Reformation ist Umkehr: Rechtfertigung, Kirche und Amt in der Reformation und heute - Impulse aus kritischer Gegenüberstellung [1 ed.] 9783788731885, 9783788731045, 9783788731038


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Reformation ist Umkehr: Rechtfertigung, Kirche und Amt in der Reformation und heute - Impulse aus kritischer Gegenüberstellung [1 ed.]
 9783788731885, 9783788731045, 9783788731038

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Werner Führer

Reformation ist Umkehr Rechtfertigung, Kirche und Amt in der Reformation und heute – Impulse aus kritischer Gegenüberstellung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3104-5 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Andrea Töcker, Neuendettelsau

Inhalt

1. Was heißt Reformation? ....................................................................

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2. Theologische Leitgedanken im Spiegel eines Liedes .....................

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3. Die Rechtfertigung des Gottlosen .................................................... 3.1 Luthers Entdeckung .................................................................. 3.2 Konturen der Rechtfertigungslehre ........................................ 3.3 Was die EKD unter Rechtfertigung versteht ........................

43 43 47 54

4. Das reformatorische Verständnis der Kirche ................................. 4.1 Der Grund der Kirche ist Jesus Christus allein .................... 4.2 Der Heilige Geist wirkt das Leben der Kirche ...................... 4.3 Das Wesen der Kirche besteht im Wort Gottes und im Glauben ................................................................................. 4.4 Die Gestalt der Kirche ist die um das Evangelium versammelte Gemeinde ............................................................

69 71 74

5. Reformatorischer Aufbruch und kirchliches Amt ........................ 5.1 Die Begründung des Amtes ..................................................... Exkurs: Das neutestamentliche Zeugnis über das Priestertum aller Gläubigen .......................................................................... 5.2 Einsetzung, Aufgabe und Vollmacht des Amtes .................. 5.3 Die Institutionen des Amtes ....................................................

81 81

84 88 92

6. Reformation ist Umkehr ................................................................... 6.1 Allein die Heilige Schrift gelten lassen ................................... 6.2 Die Rechtfertigung lernen ....................................................... 6.3 Die Wende im Begriff der Kirche nachvollziehen ............... 6.4 Dem Verkündigungsamt die Schlüsselrolle einräumen ...... 6.5 Das Reformationsjubiläum im Glauben begehen ................

103 104 111 118 120 122

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1. Was heißt Reformation? 1. Was heißt Reformation?

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird »Reformation« als Bezeichnung für eine geschichtliche Epoche gebraucht,1 nämlich den Umbruch der Kirche sowie aller davon erfassten Lebensbereiche zwischen dem Thesenanschlag Martin Luthers 1517 und dem Augsburger Religionsfrieden 1555. Die Reformation war ein äußerst komplexes Geschehen, in dem sich die unterschiedlichsten Vorstellungen und Interessen niedergeschlagen haben. Sie kann nur in der Zusammenarbeit von theologischer, kirchengeschichtlicher und profangeschichtlicher Forschung unter Berücksichtigung ihrer vielfältigen Verzweigungen in der Regional- und Lokalgeschichte sachgerecht verstanden werden. Die Wirkungen der Reformation reichen heute weit über Europa hinaus und beschränken sich nicht auf die protestantischen Kirchen und Länder. Die Forderung nach einer Reformation der Kirche ist weitaus älter als die Reformation, die dann im 16. Jahrhundert tatsächlich stattgefunden hat. Luther hat diese Forderung aufgenommen, aber sein Verständnis der Reformation unterscheidet sich grundlegend von dem der Antike und des Mittelalters.2 Der Unterschied liegt vor allem in der Bestimmung des Subjekts der Reformation: »Die Kirche bedarf einer Reformation, aber diese ist nicht das Werk eines Menschen, des Papstes oder vieler Kardinäle, … sondern Gottes allein.«3 Es ist von entscheidender Bedeu1 Grundlegend war L. von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 6 Bde., Berlin 1839–1847. Vgl. G. Seebaß, Reformation, TRE, Bd. 28, 1997, 386– 404; U. Köpf, Reformation, RGG, Bd. 7, 42004, 145–159. 2 Zur Begriffsgeschichte von reformatio/reformare vgl. E. Wolgast, Reform/Reformation, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 2004, 313–360, bes. 313ff. u. 325ff. S. u. Anm. 12. 3 M. Luther, Resolutiones, 1518, WA 1, 627, 27–30: »Ecclesia indiget reformatione, quod non est unius hominis Pontificis nec multorum Cardinalium officium, … sed … solius dei.« Das mit »Werk« übersetzte Substantiv officium hat auch die Bedeu-

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1. Was heißt Reformation?

tung zu verstehen, was Luther meint. Aufschluss darüber geben seine Invokavitpredigten von 1522.4 Vor allem aus der zweiten Predigt wird deutlich, was Luther – ohne dass er den Begriff gebraucht – unter Reformation versteht und worin sie sich von Reformen unterscheidet.5 Das »ganze christliche Leben und Wesen« besteht im »Glauben und Lieben« (13, 23f.). »Der Glaube ist gegen Gott gerichtet, die Liebe gegen den Menschen und Nächsten« (13, 24f.). Das christliche Leben und Wesen beruht auf Gottes »Wohltat« (13, 26) in Christus. Sie wird »empfangen« (13, 27), nicht verdient, aus »Gnade und Barmherzigkeit« (13, 28). Auf zweierlei hat der Christ zu achten: auf das Notwendige, das »geschehen muß« (14, 18f.), und auf das, was »frei ist« (14, 19). Das Notwendige, das unumgänglich geschehen muss, weil darin das christliche Leben und Wesen besteht, ist: »an Christus glauben« (14, 25). Auch die Liebe gehört zum christlichen Leben und Wesen und ist nicht in das Belieben des Christen gestellt, aber sie ist »frei«; »sie zwingt nicht und verfährt nicht allzu streng« (14, 26). Beispiel: Die überkommene Messe ist »ein böses Ding« (14, 26). Sie wird als »ein Opfer und verdienstliches Werk« aufgefasst und muss deswegen »abgeschafft« werden (14, 27f.). Aber die Liebe wendet dazu keine »Gewalt« an (14, 34). Man soll darüber »predigen« und dagegen »schreiben« (14, 34f.). »Aber man soll niemanden mit den Haaren davonreißen, sondern man soll es Gott anheimgeben und sein Wort allein wirken lassen – ohne unser Zutun oder Werke« (15, 18–20). Warum? »Darum, weil ich (als Prediger) die Herzen der Menschen nicht in meiner Hand habe« (15, 20f.). Vielmehr hat allein »Gott die Herzen aller Menschen in seiner Hand, sie zu bekehren oder zu verstocken. Ich kann mit dem Wort nicht weiter kommen als in die Ohren, ins Herz kann ich nicht kommen … Gott tut das allein und bewirkt, dass das tung von «Obliegenheit«, «Amt«. Gemeint ist: Luther versteht Reformation »ausschließlich als Werk Gottes« (B. Lohse, Was heißt Reformation?, in: ders., Lutherdeutung heute, Göttingen 1968, 5–18, 18), als das allein Gott zustehende »Amt«. 4 Acht Sermone, 9.–16. März 1522, WA 10 III, 1–64. Zur Textüberlieferung vgl. S. Bei der Wieden, Luthers Predigten des Jahres 1522, AWA 7, Köln 1999. Zum kirchengeschichtlichen Hintergrund, den »Wittenberger Unruhen« im Allgemeinen und dem »Bildersturm« im Besonderen, vgl. N. Müller (Hg.), Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522, Leipzig 21911; H. Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens, hg. v. K. Bornkamm, Göttingen 1979, 56–80; R. Mau, Evangelische Bewegung und frühe Reformation 1521 bis 1532, Leipzig 2000, 52ff., bes. 69–74. 5 Gehalten am Montag nach Invokavit, dem 10.03.1522, in der Wittenberger Stadtkirche. Die Zitate werden in heutigem Deutsch nach WA 10 III, 13, 15 – 20, 16 wiedergegeben.

1. Was heißt Reformation?

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Wort in den Herzen der Menschen lebendig wird, wann und wo er will« (15, 22–24.26f.). Daraus ergibt sich: »Darum soll man das Wort frei gehen lassen und nicht unsere Werke dazutun. Wir haben Ius verbi und nicht executionem (das Verkündigungsrecht, aber nicht die Vollzugsgewalt), das heißt: das Wort sollen wir predigen, aber die Folge Gott anheimstellen« (15, 28–31). Im weiteren Verlauf der Predigt führt Luther zwei Beispiele an. Einmal den Apostel Paulus, der sich in Athen über die Fülle der Götzenbilder entrüstet und auf dem Markt gepredigt (Apg 17,16f.), aber keineswegs Hand an sie gelegt habe (WA 10 III, 17, 32ff.). Zum anderen weist er auf sich selbst hin: »Ich bin dem Ablass und allen Papstanhängern entgegengetreten, aber mit keiner Gewalt. Ich habe allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben; sonst habe ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen habe, wenn ich Wittenbergisches Bier mit meinem Philipp (Melanchthon) und (Nikolaus von) Amsdorff getrunken habe, soviel getan, dass das Papsttum so schwach geworden ist, dass ihm noch nie ein Fürst oder Kaiser soviel Abbruch getan hat. Ich habe nichts getan, das Wort hat es alles bewirkt und ausgerichtet« (18, 13–16; 19, 1– 3). Unmissverständlich stellt Luther heraus, was nicht nur keine Reformation heraufführt, sondern sie vielmehr verhindert, nämlich »Missbrauch« mit »Gewalt ablegen« wollen (15, 32f.). Denn aus »Zwang« (15, 37) wird ein reines »Spiegelfechten, ein äußerliches Wesen, ein Affenspiel und eine menschliche Satzung« (16, 15). Menschensatzungen und Gesetze sind wie eine Hydra: aus der Abschaffung eines einzigen Gesetzes können »tausenderlei Gesetze« erwachsen (20, 26f.). Aus einem Reformvorhaben, das physische Gewalt oder psychischen Druck anwendet, gehen keinesfalls Christen hervor, sondern vielmehr »Scheinheilige, Heuchler und Gleisner« (16, 16). Luther warnt: »Werdet ihr’s ausführen mit solchen allgemeinen Geboten, dann will ich alles, was ich geschrieben und gepredigt habe, widerrufen« (17, 6–8). Reformation und Reformen unterscheiden sich voneinander, wie sich ein Original von Imitationen unterscheidet. Eine Vielzahl von Reformen ergibt daher noch keine Reformation. Reformen führen auch nicht auf eine Reformation hin, sondern sie sind oft genug Surrogate, die vielmehr von ihr wegführen und sie ersetzen sollen. Reformen fehlt das Entscheidende entweder ganz, oder in ihnen wird das, was die unabdingbare Grundlage der Reformation bildet, in menschlicher Eigenmächtigkeit an

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1. Was heißt Reformation?

die zweite Stelle gerückt. Charakteristisch für die Reformation der Kirche sind nach Luther »drei Stücke«, die an der ersten Stelle stehen und die Grundlage bilden müssen: das Herz, der Glaube und die Liebe (16, 17). Fehlen sie oder tritt etwas anderes an ihre Stelle, »dann wird nichts daraus« (16, 18f.). Denn die Reformation der Kirche beruht auf der Grundrelation Wort Gottes – Glaube. Durch das Wort, und zwar durch das vom Gesetz unterschiedene »Evangelium« (16, 21), »nimmt Gott das Herz ein« (16, 32). »Wenn das Herz eingenommen ist, dann hast du den Menschen schon gewonnen« (16, 32f.); denn das Herz ist nach biblischem Verständnis das Zentrum der Person. »So wirkt Gott mit seinem Wort mehr, als wenn du und ich und die ganze Welt alle Gewalt in einem Haufen zusammenschmölzen« (16, 30–32). Reformation heißt also nicht: Reformen auf Gott zurückführen, um sie durch religiöse Überhöhung zu legitimieren und ihnen Glanz und Dauer zu verleihen. Im Vergleich mit der Antike und dem Mittelalter ist es etwas Neues, wenn Luther den reformatorischen Aufbruch dem Grundgeschehen von Kirche gleichsetzt: »Gewalt« (18, 24.32) bleibt prinzipiell ausgeschlossen, vielmehr gibt man Gottes Wort Raum und lässt es »handeln« (18, 25). »Das Wort, das Himmel und Erde und alle Dinge geschaffen hat, dasselbe Wort muss es auch hier tun« (18, 26f.). Es »ist allmächtig und nimmt die Herzen gefangen« (19, 32). Luthers Verständnis der Reformation steht aber auch in Spannung, ja im Gegensatz zum neuzeitlichen Verständnis. Heute spricht man allenthalben von Reformen und hält sich durch sie unablässig in Atem. Auf die Ehereform folgt die Schulreform, auf die Schulreform die Steuerreform usw. In der Politik sucht man sich durch Reformvorhaben gegenseitig zu überbieten und auszubooten. Der Reformeifer bestimmt aber auch und vor allem das Leben der Kirche. Um 1950 ist die Zauberformel ecclesia semper reformanda gebildet worden.6 Sie gibt sich als genuin reformatorisch aus, ist dies aber keineswegs. Vielmehr steht sie auf dem Boden der neuzeitlichen Theorie-Praxis-Spaltung, die mit Luthers Begriff des selbstwirksamen Wortes Gottes schlechthin unvereinbar ist. Rastlos ist die Kirche seit mehr als einem halben Jahrhundert mit Reformen befasst. Alles ist durchgehechelt worden: vom Theologiestudium bis zum Gottesdienst. Besonderer Vorliebe erfreuen sich die Strukturreformen: Bevor 6 Wer die Formel geprägt hat, ist unbekannt; vgl. T. Mahlmann, Reformation, HWP, Bd. 8, Basel 1992, 416–427, bes. 420f.

1. Was heißt Reformation?

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die eine abgeschlossen ist, steht bereits die nächste auf der Tagesordnung. Die Evangelische Kirche ist nahe daran, den christlichen Glauben aus der Gesellschaft hinauszustrukturieren. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet das Impulspapier der EKD aus dem Jahr 2006.7 Dieses steht in diametralem Gegensatz zum theologischen Ansatz der Reformation.8 Warum? Unverrückbar an erster Stelle steht nach Luther die Relation Gott – Mensch, die Gott selbst durch sein Wort aktiviert, indem er durch seinen Geist im Menschen den Glauben wirkt. Das ist das grundlegende, den Menschen wahrhaft erneuernde und befreiende Geschehen. Mit dem Glauben tritt die Liebe auf den Plan, die nicht im menschlichen Herzen, sondern in Gottes heiligem Geist gründet. Sie ist die schlechthin Freie. Sie macht die Gläubigen willig und fähig, dass sie sich der Nöte in Kirche und Gesellschaft annehmen und dass sie Missbräuche beseitigen. Es kommt jedoch alles auf diese Reihenfolge an! Sie scheint zwar selbstverständlich zu sein, ist dies aber keineswegs. In der Geschichte ist das Gegenteil die Regel: Das unsichtbare und eigentliche Geschehen zwischen Gott und dem Menschen wird vorausgesetzt, als wenn es nicht einmal der Erwähnung wert wäre, oder als belanglos angesehen, und das Sichtbare, Äußerliche und Belanglose wird als das eigentlich Wichtige und Dringliche ausgegeben. Was an der zweiten Stelle steht, rückt unversehens an die erste Stelle. Aus der Reformation wird dadurch eine Reform, die auf menschlicher Eigenmächtigkeit beruht und die auch noch die Dreistigkeit besitzt, unter dem Namen Gottes zu operieren. Die Verkehrung der Reihenfolge führt aber keineswegs zur »Besserung des christlichen Standes«, wie sie Luther 1520 in der Adelsschrift angestrebt hat, sondern sie vermehrt lediglich den Krampf. Das Ergebnis solcher Reformmaßnahmen ist kläglich; denn sie führen nicht in die Freiheit, sondern in eine neue Gesetzlichkeit. Sie hinterlassen bei den Akteuren obendrein Gewissensbisse und Frust. Exemplarisch für diese Verkehrung der Reihenfolge und die sich aus ihr ergebenden Folgen ist das im Impulspapier der EKD propagierte Reformvorhaben. Das Impulspapier lässt sich von ökonomischen Überlegungen leiten und hat sich die Sicherung des äußeren Mitgliederbestandes und des öffentlichen Einflusses 7 Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, hg. v. Kirchenamt der EKD, Hannover 2006. 8 Vgl. W. Führer, Gott erneuert die Kirche. Theologische Leitsätze zur Reformation der evangelischen Kirche, Neuendettelsau 2012, 13ff. u. bes. 157ff.

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1. Was heißt Reformation?

der Evangelischen Kirche zum Ziel gesetzt. Von Gott und seinem Wort ist in ihm nur beiläufig die Rede. Aber: Gott ist Gott und versteht sich niemals von selbst. Noch weniger ist es selbstverständlich, dass er durch sein Wort in den Glauben führt, kann er doch auch in die Verstockung führen.9 Ferner: Der äußere Bestand der Kirche und der Einfluss der Kirche in der Öffentlichkeit sind kein Selbstzweck und dürfen niemals zu selbständigen Zielen erhoben werden, wie dies im Impulspapier geschehen ist. Im Zeitalter von Fernsehen und Internet ist es vielleicht schwer zu verstehen, dass das Eigentliche, das, was über jeden Menschen in Zeit und Ewigkeit entscheidet, im Unsichtbaren, nämlich in der Relation Gott – Mensch, geschieht. Dennoch ist es so! Der Mensch, der Sünde wegen auf der Flucht vor Gott (1. Mose 3,8), bleibt Gott verantwortlich. Er lebt abgewandt von Gott, aber dadurch kann er sich Gott nicht entziehen (s. Ps 139,7ff.). Vielmehr existiert er vor Gott. Das Sein coram Deo ist die verborgene, aber eigentliche Dimension des Menschseins. Vor allem Handeln ist er auf Gott bezogen. Sein Verhältnis zu Gott wird jedoch durch »Feindschaft gegen Gott« (Röm 8,7) bestimmt. Aber: »Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung« (2. Kor 5,19). Ob ein Mensch dem Wort von der Versöhnung glaubt oder ob er sich ihm im Unglauben verschließt, das allein entscheidet über ihn (Mk 16,16). Das, worauf es ankommt, ist der Glaube an das Evangelium und nicht etwas Äußerliches und Abbildbares. »Das Reich Gottes steht nicht in äußerlichen Dingen, so dass man es greifen und fühlen kann, sondern im Glauben und in der Kraft.«10 Für Luther war das selbstverständlich. Im Fernsehzeitalter muss es dagegen wohl ausdrücklich gesagt und unterstrichen werden. Aus dem Umstand, »dass die äußerlichen Dinge dem Glauben keinen Schaden zufügen können«, wie Luther auch in der dritten Invokavitpredigt feststellt,11 darf man aber nicht schließen, dass sich aus Gottes schöpferischem Handeln durch sein Wort keine sichtbaren Konsequenzen ergeben. Damit wären Luther und die anderen Reformatoren gründlich missverstanden. Wie unzutreffend das ist, kann jeder daran ermes-

9 Vgl. WA 10 III, 15, 23. 10 WA 10 III, 43, 20–22. 11 WA 10 III, 29, 14f.

1. Was heißt Reformation?

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sen, dass von dem Aufbruch der Reformation alle Bevölkerungsschichten ergriffen wurden – in Deutschland waren zeitweilig vier Fünftel der Bevölkerung evangelisch – und dass sich schließlich ganze Länder von der Römischen Kirche losgesagt haben. Einen solchen Umbruch hat es weder vorher noch nachher in der Kirchengeschichte gegeben. Mit Recht trägt die Epoche den Namen »Reformation«. Charakteristisch für den Umbruch in der Reformationszeit ist, dass »Reformation« – gemäß der lexikalischen Bedeutung von reformatio / reformare12 – eine Rückführung zu ihrer ursprünglichen Gestalt darstellt. Die Forderung nach Wiederherstellung der ursprünglichen Gestalt hat die Reformation mit der Renaissance gemeinsam. Das lässt sich aber nicht konstatieren, ohne dass zugleich der fundamentale Unterschied herausgestellt wird: Luther will keineswegs eine idealisierte Urgemeinde, etwa die in Apg 2,44–46 geschilderte Gemeinsamkeit aller Güter, wiederherstellen. Das wäre rückwärts gewandte Imitation, von der er sich nichts versprochen hat. Die Kirche reformieren heißt vielmehr: sie ausschließlich auf den Grund stellen, der Bestand hat, also sie auf die Wahrheit gründen. Der Grund der Kirche aber ist Jesus Christus (1. Kor 3,11). Dieser ist auch »der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). Ist Jesus Christus, und zwar nicht ein erdachter, sondern der von der apostolischen Verkündigung des Neuen Testaments bezeugte Jesus Christus, der einzige Grund und die alleinige Wahrheit der Kirche: Dann schließt das ein, dass der bleibende Ursprung der Kirche und die sie erneuernde und befreiende Wahrheit allein von ihrer Apostolizität verbürgt wird und dass diese Apostolizität wiederum allein durch das Schriftprinzip gewahrt und herausgestellt werden kann. Die Kirche reformieren heißt dann: das Evangelium durch Schriftauslegung unverfälscht zu Gehör bringen und das, was dem Evangelium entgegensteht, in die Krisis führen, damit die Wahrheit des Evangeliums bestehen bleibt (Gal 2,5). Aus diesem Denkansatz wird auch deutlich, warum Luther bei seinem reformatorischen Handeln der Lehre die Priorität eingeräumt hat. In einer Tischrede aus dem Februar 1539 macht er sich lustig über die »Pa12 Vgl. K.E. Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Bd. II, (1916–19) Darmstadt 1995, 2270f.; E. Wolgast, a.a.O. (s. Anm. 2), 313f. Luther hat das Wort nicht sehr häufig gebraucht (vgl. WA 65, 443; WA 72, 209 und dazu T. Kaufmann, Reformatio / Reformation, in: Das Luther-Lexikon, hg. v. V. Leppin u. G. Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, 582–584).

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1. Was heißt Reformation?

pisten«, die sich rühmen, die Kirche zu sein, und die sich vornehmen, alles reformieren zu wollen, obwohl ihr Verständnis der Heiligen Schrift doch äußerst dürftig sei.13 Gegen diese Vermessenheit erhebt er den Einwand: »Aber wenn die Lehre nicht reformiert wird, dann ist eine Reformation der Sitten vergeblich. Denn Aberglaube und eingebildete Heiligkeit können nicht erkannt werden außer durch das Wort und den Glauben.«14 In der Lehre sah Luther – auch im Unterschied zu den sogenannten Vorreformatoren John Wyclif (um 1330–1384) und Jan Hus (um 1370–1415) – seine eigentliche Berufung: »Wo es um das Wort geht, nämlich ob sie wahr lehren, dort kämpfe ich. Die Lehre angreifen, das ist noch nie geschehen. Das ist meine Berufung. Andere haben nur das Leben (der Kleriker) angegriffen. Aber die Lehre zum Streitpunkt erheben, das heißt der Gans an den Kragen greifen.«15 Weil die Offenbarung Gottes in Christus keine beliebige, sondern eine bestimmte ist, ist die auf der Auslegung der Heiligen Schrift beruhende und sie zusammenfassende Lehre unabdingbar.16 Lehren heißt unterscheiden: zwischen dem Gesetz und dem Evangelium, zwischen Reich Gottes und Welt, zwischen Christperson und Welt- oder Amtsperson usw. Wo diese Differenzierungen fehlen, herrschen Vermischung und Verwirrung. Die Vermischung führt zur Verfälschung des Evangeliums: Es wird zum Gesetz erhoben, mit dem man die kirchlichen Zeremonien und die Sitten zu reformieren versucht, wie das in den Wittenberger Unruhen 1521/22 geschehen ist, die dann zu tumultuarischen Zuständen geführt haben. Die das Verständnis des Wortes Gottes herausstellende Lehre schärft das Wahrheitsgewissen. Ihr Subjekt ist Gott selbst,17 der durch seinen Geist im Wort wirksam ist. Sie ist »nicht lutherisch«, denn sie gehört nicht Luther, sondern der ganzen Christenheit.18 Mit ihr hat der Witten13 WA.TR 4, 231, 26 – 232, 4. 14 A.a.O., 232, 5f.: »Sed doctrina non reformata frustra fit reformatio morum, nam superstitio et ficta sanctitas non nisi verbo et fide cognosci potest.« 15 Tischrede Nr. 624, WA.TR 1, 294, 22–25. 16 In dem Luther-Lexikon, hg. v. V. Leppin u. G. Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, gibt es einen Artikel über die »Laute«, aber keinen über die »Lehre«. Über den hohen Stellenwert, den die Lehre bei Luther innehat, informieren die Register zu seinen lateinischen und deutschen Schriften: WA 65, 146–162; WA 71, 456–475. Aus der Literatur sei verwiesen auf H.J. Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, 1941, 41964, in: ders., Glaubensgerechtigkeit. GAufs. II, hg. v. G. Sauter, TB 64, München 1980, 11–125, bes. 16ff.; ferner auf K.G. Steck, Lehre und Kirche bei Luther, FGLP 10, 27, München 1963. 17 Vgl. WA 49, 311, 24. Eine Fülle weiterer Belegstellen ist WA 71, 465 angeführt. 18 WA 8, 685, 4ff.

1. Was heißt Reformation?

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berger Reformator »die eine, allgemeine Lehre Christi« gemeinsam, der allein unser Meister ist (Mt 23,8).19 Sie entfaltet das kritische Potential, das in Gottes Gesetz und Gottes Evangelium enthalten ist, und führt Religion, Frömmigkeit, kirchliche und weltliche Institutionen in die Krise.20 Darin erweist sie sich als wahrhaft reformatorisch. Sie zielt auf die Reformation der ganzen Christenheit auf Erden. Konkret wird die der ganzen Christenheit geltende Reformation stets vor Ort in der Gemeinde. Denn vor Ort entscheidet es sich, ob Gottes Wort Raum gegeben wird oder nicht. Wo immer Gott im Glauben an sein Wort Recht gegeben wird, dort wird auch der Blick geöffnet für den Auftrag und die Nöte der Christenheit. Kommt der Glaube aus der Predigt und diese wiederum durch das Wort Christi (Röm 10, 17), dann lautet die erste Frage zur Erhaltung und Erneuerung der Christenheit: Wie kann das Wort Christi in Lehre und Verkündigung unverfälscht bewahrt und ausgebreitet werden? Was dem Auftrag und Grundgeschehen von Kirche entgegensteht, das muss beseitigt werden. Zur Beseitigung von Missbräuchen hat Luther 1522 den Rat gegeben, zwischen dem, was notwendig ist, und dem, was Gott freigestellt hat, zu unterscheiden.21 Notwendig ist die Abschaffung der schriftwidrigen und gotteslästerlichen Opfermessen; frei dagegen bleibt, ob Christen – was insbesondere die dem Zölibat unterworfenen Amtsträger betrifft – ehelich werden oder nicht; ob Mönche und Nonnen in den Klöstern bleiben oder austreten usw.22 Zur Durchführung reformatorischer Maßnahmen sind drei Kriterien zu beachten: 1. Die Ermächtigung durch die Heilige Schrift. 2. Die Notwendigkeit vorausgehender Evangeliumsverkündigung. 3. Die Bindung an das Liebesgebot.

19 A.a.O., 685, 15f. 20 Vgl. E. Wolf, Martin Luther. Das Evangelium und die Religion, 1934, in: ders., Peregrinatio (I), München 21962, 9–29, bes. 29: »Das Evangelium ist die Krisis aller Religion: in dieser Erkenntnis enthüllt sich die prophetische Nüchternheit des Reformators und die Gültigkeit seiner Lehre.« Es rächt sich, wenn man – wie damals die »Deutschen Christen« – die kritische Kraft des Wortes Gottes entschärft, um das Christentum an die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse anzupassen. E. Wolf hat diese Erkenntnis nicht von der »Dialektischen Theologie« übernommen, so gewiss er diese schätzte, sondern aus den Quellen der Theologie Luthers gewonnen. 21 WA 10 III, 21, 3ff. 22 Ebd.

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1. Was heißt Reformation?

Das erste Kriterium benennt die Voraussetzung, das zweite das Prinzip und das dritte die Verfahrensweise der Reformation. Zum ersten Kriterium ist anzumerken, dass es nicht genug ist, der Allgemeinheit zu folgen, wie dies bei den Wittenberger Unruhen 1521/22 geschehen ist.23 »Nein, ein jeder muss für sich stehen und gerüstet sein, mit dem Teufel zu streiten: Du musst dich auf einen starken, klaren Spruch der Schrift gründen, mit dem du bestehen kannst. Wenn du den nicht hast, ist es nicht möglich, dass du bestehen kannst: der Teufel reißt dich weg wie ein dürres Blatt.«24 Der einzelne Christ ist vor Gott unvertretbar.25 So hoch wird er von Gott geschätzt! Er darf nicht in die Anonymität einer Massenbewegung abtauchen. Er steht vor Gott; daher muss ihn ein Wort aus der Schrift Gottes zum Handeln ermächtigen. Das zweite Kriterium besitzt durchaus den Rang eines Prinzips.26 Luther hat ihm in der fünften Invokavitpredigt Ausdruck gegeben: »Darum soll man keine Neuerung aufrichten, das Evangelium sei denn durch und durch gepredigt und erkannt.«27 Das Evangelium erleuchtet die Herzen. Traditionen, die sich nach dem Offenbarwerden des Evangeliums als hinderlich und belastend für den Glauben erweisen, verlieren ihre Anziehungskraft und werden nicht auf äußeren Druck hin, sondern mit innerer Zustimmung preisgegeben. Es ist kennzeichnend für den weiteren Verlauf der Reformation, dass schriftwidrige Traditionen und Missbräuche nach und nach – zunächst in den Städten, sodann in den Territorien – beseitigt worden sind. Denen, die sich auf Dauer als resistent gegenüber allen reformatorischen Maßnahmen erwiesen haben, ist mit Luthers Reformationsprinzip keineswegs ein Freibrief ausgestellt worden. Aus den Schmalkaldischen Artikeln 1536/37 geht unmissverständlich hervor, was Luther nach einem Zeitraum von fünfzehn Jahren, von den Wittenberger Unruhen an gerechnet, als nicht mehr verhandlungsfähig angesehen hat, nämlich die Messe sowie die Folgen, die sich aus ihr ergeben

23 A.a.O., 22, 8ff. 24 A.a.O., 22, 10 – 23, 3. 25 Luthers Invokavitpredigten beginnen mit dem Satz: »Wir sind allesamt zum Tod gefordert und keiner wird für den anderen sterben« (a.a.O., 1, 15f.). Lange vor Sören Kierkegaard (1813–1855) ist die Kategorie des Einzelnen ausgebildet. Mögen heute für die Fernsehsender die Einschaltquoten ausschlaggebend sein, für Gott zählt jeder einzelne Mensch. 26 H. Bornkamm, a.a.O. (s. Anm. 4), 76 spricht mit Recht von Luthers »Reformationsprinzip«. 27 WA 10 III, 45, 3f.

1. Was heißt Reformation?

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haben: das Fegefeuer, die Wallfahrten, die Reliquienverehrung, der Ablass u.a.28 Mit dem dritten Kriterium wird klargestellt: Reformation erfolgt in der Bindung an das Liebesgebot. Die Missachtung der Schwachen, ihre Überrumpelung unter dem Vorwand unaufschiebbarer Reformen ist in Wahrheit eine Diskreditierung des Evangeliums. Die Rücksichtnahme auf die Unsicheren, Zögerlichen und Schwachen hat Luther von Paulus gelernt. Er weiß aus den Korintherbriefen des Paulus, dass die Rücksichtnahme auf die Schwachen unter Christen keineswegs selbstverständlich ist. Gerade die begabten Christen neigen zur Ungeduld. Unermüdlich hat Luther deshalb die Rücksichtnahme auf die Schwachen angemahnt. Überrumpelung stößt vor den Kopf. Überzeugungsarbeit nimmt dagegen auch die Schwachen mit auf den Weg der Reformation. Grund und Vorbild der Geduld und Liebe ist Gott selbst: »Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da von der Erde bis an den Himmel reicht.«29 Dieser Satz verdankt sich durchaus nicht der Projektion menschlicher Liebessehnsucht auf Gott, sondern dem Evangelium, dessen Inhalt Gottes »Liebe und Wohltat« in Christus ist; »denn Christus hat für uns seine Gerechtigkeit und alles, was er hatte, eingesetzt und hingegeben; er hat alle seine Güter über uns ausgeschüttet, welche niemand ermessen kann«30. Was heißt Reformation? Am Schluss ist festzuhalten: Im Unterschied zu innergeschichtlichen Reformen besteht die Reformation aus einer Korrelation von inner- und außergeschichtlichen Faktoren. In ihrem inneren Kern war die Reformation das Werk des dreieinigen Gottes, der in seinem Wort durch seinen Geist in jener Epoche so wirksam geworden ist, dass Menschen den Glauben an das Evangelium von Jesus Christus über alles andere gestellt haben. Durch den Glauben an Gottes Wort wurden sie ermächtigt, Missstände zu beseitigen – auch gegen den Widerstand kirchlicher und politischer Institutionen, aber nicht in Rebellion und Aufruhr, sondern in der Bindung an das Liebesgebot.

28 ASm II, 2, 0–8; WA 50, 200–211. Die Darbietung der ASm in der Neuausgabe der BSLK 2014 genügt wissenschaftlichen Anforderungen nicht. Notwendig ist eine textkritische Ausgabe, die Luthers Handschrift einbezieht. Von den beiden lateinischen Übersetzungen ist außerdem die schlechtere abgedruckt. Bessere Textausgaben in: WA 50; M. Luther, StA, Bd. 5, 1992, 344ff. 29 WA 10 III, 56, 2f. 30 A.a.O., 55, 12 – 56, 1.

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1. Was heißt Reformation?

Der Aufbruch zur Reformation liegt nun ein halbes Jahrtausend zurück. Zum besseren Verständnis hilft vielleicht ein Vergleich mit dem im Impulspapier der EKD propagierten Reformvorhaben,31 das der evangelischen Kirche im 21. Jahrhundert neue Perspektiven eröffnen soll. 16. Jahrhundert

21. Jahrhundert

– Gott und sein Wort der Heiligen Schrift stehen unverrückbar an erster Stelle. – Das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes (Röm 1,16f.) und die Wahrheit des Evangeliums (Gal 2,5) erschließen sich durch Schriftauslegung. – Die auf der Auslegung der Schrift beruhende Lehre besitzt die Priorität. Infolgedessen gehen die Impulse zur Reformation von der Universität (Wittenberg) aus. – Die Reformation betrifft die ganze Christenheit auf Erden.

– Gott und das Wort der Heiligen Schrift sind nicht erkenntnisleitend. – Die Gerechtigkeit Gottes und die Wahrheit des Evangeliums spielen keine erkennbare Rolle. Sie als selbstverständlich voraussetzen heißt aber: sie missachten. – Schriftauslegung und Lehre bleiben unentfaltet. Die Universitäten sind bei der Konzeption des Reformvorhabens nicht wirklich einbezogen worden.

– Konkret wird die Reformation vor Ort in den Gemeinden. – Im Zentrum der kirchlichen Arbeit stehen Predigt und Unterweisung. Das Pfarr- und Predigtamt ist die wichtigste Institution der Kirche.

– Das Impulspapier ist auf die Evangelische Kirche in Deutschland beschränkt. – Die Gemeinden werden zu Objekten kirchenobrigkeitlicher Planspiele. – Die Leitung durch Lehre und Verkündigung wird abgewertet und weitgehend durch kirchliches Management ersetzt. Pfarrund Predigtämter werden wie im Mittelalter der kirchlichen Hierarchie untergeordnet.

31 Darstellung und kritische Einwände gegen das Impulspapier mit weiterführender Literatur in W. Führer, a.a.O. (s. Anm. 8), 157ff.

1. Was heißt Reformation?

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– Die Durchführung der Refor- – Geistliche Kriterien sind nicht erkennbar. mation erfolgt nach geistlichen Kriterien. – In der Reformation geht es – Im Reformvorhaben der EKD geht es nicht um das Evangelium um das Evangelium und den und den Glauben, sondern um Glauben, auch und gerade bei die Erhaltung des Mitgliederbeder Beseitigung von Missstandes und des öffentlichen Einbräuchen. flusses, als wenn diese ein Selbstzweck wären. Schlussfolgerung: Die Reformation braucht Vergleiche offenbar weder zu suchen noch zu scheuen. Sie gewinnt durch sie vielmehr ungemein. Der Respekt vor dem Werk der Reformation wächst. Man fragt sich erstaunt: Wie war das möglich? Umgekehrt verhält es sich bei der Bewertung des Reformvorhabens der EKD. Der Vergleich mit der Reformation enthüllt das im Impulspapier propagierte Reformvorhaben als ein theologisches und kirchliches Desaster. Das Impulspapier wird nicht nur nicht zu einer Reformation der Kirche führen, die heute zweifellos ein dringendes Desiderat darstellt, sondern den Weg zu ihr verbauen. Durch das Freiheitspathos des Impulspapiers wird verdeckt, dass das Reformvorhaben der EKD zutiefst restaurativ ist. Man fragt sich befremdet: Wie konnte eine Nachfolgeinstitution der Reformation so etwas Ungeistliches auf den Weg bringen?

2. Theologische Leitgedanken im Spiegel eines Liedes 2. Theologische Leitgedanken im Spiegel eines Liedes

1,1 2 3 4 5 6 7

Nun freut euch, lieben Christen g’mein, und laßt uns fröhlich springen, dass wir getrost und all in ein mit Lust und Liebe singen, was Gott an uns gewendet hat und seine süße Wundertat; gar teu’r hat er’s erworben.

6,1 2 3 4 5 6 7

Der Sohn dem Vater g’horsam ward, er kam zu mir auf Erden von einer Jungfrau rein und zart; er sollt mein Bruder werden. Gar heimlich führt’ er sein Gewalt, er ging in meiner armen G’stalt; den Teufel wollt er fangen.

2,1 2 3 4 5 6 7

Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren, mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, darin ich war geboren. Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein, die Sünd hatt’ mich besessen.

7,1 2 3 4 5 6 7

Er sprach zu mir: »Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen; ich geb mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen. Denn ich bin dein und du bist mein, und wo ich bleib, da sollst du sein, uns soll der Feind nicht scheiden.

3,1 2 3 4 5 6 7

Mein guten Werk, die galten nicht, es war mit ihn’ verdorben; der frei Will haßte Gotts Gericht, er war zum Gut’n erstorben. Die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Höllen mußt ich sinken.

8,1 2 3 4 5 6 7

Vergießen wird er mir mein Blut, dazu mein Leben rauben; das leid ich alles dir zugut, das halt mit festem Glauben. Den Tod verschlingt das Leben mein, mein Unschuld trägt die Sünde dein, da bist du selig worden.

4,1 2 3 4 5 6 7

Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen; er dacht an sein Barmherzigkeit, er wollt mir helfen lassen. Er wandt zu mir das Vaterherz; es war bei ihm fürwahr kein Scherz, er ließ’s sein Bestes kosten.

9,1 2 3 4 5 6 7

Gen Himmel zu dem Vater mein fahr ich von diesem Leben; da will ich sein der Meister dein, den Geist will ich dir geben, der dich in Trübnis trösten soll und lehren mich erkennen wohl und in der Wahrheit leiten.

5,1 2 3 4 5 6 7

Er sprach zu seinem lieben Sohn: »Die Zeit ist hier zu erbarmen; fahr hin, meins Herzens werte Kron, und sei das Heil dem Armen und hilf ihm aus der Sünden Not, erwürg für ihn den bittern Tod und laß ihn mit dir leben.«

10,1 2 3 4 5 6 7

Was ich getan hab und gelehrt, das sollst du tun und lehren, damit das Reich Gotts werd gemehrt zu Lob und seinen Ehren; und hüt dich vor der Menschen Satz, davon verdirbt der edle Schatz: das laß ich dir zur Letze.«

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2. Theologische Leitgedanken im Spiegel eines Liedes

Als Einblattdruck war das Lied bereits 1523 verbreitet.32 Luther hat in ihm seinem Glauben poetisch Ausdruck gegeben. Schriftzitate fehlen, aber das Christuszeugnis der Heiligen Schrift bildet die Voraussetzung. Das Lied ist frei von theologischer Reflexion, aber alles in ihm ist bis ins einzelne hinein zuvor durchdacht worden. Es wurde in theologischen Disputationen erörtert, in Vorlesungen über biblische Bücher behandelt, in Schriften und Traktaten dargelegt, in Predigten bezeugt, in Briefen seelsorglich zugesprochen und gegen Widersacher verteidigt und bekräftigt. Doch das Lied selbst steht nicht im Dienst einer verborgenen didaktischen Nebenabsicht. Es ist reine Poesie. Gerade dadurch hat es so ansteckend gewirkt, dass aus dem persönlichen Glaubenszeugnis ein Gemeindelied geworden ist, das noch heute gesungen wird. Zum besseren Verständnis soll der Vorstellungshintergrund des Liedes durch einige Erläuterungen aufgehellt werden. Dadurch wird die reformatorische Theologie deutlich wahrnehmbare Konturen annehmen. Das Lied lässt sich unbefangener singen, wenn man es versteht. Umgekehrt prägt sich der Inhalt in der poetischen Form, die ihm Luther gegeben hat, tiefer ein. »Ich will Psalmen singen mit dem Geist und will auch Psalmen singen mit dem Verstand«, hat Paulus an die Korinther geschrieben (1. Kor 14,15). 1 Die christliche Gemeinde, nur in der ersten Strophe direkt angesprochen (1,1), wird zur Freude aufgerufen. Der Grund der Freude ist das, »was Gott an uns gewendet hat« (1,5); »seine süße Wundertat« (1,6), die er mit höchstem Einsatz (1,7) vollbracht hat. Warum diese Tat notwendig war, geht aus den Strophen 2 und 3 hervor. Aus welchem Beweggrund sie geschehen ist, erschließen die Strophen 4 und 5. Worin diese Tat besteht, erzählt der Dichter in den Strophen 6 bis 8. Was aus ihr folgt, wird in den Schlussstrophen 9 und 10 ausgeführt. »Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude«, heißt es bei der Ankündigung des »Friedefürsten« durch den Propheten (Jes 9,2). Bei der Geburt des Christus verkündigt der Engel nicht eine kleine Freude, sondern die »große Freude« (Lk 2,10). Die Geburt, selbst ein Wunder, ist zugleich die Grundlegung dafür, dass die »Wundertat« (1,6) geschehen

32 Vgl. Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge, bearb. v. M. Jenny, AWA 4, 1985, 56–58 u. 154–159. Das Lied ist vollständig und sprachlich in Treue zum Original im Evangelischen Gesangbuch, 1994, Nr. 341 wiedergegeben.

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kann. Aber sie ist noch nicht ihr Vollzug. Ihr Vollzug ruft unermessliche, unzerstörbare Freude hervor: »Nun freut euch« (1,1) – jetzt, da ihr von dieser Tat hört, jetzt, da das Evangelium, gereinigt von menschlichen Zusätzen, zu euch spricht, indem es diese Tat als befreiendes Handeln Gottes verkündigt. Nicht verhaltene – ausgelassene Freude bringt das Evangelium mit sich: »laßt uns fröhlich springen« (1,2). Es ist nicht die Ausgelassenheit zu Silvester, hinter der die Angst steht, sondern eine »getroste« Ausgelassenheit, die »all in ein« (1,3) zusammenschließt. Sie weckt die wahre »Lust« an Gottes Weisung (Ps 1,2); nicht die Lust der Welt, die mit der Welt vergeht (1. Joh 2,17). Sie singt mit »Liebe« (1,4); nicht mit verstecktem Hass, der doch zum Vorschein kommt, weil er das Antlitz entstellt (1. Mose 4,5ff.), und der Misstöne hervorbringt. Die Freude, in die das Evangelium versetzt, ist so groß, dass man jubelt und dafür alles andere drangibt (s. Mt 13,44f.). 2 Die Wahrheit macht frei (Joh 8,32). Deshalb hat Luther sie der Gemeinde ungeschminkt zugemutet. Offen und unmissverständlich stellt er heraus, wie es um den Menschen vor Gott bestellt ist: hoffnungslos. In den Strophen 2 und 3 findet sich »keine Spur der Erwartung eines immanenten Umschlags oder der Hoffnung«33. Strophe 2 beginnt mit der Zeile »Dem Teufel ich gefangen lag« (2,1); die 3. Strophe endet mit »zur Höllen mußt ich sinken« (3,7). Luther meint, was er schreibt. Es ist unsachgerecht, solche Aussagen als theologisch randständig oder »mittelalterlich« abzutun. Die Vorstellung vom Teufel (Satan) steht nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum seiner Theologie.34 Er behandelt sie in der – theologisch wichtigsten – Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam (1469–1536) und im Hauptartikel über Christus und die Rechtfertigung in den Schmalkaldischen Artikeln. Sie ist der Gemeinde vertraut durch die Erklärung des zweiten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus, durch das Liedgut35 sowie durch die gleichlautende Schlusswen33 O. Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2003, 195. Das Zitat bezieht sich bei Bayer auf T.W. Adorno (ebd. Anm. 6); vgl. den ganzen Abschnitt über »Nun freut euch, lieben Christen g’mein« S. 193–203. 34 Vgl. H.-M. Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, FKDG 19, Göttingen 1967, bes. 208–210; G. Ebeling, Lutherstudien II, 3: Disputatio de homine, Tübingen 1989, § 44. 35 Außer »Nun freut euch …« s. bes. »Ein feste Burg ist unser Gott« (1529; EG 362). Vgl. V. Leppin, »Der alt böse Feind«. Der Teufel in Martin Luthers Leben und Denken, JBTh 26 (2011), 291–321.

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2. Theologische Leitgedanken im Spiegel eines Liedes

dung in Luthers Morgen- und Abendsegen: »Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.« Luther redet in dem Lied nicht abstrakt von der Menschheit, sondern konkret in der ersten Person Singular. Dadurch hat er gewissermaßen an sich selbst zur Anschauung gebracht, dass der Mensch ein Geschöpf ist, das »zwischen Gott und Teufel« steht.36 Gegen Erasmus hat er ausgeführt: »Wenn wir unter dem Gott dieser Welt sind, ohne das Werk und den Geist des wahren Gottes, werden wir gefangen gehalten nach seinem Willen.«37 Diese Gefangenschaft ist schmachvoll; denn sie bedeutet den Verlust der Freiheit. Das Bild von der Gefangenschaft darf man aber nicht so verstehen, als rebelliere der Mensch innerlich gegen diese Gefangenschaft. Das Gegenteil trifft zu: Willentlich und gern38 lebt der Mensch im Reich Satans. Die Gefangenschaft ist also nicht nur eine von außen auferlegte, sondern zugleich eine von innen bejahte und im menschlichen Willen aktiv gewordene Gefangenschaft. Das heißt: Sie beruht auf völliger Verblendung und Verführung. Das Menschengeschlecht hat der Versuchung nicht standgehalten, sondern ist von Gott abgefallen und lebt abgewandt von Gott im Reich des Satans. Das ist eine wenig schmeichelhafte Sicht. Aber sie ist biblisch. Mit Bezug auf Lk 11,18 par. macht Luther deutlich, dass der Satan nicht mit sich selbst uneins ist, sondern dass er über ein geschlossenes Reich verfügt. Erst wenn »ein Stärkerer über ihn kommt und ihn überwindet« (Lk 11,22), wird seine Herrschaft gebrochen. Dieser Stärkere ist Christus, der durch seinen ungeteilten Gehorsam gegen Gottes heiligen Willen die Versuchung bestanden und den Versucher überwunden hat (Lk 4,1–13 / Mt 4,1–11). Luther hat mit der Illusion gebrochen, der Mensch verfüge wie ein Gott über sich selbst und beherrsche diese Welt nach Belieben. Der Mensch ist nicht Gott, sondern Geschöpf, dessen Bestimmung sich allein in der Ausrichtung auf Gott erfüllt. Ist er von Gott abgefallen, dann liegt er »dem Teufel … gefangen« (2,1). Dieser reitet ihn wie ein Lasttier, es sei denn der Stärkere entreißt ihm die Beute.39 Erasmus wollte das nicht wahrhaben. Darin repräsentiert er das Empfinden und Denken des na36 Formuliert in Anlehnung an H.A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 21983. 37 De servo arbitrio, 1525, WA 18, 635, 7f. Aus dem Lateinischen übersetzt. Der »Gott dieser Welt« ist der »Fürst dieser Welt« (EG 362, 3). 38 A.a.O., 635, 13: »… volentes et lubentes …« 39 A.a.O., 635, 18ff.

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türlichen Menschen und keineswegs nur das des Humanisten. Luther dagegen vertritt die eschatologische Perspektive des Neuen Testaments, die äußerstes Befremden – auch übrigens bei Theologen oder doch solchen, die sich dafür halten – hervorruft. Die Liedstrophen 1 sowie 4 und 10 zeigen allerdings: Luthers Thema ist Gottes befreiende »Wundertat« (1,6) in Christus. Aber dieses Thema kann er nicht entfalten, ohne das Elend der Unfreiheit des Menschen in den Strophen 2 und 3 herauszustellen. Im Tod wird das Elend des Menschen zum offenkundigen und unabwendbaren Widerfahrnis. Einerseits gewinnt die Lebenszeit durch den Tod an Gewicht; andererseits nimmt sich dieses Gewicht angesichts der Vergänglichkeit wie ein Hohn aus. Das Nachdenken über den Tod schafft ihn so wenig hinweg wie die heute vorherrschende Verdrängung des Todes. Der Tod ist der Erweis der Verlorenheit des Menschen (2,2). Keine Vertröstung, sie sei religiös oder areligiös, hilft darüber hinweg. »Gegen den Tod gibt es keinen Rat; wir müssen sterben. Da kann niemand sich schützen noch ihn aufhalten! Wir sind zum Tode verurteilt – so streng und so stark (unwiderruflich), dass niemand wehren kann. Wir müssen dahin.«40 Das hat Luther 1527 in Predigten über das 1. Buch Mose (Genesis) gesagt; der Zugriff zum »Baum des Lebens« (1. Mose 3,22) ist dem Menschen versagt. Biologisch das Ende aller organischen Funktionen, ist der Tod theologisch zugleich der Vollzug des Urteils, das über den Menschen gesprochen ist. Der Tod hat alles Leben unter sein Vorzeichen gestellt und wirkt sich verhängnisvoll aus, aber er beruht nicht auf Schicksal, sondern auf Schuld. Er hat erst im Gefolge der Sünde Einzug in die Welt gehalten (Röm 5,12) und ist »der Sünde Sold« (Röm 6,23). Die Lehre von der Sünde ist »die allerschwerste in der ganzen Schrift und Theologie«41. Man muss sich aber auf sie einlassen; denn »ohne sie ist es unmöglich, die Schrift richtig zu verstehen«42. Sie bildet bei Luther den Gegenpol zum Hauptartikel von Christus und der Rechtfertigung. Das wird an den Schmalkaldischen Artikeln deutlich, in denen der Reformator sein Ver-

40 WA 24, 118, 10–13. In heutigem Deutsch wiedergegeben. 41 Enarratio Psalmi LI., 1532 (1538), WA 40 II, 385, 27f. Aus dem Lateinischen übersetzt. 42 A.a.O., 385, 28f.

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ständnis der Sünde komprimiert zusammengefasst hat.43 Es bestimmt aber auch die Struktur und den Inhalt des Glaubensliedes: Strophe 2,2–7 ist direkt von der Sünde die Rede; aus der 3. Strophe wird deutlich, dass die Sünde in rechtfertigungstheologischem Kontext behandelt wird, der wiederum sachlich das christologisch-soteriologische Zeugnis der Strophen 4–8 zur Grundlage hat. Luthers Sündenverständnis gründet sich hauptsächlich auf den Römerbrief, besonders auf Röm 5,12(–21), ferner auf 1. Mose 3 und die Psalmen, vor allem auf Ps 51. Maßgeblich ist Paulus; wichtige Denkanstöße aus der Auslegungsgeschichte hat er von Augustin (354–430) empfangen. Bei der Frage nach dem Woher der Sünde lässt sich Luther von Röm 5,12 leiten: »Deshalb, gleichwie durch einen Menschen die Sünde in die Welt hineingekommen ist und durch die Sünde der Tod und so zu allen Menschen der Tod hingelangt ist, weil sie alle gesündigt haben.« Die Sünde ist »durch« (!) den Menschen44 in den Kosmos »hineingekommen«, zu dem sie nicht gehört und der sie nicht hervorzubringen vermocht hätte. Der eine Mensch, Adam (Röm 5,14), der Stammvater der Menschheit (Lk 3,38), ist der Täter und Verursacher der Sünde. Paulus – und mit ihm Luther – versteht unter der Sünde eine Tat, eine wirkliche Handlung des einen Menschen, aber er versteht sie als eine solche, in die alle Menschen eingeschlossen sind. Den Hintergrund für dieses Verständnis bildet 1. Mose 3.45 In der unverfänglich erscheinenden Rückfrage »Sollte Gott gesagt haben?« (1. Mose 3,1) liegt die höchste aller Versuchungen beschlossen. Wird dadurch doch der gute Wille Gottes und die Relation Gottes zum Menschen, die er durch sein Gebot (1. Mose 2,6f.) geordnet hat, in Zweifel gezogen. Der Mensch soll vom Vertrauen auf Gott abgewendet werden. Und das ist geschehen: Adam und Eva46 erlagen der Versuchung. Sie haben über Gott und sein Wort 43 ASm III, 1; WA 50, 222, 1 – 223, 27. Vgl. dazu W. Führer, Die Schmalkaldischen Artikel, KSLuth 2, Tübingen 2009, 180–236. 44 Die Sünde ist nicht »durch das Sündigen in die Welt« gekommen (R. Bultmann, Adam und Christus nach Römer 5, 1959, in: ders., Exegetica, Tübingen 1967, 424– 444, 432; von vielen Auslegern übernommen), sondern durch den Menschen. Die Sünde hat sich nicht gleichsam gegenüber dem Menschen verselbständigt, vielmehr gäbe es sie ohne den Menschen nicht! 45 Vgl. WA 14, 128ff. und besonders die Auslegung in der Genesis-Vorlesung 1535, die 70 S. umfasst: WA 42, 106–176. 46 Im Unterschied zu Röm 5,12ff. wird Eva 1. Mose 3,6ff. ausdrücklich genannt: »Sie fallen zusammen als Einer« (D. Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, 1933, in: ders., Werke, hg. v. E. Bethge u.a., Bd. 3, München 1989, 111).

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ohne Gott und sein Wort geurteilt47 und sich von Gott abgewandt, indem sie sein Gebot übertraten (1. Mose 3,6). Die Übertretung des Gebotes Gottes durch den Vollzug des Ungehorsams in der Tat ist die Abwendung von Gott aufgrund der gänzlich unbegründeten Missachtung seines Wortes. Diese Abwendung von Gott (aversio a Deo) ist die Sünde als solche. Sie besteht in der mutwilligen Zerstörung der Relation zu Gott durch die Preisgabe seines Wortes im Unglauben. Mit der Tat des Ungehorsams ist der Mensch aus dem Vertrauensverhältnis zu Gott in ein Verhältnis der Feindschaft gegen Gott eingetreten (Röm 8,7). Dadurch hat er seine Bestimmung irreparabel verfehlt. Die gute Absicht, die Gott mit der Schöpfung hatte, ist durchkreuzt worden. Der Abfall von Gott ist geschehen; hinter ihn lässt sich nicht wieder zurückgehen, sondern durch ihn sind alle unausweichlich bestimmt. Das ergibt sich eindeutig aus 1. Mose 3,23–24 und Röm 5,16.19. Durch den Abfall von Gott ist die Seinsstruktur des Menschen verkehrt worden. Er existiert nicht aus dem Bezogensein auf Gott heraus. Die Primärrelation ist durch Sekundärrelationen, etwa die Selbstbezogenheit, überdeckt worden. Daraus ergibt sich: Die Sünden aller Menschen folgen nicht nur auf, sondern vielmehr aus der Sünde des einen Menschen. Das ist die Meinung des Paulus in Röm 5,12(–21) vor dem Hintergrund von 1. Mose 3.48 Aus dem Kontext sei dafür nur noch ein einziger weiterer Beleg angeführt: »durch den Ungehorsam des einen Menschen sind die Vielen zu Sündern geworden« (Röm 5,19). Das sagt Paulus selbstverständlich nicht, um die Sünder zu entlasten. Vielmehr geht er von der Eigenverantwortlichkeit jedes Menschen für die Sünde und den Tod aus. Um die Komplexität des Sachverhaltes zu verstehen, muss man sich immer wieder vor Augen halten, wie der Apostel argumentiert: Alle haben gesündigt (Röm 5,12d) – nicht scheinbar, sondern wirklich; denn alle sind zu Sündern geworden (5,19), also für die Sünden selbst verantwortlich. Und doch hätten nicht alle gesündigt, wenn die Sünde nicht durch den Einen in die Welt gekommen wäre (5,12a). Ferner: Alle ziehen sich den Tod durch ihre Sünde zu – und doch zögen sie sich den Tod nicht durch ihre Sünde zu, wenn der Tod nicht durch die Sünde des Einen auf den Plan 47 Nach WA 42, 116, 18–20. 48 Aus der exegetischen Literatur vgl. dazu vor allem O. Hofius, Die Adam-Christus-Antithese und das Gesetz, in: ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 62–103.

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getreten und zu allen Menschen hingelangt wäre (5,12b.c). Hier muss man sich in Erinnerung rufen, worin die Sünde besteht: Sünde ist die in nichts begründete Abwendung von Gott durch den Ungehorsam gegen sein Wort im Unglauben, in welchem sich die Verachtung Gottes – zunächst im Herzen, sodann in der Tat – Ausdruck verschafft. Im Ungehorsam bzw. Unglauben des einen Menschen sind alle Menschen miteinander verbunden und auf eigentümliche, unerklärliche Weise solidarisch. Aber es ist die Solidarität des Abfalls, der sich in jedem Menschen wiederholt und der doch nicht geschähe, wenn er nicht bereits geschehen wäre. Der Unglaube des Einen wirkt sich also im Unglauben aller Menschen aus. Aber das geschieht keineswegs automatisch im Sinne des Ursache-Wirkung-Schemas. Vielmehr kommt der Unglaube als die eigentliche Sünde immer aus dem Grund des menschlichen Herzens. Immer bin ICH es, der nicht glaubt oder der glaubt. Wie das zu verstehen ist, wird an Ps 51, 7 deutlich, dem nach Röm 5, 12(–21) und 1. Mose 3 dritten grundlegenden Beleg für Luthers Sündenverständnis. Der Vers lautet: »Siehe, in Schuld bin ich geboren, in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.« Der Beter hat den Mut, »ich« zu sagen. Er bekennt nicht die Schuld eines anderen, sondern seine eigene. Im Zustand der »Verkehrtheit«, in »Schuld«49 bin ich geboren (7a); in »Sünde«,50 ihrem Macht- und Herrschaftsbereich, hat mich meine Mutter empfangen (7b). Also: »der Urgrund, der Wurzelgrund meiner Existenz ist durchwirkt von Verderbnis«51. Niemand kann diese Verderbnis beheben, die darin gründet, dass das Leben von Geburt an unter der Macht der Sünde steht und im Zustand der Verkehrtheit geführt wird, es sei denn Gott, an den sich der Beter wendet (Ps 51,3ff.) und vor dem er bekennt (51,6): »An dir allein habe ich gesündigt.« In Ps 51 kommt der Doppelaspekt der Sünde klar zum Ausdruck. Einerseits: Die Sünde ist eine Macht, die über den Menschen von seiner Geburt an herrscht; denn sie war vor ihm da und ist unabhängig von ihm auf dem Plan. Andererseits: ICH bin es, der ihr Einlass gewährt und durch den sie aktiv wird. Nicht der Stammvater, nicht meine Mutter –

49 Hebräisch āwon; vgl. K. Koch, ThWAT, Bd. V, 1986, 1160–1177. 50 Vgl. R. Knierim, Sünde II, TRE, Bd. 32, 2001, 365–372, bes. 366f. 51 H.-J. Kraus, Psalmen, BK XV, 1, Neukirchen-Vluyn 51978, 544 (z.St.).

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ich habe zu verantworten, dass Gottes Majestätsrecht durch die Sünde frevlerisch angetastet wird. Das geschieht durch den Übergang von dem passiven Sündersein zum aktiven Vollzug der Sünde in Gedanken, Worten und Werken. Die Bindung an den Wortlaut von Ps 51,7 versperrt den bequemen Ausweg, die Schuld der Sünde auf ein tragisches Schicksal, auf etwas Überpersönliches oder auf das familiäre und gesellschaftliche Umfeld abzuwälzen. Der Beter erkennt zwar, dass die Sünde einen Vorsprung vor ihrer bewussten Wahrnehmung hat, aber er bekennt sie nicht als eine fremde, sondern als seine eigene Sünde. Die Sünde ist die durch den einen Menschen in die Welt hineingekommene, gemeinsame Sünde aller, unter die er mit seiner Geburt eintritt. Sie wird seine eigene jedoch nicht durch den Vorgang der Geburt, sondern dadurch, dass er ihr aus dem Zentrum seiner Person mit seinem Ich zustimmt und sie sich durch seinen Willen zu eigen macht.52 Mit dem Eintritt in das Menschengeschlecht übernimmt jeder Mensch im Zentrum seiner Person durch innere Zustimmung und willentlich die Grundausrichtung des Menschengeschlechts, auf die dieses durch den Abfall von Gott festgelegt ist. Das geschieht keineswegs aus Zwang, wäre der Mensch dann doch gegenüber dieser von der Sünde bestimmten Grundausrichtung in seinem Inneren frei, sondern vielmehr aus dem Grunde des menschlichen Herzens. Die Verkehrung der Grundausrichtung des Menschseins durch die Sünde Adams, die Haupt- oder Ursprungssünde, das peccatum originale, das in der inneren Abwendung von Gott im Unglauben besteht, aktualisiert sich in Sünden aller Menschen in Gedanken, Worten und Werken. Diese geschehen zwar notwendigerweise, aber durchaus nicht gezwungenermaßen.53 Sie erfolgen vielmehr als personhafte und willentlich vollzogene Taten des Menschen.54 Dieses Sündenverständnis, im Neuprotestantismus gänzlich abhandengekommen, liegt Luthers Lied zugrunde. Wenn er dichtet »mein Sünd mich quälte Nacht und Tag« (2,3), dann ist damit die Macht der Sünde einerseits angesprochen und ihre destruktive Wirkung auf den Menschen andererseits. Der sündenblinde Mensch sieht in der Sünde eine Form der Lebenssteigerung. In Wirklichkeit wirkt sich die Sünde lebensmindernd und lebensvernichtend aus. Laster und Süchte führen es 52 Nach Luthers Auslegung von Röm 4,7, in der er auf Ps 51,3–7 ausdrücklich Bezug nimmt (WA 56, 287, 10f.). 53 Unterscheidung nach WA 56, 385, 32 – 386, 5. 54 A.a.O., 386, 3f. Vgl. außerdem WA 18, 670, 10f.; WA 39 I, 378, 17f.

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vor Augen. Sie folgen auf die Sünde, aber die Sünde gibt sich nicht als Sünde zu erkennen, sondern verbirgt sich dahinter. Doch es ist immer »mein(e) Sünd(e) (2,3), »darin ich(!) war geboren« (2,4), die dahintersteht. Die Sünde »hatt’ mich besessen« (2,7). Sie übt das Besitzrecht über den Menschen aus, der sich ihr durch den Abfall von Gott ergeben hat. Dass sie dabei schonend verführe, ist nicht bekannt. Vielmehr üben die Sünde, der Tod und der Teufel ihr Besitzrecht über den Menschen hemmungslos aus. »Wenn der Mensch die Größe der Sünde fühlte, würde er keinen Augenblick länger leben: solche Gewalt hat die Sünde.«55 3 Kann man sich aus der Sünde herauswinden, die einen »besessen« (2,7) hat? Nein! Aber der Mensch versucht es gleichwohl durch die »guten Werk« (3,1). Exemplarisch dafür sind die Mönche, die sich durch die eigenen Werke zum Besseren zu wandeln vornehmen.56 Doch in dem mönchischen Streben spiegelt sich nur wider, was sich jeder sittliche und religiöse Mensch – im Unterschied zu den Ruchlosen, die weder Gott noch das Gesetz achten – vornimmt. Luther hat das an sich selbst erfahren, nachdem er im Sommer 1505 in das Kloster der Erfurter Augustiner-Eremiten eingetreten war.57 Er teilte die Ansicht, dass gute Werke auf die Person einwirken und ihr Wert verleihen können. Diese Ansicht findet sich keineswegs nur im christlichen Mönchtum. Sie erfreut sich vielmehr allgemeiner Verbreitung und wird zu allen Zeiten vertreten. Aber sie überdeckt eine verzweifelte Ausflucht. Denn es ist nicht möglich, durch die Gutheit der Werke die Gutheit der Person wiederherstellen zu können. Ausdrücklich wird daher in dem Lied festgestellt: »Mein guten Werk, die galten nicht« (3,1), »es war mit ihn’ verdorben« (3,2). Denn: »(Gute) Werke machen nicht gut, wie auch die Früchte nicht einen guten Baum ausmachen.«58 Dahinter steht ein Wort aus der Bergpredigt (Mt 7,17f.): »So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht

55 WA 39 II, 210, 20–22. Aus dem Lateinischen übersetzt. 56 Vgl. WA 20, 613, 29. Eine Fülle weiterer Belegstellen ist WA 67, 80 unter »opus« verzeichnet. Grundlegend für die Bewertung von Luthers Stellung zum Mönchtum ist nach wie vor B. Lohse, Mönchtum und Reformation, FKDG 12, Göttingen 1963, 201ff. 57 Vgl. dazu M. Brecht, Martin Luther, Bd. I, Stuttgart 31990, 55ff. 58 Vgl. WA 6, 95, 15f. Aus dem Lateinischen übersetzt.

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schlechte Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen.« Luther scheut sich nicht, den Hauptkontroverspunkt mit der scholastischen Theologie59 und – wie sich 1524/25 zeigen sollte – mit dem Humanismus, vertreten durch Erasmus von Rotterdam,60 in dem Lied anzusprechen (3,3–4): »der frei Will haßte Gotts Gericht, / er war zum Gut’n erstorben.« Davor sollte man doch wohl zunächst erschrecken; denn das heißt: Hass auf Gottes Urteil, also letztlich auf Gott selbst, bestimmt das Sein – und nicht nur die Werke – des Menschen vor Gott.61 Ferner wird zur Aussage gebracht, dass der Mensch seiner eigentlichen Bestimmung, dem Sein zum Guten, nicht nur entfremdet, sondern »erstorben« ist. Und das darf nicht verschwiegen, das muss gesagt werden!62 Denn wer das nicht weiß, weiß vom Christentum gar nichts.63 Sachlich gemeint ist: Der Mensch ist frei im Sinn der psychologischen Handlungs- und Wahlfreiheit, aber dies im Rahmen der durch die Hauptsünde, das peccatum originale, verkehrten Grundausrichtung seines von Gott abgewandten Willens. Die Unfreiheit des Willens beruht also nicht auf äußerem Zwang, wäre er doch dann innerlich frei, sondern vielmehr darin, dass der Wille auf sich selbst ausgerichtet und in dieser Gottabgewandtheit und Selbstbezogenheit in sich selbst gefangen ist und beständig um sich selbst kreist. Er ist frei zu allem, aber nicht frei, sich selbst zu ändern. Offen spricht das Lied von »Angst« (3,5). In der Bibel ist von ihr vor allem in den Psalmen die Rede, aber etwa auch Röm 2,9: »Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die Böses tun …« Luther interpretiert: »Angst ist da, wo sich kein Ausweg aus der Trübsal auftut.«64 Ge59 Aus den frühen Disputationen Luthers vgl. z.B. WA 1, 147, 38 – 148, 12; WA 1, 224, 13ff.; 227, 25ff.; WA 1, 359, 33f. Zum Verständnis vgl. vor allem L. Grane, Contra Gabrielem, AThD 4, Gyldendal 1962, bes. 263ff. 60 Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio, 1524, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. IV, Darmstadt 1969, 1–195, bes. 36/37. Dagegen: M. Luther, De servo arbitrio, 1525, WA 18, (551) 600–787, bes. 610ff. Wichtige Literatur zur Kontroverse in: M. Schulze, Luther, Martin, BBKL, Bd. V, 1993, 447–482, 481. 61 Auf den Punkt gebracht in These 17 der Disputation gegen die scholastische Theologie aus dem Jahr 1517: »Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen, dass Gott Gott ist. Vielmehr will er, dass er Gott und Gott nicht Gott sei« (WA 1, 225, 1f.; aus dem Lateinischen übersetzt). 62 So WA 18, 614, 1–3. 63 A.a.O., 614, 6f. 64 Vorlesung über den Römerbrief, 1515/16, WA 56, 21, 21f. Griech. stenochoria; lat. angustia; mittelhochdeutsch angest; Luther in seiner Bibelübersetzung: angst.

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meint ist die völlige Ausweglosigkeit, in die Gott selbst hineinführt, indem er durch sein Gesetz die Erkenntnis der Sünde wirkt (Röm 3,20; 7,7). »Hier erscheint Gott auf schreckliche Weise zornig und mit ihm zugleich die ganze Schöpfung. Dann weiß man nicht mehr, wo aus noch ein; da ist kein Trost, weder von innen noch von außen, vielmehr wird alles zur Anklage.«65 Diese Angst wirkt sich in der Seele aus, aber sie wird nicht von der Psyche hervorgebracht, sondern sie beruht auf dem »Streifen der Seele an jene endgeschichtliche Wirklichkeit des Gerichtes«66. Sie ist mit keiner Angst sonst vergleichbar; denn sie stellt ein eschatologisches und erst sekundär ein psychologisches Phänomen dar.67 Luther ist der Wiederentdecker der eschatologischen Dimension der Angst, weil er der Wiederentdecker des Evangeliums ist, das in die Freiheit von der Angst versetzt. Ferner ist es gerade das aus der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium gewonnene, vertiefte Verständnis der Angst gewesen, das der kommerziellen Ausbeutung der religiösen Ängste durch den Klerus im kirchlichen Ablasswesen ein Ende gesetzt hat. Nicht die eingebildete, auf krankhafter Selbstanklage beruhende Angst, sondern die wirkliche, durch Gottes heiligen Geist in der Bindung an das Wort des Gesetzes hervorgebrachte Angst ist es, die »mich zu verzweifeln trieb« (3,5). Diese Verzweiflung ist kein Betriebsunfall, sondern die von Gott beabsichtigte Wirkung des Gesetzes. Der Mensch soll an sich selbst und seinem Vermögen vor Gott verzweifeln.68 Diese Verzweiflung ist »heilsam«69. Sie führt ihn zur Erkenntnis seiner selbst, und er

65 Resolutiones, 1518, WA 1, 557, 37–39. Aus dem Lat. übers. 66 H.J. Iwand, a.a.O. (s. Anm. 16), 118. 67 Zum Verständnis des eschatologischen Phänomens der Angst darf man nicht von der heutigen säkularisierten Psychologie oder von der existentialistischen Philosophie ausgehen; denn beide haben die Eschatologie a priori ausgeblendet. Ein Beispiel für gescheiterte Luther-Interpretation bietet E.H. Erikson, Der junge Mann Luther, Frankfurt a.M. 1975 (amerik. 1958). Erikson macht die Quellen nicht verstehbar, sondern legt sie sich gemäß seinem psychoanalytischen Ansatz zurecht und deutet sie dementsprechend um. Faszinierend ist dagegen immer noch S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, dän. 1844; dt. erstmals 1912. Kierkegaard hat in der Angst den psychologischen Ausdruck des peccatum originale gesehen. Aber auch hinter Kierkegaard wird man zurückgehen müssen; denn um Luther zu verstehen, muss man Gesetz und Evangelium als Handeln Gottes auf dem Hintergrund der biblischen Eschatologie wieder neu verstehen lernen. 68 Vgl. WA 2, 526, 29–34 (zu Gal 3,22; 1519); WA 40 I, 232, 3 (zu Gal 2,16; 1531/35). Weitere Belege in WA 65, 43–47, bes. 47. 69 WA 56, 404, 33: »salutaris«.

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nimmt für seine Person wahr, »dass nichts denn Sterben bei mir blieb, / zur Höllen mußt ich sinken« (3,6–7). Wo nämlich »kein Guts« (2,6) ist, dort bleibt »nichts denn Sterben« (3,6). »Denn die Sünde nahm das Gebot zum Anlaß und betrog mich und tötete mich durch das Gebot« (Röm 7,11). Es ist die Sünde, die dem Menschen den Tod einbringt. Aber weil die Sünde erst durch das Gesetz sichtbar wird (Röm 7,13), darum ist es das Gesetz, »das erschreckt und tötet«70. Der Begegnung mit Gott, der ihn mit seinem heiligen Gebot (Röm 7,12) konfrontiert, kann kein Mensch standhalten. Er muss »zur Höllen … sinken« (3,7). In der Sache ist mit »Hölle« gemeint: abgeschieden sein von Gott, bei dem die Quelle des Lebens ist (Ps 36,10), und den gottwidrigen Mächten Sünde, Tod und Teufel ausgeliefert sein. Bild und Begriff »Hölle« implizieren außerdem: Einen Weg zurück gibt es nicht; die Sünde hält vielmehr unwiederbringlich in ihr fest. »Mitten in der Hölle Angst / unsre Sünd’ uns treiben.«71 4 Strophe 4 bildet insofern die Voraussetzung für alles, was in dem Lied zur Darstellung kommt, als in den Zeilen 1–2 der in Gott selbst liegende Beweggrund für sein Handeln aufgedeckt wird: »Da jammert Gott in Ewigkeit / mein Elend übermaßen.« Dass Gott der Schöpfer ist, der alles erhält, das kann die Philosophie gedanklich und begrifflich nachvollziehen. Aber was er in seinem innersten Wesen ist, nämlich angerührt von dem menschlichen Elend der Gefangenschaft unter die Verderbensmächte, so tief angerührt, dass er sich dem Elend nicht zu entziehen vermag: Das erschließt Gott erst mit dem In-Erscheinung-Treten seines Sohnes. Von ihm geht der Dichter des Liedes aus und schließt in den Strophen 4–5 auf das zurück, was Gott dazu bewogen hat: Ihn »jammert« das Elend, wie den Vater jammert, als er seines verlorenen Sohnes ansichtig wird.72 Er kann sich nicht bezwingen, er wendet ihm »das Vaterherz« (4,5) zu und fasst den Beschluss zur Rettung (4,4). Indem sich Gott von seiner »Barmherzigkeit« (4,3) bestimmen lässt, gewährt er einen Einblick in das, was er zuinnerst ist, und das ist schlechthin überwältigend: Gott wird von Not im Grunde seiner selbst ange70 WA 40 III, 178, 14f.: »Lex terret et occidit …« Vgl. außerdem vor allem WA 39 I, 50, 24f. 71 Mitten wir im Leben sind, 1524, AWA 4, 161; zitiert nach EG 518, 3. 72 Lk 15,20. Luther übersetzt splagchnizomai mit »jammern« (s.a. Mk 6,34; Mt 9,36 u.a.). Das ist viel treffender als »Mitleid haben« (Einheitsübersetzung).

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rührt; er ist aus Leidenschaft barmherzig; er ist – wie Luther in den Invokavitpredigten gesagt hat – »ein glühender Backofen voller Liebe«73. 5 In Strophe 5 wird der aus Gottes grundloser Barmherzigkeit geborene Rettungsbeschluss auf ein innergöttliches, binitarisches Gespräch zwischen Gott, dem Vater, und »seinem lieben Sohn« (5,1) zurückgeführt.74 Das Gespräch hat Luther in dichterischer Freiheit gestaltet. Es beruht auf der Wahrnehmung, dass Gottes Erbarmen in dem Sohn zur Anschauung gebracht worden ist. Denn Jesus »jammerte« das gottentfremdete, hirtenlose Volk (Mt 9,36); sein erbarmendes Ausgeliefertsein an diese Not war »der Grundzug seines Handelns«75. 5,1 ist die Einleitung zum binitarischen Gespräch; das Gespräch selbst umfasst 5,2–7. In der Anrede an seinen Sohn wird zunächst die Zeit festgelegt: »Die Zeit ist hier« (5,2). Darin liegt eschatologischer Sprachgebrauch in Anlehnung an Gal 4,4 und andere Stellen vor. Als Herr der Zeit legt Gott in souveräner Freiheit fest, wann der Rettungsbeschluss in der Zeit ins Werk gesetzt wird. Das Rettungswerk wird durch die Sendung des Sohnes (Gal 4,4; Röm 8,3) in Gang gesetzt: »fahr hin, meins Herzens werte Kron« (5,3). Gott setzt das Höchste ein; er lässt es »sein Bestes kosten« (4,7). Das ist sein lieber Sohn (5,1), der in ewiger, unvorgreiflicher Einheit mit Gott existiert, gleichen Wesens wie er, aber nicht personidentisch mit ihm. Der Auftrag lautet: »Sei das Heil dem Armen« (5,4). Das bedeutet: »Hilf ihm aus der Sünden Not« (5,5). Wohlgemerkt: nicht aus der sozialen Not, so niederdrückend sie ist, wenn sie einen trifft, sondern aus der eigentlichen Not, »der Sünden Not«. Mit der Sünde ist die versklavende Herrschaft des Todes aufgekommen (Röm 5,12). So schließt die Rettung von der Sünde die Entmachtung des Todes ein. Das aber heißt Kampf mit höchstem Einsatz. Denn der Tod stellt eine von Menschen unbezwingbare Macht dar. Er überschattet das ganze Leben durch die Furcht vor ihm (Hebr 2,15). Wünsche, Sehnsüchte, Gedanken, ob religiöser oder philosophischer Art, und Worte erweisen sich 73 WA 10 III, 56, 2f. (s.o. Anm. 29). 74 Die trinitätstheologische Relevanz von Strophe 5 hat O. Bayer, a.a.O. (s. Anm. 33), 200 und im Anschluss an ihn C. Helmer, Trinitätslehre, in: Das Luther-Lexikon, hg. v. V. Leppin u. G. Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, 702–705 (Lit.) mit Recht hervorgehoben. Strenggenommen handelt es sich in Strophe 5 aber nicht um ein trinitarisches, sondern um ein binitarisches Gespräch. 75 J. Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen (1936) 1984, 125 (z.St.).

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ihm gegenüber als nichtig und bringen nur die Ohnmacht zum Ausdruck. Der Tod muss bezwungen, er muss niedergerungen werden: »erwürg für ihn den bittern Tod« (5,6). Wer »erwürgen« für einen zu derben Ausdruck hält, der bedenke, dass der Tod selbst noch sehr viel derber ist. So wird schon in dem binitarischen Gespräch unmissverständlich benannt, was die Entsendung des Sohnes einschließt, nämlich das Ringen mit den Verderbensmächten Sünde und Tod, und zwar in Stellvertretung »für ihn« (5,6). 6 Die Ausführung des Rettungsbeschlusses ist Gegenstand der folgenden Strophen. »Sohn« (6,1) ist Abbreviatur von »Sohn Gottes«, dem wichtigsten christologischen Titel.76 Die Wendung »g’horsam ward« (6,1) hat Luther aus seiner Übersetzung von Phil 2,8 übernommen, bezieht sie aber hier auf das Verhältnis des präexistenten Gottessohnes zu Gott, dem Vater. Das Werk, das der Sohn vollbringt, geschieht aus der Einheit des Seins, Willens und Handelns mit Gott, dem Vater. Darauf beruht seine Heilsrelevanz. Es nimmt seinen Anfang mit der Menschwerdung des Sohnes. Die Inkarnation ist der erste, grundlegende Schritt Gottes77 im Vollzug seines Rettungsbeschlusses. Sie ist eine freie Heilssetzung Gottes – in der Geschichte, aber nicht aus ihr ableitbar. In dem Menschgewordenen ist Gott selbst »zu mir auf Erden (gekommen)« (6,2). Der Sohn ist gleichen Wesens wie Gott, aber nicht personidentisch mit ihm, sondern unter der Voraussetzung der unvorgreiflichen Einheit mit Gott, dem Vater, von ihm zu unterscheiden. Durch die Geburt »von einer Jungfrau rein und zart« (6,3) hat er die menschliche Natur angenommen.78 In allem den Menschen gleich geworden (Phil 2,7), nur in der Sünde nicht (2. Kor 5,21), sollte er »mein Bruder werden« (6,4). Der in76 Zur Erschließung christologischer Texte und Belegstellen vgl. WA 64, 410–422. Lit. in Auswahl: E. Wolf, Die Christusverkündigung bei Luther, 1936, in: ders., Peregrinatio (I), München 21962, 30–80; M. Lienhard, Martin Luthers christologisches Zeugnis, Göttingen 1980; K.-H. zur Mühlen, Luther II, TRE, Bd. 21, 1991, 530–567 (Lit.), bes. 542ff.; N. Slenczka, Christus, in: A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 22010, 381–392. 77 Vgl. Randbemerkungen, 1510/11, WA 9, 61, 35f.: »… est prima operatio dei …« Operatio = das Arbeiten, die Verrichtung (K.E. Georges, a.a.O. [s. Anm. 12], Bd. II, 1354). 78 Zu Luthers Rezeption der altkirchlichen Zweinaturenlehre s. die Belege in WA 64, 410 und aus der Literatur bes. D. Vorländer, Deus incarnatus, UKG 9, Witten 1974. Zum ockhamistischen Hintergrund vgl. R. Schwarz, Gott ist Mensch, ZThK 69 (1966), 289–351.

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karnierte Gottessohn ist weder ein in Menschengestalt gekleideter Halbgott noch ein allmächtiger Übermensch, sondern wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch in einer Person. Er übt seine »Gewalt« daher »heimlich« (6,5) aus, nämlich verborgen unter der Menschheit in einer »armen G’stalt« (6,6). Der Fürst dieser Welt soll nicht durch göttliche Allmacht, sondern durch menschliche Ohnmacht überwunden werden.79 7 Formal bestehen die Strophen 7–10 aus der Einleitungsformel 7,1 und einem sich über vier Strophen erstreckenden Wort (7,1–10,7), in dem Christus die Bedeutung der Stationen seines Weges und seines Werkes erschließt. Inhaltlich stellen die Strophen die Geschichte Jesu Christi als Verheißungsgeschehen in der Sprache der Verkündigung unter rechtfertigungstheologischer Perspektive dar. Wird 5,1 das binitarische Gespräch eröffnet, in dem der Rettungsbeschluss gefasst wird, stellt 7,1 den Beginn eines kerygmatischen Gesprächs dar, in dem Christus den Glaubenden durch sein Wort in sein Rettungswerk einbezieht. Wenn Gott schweigt, stirbt der Mensch (Ps 28,1). Dieses todbringende Schweigen hat Christus durchbrochen: »Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.« (Mt 11,28) Luther hat Jesu Heilandsruf hier in den Singular gesetzt: »Halt dich an mich« (7,1). Wer hört, der glaubt, hält sich an Christus und folgt seinem Ruf. Im Unterschied zur Gesetzes- und Werkgerechtigkeit, in der auf den guten Vorsatz immer wieder das Misslingen folgt, ist dem Gehorsam des Glaubens an Christus das Gelingen zugesagt: »Es soll dir jetzt gelingen« (7,2). Warum? Weil das Wort Tat ist, weil es auf Jesu Selbsthingabe und Stellvertretung beruht: »Ich geb mich selber ganz für dich« (7,3); darauf, dass er »für dich ringen (will)« (7,4). Als »Grund« für dieses Ringen Christi unter stellvertretendem Einsatz seines Leibes und Lebens wird genannt, was den, der es aufmerksam hört, fassungslos macht, weil es unbegreiflich ist und die in nichts begründete Liebe zum Grund erhebt: »Denn ich bin dein« (7,5). Mit dieser Zusage ist die Verheißung des ersten Gebotes als erfüllt zum Ausdruck gebracht. Dadurch, dass Christus sich selbst ganz hingegeben hat (7,3), hat er »mich verlornen und verdammten Menschen erlöst …, erworben, gewonnen …«80 Die Recht-

79 Zu 6, 7 (»den Teufel wollt er fangen«) vgl. WA 32, 41, 19–26. 80 Aus Luthers Erklärung des zweiten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus, 1529; zitiert nach EG 806, 2.

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mäßigkeit dieses Erwerbs duldet keinen Zweifel. Darum steht auch der zweite Teil von 7,5 im Indikativ: »und du bist mein.«81 Aus der zuvorkommenden Liebe Gottes in Christus erwächst die Liebe zu Gott, der sich in Christus offenbart, so dass umgekehrt auch der Glaubende bekennt: »Ich bin dein und du bist mein.« Die Liebe zu Gott ist nicht ins Belieben des Menschen gestellt, sondern eine unbedingte Notwendigkeit (5. Mose 6,4f.; Mk 12,29f. par.). Wo sie schwach ist, ist auch der Glaube schwach. Anders als 7,5, nämlich paränetisch, ist daher 7,6 formuliert: »… wo ich bleib, da sollst du sein.«82 Wo ist Christus? Dort, wo er als der Christus in der Bindung an die Schrift durch das Evangelium in der Unterscheidung vom Gesetz verkündigt und angerufen wird. Nur dort kann die Heilsgewissheit aufkommen: »uns soll der Feind nicht scheiden« (7,7).83 8 Nicht wie griechische Götter, die nach mythologischer Vorstellung besuchsweise auf die Erde gekommen sind, um Glanzpunkte zu setzen, ist der Sohn Gottes in Erscheinung getreten. Vielmehr ist Gott unumkehrbar in Jesus Christus Mensch geworden, um sich selbst ganz für die Menschen hinzugeben (7,3) – unter Einschluss von Schmach und Tod. Zu diesem Geschehen gibt es keine Analogie. Es stellt die endgeschichtliche Zuspitzung des Ringens um den Menschen dar. Wo es zur Entscheidung darüber kommt, ob der Mensch den Verderbensmächten unterworfen bleibt oder ob er ihnen entrissen wird, wird der »Teufel« (2,1) oder »Feind« (7,7) auf den Plan gerufen, weil er sich seine »Beute« (Lk 11,22 Par.) nicht entreißen lassen will. Er, »ein Mörder von Anfang an« (Joh 8,44), lässt Hand an den Sohn Gottes legen: »Vergießen wird er mir mein Blut, / dazu mein Leben rauben« (8,1–2). Aber an dem Sohn Gottes vergreift er sich (6,7); denn gerade durch den Tod Jesu am Kreuz wird das Rettungswerk vollbracht: »das leid ich alles dir zugut« (8,3). Mit den pronominalen Wendungen »für dich« (7,3.4) und »dir zugut« (8,3) sowie der Aussage »mein Unschuld trägt die Sünde dein« (8,6) hat Luther das stellvertretende Handeln Gottes in und durch Christus zum 81 Von Luther formuliert auf dem Hintergrund so bekannter Stellen wie Jes 43,1: »… ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!« 82 Zum biblischen Hintergrund vgl. Joh 12,26: »… wo ich bin, da soll mein Diener auch sein.« 83 Vgl. dazu Röm 8,31–39, bes. 35 u. 38f.: »Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? … Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte … uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.«

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Ausdruck gebracht: Gott ist in seinem Sohn an die Stelle der Sünder getreten und hat die Schuld der Sünde auf sich geladen. Er hat das Todesurteil über das der Sünde schuldige Menschengeschlecht stellvertretend an Jesus Christus am Kreuz vollstreckt, so dass die Menschheit nicht vernichtet, sondern begnadigt worden ist. Biblische Schlüsselstellen für den stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi, der dessen Präexistenz und Gottheit voraussetzt, sind bei Luther Röm 3,(23–)25; 4,25 und Joh 1,29. In dem Stellvertretungsgedanken – das Substantiv »Stellvertretung« gebraucht Luther noch nicht – liegt das Geheimnis seines theologischen Denkens verborgen.84 Denn auf dem stellvertretenden Sühnetod des präexistenten Gottessohnes beruht die Rechtfertigung des Gottlosen. Davon wird das Lied »Nun freut euch, lieben Christen g’mein«, ohne dass der Begriff Rechtfertigung in ihm vorkommt, in allen Strophen bestimmt. Über den menschgewordenen, gekreuzigten Sohn Gottes behält der Tod nicht das letzte Wort. Vielmehr: »Den Tod verschlingt das Leben mein« (8,5). Hat die Rechtfertigung ihren Grund in dem sühnenden Tod Jesu Christi, ist die Sühne durch Jesu Auferstehung in Geltung gesetzt. Die Vergebung der Sünden ist rechtskräftig erwirkt; der Zugang zu Gott steht offen. Nun ist in Kraft gesetzt, was in 5,7 als Bitte formuliert ist: »laß ihn mit dir leben.« Als Hauptbeleg für die Zusammengehörigkeit von Sühnetod, Rechtfertigung und Auferweckung dient Luther Röm 4,25: »(Christus) ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt.« In diesen Worten »ist kurzgefasst alles beschlossen, was man über Christus sagen kann«85. Dem Christuszeugnis der Schrift »muss geglaubt werden«86: »das halt mit festem Glauben« (8,4). Die grundlegende, aber keineswegs selbstverständliche reformatorische Unterscheidung zwischen Glaube und Werk, wie sie in paulinischen Kernstellen der Wittenberger Reformation wie Röm 3,28 und Gal 2,16 bezeugt wird, liegt auch diesem Lied zugrunde. Zwei Aspekte seien zum Verständnis hervorgehoben. Einmal: die Unterscheidung zwischen Glaube und Werk »(zielt) auf den sich selbst wertenden und gerade im Werk wertenden Menschen (ab)«87 und führt ihn durch die Negation aller Werkgerechtigkeit in die Krisis. Zum anderen 84 So mit Recht H.J. Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube, 1930, TB 14, München 31966, 24f. 85 Predigt am Ostertag 1525, WA 17 I, 185, 17f. 86 ASm II, 1; WA 50, 199, 8. 87 H.J. Iwand, a.a.O. (s. Anm. 84), 8.

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ist festzustellen, dass das keine allgemeinverständliche Wahrheit ist, die der Mensch eigenmächtig auf sich anwenden könnte, sondern dass das vielmehr allein durch den Glauben an Jesus Christus offenbar wird. Der Glaube an Jesus Christus ist Glaube an das Evangelium, das Gottes stellvertretendes Handeln in Christus als die rettende Gerechtigkeit Gottes zum Inhalt hat (Röm 1,16f.). Denn Jesus Christus ist »uns von Gott gemacht zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung« (1. Kor 1,30). Wo dieser Glaube Platz greift, »da bist du selig worden« (8,7). 9 Der Sühnetod Jesu Christi ist einmal am Kreuz auf Golgatha geschehen. Durch ihn ist das Erlösungswerk »vollbracht« (Joh 19,28.30) worden. Er ist in Kraft gesetzt und gilt ein für allemal durch die den Tod überwunden habende Auferstehung (8,5) und die Erhöhung des gekreuzigten Jesus Christus zur Rechten Gottes (9,1–2). Christi Himmelfahrt und sein Sitzen zur Rechten Gottes »muß man ein tätiges und kräftiges Ding sein lassen, das immerdar im Schwange geht«88. Als der Erhöhte hat Christus »mit allen zu schaffen« und regiert »in allen«89. »Da er auf Erden war, war er uns zu fern, jetzt ist er uns nah.«90 Jetzt will Christus »sein der Meister dein« (9,3). Denn: »Einer ist euer Meister« (Mt 23,8), und »einer ist euer Lehrer: Christus« (Mt 23,10). Christus ist der eine Meister und eine Lehrer, weil der eine Gott den, der sich selbst erniedrigt hat bis zum Tod am Kreuz, erhöht hat (Phil 2, 8.9). Es ist die Erhöhung Christi, die den erniedrigten Jesus Christus zum Lehrer der Menschheit macht und unter das Wort des menschgewordenen, irdischen, gekreuzigten Christus stellt. In der Bindung an das Wort der ersten Zeugen, das neutestamentliche Christuszeugnis, gibt sich Jesus als der Christus, Herr (Kyrios) und Meister (Didaskalos) zu erkennen und stellt Menschen hier und heute in seine Nachfolge. Aus dem Hören auf das apostolische Christuszeugnis erwächst die Kirche, und zwar in jeder Generation aufs neue. Der Grund dafür ist: Die Entstehung und Erhaltung der Kirche beruht auf dem schöpferischen Wirken von Gottes heiligem Geist, der in dem Evangelium wirksam ist, das zu Gehör gebracht wird. Der Heilige

88 Predigt zu Himmelfahrt 1523, WA 12, 562, 15–17. 89 A.a.O., 562, 22f. 90 A.a.O., 562, 25f. Wiedergegeben in heutigem Deutsch.

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Geist ist »Leben um der Gerechtigkeit willen« (Röm 8,10), die Christus durch seine Stellvertretung heraufgeführt hat. Er wird gegeben (9,4). In dieser Gabe, der endzeitlichen Heilsgabe schlechthin, in der Gott selbst gegenwärtig und wirksam ist, liegt die Erfüllung der prophetischen Verheißung (Jer 31,33f.; Hes 36,26f.). Der Heilige Geist ist keine neutrische Kraft, sondern wahrhaftiger Gott;91 als Person vom Vater und Sohn unterschieden,92 von denen er ausgeht.93 In Strophe 9 ist nicht das Handeln des Geistes bei der Schöpfung, sondern das desselben Geistes bei der endzeitlichen Heilsvermittlung thematisiert. Vorausgesetzt wird, dass das Verständnis für Christus nicht auf dem Boden der natürlichen Empfindungen erwächst oder auf der Wahrnehmung der Vernunft beruht. Vielmehr ist es allein der Heilige Geist, der Christus zu erkennen lehrt (9,6). Er handelt indessen nicht freischwebend, sondern in der Bindung an das äußere Wort Gottes. Treffend hat Luther das Werk des Geistes im Kleinen Katechismus erklärt: »Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten.«94 Außer der Erschließung und Erkenntnis Jesu Christi wird in Strophe 9 als Werk des Heiligen Geistes ausdrücklich die Tröstung in Trübnis und Anfechtung (9,5) sowie die Leitung in der Wahrheit (9,7) hervorgehoben. Der Heilige Geist, der »Tröster« (Joh 14,26 u.a.), bewirkt, dass die Angefochtenen – und gerade sie – im Glauben an Christus gewiss werden. »Der Glaube ist niemals stärker und herrlicher als dann, wenn die Trübsal und Anfechtung am größten ist.«95 Deshalb »rühmen« sich die Glaubenden »auch der Bedrängnisse« (Röm 5,3). Es ist der Heilige Geist, der verbürgt, dass die Glaubenden ans Ziel kommen und selig werden. »Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten« (Joh 16,13). 91 Vgl. WA 45, 22, 13ff. u.a. 92 Vgl. WA 54, 58, 23; weitere Belege in WA 70, 343. Zur Person des Heiligen Geistes vgl. R. Prenter, Spiritus creator, FGLP 10, 6, München 1954, 177ff.; P. Kärkkäinen, Luthers trinitarische Theologie des Heiligen Geistes, VIEG 208, Mainz 2005, 113ff. 93 Vgl. WA 7, 419, 13; WA 50, 274, 13 u.ö. 94 WA 30 I, 250, 2–8; zitiert nach EG 806. 2. Vgl. dazu A. Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 2: Der Glaube, hg. v. G. Seebaß, Göttingen 1991, 188ff.; K. Schwarzwäller, Fülle des Lebens. Luthers Kleiner Katechismus, Münster 2000, 131ff. 95 Predigten über das 2. Buch Mose, 1525, WA 16, 234, 30f.

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10 Die abschließende Strophe besteht aus einem Auftrag (10,1–4) und einer Warnung (10,5–7). Beide gehören insofern zusammen, als der Auftrag nur unter Beherzigung der Warnung erfüllt werden kann. Wie Gott vor allen Dingen und über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen ist,96 so gebührt dem Reich Gottes der Vorrang über alles andere (s. Mt 6,33). Es geht darum, dass es »gemehrt« (10,3) werde. In der heutigen Evangelischen Kirche droht der Auftrag Christi, der im Missionsbefehl (Mt 28,16–20) gründet, der Sicherung des institutionellen Bestandes und der Erhaltung des öffentlichen Einflusses der Kirche untergeordnet zu werden. Darin zeigte die »Kirche der Freiheit« wider Willen, dass sie in babylonischer Gefangenschaft lebt. Luther dagegen ging es in allem allein darum, dass das Wort im Schwange geht, und zwar »zu Lob und seinen (sc. Gottes) Ehren« (10,4). Daraus folgt alles andere: die Reformation der Kirche und die beispiellose Beachtung, welche die Verkündigung und Lehre in der Öffentlichkeit gefunden haben. In der am Schluss stehenden Warnung leuchtet die höchste Alarmstufe auf: »hüt dich vor der Menschen Satz« (10,5)! Spricht daraus nicht übertriebene Besorgtheit? Diese Frage gibt sich aufgeklärt, sie ist aber in Wahrheit philiströs. In ihr kommt die völlige Verkennung des Denkansatzes wie des Vollzuges der Reformation zum Ausdruck. Denn für das Verständnis der Reformation ist es von entscheidender Bedeutung, den Antagonismus von Schrift und Tradition in seiner Schärfe und Tragweite wahrzunehmen. Auf der Unvereinbarkeit von Evangelium und Menschensatzungen beruht der Bruch mit dem Papsttum und die Verwerfung der Opfermesse wie ihrer Folgen, kurz, der praktische Vollzug der Reformation.97 Die aus dieser Unvereinbarkeit hervorgerufenen Gegensätze haben den entscheidenden Jahrzehnten der Reformation vom Ablassstreit bis zum Schmalkaldischen Bund das Gepräge gegeben. Darin gerade hat sich Luthers außergewöhnliche theologische Sensibilität niedergeschlagen, dass er Gegensätze als Gegensätze zu erkennen lehrte und dass seine Theologie in unablässiger Differenzierung bestand. Wer zwischen dem Wort Gottes und Menschensatzungen nicht präzise zu unter96 Formuliert in Anlehnung an Luthers Erklärung des ersten Gebotes im Kleinen Katechismus. 97 Zusammenfassend dargestellt im zweiten und dritten Teil der Schmalkaldischen Artikel (WA 50, 198ff.). Am Schluss steht dann noch ein eigener Artikel über die Menschensatzungen (ASm III, 15; WA 50, 251, 30ff.; vgl. W. Führer, a.a.O. [s. Anm. 43], 121ff. u. 395ff.).

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scheiden weiß und diese Unterscheidungen nicht in der Praxis durchhält, ist kein Theologe im Sinne der Reformation. Wie ein Gemälde von Raffael oder Rembrandt durch Hinzufügungen nicht vollendet, sondern entstellt wird: so wird das Evangelium, »der edle Schatz« (10,6), verdorben, wenn man ihm etwas von Menschen Erdachtes hinzusetzt.98 Das Evangelium duldet keinen »Zusatz«99; es wird durch Menschensatzungen nicht ergänzt, sondern aufgehoben.100 Um des Evangeliums willen hat Luther daher auf der ausschließlichen Autorität der Heiligen Schrift bestanden. Die Formel sola scriptura ist in der Reformation aus dem überkommenen Biblizismus herausgelöst und von Luther in sachlicher Entsprechung zur Ausschließlichkeit Jesu Christi und des Evangeliums von Jesus Christus gebraucht worden. Nur durch das reformatorisch aufgefasste Schriftprinzip101 kann die Unverfälschtheit des Evangeliums und mit ihr die Apostolizität der Kirche sowie die Freiheit des Glaubens gewahrt werden. Wo immer es fehlt, wirft sich der fleischliche Mensch selbst zum Herrn seines Gottesverhältnisses auf und gestaltet dieses gemäß seinen religiösen Bedürfnissen. Das ist Luthers Vermächtnis: »das laß ich dir zur Letze« (10,7).

98 Vgl. Ein Sermon von dem neuen Testament, 1520, WA 6, 354, 28; ferner WA 10 III, 172, 10 u.a. 99 »Zusatz« (additamentum) ist der Gegenbegriff zur Exklusivpartikel »allein« (solus); vgl. E. Wolf, Leviathan, 1945, in: ders., Peregrinatio (I), München 21962, 135– 149, bes. 139f. 100 Vgl. WA 10 II, 83, 6f.; WA 18, 627, 34f. u.a. 101 Zum näheren Verständnis vgl. W. Führer, a.a.O. (s. Anm. 8), 13–48 und u. S. 60ff.

3. Die Rechtfertigung des Gottlosen 3. Die Rechtfertigung des Gottlosen

3.1 Luthers Entdeckung In seinem Lied »Nun freut euch, lieben Christen g’mein« hat Luther dem reformatorischen Verständnis der Rechtfertigung Ausdruck gegeben, ohne dass er den Begriff verwendet. Der Begriff fehlt auch in der Erklärung des zweiten Artikels im Kleinen Katechismus aus dem Jahr 1529, aber die »Sache« ist ohne Zweifel da. Wie ist Luther zur »Sache der Schrift« (res scripturae) vorgedrungen? Die Antwort ist ebenso einfach, wie sie zutreffend ist: Luther hat die »Sache der Schrift« durch nichts erkannt als durch die Schrift selbst. Als Bibelleser und Ausleger ist er durch Schriftauslegung ins Zentrum der Schrift vorgestoßen und hat die grundlegende, befreiende und kriteriologische Bedeutung des Artikels von der Rechtfertigung erkannt. Es sind biblische Bücher, aus ihnen wiederum einzelne Stellen, die ihn, den Doctor in bibliis,102 unwiderstehlich angezogen und fasziniert haben, ihn irritiert und ins Straucheln gebracht, ihn aber auch und vor allem wieder aufgerichtet, in Staunen versetzt und ihn schließlich haben jubeln lassen. Zuallererst gilt dies für den Psalter, aus ihm vor allem von den »sieben Bußpsalmen« und einzelnen Versen wie Ps 31,2 und 71,2, sodann vom Römerbrief, besonders 1,(16–)17; 3,20.21–28; 4,25; 5,12; 6,3ff. sowie von den Kapiteln 7 und 8, und von dem Galaterbrief, vor allem von 1,11; 2,15–21 und 3,13. In dem Ringen um das angemessene Verständnis der Schrift und insbesondere jener Schriftstellen spiegeln sich die Anfänge der Theologie Luthers von 1512/13 bis 1518/19 wider.

102 Zur Bedeutung von Luthers Doktorat vgl. H. Steinlein, Luthers Doktorat, Leipzig 1912, 36–46; G. Ebeling, Lutherstudien, Bd. III, Tübingen 1985, 10–14; M. Brecht, a.a.O. (s. Anm. 57), 126ff.; V. Leppin, Doktortitel, in: Das Luther-Lexikon, hg. v. V. Leppin u. G. Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, 172f.

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Charakteristisch für Luther ist die gegenseitige Durchdringung der Lebens- und Heilsfrage, nämlich wie er als sündiger Mensch vor dem gerechten Gott bestehen kann, mit der Frage nach dem Sinn der auszulegenden Schriftstellen im Rahmen der ihm aufgetragenen wissenschaftlichen Schriftauslegung. In der Koinzidenz von Heilsvergewisserung und Schriftvergewisserung liegt es begründet, dass die Antwort auf die Heilsfrage mit dem sachgerechten Verständnis einer Schriftstelle gegeben worden ist und dass wiederum durch die Sachgerechtheit des Verständnisses dieser Schriftstelle der Zugang zur ganzen Schrift geöffnet wurde. Diese Stelle ist nach Luthers eigener Schilderung des Durchbruchs der reformatorischen Erkenntnis Röm 1,17:103 »Gottes Gerechtigkeit nämlich wird in ihm offenbart aus Glauben auf Glauben hin, wie geschrieben steht (Hab 2,4): ›Der Gerechte wird aus Glauben leben.‹« Luther bekennt, er habe die Vokabel »Gerechtigkeit Gottes« gehasst, weil er darunter nach dem üblichen philosophischen Gebrauch die formale oder aktive Gerechtigkeit verstanden habe, durch die Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft.104 Der Hass gegen diese Vokabel war in seinem Kern Hass gegen Gott selbst, der die Ungerechten nicht nur durch das Gesetz, sondern nun auch noch durch das Evangelium mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedrohe.105 »Ich raste mit wildem und wirrem Gewissen; dennoch klopfte ich beharrlich an dieser Stelle bei Paulus an, begierig zu wissen, was Paulus wolle.«106 Der Durchbruch – den Luther auf Gottes Erbarmen zurückführt –107 erfolgte, als er auf »den Zusammenhang der Worte achtete«108, nämlich auf den Zusammenhang, wie er in Röm 1,17 besteht:109 »Gerechtigkeit Gottes« wird in ihm (sc. dem Evangelium; 1,16) »offenbart aus Glauben auf Glauben hin« – gemäß dem Habakukzitat, in dem die Stichworte »der Gerechte«, 103 Vorrede zum ersten Band der Gesamtausgaben seiner lateinischen Schriften, Wittenberg 1545, WA 54, (176) 179–187, bes. 185, 12ff. Die Literatur dazu ist fast unüberschaubar; vgl. vor allem B. Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, WdF 123, Darmstadt 1968; ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, VIEG.B 25, Stuttgart 1988. Aus der Zeit danach s. bes. B. Hamm, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010. 104 WA 54, 185, 17–20. 105 A.a.O., 185, 23ff. 106 A.a.O., 185, 28 – 186, 2. Übersetzung aus dem Lateinischen. 107 A.a.O., 186, 3. 108 A.a.O., 186, 3f.: »… connexionem verborum attenderem.« 109 A.a.O., 186, 4f.

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»Glaube« und »Leben« zusammenstehen und sich inhaltlich gegenseitig erläutern. »Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die zu verstehen, durch die der Gerechte als durch das Geschenk Gottes lebt, nämlich aus Glauben.«110 Der Sinn jener Schriftstelle ist also: »Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart; dabei ist klar: durch die passive (Gerechtigkeit), mit der uns der barmherzige Gott rechtfertigt durch den Glauben.«111 Das Evangelium fordert mithin nicht die Gerechtigkeit Gottes, wie es Luther gegen den philologischen Befund und gegen die theologische Aussage der Schriftstelle missverstanden hatte. Das Evangelium bringt vielmehr die Gerechtigkeit Gottes und eignet sie als das endzeitliche Heil zu; denn es ist die »Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, für den Juden zuerst, aber auch für den Griechen« (Röm 1,16). Festzuhalten ist: In dem sachgerechten Verständnis der Gerechtigkeit Gottes, wie sie durch den Wortlaut von Röm 1,17 bezeugt wird, besteht der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis. Luther hat durch die Auslegung der Heiligen Schrift, genauerhin durch das Achten auf den Zusammenhang der Worte einer Schriftstelle unter Berücksichtigung ihres nächsten Kontextes die Gerechtigkeit Gottes als den den Sünder rechtfertigenden Inhalt des Evangeliums entdeckt. »Da hatte ich die Empfindung, ich sei ganz und gar von neuem geboren und durch geöffnete Pforten in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir gleich darauf die ganze Schrift ein anderes Gesicht.«112 Aus diesem Zitat wird deutlich, dass der Durchbruch zugleich eine subjektive und eine objektive Seite hat. Er beruht objektiv auf dem sprachlich, exegetisch und theologisch nachvollziehbaren Verständnis von Röm 1,(16–)17, das auch heutiger Nachprüfung durchaus standhält.113 Subjektiv liegt in ihm die Befreiung von Gewissensqualen und die Öffnung des Paradieses, also der Friede mit Gott. Daraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, den die ältere katholische Lutherinterpretation gezogen hat: Luther habe

110 A.a.O., 186, 5f.: »ibi iustitiam Dei coepi intelligere eam, qua iustus dono Dei vivit, nempe ex fide.« 111 A.a.O., 186, 6f.: »revelari per euangelium iustitiam Dei, scilicet passivam, qua nos Deus misericors iustificat per fidem.« 112 A.a.O., 186, 8–10: »Hic me prorsus renatum esse sensi, et apertis portis in ipsam paradisum intrasse. Ibi continuo alia mihi facies totius scripturae apparuit.« 113 Im Blick auf die Rechtfertigungslehre vgl. z.B. O. Hofius, Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 21994, V; ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, V f.

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seine subjektive Entdeckung zur allgemeinen Norm erhoben.114 Die gegenteilige Schlussfolgerung ist vielmehr zutreffend: Die Schrift vermag – nicht unter Mithilfe von Esoterik, durch Enthusiasmus oder religiösen Subjektivismus, sondern durch das penible Achten auf den Zusammenhang ihrer Worte – sich selbst und zugleich den, der sie auslegt, ins Licht zu stellen. Das, was geschrieben steht über die Gerechtigkeit Gottes als Inhalt des Evangeliums, ist das, was die Schrift erschließt und zugleich das Tor zum Paradies öffnet. Wann erfolgte der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis? Es gibt keinen plausiblen Grund, die Entdeckung aus der Zeit von Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/16 herauszuverlegen. Denn bei der Auslegung von Röm 1,(16–)17 hat Luther das neue Verständnis bereits vertreten: »Allein im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, (das heißt, wer und auf welche Weise einer gerecht ist und gerecht wird vor Gott), nämlich allein durch den Glauben, mit dem man dem Wort Gottes glaubt.«115 Noch vieles ist zu dem Zeitpunkt zu klären, zu modifizieren und zu präzisieren, aber das Entscheidende ist bereits da: »Die Gerechtigkeit Gottes ist die Ursache des Heils.«116 Das ist nicht die, »durch die er (sc. Gott) in sich selbst gerecht ist, sondern die, durch die wir aus ihm selbst gerechtfertigt werden; das geschieht durch den Glauben an das Evangelium.«117 In die Zeit der Vorbereitung auf die Römerbrief-Vorlesung oder in die Vorlesungszeit selbst fällt der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis, von dem Luther in seinem Selbstzeugnis 1545 redet.118 Genauer lässt sich der Zeitpunkt des Durchbruchs nicht bestimmen; Luther hat ihn dreißig Jahre danach möglicherweise selbst nicht mehr exakter anzugeben gewusst. In dem Selbstzeugnis 1545 wird eine einmalige, befreiende Entdeckung geschildert. Zwar hat Luther auch danach noch theologische Entdeckungen gemacht, aber das Selbstzeugnis erlaubt es nicht,

114 Dagegen mit Recht M. Seils, Glaube, HST 13, Gütersloh 1996, 24; O. Bayer, a.a.O. (s. Anm. 33), 151f. 115 WA 56, 171, 28 – 172, 1: »Sed in solo euangelio reuelatur Iustitia Dei (i. e. quis et quomodo sit et fiat Iustus coram Deo) per solam fidem, qua Dei verbo creditur.« 116 A.a.O., 172, 3. Aus dem Lateinischen übersetzt. 117 A.a.O., 172, 4f.: »… qua ipse Iustus est in seipso, Sed qua nos ex ipso Iustificamur, quod fit per fidem euangelii.« 118 Ähnlich urteilen Forscher wie H. Bornkamm, L. Grane, G. Ebeling, H.A. Oberman, R. Schwarz u.a. (vgl. K.-H. zur Mühlen, TRE 21, 1991, 531f.).

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die reformatorische Entdeckung als gleitenden Prozess darzustellen.119 Luthers Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis um 1515 ist vielmehr die bleibende Grundlage seiner weiteren theologischen Entwicklung und gleichsam die Mutter aller folgenden Entdeckungen.

3.2 Konturen der Rechtfertigungslehre120 Die Rechtfertigungsfrage gründet in der Relation des Menschen zu Gott. Das Sein vor Gott (coram Deo) gehört zum Menschsein und ist die Grunddimension der menschlichen Existenz. Dass diese geleugnet werden kann und oft genug geleugnet zu werden pflegt, bringt sie keineswegs zum Verschwinden. Die Leugnung wirkt sich vielmehr als Existenzangst aus und lenkt die Rechtfertigungsfrage auf Götter, Menschen, Gegenstände, Organisationen, Ideen, Ideale oder Ideologien, die an Gottes Stelle treten oder diese bereits eingenommen haben. Mit der Rechtfertigungsfrage wird jedenfalls nicht irgendetwas, sondern das Menschsein als solches in die Krise geführt. Das Bestehen oder Nichtbestehen dieser Krise entscheidet über Sein oder Nichtsein. Luther, dessen Beruf es war, die Schrift auszulegen, ist der Rechtfertigungsfrage auf Schritt und Tritt begegnet, und zwar von vornherein in ihrer biblischen Gestalt. Schon gleich bei der Auslegung von Psalm 1 in der ersten Psalmenvorlesung findet sich die Wendung seipsum Iustificare,121 »sich selbst rechtfertigen«. Im Kontext der Auslegung ist gemeint: die Sünde, durch die der Mensch sein Verhältnis zu Gott beschädigt, ja aufgekündigt hat, zu leugnen und sich stattdessen selbst zu rechtfertigen, und dies, obwohl man gesündigt hat. »Auf diese Weise sucht man seine 119 So V. Leppin, Reformatorische Entdeckung, in: Das Luther-Lexikon, hg. v. V. Leppin u. G. Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, 589–592, bes. 591. 120 Grundlegend zum Verständnis von Luthers Rechtfertigungslehre ist nach wie vor H.J. Iwand, a.a.O. (s. Anm. 84), (1930) 1966; ders., a.a.O. (s. Anm. 16), (1941/41964) 1980; ferner E. Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie, 1949/50, in: ders., Peregrinatio, Bd. II, München 1965, 11–21. Umfassende Literaturangaben in: A. Peter, Rechtfertigung, HST 12, Gütersloh 2 1990, 27–30; G. Sauter (Hg.), Rechtfertigung als Grundbegriff evangelischer Theologie, TB 78, München 1989, 312–322; ders., Rechtfertigung IV, TRE, Bd. 28, 1997, 315–328, 325ff. Neueste Lit.: W. Mostert, Rechtfertigungslehre, hg. v. C. Möller u.a., Zürich 2011; W. Härle, Rechtfertigung/Rechtfertigungslehre, in: Das Luther-Lexikon, hg. v. V. Leppin u. G. Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, 578–582 (die älteren, wichtigeren Titel sind in Härles Literaturverzeichnis nicht aufgenommen). 121 Dictata super Psalterium, 1513(–16), WA 3, 15, 38 / WA 55 II, 3, 5.

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eigene Gerechtigkeit gegen Gott und dessen Gerechtigkeit aufzurichten, was wiederum heißt: Gott zu leugnen und sich ein Götzenbild zu machen.«122 Das Zitat unterstreicht: Rechtfertigung ist ein relationaler Begriff, der im Bezugsrahmen des Verhältnisses Gott – Mensch steht. Für das Verhältnis zu Gott ist eigentümlich, dass die Leugnung der Sünde ein Akt der Selbstrechtfertigung des Menschen ist, durch den dieser seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten sucht, die der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan ist (s. Röm 10, 3). Selbstrechtfertigung durch die Leugnung der Sünde ist also eine subtile Form der Negation Gottes und zugleich der Idolatrie. Wie die Selbstrechtfertigung auf der Leugnung der Sünde beruht, so beginnt das Rechtfertigungsgeschehen mit dem Bekenntnis der Sünde. Während der Mensch mit der Leugnung der Sünde Gott widerspricht und auf seinen eigenen Vorstellungen beharrt, gibt er mit dem Bekenntnis der Sünde Gott recht und hebt die Vorstellungen auf, die er in sich selbst über Gott und die Sünde aufgerichtet hat. Die Zuspitzung der Rechtfertigungsproblematik auf diese einfache Entgegensetzung steht bei Luther am Ende eines intensiven Suchens und aufreibenden Ringens. Der Knoten ist durch ein Psalmwort gelöst worden, dessen zweite Hälfte Paulus in Röm 3,4 angeführt hat,123 nämlich Ps 51,6 (50,6 LXX). Der Vers lautet in Luthers Übersetzung des hebräischen Psalters: »An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf daß du recht behältst124 in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest.« Zwischen Gott und Mensch wird ein Rechtsstreit, »ein kriegerischer Gerichtshandel«125 ausgetragen. In ihm »streitet die menschliche Natur mit

122 WA 3, 15, 38 – 16, 1 / WA 55 II, 3, 5–7. Übersetzung aus dem Lateinischen. 123 Bei der Auslegung von Röm 3,4f. setzt Luther mehrere Male an, braucht zur Ertragssicherung mehrere »Zusätze« (Corollarien) und schreibt über 20 Seiten (WA 56, 212–234). Doch gerade diese – nach exegetischen Maßstäben unausgewogene – Auslegung »wird sein Kompaß und Leitstern in den Irrsalen der Theologie und des angefochtenen Gewissens« (H.J. Iwand, a.a.O. [s. Anm. 16], 21). 124 »… recht behaltest« (Lutherbibel 1545) ist die Übersetzung des hebräischen Verbs, das wörtlich mit »gerechtfertigt dastehen« wiederzugeben ist. Im Griechischen steht Ps 50,6 LXX und Röm 3,4 das Verb dikaióō = lat. iustificare, dt. rechtfertigen. 125 Zu Ps 51,6, 1517, WA 1, 187, 24f.

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Gott, ob das Wort wahr sei, das verkündet, alle Menschen seien unter der Sünde, Gott allein aber sei gerecht«126. In diesem Streit geben einige Gott recht;127 doch der Großteil der Welt verwirft Gottes Urteil und rebelliert dagegen.128 »Ja, auch in uns selbst gibt es Kampf gegen dieses Urteil Gottes.«129 Dieser Kampf darf nicht verschwiegen, er muss offen angesprochen und ausgetragen werden. Aus Selbsterhaltung redet der alte Mensch die Sünde klein und verharmlost sie, obwohl sie die Macht ist, die über ihn herrscht. Aber die auf der Leugnung und Beschönigung der Sünde beruhende Selbsteinschätzung des Menschen muss in die Krise geführt und aufgehoben werden. Denn sie ist unwahr und hält den Menschen in der Unwahrheit fest. Sie negiert Gott, indem sie die Rechtmäßigkeit seines Urteils bestreitet, und verteidigt die Möglichkeit der Selbstrechtfertigung durch Werke.130 Der Glaube, der zur Rechtfertigung führt, wirkt sich daher immer in doppelter Weise aus: »im Ergreifen der Wirklichkeit Gottes und im gleichzeitigen Zerstören der Verfälschung dieser Wirklichkeit in uns … Denn Gottes Offenbarung trifft den Menschen nicht leer an, wir … sind erfüllt mit allerlei religiösen Vorstellungen und Gedanken, die abgebaut werden müssen, wenn Raum geschaffen werden soll für die wahre Erkenntnis Gottes.«131 Der Mensch wird wahr mit dem Bekenntnis »An dir allein habe ich gesündigt«; denn dadurch erkennt er sich vor Gott als unwahr und sündig an. Das wiederum bedeutet: »Dann wird Gott in seinen Worten gerechtfertigt.«132 Gott steht also »in seinen Worten«, mit denen er das Urteil über den Menschen spricht, »gerechtfertigt da« (Ps 51,6 / Röm 3,4), wenn man seinen Worten glaubt und dadurch Gott selbst recht gibt.

126 Zu Ps 51,6, 1532 (1538), WA 40 II, 371, 18–20. Übers. aus dem Lat. 127 A.a.O., 371, 37: »… iustificant Deum.« Dieses Thema, entfaltet 1515/16 bei der Auslegung von Röm 3,4, hat Luther 1532 bei der Vorlesung über Ps 51,6 vertieft. Zu der formelhaften Wendung »Gott recht geben« (Deum iustificare) s. H.J. Iwand, a.a.O. (s. Anm. 16), 21ff. 128 A.a.O., 371, 38ff.; 373, 27ff. 129 A.a.O., 373, 29. Übers. aus dem Lat. 130 Vgl. a.a.O., 376, 32f.: »Einen solchen Gott, der durch unsere Werke versöhnt wird, hätte die Natur gern.« Übers. aus dem Lat. 131 H.J. Iwand, a.a.O. (s. Anm. 16), 24. 132 Zu Röm 3,4 (Ps 51,6), WA 56, 212, 26: »… tunc Iustificatur Deus in sermonibus suis.«

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Wie Jesu Verkündigung den Bußruf Johannes des Täufers vorausgesetzt hat,133 so stellt Paulus im Römerbrief den Nachweis der Schuld aller vor Gott der Entfaltung der Rechtfertigung allein durch den Glauben voraus. Luther hat dem dadurch entsprochen, dass er in jenem »Gerichtshandel« einen notwendigen Bestandteil des Rechtfertigungsgeschehens gesehen hat, würde doch ohne ihn der alte Mensch dem neuen nicht weichen und das Ziel der Rechtfertigung verfehlt. Das Ziel der Rechtfertigung ist das neue Leben aus Gottes endzeitlichem Heilsgut der Gerechtigkeit Gottes. Dieses Ziel wird dadurch erreicht, dass Gott durch das Wirken seines Geistes »die Gleichförmigkeit von Wort und Glaubenden«134 in diesem herstellt. Denn: »Gott wandelt uns in sein Wort, nicht aber sein Wort in uns.«135 Zur Verdeutlichung des Rechtfertigungsgeschehens sei Luthers Auslegung von Ps 130 aus dem Jahr 1517 herangezogen.136 Der Beter des Psalms ist »seinem Jammer aufs allertiefste zugekehrt« (206, 30). Er ruft aus der Tiefe! »Wir sind alle in tiefem, großem Elend, aber wir fühlen nicht alle, wo wir sind« (206, 31f.). Es folgt in Vers 3 eine alttestamentliche Formulierung der Rechtfertigungsfrage: »Wenn du, HERR, Sünden beachten137 willst – Herr, wer wird bestehen?« Es mag sein, dass man vor Menschen bestehen kann. Aber: »Was hülfe es, dass alle Kreaturen mir gnädig wären und meine Sünde nicht beachteten und erließen, wenn sie Gott beachtet und behält?« (207, 17f.) Umgekehrt: »Was schadet es, wenn alle Kreaturen mir die Sünde anrechneten und behielten, wenn sie Gott erläßt und nicht achtet?« (207, 18–20) Vor dem Hintergrund »der strengen Urteile Gottes« (207, 23) ist der Psalm entstanden. Die »Furcht vor dem Gericht Gottes«, die aufkommt, »muss« sein, »des alten Menschen halber«, dem Gott entgegensteht (207, 26–28). Aber »neben dieser Furcht besteht Hoffnung auf die Gnade angesichts der Barmherzigkeit, die dieser Furcht zugewandt ist um des neuen Menschen willen« (207,

133 Vgl. Mt 3,2 mit 4,17 par. und dazu J. Schniewind, Was verstand Jesus unter Umkehr?, in: ders., Die Freude der Buße, hg. v. E. Kähler, KlVR 32, Göttingen 21960, 19–33, 23ff. 134 WA 56, 227, 6f.: »… similis forma est in verbo et in credente.« 135 A.a.O., 227, 4f.: »Et ita nos in verbum suum, non autem verbum suum in nos mutat.« 136 Die sieben Bußpsalmen, 1517, WA 1, 206–211. Zweite Bearbeitung 1525, WA 18, 516–521. Die Stellennachweise im obigen Text beziehen sich auf WA 1; die Zitate werden behutsam modernisiert wiedergegeben. 137 Lutherbibel 1545: »zu rechen«; Revisionsausgabe 2000: »anrechnen«.

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28–30). Vor dem Urteil Gottes gibt es »keine Zuflucht zu etwas anderem, wo jemand bestehen oder bleiben könnte« (208, 2f.). Vielmehr gilt: Bei Gott »allein ist die Vergebung« (208, 5; s. Ps 130,4). Gott erweist sich »wunderlich in seinen Kindern«; denn er macht sie mit einander widersprechenden Dingen – Furcht hier, Hoffnung dort – »selig« (208, 19f.). Er handelt wie ein Bildhauer: Indem er abhaut, was am Holz nicht zum Bild gehört, fördert er die Form des Bildes (208, 27–29). »So wächst in der Furcht, die den alten Adam abhaut, die Hoffnung, die den neuen Menschen formt.« (208, 29f.) Der Zeitpunkt der Umformung bleibt Gott vorbehalten. »Ich harre des HERRN, meine Seele harret« (Ps 130,5a). Wann die Hilfe kommt, weiß die Seele nicht. Sie stellt es Gottes gutem Willen anheim, aber an der Hilfe selbst zweifelt sie nicht (209, 1–3). Die Hoffnung gründet sich »auf sein Wort« (Ps 130,5b). »Dieses Wort und Verheißen Gottes ist der ganze Unterhalt des neuen Menschen« (209, 22f.). Die aus Verzweiflung ihre Zuflucht zu ihren Werken nehmen, wollen sich selbst »herausarbeiten« (210, 37). Aber das ist ein Irrweg, der nur tiefer in die Verzweiflung hineinführt. An die Stelle dieser Ausflucht tritt die Gewissheit: »Er, er, Gott selbst, und nicht wir selbst, wird Israel erlösen« (211, 5; nach Ps 130,8). Aus der Auslegung von Ps 130 wird deutlich: Das Rechtfertigungsgeschehen beginnt mit der Anrufung Gottes, mit dem Bekenntnis der Sünde und der Bitte um Vergebung im Gebet138 angesichts des Nichtbestehenkönnens vor ihm. Alles ist auf die Relation Gott – Mensch fokussiert. In der Abwendung von allem, was nicht Gott ist, und der Umkehr allein zu Gott ist die Ursprungssituation der Rechtfertigung zu sehen. Darin gründet zugleich die Freiheit: dass der Mensch nicht um sich selbst kreist, sondern um Gott. Die Rechtfertigung wird dadurch zum Widerfahrnis, dass der sündige Mensch Gottes Handeln durch Gesetz und Evangelium – wie es Luther später genannt hat – ausgesetzt wird: Gott spricht schuldig und vergibt; er »tötet und macht lebendig« (1. Sam 2, 6) durch das Wirken seines Geistes. Dadurch entsteht das Gottesvolk, das »aus dem Geist erzeuget« wird139. Vor diesem Hintergrund wird der 138 Vgl. dazu R. Hermann, Das Verhältnis von Rechtfertigung und Gebet nach Luthers Auslegung von Römer 3 in der Römerbriefvorlesung, 1926, in: ders., Gesammelte Studien zur Theologie Luthers und der Reformation, Göttingen 1960, 11– 43. 139 So Luther in seiner Nachdichtung von Ps 130 »Aus tiefer Not schrei ich zu dir«, 1524, Strophe 4 (AWA 4, 1985, 191f.; EG 299, 4).

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Weg der Werkgerechtigkeit als töricht und vergeblich offenbar: »Darum auf Gott will hoffen ich, / auf mein Verdienst nicht bauen« (EG 299, 3). Nach der Bestimmung des Ortes der Rechtfertigung, den sich Luther durch Psalmen hat zuweisen lassen, ist nun der Inhalt und Vollzug der Rechtfertigung näher zu bestimmen. Worin dieser besteht, hat der Reformator aus den Briefen des Paulus an die Römer und Galater gelernt. Ich beschränke mich in den folgenden Ausführungen auf das zentrale Problem: das Verhältnis Christusglaube – Rechtfertigung. Luther kann die Rechtfertigung sowohl dem Glauben an das Evangelium als auch dem Glauben an Christus zuschreiben.140 Warum? Weil das Evangelium das Wort Gottes ist, das mächtig ist, alle zu erretten, die an es glauben.141 Die Kraft Gottes zur Rettung ist das Evangelium deshalb, weil in ihm die Gerechtigkeit Gottes offenbart wird (Röm 1,16.17). Das wiederum hat seinen Grund darin, dass Jesus Christus, der Sohn Gottes, der Inhalt des Evangeliums ist (Röm 1,3–4). Das »Evangelium Gottes« (Röm 1,1) handelt »von seinem Sohn Jesus Christus« (1,3), »der Fleisch geworden ist aus dem Geschlecht Davids«142. Die Inkarnation impliziert im Blick auf die Person des Menschgewordenen: »Der, der vor allem war und alles geschaffen hat, hat selbst einen Anfang genommen und ist geworden.«143 Dieser ist der Inhalt des Evangeliums. Aber zur Bestimmung seiner Person gehört außerdem unabdingbar hinzu, dass er nach der Vollbringung seines Werkes nun »eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist der Heiligkeit durch die Auferstehung von den Toten« (1,4).144 Das Werk des Sohnes Gottes, durch das aus der verklagenden Gerechtigkeit Gottes die rettende Gerechtigkeit Gottes geworden ist, besteht darin, dass ihn Gott »um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt« hat (Röm 4,25),145 also in der stellvertretenden Sühne für unsere Sünden (Röm 3,25).146 Der Nachdruck liegt, wie Luther in seiner Auslegung von Gal 3,13 hervorgehoben hat, »auf dem Wörtchen ›für uns‹«147. Christus – unschuldig (innocens), was seine Person betrifft – hat die Person aller Sün140 141 142 143 144 145 146 147

Vgl. z.B. WA 56, 171, 28 – 172, 1 einerseits und 255, 20ff. andererseits. Glosse zu Röm 1,16.17, WA 56, 10, 16f. Scholie zu Röm 1,3.4, WA 56, 167, 11. A.a.O., 167, 12f. Übersetzung aus dem Lateinischen. Vgl. dazu a.a.O., 167, 14ff.; zusammenfassend 168, 33 – 169, 3. Zu Röm 4,25 vgl. bes. WA 56, 296, 17–22. Vgl. die Glosse zu Röm 3,25, WA 56, 38, 13ff., bes. Z. 16. WA 40 I, 433, 16f. Übers. aus dem Lat.

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der vertreten und hat alle unsere Sünde auf sich genommen und ist für sie am Kreuz gestorben.148 Weil also Christus der Inhalt des Evangeliums ist und das Evangelium wiederum wegen dieses Inhalts die Kraft Gottes zur Rettung ist, die ihrerseits auf dem stellvertretenden Versöhnungshandeln im Tod und der Auferstehung Jesu Christi beruht: Darum bestimmen sich Christusglaube und Rechtfertigung wechselseitig und begrenzen zugleich einander. Die wechselseitige Näherbestimmung betrifft beide gleicherweise. Das geht aus folgenden Zitaten hervor: »Der Glaube rechtfertigt, der Christus, den Sohn Gottes, ergreift und durch ihn geschmückt wird.«149 Ferner: »Der Glaube ergreift Christus und hat ihn gegenwärtig und schließt ihn ein wie der Ring den Edelstein. Und wer mit diesem Glauben erfunden wird, der Christus im Herzen ergreift, den sieht Gott als gerecht an.«150 Schließlich noch ein Beleg aus den Thesen De fide (1535) über Röm 3,28. Paulus habe von dem Glauben geredet, der Christus in uns wirkungskräftig macht gegen den Tod, die Sünde und das Gesetz.151 »Das ist aber der Glaube, der Christus ergreift, der für unsere Sünden gestorben und für unsere Gerechtigkeit auferstanden ist.«152 Die wechselseitige Erschließung, Näherbestimmung, Entfaltung und Begrenzung von Christusglauben und Rechtfertigung hat sich nicht nur in den Vorlesungen, sondern auch in den Predigten und selbst in den Liedern niedergeschlagen. Was es heißt, dass der Artikel von der Rechtfertigung Christus als Gottes Gerechtigkeit (1. Kor 1,30) entfaltet, lässt sich dem Lied »Nun freut euch …« aus dem Jahr 1523 gut entnehmen. Das, »was Gott an uns gewendet hat« (EG 341: 1,5), »seine süße Wundertat« (1,6), löst Freude aus (1,1), nicht eine beliebige, sondern die endzeitliche, die »uns fröhlich springen (läßt)« (1,2), weil die Seins- und Heilsfrage gelöst ist. Warum? Weil Gott »mein Elend (jammert)« (4,1– 2), der ich dem Teufel gefangen lag (2,1), im Tod verloren (2,2), zum Guten erstorben war (3,4), Gott hasste (3,3), von Angst in Verzweiflung getrieben (3,5). Gott »wandt zu mir das Vaterherz« (4,5), »er ließ’s sein Bestes kosten« (4,7), nämlich seinen »lieben Sohn« (5,1), präexistent wie 148 A.a.O., 433, 18.20f.23f. 149 Zu Gal 2,4f., WA 40 I, 165, (12) 13f. Übers. aus dem Lat. Zur fides apprehensiva s.a. bereits WA 2, 13, 16ff. 150 Zu Gal 2, 16, WA 40, I, 233, 17–19. Übers. aus dem Lat. 151 Th. 10, WA 39 I, 45, 16f. 152 Th. 12, a.a.O., 45, 21f. Übers. aus dem Lat.

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Gott selbst (6,2), von einer Jungfrau geboren (6,3): Der »sollt mein Bruder werden« (6,4), »das Heil« (5,4), nämlich die Hilfe (Rettung) »aus der Sünden Not« (5,5). Wodurch? Durch seine stellvertretende Übernahme von Sünde und Tod: Sie kostet ihn sein Blut (8,1), raubt ihm das Leben (8,2), und das »alles dir zugut« (8,3). Das »halt mit festem Glauben« (8,4); »da bist du selig worden« (8,7)! Das ist die Rechtfertigungslehre in nuce, ohne dass der Begriff Rechtfertigung gebraucht wird: Christus, seine Person und sein Werk, steht beherrschend im Mittelpunkt. Die ganze Theologie ist auf einem Blatt Papier zusammengefasst; die Heilige Schrift ist erschlossen. Aus dem Lied geht mit großer Deutlichkeit hervor, was die Rechtfertigungslehre ist, nämlich die Entfaltung der Christologie und Soteriologie auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen dem Glauben und den Werken, durch welche der sich aus den Werken bewertende Mensch ins Licht der Offenbarung Gottes in Christus gestellt und infolge der Erkenntnis seiner Sünde in die Krise geführt wird. Der Sprachgebrauch des Liedes lässt keinen Zweifel an der unlöslichen Zusammengehörigkeit von Rechtfertigung, Christologie und Soteriologie, Sünde und Gefangenschaft des Menschen sowie der Befreiung aus der Gefangenschaft und Verfallenheit an Sünde und Tod durch das Werk des Sohnes Gottes, der mit Gott, dem Vater, wesenseins, aber nicht personidentisch ist.

3.3 Was die EKD unter Rechtfertigung versteht Der Rat der EKD hat 2014 einen »Grundlagentext« unter dem Titel »Rechtfertigung und Freiheit« vorgelegt, erarbeitet von einer ad-hocKommission (RF 112) und herausgegeben vom Kirchenamt der EKD.153 In dem Text werden nach einem längeren Einleitungskapitel (RF 11–43) »Kernpunkte reformatorischer Theologie« (RF 44–93) behandelt. Abschließend wird die Frage erörtert, wie das Jubiläum 2017 angemessen begangen werden kann (RF 94ff.). Es soll geprüft werden, ob der Grundlagentext der Reformation und insbesondere der reformatorischen Rechtfertigungslehre gerecht wird. 153 Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. v. Kirchenamt der EKD, Gütersloh 2014. Zitiert unter der Abkürzung RF. Gegen den Grundlagentext wendet sich mit Recht R. Slenczka, Neues und Altes, Bd. 4, Neuendettelsau 2016, 410–423.

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Dabei ordne ich einzelne Aussagen Schwerpunktthemen zu, die in dem Grundlagentext selbst hervorgehoben sind. I. Das Verständnis der Reformation Der Grundlagentext differenziert nicht zwischen Reformation und Reform. Das scheint unerheblich zu sein, wiegt aber in Wirklichkeit schwer. Denn es hat zur Folge, dass »Reformation« im Unterschied, ja im Gegensatz zur Wittenberger Reformation aufgefasst wird. Luther hat die Reformation »als Werk Gottes«154 verstanden. Das bleibt im Grundlagentext unbeachtet. Stattdessen wird ausdrücklich die Formel ecclesia semper reformanda angeführt (RF 23). Diese Formel ist aber keineswegs reformatorisch.155 Sie beruht vielmehr auf der TheoriePraxis-Spaltung der Neuzeit. Sie steht im Gegensatz zu Luthers Verständnis der Lebendigkeit und souveränen Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes, wie er es in den Invokavitpredigten 1522 entfaltet und auch in der Folgezeit vorausgesetzt hat. Reformation und Reform unterscheiden sich grundlegend voneinander. Eine Vielzahl von Reformen ergibt noch keine Reformation. Sie deckt sie vielmehr zu und entfernt von der Reformation. Es ist deshalb im Ansatz falsch, die Reformation als »eine offene Lerngeschichte« (RF 34ff.) im Sinne jener Formel zu interpretieren. Die Formel ecclesia semper reformanda ist eine Leerformel. Nach der Vielzahl von Reformen im vergangenen halben Jahrhundert hätte die EKD den unreformatorischen Ansatz ihrer Reformen endlich einmal kritisch hinterfragen müssen. Stattdessen trägt sie diesen falschen Ansatz in die Reformation selbst ein. Die EKD stellt sich unter den Glanz und das Pathos, das von dem Wort »Reformation« ausgeht, um den Weg fortsetzen zu können, der von der Reformation wegführt. II. Die Deutung der Rechtfertigungslehre Die Behandlung des zentralen Themas der Reformation, der Rechtfertigung, beginnt der Grundlagentext mit der Frage, wie man die Rechtfertigungslehre »heute verständlich zur Sprache bringen« (RF 24) könne. Setzt der Text mit dieser Frage nicht bereits falsch ein? Ja, in dreifacher Hinsicht. Erstens muss man ein Thema zunächst klar erfasst und strin154 B. Lohse; zitiert o. Anm. 3. 155 Vgl. T. Mahlmann; zitiert o. Anm. 6.

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gent dargelegt haben, bevor man es verständlich zur Sprache zu bringen sucht. Den Nachweis der stringenten Darlegung der reformatorischen Rechtfertigungslehre ist der Grundlagentext aber in allen Kapiteln schuldig geblieben. Im Ergebnis hat die Überordnung der Didaktik über die Theologie das Rechtfertigungsthema nicht erschlossen, sondern vielmehr verdunkelt. Zweitens wird mit der Ausgangsfrage des Grundlagentextes die Unverständlichkeit der Behandlung des Themas Rechtfertigung in der Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart unterstellt. Ist die Rechtfertigung des Gottlosen in der Exegese und Systematischen Theologie, etwa durch Ernst Käsemann, Otfried Hofius, Hans Joachim Iwand, Peter Brunner und Gerhard Ebeling, um nur einige Namen zu nennen, nicht in wissenschaftlichen Arbeiten plausibel dargelegt und in Predigten nachvollziehbar verkündigt worden? Drittens ist an den Grundlagentext die Frage zu richten, was denn die Vermittlung der Vermittlung für einen Sinn haben soll? Die Rechtfertigungslehre ist die sachgerechte Interpretation und Vermittlung des zentralen Inhalts der Heiligen Schrift. Mit der Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes als des Inhalts des Evangeliums von Jesus Christus aufgrund der Auslegung von Röm 1, (16)17 hat sich Luther der Zugang zur ganzen Schrift geöffnet.156 Die sachlich angemessene Rückfrage muss lauten, ob er der Schrift gerecht geworden ist. Die Rechtfertigungslehre ist durch Schriftauslegung gewonnen und ausgebildet worden. Sie wurde wiederum bei der Schriftauslegung in Lehre, Unterweisung und Verkündigung im Alltag in Anwendung gebracht. Sie kann nur durch die Auslegung einschlägiger Bibeltexte unter Berücksichtigung des Kontextes interpretiert, das heißt verifiziert oder falsifiziert werden. Es führt von vornherein auf Abwege, biblische Texte außen vor zu lassen. Wer sine scriptura argumentiert, verfehlt den Modus loquendi theologicus der Reformation.157 Das aber muss man dem Grundlagentext vorwerfen. Es werden zwar einzelne Bibelstellen genannt, aber sie spielen keinerlei erkenntnisleitende Rolle. Die Argumentation geht weder von ihnen aus noch läuft sie auf sie zu. Sie dienen lediglich als Ornament.

156 S.o. Anm. 112. 157 Vgl. dazu L. Grane, Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518), AThD XII, Leiden 1975.

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Der theologische Bezugsrahmen der Rechtfertigungslehre ist das biblische Christuszeugnis, genauer: die Christologie und Soteriologie. Rechtfertigungslehre und Christuszeugnis sind korrelativ aufeinander bezogen; durch den articulus iustificationis wird expliziert und appliziert, was in dem christologischen Bekenntnis und soteriologischen Zeugnis impliziert ist. Mit äußerstem Befremden muss man feststellen, dass der Grundlagentext den Begriff der Rechtfertigung zu bestimmen sucht (RF 44ff.), ohne dass die Zusammengehörigkeit von Rechtfertigungslehre, Christologie und Soteriologie ins Auge gefasst wird. Der Grundlagentext wird in keiner Weise dem Befund der neutestamentlichen Quellen gerecht. Für sie gilt eindeutig: »Die Rechtfertigungslehre des Apostels ist die theologisch konsequente Entfaltung seiner Christologie und Soteriologie: die sachlich notwendige und in sich stringente Explikation der einen Fundamentalaussage, daß Gott im Kreuzestod Jesu Christi und in der Auferweckung des Gekreuzigten für die ganze in Sünde verlorene Menschheit Sühne geschaffen und Versöhnung gewirkt hat.«158 Genau diesem Sachverhalt hat Luther 1523 in seinem Glaubenslied poetisch Ausdruck verliehen. Schon in seiner Vorlesung über den Römerbrief 1515/16 hat er durch die Rechtfertigungslehre die Christologie und Soteriologie expliziert.159 Die Rechtfertigungslehre ist die »Mitte und Grenze«160 seiner Theologie, weil sie Christus in seiner Heilsbedeutung als den Vollzug der gnädigen Zuwendung Gottes zu dem verlorenen Menschen herausstellt und dadurch in das Zentrum der Schrift hineinführt. Ohne Schriftbezug und unter Missachtung des theologischen Bezugsrahmens kann die Interpretation der Rechtfertigungslehre nicht gelingen. Das erhärtet der Grundlagentext wider Willen. Er versucht, die Rechtfertigungslehre durch die Begriffe »Liebe«, »Anerkennung und Würdigung«, »Vergebung« und »Freiheit« zu verdeutlichen (RF 29ff.). Dieser Versuch führt aber nicht zur Rechtfertigungslehre hin, sondern vielmehr von ihr weg. Gegen die Intention der Kommission erbringen diese Ausführungen den Nachweis, dass die Rechtfertigungslehre, wenn sie darin besteht, was die Kommission dazu niedergeschrieben hat, überflüssig ist. Denn was der Grundlagentext über »Liebe« ausführt (RF 29), 158 O. Hofius, »Rechtfertigung des Gottlosen« als Thema biblischer Theologie, in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 21994, 121–147, 122. 159 Vgl. H.J. Iwand, a.a.O. (s. Anm. 84), bes. XI. 160 E. Wolf, a.a.O. (s. Anm. 120), 11ff.

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ist zwar nicht falsch, aber es könnte bei jeder Gelegenheit gesagt werden. Dasselbe gilt von den anderen Stichwörtern. Was soll »der gekreuzigte Gott« (Jürgen Moltmann) und wozu ist eine hochdifferenzierte Sprache wie die der Rechtfertigungslehre vonnöten, wenn das »Strahlen der Liebe« doch »jedem, der es sieht, ein Lächeln ins Gesicht (bringt)« (RF 29)? Wozu der Tod Jesu am Kreuz? Im Grunde genügt es, wenn »Gott dich ansieht«: dann »bist du eine angesehene Person« (RF 30). Wozu Taufe und Abendmahl? Was im Grundlagentext über »Vergebung« steht (RF 31f.), ist ohne die Rechtfertigung des Gottlosen, die auf dem Sühnetod Jesu Christi beruht, und ohne die Sakramente, von der Beichte ganz zu schweigen, erlangbar. Auch die abgenutzte Phrase, die Rechtfertigung aus Gnade entlaste vom Leistungsdruck, fehlt in dem Grundlagentext nicht. »Gnade« als »Grund der Annahme des Menschen durch Gott« (RF 65) exemplifiziert der Grundlagentext folgendermaßen: »In einer Leistungsgesellschaft wie der unseren wird der Mensch so in seiner alltäglichen Geschäftigkeit heilsam gestört: Er muss nichts leisten, sich und anderen nichts bewiesen. So kommt der Mensch zur Ruhe.« (RF 65) Bedarf es wirklich der Rechtfertigungs- und Gnadenlehre, um dem Menschen aufzuzeigen, dass er mehr ist als seine Leistung und dass sein Wert nicht auf seiner Leistung beruht? Das weiß jeder Mensch durch seine Vernunft; dazu braucht er keine Theologie und keine Kirche! Es hat mit der Rechtfertigungslehre auch nichts zu tun, dass man »ganz unabhängig von seinem Bildungsstand, Einkommen, sozialen Hintergrund und gesellschaftlichen Ansehen« Anerkennung oder Würdigung findet (RF 33). Diese Anerkennung macht den Menschen im Übrigen keineswegs »wahrhaft frei« (ebd.). Vielmehr muss der alte Mensch sterben und ein neuer Mensch auf den Plan treten. In der Teilhabe an Jesu Christi Tod und Auferstehung gründet die Freiheit von Sünde und Tod (s. Röm 6). Es ist eine Verfälschung der Rechtfertigungslehre, wenn man ihr unterstellt, sie lehre, der Gottlose als solcher sei Gott recht. Vielmehr steht der Gottlose vor Gott gerechtfertigt da, weil das Todesgericht über den gottlosen Menschen stellvertretend an dem sündlosen Christus vollzogen worden ist (s. 2. Kor 5,19–21). Auch die Interpretation der Exklusivpartikel der Reformation (RF 48ff.) ist so wenig stringent wie die Bestimmung des Begriffs der Rechtfertigung. Während Luther die Exklusivität der Person und des Werkes Jesu Christi auf der Grundlage einschlägiger Schriftstellen im Ringen um

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die sachgerechte Bedeutung ihres Wortlauts durch den Artikel von der Rechtfertigung thetisch und antithetisch expliziert hat, stehen der Artikel von der Rechtfertigung und die Exklusivartikel im Grundlagentext ohne ausdrücklichen Bezug auf die Schrift nach- und nebeneinander. Es fehlt das Zwingende, das die Gebundenheit an die Schrift voraussetzt und das für Luther und Calvin charakteristisch war. Die Schroffheit der Antithesen, die mit den reformatorischen Exklusivpartikeln zum Ausdruck gebracht wird, ist im Grundlagentext abgemildert oder gänzlich verschwunden. Das ist wahrscheinlich so gewollt und dürfte auf eine bewusste Entscheidung zurückgehen. Welche theologische Reflexionsstufe auf die Leser wartet, wird bereits aus dem Eingangssatz dieses Abschnitts deutlich: »Der Glaube an Jesus Christus zeichnet das Christentum von Anfang an aus« (RF 48). Der Grundlagentext besitzt Volkshochschulniveau. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, soll doch eine breitere Leserschicht erreicht werden. Aber Vereinfachung auf Kosten der Wahrheit führt in die Irre. Ich beschränke mich im Folgenden auf einige Anmerkungen zur Christologie und eine Rückfrage. Gleich zu Beginn erhebt sich die Frage, wem ein freihändig gehaltenes Kurzreferat darüber, dass das Christentum »vor zweitausend Jahren mit dem Glauben an Jesus Christus begonnen (hat)« (RF 49), nützen soll? Im Anfang war übrigens nicht der Glaube, sondern »das Wort« (Joh 1,1). Einige christologische Titel werden in die Darstellung eingestreut, bleiben aber eher in Nebel gehüllt, als dass sie klargestellt würden. Die Grundfrage der Christologie, in welchem Verhältnis Jesus Christus zu Gott denn nun wirklich steht, wird keiner Klärung zuzuführen gesucht. Über den doppelten Ursprung Jesu Christi verlautet nichts; die Soteriologie bleibt unentfaltet; ebenso die Erhöhung Jesu Christi und die eschatologische Dimension der Christologie. Dagegen lässt sich einwenden, man könne nicht immer alles sagen. Das kann und muss man auch nicht; aber durch das Glaubensbekenntnis finden jene Lehrstücke gleichwohl in jedem Gottesdienst Erwähnung. Entscheidend ist freilich nicht der Umfang des Dargestellten, sondern dessen theologischer Ausgangspunkt, nämlich ob und wie die Darstellung der Christologie von dem christologischen Ansatz selbst ausgeht. Nach dem Grundbekenntnis des Neuen Testaments ist Jesus der Kyrios (Röm 10,9 u.a.), der – verborgene – Herr der Welt und das Haupt der Kirche, der durch den heiligen Geist in der Bindung an das apostolische Wort, das ihn bezeugt, hier und heute redet. Es kann keine Rede davon

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sein, dass der Grundlagentext von diesem Ansatz ausgegangen wäre. Der Grundlagentext grenzt sich aber auch nicht ausdrücklich gegen diesen Ansatz ab. Deshalb bleibt alles, was er über Christus sagt, vage und in der Schwebe. Das tangiert auch die Ausführungen über die Gnade und den Glauben. III. Die Preisgabe des Schriftprinzips Der Hauptartikel der Reformation lautet: Christus und die Rechtfertigung.161 Nicht steht also auf der einen Seite die Christologie losgelöst von der Rechtfertigungslehre und auf der anderen Seite die Rechtfertigungslehre losgelöst von der Christologie. Vielmehr gehören beide unlöslich zusammen. Sie werden entweder gemeinsam verstanden oder gemeinsam missverstanden. Im Grundlagentext sind beide, gemessen an dem Befund der neutestamentlichen Quellen und Luthers Paulusexegese,162 unsachgerecht interpretiert worden. Das steht im Zusammenhang damit, dass die theologischen Aussagen nicht auf Schriftauslegung beruhen und dass das reformatorische Schriftprinzip im Grundlagentext preisgegeben worden ist (RF 37; 83ff.). Es ist in Erinnerung zu rufen: Bei Luther war das Ringen um Heilsgewissheit verwoben mit der Frage der Schriftgewissheit, konnte doch die Gewissheit, dass Gott dem Menschen in Christus gnädig zugewandt ist, allein durch Schriftauslegung gewonnen und verifiziert werden. Als ihm dies anhand von Röm 1,(16)17 aufging, war das Evangelium verstanden, mit dem Evangelium die Schrift geöffnet und zugleich die Heilsgewissheit gewonnen. Aus der Koinzidenz von Schriftauslegung und Heilsvergewisserung erwuchs der Mut, den einflussreichsten Institutionen des Abendlandes in der ausschließlichen Bindung an das Wort der Heiligen Schrift zu widersprechen. Den Konflikt mit Rom und dem Kaiser hat er durchgeführt und bestanden, weil er gebunden war an Schriftstellen und »mit seinem Gewissen gefangen in Gottes Worten«163. Luther bleibt gänzlich unverstanden, wenn man nicht wahrnimmt, dass alles, was er geschrieben, gepredigt und getan hat, allein auf die Heilige Schrift gegründet war.

161 Nach ASm II, 1; WA 50, 198, 24 – 200, 5. 162 Vgl. die Nachweise o. Anm. 158f. 163 So Luther in Worms 1521: »… capta conscientia in verbis dei« (WA 7, 838, 7).

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Die Heilige Schrift ist das primum principium in Theologie und Kirche.164 Principium ist nach philosophischem Verständnis das unableitbar Erste, der Anfangsgrund, das Ursprüngliche, das, selbst nicht bedingt, alles bedingt und begründet.165 Theologisch ist gemeint: Die Heilige Schrift hat als das primum principium das erste und letzte Wort; bei ihr liegt das Urteil. Sie ist die den Ausschlag gebende Entscheidungsinstanz in Lehrfragen; sie allein nimmt die Normfunktion in Theologie und Kirche wahr. Bei ihr liegt das Kriterium, nach dem eine Frage entschieden wird: »Hier muss man die Entscheidung nach dem Urteil der Schrift fällen, was nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift den ersten Platz einräumen in allem … Das heißt, dass sie selbst durch sich selbst die allergewisseste, am leichtesten zugängliche, allerklarste Interpretin ihrer selbst ist, die alle Behauptungen aller prüft, richtet und erleuchtet.«166 In dem Begriff primum principium ist enthalten, dass sich die Heilige Schrift selbst zur Geltung bringen kann.167 Wer diese Voraussetzung leugnet, mit dem kann man – gemäß der Aristotelischen Maxime, dass man mit denen nicht diskutieren kann, welche die Grundprinzipien leugnen – nicht in eine sachliche Auseinandersetzung eintreten. Im Begriff principium ist außerdem impliziert, dass eine Begründung der Autorität der Schrift weder nötig noch möglich ist; denn dadurch höbe man die Selbst- und Letztbegründung der Schrift auf.168 Das Schriftprinzip wie die Heilige Schrift selbst haben die Reformatoren mit der ganzen Christenheit auf Erden gemeinsam. Mit der Kennzeichnung des Schriftprinzips als »reformatorisch« wird die spezifische Anwendung des Schriftprinzips hervorgehoben: Luther und Calvin gebrauchten die Formel sola scriptura nicht inklusiv, sondern als particula exclusiva, durch die sie die Normfunktion der kirchlichen Tradition und die Letztinstanzlichkeit eines theologischen oder kirchlichen Lehramtes sowie »Zusätze« (additamenta) zur Heiligen Schrift grundsätzlich negiert haben. Durch die Anwendung der Formel sola scriptura als Exklusivpar164 Vgl. bes. WA 7, 96, 4 – 101, 9; WA 18, 653, 33f. und dazu W. Führer, a.a.O. (s. Anm. 8), 14f. mit Anm. 11–12 (Lit.). 165 Vgl. G. Wieland, Prinzip II, HWP, Bd. 7, 1989, 1345–1355. 166 WA 7, 97, 20–22.23f. Aus dem Lateinischen übersetzt. Z. 23: »ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres.« 167 Das kann sie und tut sie prüfend (probans), richtend (iudicans) und erleuchtend (illuminans). Die Partizipien in WA 7, 97, 24 stehen in der Aktivform! 168 Mit R. Slenczka, Die Heilige Schrift, das Wort des Dreieinigen Gottes, in: ders., Neues und Altes, hg. v. A. I. Herzog, Bd. I, Neuendettelsau 2000, 13–15, bes. 13.

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tikel haben die Reformatoren die kritische Kraft entbunden, die in der Schrift enthalten ist, und ihre Ausschließlichkeit und Suffizienz in allen heilsrelevanten Fragen durch die Kritik an kirchlichen Traditionen und Institutionen zur Geltung gebracht. Das diente der Wiedergewinnung und Reinerhaltung der Apostolizität der Kirche und der Zurückweisung von Irrlehren und Allotria in der Theologie. Wie die Kirche durch die Preisgabe des Schriftprinzips ihre Apostolizität verliert, so verliert die Theologie durch die Preisgabe des Schriftprinzips ihre Eigenständigkeit, Stringenz und Verbindlichkeit. Das Wort der Heiligen Schrift »prüft«, »richtet«, »erleuchtet«, weil es das Wort Gottes ist. Das meint: Gott ist selbst das Subjekt des Wortes.169 Er spricht und handelt selbst durch sein Wort, unterschieden in Gesetz und Evangelium, und zwar in der Kraft seines Geistes hier und heute, wo und wann es ihm gefällt. Bei einer Predigt über Röm 15,2–4, gehalten Ende 1531, stellt Luther heraus: »Dieses Buch: damit soll ich mich wehren; und ich habe nichts anderes, was mich trösten (aufrichten) könnte als dieses papierene Buch. Ein Christ muss also seine Sache darauf setzen, dass die Schrift sein Trost ist.«170 Und weiter: »Darin nämlich besteht das Wort Gottes, dass es, obwohl in Büchern geschrieben, die Kraft hat, dass es tröste (stärke/aufrichte); und dieser Trost, den die Buchstaben geben (quod dant literae), soll heißen: Gott im Himmel.«171 In diesen Predigtworten spiegelt sich die ebenso grundlegende wie befreiende Erfahrung der Reformation wider. Darum hat Luther nachdrücklich »vor der Menschen Satz« (EG 341: 10,5) gewarnt; denn durch Menschenlehre und durch Zusätze »verdirbt der edle Schatz« (10,6). Das ist sein Vermächtnis (10,7).172 Was im Grundlagentext in dem Abschnitt »Sola scriptura – allein aufgrund der Schrift« (RF 76–86) ausgeführt wird, kommt faktisch der Preisgabe des reformatorischen Schriftprinzips gleich. Die Kommission kann diese Preisgabe allerdings nicht plausibel begründen, obwohl doch »plausibilisieren« (RF 29) zu den Vorzugsworten des Grundlagentextes gehört. Sie weicht in ein historisches Referat aus (RF 37), das aber dann doch unausgeführt bleibt, obwohl es um die dogmatische Grundent169 Vgl. R. Slenczka, Bleiben in der Wahrheit, Neuendettelsau 2015, 249. 170 WA 34 II, 486, 2–4. In heutigem Deutsch nach der Mitschrift der Predigt durch G. Rörer wiedergegeben. 171 A.a.O., 487, 3–5. 172 S.a. ASm III, 15; WA 50, 251, 30ff.

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scheidung schlechthin geht. Das ist methodisch unsauber und sachlich unstatthaft! Denn durch den Rekurs auf die Historie lässt sich keine dogmatische Entscheidung begründen, sondern lediglich bemänteln. Die Preisgabe des Schriftprinzips ist die folgenschwerste Entscheidung, die theologisch getroffen werden kann. Hier sei nur festgehalten: Wissenschaftlich lässt sich die Preisgabe des reformatorischen Schriftprinzips heute weder begründen noch rechtfertigen. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass diese Entscheidung in einem Bereich gründet, der der Wissenschaft vorgelagert ist, nämlich in der Relation des Menschen zu Gott. Sie wird allein im Gewissen gefällt. Letztlich kommt in ihr zum Ausdruck, wie der Mensch über Gott, der in seinem Wort über ihn urteilt, nun seinerseits urteilt, und ob Gott oder er selbst das letzte Wort hat. In dieser Entscheidung geht es nicht darum, wann Paulus den Römerbrief verfasst hat oder wie Lessing über den neutestamentlichen Kanon dachte, sondern vielmehr darum, ob der dreieinige Gott der Herr des Verhältnisses zum Menschen ist oder ob der Mensch diese Stellung gegenüber Gott, der sich in seinem Wort festgelegt hat, für sich selbst in Anspruch nimmt. Theologisch wird der Reformation mit der Preisgabe des Schriftprinzips der Boden und die Legitimation entzogen. Die Berufung auf Luther und die Reformation dient bei der Preisgabe des Schriftprinzips nur noch dazu, das »Schiff flott zu machen«173. Ein vollbesetztes Schiff beim Reformationsjubiläum 2017 wäre ein erneuter Beweis für die »Beliebtheit dieser Vergnügungsdampfer«174. IV. Geschlechtergerechtigkeit Der Grundlagentext zeigt wider Willen, wie unaufgebbar das reformatorische Schriftprinzip ist. Die Entfaltung der Christusverkündigung durch den Artikel von der Rechtfertigung setzt die Geltung des Schriftprinzips voraus und kann nur durch Schriftauslegung gelingen. Dazu ist im Grundlagentext nicht einmal ein Versuch unternommen worden. Deshalb ist die Interpretation gescheitert; deshalb weiß der Grundlagentext auch nichts von der Sünde und von Gesetz und Evangelium. Die Stichworte werden erwähnt, bleiben aber unentfaltet. Wer aber über Sünde, 173 H.J. Iwand, Briefe an Rudolf Hermann, hg. v. K.G. Steck, NW 6, München 1964, 217. Der Brief wurde am 18.06.1930 geschrieben. Das Zitat beginnt: »Luther ist doch für viele nur der Motor, ihr Schiff flott zu machen …« 174 Ebd.

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Gesetz und Evangelium nur Angelesenes weitergibt, um sich gewissermaßen einer Pflicht zu entledigen, dem muss auch das Befreiende des Evangeliums verborgen und die »Freude der Buße« (Julius Schniewind) fremd bleiben. Das Vakuum, das durch die Preisgabe des Schriftprinzips entsteht, pflegt sofort ausgefüllt zu werden. Auch dafür bietet der Grundlagentext ein Beispiel und den Anschauungsunterricht. Der Grundlagentext zielt nämlich darauf, die Reformation für etwas, das ihr fremd ist, zu instrumentalisieren: »Reformatorische Kirche und Theologie müssen noch weiter lernen, Geschlechtergerechtigkeit als genuin evangeliumsgemäßen Wert zu verstehen und deswegen Geschlechterhierarchien entschlossen abzubauen« (RF 41; ebd. kursiv). Das wirkt harmlos, weil es im Einklang mit der Mehrheitsmeinung steht, ist es doch von den Medien in das gesellschaftliche Leben mit positiver Wertung eingeführt. Aber es ist ein additamentum, ein »Zusatz«;175 es ist »Menschenlehre«, von der weder die Heilige Schrift noch die Reformation etwas weiß. Zunächst die Reformation: Der Grundlagentext argumentiert mit einem Passus aus der Adelsschrift: »Was aus der Taufe gekrochen ist, kann sich rühmen, dass er Priester, Bischof, Papst ist.«176 Richtig gesehen ist Luthers Negation der Zweiständelehre; falsch dagegen ist der Bezug auf das Verkündigungsamt. Auf dieses wird später eingegangen. Hier soll der Finger auf die suggestive Unterstellung gelegt werden, die Reformation habe das, was der Grundlagentext »Geschlechtergerechtigkeit« nennt, bereits gesehen oder doch sehen können, da es sich um einen »genuin evangeliumsgemäßen Wert« (RF 41) handelt, und hätte eigentlich schon für die »Frauenordination« (RF 42) eintreten können. Mit diesem durch eine Suggestion eingeführten »Zusatz« wird der Eindruck vorgetäuscht, der Grundlagentext habe die Reformation in diesem Punkt besser verstanden, als diese sich selbst verstanden hat, und der Abbau von »Geschlechterhierarchien« (RF 41) sei die selbstverständliche, aber damals noch nicht gezogene Konsequenz. Die Wahrheit ist: Luther hat dergleichen nie im Blick gehabt; sein monumentales Werk eignet sich nicht zur ideologischen Unterfütterung heutiger »Emanzipationsbewegungen« (RF 41).

175 Zum Begriff s.o. Anm. 99. 176 WA 6, 408, 11f.

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Weit schwerer wiegt der biblische Befund. Der Grundlagentext führt Gal 3,28 an: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« Der Vers hatte »seinen Platz in der frühchristlichen Taufliturgie«177 und führt das in 3,26f. Gesagte fort. Ausgesagt wird: Alle Getauften, egal ob Männer oder Frauen, Juden oder Heiden, gehören durch den Glauben Christus und sind Gottes Kinder. Rassen-, Standesoder Geschlechtsunterschiede beeinträchtigen die Gotteskindschaft nicht. Vielmehr sind sie alle der eine neue Mensch – nicht in sich selbst, sondern in Christus Jesus, und damit Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben (Gal 3,29). Aber: Ein Bezug zum kirchlichen Amt besteht weder in Gal 3,28 noch im näheren oder ferneren Kontext. Dieser Bezug ist vielmehr vom Grundlagentext gegen den Wortlaut des Verses und gegen den Kontext willkürlich hergestellt worden. Das nannte Luther ein additamentum, eine Hinzufügung, die in ein Schriftwort etwas hineinlegt, was es nicht enthält, und es in einen Argumentationszusammenhang stellt, in den es nicht hineingehört, und ihm damit eine Funktion verleiht und eine Stoßrichtung gibt, die es niemals hatte. Auch hier wird mit der suggestiven Unterstellung gearbeitet, der Apostel Paulus habe das eigentlich schon alles gewusst oder doch wissen können, wenn er konsequent weitergedacht hätte. »Aber erst Jahrhunderte später, nach den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts und seiner Emanzipationsbewegungen, hat das zur Einsicht geführt, dass auch Frauen alle Ämter in der Kirche übernehmen können« (RF 41f.). Hier wird ein Zusammenhang zwischen dem reformatorischen Freiheitsverständnis mit den modernen Emanzipationsbewegungen unterstellt, der in Wahrheit nicht besteht. Bei Luther beruht die Freiheit auf Gottes befreiender, versöhnender Tat in Christus. Sie wird durch das Wort von der Versöhnung verkündigt und allein dem Glauben zu eigen (2. Kor 5,19f.). Darin liegt auch das Amt der Kirche begründet. Diese rechtfertigungstheologische Begründung der Freiheit ist nach der Aufklärung preisgegeben worden. An ihre Stelle trat die Vorstellung von der Autonomie des Menschen, in deren Gefolge die Freiheit zur leitenden Idee erhoben worden ist. Der Freiheitsbegriff bei Immanuel Kant und das Freiheitspathos bei Friedrich Schiller ruhen auf diesem Fundament. Darauf gründen sich auch die Emanzipationsbewegungen und keinesfalls 177 H.D. Betz, Der Galaterbrief, München 1988, 320.

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auf die »Freiheit eines Christenmenschen« im Sinne der Reformation. Diese notwendige Differenzierung fehlt im Grundlagentext. Infolgedessen sind die Aussagen über die Emanzipation und ihre Postulate unter ein falsches Vorzeichen gestellt worden. Unter diesem falschen Vorzeichen wird die Rechtfertigungslehre im Grundlagentext als Mittel benutzt, um sich für das Reformationsjubiläum 2017 ins Gespräch zu bringen. Worauf es ankommt, ist das, was wir »noch weiter lernen (müssen)« (RF 41), nämlich »Geschlechtergerechtigkeit als genuin (!) evangeliumsgemäßen Wert zu verstehen« (ebd.). Evangeliumsgemäß? Im Evangelium findet sich davon schlechterdings nichts! Das ist vielmehr ein anderes Evangelium (Gal 1,6), nämlich ein Evangelium »von menschlicher Art« (Gal 1,11). Das ist eine reine Erfindung; ein additamentum, das auf der Preisgabe des reformatorischen Schriftprinzips beruht. Durch dieses additamentum wird alles andere unter ein falsches Vorzeichen gestellt. Dazu gehört auch die Frauenordination. Wenn sie sich auf den Boden der Legitimation stellt, wie sie im Grundlagentext verbreitet wird, muss sie wieder infrage gestellt werden. Denn wer sie befürwortet, muss sie theologisch begründen und nicht mit der Verfälschung des Evangeliums durch ein additamentum. Ich selbst habe unter Berufung auf Ernst Wolf die Frauenordination mit dem Argument für zulässig gehalten, dass das Amt nach reformatorischem Verständnis nicht de jure divino an den Mann gebunden ist.178 Dieses Argument halte ich nach wie vor für stichhaltig. Wenn Theologinnen dem Eindringen schriftwidriger Irrlehren, wie es zum Beispiel in dem Projekt »Bibel in gerechter Sprache« zum Ausdruck gekommen ist,179 nicht entschlossener widersprechen, gefährden sie das »Frauenamt im Amt der Kirche« (Ernst Wolf), das bekanntlich von der weit überwiegenden Mehrheit der Weltchristenheit abgelehnt wird. Die Preisgabe des reformatorischen – nämlich exklusiv geltenden – Schriftprinzips hat umgehend dazu geführt, dass das Evangelium von Jesus Christus im Grundlagentext verdunkelt und zugleich etwas zum 178 W. Führer, Das Amt der Kirche. Das reformatorische Verständnis des geistlichen Amtes im ökumenischen Kontext, Neuendettelsau 2001, 243f., Anm. 447. 179 Dazu und dagegen mit Recht R. Slenczka, Die Anbetung der Weiblichkeit Gottes und das Bilderverbot, DPfBl 7/2007, 356–363; G. Kittel, Können wir so beten? Zur »Bibel in gerechter Sprache« und zur Handreichung »Beim Wort genommen« der EKiR, DPfBl 7/2007, 364–370.

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Evangelium erhoben worden ist, das kein Evangelium ist und das im Widerspruch zur Heiligen Schrift steht. V. Protestantische Selbsttäuschung Im eklatanten Widerspruch zum Misstrauen gegenüber der Verständlichkeit der Rechtfertigungslehre sagt der Grundlagentext vollmundig: »Jeder Christ kann selbständig über die rechte Lehre urteilen. Jeder Christ kann Sünden vergeben und das Evangelium verkündigen« (RF 91). Wie sollen die Christen das tun, wenn sie die Bibel und damit das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen nicht kennen? In Wirklichkeit gilt von den evangelischen Christen heute das, was Luther gegenüber Georg Spalatin Ende 1528 über die ländliche Bevölkerung festgestellt hat: »… sie lernen nichts, wissen nichts, beten nicht, gehen nicht zum Abendmahl, tun nichts und missbrauchen die Freiheit, als seien sie von der Religion überhaupt frei geworden.«180 Was Luther von der ländlichen Bevölkerung gesagt hat, gilt heute noch weitaus mehr von der städtischen: Gymnasiasten können zwischen Jesus und Buddha kaum noch unterscheiden; von Jeremia, Hosea oder Paulus wissen sie schlechterdings gar nichts. Nicht das ist deshalb das Problem, dass die Reformation »ein religiöses Ereignis« (RF 11) war und wir heute nicht mehrheitlich in diesem »religiösen Milieu« (RF 26) stehen,181 sondern dass die heutigen Menschen, vorab die Protestanten, die Bibel nicht mehr kennen und kein Zutrauen zu ihr haben. Dieses Problem ist nur dadurch zu lösen, dass man die Bibel wieder zu lesen und zu meditieren beginnt. Wie von selbst wird dadurch jeder vor die Rechtfertigungsfrage gestellt.

180 WA.B 4, 624, 8–11 (Nr. 1365). Aus dem Lateinischen übersetzt. 181 Die Reformation war allgemein gesehen auch »ein religiöses Ereignis«, aber damit ist das Spezifische der Reformation noch keineswegs erfasst; denn »das Evangelium ist die Krisis aller Religion« (E. Wolf; zitiert o. Anm. 20). Mit der Entdeckung des Evangeliums war es aus mit der überkommenen Religion!

4. Das reformatorische Verständnis der Kirche 4. Das reformatorische Verständnis der Kirche

Was den Reformator der Kirche bestimmt hat, war nicht die Kirche als solche, sondern das Evangelium. Die Reformation der Kirche verdankt sich nämlich nicht der Kirche, sondern dem Evangelium. Der Reformation der Kirche liegt keine Kirchentheorie zugrunde, die Luther in die Praxis umgesetzt hätte. Luther hatte kein Kirchenideal; Gruppen, die sich wegen eines Heiligkeitsideals absonderten, hat er eine Absage erteilt. Sein reformatorisches Denken und Handeln ist durch das Evangelium inspiriert und motiviert worden, liegt im Evangelium begründet und hat im Evangelium seine Grenze. Das oben behandelte Glaubenslied von 1523 unterstreicht diesen Sachverhalt. Das Wort »Kirche« gebraucht Luther in dem Lied nicht. Er hielt es überhaupt für ungeeignet.182 In der Verdeutschung des Neuen Testaments hat er ekklesia nicht mit »Kirche«, sondern zu Recht mit »Gemein(d)e« übersetzt.183 In dem Glaubenslied verwendet er statt Kirche »Christen g’mein« (1,1) und »Reich Gotts« (10,3). Im Fokus steht nicht die Kirche, sondern das, »was Gott an uns gewendet hat / und seine süße Wundertat« (1,5–6). Doch gerade durch die Fokussierung auf den Inhalt des Evangeliums ist von Luther zur Darstellung gebracht worden, was »Kirche« ist: eine Hervorbringung der durch das Evangelium verkündigten Wundertat Gottes; und wo sie gefunden wird, nämlich dort, wo Gottes Wundertat erzählt und als Befreiung von dem Teufel, der Sünde und dem Tod (2,1–3) geglaubt wird. Ist Kirche dort, wo das Evangelium laut wird, dann liegt darin die Frage beschlossen, ob und inwiefern das Erscheinungsbild der Institu182 Vgl. WA 30 I, 92, 5–7; 189, 6–22, ferner WA 50, 624, 15ff., bes. 625, 5 (ein »blindes« [= unklares, nichtssagendes] und »undeutliches Wort«). 183 Die ekklesia ist die »Versammlung«, »Gemeindeversammlung« (Bauer-Aland, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin 61988, 485f.).

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tion Kirche mit jenem kirchegründenden Geschehen in Übereinstimmung steht. Wann immer diese Frage offen gestellt wurde, drohten daher Auseinandersetzungen und Konflikte. Sie sind bekanntlich im Ablassstreit 1517–1521 mit ungeheurer Heftigkeit ausgebrochen. Die Voraussetzung der Reformation der Kirche, die darauf folgte, ist, wie noch einmal unterstrichen werden soll, die durch Schriftauslegung gewonnene Erkenntnis des Evangeliums, das wiederum auf der alleinigen Grundlage der Schrift rechtfertigungstheologisch entfaltet worden ist. Auf das unspektakuläre Geschehen der Schriftauslegung gründet sich die weit über Deutschland hinausgreifende Reformation der Kirche. In der durch das Evangelium von Jesus Christus geöffneten Schrift liegt ein kritisches Potential, das unermesslich ist und das Luther gegen die »Kirche«, ihre Lehre, Frömmigkeit und Institutionen, aktiviert hat. Die Selbstbezeichnung der an Rom gebundenen Institution als »Kirche« dürfte übrigens auch der Grund dafür gewesen sein, warum Luther trotz seiner terminologischen Bedenken gegen den Begriff Kirche diesen schließlich doch beibehalten hat. So hat er beispielsweise die einschlägigen Passagen in den Schmalkaldischen Artikeln mit »Von der Kirchen« überschrieben.184 Zwar finden sich schon in Luthers erster Psalmenvorlesung 1513– 1515 bemerkenswerte Ausführungen über die Kirche, aber wirklich thematisch wurde Kirche erst im Ablassstreit, und zwar vor allem in der Diskussion über den Primat des Papstes mit Johannes Eck auf der Leipziger Disputation 1519 und in den kontroverstheologischen Auseinandersetzungen mit Augustin von Alveldt und Ambrosius Catharinus 1520/21.185 Das Thema, das längst nicht mehr nur Theologen, sondern –

184 ASm III, 12; WA 50, 249, 23 – 250, 12. 185 Einen Überblick über die Quellen unter Angabe einschlägiger ekklesiologischer Texte geben WA 65, 203(–211) u. WA 71, 285(–294). Ausdrücklich hingewiesen sei außerdem auf M. Luther, Studienausgabe, hg. v. H.-U. Delius, Bd. 5, Leipzig 1992; M. Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, hg. v. W. Härle u.a., Bd. 3, Leipzig 2009. Literaturangaben im Überblick: E. Kinder, Der evangelische Glaube und die Kirche, Berlin 1958 (21960), 57f., Anm. 1 (ältere Lit. bis 1957); U. Kühn, Kirche VI, TRE, Bd. 18, 1989, 262–277; W. Härle, Kirche VII, TRE, Bd. 18, 1989, 277–317, 310ff.; K.-H. zur Mühlen, Luther II, TRE, Bd. 21, 1991, 565f. Unentbehrlich zur weiteren bibliographischen Erschließung ist die Lutherbibliographie im Lutherjahrbuch. Zum Stand der Diskussion vgl. M. Beyer, Luthers Ekklesiologie, in: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, hg. v. H. Junghans, Berlin/Göttingen 1983, 983, 93–117; D. Wendebourg, Kirche, in: A. Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2 2010, 403–414; K. Hammann, Ekklesiologie, in: Das Luther-Lexikon, hg. v. V. Lep-

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spätestens seit dem Wormser Reichstag 1521 – die ganze Öffentlichkeit beschäftigte, blieb virulent und durchzieht Luthers gesamtes Schrifttum. Aus dem späteren Wirken sind besonders Luthers Genesisvorlesung (1535–1545) und seine Schriften Von den Konziliis und Kirchen (1539) und Wider Hans Worst (1541) hervorzuheben. Eine knappe Zusammenfassung des reformatorischen Kirchenverständnisses liegt in ASm III, 12 vor. Zugang zu dieser Fülle an Quellen findet man durch die detailgenaue Interpretation begrenzter Textabschnitte unter Berücksichtigung des kirchengeschichtlichen und kontroverstheologischen Hintergrundes im Horizont des biblischen Zeugnisses. Die immer wiederkehrenden Grundkonstanten von Luthers Kirchenverständnis werden erkennbar, wenn man die Relationen, in denen Kirche steht, herausstellt. Ist Kirche doch ein relationaler Begriff, dessen Sinn sich aus den Bezügen ergibt, in die er eingebunden ist. Die wichtigsten Relationen sind Christus – Kirche, Heiliger Geist – Kirche, Wort Gottes – Kirche und innere Kirche – äußere Kirche. Sucht man die ekklesiologischen Aussagen in diesen Relationen auf, ergeben sich daraus die thematischen Schwerpunkte von Luthers Kirchenverständnis. Sie lassen sich in grundlegenden Sätzen darlegen.

4.1 Der Grund der Kirche ist Jesus Christus allein Welcher Christus? Der eine Jesus Christus, aber dieser als der ganze Christus: »wahrhaftiger Gott« und »wahrhaftiger Mensch«186 in der Einheit seiner Person. Der Name Jesus Christus umschließt dessen Präexistenz, Inkarnation, Kreuzigung, Auferstehung und Erhöhung. Die ekklesiologische Relevanz dieser christologischen Bestimmung wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt: Die Kirche ist eine Schöpfung des erhöhten Christus. Doch erhöht wurde der gekreuzigte Christus, der durch seinen stellvertretenden Sühnetod das Erlösungswerk vollbracht hat. Dadurch hat er »verlorne und verdammte Menschen«, darunter »mich«, »erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; nicht mit Gold oder Silber, son-

pin u. G. Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, 184–188; R. Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015, 443ff. 186 KlKat, II. Art.; WA 30 I, 249, 7–9; zitiert nach EG 806, 2.

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dern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben«187. Am Kreuz wurde mithin zum rechtmäßigen Eigentum »erworben« und »gewonnen«, was dem erhöhten Christus nun unverlierbar gehört. Zweck und Ziel dieses rettenden Handelns werden klar benannt: »damit ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit«188. Aus dem christologisch-soteriologischen Ansatz ergeben sich zwei ekklesiologische Näherbestimmungen mit jeweils einer Antithese. Zum einen: Die Kirche besteht nicht aus Gerechten, sondern aus Verlorenen und Verdammten, die Christus dadurch, dass er sich selbst verloren gegeben hat und am Kreuz zum Fluch für sie geworden ist (Gal 3,13), aus der Verlorenheit und Verdammnis losgekauft hat. Schon jetzt, mitten in der vom Teufel beherrschten Welt der Sünde und des Todes, sind diese aber frei von den Verderbensmächten und leben, getauft auf den Tod Jesu Christi (Röm 6,3f.), aus der Kraft der Auferstehung – »gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebt und regiert in Ewigkeit«189. Die These, dass die Kirche eine Schöpfung Jesu Christi ist, schließt die Antithese ein: Die Kirche ist nicht aus dem Willen der Menschen entstanden. Sie beruht also nicht auf dem Vorsatz, dass sich Menschen zusammenschließen, um über Gott nachzudenken und Gemeinschaft miteinander zu halten. Die zweite Näherbestimmung: Christus selbst ist das Haupt der Kirche. Schon in der ersten Psalmenvorlesung hat Luther die Kirche in der Relation zu Christus als ihrem Haupt gesehen.190 In der Kontroverse mit Augustin von Alveldt hat Luther dann 1520 herausgearbeitet, dass die ganze Christenheit kein anderes Haupt hat, auch auf Erden, als Christus:191 »Sie mag und kann kein Haupt auf Erden haben, und sie wird von niemandem auf Erden, weder Bischof noch Papst, regiert, sondern allein

187 WA 30 I, 249, 11–17 (EG 806. 2). 188 WA 30 I, 249, 17–20 (EG 806. 2). 189 WA 30 I, 249, 20–22 (EG 806. 2) 190 Nachweise bei H. Fagerberg, Die Kirche in Luthers Psalmenvorlesungen 1513– 1515, in: Gedenkschrift für Werner Elert, hg. v. F. Hübner u.a., Berlin 1955, 109–118, 113. 191 WA 6, 295, 8f. Zur Kontroverse mit Alveldt vgl. H. Smolinsky, Augustin von Alveldt und Hieronymus Emser, RGST 124, Münster 1983, 50ff.; C.A. Aurelius, Verborgene Kirche, AGLT NF 4, Hannover 1983, 32–42; K. Hammann, Ecclesia spiritualis, FDKG 44, Göttingen 1989, 17ff.

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Christus im Himmel ist hier das Haupt und regiert allein.«192 Luther hat daran mit großer Entschiedenheit festgehalten und auch in Predigten diese Auffassung vertreten.193 Ein repräsentativer Beleg aus den Postillen: Christus ist »allein der Kirchen Stiffter, Herr und Heubt«; die Schafe hören »seine Stimme … und keines anderen«194. Das beruht auf der Auslegung von Joh 10,(1)12–16. Darauf wird zurückzukommen sein. Die beiden Brennpunkte des paulinischen Kirchenverständnisses sind das Volk-Gottes-Motiv und der Leib-Christi-Gedanke.195 Mit dem VolkGottes-Motiv wird die Kontinuität zum Alten Testament gewahrt. Der Leib-Christi-Gedanke bringt dagegen das Neue zum Ausdruck, das mit der Erhöhung des gekreuzigten Christus geistliche Realität geworden ist: Christus übt sein Regiment durch den Heiligen Geist als das himmlische Haupt über die irdischen Glieder seines Leibes, die Gläubigen, aus. Er ist untrennbar und unvertretbar mit ihnen verbunden, wie Haupt und Glieder miteinander verbunden sind. Was sich von außen einzudrängen sucht, stört den Organismus. In der Haupt-Leib-Verbindung besteht die geistliche Wirklichkeit der Kirche. Aufgrund der Verbindung von himmlischem Haupt und irdischen Gliedern ist die Kirche als ecclesia spiritualis ein Phänomen sui generis. Aus der These, dass Jesus Christus allein das Haupt der Kirche ist und dass die Gläubigen als die irdischen Glieder seines Leibes unvertretbar auf ihn als auf ihr himmlisches Haupt bezogen sind, hat sich im Ablassstreit mit sachlicher Notwendigkeit die Antithese gegen kirchliche Amtsträger und Institutionen ergeben, die den Anspruch erheben, die Gläubigen vor Gott zu vertreten und aus göttlichem Recht (de iure divino) über sie zu herrschen. In concreto war und ist diese Antithese bis heute gegen die Institution des Papsttums gerichtet.196

192 WA 6, 297, 38–40. Das Zitat ist dem heutigen Deutsch angepasst. So auch die folgenden. 193 Vgl. die Stellennachweise in WA 65, 204f.; WA 71, 289. 194 WA 21, 321, 31–33. 195 Vgl. J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993, 87– 90. 196 Vgl. WA 2, 488, 30; 642, 19–21; WA 59, 455, 729f.; WA 40 III, 620, 10f. u.a. Zusammenfassend hat sich Luther in ASm II, 4; WA 50, 213, 1 – 219, 21 geäußert.

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4.2 Der Heilige Geist wirkt das Leben der Kirche »Christus hat uns den Schatz durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen erworben und gewonnen. Aber wenn das Werk verborgen bliebe, dass niemand es wüsste, so wäre es umsonst und verloren. Dass nun solcher Schatz nicht begraben bliebe, sondern angelegt und genossen würde, hat Gott das Wort ausgegeben und verkünden lassen, darin den Heiligen Geist gegeben, um uns solchen Schatz und Erlösung nahezubringen und zuzueignen.«197 Aufgrund des stellvertretenden Sühnetodes Christi am Kreuz ist mit dessen Auferstehung und Erhöhung der Heilige Geist entbunden worden. Der Heilige Geist ist in der Verkündigung des Evangeliums wirksam und eignet zu, was Christus »erworben und gewonnen« hat. Diese Zueignung besteht darin, dass der Heilige Geist den Glauben an Jesus Christus wirkt, der nicht »aus eigener Vernunft noch Kraft« kommt198, indem er »durch das Evangelium (beruft)« und »mit seinen Gaben erleuchtet«199. So schafft der Heilige Geist die Kirche.200

4.3 Das Wesen der Kirche besteht im Wort Gottes und im Glauben Der Geist Gottes wirkt das Leben der Kirche in der Bindung an das Wort Gottes. Wegen der Selbstbindung des Geistes Gottes an das Wort Gottes ist dieses schöpferisch und bringt hervor, wozu es gesandt ist. Als biblischer Hauptbeleg dafür pflegt Jes 55,11 angeführt zu werden: »… das Wort, das aus meinem Munde geht, … wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.« Luther hat diese Bibelstelle mit Vorliebe in ekklesiologischem Kontext zitiert.201 Zu beachten ist aber, dass sie bei ihm – im Unterschied zu den Interpreten, die sie ihm lediglich nachsprechen – in christologisch-soteriologischem Zusammenhang steht. Diesen aufzuzei197 GrKat, III. Art.; WA 30 I, 188, 9–15. 198 KlKat, III. Art.; WA 30 I, 250, 2f.; vollständig zitiert o. Anm. 94. 199 WA 30 I, 250, 5–7 (EG 806. 2). 200 Predigt am Pfingstsonntag (4.6.) 1536, WA 41, 602, 36f.: »… spiritus sanctus facit Ecclesiam.« Das sagt Luther oft; vgl. z.B. WA 13, 583, 6; WA 18, 649, 30; WA 39 I, 480, 4. 201 Vgl. z.B. WA 11, 408, 12–16; WA 50, 629, 38–31; s.a. M. Doerne, Gottes Volk und Gottes Wort, LuJ 14 (1932), 61–98.

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gen, ist sachlich unverzichtbar. Denn im alten Bund, in den Jes 55,11 gehört, hat Gottes Wort keineswegs Kirche hervorgebracht, obwohl es doch wirksam war. Kirche gründet vielmehr, wie es oben in dem ersten Abschnitt dargelegt ist, in dem stellvertretenden Erlösungswerk Jesu Christi und ist eine Frucht seines Todes am Kreuz. Das Wort, das Kirche hervorbringt, ist also deshalb wirksam, weil es auf Jesu Christi stellvertretender Tat beruht, an welcher der erhöhte Christus durch seinen Geist Anteil gibt, so dass die irdischen Glieder seines Leibes in derselben Freiheit stehen, in der er als ihr himmlisches Haupt steht. Dieses Wort ist das Evangelium Gottes (Röm 1,1), dessen Inhalt der Sohn Gottes Jesus Christus ist (Röm 1,3–4), weswegen das Evangelium wiederum eine Kraft Gottes zur Rettung ist (Röm 1,16). Wie Christus, der Heilige Geist und das Wort Gottes im Blick auf die Kirche aufeinander bezogen sind, stellt sich für Luther im Großen Katechismus (1529) so dar: »Ich glaube, dass es … eine Gemeinde auf Erden aus lauter Heiligen gibt, unter dem einen Haupt Christus, durch den Heiligen Geist zusammen berufen, in einem Glauben … mit mancherlei Gaben, doch einträchtig in der Liebe … Von dieser bin ich auch … ein Glied; aller Güter, die sie hat, bin ich teilhaftig und Mitgenosse; durch den Heiligen Geist dahin gebracht und eingeleibt dadurch, dass ich Gottes Wort gehört habe und noch höre, was der Anfang ist hineinzukommen.«202 Im Wort Gottes hat die Kirche ihren Bestand und ihr Wesen.203 Sie ist ein Geschöpf des Wortes,204 genauer gesagt: des Evangeliums.205 Wo das Evangelium verkündigt wird, stellt der erhöhte Christus durch das Wirken des Geistes im Wort eine Beziehung zu den Hörern her. Diese Beziehung besteht auf der Seite der Hörer im Glauben. Ist das Wort Gottes das, was die Kirche nach ihrer objektiven Seite zur Kirche macht, so wird im Glauben an das Wort die subjektive Seite des Wesens der Kirche zum Ausdruck gebracht. Der Glaube als Wirkung des Wortes und als Antwort auf das Wort in Gebet und Lobpreis ist wie das Wort Gottes ein Wesensmerkmal der Kirche.

202 WA 30 I, 190, 4–11. 203 Vgl. vor allem WA 7, 721, 12f.: »… tota vita et substantia Ecclesiae est in verbo dei …« 204 Vgl. WA 1, 13, 38f.; WA 6, 130, 26f.; WA 17 I, 99, 26f.; WA 50, 629, 34f. u.a. 205 Vgl. WA 2, 430, 6f.; WA 6, 560, 33ff.; WA 42, 334, 12 u.a.

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In den Schmalkaldischen Artikeln bestimmt Luther Kirche durch das sie begründende, erhaltende und immer wieder aufs neue belebende Geschehen des Hörens auf das verkündigte Wort.206 Vorausgesetzt wird, dass auf die Predigt des Evangeliums gehört wird, aus der der Glaube kommt (Röm 10,17). Mit Bezug auf Joh 10,3 werden die Gläubigen als solche näher charakterisiert, die auf die Stimme ihres Hirten Jesus Christus hören.207 Christus »ruft seine Schafe mit Namen« (Joh 10,3). Das heißt: »Christus gibt einem jeden den Glauben und seine Gaben durch den Heiligen Geist … Wenn er nicht inwendig mit seiner Stimme, die man äußerlich hört, die Herzen bewegte, würde die Predigt nichts ausrichten … Wenn ich es aber im Herzen spüre, dann werde ich gerufen und seine Stimme zieht mich bei meinem Namen zu sich hin …«208 Die Zugehörigkeit zu Jesus Christus ist eine vorgegebene Zugehörigkeit. Sie liegt in Gottes Heilsratschluss und Heilswillen begründet. Die Gläubigen stellen diese Zugehörigkeit nicht her. Vielmehr vernehmen sie im Hören auf die Predigt des Evangeliums die unverwechselbare Stimme des guten Hirten, der sie »mit Namen« ruft und sie dadurch dessen vergewissert, dass sie ihm allein zugehören, weil er sie freigekauft hat von den Verderbensmächten. In der Zugehörigkeit zu Christus gründet ihre Heilsteilhabe, ihre Zuversicht und ihre Freude. Durch die Konzentration auf die Grundrelation Wort Gottes – Glaube hat Luther eine Wende im Verständnis der Kirche herbeigeführt: Kirche ist nicht aus ihrem empirischen Gegebensein erkennbar; Kirche ist vielmehr allein mit dem Wort Gottes gegeben. Ihr Erkenntnisgrund liegt wie ihr Seinsgrund im Evangelium von Jesus Christus. Wo dem Evangelium geglaubt und der im Evangelium vernehmbar werdenden Stimme Christi gefolgt wird, dort ist Kirche. So ist Kirche eine geistliche Realität ohne jede Analogie.209 Ihr Woher und Wohin liegt außerhalb ihrer. »Sie will nicht ersehen, sondern erglaubt sein.«210 Sie lebt wohl im Fleisch, aber nicht gemäß dem Fleisch.211

206 ASm III, 12; WA 50, 249, 23 – 250, 12. 207 WA 50, 250, 2–5. 208 Predigt über Joh 10, 1–11 am Pfingstdienstag 1525, WA 17 I, 275, 30–34. Aus dem Lateinischen übersetzt. 209 Vgl. WA 7, 719, 26f. 210 WA. DB 7, 421, 3f. Vgl. z.St. E. Wolf, Die Einheit der Kirche im Zeugnis der Reformation, 1938, in: ders., Peregrinatio (I), 21962, 146–182, 158. 211 Vgl. WA 7, 719, 34f. u.a.; s. U. Kühn, Kirche, HST 10, Gütersloh 21990, 25.

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4.4 Die Gestalt der Kirche ist die um das Evangelium versammelte Gemeinde Weil das himmlische Haupt und die irdischen Glieder des Corpus Christi untrennbar zusammengehören, darum hat Christus »ein sonderliche gemeyne ynn der welt«212. Charakteristisch für diese nicht von der Welt hervorgebrachte und darum »sonderliche«, »heilige Gemein(d)e«213 ist, dass sie einerseits, geboren aus Gottes Wort und Geist und bezogen auf den erhöhten Kyrios Jesus, das Leben nicht in sich selbst hat, dass aber andererseits sie allein es ist, die mit dem Leben, das den Tod überwunden hat, in Berührung gekommen und im Glauben verbunden ist. Daraus erklärt sich ihre Erscheinungsform: Sie ist die »Versammlung«214 »christgläubiger Leute«215 um das Wort Gottes, näherhin um das Evangelium, durch das die Relation zum himmlischen Haupt hergestellt worden ist und durch das sie allein am Leben erhalten werden kann. Dass Luther das Kirchesein der Kirche nicht durch institutionelle, sondern durch nichtinstitutionelle Aspekte bestimmt hat, ist in Anwendung seines reformatorischen Denkansatzes auf den Kirchenbegriff geschehen. Die Identifizierung der Kirche mit der juridisch verfassten Römischen Kirche bleibt auf dieser Grundlage von vornherein ausgeschlossen. Aber auch der Weg zur Errichtung einer am Schreibtisch konstruierten Idealkirche ist versperrt. Weil Jesus der Christus ist, ist Kirche vielmehr immer schon da:216 »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20). Selbst »Versammlung« oder »Gemeinde« verbürgen aber noch nicht das Kirchesein der Kirche; denn auch die Pharisäer haben sich versammelt (Mt 22,34), jedoch nicht im Namen Jesu, sondern gegen diesen, und »Gemeinde« gibt es auch im bürgerlichen Leben. Weder an einem Gebäude noch an ihrer Sozialgestalt ist Kirche als Kirche erkennbar. Kirche ist vielmehr allein dort als Kirche identifizierbar, wo Menschen im Namen Jesu um sein Wort versammelt sind. Diese ungeheure Reduktion beruht auf der theologischen Konzentration auf Christus und das Evangelium und ist 212 GrKat, III. Art.; WA 30 I, 188, 24. 213 WA 30, I, 190, 1 u.ö. 214 WA 26, 506, 31 u.a.; vgl. WA 71, 291. 215 WA 10 I, 1, 140, 14f. Zu den »immer neuen Variationen«, die Luther gebraucht, vgl. D. Wendebourg, a.a.O. (s. Anm. 185), 405. 216 Vgl. W. Mostert, Jesus Christus – Anfänger und Vollender der Kirche, hg. v. J. Bauke-Ruegg u.a., Zürich 2006, bes. 43f.

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Ausdruck der Exklusivität Jesu Christi und des Evangeliums von Jesus Christus in der Heilsfrage. Man muss sie ekklesiologisch nachvollziehen; denn ansonsten verfehlt man gerade die universale Weite des reformatorischen Kirchenbegriffs. Dieser schließt institutionelle Aspekte selbstverständlich ein, aber nicht die kirchlichen Institutionen, sondern allein die wesentliche, geistliche Kirche gehört ins Credo und ist ein Glaubensartikel.217 Mt 18,20 gibt dafür einen guten Anschauungsunterricht: »Kirche« besteht nicht aus einer, sondern aus mehreren Personen, aber die Anzahl ist irrelevant. Es spielt auch keine Rolle, ob sich diese Personen in einem geweihten Gebäude, in einem Wohnzimmer oder auf freiem Feld versammeln. Den Ausschlag gibt allein, ob sie sich im Namen Jesu versammeln. Am Schluss seien sieben Kennzeichen aufgelistet,218 an denen Kirche – und zwar diese in ihrer äußeren Erscheinung –219 erkannt werden kann: »Erstlich ist dieses christliche heilige Volk dabei (dort) zu erkennen, wo es das heilige Gotteswort hat …«220 »Das ist das Hauptstück und das hohe Hauptheiligtum, davon das christliche Volk heilig heißt. Denn Gottes Wort ist heilig und heiligt alles, was es berührt, ja es ist Gottes Heiligkeit selbst« (629, 2–5). Der Grund dafür ist: »der Heilige Geist führt es selbst« (629, 7). Gemeint ist das »äußer(lich)e Wort, durch Menschen … gepredigt … als ein äußerliches Zeichen« (629, 17–19).221 »Wo du nun solches Wort hörst oder siehst predigen, glauben, bekennen und danach tun, da habe keinen Zweifel, dass dort gewiss die rechte Ecclesia sancta Catholica sein muss« (629, 28–30). Warum? Weil »Gottes Wort nicht ohne Gottes Kirche sein kann« (629, 34f.). Das ist »das Stück, das

217 Es muss also »immer klar und richtig Kirche und Kirchentum auseinandergehalten (werden)« (Th. Harnack, Die Kirche, ihr Amt, ihr Regiment, 1862, Nachdr. Gütersloh 1947, S. 13, § 1). 218 Das einzige unfehlbare Kennzeichen der Kirche ist Gottes Wort (WA 25, 97, 32f.). Wenn Luther später sieben (WA 50, 628–642) oder elf (WA 51, 479–487) nennt, dann entfaltet er durch sie, was in dem einen, grundlegenden enthalten ist (vgl. E. Kinder, a.a.O. [s. Anm. 185], 103ff.). 219 Die notae ecclesiae fasst Luther als notae externae auf (WA 39 II, 167, 9; vgl. z.St. W. Härle, TRE 18, 289f.). 220 Von den Konziliis und Kirchen, 1539, WA 50, 628, 29f. Alle folgenden Zitate sind dieser Schrift entnommen und werden sprachlich geglättet wiedergegeben. 221 Hier ist die »wirkliche, sinnliche Hörbarkeit gemeint« (D. Wendebourg, a.a.O. [s. Anm. 185], 407).

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alle Wunder tut, alles zurechtbringt (zustandebringt), alles erhält, alles tut, alle Teufel austreibt« (630, 3f.). »Zum anderen erkennt man Gottes Volk … an dem heiligen Sakrament der Taufe, wo es recht, nach Christi Ordnung gelehrt, geglaubt und gebraucht wird« (630, 21–23). Die Taufe »ist ein heiliges Bad der neuen Geburt durch den Heiligen Geist, darin wir … vom Heiligen Geist gewaschen werden von Sünden und Tod, als in dem unschuldigen, heiligen Blut des Lämmleins Gottes« (630, 24–27). »Zum dritten erkennt man Gottes Volk … an dem heiligen Sakrament des Altars, wo es recht nach Christi Einsetzung gereicht, geglaubt und empfangen wird« (631, 6–8). »Zum vierten erkennt man das Gottesvolk … an den Schlüsseln, die sie öffentlich brauchen, das ist, wie Christus Mt 18,15ff. setzt: Wo ein Christ sündigt, soll dieser gestraft werden; und wenn er sich nicht bessert, soll er gebunden und verstoßen werden. Bessert er sich aber, soll er losgesprochen werden« (631, 36 – 632, 3). »Wo die Schlüssel nicht sind, da ist Gottes Volk nicht« (632, 12f.). »Zum fünften erkennt man die Kirche äußerlich daran, dass sie Kirchendiener weiht oder beruft oder Ämter hat, die sie bestellen soll. Denn man muss Bischöfe, Pfarrer oder Prediger haben, die öffentlich und sonderlich die oben genannten vier Stücke oder Heiltum (Heilsgüter) geben, reichen und üben – im Namen der Kirche, viel mehr aber aus der Einsetzung Christi« (632, 35 – 633, 3). »Zum sechsten erkennt man äußerlich das heilige christliche Volk am Gebet, Gott loben und danken öffentlich« (641, 20f.). »Zum siebenten erkennt man äußerlich das heilige christliche Volk bei dem Heiltum des heiligen Kreuzes … und muss die Ursache auch allein diese sein, dass es fest an Christus und Gottes Wort hält und also um Christi willen leidet. Mt 5,11: ›Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen‹« (641, 35 – 642, 1. 4–7).

5. Reformatorischer Aufbruch und kirchliches Amt 5. Reformatorischer Aufbruch und kirchliches Amt

Der reformatorische Aufbruch hat sich nachhaltig auf das kirchliche Amt ausgewirkt. Das ist zunächst im Bereich der Theologie des Amtes, sodann in der Umformung der Institutionen des Amtes geschehen. Wie sich der reformatorische Aufbruch im Amt der Kirche konkretisiert hat, das erfordert eine ausführliche Darstellung. Doch sie kann hier nicht gegeben werden.222 Vielmehr wird Luthers Position sowie die Abgrenzungen und Verwerfungen, die sich aus ihr ergeben, in Thesen und Antithesen herausgestellt. Der Gedankenreichtum und das kritische Potential, das im reformatorischen Amtsverständnis enthalten ist, sind bis heute wegweisend.

5.1 Die Begründung des Amtes 1. Bei Luther ist Am(p)t – wie auch die lateinischen Äquivalente –223 ein Nomen, das eine Beziehung ausdrückt.224 Mit ihm wird die verantwortliche Wahrnehmung eines konstant auszuübenden institutionalisierten Dienstauftrages bezeichnet.225 222 Verweisen darf ich an dieser Stelle auf meine Studie Das Amt der Kirche, a.a.O. (s. Anm. 178). Ebd. 21–24 Quellen und Sekundärliteratur seit 1930. Nachtrag: T. Wengert, Priesthood, Pastors, Bishops, Minneapolis 2008; D. Wendebourg, Amt/Ordination, in: Das Luther-Lexikon, hg. v. V. Leppin u. G. Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, 58f. 223 Lat. Äquivalente sind ministerium (ecclesiasticum), ministerium (ecclesiae), officium (verbi dei) u.a. (vgl. WA 6, 566, 9ff.; WA 7, 58, 18 und im Überblick WA 66, 452–458; WA 67, 52–56). 224 Zur Fülle der Belege s. WA 69, 68–77; vgl. bes. WA 38, 190, 32. Zum sprachgeschichtlichen Hintergrund von Luthers Terminologie vgl. W. Führer, a.a.O. (s. Anm. 178), 15–18. 225 Der Kontext bestimmt den Sprachgebrauch. So hat Luther diakonia in 2. Kor 5,18 mit Amt übersetzt, weil die Ausrichtung des »Wortes von der Versöhnung«

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2. Wie Luthers Kirchenbegriff, so hat sich auch sein Amtsverständnis konsekutiv aus dem durch Schriftauslegung wiederentdeckten Evangelium ergeben. Grundlegend sind die Vorlesungen über den Römerund Galaterbrief. Bei der Auslegung von Gal 1,11f. im Jahre 1519 definiert Luther das Evangelium als »die gute Botschaft und Verkündigung des Friedens von dem Sohn Gottes, der Fleisch geworden ist, gelitten hat und wieder auferweckt ist durch den Heiligen Geist zu unserem Heil«226. Daraus ergibt sich, dass für das Evangelium die Mündlichkeit charakteristisch ist, die ein Amt erfordert, in dessen Zentrum die Verkündigung steht. Ferner wird daraus deutlich, dass der Inhalt der Verkündigung ein eindeutiger und bestimmter ist: Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden, gekreuzigt und auferstanden »zu unserem Heil«. Durch die Verkündigung des Evangeliums, neben dem es »kein anderes gibt« (Gal 1,7), wird der »Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus« (Röm 5,1) gestiftet. Auf dieser vom Evangelium gelegten Grundlage und in diesem vom Evangelium gesetzten Bezugsrahmen steht das Amt der Kirche nach reformatorischem Verständnis. Wo immer dieser Bezugsrahmen missachtet wird, dort ist dem sachgerechten Nachvollzug von Luthers Amtsauffassung von vornherein der Boden entzogen. Die sachgerechte Entfaltung des christologisch-soteriologischen Inhalts des Evangeliums geschieht – ob in der Lehre oder in der Verkündigung – durch den Artikel von der Rechtfertigung. 3. Auf der Basis des Römer- und Galaterbriefes hat Luther amtsrelevante Bibelstellen wie 2. Kor 5,18–21, von ihm im Horizont von Gal 3,13 interpretiert, den Missionsbefehl Mt 28,18–20 oder andere Belege, zum Beispiel Eph 4,11, aufgenommen. Auch die Rezeption der einschlägigen Belege aus den Pastoralbriefen ist auf dieser Grundlage geschehen. Luthers Amtsauffassung ist biblisch wohlfundiert, aber sie ist nicht biblizistisch, sondern durch und durch vom Evangelium bestimmt. (2. Kor 5,19) von dem Auftraggeber sowie von dem Inhalt und der Form des Auftrages her geurteilt ein öffentliches Amt ist, reden die »Botschafter« doch nicht in eigenem Namen, sondern »an Christi Statt« (2. Kor 5,20). Dienst kann die Wortbedeutung von Amt erläutern, aber nicht das Wort ersetzen (vgl. J. Rogge / H. Zeddies [Hg.], Amt – Ämter – Dienste – Ordination, Berlin 1982, 44–52). 226 WA 2, 467, 12f. Aus dem Lateinischen übersetzt. S.a. die Scholie zu Röm 1,3f. (1515/16) WA 56, 168, 33 – 169, 1; ferner WA 1, 616, 20–24.

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4. In der Begründung des Amtes durch das Evangelium liegt die entscheidende Wende im Verständnis des Amtes beschlossen. Durch diesen Begründungszusammenhang ist vorentschieden, dass Luther unter dem Amt das Verkündigungsamt und nicht ein Priesteramt oder ein von Lehre und Verkündigung gelöstes Leitungsamt versteht. Das Amt ist vielmehr ein Niederschlag des endzeitlichen Sendungsund Berufungsgeschehens Gottes, in dessen Zentrum der Sohn Gottes steht (s. Röm 8,3f.; Gal 4,4f.). Luther hat die eschatologische Dimension des Evangeliums, dessen Inhalt Gottes Sohn ist (Röm 1,3f.), im Amtsverständnis wieder zur Geltung gebracht. 5. Luthers Amtsbegriff impliziert den Bruch mit der Zweiständelehre, öffentlich vollzogen 1520 in der Adelsschrift: »Alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes, und es ist unter ihnen kein Unterschied als allein des Amtes halber.«227 Er begründet dies damit, dass »(allein) die Taufe, das Evangelium und der Glaube« »(geistlich) machen«228. Darin schlägt sich der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis nieder, dass die Beziehung zu Gott, in der das Heil des Menschen beschlossen liegt, in dem Glauben an das Evangelium zur Entscheidung kommt und dass dieser Glaube und die Taufe in Gottes endzeitliches Volk eingliedern. In diesem Gedanken ist die Negation des Priesterstandes sowie des Sakraments der Priesterweihe enthalten.229 Der Klerus ist »erfunden«230, die Priesterweihe »erdichtet«231. 6. Luthers Bruch mit der Zweiständelehre war »vor dem Hintergrund der traditionellen kirchlichen Denkgewohnheiten und Lebensordnungen (ungeheuerlich)«232. Aber er war richtig und notwendig. Vor allem aus zwei Gründen. Erstens sprach sich darin die Rückkehr zum neutestamentlichen Zeugnis vom endzeitlichen Gottesvolk aus. Zweitens konnte Luther mit dem Gedanken des Priestertums aller Gläubigen im Entscheidungsjahr 1520 die »Laien«, besonders den 227 An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, WA 6, 407, 13–15. Vgl. z.St. T. Kaufmann, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, KSLuth 3, Tübingen 2014, 80ff. 228 WA 6, 407, 18f. 229 A.a.O., 407, 19–22. 230 A.a.O., 407, 10. 231 A.a.O., 408, 22. 232 T. Kaufmann, a.a.O. (s. Anm. 227), 83.

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»christlichen Adel«, für die Reformation der Kirche aktivieren. Ein bis heute häufig gezogener Fehlschluss bei der Interpretation der Adelsschrift ist dagegen, Luther habe das kirchliche Amt mit dem Gedanken des Priestertums aller Gläubigen233 begründet. Um in diesem Kontroverspunkt zu einem Urteil zu kommen, muss zunächst die biblische Grundlage des Priestertums aller Gläubigen herangezogen werden.

Exkurs: Das neutestamentliche Zeugnis über das Priestertum aller Gläubigen234 Der Gedanke des Priestertums aller Gläubigen findet sich im Neuen Testament nur im 1. Petr, im Hebr und in der Offb. In keiner dieser Schriften steht die Vorstellung vom Priestertum aller Christen im Zusammenhang mit dem Verkündigungsamt. Das gilt auch und gerade für die Stelle, auf die sich Luther in der Adelsschrift und bei anderen Gelegenheiten berufen hat: 1. Petr 2,5.9. 1. Petr 2,4–10 ist von dem neuen Gottesvolk die Rede, das sich Gott zu seinem Eigentum erwählt hat.235 Die Aufmerksamkeit ist auf Vers 9 zu richten: »Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.«236 Zu Missverständnissen hat das nur hier

233 Den Terminus »allgemeines« Priestertum verwendet Luther weder in der Adelsschrift noch anderswo. Er ist schief; denn er suggeriert, dass es neben dem allgemeinen noch ein besonderes Priestertum gebe. Aber ein solches gibt es nach dem NT gerade nicht. 234 Lit. in: D. Sänger, Priestertum I/4: Neues Testament, TRE, Bd. 27, 1997, 396– 401; H. Goertz / W. Härle, Priestertum III/1, a.a.O., 402–410; W. Führer, a.a.O. (s. Anm. 178), 96ff., Anm. 129; V. Leppin, Allgemeines Priestertum, in: Das LutherLexikon, hg. v. V. Leppin u. G. Schneider-Ludorff, Regensburg 2014, 49f.; V. Gäckle, Allgemeines Priestertum. Zur Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament, WUNT 331, Tübingen 2014. 235 L. Goppelt, Der Erste Petrusbrief, hg. v. F. Hahn, KEK XII, 1, Göttingen 1978 hat den Abschnitt unter die Überschrift »Leben in der eschatologischen Gemeinde« (138ff.) gestellt. 236 Übersetzung der Lutherbibel nach der Revision von 1984. Luther hat 1522 und 1546 »Priesterthum« für »Priesterschaft« stehen; aretē hat er – wörtlich – mit »tugent« übersetzt (WA.DB 7, 304/305).

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im Neuen Testament vorkommende Verb exaggéllō = »verkünden«237 Anlass gegeben. Worauf ist der Terminus an dieser Stelle bezogen? Otfried Hofius hat mit Nachdruck bestritten,238 dass sich die Worte »dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat …« auf die Verkündigung des Evangeliums beziehen. Vielmehr beziehen sie sich nach seinem Urteil auf die hymnisch-lobpreisende Proklamation der Heilstaten Gottes in der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde. Zur Begründung hat er die folgenden drei Argumente angeführt: Erstens: In 1. Petr 2,9 ist die Aussage von Jes 43,20f. LXX aufgenommen. Die griechische Fassung von Jes 43,21 lautet in deutscher Wiedergabe: »mein Volk, das ich mir zum Eigentum erworben habe, meine Heilstaten239 zu erzählen/verkünden.« Grundlegend ist der hebräische Text von Jes 43,21; er lautet in deutscher Übersetzung: »das Volk, das ich mir gebildet habe; meinen Ruhm werden sie erzählen/ verkünden.« Jes 43,21 ist vom »erzählenden Lob«240 die Rede. Das »Erzählen/ Verkünden« (hebr. sāpar; Piel) des Volkes Gottes geschieht »in Form einer … ›Lobpreis, Hymnus‹ genannten Liedgattung«241. Derselbe Sinn liegt auch in der griechischen Fassung vor. Zweitens: Die von Jes 43,21 LXX abweichende Verwendung des Verbs in 1. Petr 2,9 dürfte von vergleichbaren Aussagen des Septuaginta-Psalters veranlasst worden sein. Wie in 1. Petr 2,9 wird exaggéllō in Ps 9,15; 70,15; 72,28; 78,13; 106,22; 118,13 LXX gebraucht. Als Beispiel sei Ps 9,15 LXX in deutscher Übersetzung angeführt: »dass ich erzähle all deinen Ruhm.« Im Hebräischen steht das Verb sāpar (Piel) = erzählen, be237 Bauer-Aland, Wb (s. Anm. 183), 548. 238 O. Hofius, em. Professor des Neuen Testaments an der Universität Tübingen, hat mir im Rahmen unseres Gedankenaustausches über das Amt der Kirche am 21.09.2014 »eine kritische Anfrage« zur Exegese von 1. Petr 2,5.9 und anderer Stellen zugesandt. Auf diese Anfrage, die (bislang) nicht veröffentlicht worden ist, stützen sich die folgenden Ausführungen. Hingewiesen sei auf drei Studien des Verfassers zum neutestamentlichen Amtsverständnis: O. Hofius, Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: ders., Exegetische Studien, WUNT 223, Tübingen 2008, 218–239; ders., Die Ordination zum Amt der Kirche und die apostolische Sukzession nach dem Zeugnis der Pastoralbriefe, ZThK 107 (2010), 261–284; ders., Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen, in: W. Eisele u.a. (Hg.), Aneignung durch Transformation. FS für Michael Theobald, HBS 74, Freiburg u.a. 2013, 339–357. 239 Jes 43,21 LXX steht aretas (»Wohltaten«) wie in 1. Petr 2,9. Aus Jes 43,20 LXX ist in 1. Petr 2,9a der Passus »das auserwählte Geschlecht« aufgenommen. 240 C. Westermann, Das Buch Jesaja. Kapitel 40–66, ATD 19, Göttingen 31976, 106 (z.St.). 241 K. Elliger, Deuterojesaja, BK XI, 1, Neukirchen-Vluyn 1978, 358 (z.St.).

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kanntmachen. In den genannten Psalmen wird mit sāpar / exaggéllō / erzählen das hymnische Preisen der Heilstaten Gottes zum Ausdruck gebracht, und zwar in Gestalt des lobpreisenden Redens242 und nicht des Verkündigens im Sinne der Predigt. Dieses lobpreisende Reden ist nicht an Menschen, sondern – vor den Ohren der Gemeinde – an Gott gerichtet. Das Verb exaggéllō ist in 1. Petr 2,9 im Sinn der genannten Psalmen-Stellen verwendet. Drittens: Für die Verkündigung des Wortes Gottes werden im 1. Petr – wie auch sonst im Neuen Testament – euaggelizō (1,12.25; 4,6) und kēryssō (3,19) gebraucht. Daraus muss geschlossen werden, dass exaggéllō in 1. Petr 2,9 keinesfalls auf den Verkündigungsdienst bezogen ist, sondern vielmehr auf den Lobpreis der Gemeinde als des königlichen und priesterlichen Volkes Gottes. Das wird durch die Aussage von 1. Petr 2,5 bestätigt. Denn die von der Gemeinde als der »heiligen Priesterschaft« darzubringenden »geistlichen Opfer« sind ohne jeden Zweifel nicht auf die Verkündigung des Evangeliums zu deuten. Vergleichbare Belege für eine Spiritualisierung des »Opfer«-Begriffs sprechen für eine Deutung auf den Lobpreis243 und außerdem »auf die ethisch-existentiellen Konsequenzen des Glaubens«244. Der kritische Einwand von Otfried Hofius ist exegetisch und theologisch berechtigt. So ist festzuhalten: Im Neuen Testament gibt es keinen einzigen Beleg, der den unmittelbaren Zusammenhang des Verkündigungsamtes mit dem Gedanken des Priestertums aller Gläubigen bezeugen würde. Beide sind nicht in einer Ursprungsrelation aufeinander bezogen, sondern stehen lediglich in ekklesialem Zusammenhang miteinander. Auf diesen Zusammenhang wird in den folgenden Thesen eingegangen. Hier ist festzustellen, dass für einen Begründungszusammenhang von Verkündigungsamt und Priestertum aller Gläubigen jede Schriftgrundlage fehlt. Das muss ausdrücklich hervorgehoben werden, weil die neutestamentliche Exegese245 und die Lutherinterpretation246 242 Auch in den Texten von Qumran bezeichnet sāpar pi. »ein hymnisch-preisendes Verkünden der Heilstaten und der Größe Gottes« (J. Conrad, sāpar, ThWAT, Bd. V, 1986, 910–921, 920). Vgl. z.B. 1 QH 9,30.33; 11,23; 12,28f.; 19,6.24. 243 Vgl. z.B. Hebr 13,15; Ps 49,14; 68,31f.; 106,22 LXX; 1 QS 10,6. 244 D. Sänger, a.a.O. (s. Anm. 234), 400, 6f. 245 Aus der neutestamentlichen Exegese vgl. z.B. E. Käsemann, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. I, Göttingen 61970, 109–134, der S. 123 zu 1. Petr 2,9 niederschreibt: »Ein Vorgang heiligen Rechtes bildet also die Antwort des Menschen auf göttliche Manifestation, und

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einen Begründungszusammenhang konstruiert haben. Vor allem aber ist gegen die Praxis der Landeskirchen der EKD der Einspruch zu erheben, dass sie sich auf ein Theologumenon stützt, für das es keine Schriftgrundlage und also keine Legitimation gibt. Die Untergrabung des Verkündigungsamtes durch das allgemeine Priestertum in der heutigen Evangelischen Kirche ist so schriftwidrig, wie es die Untergrabung des Verkündigungsamtes durch das spätmittelalterliche Opferpriestertum war. Luther hat das Verkündigungsamt und das Priestertum aller Gläubigen nicht in einem Begründungs- und Konkurrenzverhältnis gesehen. Beide setzen sich vielmehr gegenseitig voraus, und daraus ergeben sich ihre Beziehungen zueinander. In der Adelsschrift stehen beide nebeneinander: Gott hat das Amt, das eine Gemeinde mit Predigt und Sakramentsverwaltung regiert, »eingesetzt«247; und Gott ist es, der »das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft« (1. Petr 2,9) als endzeitliche Gemeinde durch das Wirken seines Geistes geschaffen hat. Mit dem Gedanken des Priestertums aller Gläubigen hat Luther die schriftwidrige Zweiständelehre außer Kraft gesetzt und inhaltlich näher bestimmt, was Kirche ist,248 nämlich die königliche Schar derer, die im Glauben an Christus Zugang zu Gott und Frieden mit Gott haben, die ihm in der Zuversicht des Glaubens nahen, ihn für seine Heilstat loben und preisen und priesterlich vor ihm für andere eintreten. In der Liste der sieben Kennzeichen der Kirche aus dem Jahr 1539 bildet das Amt das fünfte und das Gebet der Gemeinde, die Gott lobt und dankt, das sechste Kennzeichen der Kirche.249 1. Petr 2,9 ist nicht das Verkündigungsamt, dieser Vorgang ist officium im strengsten Sinne. Das besagt, daß die Stelle des 1. Petr. wirklich von amtlichem Tun spricht und sprechen will … Man treibt das ministerium verbi divini … Man treibt es jure divino: Es ist jedem Christen übertragen und geboten …« Im 1. Petr steht von alledem kein einziges Wort! Käsemann hat es vielmehr zuvor in den Text eingetragen: Das geht aus seiner Sprache (ministerium; jure divino usw.) eindeutig hervor. 246 Repräsentativ für die gegenwärtige Lutherinterpretation ist die von W. Härle betreute Dissertation von H. Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, MThSt 46, Marburg a.d.L. 1997, der in dem ordinierten Amt eine notwendige Konsequenz des Allgemeinen Priestertums sieht (192ff.). Diesem Interpretationsansatz folgt die weit überwiegende Mehrheit, vgl. z.B. D. Wendebourg, a.a.O. (s. Anm. 222), 58f.; K. Hammann, a.a.O. (s. Anm. 185), 187. Diese Interpretation entbehrt nicht nur jeder Schriftgrundlage, sie ist auch im Blick auf Luther falsch. 247 WA 6, 441, 24f. 248 Vgl. W. Führer, a.a.O. (s. Anm. 178), 96–108. 249 WA 50, 628ff. (s.o. Anm. 218 u. 220), bes. 632, 35ff. u. 641, 20f.

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sondern der Lobpreis der endzeitlichen Gemeinde als des königlichen und priesterlichen Volkes Gottes im Blick. Luther kann von dem Vorwurf, er habe 1. Petr 2,9 durch die Zuspitzung auf den Verkündigungsdienst falsch ausgelegt, nicht entlastet werden. Wahrscheinlich hat ihn der lexikalische Gleichklang – hat doch auch exaggéllō die Bedeutung von »verkündigen«250 – dazu bewogen, 1. Petr 2,9 auf den Verkündigungsdienst zu beziehen.251 Dass das Verb auf die lobpreisende Proklamation der Heilstaten Gottes in der gottesdienstlichen Gemeinde bezogen ist, hätte er dem Kontext entnehmen können. Aber das ist ihm offenbar entgangen.

5.2 Einsetzung, Aufgabe und Vollmacht des Amtes 7. Das Amt ist von Gott, der sich in Christus offenbart hat, eingesetzt. Luther hat das in der Adelsschrift 1520,252 aber ebenso in seiner ekklesiologischen Spätschrift von 1539 hervorgehoben.253 Die wohl stärkste Unterstreichung des Stiftungsgedankens findet sich in dem Traktat Eine Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle (1530). Der mehrmals variierte Spitzensatz über das Amt lautet, »dass der geistliche Stand von Gott eingesetzt und gestiftet ist – nicht mit Gold oder Silber, sondern mit dem teuren Blut und bitteren Tod seines einzigen Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus«254. Analog zur Begründung des Amtes durch das Evangelium selbst anstatt durch einzelne Schriftstellen führt Luther auch die Einsetzung und Stiftung des Amtes nicht auf einzelne Schriftstellen, sondern gewissermaßen auf deren Summe, nämlich auf den soteriologischen Gehalt der Sendung Jesu Christi zurück: auf das Für-uns seines Todes und seiner Auferstehung.

250 S.o. Anm. 237. 251 Vgl. z.B. Luthers Auslegung von 1. Petr 2, 9 aus dem Jahr 1523, WA 12, 316ff., bes. 318, 25ff. 252 Nachweis s.o. Anm. 247. 253 WA 50, 633, 3f. Luther führt dafür den klassischen Beleg an: Eph 4, 11. 254 WA 30 II, 527, 14–17. Im Kontext des Traktats ist der geistliche Stand als eigener Berufsstand im Unterschied zu den weltlichen Berufen gemeint. Diese Aussage fügt sich in Luthers Zwei-Regimenten-Lehre und in die Drei-Stände-Lehre ein.

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8. Begründet Luther die Stiftung des Amtes durch Gott oder Christus auch nicht biblizistisch, greift er doch immer auf zentrale biblische Stellen zurück. So versteht er Mt 28,19, Mk 16,15, Joh 17,18 und 20,19–23 von der Sendung der Jünger und Apostel und zugleich von der Sendung und Beauftragung ihrer Nachfolger.255 Es ist derselbe Christus (s. Hebr 13,8), der als der Erhöhte durch den Geist herrscht und die Boten sendet,256 wie er einst die Jünger und Apostel gesandt hat. Wer das Verkündigungsamt innehat, steht in dem Amt, das Christus gehört.257 9. Der Stiftungsgedanke ist von grundlegender Bedeutung für das Amtsverständnis. Durch ihn wird zum Ausdruck gebracht: – dass nicht die Kirche, sondern Gott selbst das Wort von der Versöhnung unter uns aufgerichtet hat (2. Kor 5,19); – dass der Verkündigungsauftrag nicht von der Kirche, sondern von dem auferstandenen Herrn gegeben wurde (Mt 28,19) und gegeben wird; – dass die Wirksamkeit der Verkündigung nicht von kirchlichem Aktivismus abhängig ist, sondern von der Verheißung der Gegenwart Christi und dem Wirken seines Geistes (Mt 28,20). 10. Schon in der ersten Psalmen-Vorlesung (1513–15) hebt Luther hervor, die Verkündigung des Evangeliums erfordere das ministerium der Apostel und ihrer Nachfolger.258 Er unterscheidet zwischen Apostelamt und Predigtamt und pflegt seit seinen Anfängen unter dem Amt das Nachfolgeamt der Apostel zu verstehen.259 Sein Interesse gilt »fast ausschließlich dem Nachfolgeamt der Apostel«260. Auch Philipp Melanchthon hat unter dem Amt der Kirche das Nachfolgeamt der

255 Vgl. WA 28, 169, 12ff. (über Joh 17, 18f.); WA 31 I, 196, 11–13 (Mt 28, 19f.) und 211, 2ff. (Mk 16, 15); WA 41, 123, 35–37 (Christus-Apostel-Nachkommen). 256 Vgl. WA 28, 154–167, bes. 156, 13. Entscheidend ist, dass das Amt und das Wort des Amtes »in göttlichem Befehl … gehen« (WA 19, 233, 6f.). 257 Vgl. WA 22, 184, 8f.; WA 32, 398, 25–28 u. 488, 18–22; WA 38, 243, 23. 258 Vgl. WA 4, 9, 18ff., bes. 26. 259 Vgl. WA 55 I, 684, 6f.; ferner 748. 260 W. Stein, Das kirchliche Amt bei Luther, VIEG 73, Wiesbaden 1974, 1. Weil sie die Anfänge von Luthers Theologie nicht einbezogen haben, bleibt dieser wichtige Aspekt bei H. Goertz, a.a.O. (s. Anm. 246); G. Neebe, Apostolische Kirche, TBT 82, Berlin 1997 u.a. unterbestimmt.

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Apostel verstanden.261 Zum sachgerechten Verständnis muss man sowohl den Unterschied als auch die Gemeinsamkeit beachten. Zunächst der Unterschied: »Apostel« sind »unmittelbar von Gott selbst gesandt ohne vermittelnde Person«262. Der Apostolat ist nicht aus der Gemeinde erwachsen, sondern beruht auf der Selbstoffenbarung und Beauftragung des auferstandenen Christus.263 Inhalt des Apostolats ist das Evangelium. Wie es den Apostolat ohne das Evangelium nicht gegeben hätte, so wäre die Heilstat Christi ohne die Verkündigung des Evangeliums durch die Apostel unbekannt und unwirksam geblieben. Der Hauptunterschied zum Amt ist darin zu sehen, dass der Apostolat auf der Augenzeugenschaft der Apostel beruht, die den gekreuzigten und auferstandenen Christus gesehen haben. Mit der Ausrichtung des grundlegenden Verkündigungsdienstes ist der Apostolat abgeschlossen. Er ist nicht wiederhol- oder übertragbar, also kein auswechselbarer Teil der Kirche. Vielmehr sind die Apostel »die ersten Steine auf jenem einzigen Felsen«, nämlich Christus.264 Durch sie ist die Kirche konstituiert worden.265 »Der Apostel ist ein Bote des Wortes, und der Apostolat ist das Amt des Wortes.«266 Die Gemeinsamkeit mit dem Amt der Kirche liegt auf der Hand; denn dieses ist der »Dienst des Wortes Gottes in der Kirche«267. Doch das kirchliche Amt setzt den Apostolat nicht fort, sondern vielmehr als unabdingbar voraus. Gerade dadurch aber, dass es ihn immer wieder aufs neue voraussetzt, setzt es ihn fort. »Die Diener der Kirche haben dasselbe Mandat, das die Apostel hatten, sind Botschafter an Christi Statt und Nachfolger des Apostel-Dienstes. Nicht aber sind sie Nachfolger der Apostel-Personen, weil sie das Amt weder in der unmittelbaren, persönlichen, noch in der normierenden Weise, wie diese, empfangen haben. Für die Wahrheit und Wir-

261 Vgl. Tractatus de potestate papae, 1537, BSLK 474, 8–11: »(Wir) haben … ein gewisse Lehre, daß das Predigtamt vom (all)gemeinen Beruf der Apostel herkommet.« 262 WA 40 I, 61, 11f. (zu Gal 1,1). 263 Vgl. WA 40 I, 58, 25–28. Zum neutestamentlichen Hintergrund vgl. J. Roloff, Apostolat – Verkündigung – Kirche, Gütersloh 1965, 135f. 264 Nach WA 38, 620, 13f. 265 WA 25, 216, 30: »… ecclesiam per Apostolos constitutam.« 266 WA 59, 513, 2493f. Übersetzt aus dem Lateinischen. 267 AWA 2, 444, 9f. Unter Bezugnahme auf Augustin. Übersetzt aus dem Lateinischen.

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kungskräftigkeit ihres Tuns bürgt … die Schriftmäßigkeit desselben.«268 11. Weil der Apostolat auf Gottes endzeitlicher Sendung beruht und die unmittelbare Stiftung Jesu Christi darstellt, besteht er aus göttlichem Recht.269 Durch die Bindung an das in der Heiligen Schrift überkommene Evangelium stellt sich das Amt der Kirche in die Lehr- und Verkündigungssukzession der apostolischen und nachapostolischen Zeit hinein. In der Ausschließlichkeit der Bindung an das Evangelium, in der das Schriftprinzip zum Ausdruck kommt, gründet die Legitimität des Amtes, aber auch seine Freiheit und Unabhängigkeit von jeder Autorität, die nicht auf göttlichem Recht beruht. Auf diesen Ansatz geht Luthers Konflikt mit dem Papsttum zurück;270 vor allem aber: die Erneuerung der Kirche und des Amtes, das an der Freiheit des Evangeliums partizipiert. Wurde diese Freiheit gewahrt, war das kirchliche Amt weder ein »Hofdiener« noch ein »Bauernknecht«, sondern es war allein Gott zu Gehorsam verpflichtet.271 In dem Gehorsam des Glaubens an das Wort Gottes der Heiligen Schrift allein gründet die Freiheit der Kirche und des Amtes. In der Unbedingtheit des Glaubensgehorsams liegt das Geheimnis der Reformation. 12. Das Wort Gottes, »dorauff das ampt gestifft ist«272, ist Grundlage, Inhalt, Norm und Maßstab des Amtes in allen seinen Funktionen. »Wenn einem das Amt der Verkündigung des Wortes verliehen wird, so werden ihm alle Ämter (der Kirche) verliehen … Es ist das höchste unter allen, nämlich das apostolische Amt, das den Grund für alle anderen Ämter legt.«273 Die hauptsächliche Aufgabe des Amtes ist, das 268 Th. Harnack, a.a.O. (s. Anm. 217), § 87. 269 Vgl. WA 59, 465, 1005f.; WA 2, 455, 28; WA 39 I, 47, 39 u.a. Im ius divinum ist Gott selbst »das handelnde Subjekt« (R. Slenczka, Freiheit und Verbindlichkeit des Glaubens, in: ders., Neues und Altes, hg. v. A.I. Herzog, Bd. 3, Neuendettelsau 2000, 124–143, 125). 270 In ASm II, 4 lautet die Hauptaussage, der Papst sei nicht »jure divino oder aus gottes wort das Heubt der gantzen Christenheit« (WA 50, 213, 2–4). Dadurch hat Luther festgehalten, was er in der Leipziger Disputation 1519 gegen J. Eck herausgestellt hat. 271 Vgl. WA 31 I, 198, 12–15. 272 WA 47, 193, 5. 273 De instituendis ministris Ecclesiae, 1523, WA 12, 191, 6f. 9f. Übersetzung aus dem Lateinischen.

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Evangelium zu lehren.274 In De instituendis zählt Luther sieben Funktionen auf:275 das Lehren des Wortes Gottes, »von dem alles andere abhängt«276, an erster Stelle; danach die Taufe, das Altarsakrament und weitere. Nach Artikel V der Confessio Augustana (1530) besteht die Aufgabe des Amtes in der lauteren Evangeliumsverkündigung und evangeliumsgemäßen Sakramentsdarreichung.277 Diese Aufgabe wird durch die Auslegung der Heiligen Schrift im Spannungsfeld von äußerer und innerer Klarheit der Schrift in Lehre, Unterweisung, Verkündigung, Seelsorge und Leitung durch die Unterscheidung zwischen Geist und Buchstabe, Gesetz und Evangelium, Reich Gottes und Reich der Welt, Christperson und Weltperson wahrgenommen. 13. Die Vollmacht des Amtes liegt in Gottes Wort beschlossen. Sie wird durch die Verkündigung entbunden und verdichtet sich in der Anwendung der Schlüsselgewalt. Sie ist keine jurisdiktionelle, sondern eine proklamatorische Gewalt. Die Vollmacht umfasst die Absolutions-, Konsekrations- und Lehrgewalt. Sie ist aber keine freischwebende, sondern eine durch Gottes Wort begrenzte Vollmacht, innerhalb dieser Grenze aber unbegrenzt gültig und wirksam. Denn sie beruht auf dem Mandat Jesu Christi und besteht in dem Recht (ius) und der Ermächtigung (potestas), in seinem Namen von den Verderbensmächten zu entbinden und die Vergebung der Sünden aus Gnade allein zuzusprechen. Diese Anwendung der Schlüsselgewalt in der Bezeugung von Gesetz und Evangelium ist der Inbegriff der Amtsausübung.

5.3 Die Institutionen des Amtes 14. Kirche und Amt sind von Christus gleichzeitig ins Dasein gerufen und in Wirksamkeit gesetzt worden. Das endzeitliche Gottesvolk ist auf der einen Seite mit dem Glauben der Jünger, die ohne Glauben dem Ruf des auferstandenen Christus nicht gefolgt wären (s. Mt 274 275 276 277 54ff.

WA 56, 165, 6f. WA 12, 180ff. A.a.O., 180, 5. Übersetzt aus dem Lateinischen. BSLK 58, 3f. Vgl. z.St. L. Grane, Die Confessio Augustana, Göttingen 62006,

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28,16), ins Dasein getreten. Es war und ist unmittelbar auf Christus bezogen. Der Apostolat und dessen Nachfolgeamt beruhen auf der anderen Seite nicht auf der Einsetzung der Kirche, sondern stellen ebenso wie die Kirche Christi unmittelbare Stiftung dar, hat der auferstandene Christus doch selbst den Auftrag zur weltweiten Verkündigung und zur Taufe gegeben (Mt 28,19f.). Das bedeutet, dass Kirche und Amt gleichursprünglich sind. Aus der Gleichursprünglichkeit von Kirche und Amt folgt, »daß weder der Kirche eine Priorität vor dem Amt noch diesem eine solche vor der Kirche zukommt; vielmehr ist das Amt nie ohne Kirche, wie die Kirche nie ohne Amt gewesen. In der Gemeinde, heißt es 1. Kor. 12,28, also nicht vor und nicht nach ihr, hat der Herr gesetzt aufs erste die Apostel usw.«278 Sind aber die Kirche als das Priestertum aller Gläubigen und das Amt der Kirche gleichursprünglich, ist jeder Prioritätenstreit zwischen beiden unsachgerecht. Denn beide stehen in einer Ursprungsrelation zu Christus. Nur weil beide in ihm ihre übergeordnete Einheit haben, gehören sie zusammen und können aufeinander bezogen werden. An erster Stelle steht die christologische Ursprungsrelation; die ekklesiologischen Funktionsrelationen sind jener nachgeordnet. Der Kardinalfehler der Amtsdiskussion ist darin zu sehen, dass die Funktionsrelationen die Ursprungsrelation zudecken und dadurch wie von selbst die Frage nach der Priorität aufwerfen. Diese Frage hat schon die hochdifferenzierte Diskussion um das Amt zwischen 1840 und 1870 in eine Sackgasse geführt.279 Wilhelm Löhes (1808–1872) Überordnung des Amtes über die Kirche war ebenso unbiblisch und unreformatorisch, wie es Johann W.F. Höflings (1802–1853) – und seiner heutigen Nachredner – Unterordnung des Amtes unter die Kirche infolge seiner Herleitung vom allgemeinen Priestertum war. Weder die Klerikalisierung noch die Entvollmächtigung des Amtes mit der Folge der Gleichschaltung von Amt und Kirche mit vorherrschenden Zeittendenzen sind biblisch vertretbar. Sie stehen im Widerspruch zu den Errungenschaften der Reformation.

278 Th. Harnack, a.a.O. (s. Anm. 217), § 81. 279 Die kenntnisreichste Darstellung ist H. Fagerberg, Bekenntnis, Kirche und Amt in der deutschen konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts, Uppsala 1952.

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15. Das an das äußere Wort (verbum externum) der Heiligen Schrift gebundene äußere Amt (officium externum) ist das Verkündigungsund Predigtamt. Es geht in keiner Institution auf, sondern umfasst sie alle.280 Daher kann es als das »Grund-Amt«281 bezeichnet werden. Folgende Aspekte sind zum Verständnis besonders hervorzuheben: – Das Verkündigungsamt ist das eine Amt, das auf Christi Einsetzung beruht. Es besteht aus göttlichem Recht und wird in der ausschließlichen Bindung an das Mandat Christi ausgeübt. Es ist »das apostolische Amt, das den Grund für alle anderen legt«282. – Das Verkündigungsamt stellt eine unbedingte Notwendigkeit dar. Denn allein durch das an »das Wort von der Versöhnung« (2. Kor 5,19) gebundene Amt kommt die Tat der Versöhnung, die Passion und Auferstehung Christi, »in Gebrauch« (in usum).283 – Das Verkündigungsamt wird nicht »gemacht«, sondern »vorgefunden«284. Es ist durch das Wort Gottes, »darauf« es »gestiftet ist«285, mitgesetzt. Es ist das Instrument der Gnaden- oder Heilsmittel, nämlich des Wortes Gottes und der beiden Sakramente, und nicht sind diese Instrumente des Amtes. – In dem Verkündigungsamt wird »alles, was in der Schrift enthalten ist, durch das Wort in das gewisseste Licht gerückt und vor aller Welt öffentlich dargelegt«286. – Das Verkündigungsamt ist eingesetzt, weil der Heilige Geist in der Selbstbindung an das gepredigte Wort und die dargereichten Sakramente wirksam ist. 16. Bei der Neuordnung der Gemeinde sowie der institutionellen Ausgestaltung des Amtes knüpfte Luther an das mittelalterliche Parochialsystem an und zielte auf die Beseitigung der von den Mönchsorden geschaffenen Parallelstrukturen. Dabei ging er nicht von der von

280 Luther kann »Lehramt, Predigtamt, Pfarramt« gleichzeitig nennen (z.B. WA 30 II, 491, 20f.) oder eine Bezeichnung als Synonym für die anderen gebrauchen. 281 So mit Recht C.H. Ratschow, Amt / Ämter / Amtsverständnis VIII, TRE, Bd. 2, 1978, 593–622, 617. 282 WA 12, 191, 9f.; zitiert o. Anm. 273. 283 WA 34 I, 318, 16 u. 319, 17. Vgl. ferner WA 10 I, 1, 131, 13ff.; WA 29, 308, 13f.; WA 36, 46, 5f. 284 Vgl. WA 27, 43, 31. 285 WA 47, 193, 5. 286 WA 18, 609, 13f. Übersetzt aus dem Lateinischen.

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Rom usurpierten hierarchischen Spitze aus, sondern kehrte das Parochialsystem dadurch um, dass er Kirche von der Ortsgemeinde aus verstand.287 Denn: »Jede Gemeinde, wie klein sie auch sein mag, ist im Besitz aller Gaben und Rechte, die aus dem Evangelium fließen.«288 Wie kann die Verkündigung und Sakramentsverwaltung in der Gemeinde stiftungsgemäß wahrgenommen werden? Diese Frage hat die institutionelle Ausgestaltung und die Ausstattung des Amtes zur vordringlichsten Aufgabe erhoben. Luther hat die Frage der Institutionalisierung des Verkündigungsamtes im Rahmen der Lehre von den drei Ständen oder Hierarchien beantwortet. Auf sie kann hier nicht näher eingegangen werden. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass das Pfarramt die Hauptinstitution des Dienstes am Wort Gottes und an den Sakramenten geworden ist. Wie die Gemeinde, so ist auch das Pfarramt zu Lasten der hierarchischen kirchlichen Spitze in der Reformation aufgewertet worden. Das war offen wahrnehmbar; denn die Pfarrer agierten als anerkannte Figuren des öffentlichen Lebens und fügten sich durch ihre Eheschließungen und Familiengründungen, die zum Normalfall für Amtsträger wurden, in das Sozialleben ein, statt weiterhin eine klerikale Pariaexistenz zu führen. Das war die sichtbar gewordene Außenseite. Der innere Grund für die Neupositionierung des Pfarramts war ein theologischer. In der Adelsschrift führt Luther aus, eine jede Stadt solle einen Pfarrer oder Bischof haben.289 Darauf folgt eine Feststellung von einschneidender Bedeutung, nämlich ein Bischof und ein Pfarrer sei ein und dasselbe.290 Gemeint ist nicht eine – aus welchen Gründen auch immer – propagierte Gleichstellung, sondern vielmehr die essentielle Gleichheit von Pfarrer und Bischof. Luther vertritt sie – unter Berufung auf Hieronymus (um 347–419) –291 seit der Leipziger Disputa287 So mit Recht C. Möller, Gemeinde I, TRE, Bd. 12, 1984, 316–335, 320. 288 K. Holl, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, 1911, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I: Luther, Tübingen 61932, 326–380, 350. 289 WA 6, 440, 21f. 290 A.a.O., 440, 26f.: »ein ding.« 291 Hieronymus, Comm. in ep. ad Titum, PL 26, 597 A. Vgl. H.-M. Stamm, Luthers Berufung auf die Vorstellungen des Hieronymus vom Bischofsamt, in: M. Brecht (Hg.), Martin Luther und das Bischofsamt, Stuttgart 1990, 15–26.

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tion 1519292 und hat an ihr in allen Schaffensperioden festgehalten.293 Den Ausschlag dafür hat das Neue Testament gegeben:294 Nach Phil 1,1 ist der Bischof Aufseher und Verwalter neben den Diakonen in der Gemeinde; in 1. Tim 3,1 und Tit 1,7 ist er Leiter der Gemeinde; in Apg 20,28 werden die Ältesten der Gemeinde in Ephesus als Bischöfe bezeichnet. »Bischof« bezeichnet also nicht ein übergemeindliches Amt, sondern einen Aufseher in oder den Leiter der Ortsgemeinde. Von den jetzigen Bischöfen wisse die Schrift dagegen gar nichts.295 In dem mit dem Bischofsamt gleichgestellten Pfarramt hat das auf göttlichem Recht beruhende Verkündigungsamt in der Reformation konkrete Gestalt angenommen. Wer die Kanzel in einer Stadt oder einem Kirchspiel innehat, hat die Hauptinstitution des Amtes inne. 17. Das Amt beruht wie die Botschaft, die zu verkündigen ist, auf göttlichem Beruf und Befehl.296 Es ist daher ein öffentliches Amt.297 Ist das Amt eine öffentliche Institution, dann bedarf es zu seiner Ausübung der ordentlichen Berufung und öffentlichen Bestätigung.298 Die institutionelle Konkretion der ordentlichen Berufung und öffentlichen Einsetzung in das Amt ist die Ordination.299 Sie ist nicht nur um des Amtsträgers, sondern auch und vor allem um der Souveränität und des Öffentlichkeitsanspruches des Wortes Gottes willen erforderlich.300 »Ordinieren soll heissen und sein: in das Pfarramt berufen

292 Vgl. WA 59, 439, 217 – 440, 226. 293 Vgl. z.B. WA 7, 631, 11f.; WA 10 II, 197, 16–19; WA 38, 237, 21–23; WA 50, 339, 1 – 341, 5; WA 54, 229, 4ff. 294 Vgl. H. W. Beyer, episkopos, ThWNT, Bd. II, 1935, 595–619, bes. 604ff.; J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, EKK XV, Neukirchen-Vluyn 1988, 169–189. 295 WA 6, 440, 28. 296 Das hat Luther immer wieder hervorgehoben; vgl. z.B. WA 19, 233, 6f.; WA 30 II, 453, 21; WA 30 III, 518, 20f.; WA 33, 390, 17f. 297 WA 12, 173, 2f.: »Ministerium publicum verbi.« 298 Ordnungs- und Öffentlichkeitsmotiv stehen zumeist nebeneinander; vgl. z.B. WA 8, 495, 24 – 496, 11; WA 10 III, 170, 17; WA 30 III, 518, 5f.; WA 41, 213, 34ff. Der biblische Hauptbeleg ist 1. Kor 14, 40. 299 Vgl. W. Führer, a.a.O. (s. Anm. 178), 229–245; H. Goertz, a.a.O. (s. Anm. 246), 299ff.; M. Krarup, Ordination in Wittenberg, BHTh 141, Tübingen 2007. 300 Ausgangspunkt der Argumentation in De instituendis (1523) ist die These: »›Nur eins ist not‹ (Lk 10, 42), das ist das Wort Gottes, in dem der Mensch das Leben hat« (WA 12, 171, 31f.; Übersetzung). Ganz ähnlich in Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533): »Es liegt alles am Wort Gottes als am höchsten Amt …« (WA 38, 253, 12f.).

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und es anbefehlen. Diese Macht hat und muss haben Christus und seine Kirche.«301 Die Ordinierten sind »Amtspersonen«302 und stehen an der Nahtstelle zwischen Kirche und Öffentlichkeit, Religion und Politik. Sie haben den klar umrissenen Auftrag der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung. An ihm können und müssen sie gemessen werden. Die ordentliche Berufung ist nötig, sie reicht aber als Kriterium zur Beurteilung nicht aus, waren doch auch die Schriftgelehrten der Pharisäer ordentlich berufen. Notwendig ist vielmehr die Übereinstimmung des öffentlichen Amtes mit Christus in der Lehre.303 Dieser Konsens kommt in der vorbehaltlosen Zustimmung zu dem gesetzesfreien Evangelium zum Ausdruck, das keinen »Zusatz« und keine Nebenlehre »leidet«304. In Wittenberg ging der Ordination ein Examen voraus, das keineswegs die Gesinnung, sondern vielmehr die Schriftgemäßheit der Lehre und Verkündigung prüfte.305 Luther achtete auf die Wahrung der »reinen Lehre« (pura doctrina)306 und verstand darunter die Bindung an das Evangelium, das durch den Artikel von der Rechtfertigung eindeutig als gesetzesfrei identifiziert werden kann.307 Die Maßstäbe, die Luther gesetzt hatte, waren hoch. Aber wer ihnen in der Amtsführung gerecht wurde, besaß einen umfassenden Rechtsschutz gegen Intrigen und Anfeindungen. Denn solange ein Amtsträger die reine Lehre verkündigte und ein untadeliges Leben gemäß den apostolischen Regeln der Pastoralbriefe führte, war er unangreifbar und durfte nicht entlassen werden.308 18. Das Evangelium ist keine Winkelangelegenheit, sondern es richtet sich an alle Völker (Mt 28,19). Aus der Universalität des Evangeliums

301 WA 38, 238, 7f. 302 Vgl. WA 6, 408, 19; WA 7, 634, 24f. 303 Vgl. WA 10 III, 171, 25–32. 304 A.a.O., 172, 10. 305 Vgl. WA 38, 423, 6ff. Über das Examen wurde ein Zeugnis ausgestellt (vgl. WA.B 12, 447–485). 306 Vgl. WA 41, 458, 11; s.a. WA 38, 427, 23. 307 Es ist nach Luther besser, keinen Diener zu haben als einen gotteslästerlichen (vgl. WA 11, 411, 17f.; WA 12, 172, 6–8). 308 So mit Recht H.-E. Dietrich, Wider Kirchenraub und Kläffer. Luthers Ablehnung einer Zwangsversetzung von Pfarrern, DPfBl 10/2008; G. Kittel, Die Würde des Predigtamtes, DPfBl 2/2015, 68–72, bes. 70 (unter Berufung auf WA.B 10, Nr. 3844).

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erwachsen übergemeindliche Aufgaben in der Lehre, Leitung, Aufsicht und im Kirchenregiment. 18.1 Die Lehre beruht nicht auf priesterlichem Geheimwissen, sondern auf dem prophetischen und apostolischen Zeugnis der Heiligen Schrift. Darum kann die öffentliche Lehrverantwortung überall wahrgenommen werden. In der Reformation geschah dies vornehmlich an den Universitäten. Die Lehrgewalt hatte Gottes Wort selbst inne. Die Möglichkeit der Lehrbeurteilung war mit der äußeren Klarheit der Schrift gegeben, auf der die Autorität und Legitimität des Amtes beruht. Die Notwendigkeit der Lehrbeurteilung erklärte und erklärt sich daraus, dass die Kirche fortwährend durch Menschenlehre bedroht wird. »Alle Geister sind nach dem Urteilsspruch der Schrift vor den Augen der Kirche zu prüfen.«309 Die Universitäten hatten zu den wichtigsten Stützen des Papsttums gehört.310 Die antischolastische Theologie, die aus Luthers Bibelauslegung erwuchs, zog ab 1518 eine Universitätsreform nach sich,311 durch die Wittenberg zum Vorbild für andere Universitäten im Inund Ausland wurde. Infolge der zentralen Stellung der Bibel im Lehrbetrieb konnten die von der Reformation erfassten Universitäten zu »Filiale(n) der Konzilien der ewigen Wahrheit«312 werden. Die von der Wahrheitsmacht des wiederentdeckten Evangeliums maßgeblich geprägte Universität gibt es heute nicht mehr – und wenn doch, dann nur als Ausnahme von der Regel. Sagte Luther der scholastischen Theologie nach, sie könne keine einzige Predigt befestigen,313 so gilt das – aus anderem Grund zwar, aber mit demselben Resultat – doch wohl auch von der protestantischen Theologie. Luther hätte an der heutigen Universität wahrscheinlich keine Anstellung gefunden.314 309 WA 18, 653, 28. Übersetzung aus dem Lateinischen. 310 Das hat Luther immer wieder unterstrichen; vgl. z.B. WA 7, 737, 32f.; WA 8, 542, 11ff. 311 Zur Notwendigkeit der Reform vgl. bes. WA.B 1, 170, 33–40 und z.St. K. Bauer, Die Wittenberger Universitätstheologie und die Anfänge der Deutschen Reformation, Tübingen 1928, 43f. 312 E. Rosenstock-Huessy, Das Geheimnis der Universität, Stuttgart 1958, 17–34, 26. 313 WA 1, 246, 28–30. 314 H.A. Oberman, a.a.O. (s. Anm. 36), 324–326 hat einen Test durchgeführt und ist zu einem eindeutig negativen Ergebnis gekommen.

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18.2 Die übergemeindliche geistliche Begleitung, Leitung und Aufsicht ist durch die öffentliche Auslegung und Bezeugung des Wortes Gottes ausgeübt worden. In theologischen Gelegenheitsschriften, durch Gutachten und Stellungnahmen, nicht zuletzt aber in Briefen ist Luther auf die Nöte, Anfragen, Probleme und Konflikte in den Gemeinden eingegangen. Luther hatte bisweilen den Eindruck, die ganze Last von Kirche und Politik stürze auf ihn ein.315 Er hat diese Arbeitslast ohne Indienstnahme eines kirchlichen Behördenapparates getragen, wäre doch ein kirchliches Sekretariat von ihm als Rückfall in das Papsttum gewertet worden.316 Mit dieser Form der begleitenden, beratenden und leitenden Aufsicht hat Luther an den Apostel Paulus angeknüpft: »Paulus überlässt die missionarisch begründeten Gemeinden nicht allein der Botschaft und dem Geiste, sondern übt durch persönliche Besuche und durch seine Briefe – eine Briefgattung, die er eben zu diesem Zweck gestaltet – eine ordnende Aufsicht aus … Diese Briefe üben den Dienst aus, der in der nachpaulinischen Literatur als Hirtendienst gekennzeichnet wird (Apg 20,28.35).«317 Der sich an dem Apostel Paulus orientierende Dienst begründet keine eigene Institution, an deren Spitze ein Bischof stünde. Er erfolgt frei und unentgeltlich. Er erfordert keinen Titel, sondern Kompetenz. Er ist ebenso arbeitsintensiv wie originell und stellt – was in der Forschung wie in der Kirche häufig übersehen wird – die reformatorische Grundform der Episkopé dar. Dieser Dienst der übergemeindlichen Begleitung, Beratung, Leitung und Aufsicht ist neben dem Pfarrdienst der wichtigste in der Kirche. 18.3 Die institutionelle Konsequenz aus dem bei den Visitationen318 sichtbar gewordenen geistlichen Notstand, der in vielen Pfarrämtern und Gemeinden herrschte,319 war die Einrichtung von Superintendenturen. Die Superintendentur ist eine institutionalisierte Form der

315 Vgl. WA.B 5, 100, 20 (Nr. 1437). 316 Vgl. WA.B 8, 136, 19f. (Nr. 3183) und z.St. G. Ebeling, Luthers Seelsorge, Tübingen 1997, 25. 317 L. Goppelt, Kirchenleitung in der palästinischen Urkirche und bei Paulus, in: Reformatio und Confessio. FS für Wilhelm Maurer, Berlin/Hamburg 1965, 1–8, 7. 318 Vgl. M. Brecht, Martin Luther, Bd. 2, Stuttgart 1986, 253ff. 319 Vgl. z.B. WA.B 4, 624, 8ff. (Nr. 1365).

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Episkopé. Sie nimmt eine Sonderfunktion des einen Amtes wahr, das sich dadurch »der beständigen Selbstprüfung unterwirft«320. 18.4 Grundlegend zum Verständnis des komplexen Problems des Kirchenregiments ist die Unterscheidung zwischen geistlichem Regiment und äußerer Kirchenleitung. Luther hat bei dieser Unterscheidung vorausgesetzt: Das eine Amt der Kirche ist das an die Heilsmittel gebundene Verkündigungsamt, durch das der eine Gott, der in Christus in Erscheinung getreten ist, durch seinen Geist selbst das Regiment über sein endzeitliches Volk ausübt. Von entscheidender Bedeutung ist die Wahrnehmung: Allein das Verkündigungsamt ist von Christus eingesetzt und besteht aus göttlichem Recht. Die Behandlung übergemeindlicher Angelegenheiten beruht dagegen auf kirchlichen Vereinbarungen nach menschlichem Recht. Ein übergemeindliches Leitungsamt321 iure divino ist daher prinzipiell ausgeschlossen! Es stünde auch im Widerspruch dazu, dass die ganze Christenheit auf Erden kein Haupt hat als Christus allein.322 Ist das mit dem Bischofsamt identische Pfarramt die institutionelle Konkretion des Verkündigungsamtes, dann folgt daraus, dass der Pfarrer seinen Dienst nun nicht mehr – wie nach dem kanonischen Recht – unter der Autorität eines übergeordneten Diözesanbischofs als dessen Gehilfe und Stellvertreter ausübt, sondern vielmehr als eigenverantwortlicher Bischof, dem das eine Amt der Kirche übertragen ist. Die Identifizierung von Bischofsamt und Pfarramt impliziert die Negation des hierarchisch begründeten und mit einem besonderen Weihecharakter versehenen übergemeindlichen Bischofsamtes. Es ist daher unzutreffend, dass die »luth(erische) Reformation … die vorgefundene bischöfl(iche) Ordnung beibehalten (wollte)«323. Vielmehr setzt der Aufbau der Kirche in der Reformation den 1520 vollzogenen definitiven Bruch mit der kurialen Ekklesiologie und dem 320 W. Elert, Der bischöfliche Charakter der Superintendentur-Verfassung, in: ders., Ein Lehrer der Kirche, hg. v. M. Keller-Hüschemenger, Berlin/Hamburg 1967, 128–138, 133. 321 Wenn Ökumeniker und Systematiker von einem »Leitungsamt« sprechen (z.B. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 404–469), können sie sich dabei nicht auf Luther, aber noch weniger auf Paulus berufen. 322 Nachweise o. Anm. 191f. 323 P. Brunner, Bischof IV.3, LThK, Bd. 2, 21958, 505. Präziser dagegen bereits E.A. Friedberg, Bischof, RE, Bd. 3, 31897, 245–247.

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kanonischen Recht voraus. Unter dieser Voraussetzung hat Luther 1523 den böhmischen Utraquisten empfohlen, die Ortsbischöfe sollten einen Erzbischof wählen, damit dieser die geistliche Aufsichtsfunktion in ihrer Region wahrnehme.324 Ein solcher Erzbischof wäre weder theologisch noch kirchenrechtlich ein »papistischer Bischof«325 gewesen, sondern vielmehr ein die Aufsicht führender Superintendent. Er hätte die Ordinations- und Einführungshandlungen durchgeführt und die geistliche Aufsicht über die Pfarrämter bei den Visitationen ausgeübt.326 Das Entscheidende an Luthers Vorschlag ist nicht, dass sich in ihm Anklänge zu einer bischöflichen Verfassung finden. Das Entscheidende ist vielmehr, dass die Kirche die Freiheit hat, die übergemeindliche Begleitung und Aufsicht eigenständig nach menschlichem Recht zu ordnen. Auch bei dem sogenannten »Bischofsexperiment« in Naumburg 1542327 hat Luther unverbrüchlich an der Identität von Bischofs- und Pfarramt festgehalten. Die Funktionen, die Nikolaus von Amsdorf als Bischof wahrnehmen sollte, entsprachen denen eines Superintendenten. Die Ereignisse 1542 haben nichts mit der Konstruktion eines übergemeindlichen Bischofsamtes zu tun,328 sondern liegen in der besonderen Rechtskonstruktion des Hochstifts Naumburg-Zeitz und in den politischen Verhältnissen der Reformationszeit begründet.329 Das gilt ebenso von dem Titel »Notbischof«330, den Luther dem Landesherrn angetragen hat. Der Titel besitzt keine amtstheologische Relevanz. Er erklärt sich aus den rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen des Heiligen Römischen Reiches. Mittelbar ist mit ihm aber die Einbeziehung der »Laien« an der äußeren Kirchenleitung angesprochen. 324 WA 12, 194, 4–20. 325 Luther spricht verächtlich von den »Episcopis papisticis« (a.a.O., 194, 23). 326 Vgl. a.a.O., 194, 14–20 und aus dem späteren Unterricht der Visitatoren (1528) WA 26, 196, 1–4. 327 Vgl. H.-U. Delius, Das Naumburger Bischofsexperiment und Martin Luther, in: M. Brecht (Hg.), a.a.O. (s. Anm. 291), 131–140. 328 P. Brunner, Nikolaus von Amsdorf als Bischof von Naumburg, SVRG 179, Gütersloh 1961, 89 spricht von einer »Fehlkonstruktion« des Bischofsamtes, aber damit setzt er voraus, dass Luther ein übergemeindliches Bischofsamt »konstruieren« wollte. Diese Voraussetzung ist aber keineswegs gegeben. Die Konstruktion eines übergemeindlichen Bischofsamtes lag eher im Interesse P. Brunners nach 1950. 329 Vgl. dazu H.-U. Delius, a.a.O. (s. Anm. 327), 133–136. 330 Vgl. WA 53, 255, 5 u. 256, 3 und dazu J.L. Schaaf, Der Landesherr als Notbischof, in: M. Brecht (Hg.), a.a.O. (s. Anm. 291), 105–108.

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Als Ergebnis ist festzuhalten: Luther hat die kirchenverfassungsrechtliche Problematik entdogmatisiert, weil sie für die Heilsfrage keine unmittelbare Relevanz besitzt. An der Nützlichkeit übergemeindlicher Begleitung und Aufsicht hat er auf der anderen Seite nie einen Zweifel gelassen.331 Aber dazu ist kein übergemeindliches Leitungsamt nötig, sondern die Ausübung des Besuchsdienstes und der Aufsicht über das Amt der Kirche durch das Amt der Kirche selbst. Welchen Titel der »wartmann odder wechter«332 trägt, ob »Erzbischof«333 – ist der Bischofstitel doch eigentlich bereits an die Pfarrer vergeben334 – oder »Superintendent«335, ist von untergeordneter Bedeutung. Für Luther gilt: Das äußere Kirchenregiment, die kirchliche Gesetzgebung sowie die Leitung und Verwaltung, ist der ganzen Kirche aufgetragen. Die Ordnung der Gemeinde, die institutionelle Ausgestaltung des Amtes, die Aufsicht und die übergemeindlichen Angelegenheiten sind nach menschlichem (Kirchen)Recht frei zu gestalten. Das Kriterium der kirchlichen Ordnung ist darin zu sehen, dass sie auf das wesentliche Geschehen ausgerichtet ist, durch das Gott die Kirche schafft und erhält: die lautere Evangeliumsverkündigung und die evangeliumsgemäße Sakramentsverwaltung. Aus der Heilsnotwendigkeit des Evangeliums ist das Recht der Gemeinden auf die lautere Evangeliumsverkündigung zu folgern. Im Falle eines Konflikts bricht dieses Grundrecht anderes Recht.

331 332 333 334 335

Vgl. z.B. WA 8, 247, 16; WA 10 II, 143, 33ff. So Luther in der Schrift gegen H. Emser 1521 (WA 7, 630, 34f.). S.o. Anm. 324–326. Für Luther ist »jeder Stadtpfarrer ein Bischof« (WA 7, 635, 22). S.o. Anm. 319f.

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Durch die Kontrastierung der reformatorischen Rechtfertigungslehre mit ihrer Deutung im Grundlagentext der EKD ist deutlich geworden, dass das Erbe der Reformation bei der EKD in schlechten Händen wäre, wenn sie nicht umzudenken bereit sein sollte. Im Grundlagentext ist theologisch nämlich nicht erfasst und nicht stringent zur Darstellung gebracht, was die Rechtfertigung des Gottlosen ist und worin die Rechtfertigungslehre besteht. Die Annäherungen des Grundlagentextes an die reformatorische Rechtfertigungslehre führen in Wahrheit von ihr weg. Ist der Artikel von der Rechtfertigung der articulus stantis et cadentis ecclesiae,336 dann »steht« die Evangelische Kirche nicht, sondern sie ist gefallen. Sie ist abgefallen von ihrer Grundlage, der Heiligen Schrift, auf deren Alleingeltung die Reformation beruht; von Jesus Christus selbst, kann die Exklusivität seiner Person und seines Werkes für das Heil des Menschen doch nur durch den articulus iustificationis expliziert und appliziert werden; und von dem Lehr- und Verkündigungsauftrag, den Christus der Kirche gegeben hat und dem in der Reformation alles andere in der Kirche untergeordnet worden ist. Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Diese Konsequenzen betreffen – das kann vorweg gesagt werden – nicht nur das Reformationsjubiläum, sondern die Evangelische Kirche und Theologie in ihrer Substanz.

336 Zur Entstehung der Formel vgl. F. Loofs, Der articulus stantis et cadentis ecclesiae, ThStKr 90 (1917), 323–420.

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6.1 Allein die Heilige Schrift gelten lassen Zunächst ist in Erinnerung zu bringen: In der Reformation war die Heilige Schrift das primum principium, aus dem, selbst unableitbar, alles, was Geltung in Kirche und Theologie beanspruchte, abgeleitet werden musste; mit dem, selbst der Begründung nicht bedürftig, die Lehre allein begründet werden konnte, also entweder der Unwahrheit überführt oder als wahr erkannt, erhärtet und beglaubigt wurde.337 Die Formel sola scriptura war aus dem überkommenen Biblizismus herausgelöst worden und wurde als particula exclusiva innerhalb von Kirche und Theologie konsequent gegen die in Kirche und Theologie eingedrungenen »Menschenlehren« und »Menschensatzungen« angewandt.338 Die Alleingeltung der Heiligen Schrift war die Voraussetzung, die Schrift selbst die Legitimationsgrundlage der Reformation, die über die Kirche und ihre Lehre hinaus schließlich alle Lebensbereiche erfasst hat. Liegt die Begründung der ausschließlichen Autorität der Schrift in der Schrift selbst, dann impliziert ihre Prinzipienfunktion, dass sie klar ist und dass sie sich selbst auszulegen und zu beglaubigen vermag.339 Die Schrift als die einzige Quelle, Norm und Richtschnur aller vor Gott geltenden Wahrheit muss im Blick auf Gott und die Relation des Menschen zu Gott befragt, studiert und bedacht werden. Das geschieht durch das Achtgeben auf ihren hebräischen und griechischen Wortlaut und die Feststellung des Literalsinns. Erhebt sich eine Frage beim Verstehen der Schrift, dann kann diese nicht durch die Kirchenväter, eine theologische Lehrautorität oder ein kirchliches Lehramt entschieden werden, sondern letztinstanzlich nur durch die Schrift selbst.340 Das aber vermag sie und gewährleistet sie als die allerklarste Interpretin oder Auslegerin ihrer selbst.341 Die vermeintliche Stützung ihrer Autorität durch zusätzliche 337 Vgl. aus der Leipziger Disputation 1519 bes. WA 59, 509, 2351–2353 und aus der Assertio 1520 vor allem WA 7, 97, 19ff. 338 Zu dem Autoritätenkonflikt im Ablassstreit 1517–1521, der auf Luthers Seite mit der Exklusivpartikel sola scriptura geführt wurde, vgl. z.B. WA 1, 246, 28–30, ferner WA 1, 384, 32ff. und WA 1, 647, 32; 648, 3. Vgl. dazu im Überblick B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 110ff. u. 204ff. 339 Vgl. o. S. 60ff., bes. Anm. 166f. 340 WA 7, 97, 23: »… per sese.« 341 Ebd. Aus der Literatur vgl. vor allem W. Mostert, Scriptura sacra sui ipsius interpres, 1979, in: ders., Glaube und Hermeneutik, hg. v. P. Bühler u. G. Ebeling, Tübingen 1998, 9–41.

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Interpreten untergräbt in Wahrheit ihre Autorität und stellt sich ihrer Selbstauslegung in den Weg. Die Prinzipienfunktion der Heiligen Schrift impliziert ferner, dass die Schrift in der Heilsfrage suffizient ist und dass ihr Klarheit und Evidenz eignet. Wie die Exklusivpartikel sola scriptura nicht als bloßes Formalprinzip, sondern in sachlicher Korrespondenz zur Ausschließlichkeit Jesu Christi und des Evangeliums gebraucht worden ist, so hat Luther die Klarheit und Evidenz der Schrift im Horizont der Gotteslehre entfaltet, nämlich im Kontrast zur Unzugänglichkeit und Verborgenheit Gottes (s. Jes 45,15) als des Herrn der Welt und der Geschichte.342 Vor dem Hintergrund der Verborgenheit Gottes hebt sich die Schrift als das helle Licht ab, in dem Gott in seinem Heilshandeln erkennbar wird. Die »Sache der Schrift« (res scripturae) steht im Licht.343 Es ist Gottes endzeitliche Machttat, die Auferweckung des gekreuzigten Jesus Christus, durch welche die Sache der Schrift ins Licht gestellt worden ist. Dadurch, dass die Sache der Schrift nun im Licht steht, ist die Gottes-, Heils- und Wahrheitsfrage entschieden. Die Bibel ist eine Sammlung heiliger Schriften und unter formalen und literarischen Gesichtspunkten ein Buch wie jedes andere. Doch weil ihre res Gott ist, Christus oder die Trinität,344 darum ist sie inhaltlich »ein Buch wie kein anderes«345. Der eine Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, der sich in Israel offenbart und am Ende der Zeit in Jesus Christus Mensch geworden ist, spricht und handelt durch seinen Geist in der Bindung an das äußere Wort der Heiligen Schrift,346 das in Gesetz und Evangelium unterschieden ist. Dabei legen sich die Sache der Schrift und die Worte der Schrift dadurch gegenseitig aus, dass Gott, die res scripturae, und der Mensch durch die verba scripturae zueinander in Beziehung gesetzt werden. So wird der Mensch, aufgrund seiner Sünde befangen im Hass gegen Gott, durch die res scripturae in die Schriftauslegung

342 Vgl. WA 18, 606, 1 – 609, 14, bes. 606, 11f. Weitere Quellennachweise zur claritas scripturae sind in WA 68, 115f. angeführt. 343 WA 18, 606, 30f. 34. 36. Vgl. F. Beißer, Claritas Scripturae bei Martin Luther, FKDG 18, Göttingen 1966, 81. 344 Nach WA 18, 606, 24–28. Vgl. dazu R. Slenczka, Kirchliche Entscheidung in theologischer Verantwortung, Göttingen 1991, 263f. 345 R. Slenczka, a.a.O., 44. 346 Vgl. ASm III, 8, 1; WA 50, 245, 1 – 247, 4.

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einbezogen. Er gehört zum »Gegenstand der Theologie«347 und wird durch die verba scripturae in seinem Sein vor Gott ausgelegt. Aber nicht Luthers reformatorisches Schriftverständnis und die in ihm enthaltene befreiende Einsicht hat Schule gemacht. Im modernen Protestantismus geht man mehr oder weniger von der Voraussetzung des Erasmus von Rotterdam aus, die Schrift sei schwer zugänglich, undeutlich, ja, dunkel.348 Unter dieser Voraussetzung nehmen Kirche und Theologie die Prinzipienfunktion, die allein der Heiligen Schrift gebührt, für sich selbst in Anspruch. Durch die Inbeschlagnahme der Prinzipienfunktion der Schrift wird aber deren Wahrheitszeugnis entschärft und ihre Selbstauslegung unterbunden. Dadurch gerät der Umgang mit der Schrift unter ein unreformatorisches Vorzeichen. Unter die Deutungsund Auslegungshoheit von Theologie und Kirche gebracht, kann sie und muss sie nun für alles Mögliche und Beliebige herhalten. Die Inbeschlagnahme der Prinzipienfunktion der Heiligen Schrift durch Theologie und Kirche kann durch nichts kompensiert werden. Selbst die philologisch-historische Detailarbeit in der Exegese, deren Notwendigkeit unbestritten ist, kann aus sich heraus die Inbeschlagnahme der Prinzipienfunktion der Schrift nicht entscheidend korrigieren. An die Stelle der gewissheitsstiftenden Selbstauslegung ist im Neuprotestantismus die unverbindliche und moralisierende Auslegung getreten. Man ist bestrebt, ihr durch die Aufnahme gesellschaftspolitischer Trends Aktualität zu verleihen. Dadurch läuft die Kirche Gefahr, gegängelt zu werden. An keinem anderen Punkt wird der Unterschied zwischen Reformation und neuzeitlichem Protestantismus so deutlich wie im Schriftverständnis und Schriftgebrauch. Während sich die »Worte der Schrift« und die »Sache der Schrift« in der Reformation gegenseitig erschlossen und auslegten, treten sie im Neuprotestantismus auseinander und werden schlimmstenfalls sogar gegeneinander ausgespielt. Dadurch wird die res scripturae, nämlich Christus, der dreieinige

347 »Der eigentliche Gegenstand der Theologie ist der der Sünde schuldige und verdammte Mensch und der rechtfertigende Gott und Heiland des sündigen Menschen« (WA 40 II, 328, 17f.; Übers. aus dem Lat.). 348 Hinzu kommt, dass der Protestantismus seit F.D.E. Schleiermacher (Der christliche Glaube [21831], Bd. II, hg. v. M. Redeker, Berlin 1960, bes. § 128) strenggenommen »weder Kanon noch Dogma« hat (so P. Schempp, Luthers Stellung zur Heiligen Schrift, 1929, in: ders., Theologische Entwürfe, hg. v. R. Widmann, TB 50, München 1973, 10–74, 12).

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Gott, unkenntlich, obwohl sie eindeutig und klar ist,349 und die verba scripturae können losgelöst von der res alles oder nichts bedeuten und entsprechend durch die unterschiedlichen Theologien, Predigten und kirchlichen Stellungnahmen irrlichtern. Allein in der exklusiven Bindung an die Heilige Schrift liegt die Freiheit von Theologie und Kirche begründet. Die Preisgabe des Schriftprinzips der Reformation ist daher keine Bagatelle, sondern der Schritt in die Unfreiheit, der Theologie und Kirche in neue klerikale, ideologische und gesellschaftliche Abhängigkeit bringt. Diese beginnt mit der harmlos scheinenden, in Wahrheit aber schwerwiegenden Mutmaßung, »die schrifft sey zu wenig und gottis wort muß zusatz habenn«350. Im Grundlagentext der EKD »Rechtfertigung und Freiheit« werden Postulate aus dem Genderismus zu einem solchen »Zusatz« (additamentum) erhoben. Es gelte, »Geschlechtergerechtigkeit als genuin evangeliumsgemäßen Wert zu verstehen und deswegen Geschlechterhierarchien entschlossen abzubauen«351. Theologie und Kirche spannen sich damit selbst als Zugpferde vor einen Wagen, den zu ziehen sie keinerlei Auftrag haben. Sie sind der Versuchung erlegen, in der Luther die »höchste Kunst« des Teufels am Werk sah, nämlich dass er aus dem Evangelium ein Gesetz machen kann.352 Indem das Evangelium für einen »Wert« instrumentalisiert wird, wird es entwertet, ja, ins Gegenteil verkehrt. Wenn Männer und Frauen heute gleiche Positionen innehaben und gleiche Arbeit verrichten, ist die gleiche Anerkennung und Entlohnung eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Es hat nichts zu tun mit einem angeblich »genuin evangeliumsgemäßen Wert«. Die Lösung gesellschaftlicher Probleme und sozialer Fragen wird durch die Vermischung von Gesetz und Evangelium nicht gefördert, sondern behindert. Der Genderismus, der die von Gott geschaffene Bipolarität von Mann und Frau einzuebnen oder gar aufzuheben sucht, ist nicht nur nicht dem Evangelium gemäß, er widerstreitet auch Gottes Schöpfung und Gebot. Nach der Schöpfungsgeschichte hat Gott den Menschen »männlich und weiblich« geschaffen (1. Mose 1,27). Beide sind gleich in Rang, Recht und Würde. Die unvergleichlich hohe Würde, zum Bild Gottes geschaffen zu sein (1. Mose 1,27), verdanken sie dem Schöpfer und nicht »Gleichstel349 350 351 352

Vgl. WA 18, 606, 24ff., bes. 27. WA 7, 667, 31f. Weitere Quellennachweise in WA 72, 455. RF, a.a.O. (s. Anm. 153), 41; ebd. kursiv. Vgl. o. S. 63ff. WA.TR 1, 275, 21 – 280, 34, bes. 278, 16 (Nr. 590).

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lungsbeauftragtinnen«. Der Kirche ist nicht die Aufgabe gestellt, an der Umstrukturierung und Unterhöhlung von Gottes sehr guter Schöpfung (1. Mose 1,31) und Ordnung mitzuwirken. Dass die Beteiligung daran als »evangeliumsgemäß« bezeichnet wird, ist ein Indiz für die Preisgabe des Schriftprinzips und für den Abfall von Gottes Gesetz und Gottes Evangelium. Heute geht es indessen nicht mehr nur um Gleichberechtigung von Mann und Frau. Dieses Postulat dient als Vorwand und steht im Zusammenhang eines ideologischen Täuschungsmanövers.353 Dem »Gender Mainstreaming«354 geht es um etwas ganz anderes, nämlich um »politische Geschlechtsumwandlung«355 mit dem Ziel der Heraufführung eines neuen Menschen.356 Philosophisch basiert der Genderismus auf der Leitidee des Konstruktivismus, nach welcher die Wirklichkeit immer schon eine durch Sprache, Konvention und Macht produzierte Wirklichkeit ist357 und der Mensch ein gesellschaftliches oder sprachliches »Artefakt« darstellt.358 Ist der Mensch aber ein Artefakt aus sprachlichen Vorgaben und gesellschaftlichem Rollenverhalten, dann muss und kann er zur Befreiung von sprachlicher Fremdbestimmung und gesellschaftlicher Zwänge dekonstruiert werden. Das Ziel der in die »Freiheit« führenden Dekonstruktion359 ist daher nicht mehr nur Gleichberechtigung, sondern vielmehr die Aufhebung der Geschlechterunterschiede überhaupt, nämlich die Beseitigung der von Gott geschaffenen Bipolarität von Mann und Frau, die der Heraufkunft des »neuen Menschen«, der sich immer wieder selbst zu entwerfen und zu konstruieren hat, im Wege steht. 353 R. Mayer, Gekaperte Begriffe. Wie die Gender-Ideologie die Wirklichkeit umdeutet, Confessio Augustana III/2015, 28–33 spricht von einem »Kategorienschwindel« (29). 354 Zum Begriff vgl. A. Eisen, Gender Mainstreaming – Verführung im Zeichen der Gleichheit, Lutherische Beiträge 19 (2014), 3–9, 4ff.; T. Kothmann, »Eine Tür ist (nicht) genug!« Schlüsselbegriffe des Genderismus, Confessio Augustana III/2015, 38–41. 355 Formuliert mit Bezug auf V. Zastrow, Gender. Politische Geschlechtsumwandlung, Waltrop (2006) 2010. 356 Vgl. M. Seitz, Die Erschaffung des neuen Menschen, Confessio Augustana III/2015, 55–63, bes. 57. 357 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M. 1976, 250. 358 So J. Flax, Thinking Fragments. Psychoanalysis, Feminism and Postmodernism in the Contemporary West, Berkeley 1990, 32ff. 359 Vgl. dazu G. Kuby, Die globale sexuelle Revolution. Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit, Kisslegg 52014.

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Der Genderismus ist die Leitideologie der Postmoderne. Sie kommt inzwischen nicht mit lautem Gedröhn, sondern – von der Mehrheit der Bevölkerung kaum bemerkt – auf Samtpfoten daher. Der Marsch durch die Institutionen, den die Revolutionäre nach 1968 angetreten haben, wird vorausgesetzt. Das Gleichstellungspostulat, das auf etwas anderes zielt als auf bloße Gleichberechtigung, ist von der UNO 1995 und von der EU im Amsterdamer Vertrag 1999 sowie von Mitgliedsstaaten, etwa der Bundesrepublik Deutschland, als »durchgängiges Leitprinzip«360 übernommen worden. Es wird auf dem Verordnungsweg von oben nach unten beharrlich durchgesetzt. Davon wäre hier nicht zu reden, wenn die EKD, der LWB und andere kirchliche Institutionen daran nicht ausdrücklich mit akklamierender Begleitrhetorik beteiligt wären. Bei der EKD hat bislang nicht die kritische Auseinandersetzung mit dem Genderismus, sondern dessen unkritische Bejahung und Förderung im Mittelpunkt gestanden. Das geht aus der Orientierungshilfe des Rates der EKD zur »Familie« hervor, die im Juni 2013 erschienen ist.361 Man könnte diese Orientierungshilfe übergehen, würde sie nicht eine neue Stufe in der Preisgabe des Schriftprinzips der Reformation repräsentieren. Denn während das Schriftprinzip in dem Grundlagentext »Rechtfertigung und Freiheit« immerhin reflektiert worden ist,362 scheint die Preisgabe des Schriftprinzips in der Orientierungshilfe »Familie« keiner ausdrücklichen Begründung mehr zu bedürfen, sondern sie wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Doch auch hier zeigt sich, dass der Macht der Verführung erliegt, wer die Wahrheit in den Wind schlägt (s. 2. Thess 2,9f.). Denn das durch die Preisgabe des Schriftprinzips entstandene Vakuum ist mit der Ideologie des Genderismus ausgefüllt worden. Ideologien sind mit dem Christentum aber nicht vereinbar. Ähnlich, aber noch erschreckender als in der Orientierungshilfe der EKD ist der Befund im Grundsatzpapier »Gendergerechtigkeit im LWB« (2013): Das Schrift-

360 Veröffentlichungen des Bundesministeriums des Innern, 5.10.2011: Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, § 2. 361 Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken, Gütersloh 2013. Vgl. dazu R. Slenczka, Aufklärung zur Ehe, Lutherische Beiträge 19 (2014), 17–35. 362 RF, a.a.O. (s. Anm. 153), 37 u. 83ff.

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prinzip der Reformation ist außer Kraft gesetzt; Gendergerechtigkeit scheint der neue Artikel zu sein, mit dem die Kirche steht und fällt.363 Für die Anpassung an den die westliche Welt bestimmenden Trend gibt es keinen zwingenden Grund. Beruht die von der EKD auf nationaler und dem LWB auf internationaler Ebene gesuchte und herbeigeführte Übereinstimmung mit dem Gender Mainstream lediglich auf gesellschaftspolitischem Opportunismus? Man könnte dagegen einwenden, die Anpassung an den Genderismus beruhe auf Überzeugung. Aber das würde alles noch schlimmer machen. Auch die Deutschen Christen waren 1934 in ihrer Mehrheit keine Opportunisten, sondern überzeugte Nationalsozialisten. Es ist zutiefst beschämend, was sich EKD und LWB mit ihren »Papieren« geleistet haben. Darin kommt zum Vorschein: Berufung auf Luther, wenn es einem gerade passt, aber man steht nicht auf denselben Grundlagen und teilt seine Denkvoraussetzungen nicht. Nicht nur den Gelehrten, auch den Ungelehrten war Luthers Vermächtnis aus dem Glaubenslied bekannt: »Hüt dich vor der Menschen Satz« (EG 341: 10, 5)! Heute scheint den Christen, ob gebildet oder ungebildet, die geistliche Sensibilität zu fehlen, die nötig ist, um Luthers Warnung zu Herzen zu nehmen. Sie gehen bei Rot über die Straße und wundern sich, dass Unfälle geschehen. Die geistliche Öde, die in vielen evangelischen Landeskirchen herrscht, ist sehr zu beklagen. Aber deswegen ist das Christentum, das in der Reformation erneuert worden ist, nicht am Ende. Es bedarf nur einer Kleinigkeit, die aber vielleicht doch keine Kleinigkeit ist, um von vorn anzufangen: der Umkehr. Diese hat zur unabdingbaren Voraussetzung, allein die Heilige Schrift gelten zu lassen und dem Wort Gottes Heiliger Schrift den Vorrang vor allem anderen einzuräumen – auch und gerade gegenüber der eigenen Gottesvorstellung und gegenüber dem, was nach der öffentlichen Meinung heute gut und geboten erscheint.

363 So mit Recht M. Fromm, Offener Bruch mit der Reformation. Gendergerechtigkeit als oberste Priorität des Lutherischen Weltbundes, Confessio Augustana III/2015, 66–70.

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6.2 Die Rechtfertigung lernen Die Heilige Schrift ernst nehmen heißt: die Rechtfertigung lernen. Wer die Schrift liest, und das ist »einem jglichen Christen befolhen«364, dem stellt sich alsbald die Frage, wie er vor Gott, den sie bezeugt, bestehen kann (s. Ps 130,3)? Damit ist er bei der Frage Luthers nach dem gnädigen Gott angelangt und steht mitten im Thema Rechtfertigung. Nun braucht er nur noch auf Bibelstellen zu achten, die ihm Gottes Gnade vor Augen führen. An ihnen besteht wahrlich kein Mangel! Die einzige Voraussetzung, die Rechtfertigungslehre zu verstehen, ist: ein Mensch zu sein, der dem Tod unterworfen ist. Dass der Tod vor Gott die Verendgültigung der Sünde und deshalb die Sünde das eigentliche Problem des Menschen ist, das lernt er wiederum durch vertiefende Schriftlektüre. »Die Sünde ist der Leute Verderben« (Spr 14,34). Es kann zu nichts führen, dass man sich Gottes Urteil über die Sünde zu entziehen sucht. Ein Mensch, der das tut, stellt sich außerhalb des Menschengeschlechts, das der Macht der Sünde unterworfen ist, und repräsentiert darin doch nur die ganze Menschheit. Er bestreitet die Notwendigkeit der Zuwendung Gottes in Jesus Christus. Doch dieser ist Mensch geworden, um »sein Volk von ihren Sünden zu retten« (Mt 1,21). Das, was die Rettung von den Sünden herbeiführt und »zum ewigen Heil hinführt, ist allein das Wort und das Werk Gottes«365. Auf das Wort und das Werk Gottes gründet sich die Rechtfertigung des Sünders. Das Wort Gottes und das Werk Gottes gehören zusammen. Unter der Voraussetzung ihrer Einheit kann man zwischen ihnen unterscheiden (s. 2. Kor 5,19–21), um das Versöhnungs- und Rechtfertigungsgeschehen nach beiden Seiten hin zu beleuchten. I. Das Werk Gottes, das zum Heil führt Das Werk Gottes, das zur Unterscheidung von Gottes Handeln in der Schöpfung näher als Erlösungs- oder Heilswerk gekennzeichnet werden muss, ist Jesu Christi Tod und Auferstehung. Christus ist der Sohn Gottes, präexistent wie Gott selbst, den Gott gesandt hat »in der Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und um der Sünde willen« (Röm 8,3f.; s.a. Gal 4,4f.). »Er, der in Gottes Gestalt war« (Phil 2,6a), »entäußerte sich 364 WA 21, 236, 9. 365 WA 18, 663, 16: »… ad salutem aeternam perducunt nisi verbum et opus Dei.«

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selbst und nahm Knechtsgestalt an« (2,7a.b); »er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz« (2,8). Von ihm bezeugt Paulus unter Aufnahme apostolischer Überlieferung (1. Kor 15,3–5): »Christus ist gestorben für unsere Sünden gemäß der Schrift und ist begraben worden und ist auferweckt worden am dritten Tag gemäß der Schrift und ist Kephas erschienen, danach den Zwölfen.« In Erfüllung der Israel gegebenen Verheißungen hat der Christus Jesus in der Handlungseinheit mit Gott, dem Vater, sein Werk vollbracht, das zugleich Gottes Werk ist, weil es Gott selbst war, der ihn »um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt (hat)« (Röm 4, 25). Dieses Werk, das einmal geschehene, unwiederholbare Handeln Gottes in und durch Jesus Christus, wird im Neuen Testament hymnisch (Phil 2,6–11 u.a.), erzählerisch (synoptische Evangelien) und lehrhaft (Paulus, Hebräerbrief u.a.) dargestellt. Davon gehen Kirche und Theologie in Verkündigung, Unterweisung und Lehre aus. Eine besondere Form der Verdichtung von Verkündigung und Lehre waren in der Reformation Bekenntnisse, Bekenntnisschriften und Katechismen, aber auch Lieder und Darstellungen der bildenden Kunst. Eine bis heute tief beeindruckende, erschütternde, aufwühlende und tröstende Veranschaulichung des zentralen Artikels der Reformation ist der Cranachaltar in der Stadtkirche zu Weimar.366

366 Vgl. E. Schmidt, Evang.-Luth. Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar, Das christliche Denkmal, Heft 86, 42002; E. Asshoff, Der Cranachaltar und die Epitaphien der Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar, Weimar 2014. Die Kirche wird auch als »Herderkirche« bezeichnet – nach J.G. Herder, der von 1776–1803 als Generalsuperintendent in dieser Kirche gewirkt hat.

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Der im Chor der Stadtkirche »St. Peter und Paul« aufgestellte Altar besteht aus drei Flügeln. Der Mittelteil, auf den sich hier die ganze Aufmerksamkeit richtet, ist eine komprimierte Darstellung des endzeitlichen Heilsgeschehens in rechtfertigungstheologischer Perspektive nach dem Verständnis der lutherischen Reformation. Das Altarbild wurde 1555 vollendet, zwei Jahre nach dem Tod Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553).367 Es ist das Werk Lucas Cranach d.J. (1515–1586), des Sohnes, der das Altarbild nach den Motiven und Vorstellungen des Vaters geschaffen hat.368 Beherrschend im Vordergrund steht das Kreuz Jesu Christi.369 Jesus Christus, von schlanker Gestalt, ist an Händen und Füßen, diese übereinander gelegt, an das Kreuz genagelt. Er trägt eine Dornenkrone; sein Haupt ist auf die rechte Schulter geneigt. Aus der durchbohrten Seite dringt ein Blutstrahl. Er ist mit einem Lendentuch umwandet. Das sind 367 Vgl. H. Düfel, Cranach, Lucas der Ältere und der Jüngere, TRE, Bd. 8, 1981, 218–225. Ebd. Abb. 12 das Altarbild. 368 Vgl. M. Böhlitz, Der Weimarer Cranachaltar im Kontext von Religion und Geschichte: Ein ernestinisches Denkmal der Reformation, in: A. Tacke (Hg.), Lucas Cranach d.Ä. zum 450. Todesjahr, Leipzig 2007, 277–297, bes. 294. 369 Es hat die Form eines T-Kreuzes; diese Form findet sich auch sonst bei Cranach (s. die Abb. 4 u. 11 in TRE 8, nach S. 224). Auch die über dem Querbalken angebrachte Inschrift gehört zu Cranachs Darstellung der Kreuzigung.

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biblische Motive, die sich auch in mittelalterlichen Darstellungen finden. Was die reformatorische Darstellung von den vorreformatorischen unterscheidet, ist: Maria, die Mutter Jesu, Joh 19,25–27 ausdrücklich erwähnt, fehlt auf dem Bild. Von der mittelalterlichen Frömmigkeit wurde sie zu den Heiligen gezählt. Deren mittlerische Rolle aber ist von der Reformation negiert worden.370 Das Fehlen bringt also zum Ausdruck: Christus allein (solus Christus), und zwar dieser als der Gekreuzigte, ist und bringt das Heil. Auf die Gestalten, die rechts und links vom Kreuz stehen, wird zuletzt eingegangen. Zunächst sei die Aufmerksamkeit auf die kleine Figur gelenkt, die in der – vom Betrachter aus gesehen – linken Bildmitte mit emporgehobenen Armen zu sehen ist. Das ist Adam, der Mensch: nackt wie im Paradies, aber doch mit einem Lendentuch bekleidet, also dieser nach dem Sündenfall (s. 1. Mose 3,10f.21). Er wird verfolgt von dem Tod, traditionell dargestellt als Gerippe, und dem Teufel, als scheußliches Ungeheuer mit einer roten Kralle anstelle des rechten Fußes gezeichnet. Das Groteske seiner Erscheinung soll die Bedrohung darstellen, die von ihm ausgeht. Adam flieht – aber wohin? Auch der Weg nach vorn ist versperrt – durch loderndes Feuer. Die emporgerissenen Arme kennzeichnen seine Ratlosigkeit auf der einen Seite und seine Panik auf der anderen Seite. Er blickt auf die Gesetzestafeln, die Mose in die Höhe hält, dargestellt in der vom Betrachter aus gesehen rechten Bildmitte. Aber der Anblick der Gesetzestafeln steigert nur sein Entsetzen; denn das Gesetz bringt dem Sünder keine Rettung, vielmehr kommt aus ihm die Erkenntnis der Sünde (Röm 3,20; 7,7). Die Situation des Menschen ist völlig hoffnungs- und aussichtslos. Er ist, mit dem Kleinen Katechismus zu sagen, »verloren und verdammt«. In dem Lied »Nun freut euch …« ist von der »Angst« die Rede, die »mich zu verzweifeln trieb« (EG 341: 3, 5):371 Cranach hat diese Angst hier bildnerisch zur Darstellung gebracht. Auf dem Hintergrund des Altarbildes sind zwei biblische Szenen dargestellt. Hart am rechten Bildrand die Aufrichtung der Schlange nach 4. Mose 21,4–9; links davon zur Bildmitte hin die Verkündigung der Geburt des Christus vor den Hirten durch den Engel des Herrn nach Lk 2,8–14. Die Aufrichtung der ehernen Schlange an einer Stange durch

370 Vgl. ASm II, 2, 7; WA 50, 209, Anm. Nicht die Verehrung (veneratio), sondern die Anrufung der Heiligen (invocatio sanctorum) ist verworfen worden. 371 Vgl. dazu o. Anm. 65 u. 67.

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Mose sollte den Israeliten zum Schutz vor feurigen Schlangen in der Wüste dienen: »Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben« (4. Mose 21,8) Auf der Grundlage von Joh 3,14f. sahen die Reformatoren in der Aufrichtung der Schlange eine Vorabbildung der Erhöhung Jesu Christi am Kreuz, die geschehen musste, »damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben« (Joh 3,15). Die Verkündigung an die Hirten ist gemäß der biblischen Vorlage als Angelophanie dargestellt. Durch sie ist die geschichtliche Unableitbarkeit der Geburt Jesu zum Ausdruck gebracht. Jesus Christus ist doppelten Ursprungs: einerseits aus Gottes heiligem Geist (Lk 1,35), andererseits aus der Jungfrau Maria (Lk 1,26ff.). In dem doppelten Ursprung Jesu Christi sah Luther die Gewähr der Sündlosigkeit Jesu und damit die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass er als das Lamm Gottes die Sünde der Welt getragen hat (Joh 1,29). Die drei Gestalten, die rechts neben dem Kreuz stehen, sind leicht zu identifizieren: Johannes der Täufer, Lucas Cranach d.Ä. und Martin Luther. Johannes der Täufer, direkt neben dem Kreuz stehend, weist mit seiner Rechten nach oben auf den gekreuzigten Christus und mit seiner Linken nach unten auf das am Fuß des Kreuzes stehende Lamm. Er drückt damit die Analogie ihrer Opferfunktionen aus. Das geht daraus hervor, dass auf der Fahne, die in der rechten vorderen Klaue des Lammes steckt, geschrieben steht: »Ecce Agnvs Dei Qvi Tollit Peccata Mvndi.«372 Damit ist zur Darstellung gebracht worden: Christus wurde am Kreuz dahingegeben wie ein Lamm. Das Opfer ist erbracht und bedarf weder einer Ergänzung noch einer Wiederholung; denn es ist die stellvertretend erbrachte Sühne für die Sünde der ganzen Welt. Während Johannes der Täufer für die biblische Grundlage steht, figuriert Lucas Cranach d.Ä. für die gläubige Rezeption des Kreuzesgeschehens in der Gemeinde. Ihn trifft der Blutstrahl373 aus der Seite des Gekreuzigten. Das bedeutet: Er hat Anteil an der von Christus am Kreuz gewirkten Sühne. Ihretwegen steht er gerechtfertigt vor Gott. Dass er dessen bedürftig, aber auch dessen im Glauben gewiss ist, das bringt 372 Joh 1, 29: »Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.« Joh 1, 29 ist von zentraler Bedeutung. Auf diese Stelle und auf drei weitere gründet Luther den Hauptartikel von Christus und der Rechtfertigung in den Schmalkaldischen Artikeln (ASm II, 1; WA 50, 198, 24 – 200, 5, bes. 198, 29f. u. z.St. W. Führer, a.a.O. [s. Anm. 43], 93). 373 Dieser wird »auch Gnadenstrahl genannt« (E. Asshoff, a.a.O. [s. Anm. 366], 21).

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seine Gebetshaltung zum Ausdruck. In ihr hat ihn sein Sohn, Lucas Cranach d.J., 1550 gemalt.374 Er wollte damit aber nicht dem moralischen Missverständnis Vorschub leisten, der Vater sei ein besonders großer Sünder gewesen. Das war er wie der Reformator und wie alle Menschen im theologischen Sinne, nämlich vor Gott. Abgesehen davon, dass er zu den bedeutendsten und erfolgreichsten Künstlern seiner Zeit gehörte, war er nach bürgerlichen Maßstäben ein hochachtbarer Mann, der sechsundzwanzig Jahre lang Mitglied des Rates der Stadt Wittenberg und während dieser Zeit (1519–1545) dreimal Bürgermeister war.375 Martin Luther, die dritte Figur, trägt einen Talar; er ist also als Amtsperson dargestellt. Dafür spricht auch, dass er den Betrachtern die aufgeschlagene Bibel entgegenhält. Sie allein besitzt die Deutungskompetenz und Deutungshoheit über das Kreuzesgeschehen. Luther weist auf drei Stellen hin, die das Kreuzesgeschehen erschließen. Erstens auf Hebr 4,16: »Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.« Damit wird ausgesagt: Vor der Kreuzigung soll man nicht fliehen, weil sie eine grausame Hinrichtungsart darstellt, die grausamste der Antike, sondern man soll zu dem Kreuz »hinzutreten«; denn die am Kreuz von Christus erbrachte Sühne ist der »Thron der Gnade« (s.a. Röm 3,25), weil die Sühne stellvertretend für die Sünden aller gewirkt worden ist. Diese sühnetheologische Deutung bekräftigt die zweite Schriftstelle, auf die der Reformator hinweist (1. Joh 1,7b): »Das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.« Die dritte Stelle ist Joh 3,14f., auf die oben im Zusammenhang mit 4. Mose 21,4–9 bereits aufmerksam gemacht worden ist. Der Gekreuzigte ist der Thron der Gnade, weil er »um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt (ist)« (Röm 4,25). Der Maler hat den Auferstandenen, lose umgeben von einer blutroten Gewandung, in der unteren linken Bildhälfte dargestellt. Der Gekreuzigte ist im Auferstandenen erkennbar – und doch ist er insofern ein anderer, als er dem Tod nicht mehr unterworfen ist. Im Gegenteil, das Blatt hat sich gewendet: Der Auferstandene stemmt seinen rechten Fuß auf den Tod und seinen linken auf den Teufel. Er hält

374 Vgl. W. Schade, Die Malerfamilie Cranach, Dresden 1974, 101. 375 Vgl. H. Düfel, TRE 8, 1981, 218, 50f.

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sie am Boden. Sie sind überwunden. Wie Niedergekämpfte strecken sie ihre Zungen heraus. Stellvertretend für alle hat Jesus Christus den endzeitlichen Sieg über die widergöttlichen Mächte Sünde, Tod und Teufel errungen. Auf diese Tat, das endzeitliche Erlösungs- und Heilswerk Gottes, das durch die Kreuzigung und Auferweckung Jesu Christi vollbracht worden ist, gründet sich die Rechtfertigung aus Gnade allein. II. Das Wort Gottes, das zum Heil führt Das Wort Gottes, das zum Heil führt, ist das Evangelium. Das ist das Evangelium deshalb, weil es Jesus Christus und den in seinem Tod und seiner Auferstehung stellvertretend errungenen Sieg über die Verderbensmächte als die den Sünder rechtfertigende Gerechtigkeit Gottes zum Inhalt hat. Das Werk Gottes und das Wort Gottes erschließen, bestimmen und begrenzen sich gegenseitig. Das Werk Gottes könnte nicht zum Heil führen, wäre es nicht in das Wort Gottes gefasst. Das Wort Gottes würde nicht zum Heil führen, hätte es nicht das Werk Gottes zum unverwechselbaren und unaustauschbaren Inhalt. Beide in ihrer wechselseitigen Bedingtheit bilden das eine Heilsgeschehen, auf das die Rechtfertigung gegründet ist. Die Rechtfertigung lernen heißt auf das Evangelium hören. Gerechtfertigt wird man nicht durch Tun, Denken oder Empfinden. Damit bewegt man sich innerhalb der Grenzen der Geschichte. Gerechtfertigt vor Gott wird der Mensch allein durch den Glauben an das Evangelium. Das Evangelium ist das Wort Gottes, das zum Heil führt, weil es die frohe Botschaft ist, die an dem Sieg Gottes in Christus über die Verderbensmächte schon jetzt Anteil gibt, so dass der Glaubende schon hier und heute aus der Gerechtigkeit lebt, die vor Gott im Endgericht gilt, wenn das Reich Gottes offenbar werden wird. Den Artikel von der Rechtfertigung muss die Christenheit immer wieder aufs Neue lernen. Die dabei zu beherzigende Grundregel lautet: »Das erste von allem ist das Wort Gottes selbst.«376 Es muss »vorhergehen, dass es uns bewegt, und diese erste Bewegung muss von Gott kommen«377. Nicht der Mensch, der in seinem Verhältnis zu Gott gern selbst 376 WA 43, 606, 34. Übersetzt aus der Auslegung von 1. Mose 28, 20–22, in der Luther über die »regula« (606, 25ff.) spricht, die es bei der Rechtfertigung zu beachten gilt. 377 A.a.O., 606, 36f. Aus dem Lateinischen übersetzt.

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den ersten Stein legen möchte, um sich vor ihm zu rechtfertigen, sondern: »Gott muss der Anfang unseres Heils sein, der offenbar wird und der sich uns offenbart, dass wir ihn erkennen lernen. Das ist das Hauptstück und das Fundament, das uns in der ganzen Schrift vorgelegt wird.«378

6.3 Die Wende im Begriff der Kirche nachvollziehen Kirche versteht sich niemals von selbst. Kirche ist vielmehr allein dort, wo die Wahrheit des Evangeliums ist. Aber die Wahrheit des Evangeliums ist keineswegs immer da, wo Kirche ist und wo sich Kirche selbst als Kirche empfiehlt. »Die Kirche ist verborgen.«379 Dieser berühmte Satz stammt aus Luthers Schrift gegen Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1525. Mit ihm negiert der Wittenberger Reformator jede Möglichkeit einer Definition von Kirche, die von der sichtbaren Erscheinungsform der Kirche ausgeht und auf äußeren Kriterien beruht. Was Kirche ist;380 worauf sie sich gründet, nämlich auf Jesus Christus allein, der seinen Leib, die Gläubigen, als das himmlische Haupt im Heiligen Geist regiert; und worin das Wesen der Kirche besteht, nämlich im Wort Gottes und im Glauben – das ergibt sich aus dem Wort Gottes Heiliger Schrift und nicht aus der Institution Kirche oder aus dem Amt der Kirche. Der Abschnitt über die Kirche steht in De servo arbitrio im Zusammenhang der Lehre von der Prinzipienfunktion und Klarheit der Schrift sowie im Bezugsrahmen der Pneumatologie. »Das Leben ohne Wort ist ungewiss und dunkel.«381 »Kirche« – das sind die Menschen, die ihren Bezugspunkt außerhalb ihrer haben: im Wort Gottes, durch das Gott in der Kraft seines Geistes spricht, erleuchtet, heiligt, Kirche schafft und erhält. Luther hat eine Wende im Verständnis der Kirche herbeigeführt: Kirche ist nicht aus ihrem empirischen Gegebensein, sondern aus dem über ihr stehenden Wort Gottes erkennbar und identifizierbar. Durch das Hö378 A.a.O., 606, 31–33: »… et Deus sit initium nostrae salutis, qui manifestet et revelet se nobis, ut ipsum agnoscamus. Hoc caput est et fundamentum, quod in tota scriptura proponitur.« 379 WA 18, 652, 23: »abscondita est Ecclesia.« 380 Vgl. dazu o. S. 69ff. 381 A.a.O., 655, 10: »Vita enim sine verbo incerta est et obscura.«

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ren auf die Stimme Jesu Christi, des guten Hirten, wird die Kirche geleitet. Wo immer dieser Stimme gefolgt wird, dort ist Kirche.382 Auch und gerade als sichtbare Versammlung ist die eine, apostolische Kirche durch den Glauben an Gottes Wort unverfügbar auf Jesus Christus allein bezogen. Nicht aus der Konstruktion einer Idealkirche, sondern in der ausschließlichen Bindung an die Heilige Schrift ist die Reformation der Kirche und die Erneuerung der theologischen Lehre im 16. Jahrhundert Ereignis geworden. Sie wirkte auf alle Lebensbereiche ein. Aus dem exklusiven Bezug auf die Schrift ergab sich zweierlei. Erstens die Negation der Institution, die sich als »Kirche« ausgab, aber keinen Grund in der Schrift hatte, nämlich das Papsttum. Nach 1520 hat Luther auf Verlautbarungen aus Rom nicht mehr gehört, sondern nur noch vor ihnen gewarnt. Zweitens setzt der ausschließliche Bezug auf die Heilige Schrift »Kennzeichen« frei,383 an denen Kirche als Kirche wahrnehmbar wird. An ihnen können sich Christen orientieren. Eine direkte Identifizierung von innerer und äußerer Kirche, von wesentlicher Kirche und »Kirchentum« (Theodosius Harnack)384 ist unter dieser Voraussetzung weder möglich noch nötig. Die heutige Kirche muss die reformatorische Wende im Kirchenverständnis nachvollziehen. Wo immer dies geschieht, wird das, was sich als Kirche ausgibt, aber keine Kirche ist, in die Krisis geführt. Dazu zählt ohne jeden Zweifel die »Kirche«, die das Schriftprinzip der Reformation preisgegeben hat, die das Evangelium Gottes (Röm 1,1) durch Zusätze verfälscht hat und deren Rechtfertigungslehre unbiblisch und unreformatorisch ist. Weil Jesus der Kyrios und der Christus ist, darum ist Kirche immer schon da.385 Wo sich zwei in Jesu Christi Namen versammeln, ist er »mitten unter ihnen« (Mt 18,20). Kirche wird also in Versammlungen konkret, sei es in Häusern oder in der Gemeinde. Nicht von einer übergemeindlichen Institution, sondern von der Ortsgemeinde aus ist Kirche wieder zu verstehen und aufzubauen.386 »Jede Gemeinde … ist im Besitz 382 Vgl. – zusammenfassend – ASm III, 12; WA 50, 249, 23 – 250, 12, bes. 250, 3–5. 383 Vgl. o. S. 78f. 384 Nachweis s.o. Anm. 217. 385 Mit W. Mostert; Nachweis s.o. Anm. 216. 386 Mit C. Möller (vgl. Anm. 287); s.a. ders., Kirche mit allen Sinnen, NeukirchenVluyn 2015, bes. 102ff.

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aller Gaben und Rechte, die aus dem Evangelium fließen.«387 Sie ist verpflichtet, übergemeindlicher Bevormundung zu widerstehen. Im Falle eines Konflikts bricht das Recht der Gemeinde auf lautere Evangeliumsverkündigung und evangeliumsgemäße Sakramentsverwaltung anderes Recht. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass den geistlichen Angelegenheiten in der Gemeinde wieder der Vorrang vor den weltlichen eingeräumt wird, der ihnen gebührt. Es war fatal, dass die Evangelische Kirche mit dem Impulspapier ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf ihren äußeren Bestand gelegt hat. Zahlen wurden infolgedessen wichtiger als die Verheißung Christi. Kirche wächst aber nicht dadurch, dass sie wie ein Kaninchen auf die Schlange blickt. Ist die geistliche Priorität kirchlichen Handelns wieder hergestellt, sollte man über die angemessene Neuverteilung der Kirchensteuereinnahmen nachdenken. Christian Möller hat darauf hingewiesen, dass es in der Kirche von Schweden nur Mitgliedsbeiträge an die Ortsgemeinden gibt: »Sie bleiben zu 90% in der Gemeinde. 10 Prozent werden an die Gesamtkirche abgegeben.«388 Dieses Modell kann als Vorbild dienen. Grundlegend für die Ingangsetzung von Reformation heute ist jedenfalls die Umkehrung des Verhältnisses Kirche – Kirchengemeinde in das Verhältnis Kirchengemeinde – Gesamtkirche. Das sollten die Gemeinden mit ihren Amtsträgern vor Ort gegen gesamtkirchlichen Widerstand durchsetzen. Die Reformatoren stehen dabei auf ihrer Seite.

6.4 Dem Verkündigungsamt die Schlüsselrolle einräumen Wie in der Kirche die Gemeinde wieder in den Mittelpunkt gerückt werden muss, nach reformatorischem Vorbild und im Gegensatz zur heutigen Entwicklung in der EKD, so muss dem Lehr- und Verkündigungsamt in der kirchlichen Praxis wieder die Bedeutung und Schlüsselrolle eingeräumt werden, die ihm theologisch und rechtlich zukommt. Nur das Verkündigungsamt ist von Christus selbst eingesetzt, nur es beruht also auf göttlichem Recht. Es ist gebunden an das Mandat Christi und als das Nachfolgeamt des Apostolats mit der Verkündigung des Evange387 K. Holl; zitiert o. Anm. 288. 388 C. Möller, Lasst die Kirche im Dorf!, Göttingen 2009, 28.

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liums und der Verwaltung der Sakramente beauftragt. Die Hauptinstitution war in der Reformation das dem Bischofsamt gleichgestellte Pfarramt. Das Bischofs- bzw. Pfarramt sollte auch heute – erneuert aus dem Evangelium –389 die Hauptinstitution des Amtes der Kirche darstellen. Wo die institutionelle Konkretion des einen Amtes, nämlich des Verkündigungs- oder Predigtamtes, fehlt, dort kann die Kirche nicht bestehen. Die heutige Situation wird durch zwei Fehlentwicklungen geprägt. Einmal hat sich das sogenannte allgemeine Priestertum aller Gläubigen, dazu ermuntert durch die Kirchenleitungen,390 des institutionalisierten Verkündigungsdienstes zu bemächtigen begonnen. Mit Theodosius Harnack ist zu warnen vor der »unterschiedslosen Masse der Namenchristen«, die sich »kraft eines usurpierten allgemeinen Priestertums« zur »Norm in der Kirche aufwirft«391. Die Kirche wird dadurch »eine Beute der Welt«392 und ihrer Massentendenzen. Im Neuen Testament gibt es keinen einzigen Beleg, der den unmittelbaren Zusammenhang des apostolischen Verkündigungsamtes mit dem Gedanken des Priestertums aller Gläubigen bezeugen würde, wie er heute vorausgesetzt wird.393 Luther hat mit der Vorstellung des Priestertums aller Gläubigen mit Recht die Zweiständelehre negiert, aber keineswegs das Verkündigungsamt beeinträchtigt; denn es zählt zu den Kennzeichen der Kirche und stellt eine absolute Notwendigkeit dar. Die Untergrabung des Verkündigungsamtes durch das allgemeine Priestertum in der heutigen Evangelischen Kirche ist so schriftwidrig, wie es die Untergrabung des Verkündigungsamtes durch das spätmittelalterliche Opferpriesteramt war. Die zweite Fehlentwicklung ist in der Aufwertung übergemeindlicher Ämter und in der Schaffung von Parallelstrukturen zu sehen. Das Neue Testament kennt keinen übergemeindlichen Bischof. Paulus hat die Begleitung und Aufsicht über die von ihm gegründeten Gemeinden durch

389 Vgl. dazu J. Schniewind, Die geistliche Erneuerung des Pfarrerstandes, in: ders., Zur Erneuerung des Christenstandes, hg. v. H.-J. Kraus und O. Michel, KlVR 226/227, Göttingen 1964, 64–88. 390 Vgl. z.B. VELKD (Hg.), Allgemeines Priestertum, Ordination und Beauftragung nach evangelischem Verständnis, Texte aus der VELKD 130, Hannover 2004. Dagegen W. Führer, Die Erneuerung des geistlichen Amtes, Confessio Augustana II/2005, 13–19, bes. 16. 391 Th. Harnack, a.a.O. (s. Anm. 217), 1862, § 59. 392 Ebd. 393 Mit O. Hofius; s.o. den Exkurs S. 84–88.

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seine Briefe ausgeübt. Auch Luther hat die übergemeindliche Begleitung und Aufsicht durch theologische Stellungnahmen und Briefe wahrgenommen. Die Nützlichkeit von Begleitung und Aufsicht unterliegt keinem Zweifel. Aber sie setzt voraus, dass etwas gewachsen ist. In der Evangelischen Kirche heute bleiben aber die Kirchenbänke leer; sie ist im Begriff, geistlich zu sterben. In einer solchen Situation kann es nicht um übergemeindliche Aufsicht gehen, sondern zuerst und vor allem um Aufbauarbeit in den Gemeinden durch die lautere, schriftgebundene Verkündigung des Evangeliums, durch Unterweisung und Lehre, durch Seelsorge und die dem Evangelium gemäße Anwendung der Schlüsselgewalt.

6.5 Das Reformationsjubiläum im Glauben begehen Luther war eine Gestalt von säkularer Größe. Aber lässt er sich säkularisieren? Das muss bezweifelt werden. Er lässt sich zwar populär machen, und das ist häufig genug geschehen; aber das Innerste, was ihn bestimmte und antrieb, und die Abgründe, über die er dabei gehen musste, sind zumeist eher verdeckt als offengelegt worden.394 Wie kann das Reformationsjubiläum 2017 angemessen begangen werden? Im Grundlagentext des Rates der EKD »Rechtfertigung und Freiheit« finden sich dazu bedenkenswerte Überlegungen.395 Aber das Entscheidende bleibt ungenannt. Das, was Luther vor allem anderen charakterisiert, ist, dass er ein Mann des Glaubens war. Gott, das ängstliche, verzweifelte, aufwühlende und am Ende beseligende Ringen um seine Gnade, der Hass auf Gottes Gerechtigkeit und schließlich die Entdeckung der befreienden Gerechtigkeit Gottes im Evangelium von Jesus Christus, das war der innere Nerv seines Suchens, Findens, Denkens, Empfindens, Lehrens und Lebens. Im Grundlagentext ist die Freiheit thematisiert.396 Die Freiheit gehört zweifellos zu Luthers Lebensthemen. Aber wenn man an der Freiheit deutlich machen will, was Reformation ist, muss man auch präzise sagen, worauf sie sich nach Luther gründet, nämlich auf die »Tat Gottes, die

394 Vgl. dazu H. Lehmann, Luthergedächtnis 1817–2017, Göttingen 2012. 395 RF, a.a.O. (s. Anm. 153), 94–106. 396 RF 98–104.

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geschehen ist, um den Menschen zu befreien. Das ist anders als in der Philosophie.«397 Der Cranachaltar in der Stadtkirche Weimar macht die Tat Gottes im Sinne der Reformation anschaulich; der Grundlagentext der EKD leistet das dagegen nicht.398 Es fehlt in ihm die grundlegende Unterscheidung zwischen der Befreiungstat des dreieinigen Gottes im Kreuzesgeschehen und der neuzeitlichen Freiheitsidee.399 Die Freiheit ist ein Thema bei Luther, weil er an Christus glaubte, der die Freiheit von den Verderbensmächten erwirkt hat. Im Blick auf das Reformationsjubiläum scheint es mir daher sachgerechter zu sein, den Glauben in den Mittelpunkt zu stellen. Daraus folgt aber, dass der Gottesdienst der angemessenste Rahmen ist, das Reformationsjubiläum öffentlich zu begehen. Natürlich schließt das Gedenkveranstaltungen mit Themenschwerpunkten nicht aus. Man sollte das eine tun und das andere nicht lassen. Allerdings wird es darauf ankommen, die richtige Reihenfolge einzuhalten. Die Priorität gebührt eindeutig dem Glauben und also dem öffentlichen Gottesdienst. Warum das so ist, warum Luther zwar eine säkulare Größe darstellt, aber eine solche war, die sich nicht wirklich säkularisieren lässt, geht aus dem Glaubenslied hervor, das oben im zweiten Kapitel behandelt worden ist. Luther ging es darum, dass »das Reich Gotts werd gemehrt / zu Lob und seinen Ehren« (EG 341: 10,3–4). Das war es, für das und auf das hin Luther gewirkt hat: das Reich Gottes und die Ehre Gottes. Das Reich der Welt dagegen oder der Ruhm eines Gelehrten, das waren keine Ziele, die Luther bestimmt hätten. Nebenbei sei angemerkt: Luther hat das Reich der Welt gerade dadurch, dass es ihm gänzlich fernlag, in ihm ein letztes Ziel zu sehen, von ideologischen Zielsetzungen freigehalten und den Blick geöffnet für den hohen Wert – der aber eben ein zeitlich begrenzter Wert ist – der Ehe, Bildung, Wissenschaft, Kunst, Musik und Politik.

397 H.J. Iwand, Von der christlichen Freiheit, 1953, in: ders., Glaubensgerechtigkeit, a.a.O. (s. Anm. 16), 194–197, 194. 398 Auch der neuere Grundlagentext der EKD Für uns gestorben – die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi, Gütersloh 2015, bleibt das schuldig. Auch er beruht auf der Preisgabe des Schriftprinzips. Im Gegensatz zu Paulus (s. o. Anm. 158) und zu Luther (s. o. Anm. 159f.) werden Christologie, Soteriologie und Rechtfertigungslehre getrennt voneinander behandelt, nicht nur formal, sondern in der Sache, und damit zugleich verfehlt. Gegen diesen Grundlagentext hat R. Slenczka, a.a.O. (s. Anm. 153), 458–478 mit Recht Einspruch erhoben. 399 Vgl. Iwand, a.a.O., 195.

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Das Reformationsjubiläum ist im Glauben zu begehen. Dafür ist nichts geeigneter als ein Gottesdienst. Selbstverständlich kann es ein Jahr davor noch keine konkreten Vorschläge zur Gestaltung des Gottesdienstes geben. Zur Wahrung des Erbes der Reformation gehört der Einspruch und gegebenenfalls der theologische Widerspruch gegen offenkundige Fehldeutungen. Dieser muss gegen das in den Texten der EKD und des LWB vertretene Rechtfertigungs-, Freiheits- und Amtsverständnis aus sachlicher Notwendigkeit erhoben werden. Reformation ist Umkehr zum Ursprung. Sie ist nicht nur einmal geschehen, sondern immer wieder vonnöten. Sie besteht darin, die Wahrheit des Evangeliums von Jesus Christus in Kirche und Theologie über alles andere zu stellen. Daraus erwächst der Mut, den Institutionen der Bevormundung eine Absage zu erteilen. Daraus quillt die Kraft, in den Gemeinden mit der Verkündigung des Wortes Gottes von vorn zu beginnen. VERBUM DEI MANET IN AETERNUM