.B. Fibrinolyse, nach extrakorporaler Zirkulation, Verlust- und Verdünnungskoagulopathie)
Blutungen traumatischer oder chirurgischer Ursachen Blutungen traumatischer oder chirurgischer Ursachen erfordern die chirurgische Intervention und parallel eine anästhesiologische Behandlung, die die Stabilisierung der Hämodynamik und den gezielten Ersatz von Blutprodukten und Gerinnungstherapeutika im Fokus hat. Das Ausmass des Blutverlusts wird entscheidend determiniert durch den Zeitpunkt der definitiven chirurgischen Blutstillung und der Schwere der begleitenden Verlust- und Verdünnungskoagulopathie, auf die im Detail weiter unten eingegangen wird. Essentiell für den Erfolg der Blutungstherapie nicht nur bei traumatischen und chirurgischen Blutungen sind: - engmaschige Kommunikation und Abstimmung zwischen Anästhesist und Chirurg (z.B. Suche der Blutungsquelle). - interdisziplinäre Entscheidung zu einem „Packing" (im Sinne von „damage control surgery") - Zeit für die hämodynarnische Stabilisierung und Wiederherstellung des Hämostasepotentials zu gewinnen (2).
Medikamentös-induzierte Blutungen Zunehmend mehr Menschen werden weltweit aufgrund der Zunahme arteriosklerotischer und kardiovaskulärer Erkrankungen (koronare Herzkrankheit, Vorhofflimmern, Schlaganfall, etc.) mit Antikoagulanzien und/oder Thrombozytenaggregationshemmern behandelt. Grundsätzlich ist die Einnahme von Antikoagulanzien und/oder Thrombozytenaggregationshemmem mit dem Risiko von Blutungen verbunden, die entweder spontan auftreten oder bei Interventionen/Operationen einen zusätzlichen Risikofaktor für den Patienten darstellen. Diese Blutungen sind meist diffus und weisen keine spezielle Lokalisierung auf. Die ursächliche Therapie strebt die Antagonisierung des Antikoagulans (z.B. Heparin - Protamin, Phenprocoumon - PPSB) (3) zur Wiederherstellung des physiologischen Hämostasepotenzials an. Stehen keine spezifischen Therapeutika für die Antagonisierung des Antikoagulans zur Verfügung (z.B. neue orale Antikoagulanzien, Clopidogrel und andere Thrombozytenaggregationshemmer etc.) kann, neben der Substitution der gehemmten Gerinnungsfaktoren oder Thrombozyten, eine Thrombin-generierende Therapie mit PPSB oder rekombinantem aktivierten Faktor VII (rFVlla) die Blutungsneigung reduzieren (3-7). In Abhängigkeit von Blutverlust und hämodynamischer Stabilität ist neben der zielgerichteten Antagonisierung des Antikoagulans eine parallele Substitution von Blutprodukten (Erythrozytenkonzentrate, EK, gerinnungsaktives Frischplasma, GFP und Thrombozytenkonzentraten, TK) zur Wiederherstellung des Blutvolumens und des hämostatischen Potentials erforderlich. 10
Peripartale Blutungen Peripartale Blutungen sind die zweithäufigste Ursache mütterlicher Sterblichkeit weltweit. Die häufigsten Ursachen der perip~en Blutung stellen die Uterusatonie (70%), gefolgt von der Störung der Plazentalösung (ca. 20%) und der Verletzung des Geburtskanals (ca. 10%) dar (8). Auch hier muss sich die Therapie der Blutung nach der Ursache richten. Überschreitet der Blutverlust 1.500 ml (Schweregrad III nach WHO-Klassifikation) und persistiert die Blutung ist es die primäre Aufgabe des Anästhesiologen zur Vermeidung von sekundärer Organschäden das verlorene Blutvolumen mit EK und GFP zu substituieren. Die spezifische Therapie der Blutungsursache umfaßt: - die medikamentäse Behandlung der Uterusatonie (Oxytocin, Sulproston, Misoprostol, CAVE: keine parallele Gabe von Oxytocin und Sulproston wegen schwerer kardiovaskulärer Nebenwirkungen) - operative Blutstillung z.B. mit Uteruskompressionsnähten und/oder Clipping der Aae. uterinae erforderlich. - Frühzeitige, parallele antifibrinolytische Behandlung (z.B. Bolus lg Tranexamsäure)
(9) -
gezielte Substitution von Gerinnungsfaktoren (z.B. 2-4g Fibrinogen, 25 IE/kg Prothrombinkomplexpräparat, PPSB) (10,11). Bei Versagen der vorgenannten Therapie kann als Ultima Ratio-Therapie mit aktiviertem Faktor VII (z.B. 90 µg/kg) behandelt werden.
Auch in dieser Situation sind ein abgestimmtes Vorgehen und eine enge Kommunikation von Geburtsmediziner und Anästhesist die Voraussetzung einer erfolgreichen (Vermeidung der Hysterektomie) und sicheren Therapie (Vermeidung sekundärer Organschäden und thromboembolischer Komplikationen) (10). Ist die chirurgische Blutstillung nicht möglich, stellt - bei Transportstabilität der Patientin - die angiografisch-interventionelle Lokalisation der Blutungsquelle und Embolisation eine effektive Ergänzung der chirurgisch-hämostaseologischen Behandlung dar (12), die nicht nur häufig die Hysterektomie vermeidet, sondern auch die Fertilität erhalten kann (13).
Angeborene Koagulopathien Patienten mit angeborenen Koagulopathien (z.B. Hämophilie A und B, von WillebrandSyndrom, Thrombasthenie Glanzmann, Bemard-Soulier-Syndrom etc.) sind aufgrund der häufig familiären Belastung oder der frühen Manifestation der Erkrankungen meistens bekannt. Diese Patienten sind an spezielle Behandlungszentren angebunden, die die Behandlung der akuten Blutungsepisoden dieser Patienten durchführen. Für geplante operative Eingriffe liegen meist dezidierte Behandlungspläne zur Vorbeugung einer akuten Blutung vor. Treten akute Blutungen auf, werden diese meist in spezialisierten Zentren behandelt. Wird ein akut blutender Patient in ein nicht-spezialisiertes Zentrum aufgenommen, dann ist eine schnellstmögliche Kontaktaufnahme mit dem behandelnden Hämostaseologen ratsam. In der Regel ist für die Akuttherapie die adäquate Substitutionstherapie des fehlenden Gerinnungsfaktors indiziert: - Hämophilie A: IE FVIII /kg führt zu einem Anstieg von 1-2%, (14), präoperativer Ziel-Wert des FVIII-Aktivität: 80% - Thrombasthenie Glanzmann: Pharmakologische Therapie z.B. mit rFVlla (90-120 µg/ kg z.B. bei) (15) - milde Verlaufsform des von Willebrand-Syndroms Typ 1 oder der Hämophilie A: Desmopressin mit 0,3-0,4 µg/kg als Kurzinfusion (16),
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-
schwere Verlaufsfonn des von Willebrand-Jürgens-Syndroms: von Willebrand-Faktor-haltiges FVIII-Konzentrats, 50-80/E/kg je nach Schwere der Blutung (16).
Erworbene Koagulopathien Erworbene Koagulopathien umfassen sowohl definierte hämostaseologische Kranheitsbilder (erworbenes von Willebrand-Syndrom, erworbene Hemmkörper-Hämophilie etc.) als auch - wesentlich häufiger - Gerinnungsstörungen, die im Rahmen bestimmter Grunderkrankungen (z.B. Lebererkrankungen, peripartal) oder medizinischer Behandlungen (z.B. nach Herz-Lungen-Maschine) auftreten können. Wird eine Hyperfibrinolyse klinisch vermutet (z.B. durch eine Blutung aus ehemals thrombosierten Einstichstellen) oder laborchemisch nachgewiesen (z.B. Thrombelastographie, Erniedrigung des Plasmininhibitors etc.), kann diese durch den Einsatz eines Antifibrinolytikums (z.B . Bolus 1 g Tranexamsäure, ggfs. kontinuierliche Infusion von 10-20 mg/kg/hje nach Indikation) (17) meist sicher und effektiv behandelt werden. Demgegenüber ist die Blutung nach herzchirurgischem Eingriff mit Herz-LungenMaschine aufgrund der verschiedenen, parallel auftretenden Ursachen (Thrombozytopathie, Thrombozytopenie, Hämodilution, Verlust und Verbrauch von Gerinnungsfaktoren, erhöhte fibrinolytische Aktivität, Hypothermie etc.) (18) komplex und meist nur durch unterschiedliche Therapieansätze (Ersatz von Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren, antifibrinolytische Therapie, Behandlung der Thrombozytopathie z.B . mit Desmopressin etc.) erfolgreich behandelbar.
Verlust- und Verdünnungskoagulopathie als erworbene Koagulopathie der akuten Blutung Die Verlust- und Verdünnungskoagulopathie sind als erworbene Koagulopathien im Rahmen einer akuter Blutungen zu verstehen, die einer spezifischen Therapie bedürfen. Symptomatisch weisen diese Koagulopathien eine diffuse Blutungsneigung aus Wundflächen und Punktionsstellen auf (19). Ursächlich ist der Verlust von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten und die zusätzliche Verdünnung des zirkulierenden Blutvolumens durch den Einsatz von kristalloiden und nicht-plasmatischen, kolloidalen Volumenersatzlösungen. Gerade in der präklinischen Versorgung traumatisierter Patienten (20), in der kein Humanplasma oder Plasmaderivate zur Verfügung stehen, aber auch in der lnitialphase der klinischen Behandlung akut blutender Patienten haben Volumenersatzlösungen eine Indikation zur Wiederherstellung eines adäquaten Herzzeitvolumens. Als Nebenwirkung der Volumenersatztherapie manifestiert sich jedoch häufig eine kombinierte Dilutionsund Verlustkoagulopathie. In vitro-Untersuchungen zufolge wird die Schwere der Koagulopathie durch die Auswahl des Volumenersatzmittels beeinflusst. Gelatinepräparate und Hydroxyethylstärke (HES) führten in einem in vitro-Versuch bei einer 60%-igen Dilution zu einer Fibrinpolymerisationsstörung, die als signifikante Verminderung der maximalen Gerinnselfestigkeit (MCF) und Verzögerung der Gerinnselbildungszeit (CT) in der Thrombelastographie gemessen wurde. Diese Effekte waren bei Dilution mit HES 130/0.4 ausgeprägter als mit 4% Gelatinelösung (19). Die Dilution mit Ringer-Laktat (RL) führte zu einer geringer ausgeprägten Dilutionskoagulopathie als HES und Gelatine (21). Neben der Dilution von Gerinnungsfaktoren führt ein progredienter Blutverlust vor allem zu einem signifikanten Abfall des Fibrinogenspiegels und weniger der Thromboyzten (22, 23). In einer anderen Arbeit wurde als Ursache der Verlust- und Verdünnungskoagulopathie zusätzlich ein Abfall der Faktoren V und IX gemessen (24). 12
Fibrinogen ist das Substrat der Gerinnung, welches zusammen mit den Thrombozyten hauptsächlich für die Stabilität des Blutgerinnsels sorgt. Insofern ist der signifikante Abfall des Fibrinogens in der akuten Blutung als kritische Einschränkung des Hämostasepotentials zu werten. Als kritische Grenze für die Fibrinogen-Substitution mit GFP oder Fibrinogen-Konzentrat wird ein Fibrinogen-Spiegel unter 1-1,5 g/1 angesehen. In der Geburtsmedizin ist aufgrund der in der Schwangerschaft physiologisch erhöhten Konzentrationen, bereits ein präpartales Fibrinogen unter 4g/l mit einem signifkant erhöhten Risiko für eine peripartale Blutung assoziiert (25). Neben dem Verlust an Fibrinogen ist auch der Abfall der Thrombozytenzahl wichtig für die Gerinnungsfunktion. Dem Modell der zellbasierten Hämostase folgend findet der effektive „thrombin hurst" durch Bildung des Prothrombinasekomplexes (FXa-FVa) auf aktivierten Thrombozyten statt (26), so dass eine ausreichende Anzahl an Thrombozyten ebenfalls eine Voraussetzung für eine physiologische Hämostase ist. Die Bundesärztekammer gibt in der akuten Blutung einen Grenzwert von 50%, aPTT 100.000/µI
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Hämostatische Optimierung durch die differenzierte Gabe von Gerinnungsfaktorenkonzentraten (PPSB, Fibrinogen, FXIII, rFVlla), ggfs. weitere FFP-Gabe; adjuvante Gabe von Gerinnungstherapeutika: Tranexamsäure, ggfs. Desmopressin)
-+ Ziel: Stillung der diffusen Blutung
Fazit für die Praxis Für die differenzierte Therapie der akuten Blutung stehen eine Reihe von Blutprodukten und Gerinnungstherapeutika zur Verfügung. Diese sollen in einem abgestimmten Algorithmus und der Ursache der Blutung angepasst, das zirkulierende Blutvolumen und das hämostatische Potential wiederherstellen und die Blutungsneigung reduzieren. Neben dem Einsatz von Gerinnungstherapeutika kommt vor allem der Kommunikation im Behandlungsteam eine große Bedeutung für den Erfolg der Behandlung zu.
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16
Krankes Kind - kleiner Eingriff M. JöHR
1. Einleitung Es gibt bei Kindern viele kleinere Eingriffe, deren chirurgischer Aufwand gering ist, z.B. Wundversorgung, Tränenwegssondierung u.a., die aber eine Allgemeinanästhesie erfordern, die zwar nur kurz, aber dennoch nicht völlig risikofrei ist. Sie soll mit der üblichen nötigen Sorgfalt erfolgen. Es gibt zwar den ,,kleinen Eingriff', nicht aber die ,,kleine Narkose" . Der Anästhesist muss mit der spezifischen Problematik vertraut sein. Das Risiko von Komplikationen ist an sich schon beim kleinen Kind erhöht: das Alter des Kindes (1-3) und die Erfahrung des Anästhesisten (4-6) sind die wichtigsten Prädiktoren von Komplikationen. Diese Aussagen treffen ganz besonders zu, wenn der kleine Patient zusätzlich noch krank ist. Der häufigste Fehler ist hier zweifellos, ,,dass der zuständige Anästhesist es nicht kann "; d.h. dass er die Verantwortung für einen Fall übernimmt, für den er letztlich zu wenig Erfahrung und ungenügende Fertigkeiten aufweist. Es ist realitätsfremd zu glauben, dass jeder Facharzt auch einen Säugling gut anästhesieren kann. Ein ständiges Training mit genügender Fallzahl ist nötig, um sicher und erfolgreich Kinderanästhesie zu betreiben (7). Naturgemäß wird diese Übersicht nicht alle Krankheitsbilder abhandeln, sondern nur stichprobenartig typische, wichtige klinische Situationen herausgreifen können.
2. Pulmonale Vorerkrankung 2.1. Akute Infektion der oberen Luftwege Die Größe des Problems: Kleine Kinder haben sehr häufig Infekte der oberen Atemwege; in Australien waren im Winterhalbjahr von 2051 Patienten 22,3 % akut und 45,8 % innerhalb der letzten 6 Wochen erkältet (8). Die Entscheidungsfindung und das Vorgehen bei all diesen Patienten ist daher von großer praktischer Relevanz (9) und eine Ablehnung aller erkälteten Kinder ist keine realistische Option (10). Erkältung als Risiko: Das Risiko respiratorischer Komplikationen ist erhöht bei einer akuten oder weniger als zwei Wochen zurückliegenden Erkältung (6). Bei erkälteten Kindern kommen Sättigungsabfälle und Bronchospasmus gehäuft vor (11), die Apnoetoleranz ist reduziert (12) und es werden intra- (13) wie auch postoperativ (14) tiefere Sättigungswerte gemessen. Die Ansicht, wie diese Fakten gewertet werden sollen, hat sich allerdings in den letzten Jahren gewandelt: Früher wurden schwerstwiegende Komplikationen als möglich und häufig erachtet; McGill berichtete 1979 (15), dass 10 von 11 Kindern mit relevanten Komplikationen einen Infekt der oberen Luftwege in der Anamnese hatten, und sogar ein letaler Verlauf wurde hauptsächlich einem Atemwegsinfekt zugeordnet (16). Heute hingegen wird davon ausgegangen, dass Komplikationen zwar häufiger sind, dass diese aber von einem erfahrenen Kinderanästhesisten ohne oder mit minimaler Morbidität behandelt werden können (10). Selbst in einem kinderkardiochirurgischen Krankengut ist die Mortalität und die Hospitalisationsdauer beim erkälteten Kind nicht erhöht. Atelektasen und bakterielle Infektionen sind allerdings häufiger und mahnen zur Zurückhaltung (17). Besondere Vorsicht ist bei kleinen Säuglingen mit RSV-lnfektionen angezeigt (18): RSV-Infektionen sind in diesem Alter häufig Ursache einer schweren Bronchiolitis (19) mit Beatmungspflichtigkeit (20). Säuglinge mit RSV-lnfektionen sind für Wahleingriffe abzulehnen (21). 17
Andere Risikofaktoren: Atemwegskomplikationen treten bei kleinen Kindern häufiger auf (Tabelle 1) (6;22-24). Unterschätzt wird die Exposition gegenüber Zigarettenrauch, Komplikationen nehmen hier dosisabhängig zu (25); das Risiko eines Laryngospasmus nimmt um den Faktor zehn zu (26) und auch die postoperative Sättigung ist tiefer (27). Bemerkungen
Referenzen
Erkältung
Akute Erkältung unbestritten (s. Text) Bis 2 Wochen nach Abklingen der Symptome
(6)
Junges Lebensalter
Vorsicht bei erkälteten kleinen Säuglingen
(6;23;24)
Zigarettenrauchexposition
Dosisabhängiges Risiko Einfluss der Mutter > Einfluss des Vaters
(25;26)
Anamnese
Patient: Asthma, nächtliches Husten Familie: Asthma, Ekzem, allerg. Rhinitis
(6)
Tab. 1: Patientenabhängige Risikofaktoren für respiratorische Komplikationen.
Praktisches Vorgehen: Beeinflussbare Faktoren sind in erster Linie die Erfahrung des Anästhesisten, ferner die Art der Atemwegssicherung und die Wahl der Medikation (Tabelle 2). Es ist eine Kunst, ein erkältetes Kind sicher und komplikationslos durch die perioperative Phase zu bringen; vom Einsatz oder Weglassen eines einzelnen Medikaments soll man sich nicht eine zu große Hilfe erhoffen. Bemerkungen
Referenzen
Erfahrung des Anästhesisten
Komplikationen sind seltener Sie werden problemlos gemanagt
(6;24) (9)
Art der Atemwegssicherung
Larynxmaske besser als Tubus Gesichtsmaske besser als Larynxmaske
(28-30) (6;31)
Wahl der Medikation
Narkoseunterhalt mit Propofol besser als mit Sevofluran; Desfluran vermeiden
(6)
Vorbehandlung
Inhalation mit Salbutamol erwägen Atropin erwägen
(32) (33)
Tab. 2: Beeinflussbare Risikofaktoren für respiratorische Komplikationen.
Für die Entscheidungsfindung im Einzelfall kann das Vorgehen in Tabelle 3 hilfreich sein. Grundsatz 1
Narkose machen kann man immer, die Frage ist, ob man soll
Grundsatz 2
Wenn man „krank" ist (AZ reduziert, Fieber> 38.5°), so geht man nicht zur Wahloperation (ähnlich wie: nicht zur Schule, nicht draußen spielen, nicht im See baden etc.)
Aussage 1
Wenn man nicht ,,krank" ist, sondern nur eine laufende Nase hat und ein wenig hustet, so wird es immer ein Ermessensentscheid bleiben
Aussage 2
Wenn keine zusätzlichen Risikofaktoren vorliegen (sonst gesundes Kind, Larynxmaske möglich), so scheint es vertretbar, den Eingriff durchzuführen
Aussage 3
Wenn zusätzliche Risikofaktoren vorliegen (kleiner Säugling, schwierige Intubation, sehr große Angst der Eltern), so ist es klug, den Eingriff aufzuschieben
Tab. 3: Gesprächsführung und Entscheidungsfindung beim erkälteten Kind.
2.2. Chronische pulmonale Vorerkrankung Asthma: Eine reversible Bronchokonstriktion auf der Basis einer Inflammation charakte18
risiert das Asthma. Asthmasymptome finden sich häufig bei Kindern (34) und die Inzidenz scheint steigend zu sein (35). Schwerwiegende Komplikationen im Zusammenhang mit einer Anästhesie beim Kind mit Asthma sind glücklicherweise selten, und eine mit üblicher Sorgfalt durchgeführte Anästhesie wird meist gut ertragen (Tabelle 4) (36;37). Sevofluran und Isofluran sind günstig und bewirken eine Bronchodilatation; eine TIVA mit Propofol beeinflusst die Lungenmechanik kaum (38). Desfluran verschlechtert sie und ist daher kontraindiziert (39). Die Inhalation mit Salbutamol verhindert die durch die Intubation hervorgerufene Bronchokonstriktion (40). Die Larynxmaske bewirkt im Gegensatz zur Intubation keine Bronchokonstriktion (41). Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) sind zur Analgesie erlaubt. In einer Kohortenstudie fand sich bei asthmatischen Kindern keine Verschlechterung der Lungenfunktion nach der Einnahme von Diclofenac (42); epidemiologisch finden sich keine Hinweise, dass beim asthmatischen Kind lbuprofen im Vergleich zu Paracetamol nachteilig ist (43) und beim Bronchoprovokationstest sind nur die wenigsten asthmatischen Kinder sensibel auf lbuprofen (44). Prämedikation
Weiterführen der Dauermedikation (,,gut eingestellt") Inhalation mit Salbutamol erwägen
Einleitung
Tiefe Einleitung verhindert Bronchospasmus Histamin freisetzende Substanzen mit Vorsicht verwenden
Atemw~icherung
Atemwegsinstrumentierung möglichst vermeiden (Larynxmaske besser als Tubus)
Analgesie
NSAR sind erlaubt
Diverses
Bei systemischer Steroidtherapie Stressdosis erwägen Für die PONY-Prophylaxe Dexamethason mit verwenden
Tub. 4: Checkliste Kind mit Asthma.
Mukoviszidose, Zystische Fibrose (CF): Die CF ist eine vererbte Störung (autosomalrezessiv, Chromosom 7) des Chlorid- und Natrium-Transports mit erhöhtem Elektrolytgehalt und erhöhter Viskosität der Sekrete. Die Folgen sind eine Maiabsorption wegen Pankreasinsuffizienz und eine zunehmende Zerstörung der Lunge bei Sekretretention und Infektionen. Es besteht meist eine erhebliche Störung des V/Q-Verhältnisses, auch wenn die Kinder klinisch noch wenig auffiillig erscheinen. Eine sorgfältige und individuelle perioperative Betreuung ist wichtig (Tabelle 5) (45). Typische Eingriffe sind die Behandlung von Nasenpolypen oder eines Pneumothorax, sowie Bronchoskopien. Die Kinder mit CF werden heute hoch spezialisiert betreut und schwere Mangelzustände sind selten; die Kinder erreichen meist das Erwachsenenalter (46). Bei größeren Kindern und peripheren Eingriffen bietet die alleinige Regionalanästhesie die Möglichkeit, möglichst wenig mit Atmung und Lunge zu interferieren. Lunge
Meist schon erhebliche Veränderungen von Ventilation und Perfusion auch wenn die Kinder klinisch noch wenig auffällig sind
Sekret
Vermeide Eindickung der Sekrete: Genügende Hydrierung, kein Atropin
MD-Trakt
Maiabsorption (Vitamin K?) Sekundärer Diabetes wegen der Pankreasfibrose
Postoperativ
Kein Medikamentenüberhang Gute Analgesie; das Abhusten von Sekret ist lebenswichtig
Umgebung
Gute Händehygiene des Personals, multiresistente Keime häufig
Tab. 5: Checkliste Kind mit Mukoviszidose.
19
3. Das Kind mit einem Herzfehler 3.1. Allgemeines Herzgeräusche kommen bei Kindern häufig vor; 6 von 1000 Neugeborenen haben ein Vitium. Die heutige Möglichkeit, mittels Echokardiographie nicht invasiv eine exakte strukturelle Diagnose zu stellen, hat die früher übliche Unsicherheit ersetzt. Das Fehlen von Zeichen der Herzinsuffizienz, von Dyspnoe oder Zyanose lässt vermuten, dass auch eine Narkose ertragen wird. Allerdings können bei Säuglingen auch die klinischen Zeichen eines relevanten Vitiums subtil sein (47), da sich diese kleinen Patienten bis auf das Trinken kaum körperlich belasten. Die Aussagekraft der Auskultation ist v.a. beim Neugeborenen beschränkt (48). Der Auskultationsbefund sagt wenig über den Schweregrad einer Läsion aus, eher umgekehrt (lautes Geräusch - kleines Loch und umgekehrt). Das Screening von Neugeborenen mittels Pulsoxymeter (Tabelle 6) hilft, Vitien mit begleitender Zyanose früh zu diagnostizieren und Überraschungen, z.B. ein Säugling mit einem nicht bekannten Fallot, zu vermeiden (49). SaO2
Maßnahmen
Bemerkungen
.,95 %
Keine Maßnahme
Echokardiographie nur wenn • Positive Familienanamnese • Klinische Auffälligkeit • Beunruhigte Eltern
90-94 %
Wiederholen nach einigen h
Wenn pathologisch => Echokardiographie
Echokardiographie
Tab. 6: Screening am ersten Lebenstag mittels pulsoxymetrischer Sättigung.
3.2. Systematik Die Fortschritte der Kardiochirurgie bewirken, dass zunehmend mehr Patienten mit operierten Vitien im Erwachsenenalter anzutreffen sind (50;51); Grundkenntnisse der Physiologie sind daher für alle Anästhesisten wichtig. Seltener stehen Nicht-Kardioanästhesisten Kindern mit schweren noch nicht korrigierten Vitien gegenüber (52). Vereinfacht können die angeborenen Herzfehler in 5 Gruppen eingeteilt werden (Tabelle 7). Kategorie
Beispiele•
Vorgehen und Bemerkungen
1. „Abnorme Verbindungen"
VSD, ASO, PDA
Shunt links-rechts, da der Druck im Lungenkreislauf tiefer ist als im großen Kreislauf. FiO2 tief halten
2.
AS, PS, Al, PI
Problematik analog wie beim Erwachsenen. Henfrequenz: Stenose langsam, Insuffizienz eher schnell
nach primärer Palliation bei Links- oder Rechtshenhypoplasie
Ein Ventrikel perfundiert den Lungen- und den Systemkreislauf. Ziel ist ein Verhältnis 1: 1 bei einer O 2-Sättigung von 80-85 %
4. FONTAN-Zirkulation
Zustand nach Palliation bei Links- oder Rechtshenhypoplasie
Die Lunge wird passiv durchströmt. Hoher ZVD und niedriger Lungenwiderstand sind wichtig
5. Zyanotische Vitien
Transposition (TGV) Tetralogie FALLOT
TGV: Ductus Botalli muss offen bleiben bis zur Operation (Prostaglandin) Fallot: Bei FALLOT-Krisen Morphin, 0 2 , ß-Blocker, Phenylephrin
Stenosen und Insuffizienzen
3. Monoventrikuläres Hen
Tab. 7: Die Einteilung der Herzvitien in 5 Kategorien .
*
20
Verwendete Abkünungen: Ventrikelseptumdefekt (VSD), Vorhofseptumdefekt (ASO), persistierender Ductus arteriosus (PDA) , Aortenstenose (AS), Pulmonalstenose (PS), Aorteninsuffizienz (Al) , Pulmonalinsuffizienz (PI), Transposition der großen Gefäße (TGV).
3.3. Linksherzhypoplasie (oder Rechtsherzhypoplasie) und FONTAN Zirkulation Linksherzhypoplasie: Die Kinder werden mit einem hypoplastischen linken Ventrikel und einer hypoplastischen Aorta ascendens geboren; nur ein offen gehaltener Ductus Botalli erlaubt ihr Überleben bis zum ersten Schritt der Korrektur. Beim klassischen Eingriff nach NORWOOD I wird eine Neoaorta konstruiert, die jetzt aus dem rechten Ventrikel entspringt; die Lunge wird über einen modifizierten BLALOCK-TAUSSIG-Shunt perfundiert. D.h. ein Ventrikel perfundiert sowohl die System- als auch die Lungenzirkulation. Anzustreben ist eine Perfusion im Verhältnis 1: 1, was arterielle Sättigungen von 80-85 % ergibt (53). Neuerdings werden auch in der Neugeborenenperiode zur primären Palliation sog. Hybridprozeduren durchgeführt: Der Ductus Botalli wird mittels Stent offen gehalten, das Vorhofseptum wird mittels Ballon eröffnet und es erfolgt ein „Banding" der Pulmonalarterien, um dieses 1:1 Verhältnis der Perfusion zu erreichen (54). FONTAN-Zirkulation: Mit der totalen cavopulmonalen Anastomose sind wieder zwei serielle Kreisläufe geschaffen: Die Lunge wird nun rein passiv durchströmt, der ZVD ist die treibende Kraft und der Lungenwiderstand soll möglichst niedrig sein. Der verbleibende Ventrikel (bei der Linksherzhypoplasie ist das der rechte Ventrikel) perfundiert den Systemkreislauf. Der chronisch hohe ZVD kann zu einer Enteropathie mit Proteinverlust führen (55), die Aspirationsgefahr dürfte erhöht sein. Bei Dekompensation helfen Katecholarnine zur Kontraktilitätssteigerung wenig, da nicht gepumpt wird; benötigt wird eine Volumenzufuhr. Patienten mit FONTAN-Zirkulation können im Alltag wenig auffällig sein und kommen mit Bagatellverletzungen oder auch zur Sectio (56), Laparoskopie (57) oder Skolioseoperation (58). 3.4. Spezielle Risikosituationen Kinder mit einer pulmonalen Hypertension haben ein sehr hohes Risiko, perioperative Komplikationen zu erleiden (59;60); sie sollen nur von erfahrenen Anästhesisten betreut werden und bedürfen einer minutiösen Überwachung, damit nicht einmal kurzzeitig „vom guten Pfad abgewichen" wird (61). Die angeborene QT-Verlängerung wird an gewissen Orten, z.B. in Italien, bei Säuglingen systematisch gesucht, da sie mit perioperativen Rhythmusstörungen (62) und sogar plötzlichen Todesfällen in Zusammenhang gebracht worden ist. Inhalationsanästhetika (63), aber auch viele andere Pharmaka wie Ondansetron oder Droperidol (64) können die QT-Zeit verlängern. Die Homogenität der Repolarisation wird aber nur wenig verändert und das Risiko einer Torsade de pointes dürfte daher wenig ansteigen (65). Bei Patienten mit Long-QT-Syndrom treten Rhythmusstörungen am ehesten unter sympathischer Stimulation beim Ausleiten der Anästhesie auf (66).
4. Endokrine Erkrankungen 4.1 Diabetes Allgemeines: Diabetes ist eine relativ häufige Erkrankung bei Kindern; es handelt sich fast immer um einen Diabetes Typ 1. Die Inzidenz beträgt im United Kingdom 1:450 (67) und ist weltweit bei großen regionalen Unterschieden im Zunehmen begriffen (68). Die Ätiologie ist unklar: eine genetische Prädisposition und Trigger aus der Umwelt (69) begünstigen eine autoimmun bedingte Zerstörung der Inselzellen (70). Die Diagnose wird leider in 30 % der Fälle beim ersten Arztbesuch verpasst (Tabelle 8) und erst das ketoazidotische Koma führt zur Diagnose. Bei jedem Blutzucker über 11 mmol/1 sollte eine Abklärung noch am gleichen Tag erfolgen. 21
Symptom
Bemerkungen
Sekundäre Enuresis
Erstes Symptom bei 89 % der Kinder< 4 J
Polyurie Durst (Polydipsie) Gewichtsverlust
Bei ketoazidotischer Entgleisung liegt meist eine Dehydratation von ca. 5 % des Körpergewichts vor
Tab. 8: Erstdiagnose des kindlichen Diabetes.
Insulin: Die Therapie des Diabetes Typ I beruht auf Insulin. Kinder werden heute fast ausschließlich nach dem Basis-Bolus-Prinzip oder mittels Insulinpumpen behandelt, dazu gehört eine mehrfach tägliche Messung des Blutzuckers. Heute ist nur noch gentechnisch hergestelltes Insulin in Gebrauch. Die modernen Insulinanaloge mit entweder rascher, kurzer oder mit sehr langer Wirkung haben die Therapie revolutioniert (Tabelle 9) (71). Insulin
Beginn
Maximum
Dauer
Insulinanalog Insulin Lispro (Humalog"')
lOmin
1-2 h
3-4h
Insulinanalog Insulin Aspart (NovoRapid"')
lOmin
1-2 h
3-4 h
Humaninsulin Actrapid"'
15-30 min
2-3 h
5-8 h
lnsulinanalog langwirkend Insulin Glargin (Lantus"')
90min
-
16-24 h
Insulinanalog langwirkend Insulin Detemir (Levemir"')
90min
6-12 h
12-16 h
Humaninsulin verzögert Lente"'
90min
5-6 h
8-10 h
Tab. 9: Insulin und lnsulinanaloge.
Perioperative Behandlung: Insulin ist ein anaboles Hormon, das die Energiespeicherung (z.B. Glykogensynthese, Aufnahme von Glukose in die Zelle) begünstigt und den Abbau der Reserven (z.B. Lipolyse, Glukoneogenese aus Aminosäuren) hemmt. Unsere Bemühungen müssen daher über die alleinige Aufrechterhaltung eines normalen Blutzuckerwertes hinausgehen, d.h. die Patienten benötigen Insulin und Glukose (Tabelle 10). Die existierenden Empfehlungen (72;73) basieren weitgehend auf Expertenmeinungen und nicht auf randomisierten Studien. Die Einstellung sollte präoperativ möglichst optimal sein (Tabelle 11). Prinzip
Bemerkungen
Minimale Nahrungskarenz
Als erste auf das OP-Prograrnm
Minimale zelluläre ,,Nahrungskarenz"
Verabreiche schon präoperativ Glukose
Vermeide Hypoglykämie
Ziel Glukose 5-10 mmol/1 ; in Narkose mindestens alle 60 Minuten bestimmen
Glukose und Insulin verabreichen Minimierung der Stressantwort
Regionalanästhesie
Tab. 10: Grundprinzipien der perioperativen Diabetesbehandlung.
22
Keine Ketonurie Normale Serumelektrolyte
HbAI, möglichst im akzeptablen Bereich < 5 Jahre
7-9 %
5-13 Jahre
6-8,5 %
> 13 Jahre
6-8 %
Tab.11: Präoperative Optimierung des diabetischen Kindes.
Eine sehr enge perioperative Einstellung des Blutzuckerspiegels ist heute nicht mehr erwünscht (Tabelle 12). Besonders bei Kindern ist die Gefahr einer Hypoglykämie sehr groß. Auch die Erwachsenenintensivmedizin ist übrigens von der von Van den Berghe (74) vorgeschlagenen möglichst normnahen Blutzuckereinstellung abgerückt, da diese zu vermehrten Hypoglykämien mit geringerer Überlebenschance führt (75). Vor der Pubertät wird mehr Glukose pro Einheit Insulin benötigt (5 g pro E Insulin; postpubertäre Adoleszente 3 g pro E Insulin). Glukose
Bemerkungen
In Narkose
5-10 mmol/1
z .T. werden auch höhere Grenzen angegeben (5-12 mmol/1)
Postoperativ wach
4,5-8 mmol/1
Tab. 12: Therapieziel bei der Blutzuckereinstellung.
Es gibt verschiedene klinische Situationen: a) Größere Eingriffe mit unklarer Dauer der Nahrungskarenz, b) kleinere Eingriffe (< 1 Stunde) mit sofortiger Nahrungsaufnahme beim Kind mit Basis-Bolus-Prinzip, c) kleinere Eingriffe beim Kind mit einer Insulinpumpe. Für die Situation a) bestehen klare Empfehlungen. Normale Behandlung bis am Vorabend. Am Morgen wird der Blutzucker bestimmt, ein Venenzugang gelegt und mindestens schon während 2 Stunden präoperativ Glukose und Insulin nach dem Vorschlag in Tabelle 13 verabreicht. Die Infusion von freiem Wasser ist perioperativ gefährlich (76); daher soll möglichst keine Halbelektrolytlösung verwendet werden, wie das früher von pädiatrischen Diabetologen vorgeschlagen wurde (77), sondern die Glukose gleich wie ein Medikament einer Vollelektrolytlösung beigemischt werden. Blutzucker
Insulinperfusor
rnJ Glukose 40 % in Bezug auf die lnfusionsmenge nach 4-2-1-Regel
> 15 mmol/1
0,1 Flkg/h
Keine
8-15 mmol/1
0 ,05 Flkg/h
1/8 der 4-2-1-Menge
5%
4-8 mmol/1
0 ,05 Flkg/h
1/4 der 4-2-1-Menge
10 %
< 4 mmol/1
0,02 Flkg/h
1/4 der 4-2-1 -Menge
10 %
*
**
Glukoseendkonzentration
0%
* **
entspricht bei 20 kg 2,5 mg/kg/min Glukose entspricht bei 20 kg 5 mg/kg/min Glukose
Tab.13: Insulinperfusor und Glukosezufuhr (lnsulinperfusor: 0,5 Flkg in 50 mJ NaCl [I ml/h = 0 ,01 Flkg/h]).
In der Situation b), dem kleinen Eingriff mit rascher Wiederaufnahme der normalen Ernährung, werden bei Therapie mit Basis-Bolus-Prinzip 75-100 % des langwirkenden Insulins verabreicht, die Glukose wird bestimmt und ein Venenzugang gelegt; Glukose 23
(initial Endkonzentration 5 %, vgl. Tabelle 13) wird infundiert. Insulin wird entweder intravenös (vgl. Tabelle 13) oder gelegentlich auch subkutan (Tabelle 14) verabreicht. In der Situation c), beim Kind mit einer Insulinpumpe, wird ähnlich vorgegangen. Die Basalrate wird beibehalten, Glukose wird infundiert und der Blutzuckerspiegel wird gemäß Pumpenprotokoll oder konventionell (vgl. Tabelle 13 und 14) gesteuert. Gewicht
mmol/l
mg/dl
20kg
5,5
)()()
40kg
3,3
60
60kg
2,2
40
70kg
1,7
30
Tab. 14: Hinweise zur Dosierung bei subkutaner Insulingabe: Zu erwartende Änderung nach der subkutanen Injektion von einer Einheit Insulin.
Alternativ kann auch der Insulintagesbedarf verwendet werden, um die zu erwartende Veränderung des Blutzuckerspiegels abzuschätzen. Eine Einheit Insulin (z.B. Actrapid®) subkutan senkt den Blutzucker um 1500/Insulintagesbedarf (z.B. Tagesbedarf 50 E Insulin: 1 E senkt um 1500/50 =30 mg/dl = 1,6 mmol/1). Bei Verwendung von Humalog® oder Novo Rapid® ist der Effekt größer, 1800/lnsulintagesbedarf.
Diabetische Notfallsituationen: Bei ketoazidotischer Entgleisung besteht die Therapie aus Volumen, Insulin und Kalium (78). Die Infusionstherapie beginnt mit 20-40 ml/kg NaCl 0,9 % oder Ringerazetat in den ersten 2 Stunden gefolgt vom Erhaltungsbedarf und dem Ersatz des Flüssigkeitsdefizits (ca. 5 % des Körpergewichts) in 2 Tagen. Die Insulintherapie beginnt mit einer Stunde Verzögerung: 0,1 E/kg/h. Ein zu rasches Absenken des Blutzuckers ist unerwünscht (maximal 5 mmol/l/h). Der Verzicht auf balancierte Elektrolytlösungen und die Infusion von NaCl führt therapiebedingt zu einer hyperchlorämen Azidose (79). 4.2 Adrenogenitales Syndrom (AGS) Die angeborenen Cortisol-Synthesestörungen (häufig z.B. 21-Hydroxylase-Mangel) führen zu einem Mangel an Cortisol, zu einer Hyperplasie der Nebennieren (englischer Begriff: congenital adrenal hyperplasia) und intrauterin zu einer Virilisierung des weiblichen Fötus (deutscher Begriff: AGS) (80). Eine lebenslange Substitution mit Cortison und evtl. auch einem Fludrocortison (Florinef®) ist unerlässlich. Perioperativ oder bei Erkrankungen sind Elektrolytentgleisungen mit Hyponatriämie und lebensbedrohlicher Hyperkaliämie das Hauptproblem (81). Es werden zusätzliche Steroiddosen verabreicht (Tabelle 15). Eingriff
Dosierung
Diagnostische Maßnahme, keine Nahrungskarenz
Übliche Medikation mit Cortison und Florinet'9
Kleiner ambulanter Eingriff (z.B. Leistenhernie)
Übliche Medikation mit Cortison und Florinef'9 Zusätzlich einmalig die 2- bis 3fache Hydrocortison-Dosis intravenös
Großer Eingriff, schwere Krankheit
Intravenös das 3- bis 5fache der täglichen CortisonDosis (in 3 täglichen Dosen; Reduktion nach Besserung desAZ)
Tab.15: Zusätzliche Cortisondosen beim Kind mit AGS (nach (21)).
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S. Stoffwechselstörungen, die eine kontinuierliche Glukosezufuhr erfordern 5.1 Allgemeines Der Kinderanästhesist kann auf unzählige vererbbare Stoffwechselerkrankungen treffen; er wird sich die nötigen Informationen beschaffen müssen und dann sein Vorgehen entsprechend planen. Sehr oft wird der Anästhesieplan dann eine „ganz normale Narkose" sein. Bei einigen wenigen Erkrankungen, die sich direkt auf die Energiegewinnung der Zellen auswirken (z.B . Störungen des Glukose- oder Fettsäuremetabolismus), kann jedoch schon eine kurzzeitige Unterbrechung der Energiezufuhr (für die Dauer der Narkose) zu einer schweren Entgleisung führen . Eine kontinuierliche Zufuhr von 5-8 mg/kg/ min Glukose (Tabelle 16) sowie die Überwachung von Säure-Base-Status und Laktat sind wichtig. 5 mg/kg/min
30 x KG in kg
=> 300 mg/kg/h
=
ml-%-Einheiten (ml/h einer 1%igen Glukoselösung) (.,cc-units" im amerikanischen Unterricht)
Beispiel: 8 kg schweres Kind, Ziel 5 mg/kg/min Glukose infundieren 8 x 30 = 240 ml-%-Einheiten d.h. 240 ml/h Glukose 1 %, oder 24 ml/h Glukose 10 %, oder 6 ml/h Glukose 40 %
Tab. 16: Berechnung der Glukosedosierung 5 mg/kg/min.
5.2. Glykogenose Typ I von Gierke: Die autosomal-rezessiv vererbte Störung der Glukose-6-Phosphatase ist die häufigste Glykogenose. Die Glukose-6-Phosphatase katalysiert die Bildung von Glukose sowohl aus der Glykogenolyse als auch aus der Glukoneogenese. Die Patienten sind daher auf eine kontinuierliche Glukosezufuhr von außen angewiesen, oft mit einer nächtlichen Dauersondierung via Gastrostomie. Schon eine kurze Nahrungskarenz kann eine lebensbedrohliche Hypoglykämie und Azidose bewirken. Erhöhte Werte von Laktat und Harnsäure sowie eine thrombozytäre Blutungsneigung sind typisch. Desmopressin (Minirin®) wurde erfolgreich eingesetzt. Glukose muss gemessen und infundiert werden (82). 5.3. Störungen des Fettsäuremetabolismus Karnitin-Palmityl-Transferase-Mangel (CPT-Mangel): Autosomal-rezessiv vererbte Störung der CPT; die zwei Formen des Enzyms sind nötig für die Aufnahme der Fettsäuren als Azyl-Karnitin in die Mitochondrien. CPT I katalysiert Azyl-CoA zu Azyl-Karnitin, CPT II bildet dann im Innern der Mitochondrien wieder Azyl-CoA. CPT 1-Mangel manifestiert sich mit hypo-ketotischer Hypoglykämie, Krämpfen und Koma ausgelöst durch Fasten, Anstrengung, Kälte, Infektionen sowie eine fettreiche und kohlenhydratarme Ernährung (83). CPT II-Mangel ist die häufigste vererbte Störung der Fettsäureoxydation und manifestiert sich hauptsächlich im Muskel mit einer anstrengungsinduzierten Rhabdomyolyse, begünstigt durch Fasten und Kälte, im jugendlichen Erwachsenenalter (84). Nahrungskarenz und eine katabole Stoffwechsellage sind zu vermeiden; Glukose muss gemessen und infundiert werden. ,,Median-Chain"-Azyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (MCAD-Mangel): Autosomalrezessiv vererbte Störung der MCAD; die MCAD ist eine von mehreren Azyl-Dehydrogenasen, mitochondrialen Enzymen, die für die ß-Oxydation von Fettsäuren nötig sind. Jeder Ausfall einer Azyl-Dehydrogenase manifestiert sich klinisch, der MCAD-Mangel ist die häufigste Form. Klinisch kann sich intermittierend ein Reye-Syndrom-ähnliches 25
Bild zeigen mit Hypoglykämie, Azidose und Enzephalopathie; trotz Hypoglykämie steigen die Ketonkörper nicht an (nicht-ketotische Hypoglykämie) (85). Heterozygote können erst im Erwachsenenalter unter Belastung, z.B. Geburt, manifest werden (86). Nahrungskarenz und eine katabole Stoffwechsellage sind zu vermeiden; Glukose muss gemessen und infundiert werden (86;87). ,,Very-Long-Chain"-Azyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (VLCAD-Mangel): Autosomal-rezessiv vererbte Störung der VLCAD. Die Krankheit manifestiert sich mit Kardiomyopathie, Perikarderguss, Myopathie und Hypoglykämien; bei später Manifestation ist eine anstrengungsinduzierte Rhabdomyolyse typisch (88). Die nicht-ketotischen Hypoglykämien erklären sich dadurch, dass der Körper vermehrt auf Glukose als Energiequelle zurückgreift. Therapeutisch werden eine mittellangkettige triglyzerid- und kohlenhydratreiche Diät eingesetzt. Das klinische Bild sieht dem Propofolinfusions-Syndrom ähnlich. Es wird vermutet, dass Propofol mindestens in der klassischen Form, gelöst in langkettigem Triglyzerid, kontraindiziert ist (89). Nahrungskarenz und eine katabole Stoffwechsellage sind zu vermeiden (90); Glukose muss gemessen und infundiert werden (89). Bei metabolischer Dekompensation können sehr hohe, bis zu 10-15 mg/k:g/min, Glukosemengen nötig werden. 5.4. Mitochondriale Zytopathien In den Mitochondrien finden verschiedene Stoffwechselvorgänge statt, z.B. Endstrecke der Glykolyse, ß-Oxydation der Fettsäuren, Teile des Harnstoffzyklus und die Atmungskette. Der Begriff „mitochondriale Zytopathie" ist allerdings für die Defekte der Atmungskette reserviert. Hier werden unter Mithilfe von 5 Enzymen, dem Komplex I bis V, aus einem Molekül NADH 3 Moleküle ATP generiert. Defekte der Atmungskette werden mit Akronymen (z.B. MERRF [myoclonic epilepsy, ragged red fibers], MELAS [mitochondrial encephalomyopathy, lactic acidosis, stroke-like episodes]) und mit Eigennamen (z.B. Leigh-Syndrom, Kearns-Sayre-Syndrom) beschrieben. Die Vererbung ist komplex, da sowohl Zellkem-DNA als auch mütterlich vererbte mitochondriale DNA beteiligt sein kann. Es sind immer verschiedene Organsysteme betroffen und eine Mehrfachbehinderung ist die Regel (91;92). Bei akuter Erkrankung oder Fieber sollten nur dringlichste Interventionen durchgeführt werden, da die ATP-Produktion ohnehin schon beeinträchtigt ist (93). Wie bei vielen behinderten Kindern (94) dürfte eine erhöhte Empfindlichkeit auf Anästhetika vorliegen (95).
6. Onkologische Erkrankungen 6.1. Allgemeines Kinder mit onkologischen Erkrankungen benötigen sehr häufig Anästhesien für die bildgebende Diagnostik oder Interventionen wie Lumbalpunktion, Knochenmarkpunktion oder Biopsien. Viele Besonderheiten sind zu beachten (Tabelle 17). Psychologische Probleme
Klinikerfahrung, viele Eingriffe Rituale beachten
Chemotherapie
Anämie, Thrombopenie, lnfektanfälligkeit Nebenwirkungen der Zytostatika
Tumor-Lyse-Syndrom
Hyperkaliämie, Nierenversagen
„Mediastinal-Mass"-Syndrom
Tab.17: Besonderheiten beim onkologischen Kind.
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6.2. Tumorlyse-Syndrom Bei großen Zellmassen, z.B. Leukämien und malignen Lymphomen, seltener bei soliden Tumoren (96) kann es durch die Gabe von Steroiden oder der initialen Chemotherapie zu einem massiven Zellzerfall mit Hyperkaliämie und Nierenversagen kommen (97;98). Ein überraschendes Tumorlyse-Syndrom wurde auch bei noch nicht diagnostizierten Leukämien (99) oder Lymphomen (100) beschrieben. Vor allem in der Initialphase muss jede Gabe von Corticosteroiden außerhalb des Therapieprotokolls kritisch hinterfragt werden. 6.3. ,,Mediastinal-Mass"-Syndrom Tumoren im vorderen Mediastinum mit einer Einengung der Luftwege, v.a. distal der Carina, können mit Narkoseeinleitung und Beatmung zu einer schwersten Atemwegsobstruktion und Kreislaufzusammenbruch führen, während vorher in Spontanatmung ein weitgehend problemloser Gasaustausch möglich war (101). Schwere Probleme sind auch bei asymptomatischen ( 102) vorher noch nicht bekannten mediastinalen Massen berichtet worden (103). Eine sorgfältige präoperative Evaluation ist hilfreich (104-106): bei einem Luftwegsquerschnitt von> 50 % des Ausgangswerts und einem Peak-Flow von> 50 % der Norm wird eine Intubationsnarkose mit Beatmung meist toleriert (107;108). Im Idealfall kann die Diagnose ohne Anästhesie und ohne die Biopsie der mediastinalen Massen gestellt werden. Falls möglich sollte die Spontanatmung erhalten bleiben, dies bietet allerdings keine Garantie (109). Im Extremfall wird unter Einsatz der Herzlungenmaschine operiert. Bei unerwartet auftretenden Problemen können eine tiefe Intubation mit einem starren Tubus oder Bronchoskop sowie die Umlagerung auf die Seite versucht werden.
7. Schlussfolgerungen Kleine Kinder benötigen oft auch für kleine diagnostische Eingriffe eine Anästhesie. Für die Betreuung eines erkälteten Kindes benötigt der Anästhesist Erfahrung, um die Situation richtig einzuschätzen und Komplikationen wie Atemstopp oder Laryngospasmus gekonnt und ohne Aufregung zu behandeln. Für die Behandlung des „Herzkindes" braucht es zusätzlich ein profundes Verständnis der Herz-Kreislauf-Physiologie. Das diabetische Kind profitiert von klaren Richtlinien und einem standardisierten Vorgehen. Bei angeborenen Defekten der Energiegewinnung müssen „Alarmglocken läuten": das Vermeiden von Katabolismus und die Gabe von Glukose kann lebensbedrohliche Entgleisungen vermeiden. Diese Diskussion zeigt, dass es für die sichere anästhesiologische Betreuung von Kindern neben Erfahrung und manuellem Geschick ebenso auch profundes Wissen braucht.
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31
Ist Narkose für Kinder schädlich? J.
STRAUSS
Auch wenn der Titel auf die Anästhesie fokussiert, soll wenigstens darauf hingewiesen werden, dass neben der Narkose noch ganz andere Faktoren wie Operation (Trauma), Stress (Trennung von den Eltern, fremde Umgebung), Begleitmedikation (Antibiotika, Antikonvulsiva), Alter und andere einen bislang nicht untersuchten Einfluss haben könnten. Über Interaktionen mehrerer Faktoren (Addition, Potenzierung) ist so gut wie nichts bekannt.
1. Entwicklung des Gehirns In den letzten 4 Monaten der Schwangerschaft durchläuft das fetale Gehirn eine rasche Entwicklung und Differenzierung (siehe Abbildung 1).
Abb. 1: Entwicklung und Differenzierung des fetalen Hirns.
Zum Zeitpunkt der Geburt ist das Gehirn bereits hoch entwickelt, aber die eigentliche neuronale Entwicklung setzt erst nach der Geburt ein (Abbildung 2).
SynaptlcDenslty
At. birth
6years old
1-4 years old
Abb. 2: Neuronale Vernetzung: Synapsendichte zum Zeitpunkt der Geburt, mit 6 und 14 Jahren.
33
Die neuronale Entwicklung bedeutet einen ständigen Umbau des Gehirns durch • Gezielten Abbau von Neuronen • Aufbau von Neuronen • Wachstum von Zellen • Verknüpfung von Dendriten Der Zeitpunkt der maximalen Synaptogenese, also der stärksten Vernetzung von Neuronen, liegt bei Ratten um den 7. postnatalen Tag. Das dürfte damit die vulnerabelste Phase für eine anästhetika-induzierte Neurotoxizität bei der Ratte sein. Bei Menschen verläuft die Entwicklung des ZNS wesentlich langsamer. Dabei reifen unterschiedliche Hirnareale zu verschiedenen Zeiten aus: Hirnregion
Abschluß der Entwicklung
Primärer sensomotorischer Cortex
Geburt
Parietaler und temporaler Cortex Sprache, Riiumliche Orientierung
9 Monate
Präfrontaler Cortex Willensfunktion , integrative und modulierende Hirnfunktion
2-3 Jahre
Tab. 1: Ausreifen und Funktion ausgewählter Hirnareale.
Die vulnerable Phase für anästhetika-induzierte Neurotoxizität beträgt damit bei Menschen vermutlich 36 Monate.
2. Apoptose? Nekrose? Definitionen Die Apoptose ist ein physiologischer Prozess, bei dem es zu einem programmierten Untergang einzelner Zellen kommt. Sie wird durch zellinterne oder äußere Prozesse ausgelöst und von der betroffenen Zelle selbst aktiv durchgeführt. Die Apoptose ist Teil des physiologischen Stoffwechsels der Zelle. Bei der Apoptose kommt es zu einem Schrumpfen der Zelle, einem Abbau der DNA und schließlich zur Fragmentierung der Zelle. Der Zelltod durch Apoptose unterliegt einer strengen Kontrolle. Die betreffende Zelle geht ohne Schädigung des Nachbargewebes zugrunde. Die Apoptose ist die häufigere Form des Zelltods. Es sind immer nur einzelne Zellen betroffen. Die Apoptose ist Voraussetzung für das Wachstum von Organen (,,organisiertes Auswechseln" nicht mehr benötigter Zellen). Im Gegensatz dazu führt die Nekrose zu einem (ungeplanten) Untergang ganzer Zellverbände oder Organe. Bei der Nekrose kommt es zu einem Anschwellen und Platzen der betroffenen Zellen. Das wiederum führt durch Freisetzung von Cytoplasma zu einer lokalen Entzündung. Bei einer Nekrose kommt es über diese Mediatoren immer zu einer Schädigung benachbarter Gewebe. Makrophagen beseitigen die Reste abgestorbener Zellen.
3. Tierexperimentelle Studien Eine 6-stündige Exposition gegenüber Lachgas, Midazolam oder Isofluran führt zu einer starken Induktion der Apoptose im ZNS 7 Tage alter Ratten. Auch andere Substanzen, etwa Propofol, Ketamin und volatile Anästhetika, verursachen eine Zunahme der Apoptoserate. Potentiell toxische Substanzen sind: 34
NMDA-Antagonisten
GABA-Agonisten
Ketamin Lachgas (N20) Meperidine Tramadol
Ethanol Benzodiazepine Barbiturate Propofol, Etomidat Volatile Anästhetika
Tab. 2: Potentiell neurotoxische apoptose-induzierende Substanzen.
:J
a
b
C.
Abb. 3 aus Jevtovic-Todorovic V (2003): a - Kontrollgruppe, b und c - N,O, Isofluran, Midazolam.
Als sicher gelten derzeit Lokalanästhetika, Opioide und nicht-opioide Analgetika. Weitere Tierversuche lieferten Hinweise auf Lerndefizite und Verhaltensstörungen, wenn die Tiere während der vulnerablen Phase der Synaptogenese NMDA-Antagonisten oder GABA-Agonisten ausgesetzt wurden. Neben dem Alter des Tieres sind die Dosis und die Anwendungsdauer wichtige Einflußfaktoren für das Ausmaß der Apoptose.
4. Beobachtungen am Menschen Experimentelle Studien am Menschen liegen nicht vor. Einige klinische Beobachtungen belegen, daß es bereits intrauterin zu einer toxischen Schädigung des ZNS kommen kann. • Kinder, die intrauterin Alkohol ausgesetzt sind, entwickeln ein charakteristisches Krankheitsbild mit Mikrozephalie, Intelligenzminderung, kurzem Nasenrücken und schmaler Oberlippe - die Alkohol-Embryopathie. • Die intrauterine Exposition gegenüber Benzodiazepinen (im Rahmen der Therapie schwangerer Frauen mit Epilepsie) führt zu einer verzögerten neuronalen Entwicklung der Kinder und einer geringeren Körpergröße (Laegreid 1992). Die Kinder holen den Entwicklungsrückstand aber wieder auf. • Kinder von 8-36 Monaten, die wegen Fieberkrämpfen eine 2 Jahre dauernde Therapie mit Phenobarbital erfuhren, wiesen gegenüber einer Kontrollgruppe (die ebenfalls Fieberkrämpfe hatte, aber 2 Jahre mit einem Plazebo behandelt wurde) eine signifikant geringere Intelligenz auf, die noch 6 Monate nach dem Absetzen nachweisbar war. Zwei Jahre später wies die Phenobarbitalgruppe zwar keine Intelligenzunterschiede mehr, dafür aber eine signifikant schlechtere Sprachfunktion auf (Farwell 1990; Sulzbacher 1999). 35
Alkohol und Antiepileptika (Phenytoin, Phenobarbital, Benzodiazepine, Valproinsäure) sind bekannte Neurotoxine. Mittlerweile wurde für Benzodiazepine und Alkohol experimentell bewiesen, daß sie zu einer verstärkten Apoptose führen.
50
40
ExpoeurN(no.) Multiple -
=:.one
___ ..
.... ---
5 8 7
8 9 10 11 12 13 14 15 18 17 18 19
Aga (yeara) Abb. 4: Cumulative percentage of leaming disabilities diagnosis by the age at exposure shown separately for those that have zero, one, or multiple anesthetic exposures before age 4 yr (Wilder 2009).
2009 publizierte Robert Wilder die retrospektive Analyse eines Geburtenregisters. Von 5.357 Kindern erhielten 593 Kinder eine Anästhesie vor dem 4. Lebensjahr. Eine einzelne Narkose war nicht mit einem erhöhten Risiko von Lernschwierigkeiten verbunden. Kinder, die zwei (n = 100) oder mehr als zwei (n = 44) Narkosen erhielten, hatten aber ein deutlich höheres Risiko später Lernschwierigkeiten zu entwickeln (Abbildung 4). Das Risiko für Lernschwierigkeiten stieg mit der kumulativen Dauer der Exposition gegenüber einer Narkose (Wilder 2009). Charles DiMaggio veröffentlichte Daten einer retrospektiven Kohortenstudie (New York, Eltern in Medicaid). 383 Kinder hatten eine Operation von Leistenhernien in den ersten 3 Lebensjahren, 5.050 Kinder hatten keine Operation in den ersten 3 Lebensjahren. Die Daten wurden für Alter, Geschlecht und komplizierende Risikofaktoren wie LBW oder VLBW 1 adjustiert. Kinder, die in den ersten 3 Lebensjahren eine Hernienoperation erfuhren, hatten - gegenüber Kindern der Kontrollgruppe - ein mehr als doppelt so großes Risiko später Verhaltensstörungen zu entwickeln (DiMaggio 2009). Kalkmann hat mit einer validierten 120-item Child Behavior CheckList/4-18 für Eltern 314 Kinder mit urologischen Eingriffen im Alter von 0-6 Jahren untersucht. Die Anästhesieverfahren waren nicht standardisiert: Halothan, Enfluran, Isofluran, N2O, Opioide, Kaudalblock. Kinder, die in den ersten 2 Jahren operiert wurden, zeigten mehr Verhaltensstörungen als Kinder, die nach dem 2. Lebensjahr operiert wurden. Die Unterschiede waren aber statistisch nicht signifikant (Kalkman 2009) In Dänemark wird das Bildungsniveau von Kindern und Jugendlieben durch einen standardisierten Test in der 9. Schulklasse erhoben (Score 0-13, nationaler Durchschnitt 8 Punkte). 87% aller dänischen Kinder absolvieren diesen Test, die (standardisierte) Beurteilung erfolgt durch die Lehrer.
LBW -Low birth weight (< 2500 g), VLBW - Very low birth weight (< 1500 g), ELBW -extremely low birth weight (< 1000 g). Quelle: WHO, http://www.who.int/whosis/indicators/compendium/2008/2bwn/en/index.htm1
36
Alle Kinder, die von 1986-1990 im ersten Lebensjahr an einer Leistenhernie operiert wurden (und überlebt haben, n = 2.689) wurden mit einer Kontrollgruppe von 14.575 Kindern, die nicht im ersten Lebensjahr operiert wurden, verglichen (Korrigiert um Alter der Eltern, Geschlecht, Bildungsstand der Eltern, Migration, Kongenitale Erkrankungen). Dabei ergaben sich allerdings keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen: eine einzelne, kurze Narkose im ersten Lebensjahr führte nicht zu späteren Leistungsdefiziten im Jugendalter (Hansen 2011).
5. Kritische Überlegungen zur Relevanz der Tierversuche Die Bedeutung der tierexperimentellen Befunde wurde immer wieder in Frage gestellt. Ratten entwickeln sich wesentlich schneller als Menschen, der Entwicklungsstand des Gehirns einer 7 Tage alte Ratte entspricht dem eines 27 Monate(!) alten Säuglings. Korrigiert man die Narkosedauer um die Entwicklungsdauer des Gehirns entspricht eine 6 stündige Narkose bei einer 7 Tage alten Ratte einer 30-tägigen Narkose bei einem Säugling. Solange wird man kaum Narkose machen - vielleicht aber auf einer Intensivstation sedieren. Die verwendeten Dosen (Midazolam, Ketamin usw.) waren ungewöhnlich hoch. Zum Teil ist das in dem Applikationsweg (intraperitoneale Injektion), vor allem aber in der vom Menschen unterschiedlichen Empfindlichkeit auf die untersuchten Pharmaka begründet. Die im Tierversuch erreichten Spitzenkonzentrationen sind nicht mit den bei Menschen gemessenen Werten vergleichbar. Unterschiede zwischen den Spezies bestehen ferner in der Dosis-Wirkung-Beziehung und dem Metabolismus von Medikamenten. Es ist kaum möglich die experimentelle Anästhesietiefe (Tier-Mensch, Tiere unterschiedlicher Spezies) auf ein identisches und damit vergleichbares Level zu justieren. Die Versuchstiere waren weder intubiert noch beatmet, sie waren nicht einmal gut überwacht. Es liegt nahe, daß viele Versuchstiere (unbemerkt) metabolisch entgleist sind. lstaphanous (2011) hat bei seinen Tieren Azidosen, eine C02-Retention, einen negativen BE, eine Hyperkaliämie und eine Hypoglykämie beobachtet - Faktoren, die selbst zu einer Gewebeschädigung und Apoptose führen können oder bereits Ausdruck eines stattgefundenen Gewebeschadens (Nekrose) sind. Dessen ungeachtet darf aber nicht übersehen werden, daß gerade durch Überhöhung einzelner Faktoren - Dosis und Anwendungsdauer - im Tierversuch Veränderungen provoziert werden können, die beim Menschen (geringe Dosis, kurze Exposition) nur diskret wahrnehmbar sind. Wohlgemerkt handelt es sich bei der Apoptose nicht um eine ungesteuert ablaufende Nekrose ganzer Hirnareale sondern um eine - freilich ausgeprägte - Verstärkung der eigentlich physiologischen Apoptose. Dennoch weisen eine Reihe von Befunden, nicht zuletzt die fetale Alkoholembryopathie darauf hin, daß eine verstärkte Apopotoserate pathologische Relevanz haben kann.
37
6. Kritische Überlegungen zur Relevanz der Beobachtungen am Menschen Die Ergebnisse großer retrospektiver Studien müssen vorsichtig interpretiert werden. Ein Zusammenhang zwischen einer Anästhesie im ersten Lebensjahr und später auftretenden Lernschwierigkeiten oder Verhaltensstörungen läßt sich so nicht beweisen.
7. Schlußfolgerungen Derzeit besteht kein Grund zu Panik. Es gilt als sicher, daß im Tierexperiment die Exposition gegenüber Anästhetika in der Phase starker Hirnentwicklung zu einer ausgeprägten Apoptose mit möglichen funktionellen Langzeitschäden führt. Der Verzicht auf eine Anästhesie bzw. Schmerztherapie hätte andererseits schwere physische und emotionale Folgen. Deshalb empfiehlt die FDA in den ersten 3 Lebensjahren keine verschiebbaren Operationen durchführen. Sind Operationen unumgänglich sollten folgende pragmatische Empfehlungen für die Anästhesie bei Kindern berücksichtigt werden: • Anästhetika durch Einsatz von balancierten Verfahren einsparen • Einsatz von Opioiden und Nicht-Opioiden und Regionalanästhesie in Kombination mit Allgemeinanästhesie • Regionalverfahren als Alleinverfahren in Betracht ziehen.
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38
Patientensicherheit in der Anästhesie A.
GOTTSCHALK
Auf der Grundlage von Daten aus 56 Mitgliedsstaaten der WHO wird geschätzt, dass jedes Jahr weltweit mehr als 230 Millionen größere operative Eingriffe in Allgemeinanästhesie durchgeführt werden (1). Bei diesen Eingriffen wird in Industrienationen mit einer Komplikationsrate von 3-16% gerechnet, und bei 0,4-0,8% aller Patienten kommt es zu bleibenden Schäden oder gar Todesfällen, dies entspricht einer Zahl von ca. 1 Million Patienten. In einer Aufsehen erregenden Untersuchung mit dem Titel „To err is human: building a safer health care system" musste das Institue of Medicine (IOM) im Jahre 1999 feststellen, dass es in den USA jährlich zu bis zu 98.000 Todesfällen durch medizinische Fehler kommt (2). Übertragen auf die Luftfahrt in den USA würde dies einem täglichen Absturz eines Passagierflugzeuges mit ca. 270 Menschen an Bord entsprechen. Wer würde da noch fliegen wollen? Entsprechend einer jüngeren Publikation konnte allerdings gezeigt werden, dass die Krankenhausmortalität durch Optimierung der Patientenversorgung in den USA von 1,64% im Jahre 1996 auf 1,14% im Jahre 2006 reduziert werden konnte (3). Bei all diesen Zahlen stellt sich jedoch die Frage inwieweit das perioperative anästhesiologische Management diese Zahlen beeinflusst, bzw. inwieweit durch optimiertes anästhesiologisches Management eine Reduktion der Krankenhausmortalität und Morbidität erreicht werden kann.
Anästhesiologie und Mortalität In der Diskussion um Anästhesiologie und Mortalität muss zwischen anästhesieassoziierter und anästhesiebedingter Mortalität unterschieden werden (siehe Kasten 1) (4). In den letzten Jahrzehnten konnte durch Entwicklung neuer Techniken, Überwachungsmöglichkeiten und eine verbesserte Ausbildung der Anästhesisten eine deutliche Reduktion der Mortalität erreicht werden. So wurde beispielsweise in den Jahren 1948-1952 an 10 Universitätskliniken in den USA noch eine anästhesieassoziierte Mortalität von 64/100.000 Anästhesien festgestellt werden (5). Dies entsprach einer Mortalität von 3,3/100.000 Einwohnern und war somit höher als die Mortalität durch die damals epidemisch auftretende Poliomyelitis. Bereits Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts konnte zeitlich parallel zu der Einführung weiterer Sicherheitsstandards, wie der Pulsoxymetrie und der Kapnometrie eine Reduktion der anästhesiebedingten Mortalität auf 0,4/100.000 Narkosen erreicht werden (6). Kasten 1 - Definitionen: Anästhesieassoziierte Mortalität: Mortalität im Rahmen einer Operation, die unter Anästhesie (Allgemein- oder Regionalanästhesie) durchgeführt wurde. Ein kausaler Zusammenhang zwischen den anästhesiologischen Maßnahmen und dem Versterben des Patienten kann jedoch nicht hergestellt werden. Aus diesen Gründen ist die anästhesieassoziierte Mortalität schwer zu fassen, wodurch sich die genaue Bewertung der Anästhesie im Gesamtoutcome schwierig gestaltet. Anästhesiebedingte Mortalität: Mortalität, die direkt durch anästhesiologische Maßnahmen hervorgerufen wird.
39
Bezüglich neuerer Daten zur Mortalität in Zusammenhang mit der Anästhesie muss initial festgehalten werden, dass es sich bei den publizierten Studien in der Regel um retrospektive Analysen handelt, die sich mit verschiedenen Kritiken an der durchgeführten Methodik auseinandersetzen müssen. So wurden beispielsweise im Rahmen einer epidemiologischen Studie anhand von ICD-10-Kodierungen, die sich auf anästhesiologische Komplikationen beziehen, Todesbescheinigungen aus den Jahren 1999 bis 2005 in den USA ausgewertet (7). Hierbei ergab sich eine anästhesieassoziierte Mortalitätsrate von 8,2/100.000. Die anästhesiebedingte Mortalität betrug lediglich 0,22/100.000. In weiteren Untersuchungen zu dem Einfluss der Anästhesie auf die Mortalitätsrate ergaben sich für die anästhesieassoziierte Mortalität Werte von 4,7-5,5/100.000 Anästhesien und 13,6/100.000 für die Zeit innerhalb von 24h postoperativ, bzw. für die anästhesiebedingte Mortalität 0,69/100.000 Anästhesien (8). Insbesondere zuletzt genannte Studie von Lienhard et al. konnte einen Zusammenhang zwischen dem ASA-Status und der Mortalitätsrate detektieren. So konnte eine Steigerung der anästhesieassoziierten Mortalitätsrate von 0,4/100.000 bei ASA-1-Patienten über 5/100.000 (ASA-2) und 27/100.000 (ASA-3) bis auf 55/100.000 bei ASA-4-Patienten feststellen. Ähnliche Entwicklungen wurden für den Einfluss des Alters der Patienten festgestellt (0-7Jahre: Mortalitätsrate 0,6/100.000; 8-15 Jahre: 1,2/100.000; 15-39 Jahre: 0,52/100.000; 40-75 Jahre: 5,2/100.000; >75 Jahre: 21/100.000). Vor dem Hintergrund der Optimierung von Sicherheitsaspekten in der Anästhesiologie wurden im Rahmen einer Studie Risikofaktoren des anästhesiologischen Managements untersucht, indem 807 perioperative Todesfälle 883 vergleichbaren Patienten ohne Mortalität gegenüber gestellt wurden (9). Eine Aufstellung der identifizierten Risikofaktoren findet sich in Tabelle 1. Odds-Ratio Check der Geräte mit Checkliste
0,64
Dokumentation des Gerätechecks
0,61
Kein Wechsel des Anästhesisten während der OP
0,44
Direkt verfügbarer Anästhesist
0,46
Anwesenheit von Anästhesiepflege (Ganztagsstelle)
0,41
Zwei Personen bei Narkoseausleitung
0,69
Antagonisierung von Muskelrelaxantien und/oder Opioiden
0,1/0,29
Postoperative Analgesie mit: Opioiden
0,16
Lokalanästhetika
0,06
Opioide/Lokalanästhetika
0,325
Tab.1: Risikofaktoren der anästhesiologischen Versorgung nach (9).
Anästhesie und Morbidität Sowohl bei der Allgemein- als auch bei der Regionalanästhesie kann es zu anästhesiespezifischen Komplikationen und Nebenwirkungen kommen. Im Rahmen der Allgemeinanästhesie steht hier als am meisten gefürchtetes Risiko der schwierige Atemweg im Vordergrund. Aber auch Komplikationen wie Aspiration, PONV, Awareness sowie postoperative Restcurarisierung müssen in diesem Zusammenhang genannt werden. Im Bereich der Regionalanästhesie stehen insbesondere infektiöse Komplikationen, Nervenschäden, sowie die Querschnittsymptomatik nach rückenmarknaher Regionalanästhesie im Vordergrund. Die entsprechend der Literatur geschätzten Häufigkeiten der einzelnen Komplikationen sind in Tabelle 2 dargestellt. 40
Inzidenz/Anästhesien Aspiration - Bei Schwangeren im 2. Trimenon
1/2-3000 (28) 1/1000 (29)
Awareness
1-1,5/1000 (30)
Atemwegs-/Intubationsprobleme
1,5-13/100 (31)
Querschnitt nach rückenmarknaher RA
l/3600-1/200.000 (32,33)
Transiente neurologische Schädigungen nach PNB - lnterscalenäre Blockade
2,84/100
- Axillärer Plexusblock
1,48/100
- Femoralisblock
0,34/100 (34)
Infektiöse Komplikationen bei Katheterverfahren - Rückenmarknah
2,7/100
- Periphere Nervenblockaden
1,3/100 (35)
Tab. 2: Morbidität in der Anästhesiologie.
Initiativen zur Steigerung der Patientensicherheit ,, .. Jhere should be no roomfor complacency when there is more tobe done." (10). Mit diesen Worten wird verdeutlicht, dass, obwohl sowohl die anästhesieassoziierte als auch anästhesiebedingte Mortalität weiterhin als niedrig einzuschätzen ist, die Notwendigkeit besteht, die Patientensicherheit weiter zu erhöhen. In ihrem Editorial „To err is human" schreiben Hardmann und Moppett: ,,Errors are an inevitable part of anaesthetic practice. Anaesthetists are human and humans make errors" (11). Insbesondere vor dem Hintergrund dieser Tatsache muss alles unternommen werden, um Fehler in der Anästhesie, die fatale Folgen haben können, so weit wie möglich zu vermeiden. Dabei muss immer auch betont werden, dass die Anästhesie im Rahmen der perioperativen Patientenversorgung und insbesondere auch bei der Steigerung der Patientensicherheit im interdisziplinären Kontext steht. Dies bedeutet, dass viele Schritte zur Verbesserung der Patientensicherheit nur in enger Zusammenarbeit mit den operativen Disziplinen umgesetzt werden können. Einen weiteren Schritt in Richtung der Optimierung der Patientensicherheit stellt die Verabschiedung der „Helsinki Declaration on Patient Safety in Anesthesiology" dar, die in Zusammenarbeit des European Board of Anaesthesiology (EBA) und der European Society of Anaesthesiology (ESA) verfasst und verabschiedet wurde (10). In dieser Erklärung werden alle Kliniken für Anästhesiologie in Europa u.a. aufgefordert folgende Maßnahmen zur Optimierung der Patientensicherheit zu ergreifen: Erstellen von Verfahrensanweisungen/SOP für folgende sicherheitsrelevante anästhesiologische Aspekte: o Präoperative Einschätzung und Vorbereitung der Patienten o Regelmäßiger Geräte- und Medikamentencheck o Schwieriger Atemweg/Intubation o Maligne Hyperthermie o Anaphylaxie o Toxizität von Lokalanästhetika o Massiver Blutverlust o Infektionsvermeidung o Postoperative Versorgung inklusive Schmerztherapie - Labelling von Spritzen Anwendung der WHO „Surgical Safety Checklist" (12) Beteiligung an Fehlermeldesystemen (CIRS) 41
-
Jährliche Erstellung eines Berichtes über die Morbidität und Mortalität der anästhesiologischen Abteilung - Jährliche Erstellung eines Berichtes über die zur Optimierung der Patientensicherheit getroffenen Maßnahmen und deren Ergebnisse. Auf einzelne Aspekte der „Helsinki Declaration on Patient Safety in Anesthesiology" soll im Folgenden etwas detaillierter eingegangen werden.
Labelling von Spritzen Aufgrund der zahlreichen Medikamente, die in Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin zum Einsatz kommen und der häufigen Notfallsituationen in den genannten Bereichen sind diese Arbeitsbereiche prädestiniert für Medikationsirrtümer. So musste in einer europäischen Studie festgestellt werden, dass es im Rahmen der lntensivmedizin zu 75 Ereignissen im Sinne von Medikationsirrtümern pro 100 Patiententage kam. Dadurch kam es bei ca. 1% der Patienten zu einem bleibenden Schaden, oder die Patienten verstarben gar daran (13). Vor diesem Hintergrund wurde von der Internationalen Organisation für Standardisierung (ISO) die Norm ISO-26825 entwickelt. Diese Norm entspricht dem bereits in vielen Ländern (USA, Australien.Neuseeland, Großbritannien) eingeführten Standard zur farblichen Kennzeichnung von anästhesiologischen Medikamenten. Sie beinhaltet, dass Medikamente einer Wirkungsgruppe einer bestimmten Farbe zugeordnet werden (z.B. Opioide/Opiate hellblau). Dieser Zuordnung liegt die Überlegung zu Grunde, dass Verwechslungen innerhalb einer Medikamentengruppe weniger schwerwiegende Konsequenzen haben. Bereits im Jahre 2009 wurde die Umsetzung der ISO-Norm vom Präsidium der DGAI als Empfehlung verabschiedet (14). Nur ein Jahr später wurde die Umsetzung der ISO-Norm auch für den Bereich der Intensiv- und Notallmedizin von den Gremien der DIVI u.a. in Zusammenarbeit mit der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AKdÄ), der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) und der DGAI empfohlen (15). Somit sollte die einheitliche farbliche Kennzeichnung der Spritzen in allen anästhesiologischen und intensivmedizinischen Abteilungen umgesetzt werden, Diese Umsetzung könnte auch einen Beitrag dazu leisten im Rahmen der interdisziplinäre Zusammenarbeit oder auch bei der Einarbeitung neuer Kollegen nach einem Klinikwechsel oder bei einem Wechsel aus der Anästhesiologie in die Intensivmedizin oder umgekehrt Medikationsirrtümer im Sinne der Patientensicherheit zu reduzieren.
Surgical Safety Checklist Bereits im Jahre 2008 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Empfehlungen publiziert, die in verschiedenen Bereichen einen Beitrag zur Erhöhung der Patientensicherheit leisten können (16). Auf der Grundlage dieser Empfehlungen wurde eine 19 Punkte umfassende Checkliste, die weltweit einsetzbar sein sollte, entwickelt (siehe Abb.l). Durch den Einsatz dieser Checkliste sollte die Rate schwerer perioperativer Komplikationen gesenkt werden. Im Rahmen einer prospektiven multizentrischen, prä- und postinterventionellen Studie, an der jeweils ein Krankenhaus aus 8 verschiedenen Ländern (Jordanien, Indien, USA, Neuseeland, Tansania, Philippinen, Kanada, England) teilnahm, wurde die Effektivität der Checkliste überprüft (17). Vor Einführung der Checkliste wurden 3733 Patienten, nach Einführung 3.955 Patienten eingeschlossen. Durch die Einführung der Surgical Safety Checklist konnte die perioperative Mortalität von 1,5 auf 0,8% gesenkt werden. Darüber hinaus wurde die perioperative Komplikationsrate von 11 auf 7% gesenkt werden. Mit selbiger Checkliste konnte auch im Bereich von Notfalloperationen eine Reduktion der Mortalitätsrate von 3,7 auf 1,4% und der Komplikationsrate von 18,4 auf 11,7% erreicht werden (18). 42
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Aortenchirurgie Große periphere arterielle Eingriffe
Mittleres Risiko
Intrathorakale und intraabdominelle Eingriffe (laparoskopisch / thorakoskopisch) Carotischirurgie Prostatachirurgie Orthopädische Operationen Operationen im Kopf-Hals-Bereich
Niedriges Risiko
Oberflächliche Eingriffe Endoskopische Eingriffe Mammachirurgie Kataraktoperationen
Tab. 2: Kardiales Risiko bei verschiedenen Operationen (rrwd. n. Fleischmann et al. 2009).
61
Eine Gerinnungsanalyse wird vielfach von den operativen Kollegen angeordnet um bislang unentdeckte Pathologien zu erfassen. Darüber hinaus fordern auch heute noch einige Anästhesisten vor jedem Regionalverfahren einen Gerinnungstest. Es konnte zwar gezeigt werden, dass die Rate an pathologischen Werten von Prothrombinzeit oder partieller Thromboplastinzeit zwischen 0,3 und 6,5% lagen. Jedoch führte dies nur in maximal 0,1 % der Fälle zu einer Veränderung des perioperativen Managements. Da die häufigsten Störungen der Blutgerinnung nicht das plasmatische Gerinnungssystem betreffen sondern auf Thrombozytenaggregationsstörungen beruhen, ist es sinnvoller anhand eines strukturierten Fragenbogens eine Blutungsanamnese zu erheben. Mit einem solchen Fragenbogen, wie ihn die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und lntensivmedizin empfiehlt, kann das Blutungsrisiko sehr zuverlässig vorhergesagt werden (Pfanner et al. 2007). Lediglich bei Hinweisen auf eine entsprechende Gefährdung muss dann eine ggfs. umfängliche Untersuchung des Gerinnungssystems erfolgen. Ein besonderes Patientenklientel stellen ältere Personen dar, die mutmaßlich eine höhere Inzidenz pathologischer Laborwerte sowie von Organerkrankungen aufweisen. Um diese These zu überprüfen, wurden bei 544 Patienten im Alter über 70 Jahren die anamnestisch bekannten Risikofaktoren sowie die Resultate der präoperativen Laborbestimmungen erfasst und deren prädiktiver Wert für die Häufigkeit perioperativer Komplikationen bestimmt (Dzankic et al. 2001). Aus den Daten ergab sich, dass nur die ASA-K.lassifikation und das chirurgische Risiko eine unabhängige Vorhersage der Komplikationsraten gewährleisten. Daher sollen auch bei geriatrischen Patienten nur bei Hinweisen auf bestimmte Organerkrankungen Laborentnahmen erfolgen.
Elektrokardiogramm Die Anfertigung eines Elektrokardiogramms (EKG) erfolgt präoperativ unter anderem zum Nachweis bzw. Ausschluss von Herzrhythmusstörungen, Veränderungen des kardialen Erregungsablaufes oder lschämiezeichen. Während in früheren Zeiten bei jedem erwachsenen Patienten eine präoperative EKG-Untersuchung indiziert wurde, bestehen seit mehreren Jahren unterschiedliche und zumeist altersadaptierte Empfehlungen zur präoperativen Anfertigung eines EKG als Routineuntersuchung. Allerdings besteht bislang keine Einigkeit, ab welchem Alter eine EKG-Aufzeichnung sinnvoll ist, so finden sich in der Literatur Empfehlungen zur Anfertigung eines EKGs bei asymptomatischen Patienten ab dem 45., aber auch erst ab dem 65. Lebensjahr. Wissenschaftliche Studien, die den Nutzen dieser präoperativen Untersuchungsmethodik systematisch untersucht haben, finden sich in der Literatur nicht. Der fragliche Wert einer Routineuntersuchung wurde durch eine Studie belegt, in der gezeigt wurde, dass in einem Drittel aller Fälle die angefertigten EKGs von den Ärzten nicht angesehen bzw. befundet wurden und die Befundungsraten weder mit dem Alter noch dem körperlichen Befinden des Patienten korrelierten (Nash et al. 2001 ). Dies weist darauf hin, dass EKG-Untersuchungen präoperativ zwar eine Routine darstellen, jedoch in zahlreichen Fällen keinen Einfluss auf das klinische Procedere haben. Um die Frage zu beantworten, ob ein präoperatives Routinetestprogramm sinnvoll ist, wurde in einer prospektiven Studie überprüft, ob ein strukturierter Anamnesebogen vergleichbare Informationen liefern kann wie ein EKG, ein Röntgen-Thoraxbild oder bestimmte Laboruntersuchungen (Mantha et al. 2005). Hierbei zeigte sich zum einen, dass 63,3% aller Untersuchungen nicht indiziert waren und lediglich 3,3% aller Testverfahren, für die eine Indikation bestand, zu einer Veränderung der Patientenversorgung
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führten. Wichtigstes Resultat war jedoch, dass alle signifikanten EKG-Veränderungen auch durch den computerisierten Fragebogen ermittelt werden konnten. Es stellt sich daher die Frage, ob bei kardial asymptomatischen Patienten ein RoutineEKG präoperativ überhaupt indiziert ist, oder ob der Verzicht auf diese Untersuchung eine Veränderung des Outcomes bewirkt. Diese Fragen wurden in einer randomisierten Studie an über 1000 Patienten prospektiv untersucht (Chung et al. 2009). In einer Patientengruppe wurden vor einem ambulanten Eingriff EKG sowie diverse Laborparameter bestimmt, während in der zweiten Gruppe keine präoperativen Tests angefertigt wurden. Im Anschluss wurden die Inzidenz perioperativer Komplikationen sowie die Anzahl von Komplikationen nach der Operation analysiert. Hierbei zeigte sich, dass weder intra- noch postoperativ Unterschiede zwischen den beiden Studiengruppen bestanden. Die Untersucher schlossen hieraus, dass der Verzicht auf eine präoperative Untersuchung bei symptomfreien Patienten zu keiner Steigerung von Komplikationen führt und demgemäß Routineuntersuchungen verzichtbar sind. Weiterhin wird eine EKG-Untersuchung häufig indiziert, um vor größeren, risikoreichen Eingriffen eine asymptomatische Herzerkrankung anhand von EKG-Veränderungen zu evaluieren. So konnte in einer umfangreichen Studie gezeigt werden, dass Patienten mit Schenkelblockbildern eine erhöhte Inzidenz von postoperativen Myokardischämien aufwiesen (van Klei et al. 2007). Allerdings wurde das Risiko für kardiale Komplikationen ebenso zuverlässig durch die Anamnese, die Bestimmung des „revised cardiac risk index" oder auch die bekannten kardialen Risikofaktoren (s. Tabelle 3) eingeschätzt. -
Herzinsuffizienz
-
Koronare Herzkrankheit (KHK)
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Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK)
-
2.erebrovaskuläre Insuffizienz
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Diabetes mellitus
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Niereninsuffizienz
Tab. 3: Kardiale Risikofaktoren aus Anamnese und/oder Klinik (n. Fleischmann et al. 2009) .
Mit zunehmendem Alter steigt die Inzidenz kardialer Erkrankungen und somit auch die Häufigkeit von EKG-Veränderungen (Liu et al. 2002). Unklar ist hingegen, ob präoperative EKG-Veränderungen beim älteren Menschen auch Hinweise auf postoperative kardiale Komplikationen liefern. In einer prospektiven Studie an über 500 Patienten im Alter > 70 Jahren, die sich einem nicht-kardiochirurgischen Eingriff unterziehen mussten, zeigte sich, dass zwar 75;2% der Patienten präoperativ zumindest eine Veränderung im EKG (AV-Blockierungen, Linksschenkelblock etc.) aufwiesen. Allerdings konnte anhand der EKG-Analysen keine Vorhersage von postoperativen Komplikationen getroffen werden, während die Risikoklassifikation der American Society of Anesthesiologists einen prädiktiven Wert aufwies. Bei anamnestisch unauffälligen und kardial asymptomatischen Patienten sind Anästhesierelevante Befunde selten, ein präoperatives EKG ist in diesen Fällen unabhängig vom Alter nicht erforderlich. Allerdings sollte bei Patienten vor Eingriffen, die mit einem hohen kardialen Risiko einhergehen bzw. mehr als ein kardialer Risikofaktor vorliegt, ein EKG angefertigt werden (Poldermans et al. 2009). Bei Patienten mit klinischen Symptomen einer ischämischen Herzerkrankung, bei Herzrhythmusstörungen, Klappenvitien oder einer Herzinsuffizienz sowie bei Trägem eines AICD ist ein präoperatives EKG
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indiziert. Bei Trägern eines Herzschrittmachers hingegen ist ein präoperatives EKG nicht erforderlich, sofern die regelmäßig vorgesehenen Schrittmacherkontrolltermine eingehalten wurden und der Patient symptomfrei ist.
Röntgen-Thoraxuntersuchung Das Röntgenbild vom Thorax gehörte lange Zeit zum Routinescreening vor operativen Eingriffen. Allerdings wird der Nutzen dieser Routine heute kritisch bewertet, da hierdurch hohe Kosten entstehen, der Patient einer (vermeidbaren) Strahlenbelastung ausgesetzt wird und letztlich die Entscheidung zur Operation und/oder die Wahl eines bestimmten Anästhesieverfahrens kaum beeinflusst wird. So konnte in einer umfangreichen MetaAnalyse gezeigt werden, dass zwar in 10 % aller präoperativ angefertigten RöntgenThoraxbilder Veränderungen nachweisbar waren (Archer et al. 1993). Allerdings waren nur 1,3 % dieser Befunde nicht vorher bekannt, und lediglich in 0,1 % der Fälle wurde das perioperative Management modifiziert. Eine neuere Studie wies bei Analyse von 1282 als Routineuntersuchungen angeordneten Röntgen-Thoraxbildern insgesamt 15 pathologische Befunde nach (Tigges et al. 2004). In einer Nachbefundung erwiesen sich 14 der primär als pathologisch diagnostizierten Aufnahmen als falsch-positiv. Daraus wurde geschlussfolgert, dass eine Routineuntersuchung bei sonst asymptomatischen Patienten nicht sinnvoll sei, jedoch hohe Kosten verursache. Dies entspricht auch den Empfehlungen des American College of Physicians, welches in einer systematischen Übersicht festhält, dass pathologische Befunde in den meisten Fällen durch eine Anamneseerhebung und eine körperliche Untersuchung zu diagnostizieren sind (Smetana et al. 2006) . Weiterhin ergeben sich aus der Röntgen-Thoraxuntersuchung nur sehr selten zusätzliche Informationen, die das perioperative Management beeinflussen. Zusammengefasst ist die Sensitivität einer Röntgenthoraxuntersuchung in der Diagnostik kardiopulmonaler Erkrankungen bei unauffälliger Anamnese und körperlicher Untersuchung gering. Eine präoperative Diagnostik ist demnach nur indiziert, wenn eine klinische Verdachtsdiagnose (z.B. Pleuraerguss, Atelektase, Pneumonie) mit Konsequenzen für das perioperative Vorgehen erhärtet oder ausgeschlossen werden soll. Daneben kann eine Übersichtsaufnahme in speziellen Fällen auch unabhängig von kardiopulmonalen Symptomen sinnvoll sein (z.B . bei anatomischen Besonderheiten). Der Nutzen fester Altersgrenzen für die routinemäßige Anfertigung einer Röntgen-Thoraxaufnahme ist darüber hinaus wissenschaftlich nicht belegt.
Lungenfunktionsuntersuchung Wesentlichstes Ziel der präoperativen Evaluierung von Lunge und Atemwegen ist die Reduktion bzw. Vermeidung perioperativer pulmonaler Komplikationen. An technischen Verfahren zur Evaluation der Lungenfunktion stehen u. a. die Messung der arteriellen Sauerstoffsättigung mittels Pulsoxymetrie, die Spirometrie bzw. Spiroergometrie, die Body-Plethysmographie sowie die arterielle Blutgasanalytik zur Verfügung. Zwar besteht ein moderater Zusammenhang zwischen der Inzidenz pathologischer Befunde in der Lungenfunktionsdiagnostik und dem Auftreten von perioperativen pulmonalen Komplikationen (Kocaba* et al. 1996). Jedoch ist nicht belegt, dass die Kenntnis pulmonaler Untersuchungsbefunde außerhalb der Thoraxchirurgie zur Senkung der perioperativen Morbidität und Letalität pulmonaler Risikopatienten beiträgt (Arozullah et al. 2003). Eine präoperative Lungenfunktionsdiagnostik ist daher nur bei Patienten mit neu aufgetretenen bzw. einem Verdacht auf akut symptomatische pulmonale Erkrankungen zur Schweregradeinschätzung und Therapiekontrolle indiziert.
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Sonographie der Halsgefäße Das Risiko perioperativ einen Schlaganfall zu erleiden ist abhängig von der Art und dem Umfang des operativen Eingriffs, so ist die Inzidenz in der Allgemeinchirurgie mit 0,08 - 0,7% eher gering, in der Aortenchirurgie jedoch mit 8,7% sehr hoch (Selim 2007). Auch finden sich höhere Raten nach Notfalloperationen im Vergleich zu elektiven Eingriffen (Bucerius et al. 2003). Darüber hinaus spielt auch der Zeitpunkt des operativen Eingriffs eine wichtige Rolle, so ist das Risiko eines Rezidivs innerhalb von drei Monaten nach einem Schlaganfall bzw. einer transitorisch ischämischen Attacke (TIA) deutlich erhöht. Daher sollte bei diesen Patienten eine präoperative Sonographie der Halsgefäße erfolgen. Bei Patienten vor einem großen Eingriff an den arteriellen Gefäßen sollte aufgrund der erhöhten Rate von Carotisstenosen ebenfalls eine Diagnostik erwogen werden (Kühn/ et al. 2009). (Doppler-) Echokardiographie Zur Wertigkeit der präoperativen Echokardiographie vor nichtkardiochirurgischen Operationen liegen nur wenige Untersuchungen vor. Allerdings weisen diese daraufhin, dass folgende Patienten von einer Untersuchung profitieren könnten (Rohde et al. 2001): • Patienten mit neu aufgetretener Dyspnoe unklarer Genese, • Patienten mit anamnestisch bekannter Herzinsuffizienz und Symptomverschlechterung in den vergangenen 12 Monaten, • Patienten mit Herzklappendysfunktion, • Patienten mit nicht bekannten oder nicht abgeklärten Herzgeräusch, die sich einem Eingriff mit mittlerem oder hohem Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen unterziehen müssen. Bei bereits bekannter und klinisch stabiler Herzinsuffizienz führt die Echokardiographie hingegen nicht zu einer Risikoreduktion (Kühn[ et al. 1996). Auch die Diagnose einer ischämischen koronaren Herzerkrankung (KHK) stellt für sich genommen noch keine Indikation für eine Echokardiographie dar.
Erweiterte kardiale Diagnostik Bei Patienten mit einer bekannten oder einer vermuteten kardiovaskulären Erkrankung kann eine differenzierte kardiologische Abklärung präoperativ notwendig sein. Allerdings ist die Indikation hierfür aufgrund des vielfach unklaren Nutzens einer präoperativen kardiologischen und/oder herzchirurgischen Intervention in Hinblick auf die perioperative Morbidität und Mortalität streng zu stellen. Daher ist es in der klinischen Praxis wichtig einerseits das perioperative kardiale Risiko abzuschätzen, und andererseits eine rationale Entscheidung für (oder gegen) eine weiterführende Diagnostik zu treffen. Hierfür werden in der Regel die folgenden Faktoren herangezogen: • akut symptomatische Herzerkrankung (z.B. instabile Koronarsyndrome, dekompensierte Herzinsuffizienz, signifikante Arrhythmien, schwere Aorten- oder Mitralstenose), • kardiale Risikofaktoren (s. Tabelle 3), • Belastbarkeit des Patienten (s. Tabelle 4), und • kardiales Risiko des operativen Eingriffs (s. Tabelle 2) Bei Patienten mit einer akuten symptomatischen Herzerkrankung muss ein elektiver Eingriff verschoben und die kardiale Situation präoperativ abgeklärt und ggfs. therapiert werden (Poldermans et al. 2009; Geldner et al. 2010).
65
Die Durchführung nicht-invasiver kardialer Belastungstests, wie dem Belastungs-EKG mittels Ergometrie, der Dobutamin-Stressechokardiographie (DSE) oder Adenosin-Myokardszintigraphie, ist nach derzeitigem Kenntnisstand nur sinnvoll bei Patienten mit.!: 3 klinischen Risikofaktoren (s. Tabelle 3) und eingeschränkter ( < 4 MET; s. Tabelle 4) bzw. unbekannter Belastbarkeit vor einer Hochrisikooperation (Poldermans et al. 2009). Bei Patienten mit 1 - 2 klinischen Risikofaktoren und eingeschränkter (< 4 MET) bzw. unbekannter Belastbarkeit vor einer Operation mit mittlerem oder hohem kardialen Risiko sollten nicht-invasive kardiale Belastungstests erwogen werden sofern erwartet wird, dass die resultierenden Untersuchungsergebnisse das perioperative Management beeinflussen werden. Eine erweiterte nicht-invasive kardiale Diagnostik kann vor einer Operation an arteriellen Gefäßen auch bei Patienten mit mindestens 1 - 2 Risikofaktoren jedoch guter Belastbarkeit(> 4 MET) erfolgen. Allerdings weist dieses Vorgehen keinen Vorteil auf gegenüber einer Frequenzkontrolle mittels ß-Rezeptorenblocker ohne weitere kardiale Abklärung. Dies gilt auch dann, wenn durch die erweiterte Diagnostik ein pathologischer Koronarbefund festgestellt und präoperativ revaskularisiert wird (Poldermans et al. 2007). Eine neuere Untersuchung zeigte, dass eine routinemäßige Koronarangiographie und ggfs. anschließende Revaskularisierung vor einem großem arteriellen Gefäßeingriff das perioperative Outcome bei Patienten mit 2 oder mehr kardialen Risikofaktoren verbessern könnte (Monaco et al. 2009). Allerdings liegen zu diesem Konzept bislang keine weiteren Daten bzw. Studien vor und die Frage, ob Patienten mit hohem kardialen Risiko von einem primären invasiven Vorgehen profitieren, ist noch nicht abschließend geklärt. Belastbarkeit
Definition
Ausreichend / gut
~4MET(>IOOW)
Unzureichend / schlecht
5 Tage) mit Glucokortikoiden tragen unabhängig von der Dosis und der Applikationsart das Risiko einer inadäquaten Cortisolproduktion in Stresssituationen, wie z.B. einer Operation. Dies kann zu deletären Folgen mit einer arteriellen Hypotension bis hin zum Schock führen. Daher sollte die Medikation in der perloperativen Phase grundsätzlich nicht unterbrochen werden. Auch am Morgen des operativen Eingriffs sollte die übliche Steroidmedikation eingenommen werden.
Eine zusätzliche perioperative Steroidgabe ist aufgrund der sehr unterschiedlichen Reaktion auf das operative Trauma sowie die unterschiedliche Supprimierung der endogenen Cortisolsynthese durch die exogene Zufuhr, erwägenswert. Folgendes Vorgehen kann hier gewählt werden: • Kleine operative Eingriffe (z.B. endoskopische Operationen, Herniotomie, Schilddrüsenresektionen) - Gabe von 25 mg Hydrocortison zu Beginn der Operation. • Mittlere Eingriffe (z.B. Abdominalchirurgie) - Gabe von 100 mg Hydrocortison über 24 Stunden, am nächsten Tag Weiterführung der üblichen Steroidmedikation. • Große operative Eingriffe mit Gefahr eines postoperativen „systemic inflammatory response syndrome" - Gabe von 100 mg Hydrocortison über 24 Stunden (z.B. 4 mg/h) am Operationstag, am Folgetag 50 mg über 24 Stunden und am 3. postoperativen Tag 25 mg Hydrocortison (auch per oral möglich).
Die Europäischen Empfehlungen Zeitgleich mit den deutschen Empfehlungen wurde auch auf europäischer Ebene eine internationale Expertenkommission von der European Society of Anaesthesiology mit der Entwicklung von Empfehlungen für die präoperative Patientenevaluation beauftragt (de Hert et al. 2011 ). Die europäischen Richtlinien folgen hierbei einer anderen Konzeption als die deutschen Empfehlungen. Während in den deutschen Empfehlungen die Indikationsstellungen für bestimmte Untersuchungstechniken vorgestellt wird, wurde bei den europäischen Empfehlungen primär von definierten Erkrankungen (z.B. Adipositas, Dia-
69
betes mellitus) oder Konditionen (z.B. geriatrische Patienten) ausgegangen, und in einem Evidenz-basierten Ansatz analysiert, welche Untersuchungen indiziert sind. Weiterhin nimmt die Evaluierung des schwierigen Atemweges eine umfassende Stellung ein, ebenso wie die Frage wer die präoperative Evaluation des Patienten durchführt. Letzteres ergibt sich aus der Tatsache, dass in einigen europäischen Staaten die präoperativen Untersuchungen ausschließlich von Pflegekräften durchgeführt werden. Darüber hinaus bestehen jedoch auch zahlreiche Übereinstimmungen zwischen beiden Publikationen.
Schlussbetrachtung Die Empfehlungen der Fachgesellschaften zur präoperativen Evaluation erwachsener Patienten vor nicht-herzchirurgischen Eingriffen ermöglichen ein strukturiertes und gemeinsames Vorgehen. Der Umfang der präoperativen Untersuchungen sollte sich hierdurch reduzieren und damit die Abläufe verschlanken, die Kosten verringern, die Patientenzufriedenheit steigern und letztlich auch die Operationsplanstabilität erhöhen. Es ist daher wünschenswert, wenn möglichst viele Kliniken diese Empfehlungen in die klinische Routine übernehmen. Weiterhin sollte die Effektivität der Empfehlungen in der klinischen Praxis überprüft werden und auch diskutiert, inwieweit die europäischen Richtlinien ggfs. anteilig in die nationalen Empfehlungen integriert werden könnten.
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Ambulante Anästhesie - Der Wandel des Anästhesisten zum perioperativen Mediziner M. MöLLMANN, A. HEMPING-BOVENKERK
Vorbemerkung Die Frage, ob überhaupt ambulant operiert werden muss und ob eine ambulante Anästhesie erforderlich ist, stellt sich heute nicht mehr. Ambulantes Operieren kann und muss sich zur Routine für die Mehrzahl der operativen Eingriffe entwickeln. Die sich verändernde Demographie wird zu einer überalterten Bevölkerung mit einer steigenden Gesamtmorbidität führen. Zusätzlich wird die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems bedingt durch technischen Fortschritt und die sich weiterentwickelnden operativen und anästhesiologischen Möglichkeiten noch stärker als heutzutage beansprucht werden. Ein möglicher Ansatzpunkt der Kostenreduktion stellt die Verlagerung vieler stationärer Eingriffe in den ambulanten Sektor dar. Obwohl der Anteil der ambulanten Eingriffe und ambulant operierender Kliniken und Zentren in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist, liegt der Gesamtanteil noch immer unter 50% (1). Einige Quellen errechnen einen Anteil möglicher Eingriffe in Höhe von 25 bis 30% des bisherigen Leistungsvolumens, in der HNOund Augenheilkunde gar bis zu 60 Prozent . Betrachtet man jedoch andere Länder, so zeigt sich, dass durch eine effiziente Re-Organisation und neue Denk-Ansätze fern ab des Eindruckes historischer Gegebenheiten und des deutschen Krankenhaussystems der Anteil ambulanter Operationen auf über 80% gesteigert werden konnte. Denkbar wäre demnach, dass nahezu alle Eingriffe, die keine postoperative medizinische Betreuung brauchen, ambulant durchzuführen wären (3). Zusätzlich sind der bislang gemäßigte finanzielle Druck, fehlende Anreizstrukturen und das häufig ineffektive Design oder gar der Ansatz der Integration in die Räumlichkeiten des stationären Betriebes (2) Ursachen eines unwirtschaftlichen Betriebes. Ambulantes Operieren erfordert neue Versorgungsstrukturen und -konzepte. Die reine Übernahme hausintern bewährter Versorgungsstrategien in die ambulante Patientenversorgung behindert in vielen Fällen das ambulante Operieren. Ist das ambulante Operieren und damit verbundene anästhesiologische Leistung richtig konzipiert, erfahren Patienten eine schnelle Therapie bei höherer patientenbezogener Personalbindung bezogen auf den Aufenthalt. Dieser Beitrag versucht aktuelle Trends und Entwicklungen im Sektor des ambulanten Operierens aufzuzeigen und möchte gleichzeitig durch kritische Denkanstöße die Entwicklung des Anästhesisten zum perioperativen Mediziner fördern.
Organisationsprinzipien Standortwahl Ausgangspunkt aller Überlegungen zum ambulanten Operieren muss die Analyse des eigenen Potentials und des umgebenden Marktes sein sowie die Überlegung, ob mit eigenen personellen Ressourcen oder in Kooperation mit niedergelassenen Kollegen und Belegärzten ambulante Leistungen erbracht werden sollen. In den meisten Fällen wird sich zeigen, dass eine Vielzahl der stationären Operationen in den ambulanten Sektor verlagert werden können, bereits verlagert sind oder durch neue Kooperationen mit Belegärzten und Facharztpraxen hinzugewonnen werden können. Die alleinige Veränderung des Fallstatus von stationär auf ambulant und Durchführung des Eingriffes in der gewohnten stationären Umgebung ist jedoch nicht zielführend und bei durchschnittlichen Kosten von 10 Euro je OP-Minute (zzgl. Material) nicht wirtschaftlich.
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Ambulantes Operieren muss in einem eigenen unabhängigen „Ambulanten OP-Zentrum" stattfinden dessen OP-Betrieb den Erfordernissen des ambulanten Operierens genügt (4), sich allerdings zur Nutzung von Synergieffekten wie Zentralsterilisation.Apotheke, Sachmitteln und im Notfall Nutzung personeller und stationärer oder intensivmedizinischer Ressourcen in enger räumlicher Beziehung zum Krankenhaus befindet. Ambulante und stationäre Patientenversorgung müssen strikt voneinander getrennt werden. Die Ausgliederung unwirtschaftlicher ambulanter Operationen eröffnet neue OP-Kapazitäten für die stationäre Patientenversorgung und damit verbunden eine erweiterte Wertschöpfung für bestehende OP-Kapazitäten.
Architektur Vor der Durchführung baulicher Veränderungen oder der Planung eines Neubaus müssen die bestehenden Patientenprozesse visualisiert und für das zukünftige Ambulante OPZentrum idealisiert werden. Daran anschließend wird die bauliche Anordnung der notwendigen Räume um die Prozesse ermöglicht. Bei der Idealisierung der Prozesse ist zu berücksichtigen, dass Patienten und Personalwege so kurz wie möglich sind. Ist die bauliche Realisierung aller Bereiche innerhalb einer Etage nicht zu verwirklichen so kann eine Trennung von Patienten- (Anmeldung, Umkleide, OP-Saal und AWR) und Personalbereichen (Umkleide, Büro, Pausenraum etc.) erfolgen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass eine uneingeschränkte Materiallogistik auch während des laufenden OP-Betriebes möglich ist. Die Nutzung von Betten sollte im ambulanten Sektor vermieden werden, vielmehr hat sich die Nutzung von Liegen bewährt, da sie weniger Platz benötigen und leichter zu fahren sind.
Abb. 1: Platzoptimierte Verwendung von Liegen im ambulanten Vorbereitungs- und Aufwachbereich.
Zusätzlich sollte die Selbstständigkeit der Patienten auch im OP-Betrieb gefördert werden. Die meisten Patienten können durchaus bis zum OP-Tisch laufen. In einigen OP-Bereichen wie z. Bsp. in der Augenheilkunde hat sich der Einsatz fahrbarer OP-Stühle bewährt, die diverse Lagerungsoptionen ermöglichen und durch die Vermeidung mehrfachen Umlagerns des Patienten perioperative Prozesse deutlich beschleunigen können. 74
Die räumliche Angliederung der im Ambulanten OP-Zentrum operierenden Fachambulanzen ist möglich und kann weitere Wege reduzieren. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass sich ambulante und stationäre Prozesse auch in diesem Bereich weder kreuzen noch behindern dürfen, was sich mit steigender Prozessanzahl zunehmend schwieriger gestalten wird. Grundsätzlich sind getrennte Wartezonen und Aufwachbereiche für Kinder wünschenswert und sollten bei der baulichen Planung berücksichtigt werden. Ebenso sollte den Eltern ein maximaler Kontakt bis zur erfolgten Narkoseeinleitung und unmittelbar nach Ausleitung räumlich und hygienisch ermöglicht werden. Neben Berücksichtigung der für den Patienten zunächst unsichtbaren Prozesse haben insbesondere Farb- und Materialwahl einen großen Einfluss auf das Befinden der Patienten (5): Je weniger es nach Krankenhaus aussieht und „riecht", desto angenehmer wird es empfunden. 6 5
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ambulant
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Material
Abb. 2: Ambulanter OP-Bereich für die Fachdisziplin Augenheilkunde mit integriertem stationärem OP-Saal im St. Franziskus Hospital Münster. Die Patientenwege ambulant/stationär kreuzen sich nicht und haben keine Schnittstelle mit den Materialwegen. Insgesamt konnten in diesen räumlichen und organisatorischen Strukturen 2011 mehr als 2000 stationäre und 8.300 ambulante Eingriffe am Auge durchgeführt werden. (1 Wartebereich/ Anmeldung, 2 Schwesterstützpunkt für den Vorbereitungs-/Aufwachbereich (gleichzeitige Tätigkeit im WAR und an der Rezeption möglich), 3 Vorbereitungs-/Aufwachbereich ambulant, 4 Untersuchungsraum, 5 PatientenWC, 6 Personalaufenthalt, 7 Umkleide/Personal-WC, 8 Eingriffsraum, 9 Desinfektionsraum, 10 AnästhesieVorbereitung/AWR stationäre Patienten, 11 Anästhesie-Vorbereitung ambulante Patienten, 12 ambulanter Augen-OP, 13 Sterilgutlager und -vorbereitung für Prozessparallelisierung, 14 stationärer Augen-OP)
o Empfangsbereich Der Empfangsbereich sollte eng an den Aufwachbereich angegliedert sein, so kann die personelle Betreuung durch das Personal des Aufwachraumes erfolgen. Die Gestaltung des Empfangsbereiches als offene Rezeption bindet zusätzliches Personal, das aufgrund des offenen Charakters für keine weitere Aufgabe genutzt werden kann. Darüberhinaus bietet ein weniger offener Ansatz mehr Diskretion für den Patienten. Die vorgeschalteten Prozesse für Voruntersuchungen, Prämedikation etc. sollten so gestaltet sein, dass bereits am Vortag der Operation alle notwendigen Dokumente und Befunde am Empfangsbereich vorliegen, so dass lediglich eine kurze Akkreditierung im Ambulanten OP-Zentrum erforderlich ist.
o Wartebereich Der Wartebereich sollte sich unmittelbar an den Empfangsbereich angliedern und angemessene Kapazitäten für Patienten und Begleitung bieten. Die weitere materielle Ausstattung sollte Patienten und Wartenden einen angemessenen Komfort bieten, da ggf. für Angehörige längere Wartezeiten entstehen.
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Abb. 3: Wartebereich des ambulanten OP-Bereichs
o Untersuchungsräume Notwendige Voruntersuchungen sollten durch niedergelassene Praxisärzte oder durch die entsprechende Klinikambulanz erfolgen. Dennoch sollten innerhalb eines ambulanten OP-Zentrums Räumlichkeiten vorgehalten werden in denen unter Berücksichtigung der Privatsphäre des Patienten sich ergebende kunfristige Fragestellungen abgeklärt werden können. Eine Durchführung solcher Untersuchungen im Aufwachbereich oder an sonstiger Stelle sollte unterbleiben. o OP-Saal Die Gestaltung ambulanter OP-Säle als „Eingriffsräume" ist ein häufiger Fehler bei der Neukonzeption eines ambulanten OP-Zentrums und wird sich in den kommenden Jahren mit Zunahme der ambulanten Operationen und der damit verbundenen Zunahme der Komplexität ambulanter Operationen als gravierender Wettbewerbsnachteil herausstellen. Ambulante Operationssäle müssen denselben Kriterien genügen wie auch stationäre Operationssäle insbesondere im Hinblick auf Patientensicherheit und hygienische Aspekte. Die Unterschiede müssen vielmehr in veränderten Prozessabläufen und einem angepassten Personalschlüssel liegen.
o Vorbereitungs- und Aufwachbereich Vorbereitungs- und Aufwachbereich sollten im ambulanten Sektor eine Einheit bilden und räumlich zwischen dem Empfangs- und OP-Bereich geplant werden. Das eingesetzte Personal kann gleichzeitig drei Bereiche betreuen (Empfang-, Vorbereitungsund Aufwachbereich) Dennoch muss stets eine ausreichende Privatsphäre und Ruhe für die Patienten gewährleistet werden. Die materielle Ausstattung sollte der einer stationären Einrichtung entsprechen und neben einem konsequenten Patientenmonitoring (Sp02, NiBD, EKG) mit Verlaufsprotokollierung alle Möglichkeiten bereithalten, um auf sich ergebende Komplikationen angemessen reagieren zu können. Die Erfassung aller perioperativen Leistungen und Vitalparameter sollte nach Möglichkeit in einem elektronischen Protokoll erfolgen.
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Organisationsprinzipien . Grundsätzlich sollten hochspezialisierte Eingriffe mit effizienten Teams in optimaler Umgebung stattfinden. Das bedeutet, dass eine Vermischung der verschiedenen Fachdisziplinen vermieden werden muss. Jeder Disziplin sollte nach Berechnung der benötigten Kapazitäten ggf. angepasst an den jeweiligen Operateur entsprechende OP-Tage oder Zeitintervalle zugewiesen werden. Eine strikte Einhaltung der Vorplanung ist insbesondere dann erforderlich, wenn nicht vollständige Tage von einer Fachdisziplin genutzt werden oder Raum- und Personalkapazitäten an niedergelassene oder Belegärzte vergeben werden. Sortenreines Operieren ist eine Grundvoraussetzung bei der Planung des OPBetriebes. Ein Wechsel der operativen Disziplin während eines OP-Tages in einem OPSaal ist unbedingt zu vermeiden. Generell hat es sich bewährt gleichartige Eingriffe hintereinander durchzuführen, da so durch eine Standardisierung und die sich einstellende Routine Rüstzeiten reduziert werden können. Aufgrund kurzer Eingriffszeiten ist die Parallelisierung von Prozessen innerhalb des OP unabdingbar- während einer laufenden Operation müssen alle Vorbereitungen für den nächsten Eingriff abgeschlossen sein, so dass die Wechselzeiten bis auf die notwendige Reinigungszeit reduziert werden können. Dies bedeutet auch, dass der Operateur zwischen den Eingriffen den OP-Bereich nicht verlässt und es beispielsweise nur beim Wechsel der OP-Art auch zu einem Wechsel des Operateurs kommt. Dies ist analog zum stationären OP-Betrieb in einer zu erstellenden Geschäftsordnung festzulegen. Diese Geschäftsordnung legt darüberhinaus fest, ob es einen zentralen OPKoordinator gibt, welche Aufgaben, Pflichten, aber auch Befugnisse er im Hinblick auf eine Nichteinhaltung der Geschäftsordnung besitzt. Die betriebswirtschaftliche Steuerung des Ambulanten OP-Zentrums sollte sich an einer Profitcentersteuerung orientieren und durch Anreizstrukturen die Motivation der Mitarbeiter zum wirtschaftlichen Betrieb steigern.
Prinzipien der anästhesiologischen Patientenversorgung Patientenauswahl Die Selektion der Patienten sollte sowohl durch den operativ tätigen Kollegen als auch durch den Anästhesisten nach folgenden Kriterien erfolgen (6):
o geeignete Operation • minimales Risiko einer Nachblutung • minimales Risiko postoperativ auftretender respiratorische Komplikationen • keine spezielle postoperative Pflegebedürftigkeit • Rasche Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme o Patientenauswahl • Soziale Aspekte • Bereitschaft des Patienten sich ambulant operieren zu lassen • Verantwortliche Person für den Heimtransport sowie verantwortliche Person zur postoperative Überwachung der ersten 24h • In den ersten 24h sollte auch die Person, die diese Betreuung durchführt, in der Lage sein, Entscheidungen zum Wohle des Patienten, wenn notwendig, zu treffen. • Vorhandene telefonische Verbindung • Wohnung mit Minimalstandard (Heizung, Licht, Küche, Bad, Toilette) • Medizinische Aspekte • Einsicht in den geplanten Eingriff und die Nachsorge • Körperlich und physisch stabiler Patient (ASA 1/11) bzw. bei chronischer
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Erkrankung z.B. Diabetes, Asthma, gut eingestellte Hypertonie (ASA III) jedoch nur nach anästhesiologischer Konsultation Kinder mit normalen Geburtstermin älter als 3 Monate. Bei jüngeren Säuglingen bzw. Frühgeborenen vor der 37. SSW frühestens 60 Wochen postpartal, ebenfalls nach anästhesiologischer Konsultation Keine Adipositas per magna (BMI >40) Auswahl des Patienten nach physiologischem Status- nicht nach Alter Präoperativ vorliegende klinische Untersuchung, vorliegende Einwilligungserklärung sowie Aufklärung über mögliche Komplikationen
Präoperativ Die präoperative Evaluation des möglichen ambulanten Patienten ist ein kritischer Faktor innerhalb der anästhesiologischen Gesamtleistung. Im Gegensatz zur stationären Versorgung sind für eine ambulante Operation vorgesehene Patienten nur selten präsent und damit nur schwer einer präoperativen anästhesiologischen Visite zugänglich. Daher ist es üblich und auch durch eine Grundsatzentscheidung des BGH (7) relativ abgesichert, dass ambulante Patienten erst am OPTag anästhesiologisch vorbereitet und aufgeklärt werden. In vielen ambulanten OP-Zentren erfolgt die anästhesiologische Prämedikationsvisite abhängig von der Einstufung des Patienten in die ASA-Klassifikation durch den Operateur. ASA I-II Patienten werden am OP-Tag anästhesiologisch vorbereitet. ASA III Patienten und höher müssen hingegen im Rahmen eines Vorbereitungsgespräches einige Tage vor dem geplanten Operationstermin evaluiert und entsprechend aufgeklärt werden. Im Rahmen dieses Gespräches ist insbesondere die Möglichkeit einer ambulanten Durchführung des geplanten Eingriffes zu überprüfen. Betrachtet man dieses Vorgehen ist allein die Frage nach der Fortführung der aktuellen täglichen Medikamenteneinnahme schon problematisch und es kann, wenn selbst Anästhesisten diesbezüglich bereits unterschiedlicher Meinung sind, von einem operativ tätigen Kollegen nicht verlangt werden, dies entsprechend aktueller Richtlinien und Empfehlungen umzusetzen. Darüberhinaus führt die Einteilung in eine falsche Kategorie dazu, dass notwendige Untersuchungen zur Evaluation des präoperativen Status nicht oder ohne Bedarf erfolgen. Dies führt bei fehlenden Voruntersuchungen zu der Situation, den Eingriff und die damit verbundene Anästhesie wider besserem Wissen durchzuführen oder den Eingriff verbunden mit entsprechenden Umsatzeinbußen und Konflikten mit den operativen Kollegen abzusetzen. Gleichwohl übernimmt der Operateur, ,,wenn er sich entgegen den Bedenken des Anästhesisten für den Eingriff, bzw. die ambulante Durchführung entscheidet die volle ärztliche und rechtliche Verantwortung für die richtige Abwägung der für seine Entscheidung wesentlichen Umständen (8)." Diese fehlende Fachgebietstrennung und Wahrnehmung anästhesiologischer Aufgaben muss durch zukunftsfähige Konzepte wie zum Beispiel der Möglichkeit eines vorherigen, standardisierten Telefoninterviews abgelöst werden. Bislang erfolgen einige dieser Telefoninterviews durch den vorgesehenen Anästhesisten, was zwar eine einheitliche anästhesiologische Patientenevaluation ermöglicht, allerdings eine nicht erforderliche Bindung fachärztlicher Kompetenz darstellt. Die Universität Adelaide in Australien hat im Rahmen einer Multicenterstudie ein Verfahren entwickelt, bei dem alle vorgesehenen Patienten einem Call- Center gemeldet werden, das dann durch medizinische Laien auf Basis eines standardisierten Algorithmus mit je nach Antwort des Patienten spezifischer werdenden Fragen objektiv den jeweiligen Gesundheitszustand evaluiert. Die Software generiert zum Abschluss ein strukturiertes Protokoll sowie entsprechende Empfehlungen hinsichtlich erforderlicher Voruntersuchungen, die dann vom Hausarzt vorgenommen werden sollten. Der Algorithmus entscheidet auf Basis der erhaltenen Informationen auch, ob der Patient noch speziell in einer anästhesiologischen Sprechstunde vorgestellt werden sollte. Durch diese Vorgehen können zuverlässig alle Patienten, die risikoerhöhende Begleiterkrankungen aufweisen, iden-
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tifiziert und der anästhesiologischen Sprechstunde zugeführt werden und die Gesamtzahl der Patienten, die präoperativ persönlich gesehen werden mussten, konnte gemäß einer Berechnung von Ludbrook et al. um 60% reduziert werden. Dieses Vorgehen reduziert den Zeitbedarf für das anästhesiologische Vorgespräch am OPTag und erhöht dadurch die Präsenszeit des Anästhesisten im OP zur Erbringung seiner Kerntätigkeit und ermöglicht dadurch eine Steigerung der Fallzahlen pro OP-Tag. Die fehlende Präsenz des Patienten im Versorgungszentrum darf nicht dazu veranlassen, weniger sorgfältig und unter Inkaufnahme unnützer Risiken eine ambulante Anästhesie durchzuführen. Vielmehr gelten für ambulante Anästhesien die gleichen Anforderungen und Standards hinsichtlich der Risikoanalyse, Aufldärung und medikamentösen Prämedikation. Im Vergleich zur stationären Versorgung sollten insbesondere zur Anxiolyse lediglich kurzwirksame Präparate wie Lorazepam oder Midazolam p.o. zum Einsatz kommen. Der Applikation retardierter Morphinpräparate im Rahmen der medikamentösen Prämedikation als Basis der perioperativen Analgesie kann den Bedarf postoperativer i.vBolusgaben minimieren und damit die postoperative Verweildauer deutlich reduzieren. Im Rahmen unser klinischen Praxis hat sich bei Eingriffen mit zu erwartenden stärkeren Schmerzen die Gabe von retardierten Kombinationspräparaten aus 50mg Tilidin und 4mg Naloxon in geringer Dosierung von ca. 50mg bei normalgewichtigen Patienten ohne relevante Ausschlusskriterien für Eingriffe in der Unfall- und Gefäßchirurgie, Gynäkologie und HNO bewährt. Für Eingriffe in der Bereichen Allgemeinchirurgie, Orthopädie und insbesondere in der Wirbelsäulenchirurgie konnte durch den Einsatz einer Prämedikation von 5mg Oxycodon eine deutliche Reduzierung der zusätzlichen intra- und postoperativen Analgetikaappllikation erreicht werden. Sekundär konnte auch die PONV- Rate deutlich reduziert werden. Bei einer eingeschränkten Nierenfunktion, hohem Alter, reduziertem Allgemeinzustand oder bei Jugendlieben unter 14 Jahren erfolgt eine weitere Reduktion der Dosis oder ein Verzicht. Opiatgewöhnte Patienten und chronische Schmerzpatienten, die bereits Opiate der WHOStufe II oder III (Tramal, Tilidin, Fentanylpflaster, Oxycodon etc.) regelmäßig einnehmen, werden präoperativ dem hausinternen Schmerzdienst zur Empfehlung und Planung einer perioperativen Strategie vorgestellt. Die erfolgreiche Durchführung ambulanter Anästhesien ist weniger eine Frage des jeweiligen Narkoseverfahrens als vielmehr der Patientenselektion und Vorbereitung im Rahmen der präoperativen anästhesiologischen Visite und damit ein viel zu häufig unterschätzter Faktor. Anästhesieverfahren Die Qualitätskriterien bei Auswahl des Anästhesieverfahrens unterscheiden sich nicht von denen in der stationären Patientenversorgung. Zusammenfassend sind es: o einfache, sichere Durchführung o geringe Kosten o geringe PONV-Rate o gute postoperative Analgesie o frühe postoperative Mobilisation o geringe perioperative Komplikationswahrscheinlichkeit o frühe Verlegbarkeit/Entlassung aus dem AWR o hohe Patientenzufriedenheit
Diese Punkte können auf unterschiedliche Weise erreicht werden und sind nicht zuletzt abhängig von der Erfahrung des einzelnen Anästhesisten und der Ausrichtung der entsprechenden Anästhesieabteilung. Alle Punkte wurden bereits in einer Vielzahl von Studien mit unterschiedlichsten Fragestellungen untersucht (9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18). Für den Patienten „messbare" 79
Qualitätskriterien für eine „gute" Anästhesie stellen im Wesentlichen die Effektivität einer Prophylaxe für postoperative Übelkeit und Erbrechen und eine effektive postoperative Analgesie dar. Die Minimierung perioperativer Komplikationen und Risiken sollte insbesondere bei ambulanten Patienten im Vordergrund stehen, daher ist es sinnvoll gerade in der ambulanten Versorgung Verfahren zur Anwendung zu bringen, mit denen der jeweilige Anästhesist und alle weiteren Beteiligten Personen vertraut sind. Die Durchführung einer TIVA kann im ambulanten Sektor das Auftreten postoperativer Übelkeit und Erbrechen verhindern und Aufwach- und Wechselzeiten minimieren. Die Wahl des dabei verwendeten Opiats ist dabei weniger relevant (9).
Schmerztherapie Angepasst an die jeweiligen Anästhesieverfahren sind Standards der perioperativen Schmerztherapie erforderlich, die auf vereinbarten möglichen Kombinationen von OPund Anästhesieverfahren aufbauen. Insbesondere dann, wenn im Rahmen einer Vollnarkose Remifentanil ohne Kombination mit länger wirksamen Analgetika eingesetzt wird. Untersuchungen konnten zeigen, dass bis zu 25% aller Patienten mit fehlender oder inadäquater Analgesie postoperativ entlassen wurden und ca. 50% nur unzureichende Informationen bzgl. der geplanten Schmerztherapie erhielten und das, obwohl die Schmerztherapie einer der Hauptaufgabenbereiche der Anästhesie darstellt (19, 20, 21, 22). Nur in 16% der Zentren waren Anästhesisten für die postoperative Schmerztherapie zuständig und lediglich 11 % führten eine Schmerzmessung durch (23, 24). Dies widerspricht den aktuell gültigen Leitlinien, obwohl die Schmerztherapie ein Kernbereich anästhesiologischer Leistungen darstellt, wird sie zu einem Großteil den operative Kollegen übertragen. Die suffiziente postoperative Analgesie ist ein wesentlicher Bestandteil der ambulanten Anästhesie und ein direkt durch den Patienten fühlbarer Faktor für die kompetente Durchführung der Anästhesie. Die konsequente Vermeidung postoperativer Schmerzen senkt die Rate der Wiederaufnahmen signifikant (18, 25, 26). Eine strukturierte Schmerztherapie muss bereits im Aufklärungsgespräch beginnen (27), klare Anweisungen in Schriftform, die neben Dosierung, Zeitintervallen und Nebenwirkungen auch Hinweise enthalten welche zusätzlichen physikalischen Maßnahmen oder Bewegungs- und Lagerungsverfahren die medikamentöse Analgesie unterstützen können (28, 29). Regionalanästhesie Wann immer möglich empfiehlt sich der Einsatz von Regionalanästhesieverfahren in der ambulanten Anästhesie. Die Ergänzung einer Vollnarkose durch eine periphere Nervenblockade bietet im Vergleich zur oralen oder parenteralen Medikamentenapplikation eine deutlich bessere Analgesiequalität (26). Leider kommen in lediglich 9% der ambulant tätigen Zentren Regionalanästhesieverfahren zum Einsatz (23). Dies geschieht nicht zuletzt aufgrund bestehender Empfehlungen einiger Fachgesellschaften, die fordern, dass vor Entlassung des Patienten „die Blockade von Sensorik und Motorik rückläufig ist" (8) und führt darüberhinaus dazu, dass einige Zentren bis zum vollständigen Abklingen der Blockade warten. Dieses Vorgehen führt zu unnötig langen Verweildauern und sekundär mangelnder Kapazität im Aufwachbereich und schließlich fälschlicherweise zu einem Verzicht auf den Einsatz von peripheren oder zentralen Nervenblockaden in der ambulanten Anästhesie. Die häufig als Ersatz durchgeführten „high volume/low concentration" intraartikulären Injektionen, insbesondere nach arthroskopischen Operationen, sind eine Möglichkeit Patienten frühzeitig schmerzfrei zu entlassen (30, 31, 32). Der Nachweis eines toxischen Effektes von Lokalanästhetika auf Chondrozyten sollte jedoch Anlass zu einer kritischen Betrachtung dieses Verfahrens sein (33, 34, 35, 36, 37).
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o 'Zentrale Blockaden Rückenmarksnahe Nervenblockaden, insbesondere die Spinalanästhesie, haben sich inzwischen auch im ambulanten Sektor als adäquates Verfahren etabliert (38, 39, 40, 41). Essentiell ist der differenzierte Einsatz der unterschiedlichen Lokalanästhetika angepasst an den entsprechenden Eingriff und Dauer. Insbesondere in diesem Zusammenhang hat sich die Arbeit in festen Teams bewährt, so kann der Anästhesist die zu erwartende OP-Dauer besser einschätzen und so die benötigte Applikationsmenge reduzieren. Gründe die gegen die Verwendung der Spinalanästhesie im ambulanten Sektor sprechen sind neben dem vermeintlich höheren Zeitaufwand (44) und eine erhöhte Inzidenz von Harnverhalten (42) sowie der Gefahr spinaler/epiduraler Hämatome und vorübergehender sensomotorischer Defizite. Viele dieser Probleme scheinen jedoch in der Benutzung langwirksamer Lokalanästhetika begründet und können durch einen differenzierteren Lokalanästhetika- Einsatz minimiert werden. Dabei muss die Auswahl der verwendeten Lokalanästhetika auf wenige Einzelwirkstoffe begrenzt bleiben und abgestimmt sein, auf die Wirkstoffe, mit denen der ambulante Anästhesist aus seiner stationären Tätigkeit vertraut ist.
o Periphere Nervenblockaden In anderen Ländern hat sich die Verwendung von Regionalanästhesieverfahren etabliert (43, 44) und die Entlassung ambulanter Patienten mit noch bestehenden Blokkaden (45) oder liegenden kontinuierlichen Katheterverfahren (46) mit elastomerischen Einwegpumpen (47, 48, 49) längst etabliert oder ist Bestandteil bestehender nationaler Leitlinien (50, 51) geworden. Insbesondere in der ambulanten Anästhesie von Kindern muss stets an den Einsatz von regionalen Blockaden wie einem Peniswurzelblock bei ambulanten Zirkumzisionen oder der Blockade des N. iliohypogastricus und/oder N. ilioinguinalis (52) im Rahmen der Leistenchirurgie gedacht werden. Kombinierte Verfahren mit Vollnarkose und zusätzlichen Regionalanästhesieverfahren resultieren in niedrigen postoperativen Schmerzscores, einem geringen Bedarf zusätzlicher Analgetika und erzeugen einen hohen Patientenkomfort, der insbesondere auch durch die Eltern wahrgenommen wird (53) dabei ist der Einsatz kontinuierlicher Katheterverfahren und die Entlassung mit einer elastomerischen Pumpe in die häusliche Umgebung auch für Kinder mit geringem Risiko durchgeführt werden (54). Eigene Erfahrungen zeigen jedoch, dass mit einer suffizienten Blockade und der Verwendung länger wirksamer Lokalanästhetika, die insbesondere die ersten 12-24h postOP wirken eine ausreichende Analgesie erzielt werden konnte. Dies ermöglicht den Kindern einen schmerzfreien Schlaf und in der Regel ist die Fortführung der Analgesie dann mit oralen Analgetika ausreichend. Dennoch bietet das dargestellte Verfahren eine gute Option für die Überlegungen der postoperativen Analgesie, insbesondere dann wenn orthopädische Eingriffe bei Kindern ambulant durchgeführt werden sollen. Entlassungskriterien Vor der Entlassung sind folgende Punkte zu beachten und vom entlassenden Arzt zu dokumentieren. Im Rahmen der Versorgung einer größeren Zahl ambulanter Patienten mit einer kurzen Gesamtverweildauern hat sich der Einsatz von Checklisten, sowohl in der präoperativen Vorbereitung, aber auch zur Entlassung des Patienten bewährt. Checklisten bieten den Vorteil, dass alle relevanten Punkte auch bei hoher Arbeitsbelastung und einem schnellen Patienten-Turn-Over berücksichtigt werden können. Eine Entlassungscheckliste sollte folgende Punkte beinhalten: • Nach einer Allgemeinanästhesie oder einmaligem Einsatz von Opioiden zur Schmerztherapie sind 2h vergangen • Die respiratorische und kardiozirkulatorische Gesamtsituation ist für mindestens eine Stunde bis zum Entlassungszeitpunkt unauffällig
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Der Patient ist zu Person, Zeit und Ort wie vor dem Eingriff orientiert Nach einem Regionalanästhesieverfahren sind Motorik und Sensorik weitgehend wiederhergestellt Gesicherte Fähigkeit der Entleerung der Harnblase Der Patient besitzt die Fähigkeit sich anzuziehen und herumzugehen (je nach Operation) wie vor dem Eingriff Der Patient ist subjektiv schmerzfrei Übelkeit, Erbrechen und Benommenheit sind minimal Die Aufnahme von Flüssigkeit ist ohne Erbrechen möglich und erfolgt Die Körpertemperatur befindet sich im Normbereich Minimale Absonderung von Wundsekret oder Drainage Nicht benötigte Katheter und Zugänge sind entfernt Eine erwachsene Begleitperson steht fest und ist anwesend Der Transport in die häusliche Umgebung ist gesichert Relevante Aspekte/Instruktionen postnarkotisch und postoperativ sind besprochen und liegen dem Patienten schriftlich vor. Dies schließt Empfehlungen zur Schmerztherapie und Dauermedikation mit ein. Eine Kontaktadresse (Person und Telefonnummer) ist dem Patienten bekannt und liegt ihm schriftlich vor Der Patient wurde vor und nach der Operation mündlich und schriftlich aufgeklärt innerhalb 24h nach der Operation kein Fahrzeug führen zu dürfen, kerne Geschäfte oder Abschlüsse jedweder Art zu tätigen und neben den empfohlenen Medikamenten keine weiteren Pharmaka oder Drogen zu sich zu nehmen.
Sind alle o .g. Kriterien erfüllt, kann gemeinsame durch den Operateur und den Anästhesisten die Entlassung des Patienten erfolgen. Wird auf eine Wiedervorstellung des Patienten am Folgetag in der entsprechenden Fachambulanz oder -Sprechstunde verzichtet, sollte eine telefonische Nachfrage am ersten postoperativen Tag erfolgen.
Fazit für die Praxis Das ambulante Operieren und damit verbunden die ambulante Anästhesie werden und müssen im Rahmen weiterer Fallzahlsteigerung und zur Entlastung stationärer Strukturen in den kommenden Jahren zunehmen. Deutschland liegt im internationalen Vergleich deutlich hinter Ländern wie Kanada, Australien und den USA, insbesondere in den Bereichen der Organisation und der Schmerztherapie, zurück. Dies bietet die Chance bewährte Konzepte zu übernehmen und somit schnell einen Ausbau eigener Kapazitäten zu erzielen. Der Anästhesist muss sich im Rahmen des effektiven und effizienten ambulanten Operierens von der Rolle des Kernleistungserbringer im OP emanzipieren, hin zu einem perioperativen Mediziner, dessen Entscheidungen und Managementkompetenzen einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen und medizinischen Gesamterfolg eines ambulanten OP-Zentrums spielen. Er muss zukünftig seinen perioperativen Beitrag zum Versorgungsplan des Patienten ausweiten und sämtliche patientenbezogene Prozesse ggf. durch neu zu erwerbende Managementkompetenzen mitgestalten. Insbesondere muss der Anästhesist anästhesiologische Kernaufgaben wie Prämedikation und perioperative Schmerztherapie wahrnehmen und sich nicht auf die Tätigkeit im Operationsaal beschränken. Ambulantes Operieren erfordert ein komplexes, multimodales Konzept, das sämtliche organisatorische, medizinische, ökonomische, soziale, qualitative und patientenbezogene Faktoren berücksichtigt. Die Wahl des Anästhesieverfahrens und der verwendeten Pharmaka stellt nur einen geringen Teil in diesem Gesamtkonzept dar.
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Ausblick Der Ausbau telemedizinischer Verfahren und Möglichkeiten kann dazu beitragen das ambulante operative Spektrum auszubauen und dennoch eine engmaschige, qualitativ hochwertige Betreuung der Patienten auch in der häuslichen Umgebung zu gewährleisten (55, 56). Ein grundlegendes Überprüfen von Operations- und Anästhesieverfahren fernab bestehender Techniken und Vorstellungen ermöglicht mitunter die ambulante Durchführung von Operationen, die bislang stets stationär durchgeführt wurden. Ein Beispiel stellt der ambulante Totalersatz des Kniegelenkes dar - in Deutschland bislang undenkbar - in Australien, Kanada und USA regelmäßig durchgeführt (57, 58, 59, 60).
Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
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Mikrozirkulationsstörungen - Diagnostik und Therapie M. FRIEs, V.
MATHEIS,
G. MARX
Einleitung Neben den großen, leitenden Gefäßen kommt vor allen Dingen der Mikrozirkulation eine entscheidende Rolle im kardiovaskulären System zu. Im Vergleich mit den großen Gefäßen bildet die Mikrozirkulation aufgrund Ihrer großen Dichte von Arteriolen, Venolen und Kapillaren ein dichtes Netzwerk mit einer enormen Oberfläche. Mit diesen kleinsten Leitungsbahnen, die üblicherweise weniger als 150 µm Durchmesser besitzen, wird der Transport von Sauerstoff und Glukose zu den Zellen garantiert und ebenso der Abtransport von Endprodukten des Stoffwechsels gewährleistet. Daneben spielt die Mikrozirkulation aber auch eine ebenso wichtige Rolle in der Immunabwehr und bei der Kontrolle der Blutgerinnung. Die Bedeutung der Mikrozirkulation des Organismus als ein eigenständiges „Organ" mit einem kausalen Zusammenhang für eine adäquate Funktion wurde in der Medizin bereits sehr früh erkannt (1), jedoch sind erst in den letzten Jahren entscheidende technische Fortschritte erzielt worden, die ein Monitoring dieses Kompartiments in Echtzeit und mit nicht-invasiven Methoden ermöglichen. Diese Untersuchungen belegen eindrucksvoll die Signifikanz mikrovaskulärer Veränderungen bei verschiedenen intensivmedizinischen Erkrankungen und gerade bei der schweren Sepsis und dem septischen Schock. Pionierende Arbeiten konnten eine deutliche Reduktion der Flussgeschwindigkeit und der Dichte des kapillaren Netzwerkes bei septischen Patienten dokumentieren. Darüberhinaus besteht eine deutliche Assoziation zur Letalität der Erkrankung, wenn mikrovaskuläre Perfusionsstörungen für mehr als 24 h persistieren. (2-4). In der klinischen Routine erfolgt die Überwachung der vitalen Funktionen und insbesondere der hämodynamischen Parameter vorrangig über makrozirkulatorische Werte. Allerdings gibt es bislang keinen eindeutigen Beweis, ob eine Therapie titriert an makrozirkulatorischen Werten einen Überlebensvorteil für kritisch Kranke bietet (5). Die Tatsache das der Mikrozirkulation im klinischen Alltag häufig wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird liegt an mehreren Faktoren: Zum ersten wird häufig der Schluss gezogen, dass ein Patient, der makrozirkulatorisch stabil ist, auch eine intakte Mikrozirkulation haben müsse. Die Dissoziation zwischen diesen beiden Kompartimenten ist jedoch in vielen Untersuchungen zur regionalen Perfusion offenbar. Klinische Korrelate sind die oft livide verfärbten Akren der Patienten oder die deutlich marmorierte Haut an Knien und Ellenbogen. Zum zweiten ist die Überwachung der Mikrozirkulation technisch anspruchsvoll und es gibt nur wenige marktreife Geräte. Drittens ist unser Verständnis über die pathophysiologischen Veränderungen der Mikrozirkulation im Rahmen einer schweren Sepsis und des septischen Schocks noch sehr lückenhaft.
Pathogenese Weil und Shubin veröffentlichten 1971 eine Einteilung der verschiedenen Schockformen. Sie unterschieden zwischen dem kardiogenen, obstruktiven, hypovolämen und schließlich dem distributiven, also septischen Schock (6). Die ersten drei Formen bedingen eine globale Zirkulationseinschränkung mit einem üblicherweise deutlich erniedrigten Herzzeitvolumen (HZV). Die eingeschränkte Mikrozirkulation kann in diesen Fällen nach Korrektur des HZV üblicherweise wieder rekrutiert werden. Beim distributiven Schock beobachtet man jedoch häufig trotz supranormaler HZV Zeichen der Gewebehypoperfusion. Die Ursachen für die gestörte Verteilung des Blutflusses sind vielfältig und beinhalten eine
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massive Gerinnungsaktivierung, Schädigung des Endothels, eine lmbalance in der lokalen NO Produktion sowie eine deutliche Funktionseinschränkung der zellulären Blutbestandteile (Abb. 1).
----.J...__
Funktionsstörung der zellulären Blutbestandteile
Endothelschädigung
lmbalance in der NOeNO~ Produktion ,. I NO
--
Gerinnungsaktivierung
Sauerstoffmangel
Abb . 1:
So entstehen pathologische Shunts (7) und eine deutliche Heterogenität im mikrovaskulären Blutfluss. Direkt nebeneinander kann man normal perfundierte, hyperdynam perfundierte, aber auch nur noch intermediär oder ganz verschlossene Kapillaren beobachten. Als bedeutendste Konsequenz ist der Diffusionsweg für Sauerstoff zwischen Kapillare und Zelle deutlich verlängert. Neben diesen Veränderungen auf kapillärer Ebene kommt es zu einer Sauerstoffverwertungsstörung in den Mitochondrien, die mit einer erniedrigten Bereitstellung energiereicher Phosphate einhergeht. Ob diese Veränderung teilweise ursächlich für die Mikrozirkulationsstörung ist, oder Folge dessen, wird kontrovers diskutiert. Interessant ist jedoch, dass das sog. ,,Microcirculatory and Mitochondrial Distress Syndrom" trotz der Minderversorgung der Zellen mit Sauerstoff nur selten mit nekrotischen Veränderungen einhergeht, weshalb spekuliert wird, ob die Zellen einen winterschlafähnlichen Zustand annehmen (8). Das klinische Korrelat von Shuntbildung und Sauerstoffverwertungsstörung ist die häufig hochnormale, zentralvenöse Sauerstoffsättigung (ScvO2) der septischen Patienten. Ob die ScvO2 prädiktiven Wert für das Über88
leben der Patienten mit schwerer Sepsis hat, wurde von Pope et al. untersucht. 619 septische Patienten mit Zeichen der Hypoperfusion wurden in die Studie eingeschlossen (9). Hypoxie wurde als ScvO2 < 70%, Normoxie als 70%90% definiert. Es zeigte sich, dass sowohl Sepsispatienten mit einer Hypoxie eine erhöhte Letalität aufwiesen (40%; 25 von 62 Patienten), als auch diejenigen Patienten, die eine Hyperoxie zeigten (34%, 31 von 92 Patienten. Dagegen war die Letalität in der Normoxiegruppe geringer (21 %, 96 von 465). Die Ergebnisse der Untersuchung weisen daraufhin, dass bei Patienten mit schwerer Sepsis oder im septischen Schock eine Verschlechterung der Mikrozirkulation nicht durch eine Optimierung der ScvO2 > 70% ausgeschlossen werden kann. Eine ScvO2 > 90% ist mit einer erhöhten Letalität assoziiert, und scheint auf eine reduzierte Sauerstoffutilisation hinzuweisen. Wird dieser Zustand nicht rechtzeitig wieder behoben, kommt es zu einer dauerhaften Einschränkung der Organfunktion und folglich zum Organversagen. Daher kommt der zeitgerechten Detektion mikrozirkulatorischer Störungen eine große Bedeutung zu.
Diagnostik Das Überleben septischer Patienten ist klar mit dem Ausmaß der Perfusionseinschränkung und mit der Reduktion der Kapillardichte assoziiert. Patienten bei denen die initiierte Therapie zu einer Verbesserung der Mikrozirkulationsstörungen innerhalb der ersten 24h nach Diagnose führt, haben eine deutliche höhere Chance zu überleben, als Patienten bei denen die Störungen persistieren (4). Möglichkeiten den funktionellen Status der Mikrozirkulation einzuschätzen wurden bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts angewendet. Joly und Weil beobachteten, dass die Änderung der Temperatur der Großzehe bei Patienten mit zirkulatorischem Schock, prognostischen Wert besitzt (10). Indirekt kann durch die Ableitung von Variablen, die den metabolischen Status des untersuchten Gewebes anzeigen ebenfalls eine Aussage zur Mikrozirkulation gemacht werden. Hierzu zählen die klassischerweise bestimmten Laborparameter, wie ScvO2 , Base Excess und Laktat. Obwohl diese Werte immer nur eine globale Einschätzung ermöglichen und von vielen anderen Variablen ebenfalls abhängig sind, hat vor allem die Laktatmessung und hier die Laktat-Clearance einen hohen prognostischen Wert und kann zur Therapieoptimierung genutzt werden. In einer niederländischen Multizenter-Studie analysierten Jansen et al., ob bei kritisch kranken Patienten eine frühe Therapie mit dem Ziel das primär erhöhte Laktat zu senken die Letalität reduzieren kann ( 11). In diese Studie wurden 348 Patienten mit einem Laktat von mehr als 3mmol/l eingeschlossen und entsprechend den Guidelines der Surviving Sepsis Campaign behandelt. In den ersten 8 Stunden nach Randomisierung unterschied sich die Therapie lediglich dadurch, dass in der Behandlungsgruppe die Laktatwerte alle 2 Stunden gemessen wurden und den behandelnden Ärzten bekannt waren. Das Behandlungsziel war eine Reduktion des Laktats um 20% alle 2 Stunden. Obwohl der Untersuchungszeitraum mit 8 Stunden nur sehr kurz war und die Laktatwerte in den ersten 72 Stunden zwischen beiden Gruppen identisch war, war die Risiko-adjustierte Letalität in der Protokoll Gruppe signifikant geringer. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist nicht einfach zu verstehen, weist aber darauf hin, dass es sinnvoll erscheint sich initial intensiv um schwerkranke Patienten zu kümmern und die Messung des Laktats und therapeutische Bemühungen eine Laktatclearence zu erreichen sinnvoll erscheint. In einer weiteren prospektiven multizentrischen Studie überprüfte Jones et al., ob eine frühe Laktatclearance oder die ScvO2 als Therapieziel in der initialen Sepsistherapie mit einem verbesserten Überleben von Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock assoziiert ist (12). Bei 150 Patienten mit schwerer Sepsis 89
und septischem Schock wurden direkt bei Aufnahme und nach 6 Stunden Laktat gemessen. Die erfolgreiche Laktatclearance wurde definiert als 10%ige Reduktion der Laktatkonzentration zwischen Aufnahme bis zur sechsten Stunde nach Aufnahme. In der zweiten Gruppe (n=150) wurde die ScvO2 >70% als therapeutisches Ziel definiert. Die beiden Gruppen unterschieden sich nicht bzgl. der Demographie oder der Erkrankungsschwere. In der ScvO2 Gruppe verstarben 34 Patienten (23%; KI: 17 - 30%) während ihres Krankenhausaufenthaltes und die Patienten der Laktatclearencegruppe wiesen eine Krankenhausletalität von 17% (KI 11 - 24%) (n=25) auf. Dieses Ergebniss erreichte nicht den prädefinierten 10% Unterschied, um eine signifikante Inferiorität zu belegen. Eine frühzeitige Laktatclearance scheint aber dennoch ein Parameter zu sein, der mit der Wiederherstellung bzw. Verbesserung der Mikrozirkulation und Gewebsoxygenierung im septischen Schock und der Prognose des Patienten korreliert, so dass sich die frühzeitige Laktatclearance als Therapieziel bei septischen Patienten zu eignen scheint. Der Unterschied in der vorliegenden Studie konnte eventuell aufgrund der vergleichsweise niedrigen Patientenzahl nicht erreicht werden. Die Ergebnisse der Untersuchung weisen jedoch daraufhin, dass bei Patienten mit schwerer Sepsis oder im septischen Schock die frühzeitige Laktatclearence ein Parameter zu sein scheint, der mit der Wiederherstellung bzw. Verbesserung der Mikrozirkulation und Gewebeoxygenierung im septischen Schock und der Prognose des Patienten korreliert. Daneben gibt es die Möglichkeit loko-regional Sauerstoff- und Kohlendioxidpartialdruck in Geweben zu messen. Neben diesen indirekten Methoden wurden später Verfahren der direkten Visualisierung möglich. Allerdings hat die sogenannte Kapillarmikroskopie den Nachteil, dass sie nur begrenzt am Menschen angewendet werden kann, da zur besseren Darstellung der Gefäße üblicherweise ein Farbstoff appliziert werden muss und nur wenige Gewebe (Nagelfalz) untersucht werden können. Eine Übersicht der experimentell und klinisch genutzten Verfahren zur Beurteilung der Mikrozirkulation ist in Tab. 1 dargestellt. Name
Messprinzip
Messort
Parameter
0 2-Partialdruckmesmmg
Elektrochemische Messung (Clark-Eletrode) oder Auoresrenzmessung
Alle Gewebe
tp02
Kapnometrie
Elektrochemische Messung (Clark-Eletrode) oder Auoreszenzmessung
Sublinguale oder pdco2; P,co2 gastrale Schleimhaut
Laserdoppler-Flowmetrie
Emmisionsmessung der Retlektion der pefundierten Gefäße eines Gewebeareals
Alle Gewebe
Perfusion Units (PU)
Nahinfrarotspektroskopie (NIRS)
Absorption von nah-infrarotem Licht in Abhängigkeit von der Ratio von oxygeniertem zu totalem Härnoglobin
Thenarmuskel
StO2
Orthogonal Polarization Spedral Imaging (OPS) oder Sidestream Darkfield lmaglng (SDF)
Licht in der Wellenlänge von Hämoglobin visualisiert die Erythrozyten; beim SDF wird hierzu stroboskopisches Licht von LED's genutzt
Alle Schleimhäute
Capillary density; microvascular blood tlow index; Durchmesser der Gefäße; exakte Messung der Geschwindigkeit
Zwei Verfahren sind aufgrund der klinischen Nähe hervorzuheben. Die NahinfrarotSpektroskopie (NIRS) und das Orthogonal Polarization Spectral lmaging (OPS) bzw. dessen Nachfolger das Sidestream Darkfield lmaging (SDF). 90
Die NIRS ist ein nicht-invasives, benutzerfreundliches Verfahren, das dem Untersucher ermöglicht, die Oxygenierung eines Gewebeareals in Echtzeit direkt am Patientenbett zu erlasen. Als untersuchtes Gewebe bietet sich beispielweise der Thenarmuskel der Hand an. Die klinische Relevanz des sog. StO2 Wertes mittels dieser Untersuchungsmethode konnten Leone et al. an einem Kollektiv von Patienten im septischen Schock zeigen. Patienten die im Verlauf der Erkrankung verstarben, hatten eine deutlich geringere StO2 als Patienten die überlebten. Der StO2-Wert korrelierte gut mit dem Plasma-Laktat-Spiegel, allerdings nicht mit der Pulsoxymetrie (13). Aussagekräftiger als der absolute Wert ist allerdings ein Test zur mikrovaskulären Reaktivität. Hierbei wir mittels einer Blutdruckmanschette ein etwas über dem systolischen arteriellen Druck liegender Wert appliziert. Darunter sinkt aufgrund des Perfusionsdefizits der StO 2-Wert deutlich ab. Nach Beendigung des Tourniquets steigt der StO2- Wert wieder an und die Steilheit dieses Anstiegs korreliert mit dem Ausmaß der mikrovaskulären Dysfunktion. Auch dieser Parameter besitzt einen prognostischen Wert, da er bei Überlebenden eines septischen Schocks im Gegensatz zu den später versterbenden innerhalb von 24 Stunden eine signifikante Verbesserung zeigt (14). Die OPS-Technik basiert auf dem Prinzip, dass das Gerät polarisiertes Licht mit einer Wellenlänge von 548 nm aussendet. Dieses Licht wird von allen Gewebeschichten reflektiert und lediglich von Hämoglobin absorbiert. Mit Hilfe spezieller Filter entsteht ein Bild, indem das reflektierte Licht ignoriert wird und nur Erythrozyten zur Darstellung kommen. SDF ist eine Weiterentwicklung des OPS. Die Darstellung gelingt hier noch klarer und mit höherer Auflösung bzw. größerer Schärfe. Bei dieser Technik sendet ein LED-Ring stroboskopisches Licht der Wellenlänge 530 nm aus, dies entspricht dem isobestischen Punkt des Hämoglobins. So ist die Beobachtung unabhängig vom Oxygenierungsstatus. Es entsteht ein ca. 500 µm großer Ausschnitt mit gestochen scharfer Darstellung der Mikrozirkulation in Echtzeit. Bettseitig kann sofort ein visueller Eindruck der Geschwindigkeit und Dichte der Erythrozyten im kapillaren Netzwerk entstehen (15; Abb. 2).
Abb.2 Abbildung aus: Goedhart PT, Khalilzada M , Bezemer R, Merza J, Ince C. Sidestream Dark Field (SDF) imaging: a novel stroboscopic LED ring-based imaging modality for clinical assessment of the microcirculation. Opt Express. 2007 Nov 12;15(23):15101-14
Darüber hinaus können Videosequenzen aufgezeichnet werden um bestimmte Parameter zu erheben. In einer Roundtable- Konferenz wurde 2007 ein Konsens ausgearbeitet, wie die erhaltenen Filme am besten auswertbar sind, so dass in Zukunft die Ergebnisse der verschiedenen Forschungsgruppen vergleichbar sind (16). Mit Hilfe des SDF konnte gezeigt werden, dass mikrovaskuläre Veränderungen bereits in den ersten 6 Stunden einer 91
Sepsis vorhanden sind. Die Perfusion der Gefäße < 20 µm bei septischen Patienten ist bereits zu diesem frühen Zeitpunkt signifikant reduziert. Auch die Heterogenität der Perfusion ist bei diesen Patienten ausgeprägter ( 17). Zusammenfassend muss gefolgert werden, dass viele der beschriebenen Untersuchungsmethoden noch experimentellen Charakter tragen. Lediglich die Nahinfrarot-Spektroskopie hat bisher aufgrund der einfachen Handhabung und der kontinuierlichen Messung Einzug in den klinischen Alltag gefunden. Ebenso benutzen einige Zentren die OPS/SDFKamera zur diskontinuierlichen Darstellung der sublingualen Schleimhaut. Obwohl für beide Verfahren erste eindrucksvolle Daten belegen, das Sie den Status des Organs Mikrozirkulation gut beschreiben können, müssen große Studien belegen in wie fern die beobachteten Perfusionsstörungen einen Einfluss auf das Überleben der Patienten haben. Zumindest für das OPS/SDF-System werden in Kürze Daten aus der sogenannten microSOAP Studie vorliegen (www.microcirculationstudies.org). Schlussendlich müssen dann, ausgehend von solchen Daten, Strategien erarbeitet werden wie die Mikrozirkulation positiv beeinflusst werden kann. Basierend auf den oben erwähnten Daten ist jedoch zu unterstreichen, dass mikrovaskuläre Surrogatmarker wie die ScvO2 oder das Laktat bzw. die Laktatclearance einen hohen Beitrag in der Quantifizierung der mikrovaskulären Funktionsstörung bzw. der Therapie dieser leisten kann.
Therapien Es gibt eine Vielzahl von Ansätzen die Mikrozirkulation im Rahmen von Schockzuständen zu rekrutieren. Die einfachste Möglichkeit die relative Hypovolämie beim septischen Schock auszugleichen ist der Ersatz von intravasalem Volumen. Durch die bessere Füllung der Gefäße kommt es zu einer erhöhten Vorlast des Herzen und damit zu einer besseren Perfusion der Organe (18). Obwohl die Frage des besten Volumenersatzmittels weiter kontrovers diskutiert wird, ist vor allem die frühzeitige Gabe entscheidend (19). Vasopressoren können die Mikrozirkulation durch eine Erhöhung des MAP und einer damit verbundenen Rekrutierung von Gefäßen verbessern. Eine Erhöhung des MAP über den physiologischen Wert der Autoregulation der Organe von 65mmHg hinaus, ist jedoch nur fraglich sinnvoll. In einer Untersuchung zeigte sich, dass eine Erhöhung des MAP auf 75 oder 85 mmHg mit Hilfe von Noradrenalin dem Patienten keine Verbesserung der Mikrozirkulation bringt, sondern sogar im Gegenteil mit einer Verringerung der Kapillardichte einhergeht (20). Für Dobutamin wurde vielfach gezeigt, dass es positive Effekte auf die Mikrozirkulation hat. Besonders die Mikrozirkualtion der hepatischen und splanchnischen Strombahn profitiert von Dobutamin (21). Im Vergleich zu Norepinephrin allein, hatten Patienten, die Dobutamin plus Norepinephrin bekamen eine deutlich verbesserte Perfusion. Die positiven Effekte sind dabei unabhängig von der globalen Hämodynarnik. Da Dobutamin als beta-adrenerge Substanz, nicht direkt auf Kapillaren wirken kann, die keine beta-Rezeptoren besitzen, wird vermutet, dass der Effekt hauptsächlich durch eine Beeinflussung der Arteriolen zustande kommt. Zudem weiß man, dass Leukozyten beta-Rezeptoren besitzen und der Effekt auch durch eine Inhibition dieser und im Folgenden auch ihrer Adhäsion an die Gefäßwand zu erklären sein könnte. Da im Rahmen einer schweren Sepsis oder eines septischen Schocks die körpereigene Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO) durch Endothel und Erythrozyten gestört ist, wäre eine exogene Gabe von Nitroglycerin eine Option, die Mikrozirkulation zu rekrutieren . Erste Hinweise, dass dieser Ansatz helfen könnte, gaben Spronk et al. mit einer Studie an 8 Patienten im septischen Schock. Sie berichteten sowohl über eine signifikan92
te mikrozirkulatorische Verbesserung als auch eine klinische Verbesserung, wenn die Patienten eine geringe Dosis Nitroglycerins erhielten (22). In einer randomisierten, placebo-kontrollierten Studie an 70 Patienten mit schwerer Sepsis, konnte dieser positive Effekt allerdings nicht nachvollzogen werden. Es kam zu keiner signifikanten Verbesserung der Mikrozirkulation. Erschwerend kam hinzu, dass in der Nitroglyceringruppe die Mortalität deutlich, wenn auch nicht signifikant, erhöht war (23). Es ist inzwischen bekannt, dass die Gabe von Nitroglycerin in den Mitochondrien die Freisetzung von radikalen Sauerstoffspezies induziert (24). Die folgende Apoptose der Zellen wäre eine mögliche Ursache für ein schlechteres Outcome der Patienten. Der Calcium-Senzitizer Levosimendan bewirkt in erster Linie eine Erhöhung des kardialen Auswurfs, dazu aber auch eine Vasodilatation der glatten Muskulatur, die über die Öffnung von Kaliumkanälen vermittelt wird. Tierexperimentell konnte gezeigt werden, dass Levosimendan im septischen Schock eine Verbesserung der Gewebeoxygenierung erreicht (25). In einem klinischen Setting über 24h konnte eine Verbesserung der Perfusion kleiner und mittlerer Gefäße nachgewiesen werden. Zudem wurde die Heterogenität des Flusses zwischen den Gefäßen vermindert und es kam nicht zu einem befürchteten konsekutivem Anstieg im Noradrenalinbedarf. Auch zeigte sich Levosimendan hier Dobutarnin überlegen (26).
Fazit Mikrozirkulationsstörungen sind ein frühes und charakteristisches Phänomen des zirkulatorischen Schocks, vor allem des septischen Schocks. Die Signifikanz dieser Störungen belegt sich eindrucksvoll aus präklinischen und klinischen Untersuchungen. Methoden zur Evaluierung des Organs Mikrozirkulation beginnen langsam Einzug in den klinischen Alltag zu nehmen. In Erwartung zunehmender klinischer Daten zu den Effekten verschiedener Strategien zur Rekrutierung der sepsis-induzierten mikrovaskulären Dysfunktion erwarten wir hieraus ein tiefergehendes Verständnis des Beitrags der Mikrozirkulation zum Outcome der Patienten. Bis solche Techniken Einzug in die klinische Routine gefunden haben, bleiben ScvO2 und Laktatclearance eine wichtige Säule als diagnostisches Kriterium für das Ausmass und die Therapie mikrovaskulärer Störungen.
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Prävention nosokomialer Pneumonien S. LAUDI
Nosokomiale Pneumonien (NP) - definitionsgemäß Pneumonien, die später als 48 h nach Krankenhausaufnahme auftreten - sind die häufigsten Infektionen auf Intensivstationen und nach Harnwegsinfekten die zweithäufigsten nosokomialen Infektionen überhaupt [l]. Junge Patienten(< 35 Jahre) erkranken in 5 von 1000 Fällen im Laufe ihres Krankenhausaufenthaltes an einer NP, bei hospitalisierten älteren Patienten (>65 Jahre) verdreifacht sich die Rate auf 15 von 1000 [2]. Es wird geschätzt, dass NP den Krankenhausaufenthalt um 7 bis 9 Tage verlängern, 25% aller auf einer Intensivstation erworbenen Infektionen darstellen und etwa 50% der verbrauchten Antibiotika wegen des Auftretens einer NP verschrieben werden [3]. Durch das Auftreten einer NP erhöhen sich die Behandlungskosten im Krankenhaus um über 10.000 US$ [4]. Für Deutschland wird die Anzahl NP/Jahr auf Intensivstationen für das Jahr 2006 mit etwa 60.000 Fällen angegeben, bei etwa 7 Infekten der unteren Atemwege pro 1000 Beatmungstage [5]. Nosokomialen Infekten werden 10.000 bis 15.000 Todesfälle/Jahr zugeschrieben [5], welche zu grossen Teilen durch Pneumonien verursacht werden [6]. Auf Grund dieser zentralen Stellung von NP im Krankenhaus, insbesondere der unter maschineller Beatmung erworbenen Pneumonie (ventilator-assoziierte Pneumonie; VAP) sowie der aktuell oft diskutierten in Pflegeheimen und anderen krankenhausähnlichen Einrichtungen erworbenen Pneumonien, ist die Frage nach der Prävention nosokomialer Pneumonien mutmasslich eine der am besten untersuchten (intensivmedizinischen) Fragestellungen. Allerdings sind die meisten Arbeiten zur Frage der Prävention beatmungsassoziierter Pneumonien durchgeführt worden; deren Ergebnisse werden grosszügig auf alle NP übertragen, auch, weil beatmungsassoziierte Pneumonien den größten Anteil mit bis zu über 80% an NP ausmachen [7, 8]. Allein unter dem Stichwort ,nosocomial pneumonia' finden sich Ende des Jahres 2011 über 3400 Einträge in PubMed, unter dem Stichwort ,ventilator-associated pneumonia' über 3000. Umfassende Zusammenfassungen des derzeitigen Wissens und der Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie nosokomialer Pneumonien werden in verschiedenen Guidelines, z.B. von der American Thoracic Society und der Infectious Diseases Society of Arnerica [7] sowie der Centers for Disease Control and Prevention [9] herausgegeben und regelmäßig überarbeitet. Grundlegende Motivation, sich mit der Prävention von NP zu beschäftigen ist die Sichtweise, dass diese als prinzipiell vermeidbar gelten. Es werden grosse Bemühungen darauf verwendet, die Faktoren zu identifzieren, deren Beeinflussung zu einer Verringerung der Inzidenz der NP führen. Dies ist neben der Hoffnung, durch die verringerte Inzidenz das Outcome von Patienten zu verbessern, inzwischen auch getrieben durch die Ankündigung von Medicare, für vermeidbare Komplikationen, einschliesslich der durch das Auftreten von nosokomialen Pneumonien entstehenden Zusatzkosten, die Krankenhäuser nicht mehr zu entschädigen [10, 11]. Um potentielle Ansatzpunkten zur Verringerung der Inzidenz der NP zu finden, ist das Verständnis ihrer Pathogenese von zentraler Bedeutung.
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Pathogenese Drei zentrale Mechanismen tragen zur Entstehung NP bei: a) Die Kolonisation des Oropharynx mit pathogenen Mikroorganismen [12, 13], b) die Aspiration dieser pathogenen Mikroorganismen in den unteren Respirationstrakt [14, 15], c) deren Ausmass, welches durch die Abwehrmechanismen des unteren Respirationstraktes nicht mehr beherrscht werden kann [16].
Kolonisation des Oropharynx Bei kritisch erkrankten Patienten - insbesondere unter maschineller Beatmung - wird der Orophaynx innerhalb von 36 Stunden nach Intubation von potentiell pathogenen Mikroorganismen besiedelt, die sich innerhalb von 96 Stunden in der Trachea nachweisen lassen [ 17] und zum Gros steil identisch zu den pneumonieverursachenden Keimen sind [18]. Ein zentraler Faktor, der das Risiko einer Kolonisierung des Oropharynx mit potentiell pathogenen Keimen erhöht, ist die systemische Gabe von Antibiotika; in einigen Studien wird die Gabe von Antibiotika vor Entwicklung der nosokomialen Pneumonie als wichtigster Risikofaktor angegeben [19]. Zudem erscheint das Risiko mit der Breite des antibakteriellen Spektrums des Antibiotikums zu steigen [20]. Die Gabe von Antibiotika per se scheint durch antibakterielle Effekte auf die normale oropharyngeale Flora und durch Selektionsdruck vor allem das Umfeld zu bereiten, in dem sich potentiell pathogene Keime nun ausbreiten können. Woher die potentiell pathogenen Keime stammen, die den Oropharynx kolonisieren, ist hingegen umstritten. Denkbar sind zum einen endogene Quellen; insbesondere der Gastrointestinaltrakt wird als Reservoir für Bakterien angesehen, zum anderen wird deutlich darauf verwiesen, dass exogene Quellen eine Hauptrolle spielen und vornehmlich mangelndes hygienisches Vorgehen der Umkolonisation des Oropharynx vorangeht [21 , 22].
Aspiration Kritisch kranke Patienten unterliegen einem signifikant erhöhten Aspirationsrisiko. Im Sonderfall intubierter und maschinell beatmeter Patienten führt eine kontinuierliche Mikroaspiration von subglottischem Sekret, das zu grossen Teilen per continuitatem aus oropharyngealen Sekreten entsteht, zu einem erhöhten Aspirationsvolumen. Durch die weitverbreitete Verwendung von high volume low pressure Cuffs, deren Durchmesser grösser ist als der der Trachea, bilden sich nach Blockung im Cuff Längsfalten, die eine Verbindung mit Kapillarwirkung zwischen subglottischem und trachealem Raum bilden [23, 24] . Aber auch ohne endotracheale Intubation oder Tracheotomie kann das Aspirationsrisiko für kritisch Kranke z.B. infolge Vigilanzminderung, Muskelschwäche oder Schluckstörungen erhöht sein. Neben diesem Hauptzugangsweg der Bakterien in den unteren Respirationstrakt wird die Biofilmbildung an der Tubusinnenseite und die Verschleppung von Tröpfchen dieses Biofilm mit dem inspiratorischen Atemgasfluss in die Lunge als weiterer relevanter Zugangsweg für potentiell pathogene Mikroorganismen in die Lunge angesehen.
Abwehrversagen des unteren Respirationstracktes Der kräftige Hustenstoss ist bei kritisch kranken Patienten, z.B. durch die Gabe von Opioiden und Sedativa eingeschränkt, und insbesondere bei intubierten Patienten praktisch 96
aufgehoben. Zudem ist die mukociliäre Clearance beeinträchtigt: bei gesunden Nichtrauchern beträgt die mukociläre Geschwindigkeit 10-15 mm/h, durch Intubation wird sie um bis zu 50% herabgesetzt. Bei kritisch kranken Patienten, die intubiert und maschinell beatmet werden, kann die mukociläre Clearance bis auf 0 .8-1.4 mm/h zurückgehen, wodurch der nach oral gerichtete Abtransport von bakteriell besiedeltem Aspirat nicht mehr gewährleistet wird [25, 26].
Prävention Die zentralen Risikofaktoren für den Erwerb einer NP stellen Umstände und Massnahmen dar, welche die oropharyngeale Kolonisation und das Aspirationsrisiko erhöhen oder die Abwehrmechanismen des unteren Respirationstraktes behindern. Einige dieser Risikofaktoren sind nicht beeinflussbar (z.B. zu Grunde liegende Lungenerkrankung, Schluckstörungen, Immunsuppression), andere hingegen sind beeinflussbar und somit Ziel von möglichen Präventionsmassnahmen. In den Guidelines des Centers for Disease Control and Prevention zur Prävention nosokomialer Pneumonien [9] werden über 200 Maßnahmen empfohlen, um das Risiko NP zu verringern. Für die klinische Praxis ist diese Fülle sicherlich sinnvoller Massnahmen unpraktikabel und unübersichtlich. Das U.S. Department of Health and Human Services hat im Jahr 2009 daher eine Priorisierung der einzelnen Massnahmen (für den Spezialfall der beatmungsassoziierten Pneumonien) empfohlen. Sechs davon können als Kernmassnahmen zur Prävention beatmungsassozüerter Pneumonien angesehen werden [27]: 1. Vermeidung der endotrachealen Intubation, Nutzung von nicht-invasiver Beatmung 2. Orotracheale Intubation statt nasotrachealer Intubation 3. Begrenzung der Dauer der maschinellen Beatmung auf das notwendige Minimum 4. Oberkörperhochlagerung (30-45 Grad) 5 . Vervendung eines Tubus mit subglottischer Absaugmöglichkeit und einem Cuffdruck von mindestesn 20 cm Hp sowie regelmässige subglottische Sekretdrainage 6. Regelmässige antiseptische Mund und Rachenspülung
Outcome Mit der Umsetzung dieser Massnahmen kann eine Reduktion der Inzidenz nosokomialer Pneumonien erreicht werden . So kann man mit der regelmässigen Spülung der Mundhöhle mit Chlorhexidin die Inzidenz beatmungsassozüerter Pneumonien um etwa 50% senken, durch die Oberkörperhochlagerung um bis zu 78% [28] . Für die kontinuierliche Drainage subglottischen Sekrets wird eine Senkung der Rate beatmungsassozüerter Pneumonien zwischen 37% und 75% angegeben. Fraglich ist allerdings, inwieweit die verringerte Inzidenz der nosokomialen Pneumonien sich in einer messbaren Outcome-Verbesserung widerspiegelt [28] : kaum eine der Massnahmen, die zu einer Verringerung der Inzidenz von Pneumonien führt, konnte eine Verringerung der Dauer der maschinellen Beatmung, des Aufenthaltes auf der Intensivstation und im Krankenhaus oder eine Senkung der Letalität bewirken [28) . Nur für eine einzige der oben genannten Massnahmen ist tatsächlich - neben der Senkung der Inzidenzrate - auch ein Verbesserung des Überlebens gezeigt worden: die regelmässige Mund- und Rachenspülung konnte eine Senkung der 28-Tage-Letalität auf der Intensivstation um 11% bewirken [22, 29] . Die Gründe für dieses „Paradoxon der beatmungsassozüerten Pneumonie" [28) sind nicht vollständig bekannt; es werden vornehmlich fehlende Power der einzelnen Studien sowie unscharfe und verschiedene Diagnosekriterien für nosokomiale/Beatmungsassoziierte Pneumonien als Hauptgründe genannt. 97
Hingegen kann durch die Implementierung von „bundles", d.h. durch die gleichzeitige Umsetzung mehrerer verschiedener Interventionen mit aktiven Massnahmen zu deren Beachtung und Einhaltung, die Rate von NP gesenkt werden und gleichzeitig eine Reduktion der pneumonie-assoziierten Letalität erreicht werden: durch die aktive und anhaltende Implementierung eines „bundles" - unter anderem Oberkörperhochlagerung, täglicher Sedierungsstop, Ulcus- und Throboseprophylaxe - einschließlich von Maßnahmen um die Compliance mit den Guidelines/Massnahmen zu erhöhen, konnte in einer Studie das Auftreten von beatmungsassoziierten Pneumonien vollständig verhindert werden [30]. Allein durch die strukturierte Erfassung der Rate nosokomialer Pneumonien und der Übermittlung des Ergebnisses an die beteiligten Intensivstationen, liess sich die Rate nosokomialer Pneumonien signifikant reduzieren, ohne dass weitere Interventionen durchgeführt wurden [31]. Zur Prävention nosokomialer Infekte erscheint es daher wenig effektiv, verschiedene Einzelmassnahmen zu identifizieren, deren Umsetzung zu einer reduzierten Inzidenz nosokomialer Pneumonien führt. Vielmehr erscheint die Implementierung von möglichst einfachen, gebündelten Verfahren, zusammen mit Maßnahmen zu deren Einhaltung geeignet, die Prävention von NP voranzutreiben [32, 33].
Schlussfolgerung Nosokomiale Pneumonien sind häufig, kostenintensiv und gefährlich. Ihre Pathogenese und wichtige Risikofaktoren, die zu ihrer Entstehung beitragen, sind im Kern bekannt und gut belegt. Ebenso gibt es zentrale Massnahmen, deren kombinierte aktive Umsetzung nicht nur zu einer Reduktion der Inzidenz nosokomialer Pneumonien führen, sondern darüberhinaus auch das Outcome von Patienten verbessern kann. Zentral weniger nicht die weitere Identifikation von Risikofaktoren und Massnahmen, sondern die Frage, wie man die bekannten Massnahmen effektiv im stationären Alltag des Krankenhauses umsetzen kann. Nur dies verspricht neben der Senkung der lnzidenz nosokomialer Pneumonien auch eine Verbesserung des klinischen Outcomes.
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Postoperative Ernährung - früher oder später? T.W.
F'ELBINGER,
H.P. RICHTER
Eine spezifische Ernährungstherapie hat im Rahmen des Gesamttherapiekonzeptes chirurgischer Patienten heute einen unverzichtbaren Stellenwert eingenommen. In den letzten 20 Jahren hat eine zunehmende Anzahl an Untersuchungen belegt, dass bestimmte ernährungstherapeutische Interventionen bei diesen Patienten eine signifikante Verbesserung des klinischen Outcome zur Folge haben. In diesem Zusammenhang gewinnt auch der Einsatz von nichtenergetischen Substraten im Sinne einer Immunmodulation bei einzelnen Patientengruppen zunehmend an Bedeutung. Bei vielen unkomplizierten postoperativen Verläufen wird eine spezielle Ernährungstherapie nicht notwendig oder indiziert sein. Aber gerade die im Folgenden dargestellte relativ hohe Prävalenz mangelernährter Patienten oder solcher Patienten, deren Ernährungszustand sich im klinischen Bereich weiter verschlechtert, unterstreicht die Bedeutung einer gezielten postoperativen Ernährungstherapie bei bestimmten Patientengruppen.
Screening des Ernährungszustandes bei Klinikaufnahme Bei der Frage, ob eine Ernährungstherapie früher oder später postoperativ gestartet werden soll, muss zunächst geklärt werden, ob eine klinische Ernährungstherapie überhaupt indiziert ist. Die initiale Erhebung des Ernährungsstatus sollte gemäß den ESPEN-Guidelines (ESPEN = European Society of Parenteral and Enteral Nutrition) konsequent bei Klinikaufnahme durchgeführt werden [1]. Mittels des nutritional risk score (NRS-2002) ist mit vier einfachen Fragen der klinische Ernährungsstatus schnell und einfach zu bestimmen: Mit einem Eingangsscreening sollte jeder Patient daraufhin untersucht werden, ob der BMI < 20,5kg/m2 beträgt, ob es einen ungewollten Gewichtsverlust in den letzten 3 Monaten gab, ob eine ungewollt verminderte Nahrungsaufnahme in der letzten Woche bestand oder ob eine schwere Erkrankung vorliegt. Wenn eine dieser Fragen zutrifft, wird ein differenziertes Screening angeschlossen, welches die Störung des Ernährungszustandes genauer quantifiziert. Je nachdem, ob ein Gewichtsverlust von mehr als 5% innerhalb von 3 Monaten, 2 Monaten oder 1 Monat erfolgte, oder bei entsprechender Einschränkung der Nahrungszufuhr, werden zwischen Ound 3 Punkten vergeben. Je nach metabolischem Stress werden zusätzlich zwischen O und 3 Punkte vergeben. Bei einem Alter über 70 Jahre wird ein zusätzlicher Punkt vergeben. Sollte dieser Score, der Werte zwischen O und 7 ergeben kann, kleiner als 3 sein, sollte das Screening wöchentlich wiederholt werden. Bei einem Score von 3 oder einem höheren Score liegt ein Ernährungsrisiko vor. Hier sollte gezielt eine Ernährungstherapie eingeleitet werden. Die Wichtigkeit dieses Screening wird durch die relativ hohe Prävalenz der Mangelernährung bei stationären Patienten unterstrichen. Pirlich et al. konnten 2006 in einer von der DGEM (Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin) in Auftrag gegebenen Untersuchung an ca. 2000 Patienten zeigen, dass 27% aller zur stationären Aufnahme kommenden Patienten in deutschen Kliniken unabhängig von der Versorgungsstufe Zeichen einer Mangelernährung aufweisen [2]. Während die Prävalenz einer Mangelernährung in einzelnen Patientengruppen wie bei COPD-Patienten oder Intensivpatienten bis zu 40% betragen kann, so wird sie bei allgemeinchirurgischen Patienten mit 10-15% eingeschätzt [3, 4]. In prospektiven Erhebungen waren im Wesentlichen die Diagnosen Diabetes mellitus und Mangelernährung Hauptdeterminanten für das Entstehen einer Infektion im OP-Gebiet. In einer weiteren großen europäischen, multizentrischen Studie mit über 5000 Patienten wurde bestätigt, dass die Komplikationsrate für chirurgische Patienten mit ein101
geschränktem Ernährungsstatus während des klinischen Aufenthaltes signifikant höher war und einen unabhängigen Risikofaktor für ein schlechteres Outcome darstellte [5]. Während der Einführung des DRG-Systems in den USA zeigte sich ebenso bereits vor fast 25 Jahren, dass mangelernährte Patienten eine signifikant erhöhte postoperative Komplikationsrate aufweisen [6]. Aus diesen genannten Gründen ist es sinnvoll, Risikopatienten entsprechend rechtzeitig zu identifizieren. Wie die postoperative Ernährungstherapie gestaltet wird, hängt letztlich von der Frage ab, ob sich ein komplizierter intensivmedizinischer Verlauf oder ein unkomplizierter postoperativer Verlauf bei den Patienten einstellt.
Unkomplizierter postoperativer Verlauf Ein wesentlicher Paradigmenwechsel insbesondere bei abdominalchirurgischen Patienten fand nach Verbreitung des von Kehlet et al. entwickelten Fast-Track- oder ERASKonzeptes (ERAS = enhanced recovery after surgery) statt. Das multimodale Therapiekonzept stützt sich darauf, schon präoperativ auf eine Darmspülung und ausgedehnte Darmvorbereitung vor Kolon-Eingriffen zu verzichten, die präoperative Nüchternheitsperiode auf ein Minimum zu reduzieren und bei Fehlen von Kontraindikationen (z.B. Gastroparese, Subileus, Dysphagie, etc.) sogar Glukose- oder Proteindrinks bis 2 Stunden vor Operationsbeginn zuzulassen, um die Homöostase möglichst wenig zu beeinflussen. Intraoperativ kann durch großzügige Indikation eines thorakalen Periduralkatheters auf Opioide weitgehend verzichtet werden. Weiterhin muss eine sehr liberale Volumenzufuhr vermieden werden und auf das unnötige Einlegen von Drainagen verzichtet werden. Postoperativ wird durch die Verwendung des Periduralkatheters ebenso die Gabe von Opioiden mit ihren negativen Aspekten weitgehend vermieden. Der Patient soll früh mobilisiert werden und einer frühen oralen bzw. bei entsprechender Indikation enteralen Substraten zugeführt werden. Bei unkomplizierten Eingriffen sollen bereits am Tag der Operation Trinklösungen, Joghurt oder Pudding angeboten werden. Die einzelnen Schritte des Fast-Track-Konzeptes führen in ihrer Gesamtheit nachgewiesenermaßen zu einer schnelleren Mobilisierung und Rekonvaleszenz des Patienten. Übelkeit und Darmatonien können weitgehend vermieden, bzw. vermindert werden [7-9]. Die frühzeitige Nahrungszufuhr vermindert die Dauer der postoperativen Darmatonie, beschleunigt die Toleranz gegenüber fester Kost und verkürzt die Zeitdauer bis zum vollen oralen Kostaufbau. Metabolische Konsequenzen der raschen Nahrungszufuhr sind eine Verminderung der Katabolie mit geringeren Stickstoffverlusten. Dieses ist das aktuelle Konzept bei allen Patienten mit NRS5 oder • unzufriedener Patient
Maßnahmen
• Analgesiekon zept fortführen, • ggf. Dosisreduktion erwägen
• Bedarfsmedikation geben • Überprüfung des Therapieerfolges entsprechend der Anschlagszeit des Analgetikums • ggf. Anpassung der Medikation mit Dosissteigerung • bei invasiven Verfahren: technische Überprüfung
1
Tabelle 1: Beispiel für Interventionsgrenzen nach (10].
Prädiktoren „chronischer" postoperativer Schmerzen Im Idealfall sollte schon bei Krankenbau saufnahme die erste Schmerzevaluation erfolgen, um Prädiktoren für die Entstehung chro nischer postoperativer Schmerzen zu erkennen. Die Entwicklung von chronischen Schmerzen nach einer Operation rückt seit einiger Zeit stärker in den Fokus. Von persistierenden postoperativen Schmerzen (PPS) spricht man, wenn nach normalerweise abgeschlossener Wundheilung (in der Regel 2 Monate nach einem chirurgischen Eingriff) kontinuierliche Schmerzen auftreten und sich keine andere Ursache für die Schmerzen finden lassen [11]. Für einige Operationen (Tab. 2) liegen die Inzidenzen für das Auftreten von PPS bei 10-50%. Die Inzidenz für Schmerzen der Stärke VAS>5 liegt zwischen 4-10% [11].
t
Operation
Inzidenz in %
Inzidenz VAS>S in %
Amputation
30 - 50
5 - 10
Koronare Bypass-Chirurgie
30 - 50
5 - 10
Thorakotomie
30-40
10
Mastektomie
20 - 30
5 - 10
Hernienoperation
10
2-4
Sektio
10
4
Tabelle 2: Inzidenz chronischer und starker Schmerzen nach verschiedenen Operation nach (10,11].
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In einer Reihe von prospektiven und retrospektiven Untersuchungen konnten verschiedene Risikofaktoren, die zu einer Schmerzchronifizierung beitragen können, identifiziert werden. So werden neben operationsspezifischen Risiken wie z.B. intraoperativen Nervenverletzungen, patientenbezogene prä-, intra- und postoperative Risikofaktoren unterschieden. Hierzu zählen insbesondere chronische Schmerzen vor der Operation, genetische Faktoren und Ausmaß der Schmerzen nach der Operation [12]. Aktuell fehlen Studien die untersuchten, ob sich anhand eines spezifischen Risikoprofils schon vor der Operation die Notwendigkeit und der Therapieerfolg eines analgetischen Verfahrens voraussagen lässt. Deshalb ist derzeit eine genaue Identifizierung von Risikogruppen, eine möglichst schonende Operationstechnik und eine effiziente postoperative Schmerztherapie essentiell zur Vermeidung chronischer postoperativer Schmerzen [12]. Einen Überblick über die Risikofaktoren gibt Abb. 1.
Abbildung 1: Risikofaktoren für die Entstehung postoperativer Schmerzen nach (12].
Konzepte zur postoperativen Schmerztherapie Balancierte (multimodale) Analgesie Das Prinzip der balancierten Analgesie wird seit Jahrzehnten eingesetzt, um die Analgesiequalität zu verbessern und gleichzeitig die lnzidenz von opioidassoziierten Nebenwirkungen zu senken [13]. Hierbei sollen synergistische und additive Effekte der Kombination verschiedener Analgetikaklassen, Adjuvantien und regionalanalgetischer Verfahren ausgenutzt werden. Nicht alle durchgeführten Untersuchungen bescheinigen diesem Konzept einen durchgängigen Erfolg, dennoch gibt es Studien, die zeigen, dass eine balancierte (multimodale) Analgesie zu einem besseren Patientenoutcome und einer geringeren Inzidenz von chronischen postoperativen Schmerzen führt [14,15]. Aufgrund der Komplexität der humoralen und neuronalen Stressantwort im perioperativen Setting, scheint
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ein balanciertes Vorgehen sinnvoll und wird in internationalen Guidelines zur postoperativen Schmerztherapie empfohlen [16]. Im Folgenden sollen einige Analgetika und Adjuvantien besprochen werden:
Nichtopioidanalgetika (NOPA) Zu den Nicht-Opioidanalgetika (NOPA) zählen alle traditionellen nicht steroidalen Antirheumatika (tNSAR), die Coxibe, Paracetamol und Metarnizol. Sie sind indiziert bei leichten und mittelstarken Schmerzen. Der synergistische Effekt im Rahmen der balancierten Analgesie ist für die Kombination von NOPA mit i.v. verabreichtem Morphin gut untersucht. So konnte in einer Vielzahl von Studien sowohl für tNSAR als auch für Coxibe eine signifikante Reduktion des Morphinbedarfs, der Schmerzintensität, sowie eine verminderte Inzidenz von Übelkeit, Erbrechen und Sedierung aufgezeigt werden [17-20]. Für Paracetarnol wurde ebenfalls ein geringer opioidsparender Effekt beobachtet, aber kein Einfluss auf opioidtypische Nebenwirkungen wie bei den tNSAR [17]. Mit Metarnizol konnte bei laparoskopischen Eingriffen ebenfalls die Opioiddosis vermindert werden [21]. Die klinische Relevanz der in den Studien für tNSAR belegten signifikanten Reduktion von Nebenwirkungen wird von einigen Autoren, z.B. wegen der geringen Korrelation von Übelkeit und Erbrechen und Opioiddosis als gering eingeschätzt. Ob die Kombination von tNSAR und Coxiben untereinander zu einem additiven analgetischen Effekt führt, bleibt aufgrund fehlender randomisierter Studien mit hoher Fallzahl unklar. Erst kürzlich ist eine Metaanalyse erschienen, die der Kombination von tNSAR oder Coxiben mit Paracetamol eine bessere Analgesie als der jeweiligen Einzelsubstanz nachweist [22]. Beim Einsatz eines NOPA muss eine Risiko-Nutzen-Abwägung hinsichtlich der spezifischen Risiken des jeweiligen Präparates und des Risikoprofils des Patienten erfolgen. In diesem Zusammenhang gelten für tNSAR und Coxibe als Kontraindikationen eine Niereninsuffizienz, Therapie mit ß-Rezeptorblockern, ACE-Hemmern oder Schleifendiuretika, ein nicht eingestellter arterieller Hypertonus, die dekompensierte Herzinsuffizienz und kardiovaskuläre Erkrankungen. Coxibe scheinen hinsichtlich gastrointestinaler Risiken den tNSAR überlegen zu sein. Dieser Effekt wurde insbesondere für Celecoxib nachgewiesen [23]. Insgesamt sollten tNSAR und Coxibe möglichst kurzfristig und in möglichst niedriger Dosierung angewendet werden [24]. Paracetamol ist von allen NOPA am schwächsten analgetisch wirksam, trotzdem galt es lange als das NOPA mit dem günstigsten Nutzen-Risikoprofil. In jüngster Zeit wird unter anderem angeregt durch eine Arbeit, die eine mögliche Beziehung zwischen der Einnahme von Paracetarnol im ersten Lebensjahr und dem Auftreten von Ekzemen und Asthma bronchiale postuliert, die Substanz kritisch geprüft und der Stellenwert von Paracetarnol für die postoperative Schmerztherapie in Frage gestellt [25 ,26]. Der Arbeitskreis Kinderanästhesie der deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und lntensivmedizin (DGAI) empfiehlt aus Risiko-Nutzen-Gründen und besserer analgetischen Wirksamkeit ab dem dritten Lebensmonat den perioperativen Einsatz von tNSAR (lbuprofen). Metamizol wird flächendeckend in deutschen Kliniken zur postoperativen Schmerztherapie eingesetzt. Es hat spasmolytische Eigenschaften mit guter Wirkung auf kolikartige Schmerzen. Als Nebenwirkungen treten v.a. Überempfindlichkeitsreaktionen und Hypotonien bei Bolusgabe auf. Wegen des erhöhten Risikos für eine Agranulozytose, über deren Häufigkeit es in der Literatur unterschiedliche Angaben gibt (1:3000 bis 1:500 000), ist es in vielen Ländern nicht zugelassen [27,28].
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Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin sind fester Bestandteil in der Behandlung neuropathischer Schmerzen. Sie binden an der a2ö-Untereinheit von spannungsabhängigen neuronalen Kalziumkanälen, inhibieren dadurch den intrazellulären Kalziumeinstrom, verhindern die Freisetzung exzitatorischer Transmitter und wirken so antihyperalgetisch. In systematischen Reviews von randomisierten und kontrollierten Studien konnte gezeigt werden, dass die Gabe von Gabapentin die postoperative Schmerzstärke, den systemischen Opioidverbrauch sowie die Inzidenz von opioidbedingten Nebenwirkungen senkte. Als Nebenwirkung wurde ein moderater Anstieg der Sedierung beobachtet [29,30] . Zudem hatte Gabapentin einen anxiolytischen Effekt. Über die Wirkung von Pregabalin liegen insgesamt weniger randomisierte Studien vor, allerdings konnte in mehreren Untersuchungen ebenfalls die Reduktion postoperativer Schmerzen, des Opioidverbrauchs sowie opioidinduzierter Nebenwirkungen gezeigt werden [31-33]. Zu diesem Zeitpunkt kann keine generelle Empfehlung zum Einsatz von Gabapentin und Pregabalin für die Therapie postoperativer Schmerzen gegeben werden, denn wichtige Fragen z.B. zur optimalen Dosierung und dem Applikationsintervall oder Abhängigkeit des Effektes von der Art des operativen Eingriffs sind bisher nicht eindeutig geklärt [34]. Allerdings könnten aus Sicht der Autoren beide Substanzen einen wichtigen Baustein zur Therapie von Hyperalgesiesymptomen in der postoperativen Phase oder innerhalb eines multimodalen Analgesiekonzeptes bei hohem Risiko für intraoperative Nervenverletzung (z.B. Amputation) darstellen. Bei einer postoperativ neu aufgetretenen klinisch manifesten Neuropathie nach intraoperativer Nervenverletzung sind Gabapentin und Pregabalin in jedem Fall indiziert. Ketamin Ketamin ist ein nichtkompetitiver NMDA-Rezeptorantagonist. Es besitzt zudem µ-agonistische Effekte, blockiert spannungsabhängige Natrium- und Kalziumkanäle und hemmt die Wiederaufnahme von Monoaminen. Es wird seit vielen Jahren z.B . in der Notfallmedizin zur analgetischen Therapie eingesetzt. Im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie spielt es als Monosubstanz u.a. aufgrund seiner vielen Nebenwirkungen (Hypersalivation, Sedierung, Schlafstörung, Alpträume, Halluzinationen) keine Rolle. Obwohl sich viele Studien mit der systemisch-subanästhetischen Gabe von Ketamin in Kombination mit Morphin befassten, kann bis dato keine verlässliche Aussage über deren klinische Relevanz getroffen werden. So konnte in einem kürzlich erschienenen systematischen Review randomisierter und kontrollierter Studien nur knapp gezeigt werden (6 positive versus 5 negative Studien), dass die intravenöse Gabe einer Kombination von Ketamin in niedriger Dosierung mit Morphin zu einer signifikanten Reduktion der Schmerzstärke und des Morphinverbrauchs führt [35]. Die epidurale Applikation von Ketamin wird wegen potentieller schwerwiegender Nebenwirkungen (Neurotoxizität bei repetitiver Gabe oder in Verbindung mit Konservierungsmitteln) nicht befürwortet. Insgesamt kann daher der routinemäßige Einsatz von Ketamin zur postoperativen Schmerztherapie nicht empfohlen werden [36] . Ketamin mag als Analgetikum eine untergeordnete Rolle spielen, aber es hat als NMDA Rezeptorantagonist entscheidende Vorteile bei speziellen Problemen in der postoperativen Schmerztherapie:
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Akute Opioid-induzierte Hyperalgesie Patienten, die im Rahmen einer postoperativen Schmerztherapie Opioide erhalten, können paradoxerweise ein erhöhtes Schmerzempfinden aufweisen [37] . Diesem als opioidinduzierte Hyperalgesie (OIH) bekanntem Phänomen liegt wahrscheinlich eine Up-Regulation von pronozizeptiven Prozessen im zentralen und peripheren Nervensystem zugrunde [38] . Die OIH kann durch verschiedenste Opioide, wie Fentanyl, Sufentanil und Remifentanil ausgelöst werden und führt zu erhöhten postoperativen Schmerzen trotz Erhöhung der postoperativen Opioidgaben [39] . Der zugrundeliegende Mechanismus, der zur OIH führt, ist nicht geklärt, die verfügbaren Daten lassen aber auf eine Beteiligung des glutaminergen Systems und eine Aktivierung des N-methyl-D-aspartat (NMDA) Rezeptors schließen. Einfluss auf die OIH hatten die Verabreichung von a2-Agonisten, Cyclooxygenase (COX)-2 Inhibitoren und NMDARezeptorantagonisten. In Studien wurde der positive Einfluss von Ketamin oder Dextrometorphan auf die OIH belegt [37]. Bei Patienten mit postoperativ unerwartet hohen Dosen an Opioiden ohne suffiziente Analgesie kann demnach Ketamin eingesetzt werden, um einer möglichen OIH entgegenzuwirken. Opioidtoleranz Patienten mit dauerhaft hoch dosierter Opioidtherapie, z.B. chronische oder Tumorschmerzpatienten, können im Rahmen eines operativen Eingriffs von einer systemischen Ketamintherapie (0,2-0,5mg/kg Bolus, 2-4µg/kg/min über mehrere Tage) profitieren [24,34]. Prophylaxe chronisch persistierender postoperativer Schmerzen Der Prophylaxe von chronisch persistierenden Schmerzen nach Operationen kommt eine besondere Bedeutung zu. Die Entstehung von PPS ist multifaktoriell bedingt, allerdings konnte in einer Untersuchung gezeigt werden, dass die intraoperative Verabreichung von Ketamin zusätzlich zur epiduralen Analgesie geringe Effekte auf die unmittelbare postoperative Schmerzstärke hatte, aber die Inzidenz von chronischen Schmerzen signifikant reduziert wurde [40].
Periphere Nervenblockaden und Periduralanalgesie Periphere und zentrale Nervenblockaden gelten als effektivste Analgesieverfahren im Rahmen von balancierten Konzepten und haben zusätzlich einen günstigen Einfluss auf die perioperative Stressantwort im Gegensatz zur systemischen Analgetikagabe [1]. Ob die perioperative Schmerztherapie mit Nervenblockaden das globale Patientenoutcome verbessern kann, ist trotz vieler systematischer Reviews immer noch nicht geklärt. Allerdings sind für einzelne regionalanalgetische Verfahren positive Effekte beschrieben, die über die reine Analgesie hinausgehen. Einen Überblick hierüber gibt die Tabelle 3.
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Puslttve Effekte von peripheren und zentralen Nervenblockaden Periduralanalgesie (PDA) [41--45] • Analgesie: niedrigere postoperative Schmenscores für Periduralanalgesie in Ruhe und bei Belastung im Vergleich zu systemischen Opioiden • Kardiovaskuläc: reduziertes Risiko für Arrythmien und Myokardinfarkte (Thorakale PDA bei Hochrisikopatienten) • Gastrointestinal: frühere Rückkehr der gastrointestinalen Funktion, weniger postoperativer Ileus (Thorakale PDA in der Viszeralchirurgie) • Pulmonal: geringeres Risiko für das Auftreten von pulmonalen Komplikationen (Thorakale PDA bei Hochrisikopatienten) • Tumorrezidiv: reduziertes Risiko für ein Tumorrezidiv nach Prostatektomie
Periphere Nervenblockaden [46-48] • Analgesie: niedrigere Schrnerzscores für periphere Nervenblockaden im Vergleich zu systemischen Opioiden • Rehabilitation: frühe funktionelle Erholung und kilnerer Krankenhausaufenthalt (zumeist Studien bei orthopädischen Patienten)
Paravertebrale Analgesie [49 ,50] • Analgesie: niedrigere Schmenscores für paravertebrale Blockaden im Vergleich zu systemischen Opioiden • Pulmonal: geringeres Risiko für postoperative Pneumonien bei thorakotomierten Patienten • Tumorrezidiv: reduziertes Risiko für ein Tumorrezidiv nach Mammakaninom Tabelle 3: Positive Effekte von peripheren und zentralen Nervenblockaden adaptiert nach [4] .
Ultraschallgesteuerte Nervenblocka.den In den letzten Jahren hat die Technik der ultraschallgesteuerten Nervenblockade immens an Popularität gewonnen. Im Gegensatz zur traditionellen Methode, die sich an anatomischen Landmarken orientiert und mehr oder weniger blind, mit und ohne Nervenstimulator durchgeführt wird, ist es mit Ultraschall möglich, sich das Zielgebiet in Echtzeit zu visualisieren. Dies kann zu höheren Erfolgsraten an suffizienten Nervenblockaden und zu schnelleren Anschlagszeiten führen [51,52]. Ob sich Komplikationen, wie z.B. Nervenschäden durch den Einsatz von ultraschallgesteuerten Nervenblockaden verringern lassen, ist bisher nicht geklärt (53,54].
Neue Behandlungsansätze Kontinuierliche Wundinfiltration mit Lokalanästhetika Die subkutane oder schichtweise Wundinfiltration mit Lokalanästhetika ist ein lang etabliertes und wirksames Verfahren in der postoperativen Schmerztherapie. Allerdings ist der analgetische Effekt durch die Wirkdauer des Lokalanästhetikums begrenzt (typischerweise 4-8 Stunden). Kombinationen von Lokalanästhetika mit Morphin und/oder Clonidin konnten die analgetische Wirksamkeit bis auf fast 24 Stunden verlängern (55]. Durch den Operateur subkutan in die Wunde oder respektive in das Gelenk eingelegte Katheter stellen eine einfach durchzuführende, effektive Weiterentwicklung dieser Technik dar. Wundkatheter werden bisher überwiegend in der Orthopädie und in der Allgemeinchirurgie eingesetzt. Neben einer Reduktion des Schmerzniveaus konnte eine Verminderung des Opioidbedarfs gezeigt werden [56] . In Verbindung mit z.B. Einmal-Elastomerpumpen könnte die kontinuierliche Wundinfiltration vor allem in der ambulanten Gelenkchirurgie zur Verbesserung der postoperativen Schmerztherapie führen [57,58]. Insgesamt scheint es sich um ein sehr effektives und nebenwirkungsarmes Verfahren zu handeln, ein vermehrtes Auftreten von Wundinfekten oder Wundheilungsstörungen wurde nicht beobachtet. Eine wichtige Nebenwirkung ist die intraartikuläre Chondrolyse, die in Zusammenhang mit dem Gebrauch von Bupivacain zu stehen scheint (59].
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Depot Lokalanästhetika In vielen tierexperimentellen Studien wurden für sog. Extended-Release-Lokalanästhetika deren verlängerte Wirkdauer über mehrere Tage gezeigt. Hierbei wurden verschiedene pharmokotechnische Methoden wie Enkapsulierungen mit z.B. Liposomen oder Hydrogelen eingesetzt, die während Ihres biologischen Abbaus, zu einer stetigen Freisetzung der enthaltenen Lokalanästhetika führen [60,61]. In wenigen klinischen Studien konnte ebenfalls die verlängerte Wirkdauer bestätigt werden [62]. Allerdings gibt es Bedenken hinsichtlich der Myo- und Neurotoxizität der neuen Lokalanästhetikaformulierungen [63]. Weitere Studien zur Beurteilung der Sicherheit und Verträglichkeit sind nötig, bevor Depot-Lokalanästhetika klinisch eingesetzt werden können. Trotz intensiver Forschung ist bisher noch kein Präparat für den klinischen Gebrauch außerhalb von Studien zugelassen. Verwendung retardierter Opioide zur postoperativen Schmerztherapie Erst kürzlich konnte in einer Studie gezeigt werden, dass gerade Patienten nach kleinen und mittleren Operationen, wie Appendektomien, Cholezystektomien, Metallentfernungen oder Strumektomien, unter nichtakzeptablen postoperativen Schmerzen leiden [3] . Die Anwendung von aufwendigen, intravenösen oder regionalen Analgesieverfahren oder die Betreuung über einen Akutschmerzdienst ist jedoch bei diesen Patienten nur in Ausnahmefällen vorgesehen. Die alleinige Gabe von NOPA oder schwachen (WHO2) Opioiden ist häufig in der akuten postoperativen Phase nicht ausreichend. Um diese Patienten trotzdem adäquat analgetisch zur versorgen, wurde von einigen Autoren die orale Gabe von retardierten Opioiden in Kombination mit NOPA vorgeschlagen [34,64]. Für eine sichere und effektive Anwendung eines solchen Konzeptes ist eine gute Schulung des Personals hinsichtlich Schmerzerhebung, Erkennen von Nebenwirkungen und zum Vorgehen bei Komplikationen von größter Wichtigkeit. Eine mögliche Form der Umsetzung des Konzeptes soll an dieser Stelle kurz dargestellt werden: In interdisziplinärer Zusammenarbeit wurden im Qualitätszirkel Akutschmerztherapie unserer Klinik Schmerztherapiestandards für die jeweiligen operativen Kliniken entwikkelt. Diese Standards enthalten eine Stufeneinteilung, die sich an der zu erwartenden postoperativen Schmerzstärke orientiert. In Stufe 1 (erwartete Schmerzstärke NRSs3) werden regelhaft Nichtopioidanalgetika entsprechend ihrer Kontraindikationen gegeben. Für Stufe 2 (erwartete Schmerzstärke NRS 3 - 5) kommen zusätzlich zur Stufe 1 intravenös verabreichtes Piritramid als Kurzinfusion bei Nahrungskarenz oder ein orales retardiertes Opioid mit einem oralen unretardierten Opioid als Bedarfsmedikation zum Einsatz. In Stufe 3 (erwartete Schmerzstärke NRS>5) erfolgt eine Dosisanpassung der verwendeten Opioide oder der Einsatz eines regionalanalgetischen Verfahrens wenn möglich. Aufgrund der günstigen pharmakologischen Eigenschaften fiel die Wahl auf Oxycodon als nicht retardiertes Opioid. Als Bedarfsmedikation zur Behandlung von Schmerzspitzen wird unretardiertes Morphinhemisulfat verwendet. Praktisches Vorgehen Die Patienten erhalten schon vor der Operation bzw. spätestens kurz vor Beendigung des operativen Eingriffs ein NOPA. Im Aufwachraum werden Schmerzen über NRS 4 mit Piritramid titriert, bis ein Analgesieniveau von NRS3 in Ruhe oder NRS>5 bei Belastung wird gemäß des Stufenstandards Piritramid als Kurzinfusion oder orales Morphinhemisulfat verabreicht und 30 bis 45 Minuten später nochmals die Schmerzstärke kontrolliert. Falls dauerhaft Schmerzen über NRS 3 in Ruhe bzw. NRS 5 bei Belastung
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bestehen, wird zusätzlich zur Bedarfsmedikation Oxycodon 10mg morgens und abends angesetzt. Entsprechend der gemessenen Schmerzstärken wird, anhand der schon vorher beschriebenen Interventionsgrenzen, die analgetische Therapie fortlaufend dem aktuellen Bedarf angepasst.
Prozedurenspezifische Analgesiekonzepte Die Effektivität und Anwendbarkeit von analgetischen Verfahren hängt von der Art des operativen Eingriffs ab [65]. Hierauf begründet sich das Konzept der prozedurenspezifischen Analgesie und bezeichnet die Ausarbeitung von speziellen Therapieschemata für bestimmte operative Eingriffe, auf der Grundlage von evidenzbasierten Erkenntnissen. Eine internationale Expertengruppe aus Anästhesisten und Chirurgen hat dies als „procedure specific postoperative pain therapy" PROSPECT Projekt maßgeblich vorangetrieben [66]. Die von der PROSPECT-Gruppe entwickelten Therapieempfehlungen beruhen auf systematischen Literatursuchen und Datenanalysen, die in einem Konsensusprozess ausgewertet und hinsichtlich Praktikabilität, Risiko-Nutzen-Abwägung und aufgrund von klinischer Erfahrung bewertet wurden. Die Empfehlungen sind auf der Website http:// www.postoppain.org abrufbar. Die aktuelle S3-Leitlinie zur Behandlung postoperativer und posttraumatischer Schmerzen basiert in weiten Teilen ebenfalls auf Erkenntnissen über prozedurenspezifische Analgesieverfahren [5]. Beide Therapieempfehlungen sind eine hilfreiche Grundlage für die Erstellung klinikeigener Behandlungsstandards. Eine vollständige Umsetzung (für kleine und große operative Eingriffe) der Leitlinien in die Klinik erscheint nicht möglich. Vielmehr sollten prozedurenspezifische Analgesiekonzepte für ausgewählte oder häufig an einer Klinik durchgeführte operative Eingriffe etabliert werden, die zudem an die lokalen Gegebenheiten einer Klinik angepasst sind [67]. Im Folgenden soll anhand der Prozedur „Knie-Totalendoprothese" ein Beispiel für die Umsetzung und Anpassung eines prozedurenspezifischen Analgesiekonzeptes aus der eigenen Klinik gegeben werden: Die Mehrzahl der Knie-TEPs ist sehr schmerzhaft und verlangt die kontinuierliche Anwendung eines Regionalanästhesieverfahrens. In der S3-Leitlinie zur Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen wird folgendes intra- und postoperatives Analgesiekonzept bei Knie-TEP empfohlen (Tab. 4).
1. Wahl
Zur postoperativen Analgesie bei Knie-TEPs kann ein peripheres Doppelkatheterverfahren (Plexus lumbalis und sacralis bzw. N . femoralis und N . ischiadikus) empfohlen werden. GoR: A
2.Wahl
Alternativ kann ein Femoraliskatheter empfohlen werden. GoR: A
3. Wahl
Alternativ kann eine Periduralanalgesie empfohlen werden. GoR: A
4.Wahl
Sollte keines dieser Verfahren zur Anwendung kommen können, wird eine i.v. PCA zur postoperativen Schmentherapie empfohlen.
Die postoperative Gabe von Nichtopioiden wird empfohlen. GoR: A Tabelle 4: Analgesie bei Knie-TEP nach [5].
Doppelkatheterverfahren Über 2 Jahre wurden in unserem Klinikum Patienten mit Knie-TEPs gemäß der S3-Leitlinie mit einem Doppelkatheterverfahren bestehend aus inguinalen N. femoralis Katheter und anteriorem N. ischiadikus Katheter versorgt. Beide Katheter wurden mit einer Pumpe 180
zur kontinuierlichen Applikation von Ropivacain 2mg/ml bestückt. Die Laufrate beider Pumpen war standardmäßig auf 6ml/h mit der Möglichkeit der 20-minütigen Bolusgabe von 4ml eingestellt. Dies entspricht einer maximal möglichen Menge von 72mg Ropivacain pro Stunde bei Ausnutzung aller Boli. Der inguinale N. femoralis Katheter wirkt besonders auf Schmerzen auf der Knievorderseite, während der anteriore N. ischiadikus Katheter das rückwärtige Knie analgetisch versorgt. Entsprechend wurden die Bolusgeber der Schmerzmittelpumpen mit „vorne" und „hinten" beschriftet, um den Patienten die Möglichkeit zu geben, ihre Schmerzen effektiver zu bekämpfen. Zusätzlich erhielten die Patienten unter Beachtung der Kontraindikationen ein NOPA und als Rescuemedikation 10mg Morphinhemisulfat. Mindestens zweimal täglich und bei Bedarf erfolgte die Betreuung der Patienten durch den Akutschmerzdienst der Klinik. Hierbei wurden je nach Schmerzmessung und klinischem Bild, die Konzentration des Lokalanästhetikums und die Laufraten angepasst. Die Analgesiequalität durch dieses Doppelkatheterverfahren war bis auf wenige Ausnahmen sowohl in Ruhe als auch bei Belastung gut. Aber es traten auch Probleme auf: Lokalanästhetikadosisgrenzen Wenn zwei Katheter parallel kontinuierlich betrieben werden, gelangt man unweigerlich an die zugelassene Höchstdosis für das Lokalanästhetikum. Aggraviert wird dieses Problem noch, wenn man aufgrund einer unzureichenden sensorischen Blockade, die Konzentration des Lokalanästhetikums steigert oder bei ungenügender Ausbreitung der Blockade die kontinuierliche Laufrate erhöht. Motorblockaden Es traten häufig motorische Blockaden auf, die die Mobilisation und die aktive Physiotherapie der Patienten beeinträchtigten. Zudem sorgte die „Lähmung" einer Extremität bei einigen Patienten für ein ungutes Gefühl und störte die Compliance. lnjektiologisches Risiko Ein Doppelkatheterverfahren birgt per se ein erhöhtes Risiko für eine Infektion einer der beiden Kathetereinstichstellen. Aufgrund der genannten Probleme und vor allem wegen der Beeinträchtigung der Physiotherapie durch partielle Motorblockaden wurde das Analgesiekonzept angepasst: Inguinaler N. femoralis Katheter in Kombination mit retardierten Opioiden Im interdisziplinären Konsens wurde der Verzicht auf die Anlage eines N. ischiadikus Katheters beschlossen. Die Patienten erhalten gegenwärtig einen inguinalen N. femoralis Katheter und morgens und abends 10mg retardiertes Oxycodon. Zusätzlich wird unter Beachtung der Kontraindikationen ein NOPA verabreicht und als Rescue Analgetikum 10mg Morphinhemisulfat. Die Betreuung der Patienten und die Adjustierung von Lokalanästhetikakonzentration und Laufrate sowie die Anpassung der systemischen Opioidgabe erfolgt weiterhin über den Akutschmerzdienst. Folgende Vorteile haben sich aus der Konzeptänderung ergeben: Analgesie Die analgetische Qualität der Patientenversorgung nach Knie-TEP hat sich durch den Austausch des N. ischiadikus Katheters gegen retardiertes Oxycodon nicht nachteilig verändert. Lokalanästhetikadosisgrenzen Durch die kontinuierliche Bestückung nur eines Katheters ist man in der Wahl der Lokalanästhetikakonzentration flexibel. Je nach Schmerzstärke und Lokalisation kommen Konzentrationen von 1,5 bis 3,3mg/rnl Ropivacain zum Einsatz. Der Effekt des N. femoralis Katheters kann dadurch optimal ausgenutzt werden.
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Motorblockaden Die Rate von motorischen Blockaden ist stark gesunken. Wenige Patienten berichten abhängig von der Lokalanästhetikakonzentration, von einer Schwäche im M. quadriceps femoris und einer damit verbundenen Unsicherheit beim Stehen und Gehen.
Dieses Beispiel soll zeigen, dass ein prozedurenspezifisches Konzept auch wenn es evidenzbasiert ist, an den spezifischen Kontext einer Klinik dynamisch angepasst werden muss.
Zusammenfassung Trotz vieler Fortschritte in der Grundlagenforschung, dem breiten Angebot an Analgetika und Analgesietechniken und der Erarbeitung von Leitlinien, ist die postoperative Schmerztherapie nach wie vor verbesserungswürdig. Der Schmerzmessung und der zeitnahen und analgetisch adäquaten Reaktion darauf kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu. Nur so wird ein balanciertes oder prozedurenspezifisches Analgesiekonzept erfolgreich sein. Anhand der Empfehlungen aus dem PROSPECT-Projekt und der S3-Leitlinie zur Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen lassen sich eigene, an die jeweiligen Erfordernisse und Möglichkeiten der einzelnen Klinik angepasste, evidenzbasierte Behandlungsstandards erstellen. Durch neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung und klinische Untersuchungen rückten in den letzten Jahren altbekannte und neue Medikamentenklassen als Adjuvantien in der postoperativen Schmerztherapie in den Fokus. So gibt es für die beiden Antikonvulsiva Pregabalin und Gabapentin und auch für Ketamin Einsatzmöglichkeiten im Rahmen von hyperalgetischen postoperativen Schmerzzuständen. Ein weiterer interessanter Ansatz ist die Anwendung von Wund- oder intraartikulären Kathetern, die mit Lokalanästhetika bestückt werden können.
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Update - Chronische Schmerzen M. KARST
Zusammenfassung Chronische Schmerzen treten mit einer Punktprävalenz von 17% in Deutschland häufig auf und können auch zu einer eigenen Erkrankung werden durch neuroplastische Vorgänge, die Lernvorgängen ähneln. Dabei spielen somatische, psychologische und soziale Faktoren in gleichberechtigter Verwobenheit eine bedeutsame Rolle. Aus diesem Grund ist eine sorgfältige Evaluation des Zusammenspiels dieser Faktoren der entscheidende Schritt für eine erfolgreiche Therapie, weshalb nicht von „Schmerztherapie", sondern von „Schmerzmedizin" gesprochen werden sollte. Idealerweise führen multimodale Ansätze zu einem erfolgreichen Therapieergebnis, wobei häufig eine hohe Behandlungsdichte und viel Behandlungszeit notwendig sind, und die Schmerzlinderung nicht das einzige oder erste Ziel ist, sondern die erfolgreiche Integration der Symptomatologie. Neue Erkenntnisse über pathophysiologische Vorgänge, die mit chronischen Schmerzen assoziiert sind, haben zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung medikamentöser und nicht-medikamentöser Strategien geführt, die individuelle Faktoren berücksichtigen. In Zukunft können Therapieentscheidungen an neu identifizierten Biomarkern ausgerichtet werden.
Epidemiologie Es gibt eine Vielzahl von chronischen Erkrankungen, die nicht ursächlich behandelbar sind und die mit Schmerzen einhergehen können. Die Punktprävalenz chronischer Schmerzen liegt in Deutschland bei 17%, europaweit bei 19%. Das sind in Europa 129 Millionen Menschen, in Deutschland 12 Millionen. Mehr als 80% der Deutschen klagen mindestens einmal im Leben über Rückenschmerzen. Schmerzen kosten nicht nur Lebensqualität, sondern auch viel Geld. Die USA geben jährlich mehr als 210 Milliarden Dollar hierfür aus . In Deutschland werden die indirekten Kosten für Rückenschmerzen und Kopfschmerzen durch Arbeitsausfälle und frühzeitige Berentung auf jährlich etwa 18 Milliarden Euro geschätzt, für chronische Schmerzen insgesamt auf bis zu 29 Milliarden Euro. Schmerzen kosten auch das Leben. Das Selbstmordrisiko von Patienten mit chronischen Schmerzen ist mindestens doppelt so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt. 70% aller Patienten mit chronischen Schmerzen werden von ihrem Hausarzt betreut. 27% sind in der Behandlung eines Orthopäden. Nur 2% sind schmerzmedizinisch betreut. In Deutschland stehen den etwa 1.000 000 chronisch Schmerzkranken, bei denen der Schmerz selbst zur Erkrankung geworden ist, nur knapp 1.500 Schmerzmediziner gegenüber. Es wird von einer Unterversorgung in der Größenordnung von etwa 2.500 Einrichtungen ausgegangen. Es gibt in Deutschland keinen Facharzt für Schmerzmedizin. Das Fach „Schmerzmedizin" ist bislang nicht als eigenes Fach in den Fächerkanon des Medizinstudiums aufgenommen worden, soll aber zukünftig zusammen mit dem Querschnittsfach „Palliativmedizin" im Ausbildungskatalog aufgeführt werden [ 1] .
Pathophysiologie Chronische Schmerzen können durch neurobiologisch verankerte Lernvorgänge zu einer eigenständigen Erkrankung werden. Hierzu gehören funktionelle und strukturelle Veränderungen, die sowohl mit einem verstärkten Aktivierungsmuster von verschiedenen mit 185
dem Schmerzempfinden assoziierten Gehirnarealen und mit einer Veränderung der zentralen Somatotopie einhergehen [2]. Aber auch im peripheren Nervensystem kann es zu anhaltenden Aktivierungsmustern kommen, die zur Aufrechterhaltung des Schmerzzustandes beitragen [3]. Aus diesem Grund umfasst der Begriff „Schmerzgedächtnis" das gesamte System, das noxische Reize verarbeitet. Ob und in welchem Ausmaß die skizzierten Sensibilisierungsvorgänge entstehen, ist abhängig von somatischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Verschiedene Gen-Polymorphismen, wie z.B. der Katechol-0-Methyltransferase-Polymorphismus oder derµ 1-0pioidrezeptor-Polymorphismus können gegenseitig sich verstärkend oder neutralisierend zur Schmerzsensibilisierung beitragen [4]. Auf der epigenetischen Ebene ist das Ausmaß an Methylierung des NR3Cl-Promotorgens für die Expression von Glucocorticoidrezeptoren im Hippocampus verantwortlich und damit für das Ausmaß an Stressresistenz [5]. Dabei handelt es sich um eine Gen-Umwelt-Interaktion, da die epigenetische Regulation während vulnerabler Phasen von Umweltfaktoren abhängt. Hier spielen auch geschlechts bezogene Faktoren eine bedeutsame Rolle. Dies könnte erklären, warum Frauen etwa zwei Mal häufiger von chronischen Schmerzen betroffen sind als Männer [6]. Soziale Ausgrenzung und Zurückweisung führen ähnlich wie physikalische Reize zu einer Aktivierung des medialen Schmerzsystems im Gehirn (anteriorer Gyrus cinguli, anteriore Insula, medialer präfrontaler Cortex) [7]. Hieraus ergibt sich ein Erklärungsmodell für die Entstehung psychogener Schmerzanteile. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass noxische Reize und Stress zur Überexpression proinflammatorischer Zytokine im Gehirn im Sinne einer zentralen Neuroinflammation führen können, wodurch chronische Schmerzen und Depression entstehen und aufrecht erhalten werden können [8].
Therapierahmen Die exakte Diagnostik von Schmerzen ist die entscheidende Voraussetzung für erfolgreiche Therapieansätze. Die wesentliche Tätigkeit eines Arztes für Schmerzmedizin besteht in diagnostischer Aktivität. Deshalb sollte nicht von „Schmerztherapie" gesprochen werden, sondern von „Schmerzmedizin". Die Schmerzanamnese orientiert sich an dem biopsychosozialen Modell. Während die biomedizinische Vorgehensweise nach den mit dem Schmerz verbundenen strukturellen Veränderungen fragt, orientiert sich die biopsychosoziale Vorgehensweise vor allem an der Frage nach der Funktion und damit nach der betroffenen Person. Also nicht nur „Um was für Schmerzen handelt es sich?", sondern auch „Wer hat diese Schmerzen?" bzw. ,,Wie „funktioniert" diese Person?". Selbst bei überwiegend körperlich begründeten Schmerzen kommt es zu umfassenden psychosozialen Wechselwirkungen, Veränderungen des Lebensstils und einer Interpretation der Situation durch den Patienten abhängig von seinen Überzeugungen. In experimentellen Untersuchungen konnte deutlich herausgearbeitet werden, dass schon vorbestehende Erwartungen und Überzeugungen an der Entscheidung mitwirken, ob ein Reiz als schmerzhaft oder harmlos bewertet wird [9]. Der Patient muss sich „erkannt" fühlen. Bei der Therapie sollten Präferenzen des Patienten und des Behandlers Berücksichtigung finden. Gegenseitige Überzeugungen, das Richtige zu tun, ist ein wichtiges Therapieprinzip. Entsprechend beginnt mit dem Erstgespräch die Therapie, indem folgende Interventionen zum Einsatz kommen: • Interpersonale (den Schmerz und den Patienten annehmen) • Edukative (Ringen um die Krankheitssicht) • Motivationale (die Selbstwirksamkeit steigern) Die Reduktion des Schmerzes ist dabei auch Mittel zum Zweck: Entscheidend ist der Wechsel der Sichtweise von einem rein kurativen oder symptomatischen Ansatz zu einem 186
eigenverantwortlichen rehabilitativen Ansatz. Günstig sind strukturierte Programme einer multimodalen Therapie mit einer hohen Behandlungsdichte von mehr als 100 Stunden mit explizit interdisziplinärem und integrativem Ansatz verbunden mit Teamsitzungen, die Fokussierung auf die Wiederherstellung der körperlichen und sozialen Funktionsfähigkeit sowie die Nutzung verhaltens- und psychotherapeutischer Prinzipien. Im Zusammenhang mit tagesklinischen Ansätzen ist auch die therapeutische Wiederholungswoche 10 Wochen nach Abschluss der Behandlung (Boosterbehandlung) zu empfehlen [10).
Medikamentöse Therapie Die Pharmakotherapie in der Schmerzmedizin ist in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich differenzierter geworden. Insbesondere die klinische Unterscheidung in nozizeptive, neuropathische und inflammatorische Schmerzsyndrome führt zu unterschiedlichen pharmakologischen Ansätzen. Während nozizeptive Schmerzen meist mit Nicht-Opioid-Analgetika, wie z.B. nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), und Opioiden, wie etwa Buprenorphin, behandelt werden, stehen bei neuropathischen Schmerzen Antidepressiva, insbesondere Trizyklika und balanzierte Noradrenalin- und Serotoninwiederaufnahmehemmer (SNRI), und Antikonvulsiva, namentlich Gabapentinoide (Gabapentin, Pregabalin), Inhibitoren neuronaler spannungsabhängiger Calciumkanäle, als Substanzen der ersten Wahl zur Verfügung. Opioide mit einem so genannten dualen Wirkprinzip (Aktivierung von Opioidrezeptoren und monoaminerge Effekte), wie Tramadol und Tapentadol, ergänzen das Armenatrium gegen neuropathische Schmerzen. Bei Symptomen der Allodynie haben sich auch topische Therapieformen (Pflaster) etabliert, wie Lidocain 5% und Capsaicin 8% mit Effektstärken vergleichbar denjenigen einer systemischen Pharmakotherapie. Bei inflammatorischen Schmerzsyndromen werden neben NSARs auch Steroide und andere so genannte Disease Modifying Antirheumatic Drugs (DMARDs) eingesetzt. Diese Entwicklungen sind bedeutsam, da gerade neuropathische Schmerzen sehr häufig vorkommen, und einige der genannten Substanzen von Erkenntnissen über ihren Wirkmechanismus in präklinischen Modellen ausgehend entwickelt worden sind. Trotzdem können - auch bei Verwendung von Kombinationen - kaum mehr als 50% der Betroffenen zufriedenstellend gelindert werden [11). Nicht tolerable Nebenwirkungen können weitere Gründe sein, warum die genannten Substanzen nicht erfolgreich eingesetzt werden können. Aus diesem Grund werden auf einer Off-Label-Ebene u.a. NMDA-Rezeptorantagonisten (z.B. Amantadin), Cannabinoide (z.B. THC/CBD-Kombination), TNFalpha-Blocker (z.B. Infliximab) und Microgliamodulatoren (z.B. Pentoxifyllin) verwendet in der Hoffnung einen der mindestens zehn identifizierten neurobiologischen Mechanismen zu beeinflussen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen beitragen. Darüber hinaus kann die geschickte Medikamentenkombination dazu führen, dass Opioiddosen gesenkt und Toleranz gegenüber Opioiden reduziert werden können, ein nicht unerhebliches Problem, das zur Empfehlung eines zurückhaltenderen Umgangs mit Opioden bei gutartigem Hintergrund geführt hat [12). Abgeleitet aus epidemiologischen und Surrogat-Untersuchungen erscheinen auch Substanzen, die als Nahrungsergänzungsmittel zur Verfügung stehen, wie Vitamin D und Omega3-Fettsäuren, hilfreich zu sein [13,14). Ähnlich wie in der Entwicklung der Krebstherapie, in der genetische und andere spezifische Faktoren eine Vielzahl spezifischer Therapieformen hervorgebracht haben, ist auch in der Schmerzmedizin zu beobachten, dass zielgerichtete und Kontext abhängige Therapiemöglichkeiten entwickelt werden, die nicht alleine das Symptom und die Symptomintensität, sondern auch die dem Symptom zugrunde liegenden Ursachen adressieren [15). Entscheidend für diesen Weg ist nicht nur die Identifizierung der neurobiologisch deter187
minierten Schmerzentstehungsmechanismen, sondern auch ihre Darstellung in Form von Biomarkern. Die Entdeckung bisher unbekannter neurobiologischer Mechanismen kann direkt in die Erforschung dazu passender pharmakologischer Strategien münden. Ein Beispiel hierfür ist die Beobachtung, dass überwiegend periphere Cannabinoidrezeptoren zur Aufrechterhaltung neuropathischer Schmerzzustände zuständig sind [16]. Klinische Untersuchungen bei Patienten mit chronischen neuropathischen Schmerzen, die mit einem synthetischen Cannabinoid behandelt worden sind, das nur eingeschränkt die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann, konnten diesen Befund bestätigen [17]. Denkbar ist auch die gezielte Überprüfung bereits bekannter für andere Indikationen zugelassene oder die Untersuchung bisher nicht zugelassener Substanzen auf ihre Eignung, spezifisch schmerzhafte Syndrome zu beeinflussen. Ein Beispiel hierzu ist die Beobachtung dass die Einnahme von nur drei Dosen 2-Bromo-LSD (BOL) chronische Clusterkopfschmerzen beenden kann, ein Effekt, der über viele Monate hinweg anhält [18].
Nicht-medikamentöse Therapie Die wichtigsten nicht-medikamentösen symptomatischen Therapieverfahren in der Behandlung chronischer Schmerzzustände sind psychologische Ansätze, Physiotherapie, komplementärmedizinische Verfahren und Methoden der (elektrischen) Neurostimulation. Gemeinsam ist diesen Verfahren, dass sie unter Ausnutzung von Neuroplastizität auf Veränderungen neuronaler Netzwerke abzielen. Auf der psychologischen Ebene wird insbesondere die Beeinflussung ungünstiger Überzeugungen und nachteiliger Copingstrategien angestrebt, wobei mit der Einführung der ICD-10-Diagnose F45 .41 (chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren) eine Situation erreicht worden ist, in der die ungerichtete Verwobenheit zwischen somatischen, somatisch-funktionellen und psychischen Anteilen am Schmerzgeschehen anerkannt wird, was auch eine Entlastung der Behandler darstellt, da der „intrapsychische Konflikt" und die daraus kausal abgeleitete Körpersymptomatik nicht mehr gefunden oder herausgearbeitet werden muss. Im Zusammenhang mit den oben dargestellten multimodalen Programmen ist deutlich geworden, dass längere Behandlungen (mehr als 100 h) zu nachhaltigeren Therapieergebnissen führen . Interessant ist die Beobachtung, dass tägliches Entspannungstraining ,,Antistressgene" aktivieren kann, so dass sich das Aktivierungsmuster im Verlauf demjenigen von in Entspannung erfahrenen Personen angleicht [19]. Mit Biofeedbacktechniken lassen sich auch bei Personen, denen das Entspannen schwer fällt, noch gute und nachhaltige Effekte erzielen [20]. Es wird daran gearbeitet, spezifische, dem Schmerzempfinden entsprechende Gehirnaktivitäten über funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) in Echtzeit dem Betroffenen zurückzumelden, um mit Hilfe dieser spezifischen Biofeedbacksignale größere und nachhaltigere Therapieeffekte zu erreichen [21]. In der Physiotherapie sind neben dem Einsatz von aerobem Training und muskelstabilisierenden Ansätzen in den letzten Jahren vermehrt Faszientechniken in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Dieser Ansatz deckt sich mit den Erkenntnissen über die Bedeutung der Muskelfaszien in der Entstehung und Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates [22]. Darüber hinaus können als „Einstieg" in die Schmerzbehandlung häufig auch manuelle Therapie, klassische Massagetherapie und Thermotherapie sinnvoll Verwendung finden. Die Erkenntnisse zur Neuroplastizität haben dazu geführt, dass propriozeptive und posturale Techniken bis hin zur Spiegeltherapie das rehabilitative Armentarium bereichern. Kaum eine komplementärmedizinische Behandlungsmethode wurde in den letzten zwei Jahrzehnten so intensiv erforscht wie die Akupunktur. Hierbei zeigte sich, dass die Effekte des komplexen Verfahrens „Akupunktur" sowohl durch intrinsische (Nadelreiz) als 188
auch durch unspezifische Faktoren (Tasten, Hören, Sprechen) hervorgerufen werden. Dabei kann der therapeutische Gesamteffekt dem Effekt eines Standardverfahrens überlegen sein, wie es für die chronische Lumbago gezeigt worden ist [23,24]. Neuerdings belegen experimentelle Untersuchungen auch lokalanästhetische [25] und immunologische [26] Effekte von Akupunktur und deuten damit auf eine evolutionär entstandene nach innen verlagerte Antwortmöglichkeit des Organismus auf Einwirkungen, die die Körperintegrität verletzen. Der chronische Clusterkopfschmerz ist ein gutes Beispiel für das Spektrum von in Frage kommender Neurostimulationsverfahren. Sowohl die periphere Nervenstimulation des N. occipialis maior als auch die epidurale Neurostimulation des cervicalen Bereichs und die Tiefenhirnstimulation konnten in kleinen Fallserien erfolgreich angewendet werden [27]. Aktuell wird innerhalb von klinischen Studien die Stimulation des Ganglion pterygopalatinum durchgeführt, bei der attackenabhängig die Stimulation ausgelöst wird [27]. Allerdings sind diese invasiven Verfahren mit teilweise erheblichen Risiken verbunden und mit Unsicherheiten in Bezug auf ihre Langzeiteffekte.
Fazit und Ausblick Es ist besser verstanden worden, dass chronische Schmerzen durch eine Vielzahl miteinander verwobener Faktoren entstehen und aufrechterhalten werden verbunden mit auf dem Boden der Neuroplastizität statt findenden Veränderungen im Nervensystem ähnlich wie bei Lernvorgängen. Diese komplexen Vorgänge erfordern einen multimodalen Therapieansatz mit vielen Behandlungsstunden. Darüber hinaus sind die therapeutischen Möglichkeiten vielfältiger und differenzierter geworden. Zu erwarten ist, dass die diagnostischen Möglichkeiten zunehmen und daraus abgeleitet spezifische Behandlungsoptionen entwickelt werden, welche genetische und weitere individuelle Faktoren berücksichtigen.
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