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German Pages 276 Year 2007
Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Band 40
Rechtsschutz im EG-Eigenverwaltungsrecht zwischen Einheitlichkeit und sektorieller Ausdifferenzierung Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Gemeinschaftsmarkenrechts
Von
Hannes Krämer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
HANNES KRÄMER
Rechtsschutz im EG-Eigenverwaltungsrecht zwischen Einheitlichkeit und sektorieller Ausdifferenzierung
Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Erlangen-Nürnberg durch die Professoren Dr. Thomas Ackermann und Dr. Karl Albrecht Schachtschneider
Band 40
Rechtsschutz im EG-Eigenverwaltungsrecht zwischen Einheitlichkeit und sektorieller Ausdifferenzierung Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Gemeinschaftsmarkenrechts
Von
Hannes Krämer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0947-2452 ISBN 978-3-428-12228-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2005/2006 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Ganz besonders danke ich dem Betreuer der Arbeit, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Schmidt-Aßmann. In der Zeit als sein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht der Universität Heidelberg habe ich eine wissenschaftlich wie menschlich außerordentlich fruchtbare Zeit des gemeinsamen Bemühens um die systematischen Grundlagen des Verwaltungsrechts erfahren dürfen. Jetzt sage ich ihm hierfür Dank sowie für die stete und geduldige Ermutigung, mit der er die Fertigstellung des Promotionsvorhabens begleitet hat, das neben meiner beruflichen Tätigkeit im Bundesministerium der Justiz, am Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften sowie in der Europäischen Kommission herangereift ist. Dank schulde ich auch Herrn Prof. Dr. Burkhard Hess für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Bei Herrn Prof. Dr. Hans Christian Röhl (Universität Konstanz), einem Weggefährten aus meinen Anfängen am Institut für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht der Universität Heidelberg, möchte ich mich herzlich bedanken für seine hilfreiche und vielfältige Unterstützung. Brüssel, im Oktober 2006
Hannes Krämer
Inhaltsverzeichnis 1. Teil Einleitung
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§1
Das Phänomen der sektoriellen Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
19
§2
Sektorielle Ausdifferenzierungen im System des Rechtsschutzes . . . . . . . . A. Ausgangspunkt: Rechtsschutzentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Dimensionen des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Struktur des Rechtsschutzregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsschutzinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Institutionelle Differenzierungen: Gerichtliche und administrative Rechtsschutzinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionelle Differenzierungen: Devolutive und nicht devolutive Rechtsschutzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsschutzgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Initiierung des Rechtsschutzverfahrens – Typen parteibezogener Zulässigkeitsvoraussetzungen: Aktive Parteifähigkeit, Klagebefugnis und Rechtsschutzbedürfnis als Systembegriffe . . . . . 4. Rechtswirkungen des Rechtsschutzantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beteiligung am Rechtsschutzverfahren – Insbesondere: Instantielle Verfahren und Parteiverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Inhalt und Rechtswirkungen einer Rechtsschutzentscheidung . . 7. Ausgestaltung des Rechtsschutzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Substanz des Rechtsschutzregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Normative Formen der Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes . . . . . . . .
25 25 29 29 30
§3
§4
Gemeinschaftsmarkenrecht als Referenzgebiet der Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gemeinschaftsmarkenrecht als neuer Teilbereich des EG-Eigenverwaltungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Interessen- und Rechtsschutzkonstellationen im Gemeinschaftsmarkenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Speziell: Mehrpoliger Rechtsschutz im Kontext der allgemeinen Systematik kollidierender Interessen im Verwaltungsrecht . . . . . . . . Ziel der Untersuchung und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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32 34 34 36 37 37 38 38 38 39 44 44 48 51
10
Inhaltsverzeichnis 2. Teil Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes im Kontext des Primärrechts
§1
§2
Die Struktur des Rechtsschutzes als Gegenstand des Primär- und des Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Primärrechtliche Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Initiativberechtigung bei der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Klagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Hoheitsakte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen als Gegenstände des primärrechtlichen Rechtsschutzregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrechtliche Gewährleistung gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Hoheitsakte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Individualrechtliche Aspekte: Das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Institutionelle Aspekte: Wahrung des institutionellen Gleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analoge Anwendung des primärrechtlichen Rechtsschutzregimes oder Erfordernis sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Sekundärrechtliche Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes . . . . . . C. Die primärrechtliche Relevanz sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedingungen der Primärrechtskonformität sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Positive Primärrechtskonformität: Das Erfordernis einer Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Speziell: Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 308 EGV als typischer Rechtsgrundlage sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Negative Primärrechtskonformität: Wahrung des Vorrangs des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Geltungs- und Anwendungsvorrang als Systembegriffe . . . . . . . . . . II. Der Geltungsvorrang des Primärrechts als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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53 53 53 55 55 57
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Inhaltsverzeichnis III. Der Geltungsvorrang des Primärrechts in bezug auf Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Befugnis zur Abänderung von Verwaltungsentscheidungen b) Suspensiveffekt der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Qualifikation sekundärrechtlich errichteter Rechtsschutzinstanzen als Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Wahrung des institutionellen Gleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §3
11
84 84 84 84 89 90 93
Überschneidung zwischen primärrechtlichen Rechtsschutz- und sekundärrechtlichen Sanktionsnormen: Begrenzter Anwendungsvorrang des Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 B. Beispiele des Anwendungsvorrangs sekundärrechtlicher Sanktionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 C. Exkurs: Bestimmung des Klagegegenstandes bei vorgeschaltetem sekundärrechtlichem Sanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
3. Teil Strukturelle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes im Gemeinschaftsmarkenrecht
103
§1
Organisationsrechtlicher Rahmen: Die Struktur des HABM . . . . . . . . . . . 103 A. Das HABM als sekundärrechtlich errichtete Gemeinschaftseinrichtung 103 B. Entscheidungsinstanzen (Spruchkörper) innerhalb des HABM . . . . . . . . . 104
§2
Verfahrensstrukturierung und Grundzüge des Rechtsschutzregimes nach der GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Verfahrensstrukturen und Rechtsbehelfe im Vorfeld der Markeneintragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangspunkt: Das Eintragungsverfahren als gestuftes Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines – Maßgebliche rechtliche und tatsächliche Entscheidungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens und Rechtsbehelfe . . . . . III. Widerspruchsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines – Maßgebliche rechtliche und tatsächliche Entscheidungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgestaltung des Widerspruchsverfahrens und Grundzüge des Rechtsschutzes gegen die verfahrensbeendende Entscheidung . . IV. Exkurs: Objektiv-rechtliche Beanstandungen durch Dritte und Wiederaufgreifen des Prüfungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106 106 106 107 107 107 109 109 112 115
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Inhaltsverzeichnis B. Verfahrensstrukturen und Rechtsbehelfe im Anschluß an die Markeneintragung: Nichtigkeitsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines – Maßgebliche rechtliche und tatsächliche Entscheidungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Relatives Nichtigkeitsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Absolutes Nichtigkeitsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nichtigkeitsverfahren als Rechtsschutzverfahren? . . . . . . . . . . . . II. Ausgestaltung des Nichtigkeitsverfahrens und Grundzüge des Rechtsschutzes gegen die verfahrensbeendende Entscheidung . . . . . III. Exkurs: Nichtigerklärung der Gemeinschaftsmarke und Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Prozeduralisierung des multipolaren Rechtsschutzes im Gemeinschaftsmarkenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§3
Speziell: Devolutive Rechtsschutzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Rechtsschutzinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beschwerdekammern des HABM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gemeinschaftsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Rechtsschutzgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Klage nach Art. 63 GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Initiierung des Rechtsschutzverfahrens – Parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsschutzantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Klage nach Art. 63 GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aktive Parteifähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Klagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beteiligung am Beschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Exkurs: Vergleich mit den parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rekurs: Initiativberechtigung und materielle Belastungswirkung . . D. Rechtswirkungen des Rechtsschutzantrags – Aufschiebende Wirkung . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Klage nach Art. 63 GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Verfahrensbeteiligte neben dem Initiator des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . I. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Klage nach Art. 63 GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. HABM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz: HABM als Beklagter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nuancierungen: HABM als amicus curiae . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
F.
aa) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nicht auf Klagabweisung gerichtete akzessorische Anträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sonstiges Prozeßverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Private Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sonstige Beteiligte eines inter partes Beschwerdeverfahrens als privilegierte Streithelfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erwerb und Verlust der Parteirolle des privilegierten Streithelfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundsatz: Beteiligtenstellung im Beschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sonderfall: Übertragung der für die Beteiligung am Beschwerdeverfahren maßgeblichen Rechtsposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Prozessuale Befugnisse des privilegierten Streithelfers dd) Exkurs: Privilegierte Streithilfe im Vergleich zur notwendigen Beiladung nach deutschem Verwaltungsprozeßrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonstige private Dritte als „einfache“ Streithelfer . . . . . . . . . Inhalt und Rechtswirkungen der Rechtsschutzentscheidung . . . . . . . . . . . I. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufhebung und Abänderung der Entscheidungen der erstinstanzlichen Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufhebung – Rechtswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Maßgeblichkeit der allgemeinen Rechtmäßigkeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnis zwischen Beschwerdeantrag und Beschwerdeentscheidung: Dispositionsmaxime und reformatio in peius . . . aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Präzisierungen zur reformatio in peius . . . . . . . . . . . . . . . II. Klage nach Art. 63 GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufhebung und Abänderung der Entscheidung der Beschwerdekammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtswirkungen der Aufhebung: „Befolgungspflicht“ nach Art. 63 Abs. 6 GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachgründe für die Abänderungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis aa) Allgemeine Bemerkungen zum Prinzip der Verfahrensökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahrensökonomische Rechtfertigung der Abänderungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inhaltlicher Bezug zwischen Beschwerdeverfahren und gerichtlicher Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Identität der Gegenstände von gerichtlicher Neuentscheidung und Beschwerdeentscheidung . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidungsreife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnis zwischen Klageantrag und gerichtlicher Entscheidung: Dispositionsmaxime und reformatio in peius . . . aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vergleich mit Art. 229 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§4
Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen im Bereich des Gemeinschaftsmarkenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Anwendungsvorrang der Sanktionsnormen der GMV in der Überschneidungszone mit Art. 230 Abs. 4 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nichtigkeitsklage gegen erstinstanzliche Entscheidungen . . . . . . . . . 1. Vorliegen der sonstigen Elemente der Initiativberechtigung . . . 2. Anwendungsvorrang der Sanktionsnormen in bezug auf das Beschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nichtigkeitsklage gegen Beschwerdeentscheidungen . . . . . . . . . . . . . 1. Vorliegen der sonstigen Elemente der Initiativberechtigung . . . 2. Anwendungsvorrang von Art. 63 GMV? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Grenzen des Anwendungsvorrangs in bezug auf den Rechtsschutzinhalt: Anordnung des Sofortvollzugs von Entscheidungen des HABM? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Materielle Rechtmäßigkeitsbedingungen – Insbesondere: Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen neben den Sanktionsnormen der GMV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Disjunktion aufgrund des Gegenstandes der Sanktionsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV gegen von Art. 63 Abs. 1 GMV nicht umfaßte Entscheidungen der Beschwerdekammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untätigkeitsklage nach Art. 232 Abs. 3 EGV wegen des unterlassenen Erlasses einer Entscheidung des HABM . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Notwendigkeit einer vorherigen „Aufforderung“ . . . . . . . . . . c) Inhalt der gerichtlichen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177 179 180 180 182 185 185 186 188 188 188 189 189 191 194 194 196
196 196 197 199 200 201
201 201 201 202 204
Inhaltsverzeichnis
II.
d) Sonderfall: Rechtsschutz bei unvollständiger Bescheidung des Beschwerdeantrags durch die Beschwerdekammer . . . . . Disjunktion aufgrund des Sanktionskriteriums: Nichtigkeitsklage gegen die Markeneintragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Initiativberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begründetheit einer gegen die Markeneintragung gerichteten Nichtigkeitsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
206 207 207 209
4. Teil Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes im Gemeinschaftsmarkenrecht – Insbesondere: Sanktionskriterium §1
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Rechtssystematische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typologie materieller Rechtsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fehlerhafter Rechtsanwendungsprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Struktur und rechtliche Determination des Rechtsanwendungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Terminologische Klärungen: Maßgebliche, effektive und potentielle Entscheidungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . b) Typologie der Fehler des Rechtsanwendungsprozesses . . . . . c) „Begründungsimmanenter“ Charakter der Rechtskontrolle . . 2. Fehlerhaftes Ergebnis des Rechtsanwendungsprozesses . . . . . . . 3. Fehlerhafte Ausgangsentscheidung als solche . . . . . . . . . . . . . . . . III. Normative Strukturen möglicher Sanktionskriterien . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtspolitische Parameter für die Normierung von Sanktionskriterien – Insbesondere: Verfahrensökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materiell-rechtliche Sanktionskriterien: „Reformatorische“ und „kassatorische“ Rechtsschutzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Systematische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Exkurs: Rechtsvergleichende Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensrechtliche Sanktionskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt: Nutzenspezifische und nicht nutzenspezifische Rechtmäßigkeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktion fehlerakzessorischer Tatbestandsmerkmale . . . . . . . B. Sanktionskriterien im Gemeinschaftsprozeßrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materiell-rechtliches Sanktionskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211 211 211 211 213 213 213 213 215 216 217 217 218 219 220 220 220 222 224 224 226 229 229 229
16
Inhaltsverzeichnis
II. §2
§3
a) Grundsatz: Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses und Rügelast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nichtanwendung rechtswidriger Sekundärrechtsnormen nach Art. 241 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Ermessensmißbrauch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensrechtliches Sanktionskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsmittelverfahren nach Art. 225 Abs. 1 EGV i.V. m. Art. 56 ff. EuGH-Satzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sanktionskriterium des Beschwerdeverfahrens nach Art. 57 ff. GMV . . A. Materiell-rechtliches Sanktionskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsatz: Regelungsbezogene Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Rügelast des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Verfahrensrechtliches Sanktionskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Regelfall: Sanktionslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Exkurs: Sekundäre Verfahrenssanktionen – Kostenlast . . . . . . . . . . . Sanktionskriterium des Klageverfahrens nach Art. 63 GMV . . . . . . . . . . . A. Materiell-rechtliches Sanktionskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsatz: Doppelt modifizierte Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtanwendung rechtswidriger Sekundärrechtsnormen nach Art. 241 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Ermessensmißbrauch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Verfahrensrechtliches Sanktionskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsatz: Sanktionierung bei abstrakt ergebnisrelevanten Verfahrensfehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sekundäre Verfahrenssanktionen: Kostenlast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229 231 231 233 233 235 236 236 236 238 238 240 241 241 242 242 243 243 243 246 246 247 247 247 248
5. Teil Schlußbetrachtung
250
§1
Rechtssystematische Erkenntnisse zur Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
§2
Rechtspolitische Bewertung des Rechtsschutzregimes im Gemeinschaftsmarkenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Inhaltsverzeichnis §3
17
Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes in rechtspolitischer Perspektive 256 A. Inhalte sektorieller Ausdifferenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 B. Normative Formen legislativer Ausdifferenzierungen – Kohärenz des Rechtsschutzsystems insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
1. Teil
Einleitung § 1 Das Phänomen der sektoriellen Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes Eine der Grundfragen, die jede Rechtsordnung im Hinblick auf den primären Rechtsschutz1 gegen hoheitliches und insbesondere administratives Handeln zu beantworten hat, ist diejenige, ob dieser Rechtsschutz für alle Sachbereiche dieses Handelns einheitlich oder aber sektoriell differenziert ausgestaltet werden soll. Das deutsche Recht verzeichnet insofern in historischer Perspektive eine gewisse Wechselbewegung. So waren die Ursprünge des Rechtsschutzes gegen administratives Handeln, also die Phase bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Sache nach durch eine sektorielle Ausdifferenzierung geprägt. Diese beruhte allerdings nicht auf Zweckmäßigkeitserwägungen sondern darauf, daß die letztlich politische Systemfrage nach der justizstaatlichen oder administrativen Ausrichtung des Rechtsschutzes in Verwaltungssachen ungelöst blieb. Die nachfolgende Epoche war sodann im Zeichen der Konsolidierung der modernen eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit durch ein hohes Maß an Vereinheitlichung des Rechtsschutzes gegen administratives Handeln gekennzeichnet; ihren Höhepunkt erreichte diese gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Phase mit dem Erlaß der VwGO im Jahre 1960. Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist nun wiederum eine Tendenz zur sektoriellen Ausdifferenzierung zu beobachten. Derartiges „Sonderverfahrensrecht praeter codificationem“2 ist namentlich im Fachplanungs- und im Asylrecht anzutreffen. Gespeist durch vielfältige wirkliche oder vermeintliche Bedürfnisse des jeweiligen Sachbereichs, die sich indes regelmäßig auf den gemeinsamen Nenner der Verfahrensbeschleunigung bringen lassen, sind insbesondere Sonderregelungen zu Fristen 1 Nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist dagegen die Frage des Sekundärrechtsschutzes, also im Kern des vermögensrechtlichen Ausgleichs für Schäden, die durch rechtswidriges administratives Handeln entstanden sind (d. h. in gemeinschaftsrechtlicher Terminologie: die außervertragliche Haftung nach Art. 288 Abs. 2 EGV), vgl. hierzu eingehend und unter Einbeziehung des Gemeinschaftsrechts Streinz, Primär- und Sekundärrechtsschutz im Öffentlichen Recht, VVDStRL 61 (2002), S. 300 ff. 2 Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 94 ff.
20
1. Teil: Einleitung
und einstweiligem Rechtsschutz getroffen sowie materielle Präklusionsregeln eingeführt worden. Daneben stehen die durch Öffnungsklauseln der VwGO ausdrücklich ermöglichten Abweichungen vom allgemeinen Verwaltungsprozeßrecht wie etwa die Klagebefugnis von Vereinen des Natur- und Landschaftsschutzes nach § 61 Bundesnaturschutzgesetz3. Das Gemeinschaftsrecht ist dagegen traditionell in weit geringerem Maße durch eine sektorielle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes gegen administratives Handeln der EG-Eigenverwaltung4 gekennzeichnet. Dies mag zum einen daran liegen, daß das Primärrecht selbst in den Art. 220 ff. EGV sowie in der Satzung des Gerichtshofs die wesentlichen Regelungen des Rechtsschutzsystems festschreibt5. Auch enthält das Primärrecht nur wenige Öffnungsklauseln zugunsten einer sekundärrechtlichen Ausgestaltung des Rechtsschutzes. Zu nennen ist hier erstens Art. 236 EGV, der dem Gerichtshof die Entscheidung dienstrechtlicher Streitigkeiten „innerhalb der Grenzen und nach Maßgabe der Bedingungen [. . .], die im Statut der Beamten festgelegt sind“ zuweist. Damit wird der Gemeinschaftsgesetzgeber global zur Ausgestaltung des Rechtsschutzregimes für diesen Sachbereich ermächtigt6, allerdings nur soweit er auf der für das Beamtenstatut einschlägigen Rechtsgrundlage des Art. 283 EGV handelt7: Der Rechtsschutz im Bereich des Dienstrechts steht somit unter einem qualifizierten Sekundärrechtsvorbehalt. Eine weitgehend inhaltsgleiche Regelung enthält Art. 36 Abs. 2 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank8. Zweitens ist Art. 229 EGV zu nennen, der allerdings den Gemeinschaftsgesetzgeber lediglich dazu ermächtigt, den Anwendungsbereich einer bestimmten Verfahrensart („Verfahren mit unbeschränkter Ermessensnachprüfung“) sekundärrechtlich festzulegen, die ihrerseits bereits im – wenn auch ungeschriebenen – Primärrecht ausgestaltet ist9. 3 Wahl/Schütz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. § 42 Abs. 2, Rn. 228 ff. 4 Als „EG-Eigenverwaltungsrecht“ wird hier, im Anschluß an eine mittlerweile gefestigte Terminologie, das für die Verwaltungstätigkeit der EG-Organe und -Einrichtungen maßgebliche Recht, also das Recht des „direkten Vollzugs“ verstanden, in Abgrenzung zu den EG-rechtlichen Vorgaben für die Verwaltungstätigkeit der Mitgliedstaaten und zum EG-rechtlich beeinflußten Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten; vgl. Schmidt-Aßmann, in: ders./Hofmann-Riem (Hg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, S. 9 ff. (32). 5 Schmidt-Aßmann, FS f. Bernhardt, S. 1283 ff. (1296) spricht davon, daß die Art. 220 ff. EGV einen „verwaltungsprozessuale[n] Mikrokosmos im Range des primären Gemeinschaftsrechts“ enthalten. 6 Vgl. hierzu Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 68. 7 Aufgrund anderer Rechtsgrundlagen erlassene Bestimmungen können das Beamtenstatut weder – explizit – abändern noch – implizit – durchbrechen, vgl. EuG, Urt. v. 14. 12. 1995, Pfloeschner/Kommission, T-285/94, Slg. S. II-3029, Rn. 51; Urt. v. 7. 2. 2001, Bonaiti Brighina/Kommission, T-118/99, Slg. S. II-97, Rn. 47. 8 Hierzu EuG, Urt. v. 18. 2. 2004, Esch-Leonhardt u. a./Europäische Zentralbank, T320/02, Slg. ÖD S. II-79, Rn. 36 f.
§ 1 Phänomen der sektoriellen Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
21
In rechtspolitischer Perspektive mag der im Vergleich zu den nationalen Rechtsordnungen traditionell engere thematische Bereich des EG-Eigenverwaltungsrechts das Bedürfnis nach einer sektoriellen Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes in Grenzen gehalten haben. Seit den neunziger Jahren ist allerdings eine Veränderung dieser Situation zu verzeichnen. Hierzu haben materiell das Ausgreifen des EG-Eigenverwaltungsrechts in immer weitere Bereiche des „besonderen Verwaltungsrechts“10 sowie – hiermit verbunden – institutionell die sekundärrechtliche Errichtung zahlreicher neuer Gemeinschaftseinrichtungen beigetragen. Derartige Gemeinschaftseinrichtungen („Agenturen“)11 sind in der letzten Zeit – insbesondere in der deutschen Rechtswissenschaft – verstärkt zum Gegenstand des Interesses geworden12. Dabei standen Fragen des Rechtsschutzes allerdings bisher nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In historischer Perspektive lassen sich mehrere Phasen hinsichtlich der Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegen Akte von sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen unterscheiden13: In einer ersten Phase, die von der Mitte der siebziger bis zum Beginn der neunziger Jahre reichte, enthielten die Gründungsrechtsakte derartiger Gemeinschaftseinrichtungen entweder keinerlei rechtsschutzbezogene Regelungen (Europäischer Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit14, Europäische Stiftung für Berufsbildung15), oder sie folgten einem „Aufsichtsmodell“ (Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP)16, Europäische 9
Siehe unten 2. Teil, § 2 C. II. 2. a). Hierzu allgemein v. Borries, FS f. Everling, S. 127 ff. 11 Der Begriff „Agentur“ findet sich sowohl im Namen zahlreicher sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen als auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur (Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft; Schmidt-Aßmann, FS f. Häberle, S. 395 ff. (400)); er soll daher im folgenden als Synonym für derartige Gemeinschaftseinrichtungen verwendet werden. 12 Siehe aus jüngerer Zeit die Arbeiten von Berger, Vertraglich nicht vorgesehene Einrichtungen des Gemeinschaftsrechts mit eigener Rechtspersönlichkeit; Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft; Klepper, Verwaltungskompetenzen der EG aus abgeleitetem Recht; Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft; Bartodziej, Reform der EG-Wettbewebsaufsicht und Gemeinschaftsrecht; Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. An früheren Arbeiten sind zu nennen: Priebe, Entscheidungsbefugnisse vertragsfremder Einrichtungen im Europäischen Gemeinschaftsrecht; Weis, EuR 1980, S. 273 ff.; Ehlermann, EuR 1973, S. 191 ff. Auch in anderen Mitgliedstaaten findet das Thema Beachtung, vgl. Lenaerts, ELR 1993, S. 23 ff.; Greco, Rivista italiana di diritto pubblico communitario, 1997, S. 27 ff. 13 Eingehend hierzu Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. 14 VO (EWG) Nr. 907/73 des Rates v. 3. 4. 1973. Der Fonds war die erste sekundärrechtlich geschaffene Gemeinschaftseinrichtung; er wurde 1994 aufgelöst und durch das damalige Europäische Währungsinstitut als Vorläufer der EZB ersetzt. Vgl. Ehlermann, EuR 1973, S. 191 ff. und Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. (554). 15 VO (EWG) Nr. 1360/90 des Rates vom 7. 5. 1990 (ABl. 1990, L 131, S. 1). 10
22
1. Teil: Einleitung
Stiftung zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen17, Europäische Agentur für Zusammenarbeit18). Nach diesem „Aufsichtsmodell“ können Mitgliedstaaten und – von Handlungen der Gemeinschaftseinrichtung unmittelbar und individuell betroffene – private Dritte die Kontrolle der Rechtmäßigkeit dieser Handlungen durch die Kommission beantragen. Gegen die – ablehnende – Entscheidung der Kommission ist dann der allgemeine gerichtliche Rechtsbehelf der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV gegeben19. Seit Mitte der neunziger Jahre läßt sich eine zweite Phase ausmachen, die durch eine größere Heterogenität der Regelungsmodelle geprägt ist. Weiterhin gibt es einige Agenturen (Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln20, Europäische Agentur für Wiederaufbau21, Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs22, Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit23), deren Gründungsrechtsakte keinerlei rechtsschutzbezogene Regelungen enthalten. Überwiegend sind jedoch derartige Regelungen zu finden. In einigen Fällen ist das „Aufsichtsmodell“ weiterhin anzutreffen (Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz24). Hinzu treten Verweisungen auf das Primärrecht. Diese haben entweder die Form einer spezifischen „Rechtsgrundverweisung“ auf Art. 230 EGV (Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht25, Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit26) oder eines – unspezifischen – Hinweises auf die Möglichkeit, Klage beim Gerichtshof zu erheben (Europäischer Datenschutzbeauftragter27). Vor allem aber finden sich erstmals elaborierte sekundärrechtliche 16 Art. 18 der VO (EWG) Nr. 337/75 des Rates v. 10. 2. 1975 (ABl. 1975, L 39, S. 1). 17 Art. 22 der VO (EWG) Nr. 1365/75 des Rates v. 26. 5. 1975 (ABl. 1975, L 139, S. 1). 18 Art. 19 der VO (EWG) Nr. 3245/81 des Rates v. 26. 10. 1981 (ABl. 1981, L 328, S. 1). 19 Dabei wird der unterlassene Erlaß einer Entscheidung als Ablehnung des Antrags fingiert, so daß in diesem Falle die Nichtigkeitsklage und nicht die Untätigkeitsklage nach Art. 232 EGV gegeben ist. 20 VO (EWG) Nr. 2309/93 des Rates vom 22. 7. 1993 (ABl. 1993, L 214, S. 1). 21 VO (EG) Nr. 2667/00 des Rates v. 5. 12. 2000 (ABl. 2000, L 306, S. 7). 22 VO (EG) Nr. 1406/02 des Rates v. 27. 6. 2002 (ABl. 2002, L 208, S. 1). 23 VO (EG) Nr. 178/02 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28. 1. 2002 (ABl. 2002, L 31, S. 1). 24 Art. 22 der VO (EG) Nr. 2062/94 des Rates v. 18. 7. 1994 (ABl. 1994, L 216, S. 1). 25 Art. 17 der VO (EWG) Nr. 302/93 des Rates v. 8. 2. 1993 (ABl. 1993, L 36, S. 1) lautet: „Für Entscheidungen über Klagen gegen die Beobachtungsstelle ist nach Maßgabe des Artikels [230 EGV] der Gerichtshof zuständig.“ 26 Art. 15 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 1035/97 des Rates v. 2. 6. 1997 (ABl. 1997, L 151, S. 1). 27 Art. 32 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12. 1. 2001 (ABl. 2001, L 8, S. 1) lautet: „Gegen Entscheidungen des Euro-
§ 1 Phänomen der sektoriellen Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
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Sonderregelungen des Rechtsschutzes (Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt – Marken, Muster und Modelle –28, Gemeinschaftliches Sortenamt29, Europäische Agentur für Flugsicherheit30). Bisweilen werden mehrere dieser Regelungsmodelle in bezug auf den Rechtsschutz gegen unterschiedliche Arten von Akten derselben Agentur miteinander kombiniert31. Insgesamt ist der Gemeinschaftsgesetzgeber also einer wenig befriedigenden eklektizistischen Methode gefolgt. Der Grund für das Fehlen rechtsschutzbezogener Regelungen bei einigen Agenturen mag auf der Erwägung beruhen, daß deren Gründungsrechtsakt ihnen keine ausdrücklichen Zuständigkeiten zum Erlaß „rechtsschutzfähiger“ Akte i. S. v. Art. 230 und 232 EGV einräumt32. In der Tat erfüllen zahlreiche Agenturen primär Aufgaben der Informationsbeschaffung und -verbreitung („Informationsagenturen“)33 sowie der Projektförderung oder sind an der wissenschaftlichen Vorbereitung verbindlicher Entscheidungen im Rahmen komplexer Verwaltungsverfahren beteiligt34. Allerdings läßt sich hiermit nicht in befriedigender Weise erklären, daß für die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht und die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gleichwohl rechtsschutzbezogene Regelungen getroffen wurden35. Weiterhin ist es durchaus möglich, daß
päischen Datenschutzbeauftragten kann Klage beim Gerichtshof [. . .] erhoben werden.“ 28 Art. 57–63 der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. 12. 1993 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 1994, L 11, S. 1). 29 Art. 67–74 der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27. 7. 1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz (ABl. 1994, L 227, S. 1). 30 Art. 31–42 der Verordnung (EG) Nr. 1592/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 7. 2002 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Europäischen Agentur für Flugsicherheit (ABl. 2002, L 240, S. 1). 31 Dazu näher unten 2. Teil, § 1 B. 32 D. h. zum Erlaß von „Entscheidungen“, also von regulativen Handlungen, durch die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt werden, vgl. näher unten 2. Teil, § 1 A. 33 Dies gilt etwa für das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP), die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die Europäische Umweltagentur, die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz sowie die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, vgl. Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. (555). Schmidt-Aßmann, in: Ders./Hofmann-Riem (Hg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, S. 9 ff. (16) weist allerdings auf die Bedeutung der mit diesen schlichten Verwaltungstätigkeiten verbundenen Steuerungsmöglichkeiten hin. 34 So etwa die Europäische Arzneimittelagentur, hierzu Schmidt-Aßmann, FS f. Häberle, S. 395 ff. (401) sowie v. Borries, FS f. Everling, S. 127 ff. (144); aus der Rechtsprechung jüngst EuG, Urt. v. 18. 12. 2003, Fern Oliviery/Kommission und Europäische Arzneimittelagentur, T-326/99, Slg. S. II-6053, Rn. 51 ff. 35 Vgl. oben bei Fn. 24 und 25.
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1. Teil: Einleitung
einer ursprünglich nur mit schlicht faktischen Verwaltungstätigkeiten betrauten Agentur durch spätere, nach dem Gründungsrechtsakt erlassene Rechtsakte Zuständigkeiten zum Erlaß „rechtsschutzfähiger“ Akte i. S. v. Art. 230 und 232 EGV eingeräumt werden. Eine derartige Konstellation hat sich im Bereich des Zugangs der Öffentlichkeit zu Dokumenten ergeben. Zwar beziehen sich Art. 255 EGV und die zu seiner Ausführung ergangene VO 1049/200136 nur auf den Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission37. Bei der Annahme dieser Verordnung haben die drei genannten Organe jedoch eine gemeinsame Erklärung abgegeben, wonach entsprechende Regelungen auch für die „Agenturen und ähnliche[n] Einrichtungen“ erlassen werden sollen. Daraufhin sind die Gründungsrechtsakte sämtlicher sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen dahingehend ergänzt worden, daß die VO 1049/2001 auf deren Dokumente Anwendung findet. Zugleich hat es der Gemeinschaftsgesetzgeber für notwendig erachtet, für diejenigen Agenturen, deren Gründungsrechtsakt keine allgemeine Verweisung auf Art. 230 EGV enthält, eine solche Verweisung in den entsprechenden Änderungsverordnungen vorzunehmen38. Diese bezieht sich auf solche Entscheidungen der Agentur, durch die ein „Zweitantrag“ auf Zugang zu einem Dokument nach Art. 7 Abs. 4 und Art. 8 der VO 1049/2001 zurückgewiesen wird39. Das Beispiel der VO 1049/2001 zeigt im übrigen, daß sich die sektorielle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes nicht auf Akte von sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen beschränkt, sondern auch Akte der Organe i. S. v. Art. 7 EGV erfaßt. Denn die genannte VO sieht in ihren Art. 7 36 VO (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30. 5. 2001, ABl. 2001, L 145, S. 43 ff. 37 Eingehend hierzu Wägenbaur, EuZW 2001, S. 680 ff. 38 Dem lag offensichtlich die Annahme zugrunde, daß Art. 230 EGV ohne eine solche Verweisung nicht anwendbar wäre. Wie noch zu zeigen sein wird (vgl. unten 2. Teil, § 1 A. III.), ist diese Annahme allerdings unzutreffend. 39 Es handelt sich um eine Reihe von Verordnungen vom 18. 6. 2003 (Abl. 2003, L 245), durch die die Gründungsverordnungen der Europäischen Umweltagentur (VO (EG) Nr. 1641/2002), der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (VO (EG) Nr. 1642/2002), der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (VO (EG) Nr. 1643/ 2002), der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (VO (EG) Nr. 1644/2002), der Europäischen Agentur für Wiederaufbau (VO (EG) Nr. 1646/ 2002), der Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln (VO (EG) Nr. 1647/2002), der Europäischen Stiftung für Berufsbildung (VO (EG) Nr. 1648/ 2002), der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen (VO (EG) Nr. 1649/2002), der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (VO (EG) Nr. 1651/2002), der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (VO (EG) Nr. 1652/2002), des Gemeinschaftlichen Sortenamtes (VO (EG) Nr. 1650/2002), des Harmonisierungsamtes für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (VO (EG) Nr. 1653/2002), der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (VO (EG) Nr. 1654/2002) und des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (VO (EG) Nr. 1655/ 2002) entsprechend geändert worden sind.
§ 2 Sektorielle Ausdifferenzierungen im System des Rechtsschutzes
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Abs. 4 und Art. 8 vor, daß im Falle der Ablehnung oder Nichtbescheidung eines (Erst-)Antrags auf Zugang zu einem Dokument ein „Zweitantrag“ an das Organ, das den Zugang zu einem Dokument verweigert hat, gerichtet werden kann. Systematisch ist ein derartiger Zweitantrag aber als Rechtsbehelf zu qualifizieren40. Darüber hinaus enthält Art. 8 Abs. 3 der VO 1049/2001 eine – allerdings nicht auf Art. 230 EGV spezifizierte – „Rechtsgrundverweisung“ auf das Primärrecht41. Im Rahmen der weiteren Verfassungsentwicklung der Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union sind schließlich die Arbeiten des Verfassungskonvents zu nennen, die auf eine ausdrückliche primärrechtliche Rückbindung des Rechtsschutzes gegen Akte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen abzielen. Art. III-270 des von diesem erarbeiteten „Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa“42, der im Falle eines Inkrafttretens des Verfassungsvertrags Art. 230 EGV ersetzen soll, erstreckt in Abs. 1 S. 2 die Rechtsschutzzone43 der Nichtigkeitsklage auf „Handlungen von Einrichtungen, Ämtern und Agenturen der Union mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten“44. Weiterhin sieht Art. III-270 Abs. 5 des Entwurfs ausdrücklich vor, daß „in einem Rechtsakt zur Gründung von Einrichtungen, Ämtern und Agenturen der Union [. . .] besondere Bedingungen und Modalitäten für den Rechtsschutz von natürlichen und juristischen Personen gegen die mit Rechtswirkungen verbundenen Handlungen dieser Einrichtungen, Ämter und Agenturen vorgesehen werden [können]“.
§ 2 Sektorielle Ausdifferenzierungen im System des Rechtsschutzes A. Ausgangspunkt: Rechtsschutzentscheidungen Konzeptioneller Ansatzpunkt für die Analyse der sektoriellen Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes ist der Begriff der „Rechtsschutzentscheidung“. Die Untersuchung einer „fremden“ Rechtsordnung – und das ist das Gemeinschafts40
Zum Begriff des Rechtsbehelfs vgl. unten § 2 A. (bei Fn. 53). Die Vorschrift lautet: „Antwortet das Organ nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist, gilt dies als abschlägiger Bescheid und berechtigt den Antragsteller, nach den einschlägigen Bestimmungen des EG-Vertrags Klage gegen das Organ zu erheben [. . .].“ 42 Abl. 2003, C. 169, S. 1. 43 Zu diesem Begriff vgl. unten § 2 B. I. 2. 44 Folgerichtig trifft Art. III-272 Abs. 3 eine entsprechende Regelung für die Untätigkeitsklage; ferner bezieht Art. III-273 die sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen in die Regelung über die aus einem Urteil des Gerichtshofs folgenden Verpflichtungen ein. 41
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recht zwar nicht in einem normativen, wohl aber in einem methodischen Sinne gegenüber dem deutschen Recht – gilt es frei zu halten von normativen Vorverständnissen, die durch die eigene Rechtsordnung geprägt sind. Dies betrifft nicht nur die Darstellung des positiven Rechtsstoffes sondern bereits die dieser zugrundeliegende Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands. Erforderlich ist somit eine Gegenstandskonstitution anhand möglichst neutraler Systembegriffe45. Daher bedarf der Begriff „Rechtsschutz“, wie er im Titel der vorliegenden Arbeit verwendet wird, besonderer Beachtung, evoziert er doch das für das deutsche Recht maßgebliche normative Konzept des Schutzes subjektiver Rechte46. Im vorliegenden Zusammenhang soll der Begriff der Rechtsschutzentscheidung daher als „neutraler“ Systembegriff in dem Sinne definiert werden, daß er alle Arten von – regulativen – Hoheitsakten umfaßt, die folgenden Kriterien genügen: (1) Ihrem Inhalt nach ist eine Rechtsschutzentscheidung eine Sanktionsentscheidung47 in bezug auf ein Verhalten eines Hoheitsträgers, das in der erfolgten oder unterlassenen Vornahme eines anderen – regulativen oder nicht regulativen – Hoheitsakts besteht (Ausgangsverhalten)48. (2) Eine Sanktionsentscheidung ist nur dann eine Rechtsschutzentscheidung, wenn sie in Anwendung einer Rechtsnorm erlassen wird, zu deren materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen die Rechtswidrigkeit i. w. S.49 des Ausgangsverhaltens zählt (Sanktionskriterium)50. Um eine notwendige Bedingung muß es sich dabei allerdings nicht handeln. Vielmehr ist es auch möglich, daß die bloße „Unzweckmäßigkeit“ des Ausgangsverhaltens – neben dessen Rechtswidrigkeit i. w. S. – für die Sanktionsentscheidung als alternatives Sanktionskriterium maßgeblich ist51. Auch eine Sanktionsentscheidung, die im konkreten Fall in bezug auf ein nicht i. w. S. rechtswidriges Ausgangsverhalten ergeht, kann daher eine Rechtsschutzentscheidung darstellen52. Die Rechtswidrigkeit i. w. S. des Aus45 Zu den methodischen Fragen einer „Strukturierung der Rechtsvergleichung“ Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, S. 30 ff. 46 Umfassend hierzu jüngst Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einleitung, Rn. 18 ff.; zu einer möglichen Relativierung der rechtsschutzeröffnenden Bedeutung des subjektiven Rechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts Hölscheidt, EuR 2001, S. 376 ff. 47 Zu den konkreten Ausprägungen des Inhalts einer Rechtsschutzentscheidung unten B. I. 6. 48 Für den praktisch häufigsten Fall der erfolgten Vornahme eines regulativen Hoheitsakts soll dieser als Ausgangsentscheidung bezeichnet werden. 49 Zu den verschiedenen Ausprägungen des Sanktionskriteriums der Rechtswidrigkeit näher unten 4. Teil, § 2. 50 Näher zu diesem Begriff s. unten B. II. 51 Dazu näher unten 2. Teil, § 2 C. III. 2. a) (bei Fn. 154 f.). 52 Am Beispiel: Hebt die Widerspruchsbehörde einen rechtmäßigen aber von ihr als unzweckmäßig erachteten Verwaltungsakt auf, so handelt es sich dabei ebenfalls um eine Rechtsschutzentscheidung.
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gangsverhaltens ist aber stets eine hinreichende Bedingung für die materielle Rechtmäßigkeit der Sanktionsentscheidung; in diesem Sinne läßt sich ein Verfahren, dessen potentieller Ausgang in dem Erlaß einer Rechtsschutzentscheidung besteht (Rechtsschutzverfahren) auch als Verfahren der Rechtskontrolle in bezug auf die erfolgte oder unterlassene Vornahme eines anderen Hoheitsakts definieren. (3) Das Rechtsschutzverfahren wird durch einen Rechtsschutzantrag initiiert, der in der üblichen dogmatischen Terminologie als „Rechtsbehelf“ bezeichnet wird53. Anders gewendet ist also eine Sanktionsentscheidung nur dann eine Rechtsschutzentscheidung, wenn eine ihrer verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeitsbedingungen darin besteht, daß ihr Inhalt mit demjenigen des verfahrensinitiierenden Antrags – also des Rechtsbehelfs – übereinstimmt oder mindestens darin enthalten ist. Die Geltung der Dispositionsmaxime54 zählt somit zu den essentialia des Begriffs der Rechtsschutzentscheidung in dem hier zugrunde gelegten Sinne. (4) Die Rechtswirkungen einer Rechtsschutzentscheidung müssen notwendigerweise – und nicht nur akzidentiell – mindestens auch darin bestehen, daß sie die Privatinteressen des Verfahrensinitiators positiv berühren. Dies ist dann der Fall, wenn die Rechtsschutzentscheidung unmittelbar oder mittelbar55 eine dem Verfahrensinitiator günstige Zustandsveränderung bewirkt oder umgekehrt eine ihm ungünstige Zustandsveränderung verhindert56. Welche Qualität eine Zustandsveränderung aufweisen muß, um als solche normativ relevant zu sein, unterliegt mannigfacher positiver gesetzes- oder richterrechtlicher Ausgestaltung57. Zwei Konstellationen sind zu unterscheiden, in denen eine Rechtsschutzentscheidung eine dem Verfahrensinitiator günstige Zustandsveränderung bewirkt: (a) Sie beseitigt die Wirkungen eines den Verfahrensinitiator „belastenden“ Hoheitsakts, also eines Hoheitsakts, der seinerseits eine diesem ungünstige Zu53 Hierzu am Beispiel des deutschen Verwaltungsprozeßrechts Meissner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 58, Rn. 13– 17. 54 Hierzu allgemein Ortloff, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Vorb. zu § 81, Rn. 34; Lüke, Zivilprozeßrecht, Rn. 5–12. 55 Unmittelbar wirkt z. B. die gerichtliche Aufhebung einer belastenden Verwaltungsentscheidung im Rahmen einer Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 i.V. m. § 113 Abs. 1 VwGO) oder einer Nichtigkeitsklage (Art. 230 f. EGV). Lediglich mittelbar wirkt dagegen z. B. ein Verpflichtungsurteil nach § 42 i.V. m. § 113 Abs. 5 VwGO oder ein Feststellungsurteil nach Art. 232 EGV, denn die Herbeiführung einer dem Kläger günstigen Zustandsveränderung (nämlich: der Erlaß der begehrten Verwaltungsentscheidung) bedarf noch eines weiteren, zu der Rechtsschutzentscheidung hinzutretenden Hoheitsakts. 56 Diese Konstellation verwirklicht sich lediglich bei vorbeugenden Rechtsschutzentscheidungen. 57 Dazu unten vor u. nach Fn. 60.
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standsveränderung bewirkt hat. In einer subjektiv-rechtlich geprägten Terminologie dient die Rechtsschutzentscheidung also dem Schutz eines Abwehrrechts bzw. eines „Rechts auf negative Handlungen“58. (b) Sie bewirkt die Vornahme eines den Verfahrensinitiator „begünstigenden“ Hoheitsakts, also eines Hoheitsakts, der seinerseits eine diesem günstige Zustandsveränderung herbeiführt. Hier dient die Rechtsschutzentscheidung dem Schutz eines „Rechts auf positive Handlungen“59. Die Herbeiführung bzw. Verhinderung einer normativ relevanten Zustandsveränderung läßt sich auch als das substantielle Verfahrensziel des Verfahrensinitiators bezeichnen. Von diesem substantiellen Verfahrensziel zu unterscheiden ist der potentielle Verfahrensausgang: Dieser besteht – als Inbegriff der möglichen Inhalte einer das Rechtsschutzverfahren beendenden Entscheidung – entweder im Erlaß der beantragten Rechtsschutzmaßnahme oder aber in der Abweisung des Rechtsschutzantrags. Typologisch sind die potentiell normativ relevanten Zustandsveränderungen ihrer normativen Intensität nach in einer Skala darstellbar, die von der Veränderung der rechtlichen Situation des Verfahrensinitiators60 über die Veränderung einer rechtlich in spezifischer Weise geschützten faktischen Situation61 bis zur Veränderung einer rein faktischen Situation62 reicht. Die deutsche verwaltungsprozessuale Terminologie benennt die ersten beiden dieser Konstellationen mit dem Begriff der Verletzung eines subjektiven Rechts. Da ein subjektives Recht aber nichts anderes als ein rechtlich geschütztes Interesse darstellt, besteht kein Gegensatz zwischen solchen Verfahren, die subjektive Rechte schützen und solchen, die lediglich Interessen schützen. Vielmehr bilden erstere eine Teilmenge der letzteren. Daher ist eine Sanktionsentscheidung in bezug auf ein bestimmtes Ausgangsverhalten auch dann eine Rechtsschutzentscheidung im Sinne der hier zugrunde gelegten Definition, wenn sie aufgrund eines Verfahrens ergeht, das
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Eingehend hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174 ff. Hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 179 ff. 60 In Gestalt der Auferlegung eines Handlungsge- oder Verbots bzw. der Verminderung eines privat- oder öffentlich-rechtlichen „positiven“ Status. 61 Dies ist das Anwendungsfeld der „Schutznormlehre“ für den Bereich des Drittschutzes, vgl. hierzu eingehend Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 20 f. sowie Wahl, ebd., Vorb. zu § 42 Abs. 2, Rn. 94 ff. 62 Dies gilt beispielsweise für die Nichtigkeitsklage des französischen Verwaltungsprozeßrechts; hierzu zusammenfassend Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Vorb. zu § 42 Abs. 2, Rn. 20. Zum Konzept des „procès fait à un acte“ vgl. auch Chapus, Droit du contentieux administratif, Rn. 244 ff.; s. a. Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 329 ff.; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 57 f. 59
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auch von demjenigen initiiert werden kann, dessen rein faktische Situation durch die Ausgangsentscheidung nachteilig verändert wird. Das Erfordernis, daß die Rechtsschutzentscheidung notwendigerweise – und nicht nur akzidentiell – eine dem Verfahrensinitiator günstige Zustandsveränderung herbeiführen bzw. eine ihm ungünstige Zustandsveränderung verhindern muß, wird dadurch rechtlich operationalisiert, daß zwischen dem Verfahrensinitiator und der beantragten Rechtsschutzentscheidung – bzw. deren Gegenstand – eine qualifizierte Beziehung bestehen muß. Diese qualifizierte Beziehung erhält dogmatisch die Gestalt einer „Initiativberechtigung“63 als einer „parteibezogenen“ Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsschutzantrags. Dessen normativ relevanter Inhalt ist somit nicht nur gegenständlich auf den konkreten Inhalt der beantragten Rechtsschutzmaßnahme bezogen sondern darüber hinaus final auf deren Rechtswirkungen, d. h. auf die Herbeiführung bzw. Verhinderung einer normativ relevanten Zustandsveränderung64.
B. Dimensionen des Rechtsschutzes Innerhalb eines Rechtsschutzregimes, also innerhalb der Gesamtheit der für den Erlaß einer Rechtsschutzentscheidung eines bestimmten Typs entscheidungserheblichen Rechtsnormen (Rechtsschutznormen), kann zwischen einer strukturellen und einer substantiellen Dimension unterschieden werden. Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes können beide Dimensionen betreffen. I. Struktur des Rechtsschutzregimes Die Struktur des Rechtsschutzregimes läßt sich näherungsweise kennzeichnen als der Inbegriff der für eine Rechtsschutzentscheidung eines bestimmten Typs maßgeblichen organisations- und verfahrensbezogenen Rechtsnormen. In der üblichen dogmatischen Terminologie werden diese strukturellen Rechtsnormen allerdings nicht auf eine bestimmte Rechtsschutzentscheidung bezogen sondern auf einen bestimmten Rechtsbehelf, wie etwa die verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage. Im einzelnen lassen sich folgende Strukturelemente eines Rechtsschutzregimes identifizieren: 63 So die Formulierung von Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Vorb. zu § 42 Abs. 2, Rn. 17 ff. Der Begriff wird in der vorliegenden Untersuchung als zusammenfassende Bezeichnung für die parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage- bzw. Antragsbefugnis und des Rechtsschutz- bzw. Sachbescheidungsbedürfnisses verwendet, vgl. unten B. I. 3. b). 64 Hieraus folgt, daß die Zurückweisung eines Rechtsbehelfs selbst keine Rechtsschutzentscheidung darstellt, weshalb die Tatsache, daß eine derartige Entscheidung nicht mit dem Inhalt des Rechtsbehelfs übereinstimmt, der Geltung der Dispositionsmaxime keinen Abbruch tut.
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1. Rechtsschutzinstanz Erstes Strukturelement eines Rechtsschutzregimes ist die Bestimmung der für den Erlaß der Rechtsschutzentscheidung zuständigen Stelle (Rechtsschutzinstanz). Insofern ist in institutioneller und in funktioneller Hinsicht zu differenzieren. a) Institutionelle Differenzierungen: Gerichtliche und administrative Rechtsschutzinstanzen Eine gewissermaßen abstrakte Unterscheidung ist diejenige zwischen gerichtlichen und administrativen Rechtsschutzinstanzen. Es liegt nahe, bereits diese rechtssystematische Klassifikation anhand der Merkmale des im jeweiligen Kontext maßgeblichen normativen Gerichtsbegriffs vorzunehmen. Im Gemeinschaftsrecht ist der Gerichtsbegriff im Rahmen von Art. 6 EMRK einerseits65 und von Art. 234 EGV andererseits rechtserheblich; er ist im Kontext beider Vorschriften materiell ausgerichtet: So ist nach Art. 6 EMRK jede Instanz als Gericht zu qualifizieren, die auf der Grundlage von Rechtsvorschriften und nach Durchführung eines geregelten Verfahrens verbindliche Entscheidungen zu treffen befugt ist. Die formal-organisatorische Zuordnung der Instanz zur Exekutive ist dabei ebenso unschädlich wie die Mitwirkung von Beamten66. Art. 234 EGV ermöglicht nur Gerichten der Mitgliedstaaten, dem EuGH Fragen in bezug auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts oder die Gültigkeit eines Sekundärrechtsaktes vorzulegen. Die Merkmale dieses Gerichtsbegriffs sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH eine gesetzliche Grundlage und die Unabhängigkeit der Entscheidungsinstanz, ihr ständiger Charakter, die Ausübung obligatorischer Gerichtsbarkeit, ein streitiges Verfahren sowie die Anwendung von Rechtsnormen67. Die organisatorische Einbindung der Entscheidungsinstanz in eine Exekutivbehörde bedeutet nicht, daß ihr bereits deshalb 65 Nach Art. 6 Abs. 2 EUV achtet die Union „die Grundrechte, wie sie in der [EMRK] gewährleistet sind [. . .]“. Auch hat der EuGH beispielsweise den Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, wonach den Rechtsunterworfenen ein Recht auf effektiven und vollständigen gerichtlichen Schutz der in der Gemeinschaftsrechtsordnung begründeten Rechte zusteht, u. a. aus Art. 6 und 13 der EMRK hergeleitet, vgl. EuGH, Urt. v. 15. 5. 1986, Johnston, Rs. 222/84, Slg. 1651, Rn. 18. 66 Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 137 f. unter Hinweis auf EGMR, Urt. v. 27. 10. 1984 (Sramek), EuGRZ 1985, S. 336 (339). 67 Vgl. EuGH, Urt. v. 29. 11. 2001, François De Coster, C-17/00, Slg. S. I- 9445, Rn. 10; Urt. v. 21. 3. 2000, Gabalfrisa u. a., C-110/98 bis C-147/98, Slg. S. I-1577, Rnr. 33; Urt. v. 17. 9. 1997, Dorsch Consult, C-54/96, Slg. S. I-4961, Rn. 23; aus der jüngeren Literatur Anagnostaras, Georgios, European Law Review 2005, S. 878 ff.
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die erforderliche Unabhängigkeit i. S. v. Art. 234 EGV fehlte. Vielmehr scheint das Unabhängigkeitskriterium für den EuGH bereits dann erfüllt zu sein, wenn die Mitglieder der Entscheidungsinstanz erstens von einer anderen Stelle ernannt werden als derjenigen, deren Handlungen sie zu kontrollieren haben68, und zweitens bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben eine funktionelle Unabhängigkeit genießen69. Über diese von der Rechtsprechung ausdrücklich anerkannten Abgrenzungskriterien hinaus lassen sich als Hilfskriterien für den gerichtlichen Charakter einer Rechtsschutzinstanz noch das Erfordernis der Professionalität – d. h. im Regelfall der Rechtskundigkeit – der Organwalter sowie das Fehlen ihrer politischen Verantwortlichkeit ausmachen. b) Funktionelle Differenzierungen: Devolutive und nicht devolutive Rechtsschutzverfahren In konkreter Hinsicht, also in bezug auf einen bestimmten Rechtsschutzgegenstand ist die Unterscheidung zwischen devolutiven und nicht devolutiven Rechtsschutzverfahren von Bedeutung70. Bei den nicht devolutiven Rechtsschutzverfahren wird diejenige Instanz, der das den Rechtsschutzgegenstand bildende Ausgangsverhalten zuzurechnen ist (Ausgangsinstanz), auch als Rechtsschutzinstanz tätig. Devolutive Rechtsschutzverfahren sind dagegen dadurch gekennzeichnet, daß unterschiedliche Stellen als Ausgangs- und als Rechtsschutzinstanz tätig werden; diese können allerdings organisatorisch miteinander verbunden sein und insbesondere derselben juristischen Person angehören. Auch Rechtsschutzverfahren im Rahmen einer administrativen „Selbstkontrolle“, bei denen eine der Ausgangsinstanz hierarchisch übergeordnete Instanz als Rechtsschutzinstanz fungiert, sind demnach als devolutiv zu qualifizieren. Andererseits gehören zu den nicht devolutiven Rechtsschutzverfahren auch solche, bei denen Ausgangs- und Rechtsschutzinstanz zwar nicht identisch sind, jedoch in einer gemeinsamen Weisungsabhängigkeit zu einer dritten Instanz stehen; diese Kon68 EuGH, Urt. v. 29. 11. 2001, François De Coster, C-17/00, Slg. S. I-9445, Rn. 18: Das „Collège juridictionnel de la Région de Bruxelles-Capitale“ ist Gericht i. S. v. Art. 234 EGV, da seine Mitglieder vom Rat der Region Brüssel-Hauptstadt und nicht von den kommunalen Stellen ernannt werden, deren Entscheidungen im Bereich des Abgabenwesens das Collège zu überprüfen hat. 69 So EuGH, Urt. v. 17. 9. 1997, Dorsch Consult, C-54/96, Slg. S. I-4961, Rn. 35 f., zum Vergabeüberwachungsausschuß des Bundes nach § 57c Absatz 7 HGrG, der in die Organisationsstruktur des Bundeskartellamts eingebunden ist, das selbst der Aufsicht des Bundesministers für Wirtschaft untersteht; vgl. hierzu auch Bender in: Ekey/ Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 130 f. GMV, Rn 10. 70 Terminologisch wird diese Unterscheidung üblicherweise allerdings weniger auf ein Rechtsschutzverfahren als solches sondern eher auf einen Rechtsbehelfe – als den ein Rechtsschutzverfahren initiierenden Antrag – bezogen; vgl. etwa Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 216; Lüke, Zivilprozeßrecht, Rn. 380.
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stellation läßt sich auch als „unechter Devolutiveffekt“ kennzeichnen. Möglich sind auch kombinierte Rechtsbehelfe, bei denen erst dann, wenn die Ausgangsinstanz dem Rechtsschutzantrag nicht stattgibt71, die Zuständigkeit einer gesonderten Rechtsschutzinstanz eröffnet wird72. 2. Rechtsschutzgegenstand Zu den Strukturelementen eines Rechtsschutzregimes gehört weiterhin die Bestimmung des Rechtsschutzgegenstandes. Es geht dabei um die Zuordnung eines bestimmten Ausgangsverhaltens zu einer Rechtsschutzentscheidung eines bestimmten Typs. Das abstrakt typisierte Ausgangsverhalten, das durch eine bestimmte Rechtsschutzentscheidung sanktioniert wird, das also zulässigerweise zu deren Gegenstand – bzw. zum Gegenstand des auf deren Erlaß abzielenden Rechtsschutzverfahrens – gemacht werden kann, läßt sich auch als die Rechtsschutzzone der betreffenden Rechtsschutzentscheidung bezeichnen. 3. Initiierung des Rechtsschutzverfahrens – Typen parteibezogener Zulässigkeitsvoraussetzungen: Aktive Parteifähigkeit, Klagebefugnis und Rechtsschutzbedürfnis als Systembegriffe Eine Sanktionsentscheidung ist nur dann eine Rechtsschutzentscheidung, wenn eine ihrer verfahrenrechtlichen Rechtmäßigkeitsbedingungen darin besteht, daß ihr Inhalt mit demjenigen des verfahrensinitiierenden Antrags – also des Rechtsbehelfs – übereinstimmen oder mindestens darin enthalten sein muß73. Ein zentrales Strukturelement des Rechtsschutzes sind daher die Regelungen über die wirksame Initiierung des Rechtsschutzverfahrens. Der Begriff der Zulässigkeit soll dabei für das Vorliegen derjenigen Rechtmäßigkeitsbedingungen für den Erlaß einer Rechtsschutzentscheidung stehen, die sich auf den Rechtsschutzantrag beziehen. Parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzungen knüpfen an die Person des Initiators des Rechtsschutzverfahrens an. Bei normstruktureller Betrachtung und unabhängig von der inhaltlichen Ausgestaltung in einer konkreten Rechtsordnung lassen sich aktive Parteifähigkeit, Klagebefugnis und Rechtsschutzbedürfnis als drei Typen parteibezogener Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsbehelfs unterscheiden. 71
D. h. wenn sie dem Rechtsbehelf nicht „abhilft“. Eine derartige „Fehlerbeseitigung durch Selbstkontrolle“ kommt sowohl in bezug auf behördliche wie auf gerichtliche Ausgangsentscheidungen in Betracht. Ein Beispiel für ersteres stellt der Widerspruch nach §§ 68 ff. VwGO dar, ein Beispiel für letzteres die Beschwerde nach § 572 [n. F.] ZPO; vgl. hierzu Zöller/Gummer, ZPO, § 572 [n. F.], Rn. 1. 73 Vgl. oben § 2 A. 72
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Der Begriff der aktiven Parteifähigkeit wird in der allgemeinen Verfahrensrechtslehre geläufigerweise definiert als die Fähigkeit, im eigenen Namen zu klagen74. Im Sinne der hier verwendeten Terminologie wäre richtigerweise von der Initiativfähigkeit zu sprechen: Es geht um die Fähigkeit der als Initiator eines Rechtsschutzverfahrens auftretenden Entität75, diese Parteirolle wirksam einnehmen zu können. Diese parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzung wird abstrakt, d. h. losgelöst von der in einem anhängigen Rechtsschutzverfahren beantragten Rechtsschutzentscheidung oder deren Gegenstand bestimmt. Demgegenüber wird die Initiativberechtigung – verstanden als Gesamtbezeichnung für die Klagebefugnis und das Rechtsschutzbedürfnis – konkret, d. h. in Abhängigkeit von der in einem anhängigen Rechtsschutzverfahren beantragten Rechtsschutzentscheidung oder deren Gegenstand bestimmt. Als Klagebefugnis soll die Gesamtheit der Zulässigkeitsvoraussetzungen bezeichnet werden, die in einer Relation zwischen dem Kläger und dem Ausgangsverhalten – d. h. dem Rechtsschutzgegenstand76 – bestehen. In der deutschen Prozeßrechtslehre wird z. T. die Beteiligung an dem durch den Erlaß der Ausgangsentscheidung beendeten Verfahren als eine eigenständige parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzung angesehen; hierfür wird der Terminus der Berechtigung zur Einlegung eines Rechtsbehelfs – insbesondere eines Rechtsmittels – verwendet77. Nach der hier zugrundegelegten Definition gehört die Beteiligung an diesem Verfahren jedoch zur Klagebefugnis. Allerdings besteht in diesem Falle die maßgebliche Relation nicht zwischen dem Kläger und dem Inhalt der Ausgangsentscheidung sondern zwischen dem Kläger und dem auf dessen Erlaß abzielenden Verfahren. Das Rechtsschutzbedürfnis schließlich steht für die Gesamtheit der Zulässigkeitsvoraussetzungen, die in einer Relation zwischen dem Kläger und der beantragten Rechtsschutzentscheidung selbst bestehen. Wird das Rechtsschutzbedürfnis in diesem Sinne als abreviatorische Bezeichnung einer Klasse von bestimmten Zulässigkeitsvoraussetzungen begriffen, die jeweils spezifisch durch den Gesetzgeber anzuordnen oder richterrechtlich zu begründen sind, dann relativiert sich auch die Gefahr, daß in exzessiver und undifferenzierter Weise auf diese parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzung rekurriert wird78. 74
Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 246. Dieser neutrale Systembegriff wird hier gebraucht, da es um die Definition des Systembegriffs der aktiven Parteifähigkeit geht, die unabhängig von den konkreten Anforderungen einer positiven Rechtsordnung ist. Letztere identifizieren als geeignete „Entitäten“ i. d. R. natürliche und juristische Personen sowie Personenmehrheiten, deren interne Beziehungen in unterschiedlichem Grad rechtlich verfestigt sein können. 76 Vgl. oben 2. 77 In diesem Sinne wird z. B. – unter enger Anknüpfung an den Parteibegriff – der Begriff der Berufungsberechtigung verwendet, vgl. Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, § 511 [a. F.], Rn. 7 f. 75
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1. Teil: Einleitung
Allerdings ist die Eigenständigkeit des Systembegriffs der Klagebefugnis gegenüber demjenigen des Rechtsschutzbedürfnisses lediglich eine Frage der terminologischen Zweckmäßigkeit. Denn die begehrte Rechtsschutzentscheidung bezieht sich inhaltlich notwendig auf das ihren Gegenstand bildende Ausgangsverhalten. Daher lassen sich sämtliche Elemente der Klagebefugnis auch als solche des Rechtsschutzbedürfnisses qualifizieren; in umgekehrter Richtung gilt dies jedoch nicht. 4. Rechtswirkungen des Rechtsschutzantrags Zu den Strukturelementen eines Rechtsschutzregimes gehören auch die Rechtswirkungen, die bereits der bloße Rechtsschutzantrag entfaltet. Eine derartige – wenn auch in der Regel vorläufige – Rechtswirkung kann insbesondere einem Rechtsschutzantrag zukommen, der sich gegen einen regulativen Hoheitsakt richtet, nämlich insbesondere diejenige, die Rechtswirkungen dieses Hoheitsakts zu suspendieren. 5. Beteiligung am Rechtsschutzverfahren – Insbesondere: Instantielle Verfahren und Parteiverfahren In Übereinstimmung mit der üblichen dogmatischen Terminologie soll unter einem Verfahrensbeteiligten eine Entität79 verstanden werden, der eigene prozessuale Rechte zustehen80, also Rechte gegenüber der Rechtsschutzinstanz, die auf die Vornahme oder Unterlassung bestimmter Verfahrenshandlungen gerichtet sind. Dieser Begriff wird hier in einem allgemeinen Sinne gebraucht, unabhängig von der administrativen oder gerichtlichen Natur der Rechtsschutzinstanz; er bezeichnet daher sowohl die „Beteiligten“ eines Verwaltungsverfahrens als auch die „Parteien“ eines gerichtlichen Verfahrens. Der Initiator des Rechtsschutzverfahrens ist notwendigerweise an diesem beteiligt. Daneben sehen die Rechtsordnungen vielfach die Beteiligung anderer Entitäten an einem Rechtsschutzverfahren vor. Dies können zum einen private Dritte sein und zum anderen die Ausgangsinstanz bzw. deren Rechtsträger. Von 78 Kritisch zu einer umfassenden Sachurteilsvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses Schumann, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, vor § 253, Rn. 102 ff. sowie Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 390 ff. 79 Wiederum wird dieser neutrale Systembegriff hier gebraucht, da es auf die konkreten Anforderungen einer positiven Rechtsordnung an die Qualität einer Entität (Beteiligtenfähigkeit) nicht ankommt. Die positiven Rechtsordnungen identifizieren als geeignete „Entitäten“ i. d. R. natürliche und juristische Personen sowie Personenmehrheiten deren interne Beziehungen in unterschiedlichem Grad rechtlich verfestigt sein können. 80 Vgl. nur Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 63, Rn. 2.
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Bedeutung ist in diesem Zusammenhang – innerhalb der devolutiven Rechtsschutzverfahren81 – die Unterscheidung zwischen Parteiverfahren und instantiellen Verfahren. Parteiverfahren sind dadurch gekennzeichnet, daß die Ausgangsinstanz bzw. deren Rechtsträger am Verfahren beteiligt und als „Hauptpartei“ mit jedenfalls prinzipiell gleichen prozessualen Rechten wie der Initiator des Verfahrens ausgestattet ist. Der Ausgangsinstanz bzw. deren Rechtsträger kommt somit die Parteirolle eines „Beklagten“ zu, was in der üblichen Formulierung zum Ausdruck kommt, daß der Rechtsschutzantrag – die Klage – „gegen die Ausgangsinstanz“ bzw. deren Rechtsträger gerichtet wird. Daneben sehen die Rechtsordnungen häufig vor, daß diejenigen – ggf. mehreren – privaten Dritten, die am Ausgangsverfahren neben dem Initiator des Rechtsschutzverfahrens beteiligt waren, an dem Rechtsschutzverfahren als „Nebenparteien“82 ex lege oder kraft Zulassung beteiligt sind. Dagegen ist an einem instantiellen Verfahren die Ausgangsinstanz bzw. deren Rechtsträger nicht beteiligt. Ein derartiges Rechtsschutzverfahren ist also dem Grundsatz nach ein objektives Beanstandungsverfahren in bezug auf das Ausgangsverhalten83. Allerdings sehen Prozeßrechtsnormen häufig vor, daß die am Ausgangsverfahren beteiligten privaten Dritten auch Beteiligte des Rechtsschutzverfahrens sind und zwar mit jedenfalls prinzipiell den gleichen prozessualen Rechten wie der Initiator des Verfahrens. Weiterhin bildet überhaupt die Beteiligtenstellung im Ausgangsverfahren i. d. R. ein Element der Initiativberechtigung84. In der Rechtswirklichkeit kommen instantielle Verfahren insbesondere dann vor, wenn Ausgangs- und Rechtsschutzinstanz dieselbe – administrative oder jurisdiktionelle – Rechtsnatur haben. Dies gilt etwa im deutschen Prozeßrecht für das Widerspruchsverfahren nach der VwGO als intra-administratives sowie für die gerichtlichen Rechtsmittelverfahren als intra-jurisdiktionelle Rechtsschutzverfahren. Parteiverfahren finden sich dagegen namentlich bei der gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen, so insbesondere im Falle der verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage. Allerdings gilt dies nicht ausnahmslos: Insbesondere dann, wenn das einer administrativen Entscheidung zugrunde liegende Verfahren justizförmig oder jedenfalls justizähnlich ausgestaltet ist, ist die gerichtliche Kontrolle nicht selten als instantielles Verfahren ausge81
Vgl. oben 1. b). D. h. als Streithelfer, Beigeladene o. ä. 83 Damit ist allerdings noch nichts über die übrigen Elemente der Initiativberechtigung gesagt; die insofern erforderliche Qualität der Beziehungen zwischen dem Initiator des Rechtsschutzverfahrens und dem Rechtsschutzgegenstand kann durchaus subjektiv-rechtlicher Art sein. 84 Als Element der Klagebefugnis, vgl. oben 3. b). 82
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1. Teil: Einleitung
staltet: Im deutschen Prozeßrecht gilt dies etwa für die Beschwerde gegen Entscheidungen des Deutschen Patent- und Markenamtes nach § 66 MarkenG bzw. nach § 73 PatentG85 sowie – in abgeschwächter Form – für die kartellverwaltungsrechtliche Beschwerde nach §§ 62 ff. GWB86. Der gleichen oder jedenfalls ähnlichen Rechtsnatur von Ausgangs- und Rechtsschutzinstanz entspricht es, daß letztere typischer-, wenn auch nicht notwendigerweise die Befugnis hat, die Ausgangsentscheidung nicht nur aufzuheben sondern auch abzuändern. 6. Inhalt und Rechtswirkungen einer Rechtsschutzentscheidung Der Inhalt einer Rechtsschutzentscheidung (Rechtsschutzinhalt) ist der normative Modus, in dem diese das den Rechtsschutzgegenstand bildende Ausgangsverhalten sanktioniert. Dieser normative Modus hängt von der Natur des jeweiligen Ausgangsverhaltens ab: – Die erfolgte Vornahme eines Hoheitsakts wird dadurch sanktioniert, daß dessen Wirkungen durch die Rechtsschutzentscheidung entweder direkt oder indirekt beseitigt werden. Eine direkte Beseitigung der Wirkungen ist nur in bezug auf einen regulativen Hoheitsakt möglich, und zwar in der Form der „Aufhebung“, also dadurch, daß die Rechtsschutzentscheidung dessen Regelungswirkung „kassatorisch“ beseitigt. Indirekt können die Wirkungen eines – regulativen oder nicht regulativen – Hoheitsakts dadurch beseitigt werden, daß die Ausgangsinstanz hierzu verpflichtet oder daß die Rechtswidrigkeit seiner Vornahme festgestellt wird. – Die unterlassene Vornahme eines Hoheitsakts wird dadurch sanktioniert, daß die Rechtswidrigkeit des Unterlassens festgestellt oder – weitergehend – die Verpflichtung der Ausgangsinstanz zu seiner Vornahme ausgesprochen wird87. Eine Rechtsschutzentscheidung kann über ihre unmittelbare – und begriffswesentliche – Sanktionierungswirkung in bezug auf das Ausgangsverhalten hinaus noch weitergehende materiell-rechtliche Rechtswirkungen entfalten: So löst 85 Das Deutsche Patent- und Markenamt ist im Beschwerdeverfahren nicht Partei; sein Präsident hat jedoch zur Wahrung des öffentlichen Interesses ein Äußerungsrecht und kann, wenn ihm dies vom Patentgericht anheimgegeben wird, dem Verfahren beitreten (§ 68 MarkenG, §§ 76 und 77 PatentG). Vgl. v. Mühlendahl, FS Beier, S. 303 (310 f.), der weiterhin auf eine Parallele zum Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit hinweist, sowie Schulte, Patentgesetz, § 73, Rn. 1: die Beschwerde, mit der das Verwaltungsverfahren „fortgesetzt“ werde, gleiche „mehr einem Rechtsmittel“. 86 Diese trägt nach Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.): GWB – Kommentar, § 62, Rn. 3 „Züge der verwaltungsgerichtlichen Klage und der Anrufung des Gerichts als Oberinstanz“. 87 Der erste Weg ist charakteristisch für das Gemeinschaftsprozeßrecht, das insofern dem französischen Verwaltungsprozeßrecht folgt, der zweite für das deutsche Verwaltungsprozeßrecht.
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im Gemeinschaftsprozeßrecht das kassatorische Aufhebungsurteil nach Art. 233 EGV eine weitergehende Befolgungspflicht der Ausgangsinstanz aus88. 7. Ausgestaltung des Rechtsschutzverfahrens Die Verfahrensnormen i. e. S., also die Rechtsnormen, die die Rechtmäßigkeit einer Rechtsschutzentscheidung an die Vornahme oder Unterlassung bestimmter Verfahrenshandlungen der Beteiligten, der Rechtsschutzinstanz oder Dritter knüpfen89, bilden ein weiteres Strukturelement eines Rechtsschutzregimes II. Substanz des Rechtsschutzregimes Die Substanz eines Rechtsschutzregimes wird bestimmt durch die für den Erlaß der Rechtsschutzentscheidung bestimmenden materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen90 sowie durch deren tatsächliche Entscheidungsgrundlage. Im einzelnen sind hier folgende Elemente zu nennen: – Ein zentrales Element der Substanz eines Rechtsschutzregimes ist das maßgebliche Sanktionskriterium. Hierunter soll der Inbegriff derjenigen für den Erlaß der Rechtsschutzentscheidung maßgeblichen materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen verstanden werden, die sich inhaltlich auf den Rechtsschutzgegenstand – also: auf das „Ausgangsverhalten“ – beziehen. Übliche Sanktionskriterien sind neben der Rechtswidrigkeit i. w. S.91 des Ausgangsverhaltens auch dessen „Unzweckmäßigkeit“92. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß nach der hier zugrundegelegten Definition bereits eines der Begriffsmerkmale einer Rechtsschutzentscheidung darin besteht, daß sie in Anwendung einer Rechtsnorm erlassen wird, zu deren materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen die Rechtswidrigkeit i. w. S. des Ausgangsverhaltens gehört93. Der Sache nach einen verselbständigten Aspekt des Sanktionskriteriums bilden die Regelungen hinsichtlich der Verfahrensfehlerfolgen sowie hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage. – Schließlich wird die Substanz eines Rechtsschutzregimes konstituiert durch die Bestimmungsnormen in bezug auf die maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage94 der Rechtsschutzentscheidung. Dabei ist insbesondere der 88
Dazu unten 3. Teil, § 3 F. II. 2. b). Dazu unten 4. Teil, § 1 A. I. 90 Zum Begriff der materiellen Rechtmäßigkeitsbedingung unten 4. Teil, § 1 A. I. 91 Zu den verschieden Facetten des Sanktionskriteriums der Rechtswidrigkeit eingehend unten 4. Teil, § 1. 92 Dazu näher unten 2. Teil, § 2 C. III. 2. a) (bei Fn. 154 f.). 93 Vgl. oben A. 89
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1. Teil: Einleitung
Aspekt einer eventuellen materiellen Präklusion gegenüber demjenigen Verfahren von Bedeutung, aufgrund dessen die Ausgangsentscheidung erlassen worden ist.
C. Normative Formen der Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes Der normativen Form nach ist zwischen legislativen und jurisprudentiellen Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes zu unterscheiden: Legislative Ausdifferenzierungen haben im Gemeinschaftsrecht die Gestalt sekundärrechtlicher Regelungen. Als solche kommen nicht nur – in der Regel auf Art. 308 EGV gestützte – Verordnungen in Betracht sondern auch die auf der Grundlage von Art. 223 UA 6 EGV bzw. von Art. 223 UA 5 EGV erlassenen Verfahrensordnungen des EuGH und des EuG. Letztere weisen als Sekundärrechtsakte sui generis einen verordnungsähnlichen Charakter auf95. Jurisprudentielle Ausdifferenzierungen kommen in zweifacher Weise vor: Echte jurisprudentielle Ausdifferenzierungen sind – bereichsspezifische – richterrechtliche Modifizierungen bzw. Konkretisierungen allgemein anwendbarer rechtsschutzbezogener Regelungen. Führt dagegen die Anwendung dieser allgemeinen Regelungen auf einen Sachbereich, der in bestimmter Weise materiellrechtlich bzw. verwaltungsverfahrensrechtlich geprägt ist, zu bereichsspezifisch unterschiedlichen Resultaten in bezug auf die Struktur oder die Substanz des Rechtsschutzes, so läßt sich dies als eine unechte jurisprudentielle Ausdifferenzierung kennzeichnen.
§ 3 Gemeinschaftsmarkenrecht als Referenzgebiet der Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes A. Ausgangspunkt Zwei Gründe sind es im wesentlichen, die es rechtfertigen, gerade das Gemeinschaftsmarkenrecht bei der Erörterung der Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes im EG-Eigenverwaltungsrecht besonders zu berücksichtigen. Zum einen enthält die Gemeinschaftsmarkenverordnung96 – im folgenden: GMV – eine elaborierte sekundärrechtliche Regelung der Struktur des Rechtsschutzes, 94
Zu diesen Begriffen näher unten 4. Teil, § 1 A. II. 1. a) aa). Borchardt, in: Lenz, Art. 245 EGV, Rn. 6 ff. sowie Krück, in: G/T/E, Art. 188, Rn. 10 ff. 96 Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 1994, L 11, S. 1). 95
§ 3 Gemeinschaftsmarkenrecht als Referenzgebiet der Ausdifferenzierung
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die nicht nur ein zusätzliches Rechtsschutzverfahren vor einer sekundärrechtlich errichteten Rechtsschutzinstanz vorsieht, sondern auch Modifikationen des gerichtlichen Rechtsschutzverfahrens. Zum anderen existiert bereits eine quantitativ recht umfangreiche Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte in diesem Bereich, die auch gewisse substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes deutlich werden läßt.
B. Gemeinschaftsmarkenrecht als neuer Teilbereich des EG-Eigenverwaltungsrechts In den letzten Jahren hat sich das Gemeinschaftsmarkenrecht als ein neuer Teilbereich des sekundären Gemeinschaftsrechts im Schnittpunkt von Privatrecht und EG-Eigenverwaltungsrecht97 herausgebildet. Die Rechtswissenschaft hat dieses Rechtsgebiet bisher allerdings ganz überwiegend unter privatrechtlichen Gesichtspunkten zur Kenntnis genommen98. Dagegen sind sowohl sein verwaltungsrechtlicher Charakter als auch die hiermit verbundenen Rechtsschutzfragen von der allgemeinen Dogmatik des europäischen Verwaltungs- und Prozeßrechts weitgehend unbeachtet geblieben. Als Immaterialgüterrecht an einem Zeichen ist die Marke ein absolutes Privatrecht99, d. h. ein subjektives Verbots- bzw. Ausschlußrecht, das seinem Inhaber ermöglicht, Dritten zu verbieten, dasselbe – bzw. ein verwechslungsfähig ähnliches – Zeichen für dieselben bzw. ähnliche andere Waren oder Dienstleistungen im geschäftlichen Verkehr zu verwenden (Art. 9 GMV). An die Verletzung dieses Rechts sind zivilrechtliche Unterlassungs- bzw. Schadensersatzansprüche geknüpft. Der territoriale Schutzbereich des Markenrechts – wie derjenige aller Immaterialgüterrechte – ist im Grundsatz auf das Gebiet des Staates begrenzt, dessen Rechtsordnung das Recht durch Einzelakt verleiht bzw. durch Rechtssatz anerkennt (sog. Territorialitätsprinzip)100. Die von der Schutzklausel zugunsten des „gewerblichen und kommerziellen Eigentums“ in Art 30 EGV umfaßten einzelstaatlichen Markenrechte stellen somit potentielle Hindernisse für den von Art. 28 EGV geschützten freien Warenverkehr zwischen den EG-Mitgliedstaaten dar. Zwar hat zum einen der EuGH seit Mitte der siebziger Jahre einen 97
Vgl. oben Fn. 4. Symptomatisch etwa Just, Die Gemeinschaftsmarke im System des internationalen Markenschutzes, S. 191 ff.: Gemeinschaftsmarkenrecht als europäisches Privatrecht; ähnlich Wichard, ZEuP 2002, S. 23 ff. (23): „Lehrstück der Privatrechtseuropäisierung“. 99 Im folgenden wird das subjektive Privatrecht „Marke“, sein Gegenstand „Zeichen“ genannt. 100 Dazu Wichard, ZEuP 2002, S. 23 ff. (27); Sack, WRP 2000, S. 269 ff. (271). 98
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1. Teil: Einleitung
gewissen Ausgleich zwischen den einzelstaatlichen Markenrechten und dem Binnenmarkt dadurch bewirkt, daß er die Reichweite der innerstaatlich begründeten Ausschlußrechte auf deren „spezifischen Gegenstand“ als binnenmarktkompatibles Minimum zurückgeführt hat101. Zum anderen hat der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der Markenrechtsrichtlinie aus dem Jahre 1988102 die wichtigsten materiell-rechtlichen Vorschriften des Markenrechts der Mitgliedstaaten harmonisiert. Dennoch konnte hierdurch das „binnenmarktfeindliche Potential“103 der einzelstaatlichen Markenrechte nicht gänzlich beseitigt werden. Daher sind schon früh Bestrebungen unternommen worden, ein gemeinschaftsweites einheitliches Markenrecht zu schaffen104. Die auf Art. 308 EGV gestützte GMV ermöglicht die Begründung von Gemeinschaftsmarken, also von subjektiven Privatrechten, deren territorialer Schutzbereich sich auf das gesamte Gebiet der Gemeinschaft erstreckt. Begründet wird die Gemeinschaftsmarke durch die Eintragung in das Gemeinschaftsmarkenregister. Zuständig hierfür ist das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) mit Sitz in Alicante – im folgenden: HABM –. Das markenrechtliche Eintragungsverfahren stellt damit, neben der Anwendung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts durch die Kommission, einen der immer noch wenigen Bereiche der Eigenverwaltung durch die Gemeinschaft dar105. Bemerkenswert ist insoweit, daß die GMV damit – über ihre materiell-rechtlichen Regelungen hinaus – eine primärrechtlich nicht vorgesehene Verwaltungskompetenz106 der Gemeinschaft begründet hat107. Im 101 Dazu Wichard, ZEuP 2002, S. 23 ff. (28 ff.) Insbesondere wurde der Grundsatz der „gemeinschaftsweiten Erschöpfung“ der nationalen Markenrechte entwickelt. Danach kann der Inhaber eines nationalen Markenrechts des Mitgliedstaates (A) das Inverkehrbringen einer mit der Marke gekennzeichneten Ware in diesem Mitgliedstaat dann nicht aufgrund seines Markenrechts untersagen, wenn die Ware von ihm selbst oder mit seiner Zustimmung in einem anderen Mitgliedstaat (B) in Verkehr gebracht wurde. Aus der umfangreichen Rspr. siehe nur EuGH, Urt. v. 31. 10. 1974, Centrafarm u. a., Rs. 16/74, Slg. S. 1183; Urt. v. 11. 7. 1996, Bristol-Myers Squibb, C-429/93 und C-436/93, Slg. S. I-3514, Rn. 40; Urt. v. 23. 4. 2002, Merck, Sharp & Dohme, C-443/ 99, Slg. S. I-3703, Rn. 23 f. 102 Erste Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. 12. 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1). 103 Wichard, ZEuP 2002, S. 23 ff. (30). 104 Hierzu eingehend Beier, Von der EWG-Marke zur Gemeinschaftsmarke – Teil I, in: Beier/Schricker (Hg.): Die Neuordnung des Markenrechts in Europa, S. 59 ff. sowie v. Mühlendahl, Von der EWG-Marke zur Gemeinschaftsmarke – Teil II, ebd., S. 81 ff. 105 Dazu allgemein v. Borries, FS f. Everling, S. 127 ff.; Beutler/Bieber/Pikorn/ Streil, Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, Rn. 128, 477. 106 Es bestehen nur wenige primärrechtlich begründete Verwaltungskompetenzen der Gemeinschaft. Zu nennen sind die Kompetenzen im Bereich der Aufsicht über staatliche Beihilfen (Art. 88 EGV) sowie im Bereich der handelspolitischen Schutzklausel (Art 134 EGV). Dagegen sind die Verwaltungskompetenzen der Gemeinschaft in den Bereichen der wettbewerbsrechtlichen Kartell- und Mißbrauchsaufsicht sowie
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Vergleich zu anderen Teilgebieten des EG-Eigenverwaltungsrechts weist das Gemeinschaftsmarkenrecht eine Reihe von besonderen Strukturmerkmalen auf: Erstens stellt die Eintragung einer Marke in das Gemeinschaftsmarkenregister – wie die Registereintragung anderer Immaterialgüterrechte auch108 – eine privatrechtsgestaltende Verwaltungsentscheidung dar109. Näherhin repräsentiert die Markeneintragung einen besonderen Typus privatrechtsgestaltender Verwaltungsentscheidungen, der sich als „privatrechtspflegend“ charakterisieren läßt. Damit ist folgendes gemeint: Privatrechtspflegende Verwaltungsentscheidungen entfalten Rechtswirkungen allein im Hinblick auf einen nachfolgenden Zivilprozeß. Sie sind damit funktional Entscheidungen im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit vergleichbar, insbesondere solchen, die für die Begründung bzw. Übertragung von Immobiliarsachenrechten oder für die Gründung von juristischen Personen des Privatrechts (mit-)konstitutiv110 sind. Ihren normativen Sinn erhalten derartige Entscheidungen einer Verwaltungsbehörde oder einer Stelle der freiwilligen Gerichtsbarkeit aus ihrer abschichtenden Wirkung in bezug auf bestimmte Vorfragen eines möglichen späteren Zivilprozesses. Ohne eine derartige privatrechtspflegende Verwaltungsentscheidung wäre über diese Vorfragen im Rahmen eines zivilgerichtlichen Verfahrens incidenter zu entscheiden. Dies läßt sich verdeutlichen, wenn man die zivilgerichtliche Durchsetzung der eingetragenen und der nicht eingetragenen Marke111 miteinander vergleicht: Im letzder Fusionskontrolle erst durch Akte des Sekundärrechts begründet worden, nämlich durch die VO Nr. 17 – Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags – vom 6. 2. 1962 (Abl. 1962 Nr. 13 S. 204) bzw. die VO (EG) Nr. 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen vom 29. 1. 2004 (Abl. 2004, L 24, S. 1). Die VO Nr. 17 ist nunmehr mit Wirkung vom 1. 5. 2004 ersetzt worden durch die VO (EG) 1/2003 vom 16. 12. 2002 (Abl. 2003, L 1, S. 1). Weiterführend v. Borries, FS f. Everling, S. 127 ff. (132, 138). 107 Zur Zulässigkeit der Begründung von Verwaltungskompetenzen der Gemeinschaft durch einen auf Art. 308 EGV gestützten Sekundärrechtsakt Klepper, Verwaltungskompetenzen der EG aus abgeleitetem Recht, S. 73 ff.; Schreiber, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, S. 145 ff. Dagegen ermöglicht Art. 308 EGV nicht die sekundärrechtliche Begründung von zusätzlichen Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft, vgl. Schwartz, in GTE, Art. 235, Rn. 30. 108 Derartige Registerrechte sind das Patentrecht, das Sortenschutzrecht sowie das Gebrauchsmuster- und das Geschmacksmusterrecht; gemeinschaftsrechtlich begründete Immaterialgüterrechte sind neben dem Markenrecht und dem Sortenschutzrecht jetzt auch Geschmacksmusterrecht. 109 Vgl. Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, S. 32, der als eines von drei alternativen Merkmalen für den privatrechtsgestaltenden Charakter einer Verwaltungsentscheidung den Umstand benennt, daß diese privatrechtliche Rechtspositionen zu- oder aberkennt. Zum Charakter der Patenterteilung als privatrechtsgestaltender Verwaltungsakt Hubmann/Götting, Gewerblicher Rechtsschutz, S. 162. 110 D. h. neben entsprechenden Willenserklärungen Privater. 111 Diese ist im deutschen Markenrecht ebenfalls als absolutes Recht anerkannt; sie entsteht nach § 4 Nr. 2 MarkenG „durch die Benutzung des Zeichens im geschäftlichen Verkehr“.
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1. Teil: Einleitung
teren Fall muß der Zivilrichter im Rahmen einer Verletzungsklage incidenter prüfen, ob das absolute Privatrecht entstanden ist und ob es dem Kläger zusteht. Im Immaterialgüterrecht dient die „Vorschaltung“ einer privatrechtsbegründenden Verwaltungsentscheidung einem dreifachen Zweck: Für den Rechtsinhaber sowie Dritte besteht Rechtssicherheit im Hinblick auf das Bestehen und dieZuordnung des Rechts112. Außerdem werden die Zivilgerichte von schwierigen Inzidentfeststellungen entlastet, in dem diese in verfahrensökonomischer Weise113 „vor die Klammer gezogen“ werden114. Schließlich ist der materiellrechtliche Hintergrund des Schutzes der Inhaber vorbestehender absoluter Privatrechte gegen „Rechtsanmaßungen“ von Bedeutung. Diese können sich gegen derartige Rechtseingriffe sehr viel leichter zur Wehr setzen, wenn sie die Möglichkeit haben, den Akt der Begründung eines mit ihrem Recht konkurrierenden jüngeren Immaterialgüterrechts anzugreifen, als wenn sie darauf angewiesen wären, in einer Vielzahl von zivilgerichtlichen Verfahren den „diffusen“ Inzidentfeststellungen der Zuordnung des Rechts zum jeweiligen Kläger entgegenzutreten. Zusammenfassend läßt sich somit die rechtliche Funktion von privatrechtspflegenden Verwaltungsentscheidungen als eine „Zertifizierung“ qualifizieren. In der Perspektive einer ökonomischen Analyse des Rechts besteht die Funktion einer derartigen Verwaltungsentscheidung in der „Marktkonstitution“: Ein immaterielles Objekt wird erst durch eine die Verwaltungsentscheidung als Vermögensgut der Privatrechtsordnung und damit als marktfähiger Gegenstand konstituiert115. Dem Gemeinschaftsrecht ist das Phänomen einer privatrechtsgestaltenden Wirkung von Entscheidungen der EG-Eigenverwaltung zwar schon bisher nicht fremd gewesen. Insbesondere das Kartellrecht liefert hierfür hinreichend Anwendungsfälle, so etwa in Gestalt von Entscheidungen der Kommission über Freistellungen vom Kartellverbot nach Art. 81 Abs. 3 EGV i.V. m. Art. 6 und 8 der VO Nr. 17116 oder über das Verbot von Unternehmenszusammenschlüssen 112 Hubmann/Götting, Gewerblicher Rechtsschutz, S. 63, sprechen davon, daß „der Beweis der Priorität gesichert und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Person offengelegt werden soll“. 113 Eingehend zum Begriff der Verfahrensökonomie unten 3. Teil, § 3 F. II. 3. b) aa). 114 Mit einer etwas anderen Akzentsetzung formuliert Groß, Das Kollegialprinzip in der öffentlichen Verwaltung, S. 95, im Anschluß an Kirchhof, Das Handeln des Staates, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handb. des Staatsrechts, Bd. III, § 59, Rn. 97, daß es sich bei der Tätigkeit der Marken- und Patentbehörden nicht um typische Verwaltungstätigkeit sondern um die „sachverständige Sachverhaltsfeststellung und -bewertung“ handele. 115 Diesen Hinweis verdanke ich einem am Institut für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht der Universität Heidelberg Mitte der neunziger Jahre erstellten unveröffentlichten Thesenpapier von Thomas Groß.
§ 3 Gemeinschaftsmarkenrecht als Referenzgebiet der Ausdifferenzierung
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nach der Verordnung (EG) 139/2004. Doch im Unterschied zu der Eintragung einer Gemeinschaftsmarke weisen diese kartellrechtlichen Verwaltungsentscheidungen keinen privatrechtspflegenden Charakter. Denn sie entfalten Rechtswirkungen nicht allein im Hinblick auf einen nachfolgenden Zivilprozeß. Vielmehr haben sie primär die Genehmigung oder das Verbot eines bestimmten Verhaltens zum Inhalt. Daß damit zugleich über die Wirksamkeit von – in deutscher zivilrechtlicher Terminologie – verpflichtenden bzw. verfügenden Rechtsgeschäften Privater entschieden wird, beruht letztlich auf dem Postulat der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, das eine zivilrechtliche Verpflichtung zu einem öffentlich-rechtlich verbotenen Verhalten nicht zuläßt. In diesem Zusammenhang gerät das zweite besondere Merkmal des Gemeinschaftsmarkenrechts in den Blick: Die Markeneintragung begründet – anders als die soeben genannten privatrechtsgestaltenden Verwaltungsentscheidungen – ein absolutes Privatrecht und bildet somit die rechtliche Grundlage für direkte hoheitliche Rechtseingriffe gegenüber einer unbestimmten Vielzahl privater Dritter in Gestalt zivilgerichtlicher Handlungs- bzw. Unterlassungsgebote. Sie entfaltet damit eine erhebliche, quasi-normative Breitenwirkung. Dies ist zwar in gewisser Weise das Kennzeichen jedes absoluten Privatrechts, gleichwohl erlangt dieser Aspekt bei den eines dinglichen Substrats entbehrenden und daher „ubiquitären“ Immaterialgüterrechten eine stärkere Bedeutung als etwa bei sachenrechtlichen Positionen. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß der dem Markenrecht eng verwandte Schutz geographischer Angaben und Ursprungsbezeichnungen auf Gemeinschaftsebene durch eine Verordnung der Kommission begründet wird117. Im deutschen Recht hat das Reichsgericht in frühen Entscheidungen das der Markeneintragung parallele Institut der Patenterteilung als Rechtssetzungsakt angesehen118. Drittens erreichen in quantitativer Hinsicht die Eintragungen von Gemeinschaftsmarken sowie die damit im Zusammenhang stehenden Entscheidungen im Rahmen der verschiedenen administrativen Verfahren vor dem HABM eine beachtliche Größenordnung119. Es handelt sich mithin um ein Phänomen der 116 Seit dem 1. 5. 2004 gehört dieser Entscheidungstypus allerdings der Vergangenheit an. Denn aufgrund von Art. 1 Abs. 1 der zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen VO (EG) 1/2003 vom 16. 12. 2002 (Abl. 2003, L 1, S. 1) sind die in Art. 81 Abs. 1 EGV genannten Verhaltensweisen, die unter einen der Ausnahmetatbestände des Art. 81 Abs. 3 EGV fallen, ipso iure erlaubt, ohne daß es einer gestattenden („freistellenden“) Kommissionsentscheidung bedürfte (System der „Legalausnahme“). 117 Die Grundlage hierfür bildet die Verordnung (EWG) Nr. 2081/92 des Rates zum Schutz geographischer Angaben und Ursprungsbezeichungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, ABl. 1992, L 208, S. 1. 118 Vgl. Hubmann/Götting, Gewerblicher Rechtsschutz, S. 162, unter Hinweis auf RGZ 63, 142 und RGZ 65, 203. 119 Dies mag durch einige statistische Angaben verdeutlicht werden: Im Zeitraum von 1996 bis 2002 (jeweils einschließlich) wurden insgesamt 294.625 Markenanmel-
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1. Teil: Einleitung
„Massenverwaltung“, die in ihren „Fallzahlen“ allenfalls mit dem Dienstrecht vergleichbar ist, welches allerdings lediglich den Innenbereich des Verhältnisses zwischen den Organen und Einrichtungen und ihrem Personal betrifft. Im Außenbereich des Verhältnisses zu einzelnen Bürgern und Unternehmen geht die quantitative Bedeutung des Gemeinschaftsmarkenrechts weit über die klassischen Sektoren der EG-Eigenverwaltung wie der Beihilfeaufsicht oder der wettbewerbsrechtlichen Mißbrauchs- und Fusionskontrolle hinaus. Es übertrifft aber auch etwa den Bereich der in Gemeinschaftsregie betriebenen Produktzulassung im Arzneimittelrecht nach der VO 2309/93120. Schließlich berühren viertens bestimmte Entscheidungen des HABM ausschließlich kollidierende Privatinteressen; sie ähneln insofern eher einer zivilgerichtlichen Entscheidung121. Dementsprechend sind die auf den Erlaß dieser Entscheidungen abzielenden Verwaltungsverfahren – an denen notwendigerweise mindestens zwei Private beteiligt sind – stark rechtsförmlich ausgestaltet und vom Prinzip der Parteiautonomie geprägt122. So gilt nicht der Amtsermittlungsgrundsatz, vielmehr entscheidet das HABM nach Art eines Zivilgerichts allein aufgrund der von den Beteiligten gestellten Anträge und der von ihnen vorgebrachten Einreden, Tatsachen und Beweismittel123.
C. Interessen- und Rechtsschutzkonstellationen im Gemeinschaftsmarkenrecht I. Überblick Eines der Merkmale einer Rechtsschutzentscheidung ist nach der hier zugrundegelegten Definition, daß der Zweck der Sanktionsentscheidung – mindestens auch – in dem Schutz individueller Interessen des Initiators des jeweiligen Rechtsschutzverfahrens besteht124. Im Gemeinschaftsmarkenrecht lassen sich nach den streitbefangenen Individualinteressen drei Rechtsschutzkonstellationen unterscheiden.
dungen eingereicht und 168.190 Gemeinschaftsmarken eingetragen; ferner wurden 56.814 Widersprüche gegen veröffentlichte Markenanmeldungen und 4.430 Beschwerden gegen Entscheidungen der Ausgangsinstanzen des HABM eingelegt (Quelle: HABM (Hg.), OAMI news 2/2003). 120 VO (EWG) Nr. 2309/93 des Rates v. 22. 7. 1993 (ABl. 1993, L 214, S. 1). 121 Vgl. unten 3. Teil, § 2 A. III. 1. und B. I. 1. 122 Vgl. Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. (565, 570). 123 Vgl. unten 3. Teil, § 2 A. II. 1., III. 1. und B. I. 124 Vgl. oben § 2 A.
§ 3 Gemeinschaftsmarkenrecht als Referenzgebiet der Ausdifferenzierung
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(1) In der ersten, bipolaren Konstellation geht es allein um das Interesse des „Markenanmelders“, das auf den Erlaß der beantragten Entscheidung, also auf die Erteilung („Eintragung“) der Gemeinschaftsmarke gerichtet ist. (2) In der zweiten, multipolaren Konstellation steht dieses Interesse des „Markenanmelders“125 – bzw. das auf den Erhalt der bereits eingetragenen Marke gerichtete Interesse des Markeninhabers – dem Interesse eines privaten Dritten gegenüber, das umgekehrt auf das Unterlassen der Eintragung der Gemeinschaftsmarke – bzw. auf die Beseitigung einer bereits erfolgten Eintragung – gerichtet ist. Derartige Interessen Dritter können entweder durch die Rechtsordnung überhaupt erst konstituiert sein oder aber bereits vorrechtlich existieren. (a) Träger rechtlich konstituierter Interessen sind die Inhaber von – kraft Gemeinschaftsrechts oder kraft nationalen Rechts begründeten – absoluten Privatrechten, die mit der Gemeinschaftsmarke konkurrieren. Ein Konkurrenzverhältnis zwischen zwei absoluten Privatrechten liegt dann vor, wenn diese mindestens partiell denselben Gegenstand haben, also ein – auf dem Zivilrechtsweg durchzusetzendes – Verbot desselben Verhaltens anderer Privater ermöglichen. Konkret kommen als mit einer Gemeinschaftsmarke konkurrierende absolute Privatrechte zum einen vorbestehende Markenrechte an solchen Zeichen in Betracht, die mit dem den Gegenstand der Gemeinschaftsmarke bildenden Zeichen identisch bzw. verwechselungsfähig ähnlich und für dieselben bzw. ähnliche andere Waren oder Dienstleistungen geschützt sind. Speziell in bezug auf die Ähnlichkeitsfälle ergibt sich dies daraus, daß der „Verbotsbereich“ einer Marke auch die im geschäftlichen Verkehr erfolgende Verwendung identischer oder verwechselungsfähig ähnlicher Zeichen für dieselben bzw. ähnliche andere Waren oder Dienstleistungen umfaßt. Zum anderen kommen sonstige Verbotsrechte in Betracht, aufgrund derer die Benutzung des den Gegenstand der Gemeinschaftsmarke bildenden Zeichens untersagt werden kann, wie insbesondere Immaterialgüterrechte (z. B. Urheber- oder Geschmacksmusterrechte) oder Persönlichkeitsrechte (z. B. das Namensrecht oder das Recht am eigenen Bild). Genauerer Betrachtung bedarf allerdings die Frage, inwieweit die Markeneintragung eine Belastungswirkung für den Inhaber eines vorbestehenden absoluten Privatrechts entfaltet, mit dem die Gemeinschaftsmarke in ein Konkurrenzverhältnis tritt. Denn die Markeneintragung als solche entfaltet keine nachteilige privatrechtsgestaltende Wirkung in bezug auf ein derartiges vorbestehendes Recht. Aufgrund des Prioritätsprinzips kann dessen Inhaber nämlich gegenüber demjenigen, der zu einem späteren Zeitpunkt als Inhaber einer Gemeinschaftsmarke eingetragen wird, die aus seinem Verbotsrecht fließenden Unterlassungsund Beseitigungsansprüche in gleicher Weise geltend machen, wie wenn die 125 Bzw. – wenn die Markeneintragung bereits erfolgt ist – das auf die Wahrung dieser Rechtsposition gerichtete Interesse des Markeninhabers.
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1. Teil: Einleitung
Gemeinschaftsmarke nicht eingetragen worden wäre126. Umgekehrt hat – ebenfalls aufgrund des Prioritätsprinzips – der Inhaber einer jüngeren Gemeinschaftsmarke gegen den Inhaber eines vorbestehenden absoluten Privatrechts selbstverständlich keinen Anspruch auf Unterlassung der von dessen „Verbotsbereich“ umfaßten Handlungen127. Gleichwohl wird die materiellrechtliche Position des Inhabers eines vorbestehenden absoluten Privatrechts durch die Eintragung einer mit diesem konkurrierenden Gemeinschaftsmarke berührt. Denn hierdurch wird für deren Inhaber ein im Prinzip vollgültiges absolutes Privatrecht begründet, das lediglich gegenüber dem Inhaber des vorbestehenden absoluten Privatrechts nicht durchsetzbar ist. Gegenüber anderen Privaten kann der Inhaber der Gemeinschaftsmarke dagegen sein Recht trotz des zum vorbestehenden Recht bestehenden Konkurrenzverhältnisses durchsetzen, wie sich im Umkehrschluß aus Art. 95 Abs. 3 und Art. 96 GMV ergibt128. Dies bedeutet aber, daß durch die Eintragung einer mit einem vorbestehenden absoluten Privatrecht konkurrierenden Gemeinschaftsmarke ein inhaltsgleiches Recht an – mindestens partiell – demselben Gegenstand129 begründet wird. In diesem Verlust der alleinigen Inhaberschaft eines vorbestehenden absoluten Privatrechts liegt ein direkter Rechtseingriff gegenüber dessen Inhaber. Dies mag durch einen Vergleich mit einem Verwaltungsakt illustriert werden, durch den Miteigentum an einer Sache für einen anderen neben dem bisherigen Alleineigentümer begründet wird. (b) Die Situation, daß die Eintragung einer Gemeinschaftsmarke Individualinteressen Dritter berührt, die nicht rechtlich konstituiert sind sondern lediglich vorrechtlich existieren, dürfte in der Rechtswirklichkeit eher selten sein. Zu denken wäre etwa an das Interesse an der moralischen Integrität oder der informationellen Selbstbestimmung einer Person130, sofern dieses nicht durch die maßgebliche innerstaatliche Rechtsordnung zu einem absoluten Privatrecht in 126 Diese Wirkung des Prioritätsprinzips wird in der GMV vorausgesetzt (vgl. Art. 31 GMV, der vom „Vorrag von Rechten“ spricht). Zur parallelen Situation im deutschen Markenrecht vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, vor §§ 14–19, Rn. 26, 33, sowie § 14, Rn. 83 f. Speziell für das Verhältnis zwischen einem in einem Mitgliedstaat geschützten vorbestehenden absoluten Privatrecht und einer später eingetragenen Gemeinschaftsmarke läßt Art. 106 Abs. 1 GMV ausdrücklich die Untersagung der Benutzung der Gemeinschaftsmarke in dem betreffenden Mitgliedstaat zu. 127 Dies ergibt sich aus Art. 95 Abs. 3 GMV, wonach im Verletzungsprozeß „der Einwand [. . .] der Nichtigkeit der Gemeinschaftsmarke, der nicht im Wege der Widerklage erhoben wird, insofern zulässig [ist], als sich der Beklagte darauf beruft, daß die Gemeinschaftsmarke [. . .] wegen eines älteren Rechts des Beklagten für nichtig erklärt werden könnte.“ 128 Zu Art. 95 Abs. 3 GMV vgl. soeben Fn. 127. Art. 96 GMV verweist für die Widerklage auf Erklärung der Nichtigkeit auf die Vorschriften über das Nichtigkeitsverfahren vor dem HABM; danach sind nur die Inhaber vorbestehender absoluter Privatrechte aktivlegitimiert, vgl. unten 3. Teil, § 2 B. II. 129 Unter dem „Gegenstand“ des vorbestehenden absoluten Privatrechts wird in diesem Zusammenhang die Gesamtheit der Handlungen Privater verstanden, die aufgrund dieses Rechts verboten werden können.
§ 3 Gemeinschaftsmarkenrecht als Referenzgebiet der Ausdifferenzierung
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Gestalt eines „allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ oder des Rechts „am eigenen Bild“ ausgeformt worden ist. Bereits an dieser Stelle sei – im Vorgriff auf den 3. Teil der Untersuchung – angedeutet, daß das besondere Rechtsschutzregime der GMV lediglich den Schutz von rechtlich konstituierten Individualinteressen Dritter umfaßt131. (3) Die dritte, ebenfalls multipolare Konstellation resultiert aus dem Charakter der Marke als eines absoluten Privatrechts. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß das auf die Durchsetzung dieses Rechts gerichtete Interesse des Markeninhabers demjenigen eines privaten Dritten gegenübersteht, das auf die Verschonung von einem korrespondierenden, ihn belastenden zivilgerichtlichen Leistungsurteil132 gerichtet ist. Dementsprechend sieht die GMV bestimmte Verteidigungs- (bzw. Gegenangriffs)mittel für den in einem Zivilprozeß wegen Verletzung der Rechte aus der Gemeinschaftsmarke in Anspruch genommenen Beklagten vor. Diese sind entweder als Einrede gegen die Durchsetzbarkeit einer eingetragenen Gemeinschaftsmarke oder als Widerklage gegen deren Bestand gerichtet133. Allerdings beschränkt sich das Thema der vorliegenden Arbeit auf den Rechtsschutz im EG-Eigenverwaltungsrecht. Behandelt werden also nur solche Konstellationen, in denen der Rechtsschutzgegenstand selbst in einem Hoheitsakt eines Organs oder einer Einrichtung der Gemeinschaft besteht. Die zivilprozessuale Durchsetzung der sich aus der Gemeinschaftsmarke ergebenden subjektiven Verbotsrechte134 gehört nicht dazu, da es hier um Hoheitsakte der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte geht. Zwar lassen sich die genannten zivilprozessualen Verteidigungs- (bzw. Gegenangriffs)mittel der Einrede bzw. der Widerklage rechtssystematisch durchaus zugleich als eine Form des inzidenten135 bzw. prinzipalen136 Rechtsschutzes gegen die in der Markeneintragung liegende Entscheidung des HABM begreifen. Da dieser Aspekt jedoch in einem unlösbaren funktionalen Zusammenhang mit dem Erlaß von Hoheitsakten der mitgliedstaatlichen Zivilgerichte steht, soll er im folgenden ausgeklammert bleiben.
130 Das durch einen als Marke eingetragenen ehrverletzenden Slogan beeinträchtigt würde. 131 Zu dem Widerspruchs- und dem Nichtigkeitsverfahren näher unten 3. Teil, § 2 A. III. und B. 132 Auf Unterlassung, Beseitigung oder Schadensersatz. 133 Im einzelnen handelt es sich dabei um die auf Einrede des Beklagten erfolgende „Nichtanwendung“ einer Gemeinschaftsmarke nach Art. 95 Abs. 3 GMV sowie um die auf Widerklage des Beklagten erfolgende Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke nach Art. 96 GMV. 134 Hierzu Bumiller, Durchsetzung der Gemeinschaftsmarke in der Europäischen Union. 135 Im Fall der Einrede. 136 Im Fall der Widerklage.
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1. Teil: Einleitung
II. Speziell: Mehrpoliger Rechtsschutz im Kontext der allgemeinen Systematik kollidierender Interessen im Verwaltungsrecht Für ein näheres Verständnis der mehrpoligen Interessenkonstellationen im Gemeinschaftsmarkenrecht und der sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die strukturelle Ausgestaltung des Rechtsschutzes ist eine Einbettung in den Kontext der allgemeinen Systematik kollidierender Interessen im Verwaltungsrecht hilfreich. Ausgangspunkt der Überlegungen zur Interessenkollision im Verwaltungsrecht ist die Tatsache, daß das Werturteil über eine durch eine Verwaltungsentscheidung bewirkte Zustandsveränderung aus der Perspektive unterschiedlicher Personen bzw. „Entitäten“ – Adressat, privater Dritter, „Öffentlichkeit“ – je verschieden ausfallen kann. In diesem Sinne „berührt“ eine Verwaltungsentscheidung kollidierende Interessen, wenn sie eine Begünstigungswirkung für mindestens eine, jedoch eine Belastungswirkung für mindestens eine andere Entität entfaltet. Berührt eine Verwaltungsentscheidung kollidierende Privatinteressen, so weist sie – nach gängiger dogmatischer Terminologie – eine „Doppelwirkung“ bzw. „Drittwirkung“137 auf. In diesem Zusammenhang ist nun die von SchmidtPreuß eingeführte Unterscheidung zwischen „kehrseitigen“ und „wechselbezüglichen“ Privatinteressen138 von besonderer Bedeutung. Anders als bei Schmidt-Preuß wird hier allerdings davon ausgegangen, daß sich diese Konstellationen nicht alternativ gegenüberstehen, sondern die wechselbezüglichen vielmehr eine Untergruppe der kehrseitigen Privatinteressen bilden. Die differentia specifica ist diejenige, daß bei ersteren die Belastungswirkung der Verwaltungsentscheidung für den Dritten gerade darin besteht, daß ihm gegenüber eine inhaltsgleiche – begünstigende – Verwaltungsentscheidung nicht mehr rechtmäßigerweise erlassen werden kann. Dies ist der präzise Sinn des Kriteriums der „Stoffgleichheit zwischen Begünstigung und Belastung“, das realtypisch die Situation der „konkurrierende[n] Zugangsinteressen vor dem Hintergrund staatlicher Auswahl- und Verteilungsentscheidungen“ betrifft139. Hieran fehlt es aber – entgegen Schmidt-Preuß140 – etwa bei der privatnützigen Enteignung. Gleiches gilt für die mehrpoligen Interessenkonstellationen im Gemeinschaftsmarkenrecht. Denn dort besteht die Belastungswirkung der Markeneintragung für den Inhaber eines vorbestehenden absoluten Privatrechts darin, daß ein inhalts137 Vgl. Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 193; zur Terminologie auch Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 940 f. 138 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, S. 30 ff.; s. a. Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 193. 139 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, S. 34. 140 Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, S. 35 f.
§ 3 Gemeinschaftsmarkenrecht als Referenzgebiet der Ausdifferenzierung
49
gleiches Recht an – mindestens partiell – demselben Gegenstand begründet wird141. Es handelt sich also um eine Konstellation der „reinen“ Kehrseitigkeit: Das auf die Eintragung der beantragten Gemeinschaftsmarke gerichtete Veränderungsinteresse des Markenanmelders – bzw. das auf den Erhalt der bereits eingetragenen Marke gerichtete Interesse des Markeninhabers – steht spiegelbildlich dem Bestandsinteresse eines privaten Dritten gegenüber, das umgekehrt auf das Unterlassen der Eintragung der Gemeinschaftsmarke – bzw. auf die Beseitigung einer bereits erfolgten Eintragung – gerichtet ist. Mit diesem Befund ist indes das Spezifikum noch nicht ausgemacht, das das Gemeinschaftsmarkenrecht von anderen Rechtsgebieten in bezug auf die mehrpoligen Interessenkonstellationen unterscheidet. Hierzu gilt es, das Verhältnis der beteiligten privaten zu den öffentlichen Interessen in den Blick zu nehmen: Typischerweise ist eine Kollision von Privatinteressen im Verwaltungsrecht dadurch gekennzeichnet, daß sich mindestens eines der beteiligten Privatinteressen mit einem inhaltsgleichen öffentlichen Interesse deckt. Folgende Beispiele mögen dies illustrieren: Besteht die Verwaltungsentscheidung in der Erlaubnis einer Handlung – Prototyp Baugenehmigung –, so steht dem rein privaten Veränderungsinteresse des Adressaten ein Bestandsinteresse – z. B. an der „Bewahrung der [im Bebauungsplan] festgesetzten Gebietsart“142 – gegenüber, das sowohl dasjenige eines privaten Dritten ist als auch ein öffentlichen Interesse. Aus dem EG-Eigenverwaltungsrecht sind hier Fusionskontrollentscheidungen zu nennen143. Umkehrt steht im Falle des Verbots bzw. der Sanktionierung einer Handlung das rein private Bestandsinteresse des Adressaten einem Veränderungsinteresse gegenüber, das nicht nur öffentlicher Natur sondern zugleich dasjenige eines privaten Dritten ist; ein Beispiel aus dem EG-Eigenverwaltungsrecht sind etwa Entscheidungen im Rahmen der Wettbewerbsaufsicht144. Denkbar ist auch, daß auf Seiten jedes der kollidierenden Privatinteressen zugleich ein – je verschiedenes – öffentliches Interesse anwesend ist; im Bereich des EG-Eigenverwaltungsrechts sind hier etwa Entscheidungen im Rahmen der Beihilfenkontrolle145 oder des Anti-Dumping-Rechts146 zu nennen. 141
Vgl. oben I. (bei Fn. 129). Vgl. BVerwG DVBl. 1994, S. 284 (287), Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 515. 143 Hier besteht das – dem Privatinteresse des Dritten inhaltsgleiche – öffentliche Bestandsinteresse in einem ungehinderten Wettbewerb auf den betroffenen Märkten. 144 Jung, FS für U. Everling, S. 611 (620). 145 Hier besteht das – dem Privatinteresse des Adressaten inhaltsgleiche – öffentliche Veränderungsinteresse (A) namentlich in Erwägungen der Struktur- bzw. Regionalpolitik, das gegenläufige – dem Privatinteresse des Dritten inhaltsgleiche – öffentliche Bestandsinteresse (B) in einem ungehinderten Wettbewerb auf den betroffenen Märkten, hierzu jüngst Lumma, EuZW 2004, S. 457 ff. 146 Hier besteht das – dem Privatinteresse des Dritten inhaltsgleiche – öffentliche Veränderungsinteresse (A) in dem Schutz der Gemeinschaftsindustrie, das gegenläu142
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1. Teil: Einleitung
Im Fall der Markeneintragung stehen dagegen dem Veränderungsinteresse des Adressaten – also des Markenanmelders – einerseits bestimmte rein öffentliche Bestandsinteressen und anderseits bestimmte rein private Bestandsinteressen Dritter gegenüber. Diese sind untereinander jedoch nicht inhaltsgleich: Die in Art. 7 GMV als „absolute Eintragungshindernisse“ artikulierten öffentlichen Bestandsinteressen sind im wesentlichen darauf gerichtet, daß Beeinträchtigungen des Wettbewerbs – durch zu weitgehende Monopolisierungen bestimmter Zeichen –147, der verbraucherbezogenen Transparenz148 sowie der Wirkkraft bestimmter hoheitlicher Symbole149 verhindert werden. Dagegen sind die rein privaten Bestandsinteressen, die in Art. 8 GMV als „relative Eintragungshindernisse“ bzw. in Art. 52 GMV als „relative Nichtigkeitsgründe“ artikuliert sind, darauf gerichtet, Beeinträchtigungen vorbestehender absoluter Privatrechte zu verhindern, zu denen die Gemeinschaftsmarke in ein Konkurrenzverhältnis tritt. Diese Dissoziierung der von der Markeneintragung berührten öffentlichen und privaten Interessen läßt sich also folgendermaßen in eine Matrix kollidierender Interessen im Verwaltungsrecht einordnen:
fige – dem Privatinteresse des Adressaten inhaltsgleiche – öffentliche Bestandsinteresse (B) in einem möglichst niedrigen Preisniveau. 147 Art. 7 Abs. 1 lit. b)–d) GMV, vgl. hierzu EuG, Urt. v. 10. 11. 2004, Storck/ HABM, T-402/02, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 76: „Gemäß Artikel 7 Absatz 3 der Verordnung Nr. 40/94 stehen die absoluten Eintragungshindernisse des Artikels 7 Absatz 1 Buchstaben b) bis d) der Verordnung der Eintragung einer Marke nicht entgegen, wenn diese für die Waren oder Dienstleistungen, für die die Eintragung beantragt wird, infolge ihrer Benutzung Unterscheidungskraft erlangt hat. Die Tatsache, dass das Zeichen, das die betreffende Marke bildet, von den maßgeblichen Verkehrskreisen tatsächlich als Angabe der betrieblichen Herkunft einer Ware oder einer Dienstleistung wahrgenommen wird, ist nämlich im Fall des Artikels 7 Absatz 3 der Verordnung Nr. 40/94 das Ergebnis einer wirtschaftlichen Anstrengung des Anmelders der Marke. Dieser Umstand erlaubt es, die Erwägungen des Allgemeininteresses hintanzustellen, die Artikel 7 Absatz 1 Buchstaben b) bis d) zugrunde liegen und die verlangen, dass die von diesen Bestimmungen erfassten Zeichen von allen frei verwendet werden können, um einen unzulässigen Wettbewerbsvorteil für einen einzelnen Wirtschaftsteilnehmer zu vermeiden.“ 148 Art. 7 Abs. 1 lit. g) GMV. 149 Art. 7 Abs. 1 lit. i) GMV.
§ 4 Ziel der Untersuchung und Gang der Darstellung Veränderungsinteresse
rein privat (Adressat)
51
Bestandsinteresse
rein privat (Dritter)
privat (Dritter) mit parallelem öffentl. Interesse B
– z. B. Markeneintragung
– Erlaubnis einer privaten Handlung d. Adressaten, z. B. Baugen.
privat (Adressat) mit parallelem öffentl. Interesse A
privat (Dritter) mit parallelem öffentl. Interesse A
rein öffentlich
rein privat (Adressat)
privat (Adressat) mit parallelem öffentl. Interesse B
rein öffentlich
– z. B. Markeneintragung
– Erlaubnis einer privaten Handlung d. Adressaten, z. B. Planfeststellung; – Subvention – Verbot/Sank- – z. B. AntiDumping tionierung einer privaten Handlung d. Adressaten, z. B. Wettbewerbsaufsicht – privatnützige Enteignung kein Fall der Drittwirkung
§ 4 Ziel der Untersuchung und Gang der Darstellung Die vorliegende Untersuchung verfolgt ein mehrfaches Ziel bzw. Erkenntnisinteresse. Zunächst geht es im folgenden 2. Teil um eine rechtsdogmatische Untersuchung der Frage, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Inhalt sekundärrechtliche Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes außerhalb spezifischer Öffnungsklauseln wie Art. 229 und 236 EGV mit dem Primärrecht vereinbar sind. Sodann werden im 3. Teil die strukturellen Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes einer exemplarischen Analyse anhand des Gemeinschafsmarkenrechts unterzogen; dabei folgt die Darstellung einer Gliederung nach den oben identifizierten Elementen der Struktur des Rechtsschutzes150. In diesem Rahmen werden auch die sachlichen Erwägungen herausgearbeitet, die diesen Ausdifferen150
Vgl. oben § 2 B. I.
52
1. Teil: Einleitung
zierungen zugrunde liegen. Ein zusätzliches Erkenntnisinteresse ergibt sich daraus, daß bestimmte Entscheidungen des HABM ausschließlich kollidierende Privatinteressen berühren. Hier ist nun zu untersuchen, wie diese – für das Gemeinschaftsmarkenrecht innerhalb des EG-Eigenverwaltungsrechts spezifische – Konstellation gleichwohl mit den Instrumenten und im systematischen Rahmen des allgemeinen Verwaltungsprozeßrechts bewältigt wird. Im deutschen Recht hat sich dagegen für vergleichbare Konstellationen im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes ein besonderes, vom allgemeinen Verwaltungsprozeßrecht vollständig entkoppeltes Rechtsschutzregime mit einer entsprechenden Sonderdogmatik herausgebildet. Im 4. Teil werden in entsprechender Weise die substantiellen Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes behandelt, wobei der Schwerpunkt auf dem Aspekt des Sanktionskriteriums liegt151. Im abschließenden 5. Teil wird erstens in rechtssystematischer Perspektive zusammenfassend dargestellt, auf welchen Sachgründen Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzregimes im EG-Eigenverwaltungsrecht beruhen; weiterhin wird versucht, die beiden Dimensionen der strukturellen bzw. substantiellen Ausdifferenzierung bestimmten normativen – d. h. legislativen oder jurisprudentiellen – Formen zuzuordnen. Zweitens geht es um eine rechtspolitische Bewertung des Rechtsschutzregimes im Gemeinschaftsmarkenrecht anhand der Kriterien der Verfahrensökonomie, der Verfahrensbeschleunigung und der materiellen Richtigkeitsgewähr. Drittens sollen rechtspolitische Perspektiven aufgezeigt werden. Dabei geht es zum einen darum, welche konkreten Inhalte für sektorielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes im EG-Eigenverwaltungsrecht sinnvollerweise in Betracht kommen. Zum anderen soll nach den normativen Formen legislativer Ausdifferenzierungen gefragt werden, wobei dem Aspekt der Kohärenz des Rechtsschutzsystems insgesamt besondere Bedeutung zukommt.
151
Vgl. oben § 2 B. II.
2. Teil
Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes im Kontext des Primärrechts § 1 Die Struktur des Rechtsschutzes als Gegenstand des Primär- und des Sekundärrechts A. Primärrechtliche Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes I. Allgemeines Als „verwaltungsprozessuale[r] Mikrokosmos im Range des primären Gemeinschaftsrechts“1 regeln die Art. 220 ff. EGV die wesentlichen Strukturelemente des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzes auf der Ebene des Primärrechts. Lediglich die Regelungen über die Verfahrensbeteiligung privater Dritter neben dem Initiator des Rechtsschutzverfahrens sowie über dessen Ausgestaltung i. e. S. sind in der Satzung des EuGH enthalten. Letztere bildet nach Art. 245 1. UA EGV ein Protokoll zum Vertrag und damit im Grundsatz ebenfalls eine Rechtsquelle mit Primärrechtsrang2. Allerdings sieht Art. 245 2. UA EGV vor, daß die EuGH-Satzung – mit Ausnahme der im 1. Titel zusammengefaßten Regelungen über die Rechtsstellung der Mitglieder des EuGH – durch einstimmigen Ratsbeschluß geändert werden kann3. Die Grundzüge der primärrechtlich normierten Struktur des Rechtsschutzes lassen sich wie folgt skizzieren: – Rechtsschutzinstanzen sind – bisher – die beiden Gemeinschaftsgerichte EuGH und EuG. Diese bilden, wie sich aus der Zusammenschau von Art. 7 Abs. 1, 4. tir. und Art 220 EGV ergibt, die beiden selbständigen Teile des Gemeinschaftsorgans „Gerichtshof“. Die durch den Vertrag von Nizza in den EGV eingefügten Artikel 220 2. UA und 225 a ermächtigen den Rat zur 1
Schmidt-Aßmann, FS f. Bernhardt, S. 1283 ff. (1296). Hierzu eingehend Hackspiel, in: G/S, Art. 245 EG, Rn. 5, sowie Vorbem. zur Satzung des Gerichtshofs, Rn. 2. 3 Die EuGH-Satzung wird ihrerseits konkretisiert und ergänzt durch die Verfahrensordnungen der Gemeinschaftsgerichte, dazu oben 1. Teil, § 2 C. 2
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
Schaffung „gerichtlicher Kammern“, die dem Gericht erster Instanz „beigeordnet“ sind4. Die genaue Abgrenzung der sachlichen und instantiellen Zuständigkeiten der Gemeinschaftsgerichte ergibt sich aus Art. 225 Abs. 1 EGV und den zu seiner Ausführung ergangenen Bestimmungen der EuGH-Satzung (Art. 51)5. – Rechtsschutzgegenstände sind im wesentlichen, d. h. im Rahmen der „strukturprägenden“ Klagearten der Nichtigkeits- und der Untätigkeitsklage, der erfolgte bzw. der unterlassene Erlaß einer Entscheidung durch die in Art. 230 und 232 EGV genannten Gemeinschaftsorgane oder die EZB. „Entscheidung“ in diesem Sinne ist jede regulative Handlung, durch die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt werden6, die also „Außenwirkung“ besitzt i. S. der Veränderung der Rechtssituation irgendeines Rechtssubjekts außerhalb ihres Urhebers7. – Der Rechtsschutzinhalt besteht entweder in der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung (Art. 230 EGV) oder in der Feststellung, daß das Unterlassen des Erlasses einer Entscheidung rechtswidrig war (Art. 232 EGV). – Parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsschutzantrags sind die aktive Parteifähigkeit, die Klagebefugnis, also die individuelle und – nach herrschender Meinung8 – unmittelbare Betroffenheit des Klägers durch die angefochtene Entscheidung, sowie – ungeschrieben – das Rechtsschutzbedürfnis9. – Zur Verfahrensbeteiligung privater Dritter neben dem Initiator des Verfahrens bestimmt Art. 40 Abs. 2 und 4 der EuGH-Satzung, daß Personen, die „ein berechtigtes Interesse am Ausgang eines [. . .] anhängigen Rechtsstreits haben“, diesem beitreten und in diesem Rahmen die Anträge einer Partei unter4 Allg. hierzu Jung, in: G/S, Art. 224 bis 225a, Rn. 63 ff.; van Raepenbusch, Gazette du Palais v. 20./21. 6. 2001, S. 6 ff.; Tambou, Revue du Marché commun et de l’Union européenne 2001, S. 164 ff.; vgl auch unten 5. Teil, § 2 B. 5 Siehe die letzte Änderung dieser Bestimmung durch Ratsbeschluss vom 26. 4. 2004, ABl. L 135, S. 5. 6 Ständ. Rspr. vgl nur EuGH, Urt. v. 11. 11. 1981, IBM/Kommission, Rs. 60/81, Slg. S. 2639, Rn. 9; dazu Borchardt, in: Lenz, Art. 230 EGV, Rn. 5 ff.; Roseren, in: Léger, Philippe (Hg.): Commentaire article par article des traités UE et CE, Art. 230 EG, Rn. 10 ff.; Schmidt-Aßmann in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 115 ff.; eingehend auch Röhl, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff. 7 Das üblicherweise weiterhin genannte Erfordernis, daß die Handlung „die Interessen des Klägers durch Eingriff in seine Rechtsstellung beeinträchtigt“ (so die Definition der Rechtsprechung seit EuGH, Urt. v. 11. 11. 1981, IBM/Kommission, Rs. 60/81, Slg. S. 2639, Rn. 9), sollte als parteibezogenes Element der Zulässigkeit richtigerweise nicht bereits im Zusammenhang mit dem Klagegegenstand sondern erst beim Rechtsschutzbedürfnis geprüft werden, vgl. unten II. 2. (bei Fn. 24). 8 Vgl. jedoch unten II. 1. (bei Fn. 19 u. 20). 9 Dazu im einzelnen unten II.
§ 1 Rechtsschutz als Gegenstand des Primär- und des Sekundärrechts
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stützen können. Art. 53, 2. UA S. 2 der EuGH-Satzung enthält allerdings eine Öffnungsklausel in bezug auf die prozessualen Befugnisse des Beitretenden für den Bereich der Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des geistigen Eigentums. Im folgenden ist auf zwei Aspekte der primärrechtlichen Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes näher einzugehen, die für die vorliegende Untersuchung von besonderer Bedeutung sind. Zunächst soll das zentrale Strukturelement der Initiativberechtigung bei der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV ausführlicher dargestellt werden (unten II.). Sodann ist zu untersuchen, ob auch die Hoheitsakte solcher Gemeinschaftseinrichtungen, die ihrerseits durch eine sekundärrechtliche Regelung errichtet worden sind, taugliche Gegenstände der primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidungen darstellen (unten III.). II. Initiativberechtigung bei der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV 1. Klagebefugnis Im Gemeinschaftsrecht werden der Klagebefugnis üblicherweise die alternativen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Adressatenstellung des Klägers bzw. seiner individuellen und unmittelbaren Betroffenheit durch die angefochtene Handlung zugeordnet10. Nach der klassischen, doch noch stets aktuellen „Plaumann-Formel“ ist ein Kläger von einer Handlung nur dann individuell betroffen, „wenn sie ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten einer Entscheidung“11. Die Rechtsprechung hat diese generalklauselartige Umschreibung durch eine Reihe von 10 Aus der reichhaltigen Literatur zum Thema seien nur folgende neuere Arbeiten genannt: Arnull/Dashwood/Ross/Wyatt, European Union Law, S. 231 ff.; Booß, in Grabitz/Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 230 EGV, Rn. 49–75; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 65 ff.; Röhl, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff.; ders., Jura 2003, S. 830 (833 f.); Burgi, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann (Hg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 7, Rn. 51–79; Arnull, CMLR 2001, S. 7 ff. Zu geplanten Änderungen im Rahmen des „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ Koch, European Law Review 2005, S. 511 ff. An älteren Arbeiten seien beispielhaft genannt: De Witte, in: Alston (Hg.) The EU and Human Rights, 1999, S. 859 ff. (876 f. u. 892 f); Ehlers, VerwArch 84 (1993), S. 139 ff.; v. Burchard, EuR 1991, S. 140 ff. 11 Ständ. Rspr. seit EuGH, Urt. v. 15. 7. 1963, Plaumann/Kommission, Rs. 25/62, Slg. S. 197 (223); vgl. beispielhaft EuGH, Urt. v. 24. 2. 1987, Deutz u. Geldermann/ Kommission, Rs. 26/86, Slg. S. 941, Rn. 9, sowie zuletzt EuGH, Urt. v. 25. 7. 2002, Unión de Pequenos Agricultores/Kommission, C-50/00 P, Slg. S. I-6677, Rn. 36; vgl. hierzu Röhl, Jura 2003, S. 830 (834).
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
Fallgruppen operationalisiert12. Danach ist ein Privater von einer Entscheidung individuell betroffen, wenn – er in deren Tenor namentlich genannt ist13, – deren Gründe Bezug nehmen auf eine von dem Privaten vorgenommene Verfahrenshandlung – z. B. die Stellung eines Antrags –14, auf die Rechtsstellung, die er aufgrund eines individuellen Hoheitsakts – z. B. einer Genehmigung – zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt innehatte15, auf bestimmte Verhaltensweisen des Privaten oder auf in seiner Person begründete Umstände16, – ihm prozedurale Rechte in dem auf den Erlaß der Entscheidung abzielenden Verfahren zustanden17, – die Entscheidung in „besondere Rechte“ des Privaten eingreift18. Das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit gehört nach der hier zugrundegelegten Definition19 dagegen der Sache nach nicht zur Klagebefugnis sondern ist ein verselbständigtes Element des Rechtsschutzbedürfnisses, da es, wie noch zu zeigen sein wird20, in einer bestimmten Relation des Klägers zu der begehrten Rechtsschutzentscheidung und nicht zu der angefochtenen Handlung besteht. Zusammenfassend läßt sich die auf die Alternative der Adressatenstellung oder der individuellen Betroffenheit reduzierte Klagebefugnis somit dahinge12 Dazu Schwarze, DVBl. 2002, S. 1297 (1301 f.); Burgi, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann (Hg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 7, Rn. 51–79; Röhl, Jura 2003, S. 830 (833 f.); Borchardt, in: Lenz, Art. 230 EGV, Rn. 37–41. 13 Vgl. z. B. EuGH, Urt. v. 21. 2. 1984, Allied Coporation/Kommission, Rs. 239/82 u. 275/82, Slg. S. 1005, Rn. 4 u. 12. 14 Vgl. z. B. EuGH, Urt. v. 6. 11. 1990, Weddel/Kommission, Rs. 354/87, Slg. S. 3847, Rn. 20–23. 15 Vgl. z. B. EuGH, Urt. v. 19. 10. 1976, Exportation de Sucres/Kommission, Rs. 88/ 76, Slg. S. 709, Rn. 9–12. 16 Dies betrifft insbesondere das Anti-Dumping Recht (Ermittlung der Preisgestaltung bestimmter Unternehmen zum Zwecke der Bemessung des Anti-Dumping-Zolls), vgl. EuGH, Urt. v. 21. 2. 1984, Allied Corporation/Kommission, Rs. 239/82 u. 275/82, Slg. S. 1005, Rn. 4 u. 12. 17 Dies betrifft ebenfalls das Anti-Dumping Recht (vgl. die Leitentscheidung EuGH, Urt. v. 4. 10. 1983, Fediol/Kommission, Rs. 191/81, Slg. S. 2913, Rn. 5–33) sowie das Recht der staatlichen Beihilfen (vgl. EuGH, Urt. v. 2. 4. 1998, Kommission/Systraval, C-367/95 P, Slg. S. I-1719, Rn. 47); eingehend hierzu Lenaerts/Vanhamme, CMLRev 1997, S. 557 ff. 18 EuGH, Urt. v. 18. 5. 1994, Codorniu/Rat, C-309/89, Slg. S. I-1853, Rn. 17–23; dazu näher unten 3. Teil, § 4 B. II. 1. 19 Vgl. oben 1. Teil, § 2 B. I. 3. b). 20 Vgl. unten 2. (bei u. nach Fn. 32).
§ 1 Rechtsschutz als Gegenstand des Primär- und des Sekundärrechts
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hend kennzeichnen, daß der Kläger durch die angefochtene Handlung spezifisch, d. h. in anderer Weise als der „Kreis aller übrigen Personen“ betroffen sein muß21. Anders als im deutschen Recht kommt es dagegen – jedenfalls im Grundsatz – nicht darauf an, ob die angefochtene Handlung eine rechtliche Belastungswirkung für den Kläger entfaltet. Eine – im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsmarkenrecht freilich bedeutsame – Ausnahme besteht lediglich in Gestalt der Fallgruppe des Eingriffs in „besondere Rechte“ des Klägers22. 2. Rechtsschutzbedürfnis Dem Systembegriff des Rechtsschutzbedürfnisses zuzuordnen sind zwei untereinander zwar verwandte aber doch zu unterscheidende Aspekte der Initiativberechtigung. Die Rechtsprechung hat das Erfordernis herausgestellt, wonach der Rechtsschutzgegenstand eine Belastungswirkung für den Kläger entfalten muß. Diese Belastungswirkung wird von der Rechtsprechung dahingehend umschrieben, daß die angefochtene Entscheidung „die Interessen des Klägers durch Eingriff in seine Rechtsstellung beeinträchtigt“23. Bisweilen prüfen die Gemeinschaftsgerichte dieses Erfordernis allerdings bereits im Zusammenhang mit dem Klagegegenstand, was der systematischen Klarheit indes abträglich ist24. Übrigens zeigt sich damit in rechtsvergleichender Perspektive, wie verschiedene Prozeß21 Das Erfordernis der Spezifizität ist in dem Urteil des EuGH v. 25. 7. 2002, Unión de Pequenos Agricultores/Kommission, C-50/00 P, Slg. S. I-6677, nochmals insofern bekräftigt worden, als der EuGH den Schlußanträgen von GA Jacobs, in denen dieser vorgeschlagen hatte, auf ein derartiges Erfordernis zu verzichten (Rn. 59), ausdrücklich nicht gefolgt ist. Dagegen hatte das EuG in seinem Urteil v. 3. 5. 2002, JégoQuéré/Kommission, T-177/01, Slg. S. II-2365, Rn. 51, betont, daß „die Zahl und die Lage anderer Personen, deren Rechtsposition durch die [angefochtene Handlung] ebenfalls beeinträchtigt wird oder werden kann, [. . .] insoweit keine relevanten Gesichtspunkte [sind]“. 22 Auch insofern ist der EuGH in seinem Urteil v. 25. 7. 2002, Unión de Pequenos Agricultores/Kommission, C-50/00 P, Slg. S. I-6677, den Schlußanträgen von GA Jacobs nicht gefolgt. Dieser hatte vorgeschlagen, einen einzelnen dann als individuell von einer Gemeinschaftshandlung betroffen zu betrachten, wenn die Handlung aufgrund seiner persönlichen Umstände erhebliche nachteilige Auswirkungen auf seine Interessen hat oder wahrscheinlich haben wird (Rn. 60). In ähnlicher Weise hatte das EuG in seinem Urteil v. 3. 5. 2002, Jégo-Quéré/Kommission, T-177/01, Slg. S. II-2365 eine natürliche oder juristische Person als von einer sie unmittelbar betreffenden normativen Handlung individuell betroffen angesehen, wenn diese „ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt“ (Rn. 51). Die Frage einer Belastungswirkung der angefochtenen Handlung für den Kläger erlangt allerdings im Rahmen des Rechtsschutzbedürfnisses Bedeutung; dazu sogleich im Text. 23 Ständ. Rspr., vgl. nur EuGH, Urt. v. 11. 11. 1981, IBM/Kommission, Rs. 60/81, Slg. S. 2639, Rn. 9, sowie EuG, Urt. v. 18. 12. 1997, ATM/Kommission, T-178/94, Slg. S. II-2529, Rn. 53–63.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
rechtsnormen ein und dasselbe Element im Kontext der verschiedenen parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzungen unterschiedlich qualifizieren. Denn im deutschen Recht gehört die rechtliche Belastungswirkung eines Verwaltungsakts zur – möglichen – Verletzung eines subjektiven Rechts und damit zur Klagebefugnis25. Erneut erweist sich damit, daß die Eigenständigkeit des Systembegriffs der Klagebefugnis gegenüber demjenigen des Rechtsschutzbedürfnisses lediglich eine Frage der terminologischen Zweckmäßigkeit ist26. Das Erfordernis, daß der Rechtsschutzgegenstand – also die angefochtene Entscheidung – eine rechtliche Belastungswirkung für den Kläger entfaltet, steht allerdings lediglich pars pro toto für eine abstrakter zu formulierende Zulässigkeitsvoraussetzung. Diese besteht darin, daß die beantragte Rechtsschutzentscheidung – also die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung – im konkreten Fall zur Erreichung des substantiellen Verfahrensziels, also zum Schutz klägerischer Individualinteressen, geeignet sein muß27. Dieses Erfordernis ist im Regelfall erfüllt, wenn die angefochtene Entscheidung eine Belastungswirkung für den Kläger entfaltet, die durch deren Aufhebung beseitigt wird. Anders ist dies jedoch, wenn die Eignung der Rechtsschutzentscheidung zum Schutz klägerischer Individualinteressen aufgrund von Umständen entfällt, die erst nach Erlaß der angefochtenen Entscheidung eingetreten sind. Dies ist etwa der Fall, wenn die angefochtene Entscheidung ihre ursprünglich vorhandene Belastungswirkung inzwischen verloren, sich also erledigt hat oder wenn diese Belastungswirkung jedenfalls durch die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nicht mehr zu beseitigen ist, weil diese irreversibel vollzogen ist28. Ebenso gehört hierher die Konstellation, daß sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich in der Weise geändert hat, daß die Ausgangsinstanz nunmehr verpflichtet ist, eine neue, der angefochtenen inhaltsgleiche Entscheidung zu erlassen29.
24 Kritisch zu dieser Vermischung auch Booß, in Grabitz/Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 230 EGV, Rn. 16, 77; Röhl, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff. (341), erklärt diesen Laxismus damit, daß die Frage der Zulässigkeit der Klage das einzige Qualifikationsziel darstelle. 25 Vgl. Wahl/Schütz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 42 Abs. 2, Rn. 70. 26 Vgl. oben § 2 B. I. 3. b) (a. E.). 27 So deutlich EuGH, Urt. v. 13. 7. 2000, Parlament/Richard, C-174/99 P, Slg. S. 6189, Rn. 33, sowie EuG, Urt. v. 28. 9. 2004, MCI/Kommission, T-310/00, Slg. S. II, Rn. 44; s. a. Roseren, in: Léger, Philippe (Hg.), Commentaire article par article des traités UE et CE, Art. 230 EG, Rn. 22. 28 Vgl. insofern zum deutschen Recht Eyermann/Rennert, vor § 40, Rn. 11 ff. Hinsichtlich des Vollzugs einer Entscheidung sind allerdings Nuancierungen angezeigt, vgl. Booß, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 230 EGV, Rn. 77. 29 Dies gilt unbeschadet von der Frage des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Rechts- und Sachlage, dazu unten 4. Teil, § 3.
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Ebenfalls häufig dem Rechtsschutzbedürfnis zugeordnet wird eine – gesetzliche oder richterrechtliche – Regel, wonach eine angefochtene Entscheidung, die lediglich formell rechtswidrig ist, sanktionslos bleibt, da bei ihrer Aufhebung eine inhaltsgleiche neue Entscheidung ergehen müßte30. Bei strikter Betrachtung ist eine derartige Fehlerfolgenregelung jedoch nicht als ein Fall des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses – im Sinne einer parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsschutzantrags – zu rekonstruieren. Vielmehr handelt es sich der Sache nach um einen Aspekt des maßgeblichen Sanktionskriteriums31. Zweitens ist, wie bereits angedeutet, das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit unter systematischen Aspekten ein – lediglich positiv-rechtlich verselbständigtes – Element des Rechtsschutzbedürfnisses32. Es läßt sich dahingehend umschreiben, daß der Schutz der Individualinteressen des Klägers nicht in gleicher Weise durch eine – hypothetische – Rechtsschutzentscheidung bewirkt werden kann, deren Gegenstand ein anderer, dem tatsächlich angefochtenen Hoheitsakt nachfolgender Hoheitsakt ist. Damit hat das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit zum Zweck, Klagen von lediglich potentiell Betroffenen auszuschließen33. In der Literatur wird es i. d. R. ausschließlich oder doch mindestens schwerpunktmäßig erörtert im Zusammenhang mit Konstellationen des Zusammenwirkens von Gemeinschaftsorganen mit mitgliedstaatlichen Stellen34 beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts, insbesondere im Hinblick auf die An-
30 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 6. 7. 1983, Geist/Kommission, 117/81, Slg. S. 2191, Rn. 7; die entscheidende Passage lautet: „ein Kläger [hat] kein Interesse an der Aufhebung einer Entscheidung wegen Formmangels [. . .], wenn die Verwaltung keinen Ermessensspielraum besitzt und handeln muß, wie sie es getan hat. In einem solchen Fall könnte nämlich die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nur zum Erlaß einer neuen Entscheidung führen, die inhaltlich mit der aufgehobenen Entscheidung identisch ist.“ Siehe auch EuG, Urt. v. 18. 12. 1992, Díaz García/Parlament, T-43/90, Slg. S. II-2619, Rn. 54, sowie EuG, Urt. v. 20. 9. 2000, Orthmann/Kommission, T-261/ 97, Slg. ÖD S. I-A-181 und S. II-829, Rn. 33 und 35. 31 Vgl. hierzu näher unten 4. Teil, § 1 B. I. 2. (bei u. in Fn. 98). 32 Tendenziell ebenso Booß, in Grabitz/Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 230 EGV, Rn. 50. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 7, Rn. 88, begreift dagegen umgekehrt das Rechtssschutzbedürfnis als Element der Klagebefugnis, was vom Standpunkt der hier zugrundegelegten Definition dieser beiden Systembegriffe nicht zutreffend erscheint, da das Rechtssschutzbedürfnis in einer bestimmten Relation des Klägers zu der begehrten Rechtsschutzentscheidung und nicht zu der angefochtenen Handlung besteht. 33 Ehlers, VerwArch 84 (1993), S. 139 ff. (151); Cremer, EuZW 2001, S. 453 ff. (455). 34 Röhl, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff. (356), sieht den Zweck des Unmittelbarkeitserfordernisses in der „funktionsgerechte[n] Verteilung der Rechtsprechungskompetenzen bei der Zusammenarbeit mehrerer Verwaltungsträger“; ähnlich Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, S. 275; Sedemund/Heinemann, DB 1995, S. 713 ff. (713) sprechen von einem „Ausdruck der föderalen Struktur der Gemeinschaft“.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
fechtung einer Richtlinie35 oder einer an einen Mitgliedstaat gerichteten Entscheidung, die diesen zu einem Handeln gegenüber einem Privaten verpflichtet. In der Tat bewirkt hier eine auf einen dem Gemeinschaftsrechtsakt nachfolgenden mitgliedstaatlichen (Vollzugs-)Akt bezogene Rechtsschutzentscheidung den Schutz der klägerischen Individualinteressen in gleicher Weise wie eine gegen den Gemeinschaftsrechtsakt selbst gerichtete Nichtigkeitsklage. Das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit erlangt jedoch auch in anderen Konstellationen Bedeutung. Dies betrifft zum einen die Anfechtung einer an einen Dritten gerichteten Entscheidung. Zum anderen ist die auch im Kontext des Gemeinschaftsmarkenrechts wichtige Konstellation einer Verfahrensstufung zu nennen, in der die angefochtene Entscheidung zwar bereits gewisse verbindliche Rechtswirkungen entfaltet, also einen tauglichen Klagegegenstand darstellt, ihr aber noch weitere Entscheidungen „nachgeschaltet“ sind36. Wiederum steht das auf diese Weise umschriebene Unmittelbarkeitserfordernis pars pro toto für eine umfassendere parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzung. Diese läßt sich dadurch kennzeichnen, daß die beantragte Rechtsschutzentscheidung – und damit der eingelegte Rechtsbehelf – zur Erreichung des substantiellen Verfahrensziels, also zum Schutz der klägerischen Individualinteressen37 (i. w. S.) erforderlich sein muß. Zu dieser Erforderlichkeit – i. w. S. – gehört neben der unmittelbaren Betroffenheit des Klägers, daß der Rechtsbehelf auch i. e. S. zur Erreichung dieses substantiellen Verfahrensziels erforderlich ist. Daran fehlt es dann, wenn dem Kläger die Möglichkeit offen steht, sein substantielles Verfahrensziel durch die Initiierung eines anderen, gegenüber dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren minder aufwendigen und dennoch gleichwertigen Verfahrens38 zu erreichen. 35 Aus der jüngeren Rechtsprechung hierzu siehe EuG, Urt. v. 27. 6. 2000, Salamander u. a./EP u. Rat, T-172/98 u. a., Slg. S. II-2487, sowie Urt. v. 17. 6. 1998, UEAPME/ Rat, T-135/96, Slg. S. II-2335; dazu Cremer, EuZW 2001, S. 453 ff. s. a. v. Burchard, EuR 1991, S. 140 ff. 36 Vgl. aus der Rechtsprechung etwa EuGH, Urt. v. 23. 4. 1986, Les Verts/Parlament, Rs. 294/83, Slg. S. 1339, Rn. 31, wo der EuGH prüft, ob die Klägerin durch die angefochtene Entscheidung des Parlaments über die Verteilung der Mittel für Wahlkampfaufwendungen unmittelbar betroffen ist, was unter Hinweis auf das Fehlen von weiteren Ausführungsakten bejaht wird. Es geht daher zu weit, wenn gesagt wird, das Unmittelbarkeitserfordernis sei „weitgehend mit dem der Verbindlichkeit des angegriffenen Akts [. . .] identisch“, so aber Booß, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 230 EGV, Rn. 50. 37 In dieser Dimension könnte das Rechtsschutzbedürfnis auch für Klagen der privilegierten institutionellen Kläger Bedeutung erlangen, nämlich dann, wenn der Kläger den angefochtenen Hoheitsakt selbst und ohne Mitwirkung anderer Instanzen ex tunc mit gleicher Wirkung wie derjenigen eines Nichtigkeitsurteils beseitigen kann. 38 Dabei muß es sich nicht unbedingt ebenfalls um ein Rechtsschutzverfahren handeln: So kann beispielsweise im Rahmen der Untätigkeitsklage nach Art. 232 EGV (dazu unten 3. Teil, § 4 B. II.) der Kläger sein substantielles Verfahrensziel – den Erlaß der begehrten Entscheidung – auch durch einen vorherigen Antrag an die Verwal-
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Zusammenfassend bezeichnet das Rechtsschutzbedürfnis bei den Nichtigkeitsklagen nach Art. 230 Abs. 4 EGV somit die kumulativen Zulässigkeitsvoraussetzungen, wonach die beantragte Rechtsschutzentscheidung im konkreten Fall zum Schutz von Individualinteressen des Klägers geeignet und erforderlich sein muß. III. Hoheitsakte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen als Gegenstände des primärrechtlichen Rechtsschutzregimes Sekundärrechtliche Ausdifferenzierungen der Struktur des Rechtsschutzes werden i. d. R. in bezug auf die Hoheitsakte solcher Gemeinschaftseinrichtungen vorgesehen, die selbst durch eine sekundärrechtliche Regelung errichtet worden sind. Daher stellt sich die Frage, ob derartige Hoheitsakte taugliche Gegenstände der primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidungen darstellen. In einem ersten Schritt soll untersucht werden, ob das Primärrecht im Grundsatz gerichtlichen Rechtsschutz auch gegen die Hoheitsakte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen gewährleistet (unten 1.). Sodann geht es um die eigentliche Frage, ob das primärrechtliche Rechtsschutzregime als solches auf derartige Hoheitsakte unmittelbar anwendbar ist oder ob die Struktur des Rechtsschutzes insofern einer Normierung durch den Sekundärrechtsgesetzgeber bedarf (unten 2.). 1. Primärrechtliche Gewährleistung gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Hoheitsakte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen Vorliegend geht es zunächst ausschließlich um die Frage, ob das Primärrecht gerichtlichen Rechtsschutz auch gegen die Hoheitsakte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen grundsätzlich gewährleistet und – noch – nicht um die unmittelbare Anwendbarkeit des konkreten primärrechtlichen Rechtsschutzregimes auf derartige Hoheitsakte. Diese Frage läßt sich somit auch dahingehend formulieren, ob das Primärrecht eine institutionelle Garantie des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die erfolgte oder unterlassene Vornahme von Hoheitsakten sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen enthält. Für die Beantwortung dieser Frage sind individualrechtliche ebenso wie institutionelle Erwägungen von Bedeutung.
tungsbehörde erreichen, der deshalb eine obligatorische Zulässigkeitsvoraussetzung der Klage darstellt.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
a) Individualrechtliche Aspekte: Das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzprinzip Die Verträge enthalten zwar ausdrücklich keine umfassende Gewährleistungsnorm des gerichtlichen Rechtsschutzes, wie sie Art. 19 Abs. 4 GG im deutschen Verfassungsrecht darstellt39. Vielmehr beschränken sie sich auf eine „Enumeration von Einzelzuständigkeiten“40 der Gemeinschaftsgerichte. Gleichwohl hat der EuGH bekanntlich einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts entwickelt, wonach den Rechtsunterworfenenen ein Recht auf effektiven und vollständigen gerichtlichen Schutz der Rechte zusteht, die sie aus der Gemeinschaftsrechtsordnung herleiten41. Zur Gewinnung dieses allgemeinen Rechtsgrundsatzes – im folgenden als „gemeinschaftsrechtliches Rechtsschutzprinzip“ bezeichnet – hat der EuGH eine dreifache normative Ableitungsbasis herangezogen: Erstens hat er sich auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gestützt, zweitens auf das in Art. 6 Abs. 1 und 13 EMRK verankerte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Drittens hat er die „Vollständigkeit des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystems“ postuliert42, wobei er der Sache nach eine Gesamtanalogie vorgenommen hat zu seinem in Art. 220 (ex 164) EGV normierten Rechtswahrungsauftrag sowie zu den Vertragsbestimmungen über die einzelnen Klagearten und über das Vorabentscheidungsverfahren. Mittlerweile hat Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzprinzip positiviert. Zu fragen ist allerdings, in welchem Verhältnis das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzprinzip zu dem konkreten primärrechtlichen Rechtsschutzregime 39 Schmidt-Aßmann, FS f. Bernhardt, S. 1283 ff. (1297); Streinz, VVDStRL 61 (2002), S. 300 ff. (328). 40 Schwarze, DVBl. 2002, S. 1297 ff. (1299). 41 EuGH, Urt. v. 15. 5. 1986, Johnston, Rs. 222/84, Slg. 1651, Rn. 18; Urt. v. 15. 10. 1987, Heylens, Rs. 222/86, Slg. 4097, Rn. 14; Urt. v. 3. 12. 1992, Oleificio Borelli/Kommission, C-97/91, Slg. I-6313, Rn. 14; Urt. v. 27. 11. 2001, Kommision/ Österreich, C-424/99, Slg. I-9285, Rn. 45; Urt. v. 25. 7. 2002, Unión des Pequenos Agricultores/Rat, C-50/00 P, Slg. I-6677, Rn. 39; Urt v. 1. 4. 2004, Kommission/JégoQuéré, C-263/02 P, Slg. I-3425, Rn. 29. s. a. Beschl. v. 31. 7. 2003, Le Pen/Parlament, C-208/03 P-R, Slg. I-7939, Rn. 80 f.; während in den früheren Entscheidungen lediglich von einem Recht auf effektiven gerichtlichen Schutz die Rede war, postuliert dieser Beschluß nunmehr auch ein Recht auf „vollständigen“ gerichtlichen Schutz, woraus der EuGH in casu ableitet, daß er trotz des insoweit nicht eindeutigen Wortlauts von Art. 83 Abs. 1 VfO-EuGH befugt ist, im Rahmen eines Rechtsmittels gegen eine Entscheidung des EuG auch die Durchführung des Vollzugs der in erster Instanz angegriffenen Entscheidung auszusetzen. 42 EuGH, Urt. v. 23. 4. 1986, Les Verts/EP, Rs. 294/83, Slg. 1339, Rn. 23–25. Das Europäische Parlament war nach der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung von Art. 173 EGV noch nicht passivlegitimiert im Rahmen einer Nichtigkeitsklage. s. a. EuGH, Urt. v. 25. 7. 2002, Unión des Pequeños Agricultores/Rat, C-50/00 P, Slg. I6677, Rn. 40.
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steht und zwar insbesondere, inwieweit sein Anwendungsbereich über dieses hinausreicht. Diese Frage betrifft zum einen die – im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter interessierenden – parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsschutzantrags. Während der Gerichtshof bei der Klagebefugnis bekanntlich in einigen jüngeren Entscheidungen einer Ausdehnung über das primärrechtliche Rechtsschutzregime hinaus eine ausdrückliche Absage erteilt hat43, hat er bei der – aktiven – Parteifähigkeit schon früh Ausweitungen vorgenommen44. Zum anderen geht es um die Bestimmung der tauglichen Rechtsschutzgegenstände. Hier ist zwischen dem Inhalt und dem Urheber des Hoheitsakts zu differenzieren. Hinsichtlich des Inhalts des Hoheitsakts deutet die Formulierung, den Rechtsunterworfenenen stehe ein Recht auf effektiven und vollständigen gerichtlichen Schutz der Rechte zu, die sie aus der Gemeinschaftsrechtsordnung herleiten, zwar auf ein extensives Verständnis des Anwendungsbereichs des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzprinzips hin. Allerdings hat der Gerichtshof bisher noch in keinem Fall eine von dem primärrechtlichen Rechtsschutzregime nicht abgedeckte Rechtsschutzentscheidung unter Rekurs auf das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzprinzip gerechtfertigt. Zwar hat die Rechtsprechung den Entscheidungsbegriff in Art. 230 und 232 EGV extensiv ausgelegt45; prinzipiell kommt diesem Begriff aber weiterhin eine „rechtsschutzeröffnende Funktion“46 zu. Dagegen hat der Gerichtshof schon zu einem frühen Zeitpunkt auch solche Hoheitsakte, deren Urheber in den Art. 230 und 232 EGV nicht ausdrücklich aufgeführt ist, als taugliche Rechtsschutzgegenstände angesehen47. Insgesamt läßt sich also leicht vergröbernd feststellen, daß das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzprinzip lediglich ratione personae, nicht aber in „funktionaler“ Hinsicht über das konkrete primärrechtliche Rechtsschutzregime hinausreicht48.
43 EuGH, Urt. v. 25. 7. 2002, Unión des Pequeños Agricultores/Rat, C-50/00 P, Slg. I-6677, Rn. 38–45; EuGH, Urt. v. 1. 4. 2004, Kommission/Jégo-Quéré, C-263/02 P, Slg. I-3425, Rn. 30–38. Dementsprechend enthalten die vom Präsidium des Grundrechts-Konvents verfaßten Erläuterungen zu Art. 47 Abs. 1 (Dok. CHARTE 4473/00 CONVENT 49 v. 11. 10. 2000, S. 41) den Vorbehalt, daß das dort statuierte Recht zur Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs bei einem Gericht „nach den in den Verträgen vorgesehenen Verfahren angewandt“ wird, da seine Aufnahme in die Charta nicht darauf abziele, „das in den Verträgen vorgesehene System von Rechtsbehelfen, vor allem nicht die Bestimmungen über die Zulässigkeit zu ändern“. 44 EuGH, Urt. v. 22. 5. 1990, Europäisches Parlament/Rat, C-70/88, Slg. II-2041, Rn. 27. 45 Vgl. oben I. sowie Röhl, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff. (339). 46 Röhl, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff. (334). 47 EuGH, Urt. v. 23. 4. 1986, Les Verts/EP, Rs. 294/83, Slg. 1339, Rn. 23–25; s. a. oben Fn. 43.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
b) Institutionelle Aspekte: Wahrung des institutionellen Gleichgewichts Neben die genannten individualrechtlichen treten institutionelle Erwägungen, die sich auf die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts49 beziehen. Zwar ist der genaue rechtliche Inhalt dieses Rechtsprinzips nicht abschließend definiert50. Gleichwohl wird man annehmen dürfen, daß eine seiner normativen Komponenten in dem Gebot besteht, die einem Organ kraft Primärrechts zugewiesenen Kompetenzen nicht auszuhöhlen51. Unterlägen nun aber die Akte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen nicht der Kontrolle durch den EuGH, so könnten die Legislativorgane der Gemeinschaft – d. h. der Rat, ggf. gemeinsam mit dem Parlament handelnd – durch die Schaffung einer derartigen Gemeinschaftseinrichtung die primärrechtlich normierten Kompetenzen des Gemeinschaftsorgans Gerichtshofs52 aushöhlen. Denn würde der Sekundärrechtsgesetzgeber die Durchführung eines Gemeinschaftsrechtsakts nicht einer besonders errichteten Gemeinschaftseinrichtung anvertrauen, so obläge – das Bestehen einer entsprechenden Verbandskompetenz immer vorausgesetzt – diese Aufgabe nach Art. 211, 4. tir. EGV der Kommission. Deren Akte unterliegen aber kraft Primärrechts der Rechtskontrolle der Gemeinschaftsgerichte.
48 Im gleichen Sinne Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, S. 188 f.; mit etwas anderer Akzentsetzung konstatiert Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 447, in der EuGH-Rechtsprechung eine Ausweitung des Rechtsschutzes gegenüber den Art. 220 ff. in denjenigen Fällen, in denen die Anwendung eines Gemeinschaftsrechtsakts den Gemeinschaftsorganen obliegt, während eine solche Ausweitung dann abgelehnt worden sei, wenn es um die Anwendung eines Gemeinschaftsrechtsakts durch mitgliedstaatliche Stellen gehe. 49 Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. (561, 571). 50 Müller-Graff in: ders. (Hg.), Perspektiven des Rechts in der europäischen Union, S. 183 ff. (217) bezeichnet dieses Prinzip als „rechtlich nur schwierig befestigbares Zielkriterium“, das in der Rechtsprechung des EuGH „punktuell geblieben“ sei. Lenz, in: Lenz Art. 7 EGV, Rn. 2, ist grundsätzlich skeptisch gegenüber eigenständigen normativen Gehalten dieses Prinzips neben der konkreten primärrechtlichen Zuständigkeitsordnung; vgl. zum Ganzen weiter Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 353 ff.; Lenaerts/Nuffel, Europees Recht in Hoofdlijnen, Rn. 471 ff.; sowie Priebe, Entscheidungsbefugnisse vertragsfremder Einrichtungen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 76; Weis, EuR 1980, S. 273 ff. (278 ff.). 51 Dieser Gedanke wird deutlich ausgesprochen in EuGH, Urt. v. 10. 7. 1986, Wybot, Rs. 149/85, Slg. S. 2391, Rn. 23; vgl. auch Lenaerts/Nuffel, Europees Recht in Hoofdlijnen, Rn. 471, 474. Dagegen wäre eine sekundärrechtliche Veränderung (d. h. Beschneidung) von Organkompetenzen bereits aufgrund des – nicht nur für materiellrechtliche sondern auch für kompetenzrechtliche Bestimmungen geltenden – Vorrangs des Primärrechts und nicht erst wegen Verletzung des institutionellen Gleichgewichts rechtswidrig, anders offenbar Weis, EuR 1980, S. 273 ff. (279 f.). 52 D. h. unter Einbeziehung des – seit dem Vertrag von Nizza in Art. 220 EGV allerdings ausdrücklich genannten – Gerichts erster Instanz sowie – ebenfalls seit dem Vertrag von Nizza – der vom Rat zu errichtenden gerichtlichen Kammern gemäß Art. 225a EGV (vgl. dazu oben A. I. – Fn. 4 –).
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c) Ergebnis Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß das Primärrecht eine institutionelle Garantie des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die erfolgte oder unterlassene Vornahme von Hoheitsakten enthält, durch die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt werden53 und die der öffentlichen Gewalt der Gemeinschaften zurechenbar sind54. Gefordert ist dabei Primärrechtsschutz, der mit „eingriffsbereinigender Kraft“55 die Rechtswirkungen des rechtswidrigen Hoheitsakts beseitigt und nicht lediglich auf die Liquidierung des durch diese verursachten Schadens abzielt56. Diese institutionelle Garantie des ungeschriebenen Primärrechts gilt, da sie von der konkreten „Normierung zuständiger Organe und einschlägiger Verfahren“57 in den Art. 220 ff. EGV losgelöst ist, auch für solche Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen, deren Urheber nicht ausdrücklich in Art. 230 Abs. 1 EGV aufgeführt ist. Da es diesem Grundansatz widersprechen würde, zwischen vertraglich und sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen zu differenzieren58, gilt sie auch für letztere. 2. Analoge Anwendung des primärrechtlichen Rechtsschutzregimes oder Erfordernis sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes Zu klären bleibt die Frage, ob das konkrete primärrechtliche Rechtsschutzregime der Art. 220 ff. EGV in bezug auf die erfolgte oder unterlassene Vornahme von Hoheitsakten sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen unmittelbar anwendbar ist oder ob die Struktur des Rechtsschutzes insofern einer Normierung durch den Sekundärrechtsgesetzgeber bedarf. Die Auffassungen in der Literatur sind geteilt: Einige Autoren erkennen lediglich eine Verpflichtung des Sekundärrechtsgesetzgebers an, eine Befugnis der Gemeinschaftsgerichte zum Erlaß von Rechtsschutzentscheidungen in bezug 53 Bedenklich daher Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. (576), der Fälle des schlichten Verwaltungshandelns wie das öffentliche Zugänglichmachen von personen- bzw. unternehmensbezogenen Daten als rechtsschutzrelevante Akte sekundärrechtlich geschaffener Gemeinschaftseinrichtungen ansieht. 54 Zur Qualität als allgemeiner Rechtsgrundsatz Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 31 ff.; Borchardt, in: Lenz, Art. 220 EGV, Rn. 62; zum Ausschluß von Handlungen ohne verbindliche Rechtswirkungen Röhl, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff. (342 f.). 55 Erbguth, VVDStRL 61 (2002), S. 221 ff. (231). 56 Streinz, VVDStRL 61 (2002), S. 300 ff. (327 ff). 57 Schmidt-Aßmann, FS f. Bernhardt, S. 1283 ff. (1297). 58 Allgemein Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. (571 f.); Lenaerts/Arts, Europees Procesrecht, Rn. 249; zurückhaltender noch ders., European Law Review 1993, S. 23 ff. (45 f.); speziell in bezug auf das HABM Jung, FS f. Everling, S. 611 (612 f.); ders. in: Plender (Hg.), European Courts – Practice and Proceedings, Rn. 3803.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
auf die Akte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen vorzusehen59. Diese Verpflichtung kann entweder dadurch erfüllt werden, daß – i. d. R. bereits in dem Errichtungsakt – das Rechtsschutzregime der Art. 220 ff. EGV auf die Akte der Gemeinschaftseinrichtung erstreckt wird, oder aber durch eigenständige Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes60. Teilweise wird auch erwogen, die Akte einer sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtung demjenigen Gemeinschaftsorgan zuzurechnen, von dem die „Zuständigkeitsübertragung“ ausgeht61. Die Mehrheit der Autoren will dagegen das Rechtsschutzregime der Art. 220 ff. EGV in bezug auf diese Akte analog anwenden62. Auch der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte läßt sich keine einheitliche Linie entnehmen. So hat das EuG einerseits Hoheitsakte der Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln implizit als von der Rechtsschutzzone der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV umfaßt angesehen63. Andererseits hat es in bezug auf Hoheitsakte des HABM die gegenteilige Auffassung vertreten64. Der letzteren Entscheidung lag eine Klage zugrunde, mit der ein Mitglied der Beschwerdekammern einen Beschluß des Präsidenten des HABM über deren interne Organisation angefochten hatte. Man wird dieser vereinzelt gebliebenen Entscheidung allerdings aus zwei Gründen keine allzu große Bedeutung beizumessen haben: Erstens geht das EuG auf die oben angesprochenen Fragen in keiner Weise ein. Zweitens stützt es selbst, wenn auch nur hilfsweise, die Unzulässigkeit der Klage auch darauf, daß dem Kläger in Gestalt der an die Kommission zu richtenden „Aufsichtsbeschwerde“ nach Art. 118 59 Klepper, Vollzugskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft aus abgeleitetem Recht, S. 152 ff. 60 Klepper, Vollzugskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft aus abgeleitetem Recht, S. 156 f. 61 So Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, S. 224; diskutiert aber letzlich verworfen wird diese Option von Berger, Vertraglich nicht vorgesehene Einrichtungen des Gemeinschaftsrechts mit eigener Rechtspersönlichkeit, S. 115–123. 62 Jung, in: G/S, Art. 224 bis 225a, Rn. 73; Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. (576); Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, S. 318 ff.; Berger, Vertraglich nicht vorgesehene Einrichtungen des Gemeinschaftsrechts mit eigener Rechtspersönlichkeit, S. 115, 124 f.; Hilf, Die Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften, S. 352; Ehlermann, EuR 1973, S. 191 ff. (202); tendenziell auch Lenaerts/Arts, Europees Processrecht, Rn. 249; Greco, Rivista italiana di diritto pubblico communitario, 1997, S. 27 ff. (36). 63 EuG, Urt. v. 18. 12. 2003, Fern Olivieri/Kommission u. Europäische Arzneimittelagentur, T-326/99, Slg. II-6053, Rn. 51–55. In diesem Urteil läßt das EuG den von den Beklagten erhobenen Zulässigkeitseinwand ungeprüft, wonach eine Stellungnahme der Europäischen Arzneimittelagentur deshalb kein tauglicher Gegenstand der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV sei, da diese dort nicht als potentieller Beklagter erwähnt sei, es begründet die Unzulässigkeit der Klage stattdessen lediglich mit dem fehlenden Entscheidungscharakter einer derartigen Stellungnahme. 64 EuG, Beschl. v. 8. 6. 1998, Keeling/HABM, T-148/97, Slg. S. II-2217.
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GMV ein alternativer, einfacherer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe. Dies ist aber eine Erwägung, die der parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsschutzinteresses zuzuordnen ist und nichts mit der hier entscheidenden Frage zu tun hat, ob die angefochtene Entscheidung einen tauglichen Gegenstand der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV darstellt. Vorzugswürdig ist die Auffassung, wonach die Hoheitsakte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen in analoger Anwendung von Art. 220 ff. EGV taugliche Gegenstände der primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidungen bilden: – Erstens ist an die bereits erwähnte Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache „Les Verts“65 zu erinnern, in der eine Nichtigkeitsklage in bezug auf Handlungen des Europäischen Parlaments für zulässig angesehen wurde, obwohl dieses nach der damaligen Fassung von Art. 173 EGV nicht passivlegitimiert war. Desgleichen hält die Rechtsprechung beispielsweise Nichtigkeitsklagen gegen den in Art. 230 EGV ebenfalls nicht erwähnten Rechnungshof für zulässig66. Wenn die Rechtsprechung demgegenüber in bezug auf eine Nichtigkeitsklage gegen Handlungen der EIB für anders entschieden hat, so geschah dies unter ausdrücklichem Hinweis darauf, daß diese Handlungen keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen67. Auch insofern besteht kein relevanter Unterschied zwischen vertraglich und sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen. – Zweitens ist der Aspekt der Kohärenz des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystems zu beachten. So hat der Gerichtshof – über den Wortlaut von Art. 234 S. 1 lit. b) EGV hinaus – auch Handlungen von Gemeinschaftseinrichtungen ohne Organqualität als zulässigen Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens anerkannt68. Außerdem hat er in seinem Urteil in der Rechtssache Meroni die Vereinbarkeit der Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf sekundärrechtlich errichtete Gemeinschaftseinrichtungen ausdrücklich – unter anderem – von der Einhaltung der Vertragsbestimmungen über die gerichtliche Kontrolle abhängig gemacht69. Ein Grund für eine un65
s. oben Fn. 42. EuGH, Urt. v. 11. 5. 1989, Maurissen und Union Syndicale/Rechnungshof, verb. Rs. 193/87 und 194/87, Slg. S. 1045, Rn. 29 ff.; s. a. Rn. 36–44 der Schlußanträge von GA Ruiz-Jarabo Colomer zu EuGH, Urt. v. 10. 7. 2001, Ismeri Europa/Rechnungshof, C-315/99 P, Slg. S. I-5281. 67 EuG, Urt. v. 26. 11. 1993, Tête/EIB, T-460/93, Slg. S. II-1257, Rn. 18. 68 EuGH, Urt. v. 6. 10. 1987, Demouche, Rs. 152/83, Slg. S. 3833, Rn. 17–20. 69 EuGH, Urt. v. 13. 6. 1958, Meroni u. a./Hohe Behörde, Rs. 9/56, Slg. S. 9 (41); s. a. Lenaert/Arts, Europees Procesrecht, Rn. 413 m.w. N. Zu beachten ist allerdings, daß sich dieses Urteil nur auf die Konstellation bezieht, in der einer sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtung solche Kompetenzen eingeräumt werden, die einem Organ kraft Primärrechts zugewiesen sind. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn einer derartigen Gemeinschaftseinrichtung – wie etwa dem HABM – eine primärrecht66
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
terschiedliche Behandlung sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen im Rahmen von Art. 234 einerseits und von Art. 230 EGV andererseits ist nicht ersichtlich70. – Schließlich ist drittens auch der „effet utile“ eines Sekundärrechtsakts, durch den eine Gemeinschaftseinrichtung errichtet wird, zu beachten. Ginge man nämlich davon aus, daß deren Akte nicht – in analoger Anwendung von Art. 220 ff. EGV – taugliche Gegenstände der primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidungen bilden, so würde ein solcher Sekundärrechtsakt gegen die institutionelle Garantie des gerichtlichen Rechtsschutzes71 verstoßen, sofern er weder das primärrechtliche Rechtsschutzregime auf die Akte der Gemeinschaftseinrichtung erstreckt noch eine eigenständige sekundärrechtliche Regelung der Struktur des Rechtsschutzes enthält. Er wäre somit rechtswidrig und damit auf eine Nichtigkeitsklage hin aufzuheben. Die Aufhebung eines Rechtsakts, durch den eine rechtlich verselbständigte Entität errichtet worden ist, ist jedoch unter der Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung72 eine äußerst gravierende Rechtsfolge; sie sollte daher nach Möglichkeit vermieden werden73. Dies gilt insbesondere für solche Gemeinschaftseinrichtungen, die zum Erlaß von Akten mit verbindlichen Rechtswirkungen ermächtigt sind. De lege ferenda ist bemerkenswert, daß es für sekundärrechtlich errichtete Gemeinschaftseinrichtungen einer Analogie zu dem primärrechtlichen Rechtsschutzregime zukünftig möglicherweise nicht mehr bedarf. Denn Art. III-270 des von dem Verfassungskonvent erarbeiteten „Entwurfs eines Vertrags über lich auf Gemeinschaftsebene nicht vorgesehene Verwaltungskompetenz eingeräumt wird. 70 Klepper, Vollzugskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft aus abgeleitetem Recht (S. 156), erwähnt dies, gibt jedoch keine Begründung für die seiner Ansicht nach gebotene unterschiedliche Behandlung sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen im Rahmen dieser beiden Vorschriften. 71 Vgl. oben 1. 72 Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union statuiert ein (Grund-) Recht auf „gute Verwaltung“. Zwar erwähnt Abs. 2 dieser Bestimmung als Ausprägungen dieses Rechts ausdrücklich lediglich bestimmte verfahrensrechtliche Erfordernisse (rechtliches Gehör, Recht auf Akteneinsicht sowie die Pflicht zur Begründung von Entscheidungen), doch ist diese Aufzählung bloß beispielhafter Natur, wie sich aus der Verwendung des Ausdrucks „insbesondere“ ergibt. Im übrigen hat die Rechtsprechung den Grundsatz der „guten Verwaltung“ auch in einer materiell-rechtlichen Ausprägung als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt, vgl. erstmals EuGH, Urt. v. 31. 3. 1992, Burban/Parlament, C-255/90 P, Slg. S. I-2253, Rn. 9 (zum Dienstrecht); ferner EuG, Urt. v. 6. 10. 1994, Tetra Pak/Kommission, T-83/91, Slg. S. II-755 (zum Wettbewerbsrecht). 73 Zu diesem Aspekt Ehlermann, EuR 1973, S. 191 ff. (202 f.); ähnlich – in bezug auf die analoge Anwendung rechtsschützender Vorschriften des Primärrechts im Bereich des Verwaltungsverfahrensrechts – Priebe, Entscheidungsbefugnisse vertragsfremder Einrichtungen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 144.
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eine Verfassung für Europa“74 – der im Falle eines Inkrafttretens des Verfassungsvertrags an die Stelle von Art. 230 EGV treten soll – erstreckt in seinem Absatz 1 (Satz 2) die Rechtsschutzzone der Nichtigkeitsklage auf „Handlungen von Einrichtungen, Ämtern und Agenturen der Union mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten“75. Hieraus kann indessen – auch im Lichte der erwähnten Entscheidungen der Gemeinschaftsgerichte – kein Argument gegen die de lege lata vertretene analoge Anwendung der Art. 220 ff. EGV gewonnen werden. Vielmehr handelt es sich lediglich um eine im Interesse der Rechtssicherheit erfolgte Klarstellung. Die erfolgte oder unterlassene Vornahme von regulativen Hoheitsakten sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen, durch die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt werden, stellt somit einen tauglichen Gegenstand der primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidungen dar. Ordnet das Sekundärrecht eine „Erstreckung“ beispielsweise von Art. 230 Abs. 4 EGV auf derartige Akte an76 oder trifft es eine inhaltsgleiche Parallelregelung, so kommt derartigen Bestimmungen lediglich deklaratorische Natur ohne eigenen Regelungsgehalt zu.
B. Sekundärrechtliche Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes Normiert der Sekundärrechtsgesetzgeber für einen bestimmten Sachbereich ein besonderes Rechtsschutzregime, so kann sich dieses potentiell auf jedes der Strukturelemente des Rechtsschutzes beziehen77. Zwischen den verschiedenen konkreten sekundärrechtlichen Rechtsschutzregimen bestehen allerdings große Unterschiede in bezug auf den Grad der Ausdifferenzierung gegenüber dem primärrechtlichen Rechtsschutzregime78. Nicht selten werden durch Sekundärrechtsakte zusätzliche Rechtsschutzinstanzen errichtet, so etwa die innerhalb des HABM, des Sortenamtes und der Europäischen Agentur für Flugsicherheit gebildeten Beschwerdekammern79. Alternativ zur Errichtung neuer Rechtsschutzinstanzen sehen sekundärrechtliche 74
Abl. 2003, C. 169, S. 1. Folgerichtig trifft Art. III-272 Abs. 3 eine entsprechende Regelung für die Untätigkeitsklage; ferner bezieht Art. III-273 die sekundärrechtlich geschaffenen Gemeinschaftseinrichtungen in die Regelung über die aus einem Urteil des Gerichtshofs folgenden Verpflichtungen ein. 76 Wie dies bei der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht und der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit der Fall ist, vgl. oben 1. Teil, § 1 (Fn. 25). 77 Vgl. dazu allgemein oben 1. Teil, § 2 B. 78 Speziell zu dem besonderen Rechtsschutzregime der GMV zusammenfassend Jung, in: Plender (Hg.), European Courts – Practice and Precedents, Rn. 38-06. 75
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
Regelungen gelegentlich die Betrauung einer bereits bestehenden Instanz mit Rechtsschutzfunktionen vor. Dies gilt etwa für Art. 8 der VO 1049/2001, wonach das Organ, das den Zugang zu einem Dokument verweigert hat, als – administrative – Rechtsschutzinstanz im Rahmen eines nicht devolutiven Rechtsschutzverfahrens tätig wird. Das – einer älteren Rechtsschicht zugehörende – „Aufsichtsmodell“80 besteht der Sache nach in der Betrauung der Kommission mit den Aufgaben einer – ebenfalls administrativen, jedoch im Rahmen eines devolutiven Rechtsschutzverfahrens tätigen – Rechtsschutzinstanz in bezug auf die Akte von sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen. Errichtet das Sekundärrecht eine neue Rechtsschutzinstanz, so werden die potentiellen Rechtsschutzgegenstände i. d. R. zwischen dieser Instanz und den Gemeinschaftsgerichten aufgeteilt. So sind nach Art. 57 GMV der Sache nach sämtliche aufgrund der GMV ergangenen Entscheidungen des HABM potentielle Gegenstände ausschließlich von Rechtsschutzverfahren vor den Beschwerdekammern. Komplementär hierzu bilden nach Art. 63 Abs. 1 GMV allein die verfahrensbeendenden Entscheidungen der sekundärrechtlich errichteten Rechtsschutzinstanz den Gegenstand von Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten. Entsprechendes gilt nach Art. 67 Abs. 1 i.V. m. Art. 73 Abs. 1 der VO 2100/94 für die Entscheidungen des Sortenamtes, mit Ausnahme derjenigen über die sog. „Zwangsnutzungsrechte“ nach Art. 29 und 100 der VO 2100/94. Das Beschwerdeverfahren erhält damit der Sache nach81 den Charakter eines obligatorischen Vorverfahrens in bezug auf den gerichtlichen Rechtsschutz. Eine Sonderregelung hinsichtlich der Rechtsschutzgegenstände liegt auch dann vor, wenn der unterlassene Erlaß einer Verwaltungsentscheidung aus der Rechtsschutzzone eines Rechtsschutzverfahrens ausgeklammert wird82. Ebenfalls im Zusammenhang mit der sekundärrechtlichen Errichtung neuer Rechtsschutzinstanzen steht die Regelung der Initiativberechtigung hinsichtlich der Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten. Im Bereich des Individualrechtsschutzes knüpfen Art. 63 Abs. 4 GMV bzw. Art. 73 Abs. 4 der VO 2100/94 die Klagebefugnis kumulativ an die Beteiligtenstellung im Beschwerdeverfahren sowie eine durch die Beschwerdeentscheidung begründete Beschwer des Klägers83. Dagegen verweist Art. 41 Abs. 1 der VO 1592/02 insofern auf Art. 230 EGV. Institutioneller Rechtsschutz zugunsten von Mitglied79 Zur Frage, ob durch Sekundärrechtsakte ausschließlich administrative oder aber auch gerichtliche Rechtsschutzinstanzen (im Sinne der oben bei eingeführten Definitionen) errichtet werden können vgl. unten § 2 C. II. 2. c). 80 Dazu oben 1. Teil, § 1 (bei Fn. 16–19). 81 Nicht dagegen der Form nach, da die Ausgangentscheidung nicht den Klagegegenstand bildet. 82 Dies gilt für die GMV sowie für die VO 2100/94. Dagegen verweist Art. 41 Abs. 2 der VO 1592/02 auf Artikel 232 EGV. 83 Vgl. näher unten 3. Teil, § 3 C. I. 2. b) aa).
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staaten oder EG-Organen ist weder in der GMV noch in der VO 2100/94 vorgesehen, wohl aber in der Art. 42 der VO 1592/0284. Gelegentlich werden die Aspekte des Rechtsschutzgegenstandes und der Initiativberechtigung auch miteinander kombiniert. So können nach Art. 35 Abs. 1 der VO 1592/02 bestimmte Entscheidungen der Europäischen Agentur für Flugsicherheit85 durch Private lediglich zum Gegenstand des administrativen Rechtsschutzverfahrens („Beschwerde“) gemacht werden, durch Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane aber – ausschließlich – zum Gegenstand eines gerichtlichen Rechtsschutzverfahrens (Art. 42 der VO 1592/02). Hinsichtlich des Rechtsschutzinhalts sehen Art. 63 Abs. 3 GMV bzw. Art. 73 Abs. 3 der VO 2100/94 vor, daß die Gemeinschaftsgerichte die Entscheidungen der Beschwerdekammern des HABM bzw. des Sortenamtes nicht nur aufheben sondern auch abändern können86. Weiterhin können Regelungen getroffen werden in bezug auf die Verfahrensbeteiligung privater Dritter neben dem Initiator des Verfahrens. Derartige Regelungen enthält Art. 134 VfO-EuG in bezug auf „Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des geistigen Eigentums“. Was schließlich die Rechtswirkungen eines Rechtsschutzantrags angeht, so bestimmt Art. 62 Abs. 3 GMV, daß die Entscheidungen der Beschwerdekammer erst mit Ablauf der Klagefrist oder, wenn fristgemäß Klage erhoben worden ist, mit deren Abweisung wirksam werden. Damit kommt der Klage gegen eine Entscheidung der Beschwerdekammer im Ergebnis aufschiebende Wirkung zu87.
C. Die primärrechtliche Relevanz sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes Systematisch lassen sich folgende Konstellationen einer Divergenz zwischen primär- und sekundärrechtlichen Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes unterscheiden: – Das sekundärrechtliche Rechtsschutzregime ermächtigt zu einer primärrechtlich nicht vorgesehenen Rechtsschutzentscheidung A. Dieses „Überschießen“ 84 Die Vorschrift lautet: „Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane können beim Gerichtshof unmittelbar Klage gegen die Entscheidungen der Agentur erheben.“ 85 Dabei handelt es sich um die Erteilung von Lufttüchtigkeits- und Umweltzeugnissen (Art. 46 der VO 1592/02), um Entscheidungen im Zusammenhang mit Untersuchungen in Unternehmen (Art. 46 der VO 1592/02) sowie um die Erhebung von Gebühren und Entgelten (Art. 46 der VO 1592/02). 86 Dazu näher unten § 2 C. II. 2. a). 87 Die ansonsten weitgehend parallel konzipierte VO 2100/94 enthält demgegenüber keine derartige Regelung, ebensowenig die VO 1592/02.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
des sekundärrechtlichen Rechtsschutzregimes kann entweder den Rechtsschutzgegenstand betreffen (Konstellation 1a) oder den Rechtsschutzinhalt (Konstellation 1b); zu letzterer Konstellation zählen etwa Regelungen, wonach die Rechtsschutzinstanz befugt ist, eine Verwaltungsentscheidung nicht nur aufzuheben sondern auch abzuändern88. – Das sekundärrechtliche Rechtsschutzregime ermächtigt umgekehrt nicht zu einer primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidung A. Auch dieses „Zurückbleiben“ des sekundärrechtlichen Rechtsschutzregimes kann entweder den Rechtsschutzgegenstand betreffen (Konstellation 2a) oder den Rechtsschutzinhalt (Konstellation 2b). Beispiele für die Konstellation 2a sind die Ausklammerung bestimmter Verwaltungsentscheidungen aus der Rechtsschutzzone einer primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidung (Klageart)89 sowie das Fehlen von Rechtsschutzverfahren gegen administratives Unterlassen. Der Konstellation 2b zuzuordnen ist etwa die fehlende Befugnis der Rechtsschutzinstanz, im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die „erforderlichen einstweiligen Anordnungen zu treffen“. – Das sekundärrechtliche Rechtsschutzregime ermächtigt zu einer – primärrechtlich vorgesehenen – Rechtsschutzentscheidung A und knüpft deren Rechtmäßigkeit an eine im Primärrecht nicht normierte Bedingung, die an die Stelle einer strukturell gleichartigen primärrechtlich normierten Bedingung tritt. Dabei ist nochmals danach zu unterscheiden, ob im Falle der Erfüllung der sekundärrechtlich normierten Bedingung notwendigerweise auch eine strukturell gleichartige primärrechtlich normierte Bedingung erfüllt ist (Konstellation 3) oder nicht (Konstellation 4). Als Beispiele für Konstellation 3 lassen sich die in Art. 63 Abs. 4 GMV bzw. Art. 73 Abs. 4 der VO 2100/ 94 getroffenen eigenständigen Regelungen zur Klagebefugnis anführen. Denn wenn der Kläger durch die Beschwerdeentscheidung beschwert und damit nach dem sekundärrechtlichen Rechtsschutzregime klagebefugt ist, so ist er notwendigerweise auch durch diese Entscheidung individuell und unmittelbar betroffen und ebenfalls damit im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EGV klagebefugt. Das umgekehrte gilt allerdings nicht. Ein Beispiel für Konstellation 4 sind Regelungen, die eine sekundärrechtlich errichtete Rechtsschutzinstanz – wie z. B. die Beschwerdekammern des HABM, des Sortenamtes und der Europäischen Agentur für Flugsicherheit – zur Vornahme einer primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidung, also z. B. zur Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung ermächtigen90. 88
Vgl. Art. 63 Abs. 3 GMV bzw. Art. 73 Abs. 3 der VO 2100/94. Vgl. Art. 63 Abs. 1 GMV bzw. Art. 73 Abs. 1 der VO 2100/94. 90 Dem liegt das Verständnis zugrunde, daß sich auf eine Rechtsschutzentscheidung bezogene Zuständigkeitsregeln bei normstruktureller Betrachtung in dem Sinne interpretieren lassen, daß der Erlaß durch die als zuständig bestimmte Instanz eine Rechtmäßigkeitsbedingung dieser Rechtsschutzentscheidung darstellt. 89
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– Das sekundärrechtliche Rechtsschutzregime ermächtigt zu einer primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidung A und knüpft deren Rechtmäßigkeit an eine im Primärrecht nicht normierte Bedingung, die nicht an die Stelle einer strukturell gleichartigen primärrechtlich normierten Bedingung tritt (Konstellation 5). Ein Beispiel hierfür ist eine sekundärrechtliche Regelung, nach der eine primärrechtlich vorgesehene Rechtsschutzentscheidung wie z. B. die Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung an die vorherige erfolglose Durchführung eines „Vorverfahrens“ geknüpft wird. In der Rechtswirklichkeit sind selbstverständlich auch Kombinationen zwischen diesen Konstellationen denkbar wie beispielsweise eine Regelung, nach der eine sekundärrechtlich errichtete Rechtsschutzinstanz zur Abänderung von Verwaltungsentscheidungen befugt ist91. Zusammenfassen läßt sich diese Typologie dahingehend, daß in den Konstellationen 1 und 4 das sekundärrechtliche Rechtsschutzregime dem primärrechtlichen gegenüber „weiter“ ist, in dem Sinne daß eine bestimmte Rechtsschutzentscheidung nur bei Anwendung des ersteren, nicht aber des letzteren rechtmäßig ist. Dagegen gilt in den Konstellationen 2, 3 und 5 das Umgekehrte; das sekundärrechtliche Rechtsschutzregime ist somit „enger“ als das primärrechtliche. Die Frage nach der primärrechtlichen Relevanz derartiger sekundärrechtlich begründeter struktureller Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes im Kontext des Primärrechts weist zwei Dimensionen auf. Zum einen geht es um die Bedingungen der Primärrechtskonformität eines sekundärrechtlich begründeten Rechtsschutzregimes (dazu unten § 2), zum anderen um die Auswirkungen eines sekundärrechtlich begründeten Rechtsschutzregimes auf die Anwendbarkeit der Art. 220 ff. EGV (dazu unten § 3). Hinsichtlich beider Fragen ist dabei vorausgesetzt, daß die sekundärrechtlichen Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes nicht durch eine ausdrückliche primärrechtliche Öffnungsklausel – wie Art. 229 bzw. 236 EGV92 oder Art. 53, 2. UA S. 2 der EuGH-Satzung – abgedeckt sind. Was speziell den Rechtsschutz gegen Akte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen betrifft, so sind de lege ferenda in diesem Zusammenhang wiederum die Erträge des Verfassungskonvents von besonderem Interesse93. Art. III-270 des „Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa“94 – der im Falle eines Inkrafttretens des Verfassungsvertrags Art. 230 EGV ersetzen soll – sieht nämlich in seinem Abs. 5 ausdrücklich vor, daß 91 Dies gilt beispielsweise für die Beschwerdekammern des HABM, die nach Art. 62 Abs. 1 GMV zur Abänderung der Entscheidungen der Ausgangsinstanzen befugt sind, vgl. näher unten 3. Teil, § 3 F. I. 92 Vgl. dazu oben 1. Teil, § 1 (bei Fn. 6). 93 Vgl. bereits oben A. III. 2. (bei Fn. 73). 94 Abl. 2003, C. 169, S. 1.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
„in einem Rechtsakt zur Gründung von Einrichtungen, Ämtern und Agenturen der Union [. . .] besondere Bedingungen und Modalitäten für den Rechtsschutz von natürlichen und juristischen Personen gegen die mit Rechtswirkungen verbundenen Handlungen dieser Einrichtungen, Ämter und Agenturen vorgesehen werden [können]“.
§ 2 Bedingungen der Primärrechtskonformität sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes A. Ausgangspunkt Die Bedingungen der Primärrechtskonformität sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes ergeben sich zum einen – positiv – aus dem Erfordernis der Ableitbarkeit aus einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage (dazu unten B.) und zum anderen – negativ – aus dem Vorrang des Primärrechts (dazu unten C.). Schließlich dürfen derartige sekundärrechtliche Regelungen das institutionelle Gleichgewicht nicht verletzen (dazu unten D.). Diese Fragen stellen sich allerdings nur dann, wenn die sekundärrechtlichen Normen einen gegenüber dem Primärrecht eigenständigen Regelungsgehalt aufweisen und nicht mit diesem partiell oder sogar vollständig identisch sind. Eine solche partielle Identität des sekundärrechtlichen mit dem primärrechtlichen Rechtsschutzregime liegt jedoch vor, wenn ersteres „enger“ ist als letzteres, also in den oben dargestellten Konstellationen 2, 3 und 595. Vollständig mit dem primärrechtlichen Rechtsschutzregime identisch ist eine auf die Struktur des Rechtsschutzes bezogene sekundärrechtliche Norm, wenn sie lediglich auf die entsprechenden Bestimmungen des Primärrechts verweist sei es in Gestalt einer spezifischen „Rechtsgrundverweisung“ auf Art. 230 EGV, sei es durch einen unspezifischen Hinweis auf die Möglichkeit, Klage beim Gerichtshof zu erheben96. Dies gilt auch für solche sekundärrechtlichen Normen, die sich auf den Rechtsschutz gegen Akte von sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen beziehen, sofern man, wie dies in der vorliegenden Untersuchung geschieht, davon ausgeht, daß diese Akte ebenfalls taugliche Gegenstände der primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidungen darstellen97.
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Vgl. oben § 1 C. Dies gilt für die Bestimmungen in bezug auf den Rechtsschutz gegen Akte der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie des Europäischen Datenschutzbeauftragten, vgl. oben 1 Teil, § 1 (bei und in Fn. 25–27). 97 Vgl. oben § 1 A. II. 2. 96
§ 2 Primärrechtskonformität sekundärrechtlicher Regelungen
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B. Positive Primärrechtskonformität: Das Erfordernis einer Rechtsgrundlage I. Allgemeines Dem in Art. 5 und 7 EGV verankerten Grundsatz der „begrenzten Einzelermächtigung“ entsprechend98 bedarf jede sekundärrechtliche Regelung – und bedürfen damit auch die auf die Struktur des Rechtsschutzes bezogenen Regelungen – einer primärrechtlichen Rechtsgrundlage. In der Gesetzgebungspraxis der Gemeinschaft sind derartige Regelungen als Bestandteil von Sekundärrechtsakten – in der Praxis ausschließlich Verordnungen – erlassen worden, durch die die Verwaltungstätigkeit der Gemeinschaft auf einem bestimmten Sachgebiet geregelt wird und/oder die betreffende Gemeinschaftseinrichtung errichtet worden ist. In den meisten Fällen sind die rechtsschutzbezogenen Regelungen somit auf Art. 308 EGV gestützt worden, in einigen Fällen wurden jedoch auch die Art. 80 Abs. 299, 175100, 255101 und 286102 EGV als jeweils alleinige Rechtsgrundlage herangezogen. Was die Primärrechtskonformität dieser Gesetzgebungspraxis angeht, so enthält das Primärrecht zwar keine Bestimmung, die ausdrücklich zum Erlaß von Regelungen über die Struktur des Rechtsschutzes ermächtigt. Allerdings ist allgemein anerkannt, daß sich Zuständigkeiten der Gemeinschaftsorgane – und damit auch insbesondere des Gemeinschaftsgesetzgebers – auch implizit aus den primärrechtlichen Rechtsgrundlagen ergeben können103. Grundsätzlich ist der Erlaß rechtsschutzbezogener Regelungen auf der Basis der für die entsprechende Verwaltungstätigkeit der Gemeinschaft sachlich einschlägigen Rechtsgrundlage bzw. auf der Grundlage von Art. 308 EGV daher nicht zu beanstanden. Gleichwohl stellt sich die prinzipielle Frage, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber im Rahmen einer sekundärrechtlichen Regelung der Struktur des Rechtsschutzes den in Art. 7 EGV genannten Gemeinschaftsorganen zusätzliche, im Primärrecht nicht vorgesehene Zuständigkeiten übertragen kann. In bezug auf das im vorliegenden Zusammenhang besonders interessierende Organ „Ge98 Hierzu allgemein Languth, in: Lenz, Art. 5 EGV, Rn. 4 ff.; Lenz, in: Lenz, Art. 7 EGV, Rn. 2. Dabei bezieht sich Art. 7 EGV auf die Organ-, Art. 5 EGV aber auf die Verbandszuständigkeit, vgl. Beutler/Bieber/Pikorn/Streil, Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, Rn. 121. 99 So bei der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs und der Europäischen Agentur für Flugsicherheit. 100 In bezug auf die Europäische Umweltagentur. 101 Für die VO 1049/2001 (Zugang zu Dokumenten). 102 Für die VO 45/2001 (Datenschutz). 103 Languth, in: Lenz, Art. 5 EGV, Rn. 8; Beutler/Bieber/Pikorn/Streil, Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, Rn. 123.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
richtshof“ wird dies von einigen Autoren – jedenfalls tendenziell und im Grundsatz – verneint104. Der Ansatzpunkt für die Beantwortung dieser Frage dürfte wiederum im Gedanken des institutionellen Gleichgewichts zu suchen sein. Im Lichte dieses Verfassungsgrundsatzes des Gemeinschaftsrechts dürften einerseits die primärrechtlichen Rechtsgrundlagen in der Weise auszulegen sein105, daß es einem Organ – und damit auch dem Gemeinschaftsgesetzgeber – im Grundsatz verwehrt ist, einem anderen Organ primärrechtlich nicht vorgesehene Zuständigkeiten übertragen. Denn derartige Erweiterungen des Aufgabenkreises eines Organs bergen die Gefahr nicht nur einer Fremdbestimmung seiner internen Ressourcenallokation sondern auch einer „Umwertung“ seiner etablierten Funktionsweise und seines institutionellen Selbstverständnisses. Andererseits sollte das Verbot, einem anderen Organ primärrechtlich nicht vorgesehene Zuständigkeiten übertragen, für den Sekundärrechtsgesetzgeber dann nicht gelten, sofern er auf der Grundlage von Art. 308 EGV handelt. Denn diese Vorschrift stellt eine „Abrundungsklausel“106 dar, die dazu dient, Lücken zu schließen, die zwischen einem primärrechtlich verankerten Ziel und den Kompetenzen der Organe bestehen können, die zu dessen Erreichung – ausdrücklich oder stillschweigend – normiert sind107. Ihr Anwendungsbereich ist in zweifacher Hinsicht strukturell begrenzt: Materiell dadurch, daß sie lediglich subsidiär eingreift, verfahrensrechtlich durch das Einstimmigkeitserfordernis im Rat. Selbstverständlich bleibt auch für den auf dieser Grundlage handelnden Sekundärrechtsgesetzgeber das Gebot der Wahrung des institutionellen Gleichgewichts als materiell-rechtliche Bindung bestehen108. Konkret ergibt sich hieraus folgendes: Für das Organ „Gerichtshof“ können zusätzliche, im Primärrecht nicht vorgesehene Zuständigkeiten begründet werden, allerdings nur auf der Grundlage von Art. 308 EGV. Das Argument, die Regeln des EGV über die Gerichtsbarkeit seien sogar „vertragsänderungsfest“109, spricht nicht gegen die Befugnis des Sekundärrechtsgesetzgebers zum Erlaß derartiger Regelungen110. Denn es geht vorliegend um die Primärrechtskonformität eines sekundärrechtlichen Rechtsschutzregimes, das „weiter“ als das primärrechtliche ist und nicht um eine – selbstverständlich unzulässige – sekundärrechtliche Einschränkung des primärrechtlichen Rechtsschutzregimes. Ein Rückgriff auf Art. 308 EGV ist dagegen nicht erforderlich, wenn der Kom104
Jung, FS für Everling, S. 611 ff. (613). Zur normativen Funktion dieses Rechtsprinzips als heuristisches Prinzip bei der Auslegung von Kompetenznormen Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. (560). 106 Röttinger, in: Lenz, Art. 308 EGV, Rn. 1. 107 Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 3. 108 Dazu unten D. 109 Jung, FS für Everling, S. 611 ff. (613). 110 So im Ergebnis auch Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 314. 105
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mission im Rahmen eines „Aufsichtsmodells“111 eine im Primärrecht nicht ausdrücklich vorgesehene Zuständigkeit zum Erlaß von Rechtsschutzentscheidungen eingeräumt werden soll. Denn nach Art. 202, tir. 3 und Art. 211 tir. 4 EGV ist der Gemeinschaftsgesetzgeber112 ermächtigt, der Kommission „Befugnisse zur Durchführung“ von Rechtsakten zu übertragen. Rechtsschutzentscheidungen der Kommission in bezug auf Entscheidungen einer sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtung, die diese im Rahmen der Durchführung eines Gemeinschaftsrechtsakts erläßt, betreffen aber die rechtliche Wirksamkeit dieser Entscheidungen. Sie dienen damit ebenfalls der „Durchführung“ des jeweiligen Rechtsakts. Die bisherige Gesetzgebungspraxis der Gemeinschaft scheint diesen Grundsätzen zu entsprechen. Denn sowohl die GMV als auch die VO 2100/94 als die beiden einzigen Rechtsakte, die die Gemeinschaftsgerichte zum Erlaß einer primärrechtlich nicht vorgesehenen Rechtsschutzentscheidung ermächtigen113, nämlich zur Abänderung von Verwaltungsentscheidungen, sind auf der Grundlage von Art. 308 EGV erlassen worden. Demgegenüber beschränkt sich das elaborierte Rechtsschutzregime der auf Art. 80 Abs. 2 EGV gestützten VO 1592/02 auf die Regelung des Verfahrens vor einer sekundärrechtlich errichteten Rechtsschutzinstanz (Beschwerdekammer) und berührt damit die Zuständigkeiten des Organs „Gerichtshof“ nicht114. II. Speziell: Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 308 EGV als typischer Rechtsgrundlage sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes Sekundärrechtliche Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes müssen auf der Grundlage von Art. 308 EGV erlassen werden, wenn sie dem Organ „Gerichtshof“ zusätzliche, im Primärrecht nicht vorgesehene Zuständigkeiten übertragen115. Doch auch außerhalb dieses Bereichs können sie auf dieser Rechtsgrundlage ergehen und sind in der Gesetzgebungspraxis bis auf wenige Ausnahmen auf dieser Grundlage ergangen116, insbesondere insoweit sie den
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Vgl. oben bei und in Fn. 16–19. Entgegen dem Wortlaut betrifft diese Befugnis auch die Durchführung solcher Rechtsakte, die von Rat und Parlament gemeinsam erlassen worden sind, vgl. Breier, in: Lenz, Art. 202 EGV, Rn. 6. 113 Vl. oben § 1 C. (Konstellation 1). 114 Die auf den Gerichtshof bezogenen Regelungen in Art. 41 der VO 1592/2002 haben demgegenüber lediglich deklaratorischen Charakter ohne eigenständigen Regelungsgehalt. 115 Vgl. oben I. 116 Vgl. oben vor Fn. 98 und bei Fn. 112. 112
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
Rechtsschutz gegen Akte sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen betreffen. Diese Vorschrift bedarf daher einer näheren Betrachtung. Was den zulässigen Inhalt der auf seiner Grundlage ergangenen sekundärrechtlichen Regelungen angeht, so weist Art. 308 EGV einen denkbar weiten Umfang auf. Er ermächtigt nicht nur – wie dies z. B. durch die GMV und die VO 2100/94 ebenfalls geschehen ist – zum Erlaß materiell-rechtlicher Vorschriften sowie zur Begründung zusätzlicher administrativer Verbandskompetenzen der Gemeinschaft. Vielmehr erlaubt er, sofern seine Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, jede geeignete Sach-, Zuständigkeits- oder Verfahrensregelung zu treffen117. Sofern also nach Art. 308 EGV eine Gemeinschaftseinrichtung kraft Sekundärrechts errichtet werden kann, ist der Gemeinschaftsgesetzgeber daher – der herrschenden Meinung in der Literatur zufolge – im Wege einer Annexkompetenz auch befugt, Regelungen in bezug auf den Rechtsschutz gegen deren Entscheidungen treffen118. Art. 308 EGV knüpft die in dieser Weise umschriebene Befugnis des Gemeinschaftsgesetzgebers an vier kumulative Tatbestandsvoraussetzungen, nämlich (a) die Verfolgung eines Gemeinschaftsziels, (b) ein Handeln im Rahmen des Gemeinsamen Marktes, (c) die Erforderlichkeit des Tätigwerdens der Gemeinschaft und (d) das Fehlen der erforderlichen Befugnisse in anderen Rechtsgrundlagen. (a) Das Erfordernis daß die sekundärrechtliche Regelung der Verwirklichung eines der Ziele der Gemeinschaft zu dienen hat, ist bei den in der GMV und der VO 2100/94 getroffenen Regelungen in bezug auf den Rechtsschutz gegen Entscheidungen des HABM bzw. des Sortenamtes unproblematisch erfüllt119. Denn diese Regelungen teilen die Zielsetzung des gesamten Gemeinschaftsmarkenbzw. -sortenschutzsystems, nämlich der Vollendung und dem reibungslosen Funktionieren des in Art. 3 lit. c) EGV als ausdrückliches Vertragsziel normierten120 Binnenmarktes zu dienen121. (b) Ein Handeln „im Rahmen des Gemeinsamen Marktes“ erfordert, sofern man hierin überhaupt eine eigenständige Tatbestandsvoraussetzung sieht122, daß die getroffenen Maßnahmen sich „systemkonform“ in eine durch die Grundfrei117
Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 255. Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 258; Weis, EuR 1980, S. 273 ff. (284 f.). 119 Allgemein gilt, daß diese Tatbestandsvoraussetzung „keine besonders hohe Hürde dar[stellt]“ (eingehend Klepper, Verwaltungskompetenzen der EG aus abgeleitetem Recht, S. 75). 120 Auch wenn in Art. 3 EGV selbst lediglich von „Tätigkeiten“ der Gemeinschaft die Rede ist, so handelt es sich gleichwohl auch um materielle Ziele, vgl. Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 120. 121 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 1 der GMV; in den Erwägungsgründen der VO 2100/ 94 fehlt allerdings eine entsprechende Bezugnahme. 122 Kritisch hierzu etwa Everling, EuR 1976, Sonderheft, S. 2 ff. 118
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heiten und einen unverfälschten Wettbewerb geprägte Ordnung einfügen123. In bezug auf das Rechtsschutzregime der GMV und der VO 2100/94 dürfte diese Tatbestandsvoraussetzung unproblematisch erfüllt sein. (c) Die weitere Tatbestandsvoraussetzung, wonach ein „Tätigwerden der Gemeinschaft“ erforderlich erscheinen muß124, wird zwar üblicherweise lediglich auf die „vertikale“ Abgrenzung zwischen den Verbandskompetenzen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten bezogen. Unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgedankens des institutionellen Gleichgewichts sollte der Erforderlichkeitsvorbehalt jedoch richtigerweise auch „horizontal“ verstanden werden im Hinblick auf solche organisations- oder verfahrensrechtlichen Regelungen, die unter dem Gesichtspunkt der Abgrenzung der Verbandskompetenzen zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten neutral sind. Auch diese bedürfen nach Art. 308 EGV unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit einer Rechtfertigung125. Allerdings besteht in bezug auf den „vertikalen“ wie auf den „horizontalen“ Aspekt der Erforderlichkeit eine erhebliche Einschätzungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers, was sich bereits daraus ergibt, daß ein Tätigwerden der Gemeinschaft lediglich erforderlich „erscheinen“ muß126. Demnach ist der Erlaß sekundärrechtlicher Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes nur dann zulässig, wenn und insoweit das primärrechtliche Rechtsschutzregime für den jeweiligen Sachbereich nicht ausreichend bzw. aus sonstigen Gründen nicht angemessen ist. Die Frage, inwieweit das besondere Rechtsschutzregime der GMV diesen Anforderungen genügt, wird nachfolgend im Zusammenhang mit den jeweiligen Einzelregelungen untersucht127. (d) Nach der Subsidiaritätsklausel besteht die Kompetenz zum Erlaß von Sekundärrecht nach Art. 308 EGV nur dann, wenn im EGV „die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen“ sind. Dabei müssen herrschender und zutreffender Auffassung nach die fehlenden Befugnisse gerade zur Verwirklichung des angestrebten Gemeinschaftsziels erforderlich sein und nicht lediglich zum „Tätigwerden der Gemeinschaft“, also zum Erlaß der betreffenden sekundärrechtlichen Regelung128. Auch diese Tatbestandsvoraussetzung ist in bezug auf das Rechtsschutzregime der GMV und der VO 2100/94 erfüllt. Denn dem Or123
Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 193 f. Zu diesen Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 308 EGV eingehend Klepper, Verwaltungskompetenzen der EG aus abgeleitetem Recht, S. 73 ff. 125 In diesem Sinne – zur Frage der Zulässigkeit der sekundärrechtlichen Errichtung neuer Gemeinschaftseinrichtungen – Uerpman, AöR 2000, S. 551 ff. (559); ähnlich Hilf, Die Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften S. 160. Diese Frage hat allerdings – entgegen Uerpman, a. a. O. – nichts mit der in Art. 308 EGV enthaltenen Subsidiaritätsklausel zu tun; zu dieser sogleich im Text. 126 Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 200. 127 s. unten 3. Teil, § 3. 128 Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 79; Klepper, Verwaltungskompetenzen der EG aus abgeleitetem Recht, S. 81 f. 124
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gan „Gerichtshof“ kann die – im Bereich des Gemeinschaftsmarken- und -sortenschutzrechts zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes erforderliche – Befugnis zur Abänderung von Verwaltungsentscheidungen gerade nicht aufgrund anderer Rechtsgrundlagen übertragen werden.
C. Negative Primärrechtskonformität: Wahrung des Vorrangs des Primärrechts I. Geltungs- und Anwendungsvorrang als Systembegriffe In normstruktureller Hinsicht bezeichnet der Begriff des Vorrangs eine normative Relation zwischen zwei Rechtsnormen. Dabei ist allgemein zwischen Geltungs- und Anwendungsvorrang einer Rechtsnorm zu unterscheiden. Der Geltungsvorrang einer Rechtsnorm (A) ist seiner normativen Struktur nach selbst eine Rechtsnorm (V), die eine Bedingung normiert für die Rechtmäßigkeit des Erlasses einer Rechtsnorm (B) bzw. für deren Anwendbarkeit im Einzelfall129. Der Inhalt dieser Bedingung besteht dabei in der Kompatibilität130 der Rechtsnorm (B) mit der Rechtsnorm (A). Die (Geltungs-)Vorrangnorm knüpft dabei an den Geltungsrang der betreffenden Rechtsnormen an, also an eine dieser normativ zugeschriebene relationale Eigenschaft. Die Rechtsnorm „höheren“ Geltungsrangs fungiert mithin gegenüber jener „niedrigeren“ Geltungsrangs als ungeschriebene „Gesetzgebungsweisung“131. Demgegenüber bildet der gegenüber einer Rechtsnorm (B) bestehende Anwendungsvorrang einer Rechtsnorm (A) seiner normativen Struktur nach eine Bestimmungsnorm für die Gewinnung der rechtlichen Entscheidungsgrundlage als eines der Schritte des Rechtsanwendungsprozesses. Näherhin determiniert die (Anwendungs-)Vorrangnorm die Auswahl unter mehreren abstrakt entscheidungserheblichen Rechtsnormen. Angeknüpft wird dabei an die Relation zwischen den Inhalten der betreffenden Rechtsnormen und zwar genauer gesagt zwischen deren Tatbeständen als den Inbegriffen der in ihnen normierten Rechtmäßigkeitsbedingungen. In Analogie zu den semantischen Erkenntnissen zu den möglichen Relationen zwischen verschiedenen Begriffen132 lassen sich 129 Genau genommen normiert in diesem Falle die Rechtsnorm (A) eine Bedingung für die Rechtmäßigkeit des Erlasses einer in Anwendung der Rechtsnorm (B) zu erlassenden Entscheidung; dies setzt allerdings voraus, daß den zu deren Anwendung berufenen Entscheidungsinstanzen eine Verwerfungskompetenz in bezug auf diese zukommt. 130 Zu diesem Begriff unten II. (nach Fn. 138). 131 Unter diesem Begriff sind „Normen, die dem Gesetzgeber Befehle hinsichtlich der Inhalts seiner legislativen Tätigkeit erteilen“ zu verstehen, vgl. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 96 ff. 132 Dazu Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 252 ff.
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auch die Relationen zwischen den Tatbeständen zweier Rechtsnormen erschöpfend klassifizieren. Dabei kann zurückgegriffen werden auf die Begrifflichkeit der strafrechtlichen Konkurrenzlehre133. – Im Falle der Disjunktion134 ist kein Lebenssachverhalt denkbar, der die Tatbestände beider Rechtsnormen zugleich erfüllt; die Frage eines eventuellen Anwendungsvorrangs einer der beiden Rechtsnormen stellt sich daher nicht. – Die Relation der Interferenz ist dadurch gekennzeichnet, daß sowohl Lebenssachverhalte denkbar sind, die die Tatbestände beider Rechtsnormen zugleich erfüllen, als auch solche Lebenssachverhalte, für die dies nicht der Fall ist. Hier kann aufgrund einer gesetzlich angeordneten oder kraft Richterrechts geltenden Regel lex primaria derogat legi subsidiaria entweder der Rechtsnorm (A) oder der Rechtsnorm (B) ein Anwendungsvorrang zukommen. – Ist der Tatbestand der Rechtsnorm (A) demjenigen der Rechtsnorm (B) subordiniert, so erfüllt jeder Lebenssachverhalt, der den Tatbestand der Rechtsnorm (A) erfüllt, zugleich denjenigen der Rechtsnorm (B), während das umgekehrte nicht gilt. Nach der gewohnheitsrechtlich geltenden Regel lex specialis derogat legi generali kommt hier der Rechtsnorm (A) ein – grundsätzlicher – Anwendungsvorrang gegenüber der Rechtsnorm (B) zu. Eine Ausnahme ist allerdings dann zu machen, wenn die Rechtsnorm (B) einen höheren Geltungsrang aufweist als die Rechtsnorm (A) und daher letzterer gegenüber verdrängungsresistent ist135. Dem Geltungsvorrang kommt somit eine „negative Anwendungsfunktion“ zu. Die abstrakte Entscheidungserheblichkeit einer Rechtsnorm ist allerdings stets in Hinblick auf den Erlaß von Entscheidungen mit einem bestimmten Inhalt zu beurteilen. Daher stellt sich die Frage eines Anwendungsvorrangs zwischen zwei Rechtsnormen dann von vornherein nicht, wenn diese sich auf Entscheidungen verschiedenen Inhalts beziehen; insofern mag von einer Disjunktion i. w. S. gesprochen werden. Nur der Vollständigkeit halber sei bemerkt, daß der – hier nicht weiter interessierende – Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten – entgegen der üblichen dogmatischen Bezeichnung als „Anwendungsvorrang“ – einen Fall des Geltungsvorrangs darstellt, da er Bedingungen für die Anwendbarkeit einer mitgliedstaatlichen Rechtsnorm im Einzelfall normiert136. 133 Hierzu in vorbildlicher begrifflicher Klarheit Hruschka, Strafrecht nach logischanalytischer Methode, S. 378 ff. 134 Oder Heterogenität, so der von Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, S. 380 f., verwendete Terminus. 135 Vgl. dazu unten § 3. 136 Daß den mitgliedstaatlichen Entscheidungsinstanzen eine Verwerfungskompetenz in bezug auf mit dem Gemeinschaftsrecht inkompatible innerstaatliche Rechts-
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
II. Der Geltungsvorrang des Primärrechts als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts Innerhalb der Rechtsnormen des Gemeinschaftsrechts folgt die grundsätzliche Existenz einer Normenhierarchie – also die normative Zuschreibung eines bestimmten Rangs an eine bestimmte Klasse von Normen – aus der Bindung des Organhandelns an die Verträge (Art. 7 EGV) und seiner Unterwerfung unter eine gerichtliche Kontrolle (Art. 220, 232, 234 EGV)137 einerseits sowie aus den Bestimmungen über die Vertragsänderung (Art. 48 EUV) andererseits. Der Vorrang des Primärrechts bildet somit einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, auch wenn jüngst konstatiert worden ist, zwischen Primärund Sekundärrecht bestehe nur eine „geringe Hierarchisierung“138. Von zentraler Bedeutung für den Geltungsvorrang ist der normstrukturelle Begriff der Kompatibilität von Rechtsnormen. Dieser erschließt sich am besten ex negativo, d. h. aus dem Gegenbegriff der Inkompatibilität: Danach sind zwei Rechtsnormen dann miteinander inkompatibel, wenn sie dasselbe Verhalten – d. h. die Vornahme oder Unterlassung einer bestimmten Handlung – zum Regelungsgegenstand haben, sich jedoch auf dieses in einem je verschiedenen normativen Modus beziehen, mit der Folge, daß bei gleichzeitiger Anwendung beider Rechtsnormen ein Urteil über die Rechtmäßigkeit des betreffenden Verhaltens nicht möglich ist139. Die beiden normativen Modi, in denen sich eine Rechtsnorm auf ein bestimmtes Verhalten als ihren Regelungsgegenstand beziehen kann, sind das Verbot und die Ermächtigung/Erlaubnis140. Die Inkompatibilität zweier Rechtsnormen ist also dadurch gekennzeichnet, daß sich bei ihrer Anwendung eine normative Aporie ergibt: das den Regelungsgegenstand dieser normen zukommt, ist seit den klassischen EuGH-Entscheidungen in den Rs. 6/64, Costa/ENEL (Urt. v. 15. 7. 1964, Slg. S. 1141) und 106/77, Simmenthal (Urt. v. 9. 3. 1978, Slg. S. 629, Rn. 21 ff.) von Gemeinschaftsrechts wegen anerkannt. 137 Vgl. Hetmeier, in: Lenz, Art. 249 EGV, Rn. 20; Beutler/Bieber/Pikorn/Streil, Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, Rn. 410, Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 179, 572 f. 138 Schönberger, EuR 2003, S. 600 ff. (601). 139 Vgl. auch Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 378 ff. (380) der die Inkompatibilität zweier Rechtsnormen dahingehend definiert, daß diese „für denselben Sachverhalt einander ausschließende Rechtsfolgen anordnen“. 140 Hierbei wird ein gegenüber den von Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 183 identifizierten vier „deontischen Modalitäten“ (Gebot, Erlaubnis, Verbot, Freistellung) vereinfachtes Modell zugrundegelegt. Was speziell den normativen Modus des Gebots betrifft, so ist dieser aus folgenden Gründen redundant: Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Vornahme einer gebotenen Handlung (X) ist die in dem Gebot enthaltene normative Aussage ausreichend, daß diese Vornahme ermächtigt/erlaubt ist. Der weitergehende normative Gehalt des „Gebots“ ist in der normativen Aussage hinreichend darstellbar, daß das Unterlassen der Handlung (X) verboten ist.
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Rechtsnormen bildende Verhalten ist bei Anwendung der einen Rechtsnorm rechtmäßig, bei Anwendung der anderen jedoch rechtswidrig. Verbietet also eine Rechtsnorm 1 ein bestimmtes Verhalten A, so ist eine Rechtsnorm 2 hiermit inkompatibel, die das Verhalten A für ermächtigt/erlaubt erklärt. Das Gleiche gilt für die umgekehrte Konstellation. Normanalytisch betrachtet stellt die Inkompatibilität mithin eine symmetrische Relation zwischen zwei Rechtsnormen dar141. Eine Asymmetrie ergibt sich erst hinsichtlich der Rechtsfolgen einer festgestellten Inkompatibilität zweier Rechtsnormen verschiedenen Ranges. Denn in diesem Falle ist die „niederrangige“, nicht aber die „höherrangige“ Rechtsnorm rechtswidrig bzw. unanwendbar. Keine Inkompatibilität liegt dagegen vor, wenn sich zwei Rechtsnormen unterschiedlichen Inhalts im selben normativen Modus auf denselben Regelungsgegenstand beziehen. In diesem Falle läßt sich von einer Komplementarität – i. e. S. – sprechen. Handelt es sich um den normativen Modus des Verbots, so ist das den Regelungsgegenstand der beiden Rechtsnormen bildende Verhalten dann rechtmäßig, wenn weder die in der einen noch die in der anderen Rechtsnorm festgelegten Tatbestandsvoraussetzungen für das Verbot erfüllt sind. Beziehen sich die Rechtsnormen dagegen im normativen Modus der Ermächtigung/Erlaubnis auf ein bestimmtes Verhalten, so ist dieses bereits dann rechtmäßig, wenn entweder die in der einen oder die in der anderen Rechtsnorm festgelegten Tatbestandsvoraussetzungen für die Ermächtigung/Erlaubnis erfüllt sind. Die Konstellationen der Inkompatibilität und der Komplementarität – i. e. S. – lassen sich am Beispiel des Verhältnisses zwischen den verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechten und dem einfachen Recht verdeutlichen: Ist ein bestimmtes Verhalten – z. B. ein Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Position wie eine Hausdurchsuchung – aufgrund einer Grundrechtsbestimmung verboten, aufgrund einer einfachgesetzlichen Bestimmung aber ermächtigt/erlaubt, so ist das einfache Gesetzesrecht mit der Grundrechtsbestimmung inkompatibel und daher verfassungswidrig. Ist derselbe Eingriff jedoch verfassungsrechtlich lediglich bei Vorliegen bestimmter Bedingungen – z. B. zur Nachtzeit – verboten, nach einfachem Gesetzesrecht dagegen unter bestimmten anderen Bedingungen, so sind Grundrechtsbestimmung und einfaches Gesetzesrecht zueinander – i. e. S. – komplementär. Letzteres ist also nicht verfassungswidrig; der betreffende Eingriff ist demnach nur dann rechtmäßig, wenn weder die in der einen noch die in der anderen Rechtsnorm festgelegten Tatbestandsvoraussetzungen für das Verbot erfüllt sind.
141 D. h. wenn die Rechtsnorm 1 mit der Rechtsnorm 2 inkompatibel ist, ist auch umgekehrt die Rechtsnorm 2 mit der Rechtsnorm 1 inkompatibel; zu dieser Begrifflichkeit Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 146.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
Beziehen sich zwei Rechtsnormen im selben normativen Modus dagegen auf verschiedene Regelungsgegenstände, so läßt sich ihr Verhältnis als Komplementarität – i. w. S. – kennzeichnen. In diesem Fall gilt für jede der beiden Rechtsnormen, daß die Rechtmäßigkeit des ihren Regelungsgegenstand bildenden Verhaltens nur von dieser Rechtsnorm selbst, nicht aber von der jeweils anderen Rechtsnorm abhängt. III. Der Geltungsvorrang des Primärrechts in bezug auf Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes 1. Ausgangspunkt Wie bereits ausgeführt, stellt sich die Frage der Wahrung des Vorrangs des Primärrechts nur dann, wenn die sekundärrechtlichen Normen einen eigenen Regelungsgehalt aufweisen und nicht mit diesem partiell oder sogar vollständig identisch sind, also nur dann, wenn das sekundärrechtliche Rechtsschutzregime „weiter“ als das primärrechtliche ist142. Ausdrücklich verbieten die Art. 220 ff. EGV nicht den Erlaß einer Rechtsschutzentscheidung, die entweder ihrem Inhalt nach primärrechtlich überhaupt nicht vorgesehen ist oder die zwar als solche primärrechtlich vorgesehen ist, deren primärrechtlich normierte Rechtmäßigkeitsbedingungen jedoch im konkreten Fall nicht vorliegen. Zu untersuchen ist aber, ob sich den Art. 220 ff. EGV ein implizites Verbot dieses Inhalts entnehmen läßt. 2. Einzelfragen a) Befugnis zur Abänderung von Verwaltungsentscheidungen Eine primärrechtlich nicht vorgesehene Rechtsschutzentscheidung ist die Abänderung von Verwaltungsentscheidungen durch die Gemeinschaftsgerichte, wie sie in Art. 63 Abs. 3 GMV und in Art. 73 Abs. 3 der VO 2100/94 in Bezug auf die Entscheidungen der Beschwerdekammern des HABM bzw. des Sortenamtes vorgesehen ist. Die Frage, ob diese Regelungen mit dem Primärrecht kompatibel sind, läßt sich jedoch sinnvollerweise erst beantworten, wenn der Begriff der Abänderung geklärt ist. Bei normstruktureller Betrachtung stellt die Abänderung einer Entscheidung eine Kumulation zweier verschiedener Regelungskomponenten dar, die lediglich uno actu in einer Entscheidung im äußerlich-technischen Sinne zusammengefaßt sind: In ihrer kassatorischen Komponente beinhaltet sie die Aufhebung 142
Vgl. oben § 1 C. (Konstellationen 1 und 4).
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der den Rechtsschutzgegenstand bildenden Entscheidung – d. h. der Ausgangsentscheidung –, also die Beseitigung von deren Regelungswirkung; insoweit handelt es sich um eine Sanktionsentscheidung143. In ihrer novatorischen Komponente beinhaltet sie den Erlaß einer neuen Sachentscheidung mit anderem Inhalt als die Ausgangsentscheidung. Daraus folgt unmittelbar, daß die Abänderung nur dann materiell rechtmäßig ist, wenn die materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen für die Sanktionsentscheidung und für die Neuentscheidung kumulativ vorliegen. In der Literatur144 wird gelegentlich – ansatzweise – die These vertreten, Art. 229 EGV stehe einer Abänderung von Verwaltungsentscheidungen durch die Gemeinschaftsgerichte entgegen. Die Rechtsprechung des EuG zur GMV hat dagegen die Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte in Bezug auf die Entscheidungen der Beschwerdekammern des HABM ausdrücklich – und ohne die Vereinbarkeit mit Art. 229 EGV zu problematisieren – bejaht145. Die entsprechenden Ausführungen bilden jedoch im Kontext jedenfalls einiger Urteile des EuG obiter dicta oder kommen solchen mindestens nahe146, was darauf hindeutet, daß die Frage als zumindest klarstellungsbedürftig angesehen wurde. Nach Art. 229 EGV kann der Gemeinschaftsgesetzgeber durch Verordnung den Gemeinschaftsgerichten hinsichtlich von „Zwangsmaßnahmen“ die Befugnis „zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung und zur Änderung oder Verhängung solcher Maßnahmen“ einräumen. Unter „Zwangsmaßnahmen“ sind dabei nicht nur Entscheidungen im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung – wie etwa die Verhängung von Zwangsgeldern – zu verstehen, sondern auch Entscheidungen mit Sühnecharakter, also insbesondere Geldbußen im Rahmen des Wettbewerbsrechts147. Im Wege des Umkehrschlusses könnte Art. 229 EGV nun dahingehend verstanden werden, daß er eine Abänderung solcher Verwaltungsentscheidungen, die keine „Zwangsmaßnahmen“ darstellen, durch die Gemeinschaftsgerichte implizit verbietet. Allerdings zeigt ein Blick auf die anderen Sprachfassungen von Art. 229 EGV, daß dort lediglich von einer „unbeschränkten Ermessensnachprüfung“ die Rede ist, ohne daß der Aspekt der „Änderung“ besonders erwähnt wird148. Art. 229 EGV kann daher lediglich eine implizite Regelung des Inhalts entnommen werden, daß es den Gemein143
Vgl. oben 1. Teil, § 2 A. und B. I. 6. Jung, in: G/S, Art. 224 bis 225a, Rn. 96; Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 314, diskutiert die Frage ebenfalls, kommt aber zu einem positiven Ergebnis. 145 EuG, Urt. v. 27. 2. 2002, Streamserve/HABM, T-106/00, Slg. S. II-723, Rn. 66; Urt. v. 14. 10. 2003, Phillips-Van Heusen/HABM, T-292/01, Slg. S. II-4335, Rn. 59; Urt. v. 8. 7. 2004, Marienfelde/HABM, T-334/01, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 19. 146 Dies gilt für die in Fn. 145 genannten Urteile mit Ausnahme des Urt. v. 14. 10. 2003, Phillips-Van Heusen/HABM, T-292/01, Slg. S. II-4335, Rn. 59. 147 Jakobs, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 32, Rn. 6. 144
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schaftsgerichten verwehrt ist, eine als „unbeschränkte Ermessensnachprüfung“ zu qualifizierende Rechtsschutzentscheidung in bezug auf solche Verwaltungsentscheidungen zu erlassen, die keine „Zwangsmaßnahmen“ in dem oben dargestellten weiten Sinne sind. Damit stellt sich die Frage, welche Rechtsschutzentscheidungen als „unbeschränkte Ermessensnachprüfung“ zu qualifizieren sind. Ein erstes, unproblematisches Merkmal derartiger Rechtsschutzentscheidungen ist, daß sie eine Ermessensentscheidung zum Gegenstand haben. Ermessensentscheidungen sind nach der hier zugrundegelegten Auffassung normstrukturell durch eine spezifische materielle Rechtmäßigkeitsbedingung gekennzeichnet. Diese besteht darin, daß die Entscheidungsinstanz substantiiert und plausibel darlegt, daß der Erlaß der Entscheidung einen positiven Nutzensaldo gegenüber dem Nicht-Erlaß aufweist. Dabei muß sich der positive Nutzensaldo der Entscheidung auf bestimmte normativ vorgegebene oder – ggf. wiederum in normativ vorgegebenen Grenzen – durch die Entscheidungsinstanz auswählbare öffentliche oder private Belange beziehen. Der Nutzensaldo der Entscheidung bildet somit den Gegenstand dessen, was in traditioneller dogmatischer Terminologie als „Ermessenserwägungen“ der Entscheidungsinstanz apostrophiert wird. Rechtserheblich sind diese allerdings nur dann, wenn sie nicht im forum internum der Entscheidungsinstanz verbleiben sondern von dieser verlautbart werden. Ein derartiger rechtssystematischer Begriff des Ermessens unterscheidet sich von demjenigen der deutschen Verwaltungsrechtslehre. Diese sieht bekanntlich das Verwaltungsermessen „auf der Rechtsfolgenseite des Rechtssatzes angesiedelt“149. Damit wird jedoch letztlich der Sache nach ein weiterer normativer Modus neben der Ermächtigung/Erlaubnis und dem Verbot150 eingeführt. Eine derartige Erweiterung erscheint jedoch aus begriffsökonomischen Gründen nicht geboten. Denn auch auf dem Boden der „herrschenden Lehre“ ist anerkannt, daß die gerichtliche Ermessenskontrolle sich auf die Begründung, nicht aber auf die Begründbarkeit der Entscheidung beziehe151. „Begründung“ meint in diesem Zusammenhang die von der Entscheidungsinstanz tatsächlich angestellten „Ermessenserwägungen“ und nicht notwendigerweise die formale Begründung der Verwaltungsentscheidung, also die in dieser selbst enthaltenen und deren Tenor
148 So beispielsweise die französische Fassung: „Les règlements [. . .] peuvent attribuer à la Cour de justice une compétence de pleine juridiction [. . .]“, die englische Fassung: „regulations may give the Court of Justice unlimited jurisdiction [. . .]“ und die italienische Fassung: „regolamenti possono attribuire alla Corte di Giustizia une competenza giurisdizionale anche di merito“. 149 Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht § 12 II 2; s. a. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 255 f. 150 Vgl. oben I. 151 Gerhardt in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 114, Rn. 6 a. E.; Schmidt, Staats- und Verwaltungsrecht, Rn. 124.
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inhaltlich tragenden Ausführungen rechtlicher und tatsächlicher Art. Vielmehr ist der hier zugrundegelegte rechtssystematische Begriff des Ermessens durchaus vereinbar mit einer positiv-rechtlichen Regelung, wonach die Entscheidungsinstanz ihre „Ermessenserwägungen“ noch im Verlaufe des Verwaltungsprozesses verlautbaren kann152. Der Inhalt der – formalen – Begründung einer Ermessensentscheidung ist somit zwar von Belang für deren materielle Rechtmäßigkeit, diese hängt jedoch nicht notwendigerweise allein hiervon ab. Auch dem positiven – materiellen – Gemeinschaftsrecht liegt der Sache nach der hier skizzierte Ermessensbegriff zugrunde153. Nicht jede Rechtsschutzentscheidung, die eine Ermessensentscheidung zum Gegenstand hat, stellt deshalb eine „unbeschränkte Ermessensnachprüfung“ i. S. v. Art. 229 EGV dar. Vielmehr muß als weiteres Merkmal entweder ein in bestimmter Weise ausgestaltetes Sanktionskriterium oder ein besonderer Rechtsschutzinhalt hinzutreten. So ist eine Rechtsschutzentscheidung zum einen dann als „unbeschränkte Ermessensnachprüfung“ zu qualifizieren, wenn für sie als alternatives Sanktionskriterium neben der Rechtswidrigkeit i. w. S. des Ausgangsverhaltens dessen „Unzweckmäßigkeit“ trotz Rechtmäßigkeit maßgeblich ist154. Normstrukturell bedeutet dies nichts anderes, als daß der Rechtsschutzinstanz ein Ermessen hinsichtlich der Sanktionsentscheidung eingeräumt wird. Nach dem zur Normstruktur des Ermessens Gesagten155 muß die Rechtsschutzinstanz also substantiiert und plausibel darlegen, daß die Sanktionsentscheidung selbst hinsichtlich bestimmter Belange einen positiven Nutzensaldo – bzw. spiegelbildlich: die Ausgangsentscheidung einen negativen Nutzensaldo – aufweist. Zum anderen liegt eine „unbeschränkte Ermessensnachprüfung“ vor, wenn eine Rechtsschutzinstanz zur Abänderung einer Ermessensentscheidung befugt ist. Denn wie bereits dargelegt156, müssen bei der Abänderung einer Ausgangsentscheidung die materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen für die Sanktionsentscheidung und für die Neuentscheidung kumulativ vorliegen. Eine Abände152 In diesem Sinne die seit 1997 geltende Fassung von § 114 S. 2 VwGO („Die Verwaltungsbehörde kann ihre Ermessenserwägungen auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen.“); vgl. hierzu Gerhardt in: Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 114, Rn. 12 B. ff. 153 Vgl. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 285, der den „Zusammenhang zwischen Ermessen und Begründungspflicht“ betont; ausführlich auch – allerdings stark an der franzosischen Dogmatik und Begrifflichkeit orientiert – Rittleng, Actualité juridique – Droit administratif 1995, S. 645 ff. 154 Daß die Rechtswidrigkeit i. w. S. des Ausgangsverhaltens eine hinreichende Bedingung für die materielle Rechtmäßigkeit der Sanktionsentscheidung darstellt, gehört ohnehin zu den essentialia einer Rechtsschutzentscheidung, vgl. oben 1. Teil, § 2 A. (nach Fn. 50). 155 Vgl. oben vor und nach Fn. 149. 156 Vgl. oben nach Fn. 143.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
rungsbefugnis der Rechtsschutzinstanz bedeutet daher notwendigerweise, daß dieser im Rahmen der Neuentscheidung die für die Ermessensentscheidung charakteristische Darlegung des positiven Nutzensaldos obliegt. Die Rechtsschutzinstanz setzt also ihr eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen der Ausgangsinstanz. Selbstverständlich kann das positive Recht auch die Aspekte der unbeschränkten Ermessensnachprüfung „kraft Sanktionskriteriums“ und „kraft Inhalts der Rechtsschutzentscheidung“ miteinander kombinieren. So sehen die im Bereich der „Zwangsmaßnahmen“ i. S. v. Art. 229 EGV erlassenen EG-Verordnungen neben der Erweiterung des Sanktionskriteriums um die „Unzweckmäßigkeit“ des Ausgangsverhaltens zugleich eine Befugnis der Gemeinschaftsgerichte zu dessen Abänderung vor157. Eine derartige Regelung ist auch verfahrensökonomisch sinnvoll. Denn andernfalls bestünde die Gefahr, eines „PingPong-Effekts“, also der wiederholten Anfechtung und Aufhebung administrativer Ermessensentscheidungen mit demselben Regelungsgegenstand, wenn die Rechtsschutzinstanz im Rahmen ihres Ermessens auch hinsichtlich der jeweils „nachbessernden“ Verwaltungsentscheidungen substantiiert und plausibel darlegt, daß eine hierauf bezogene Sanktionsentscheidung einen positiven Nutzensaldo im Hinblick auf die maßgeblichen Belange aufweist. In bezug auf die Ausgangsfrage nach der Primärrechtskonformität der in Art. 63 Abs. 3 GMV und in Art. 73 Abs. 3 der VO 2100/94 vorgesehenen Befugnis der Gemeinschaftsgerichte zur Abänderung von Entscheidungen der Beschwerdekammern des HABM und des Sortenamtes ergibt sich somit folgender Befund: Art. 229 EGV enthält lediglich ein implizites Verbot der Abänderung von Ermessensentscheidungen, sofern diese keine „Zwangsmaßnahmen“ darstellen. Im Hinblick auf ihren privatrechtsbegründenen Charakter sind die aufgrund der GMV – bzw. der VO 2100/94 – ergangenen Entscheidungen des HABM – bzw. des Sortenamtes – gebundene Entscheidungen. Gleiches gilt für die Entscheidungen der Beschwerdekammern, die die genannten Entscheidungen zum Gegenstand haben158. Die Befugnisse der Gemeinschaftsgerichte nach Art. 63 Abs. 3 GMV und Art. 73 Abs. 3 der VO 2100/94 stellen somit keine „unbeschränkte Ermessensnachprüfung“ i. S. v. Art. 229 EGV dar159. Mithin respektieren diese Bestimmungen den Vorrang des Primärrechts160. 157 Jakobs, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 32, Rn. 4, 9, 13 u. 14; Borchardt, in: Lenz, Art. 229 EGV, Rn. 5. 158 So für die GMV ausdrücklich EuG Urt. v. 30. 4. 2003, Axions u. Belce/HABM, T-324/01 u. T-110/02, Slg. S. II-1897, Rn. 51; Urt. v. 20. 11. 2002, Bosch/HABM, T79/01 u. T-86/01, Slg. S. II-4881, Rn. 32; Urt. v. 27. 2. 2002, Streamserve/HABM, T106/00, Slg. S. II-723, Rn. 66. Vgl. auch bereits Weis, EuR 1980, S. 273 ff. (283). 159 Ebenso Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 186; Jung, in: G/S, Art. 224 bis 225 A. EG, Rn. 96; anders offenbar Roseren, in: Léger, Philippe (Hg.), Commentaire article par article des traités UE et CE, Art. 229 EG, Rn. 4.
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b) Suspensiveffekt der Klage Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob die Bestimmungen der GMV, wonach der Klage gegen eine Entscheidung der Beschwerdekammer im Ergebnis eine aufschiebende Wirkung in bezug auf die angegriffene Ausgangsentscheidung des HABM zukommt161, den Vorrang des Primärrechts wahren. Denn Art. 242 S. 1 EGV bestimmt apodiktisch, daß Klagen vor den Gemeinschaftsgerichten „keine aufschiebende Wirkung“ haben. In normstruktureller Perspektive läßt sich der Inhalt einer Rechtsnorm, durch die in bezug auf einen regulativen Hoheitsakt X die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs angeordnet wird, folgendermaßen rekonstruieren: Insoweit die Rechtmäßigkeit eines anderen Hoheitsakts Y ausschließlich vom Vorliegen des Hoheitsakts X abhängt, ist die Vornahme des Hoheitsakts Y solange verboten, als noch nicht über den Rechtsbehelf entschieden worden ist. Dagegen enthält eine den Ausschluß der aufschiebenden Wirkung anordnende Rechtsnorm wie Art. 242 S. 1 EGV die umgekehrte Regelung, daß nämlich ceteris paribus die Vornahme des Hoheitsakts Y ermächtigt/erlaubt ist. In diesem Zusammenhang kommt es nicht auf die in der deutschen verwaltungsprozessualen Dogmatik vieldiskutierte Frage an, ob die aufschiebende Wirkung in einer Hemmung der Wirksamkeit oder lediglich der Vollziehbarkeit der angegriffenen Entscheidung besteht162. Denn beide Auffassungen stimmen darin überein, daß die Verwaltung jedenfalls am Erlaß von „Folgemaßnahmen“ gehindert ist163. Damit haben aber die Bestimmungen der GMV zur aufschiebenden Wirkung der Klage gegen eine Entscheidung der Beschwerdekammer einerseits und Art. 242 S. 1 EGV andererseits dasselbe Verhalten – die Vornahme des Hoheitsakts Y – zum Regelungsgegenstand. Da sie sich jedoch auf dieses Verhalten in einem je verschiedenen normativen Modus beziehen, sind sie nach der hier zugrundegelegten Definition miteinander inkompatibel164. Hieraus würde nach den allgemeinen Grundsätzen des Vorrangs des Primärrechts folgen, daß die entsprechenden Bestimmungen der GMV rechtswidrig bzw. unanwendbar sind. Diese Schlußfolgerung läßt sich jedoch durch folgende Überlegung entkräften: Art. 242 S. 1 EGV weist lediglich einen deklaratorischen Charakter ohne 160
So im Ergebnis auch Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 314. Nach Art. 62 Abs. 3 GMV werden die Entscheidungen der Beschwerdekammer erst mit Ablauf Klagefrist oder, wenn fristgemäß Klage erhoben worden ist, mit deren Abweisung wirksam; nach Art. 57 S. 1 GMV kommt der Beschwerde gegen eine Ausgangsentscheidung aufschiebende Wirkung zu. 162 Dazu eingehend Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 80, Rn. 72–98. 163 Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 80, Rn. 80. 164 Vgl. oben I. (bei Fn. 134–137). 161
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
eigenen Regelungsgehalt auf. Denn aufgrund des allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatzes, wonach ein Hoheitsakt der Gemeinschaftsorgane bis zu seiner Aufhebung rechtswirksam ist165, erfordert lediglich die Begründung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs, nicht aber deren Fehlen eine gesonderte Regelung. Eine Rechtsnorm (2) ist jedoch nicht allein deswegen rechtswidrig bzw. unanwendbar, weil sie mit einer lediglich deklaratorischen höherrangigen Rechtsnorm (1) inkompatibel ist. c) Qualifikation sekundärrechtlich errichteter Rechtsschutzinstanzen als Gerichte Nach der überwiegenden Auffassung in der Literatur ist es dem Sekundärrechtsgesetzgeber verwehrt, neue Gerichte auf Gemeinschaftsebene zu errichten166 und zwar auch für den Rechtsschutz in bezug auf die Akte solcher Gemeinschaftseinrichtungen, die selbst durch einen Akt des Sekundärrechts errichtet worden sind. Entsprechend werden beispielsweise die Beschwerdekammern des HABM von den meisten Autoren lediglich als „gerichtsähnliche Instanz[en] im administrativen Rahmen des Amtes“ qualifiziert167, obwohl sie nach Art. 131 Abs. 2 GMV Unabhängigkeit genießen und bei ihren Entscheidungen nicht an Weisungen gebunden sind168. Die im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Frage läßt sich folgendermaßen formulieren: Folgt daraus, daß das Primärrecht das Gemeinschaftsorgan „Gerichtshof“ – d. h. die Gemeinschaftsgerichte als gerichtliche Rechtsschutzinstanzen – zum Erlaß bestimmter Rechtsschutzentscheidungen ermächtigt, daß es implizit verbietet, daß eine ebenfalls als Gericht zu qualifizie165 Hierzu Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 226 f.; Borchardt, in: Lenz, Art. 242/243 EGV, Rn. 4. Die Gemeinschaftsgerichte apostrophieren diesen in ständiger Rechtsprechung betonten Grundsatz allerdings etwas mißverständlich als „Vermutung der Rechtmäßigkeit“ von Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane (vgl. EuGH, Urt. v. 14. 12. 2000, Masterfoods, C-344/98, Slg. S. I-11369, Rn. 53; Urt. v. 16. 6. 1994, BASF/Kommission, C-137/92 P, Slg. S. I-2168, Rn. 22). 166 So Klepper, Vollzugskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft aus abgeleitetem Recht, S. 157 und v. Mühlendahl, FS Beier, S. 307, Fn. 18 und S. 309, die vom „Rechtsprechungsmonopol“ des Gerichtshofs sprechen, ebenso Priebe, Entscheidungsbefugnisse vertragsfremder Einrichtungen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 150; a. A. Bender, MarkenR 1999, S. 11 ff. (16) sowie ders. in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 130 f. GMV, Rn. 6 ff. 167 Schwartz, in: G/T/E, Art. 235, Rn. 312 im Anschluß an Hilf, Die Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften, S. 160; ebenso Jung, FS Everling, S. 611 ff. (614); v. Mühlendahl, FS Beier, S. 303 (306); Ingerl, Die Gemeinschaftsmarke, S. 142; a. A. Bender, MarkenR 1999, S. 11 ff. (16); auch Bülow, in: FS Kutscher, S. 55 (75) hält i. E. die Schaffung gerichtlicher Rechtsschutzinstanzen auf der Grundlage von Art. 308 EGV für zulässig. 168 Analoge Bestimmungen enthalten die Art. 47 Abs. 3 der VO 2100/94 sowie Art. 33 Abs. 2 der VO 1592/02.
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rende169 sekundärrechtlich errichtete Rechtsschutzinstanz eine inhaltsgleiche – oder ggf. auch eine andere – Rechtsschutzentscheidung erläßt? Wie bereits ausgeführt170, stellt die erfolgte oder unterlassene Vornahme von regulativen Handlungen sekundärrechtlich errichteter Gemeinschaftseinrichtungen, durch die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt werden – also von „Entscheidungen“ –, einen tauglichen Gegenstand der kraft Primärrechts den Gemeinschaftsgerichten zugewiesenen Rechtsschutzentscheidungen dar. Dies gilt auch für die Entscheidungen einer sekundärrechtlich errichteten Rechtsschutzinstanz und zwar auch dann, wenn diese nach den gemeinschaftsrechtlich maßgeblichen Kriterien als Gericht zu qualifizieren ist. Mit dem Primärrecht unvereinbar wäre somit lediglich eine sekundärrechtliche Regelung, nach der es dem Gemeinschaftsorgan „Gerichtshof“ verboten ist, seine primärrechtlich verankerten Rechtsschutzbefugnisse in bezug auf Entscheidungen einer sekundärrechtlich errichteten Rechtsschutzinstanz auszuüben171. Anders gesagt: Einer derartigen Rechtsschutzinstanz darf zwar die Befugnis zum Erlaß von Rechtsschutzentscheidungen in bezug auf den erfolgten oder unterlassenen Erlaß von (Aussgangs)- Entscheidungen eingeräumt werden, nicht aber die Befugnis zum Erlaß abschließender Rechtsschutzentscheidungen. Dagegen läßt sich dem Primärrecht keine Aussage des Inhalts entnehmen, daß der Erlaß einer primärrechtlich vorgesehenen – oder auch einer anderen – Rechtsschutzentscheidung durch eine ebenfalls als Gericht zu qualifizierende sekundärrechtlich errichtete Rechtsschutzinstanz implizit verboten wäre. Im Gegenteil: Akzeptiert man, daß die Gerichtsqualität einer Rechtsschutzinstanz jedenfalls tendenziell geeignet ist, eine höhere Qualität des Rechtsschutzes zu gewährleisten, so liefe die Annahme eines derartigen impliziten Verbots dem auch als „Optimierungsgebot“ zu verstehenden gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Rechtsschutzeffektivität sogar direkt zuwider. Gleichwohl hat das EuG den Beschwerdekammern des HABM die Gerichtsqualität abgesprochen172. In dem betreffenden Verfahren ging es um die Frage, ob für diese das Gebot einer fairen Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens gilt173, das zunächst von der Rechtsprechung auf der Grundlage von Art. 6 169 Zu den maßgeblichen Merkmalen eines autonomen gemeinschaftsrechtlichen Gerichtsbegriffs vgl. oben 1. Teil, § 2 D. 170 Vgl. oben § 1 A. II. 2. 171 So zutreffend Hilf, Die Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaften, S. 351, der fordert, daß „eine Verklammerung mit dem Gerichtshof erhalten bleibt“. 172 EuG, Urt. v. 12.12.2002, Procter & Gamble/HABM, T-63/01, Slg. II-5255, Rn. 19–23. 173 Konkret ging es um die Frage, ob das Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung verlangt, daß nach erfolgter Aufhebung einer Beschwerdeentscheidung durch das EuG die Sache einer anderen Beschwerdekammer zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zuzuweisen ist. Dieses Sachproblem ist allerdings inzwischen entschärft, da Art. 6 des Beschlusses Nr. 2001-2 des Präsidiums der Beschwerdekammern vom 21.
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Abs. 1 EMRK als eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entwickelt und nunmehr in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgeschrieben worden ist174. Das EuG hat seine Entscheidung im wesentlichen damit begründet, daß die Beschwerdekammern trotz der funktionellen Unabhängigkeit ihrer Mitglieder in das HABM organisatorisch eingegliedert sind. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob das EuG damit den materiell ausgerichteten Begriff des Gerichts i. S. v. Art. 6 EMRK zutreffend erfaßt hat. Denn dieser erfordert lediglich, daß es sich um ein Gremium handelt, das auf der Grundlage von Rechtsvorschriften und nach Durchführung eines geregelten Verfahrens verbindliche Entscheidungen zu treffen befugt ist, wobei die formal-organisatorische Zuordnung zur Exekutive ebenso unschädlich ist wie die Mitwirkung von Beamten175. Bei Zugrundelegung dieser Kriterien dürfte mehr dafür als dagegen sprechen, die Beschwerdekammern als Gerichte i. S. der EMRK zu qualifizieren176. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang weiterhin ein Blick auf die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes (EPA) nach Art. 106 ff. des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ)177, die als Vorbild für die Beschwerdekammern des HABM gedient haben178. Die Gerichtsqualität der EPA-
Dezember 2001 zur Bestimmung der Mitglieder der ersten, zweiten, dritten und vierten Beschwerdekammer und ihrer Vertreter sowie zur Festlegung der Verfahren für die Geschäftsverteilung der Beschwerdekammern im Arbeitsjahr 2002 (Amtsblatt HABM 2002, S. 480) die Zuweisung der Sache an eine andere Beschwerdekammer vorsieht. 174 Dazu allgemein Schmidt-Aßmann, FS f. R. Bernhardt, S. 1283 ff. (1294). Aus der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte s. insbes. EuGH, Urt. v. 17. 12. 1998, Baustahlgewebe/Kommission, C-185/95 P, Slg. S. I-8417, Rn. 21, sowie bereits Urt. v. 5. 3. 1980, Pecastaing, Rs. 98/79, Slg. S. 691, Rn. 21 f. 175 Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 137 f. unter Hinweis auf EGMR, Urt. v. 27. 10. 1984 (Sramek), EuGRZ 1985, S. 336 (339). 176 Aus einer Qualifikation der Beschwerdekammern als Gerichte i. S. der EMRK folgt allerdings nicht zwingend, daß die in der Rechtssache T-63/01 – vgl. oben Fn. 297 f. – vom EuG zu entscheidende Frage dahingehend zu beantworten wäre, daß das Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung verlangt, daß nach erfolgter Aufhebung einer Beschwerdeentscheidung durch das EuG die Sache einer anderen Beschwerdekammer zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zuzuweisen ist. Denn unabhängig von der Frage, ob ein derartiges „Vorbefassungsverbot“ überhaupt vom Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung umfasst wird, fordert Art. 6 EMRK lediglich, daß die abschließende Entscheidung über die von dieser Vorschrift erfaßten „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ unter Beachtung der konventionseigenen Verfahrensgarantien erfolgt. Diese abschließende Entscheidung obliegt aber nicht den Beschwerdekammern sondern den Gemeinschaftsgerichten. 177 Übereinkommen vom 5. Oktober 1973 über die Erteilung europäischer Patente, BGBl. 1976 II-649; allgemein hierzu Busse, Patentgesetz, Art. I IntPatÜG, Rn. 5 ff. 178 Dazu v. Mühlendahl, Von der EWG-Marke zur Gemeinschaftsmarke – Teil II, in: Beier/Schricker (Hg.): Die Neuordnung des Markenrechts in Europa, S. 81 ff. (97 f.); Bender, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 130 f. GMV, Rn. 3.
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Beschwerdekammern ist zwar in der Literatur umstritten179 und wird von den Gerichten der einzelnen Vertragsstaaten des EPÜ unterschiedlich beantwortet180. Nunmehr hat allerdings die Kommission vorgeschlagen, ein Gemeinschaftspatent zu schaffen, das allerdings nicht von einer Gemeinschaftseinrichtung sondern vom Europäischen Patentamt als Verbandsorgan des EPÜ erteilt werden soll181. Sollte die GemeinschaftspatentVO mit diesem Inhalt verabschiedet werden, so kann die Frage auftreten, ob die EPA-Beschwerdekammern als vorlageberechtigte Gerichte i. S. v. Art. 234 EGV anzusehen sind. Eine bejahende Antwort scheitert nicht bereits daran, daß es sich nicht im strikten Sinne um mitgliedstaatliche Entscheidungsinstanzen handelt sondern um solche, die innerhalb des Verbandsorgans eines multilateralen völkerrechtlichen Vertrags eingerichtet sind182. Daher wird es entscheidend darauf ankommen, ob der EuGH die allgemeinen Kriterien des Gerichtsbegriffs nach Art. 234 EGV und insbesondere dasjenige der Unabhängigkeit der Entscheidungsinstanz als gegeben ansieht183. Hierbei könnte er durchaus zu einer Bewertung gelangen, die von der soeben referierten des EuG abweicht.
D. Wahrung des institutionellen Gleichgewichts Das Gebot, das institutionelle Gleichgewicht zu wahren, erlangt für sekundärrechtliche Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes in zweifacher Hinsicht Bedeutung:
179 Dafür Schulte, Patentgesetz, Anh. zu § 73, Rn. 2; Bender, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 130 f. GMV, Rn. 2; differenzierend Busse, Patentgesetz, Anh. § 65, Rn. 2. 180 Nachweise bei Busse, Patentgesetz, Anh. § 65, Rn. 2. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage im Rahmen einer von einem österreichischen Unternehmen eingelegten Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung einer EPA-Beschwerdekammer nicht geprüft, da es insofern vom Fehlen eines Aktes der deutschen Staatsgewalt ausging (BVerfG, Kammerbeschl. v. 8. 1. 1997, 2 BvR 1878/96, Blatt für Patent-, Musterund Zeichenwesen 1998, S. 31). 181 Vorschlag für eine VO des Rats über das Gemeinschaftspatent vom 1. 8. 2000, Dok. KOM 2000 412 (endg.). 182 Vgl. EuGH, Urt. v. 4. 11. 1997, Parfums Christian Dior, C-337/95, Slg. S. I6013, Rn. 19–23; in dieser Entscheidung hat der EuGH den ebenfalls aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen – drei – Mitgliedstaaten eingerichteten BeneluxGerichtshof, der für die Auslegung des einheitlichen Benelux-Markengesetzes zuständig ist, als nach Art. 234 EGV vorlageberechtigtes Gericht anerkannt. 183 Die weiteren Kriterien sind eine gesetzliche Grundlage der Entscheidungsinstanz, ihr ständiger Charakter, die Ausübung obligatorischer Gerichtsbarkeit, ein streitiges Verfahren, sowie die Anwendung von Rechtsnormen; vgl. EuGH, Urt. v. 29. 11. 2001, François De Coster, C-17/00, Slg. S. I-9445; Urt. v. 21. 3. 2000, Gabalfrisa u. a., C-110/98 bis C-147/98, Slg. S. I-1577, Rnr. 33; Urt. v. 17. 9. 1997, Dorsch Consult, C-4/96, Slg. S. I-4961, Rn. 23.
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Ist das sekundärrechtliche Rechtsschutzregime „weiter“ als das primärrechtliche184 und handelt es sich um den Rechtsschutz gegen Akte der Organe i. S. v. Art. 7 EGV, so kommt das institutionelle Gleichgewicht in Gestalt des Verbots zum Tragen, die einem Organ kraft Primärrechts zugewiesenen Kompetenzen auszuhöhlen. Sekundärrechtliche Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes können derartige Kompetenzen zum einen dadurch aushöhlen, daß sie die Rechtsbeständigkeit von Akten eines Organs in weiterem Umfang einschränken, als dies nach dem primärrechtlichen Rechtsschutzregime der Fall ist, also beispielsweise durch längere Rechtsbehelfsfristen oder eine weiter gefaßte Initiativberechtigung. Zum anderen werden primärrechtlich normierte Organkompetenzen dann unterminiert, wenn Entscheidungsbefugnisse des betreffenden Organs durch solche einer Rechtsschutzinstanz substituiert werden, also konkret insbesondere dann, wenn letztere zur Abänderung einer Entscheidung des Organs befugt ist. Allerdings betreffen die bisherigen sekundärrechtlichen Rechtsschutzregime der GMV und der VO 2100/94, die Abänderungsbefugnisse der Gemeinschaftsgerichte vorsehen, lediglich Akte von sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen und nicht von Organen i. S. v. Art. 7 EGV185. Diese erste Komponente des institutionellen Gleichgewichts ist somit hierdurch nicht berührt. Eine weitere normative Komponente des institutionellen Gleichgewichts kann in dem Verbot gesehen werden, den „Funktionskern“ eines der Organe i. S. v. Art. 7 EGV durch Erweiterungen seines Aufgabenkreises zu verändern. Dabei ist vorausgesetzt, daß der Sekundärrechtsgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 308 EGV grundsätzlich befugt ist, einem Organ bestimmte, primärrechtlich nicht vorgesehene Zuständigkeiten zu übertragen186. Wie bereits ausgeführt, begründen derartige Erweiterungen des Aufgabenkreises eines Organs die Gefahr nicht nur einer Fremdbestimmung seiner internen Ressourcenallokation sondern auch einer „Umwertung“ seiner etablierten Funktionsweise und seines institutionellen Selbstverständnisses187. Im vorliegenden Zusammenhang könnten derartige Gefährdungen dann von Belang werden, wenn sekundärrechtliche Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes dadurch, daß sie den Gemeinschaftsgerichten über den Rahmen der Art. 220 ff. EGV hinausgehende Befugnisse zuweisen, deren „Funktionskern“ als gerichtlicher Rechtsschutzinstanzen überlagern würden188. Die in der GMV und der VO 2100/94 vorgesehenen Abände184 Wenn also bestimmte Rechtsschutzentscheidungen nur bei Anwendung des ersteren, nicht aber des letzteren rechtmäßig sind, vgl. oben § 1 C. (Konstellationen 1 und 4). 185 Soweit ersichtlich, schränken diese die Rechtsbeständigkeit der Akte der betreffenden Gemeinschaftseinrichtungen nicht in weiterem Umfang ein, als dies nach dem primärrechtlichen Rechtsschutzregime der Fall ist. 186 Vgl. oben B. I. 187 Vgl. oben B. I.
§ 3 Begrenzter Anwendungsvorrang des Sekundärrechts
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rungsbefugnisse in bezug auf Entscheidungen des HABM bzw. des Sortenamtes sind jedoch ihrem Gewicht nach nicht geeignet, den Funktionskern der Gemeinschaftsgerichte ernsthaft zu gefährden.
§ 3 Überschneidung zwischen primärrechtlichen Rechtsschutz- und sekundärrechtlichen Sanktionsnormen: Begrenzter Anwendungsvorrang des Sekundärrechts A. Allgemeines Das primärrechtliche Rechtsschutzregime stellt einen Inbegriff von Sanktionsnormen dar, also von Rechtsnormen, die – unter bestimmten Bedingungen – zum Erlaß einer als Rechtsschutzentscheidung zu qualifizierenden Sanktionsentscheidung189 ermächtigen. Auch das Sekundärrecht kann Sanktionsnormen enthalten, wobei die Sanktionsentscheidung nicht notwendig den Charakter einer Rechtsschutzentscheidung aufweisen muß190. Eine primärrechtliche Rechtsschutznorm überschneidet sich dann mit einer sekundärrechtlichen Sanktionsnorm, wenn ihre Tatbestände durch identische Lebenssachverhalte erfüllt werden können. Den „Tatbestand“ einer Sanktionsnorm konstituieren die in dieser normierten materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen191, also im wesentlichen der Sanktionsgegenstand und das Sanktionskriterium. Die insofern praktisch hauptsächlich relevante – und im folgenden daher auch allein erörterte – primärrechtliche Rechtsschutznorm ist Art. 230 EGV als Ermächtigung zur gerichtlichen Aufhebung einer rechtswidrigen Entscheidung. Häufig ist der Tatbestand einer sekundärrechtlichen Sanktionsnorm demjenigen von Art. 230 EGV subordiniert: Das Vorliegen des ersteren impliziert das Vorliegen des letzteren, während das Umgekehrte nicht gilt. Am Beispiel: Ist die Entscheidung einer erstinstanzlichen Stelle des HABM rechtswidrig, so liegen die Tatbestandsvoraussetzungen sowohl für deren gerichtliche Aufhebung im Rahmen einer Nichtigkeitsklage vor als auch für deren Aufhebung durch die Beschwerdekammern des HABM. Allerdings begründet in diesen Fällen die lex 188 Vgl. die parallelen Überlegungen zu Art. 19 Abs. 4 und Art. 92 GG bei Schmidt-Aßmann, FS Menger, S. 107 ff. (110); ders., in: Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 36, sowie bei Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Vorb. zu § 42 Abs. 2, Rn. 16. 189 Vgl. oben, 1. Teil, § 2 A. 190 Keine Rechtsschutzverfahren sind beispielsweise das absolute und das relative Nichtigkeitsverfahren nach der GMV, vgl. unten, 3. Teil, § 2 B. I. 191 Unter Ausklammerung der Aspekte einer wirksamen Initiierung des Rechtsschutzverfahrens, also der „Zulässigkeit“ des Rechtsschutzantrags; vgl. oben 1. Teil, § 2 B. 3.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
specialis Regel keinen Anwendungsvorrang des Sekundärrechts, da eine Rechtsnorm höheren Geltungsrangs gegenüber einer solchen niedrigeren Geltungsrangs verdrängungsresistent ist192. Grundsätzlich denkbar ist aber auch, daß der Tatbestand einer sekundärrechtlichen Sanktionsnorm zu Art. 230 EGV im Verhältnis der Interferenz steht. Eine sekundärrechtliche Sanktionsnorm, die sich mit einer primärrechtlichen Rechtsschutznorm überschneidet, würde indes leerlaufen, wenn ihr dieser gegenüber im Ergebnis kein Anwendungsvorrang zukäme. Denn ermächtigt eine sekundärrechtliche Sanktionsnorm zu einer primärrechtlich ebenfalls vorgesehenen Sanktionsentscheidung, knüpft deren Rechtmäßigkeit aber an eine im Primärrecht nicht normierte Bedingung (vgl. die oben193 dargestellte Konstellationen 3 und 5), so sind beide Rechtsnormen – i. e. S. – komplementär zueinander194. Beziehen sich aber zwei komplementäre Rechtsnormen im normativen Modus der Ermächtigung/Erlaubnis auf ein bestimmtes Verhalten, so ist dieses bereits dann rechtmäßig, wenn entweder die in der einen oder die in der anderen Rechtsnorm festgelegten Tatbestandsvoraussetzungen für die Ermächtigung/ Erlaubnis erfüllt sind195. Der effet utile einer sekundärrechtlichen Sanktionsnorm bedarf somit einer gewissen „Abschirmung“ gegenüber dem Primärrecht. Allerdings verbietet es der Geltungsvorrang des Primärrechts dem Sekundärrechtsgesetzgeber, die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV davon abhängig zu machen, daß der Kläger zuvor – erfolglos – ein ihm offen stehendes sekundärrechtliches Sanktionsverfahren gegen die Ausgangsentscheidung eingeleitet hat196. Materiell spräche zwar für eine solche Regelung der Aspekt der Verfahrensökonomie. Denn aufgrund der Existenz dieses Sanktionsverfahrens ist die gerichtliche Aufhebung der Ausgangsentscheidung zum Schutz der klägerischen Individualinteressen abstrakt nicht erforderlich. Eine gegenüber der primärrechtlichen Rechtsschutznorm einschränkende Wirkung könnte eine derartige primärrechtlich nicht normierte Zulässigkeitsvoraussetzung aber nur dann haben, wenn sie der Sache nach in der Weise zu interpretieren wäre, daß die gerichtliche Aufhebung der Ausgangsentscheidung verboten ist, wenn das sekundärrechtliche Sanktionsverfahren nicht durchgeführt worden ist. Damit wären aber die primär- und die sekundärrechtliche Regelung miteinander inkompatibel, da sie sich in einem je unterschiedlichen Modus auf denselben Regelungsgegenstand bezögen197. Anders ist dies selbstverständlich dann, 192
Vgl. oben § 2 C. I. Bei § 1 C. 194 Wie oben (§ 2 C. I.) ausgeführt, sind zwei Rechtsnormen – auch verschiedenen Ranges – nicht inkompatibel sondern vielmehr zueinander komplementär, wenn sie sich im selben normativen Modus auf denselben Regelungsgegenstand beziehen. 195 Vgl. oben § 2 C. I. 196 s. aber dagegen EuG Urt. v. 25. 6. 2003, Pyres/Kommission, T-72/01, Slg. ÖD S. II-861, Rn. 61 f.; dazu unten bei und in Fn. 203. 193
§ 3 Begrenzter Anwendungsvorrang des Sekundärrechts
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wenn eine besondere primärrechtliche Norm den Gemeinschaftsgesetzgeber zur Ausgestaltung der Struktur des Rechtsschutzes ermächtigt, wie dies etwa bei Art. 236 EGV der Fall ist198. Ein vom normativen Ansatz her begrenzter, im Ergebnis allerdings weitreichender Anwendungsvorrang sekundärrechtlicher Sanktionsnormen, deren Tatbestand sich mit demjenigen von Art. 230 EGV überschneidet, ergibt sich jedoch aus der allgemeinen richterrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses. Wie bereits ausgeführt, ist die gerichtliche Aufhebung einer Entscheidung im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nämlich dann nicht zum Schutz der klägerischen Individualinteressen i. e. S. erforderlich, wenn dem Kläger die Möglichkeit offen steht, sein substantielles Verfahrensziel – also die Beseitigung der Rechtswirkungen der ihn belastenden Entscheidung – durch die Initiierung eines anderen, gegenüber dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren weniger aufwendigen und dennoch gleichwertigen Verfahrens zu erreichen199. Als ein derartiges Verfahren kommt insbesondere ein sekundärrechtliches Sanktionsverfahren in Betracht. Bei der Prüfung der Gleichwertigkeit des letzteren mit dem primärrechtlichen – gerichtlichen – Rechtsschutzverfahren sind die Konstellationen von besonderer Bedeutung, in denen der das sekundärrechtliche Sanktionsverfahren initiierende Antrag entweder abgewiesen oder aber nicht in angemessener Frist beschieden wird. Eine Gleichwertigkeit der beiden Verfahren liegt hier nur unter zwei kumulativen Voraussetzungen vor: – Erstens muß der Initiator des sekundärrechtlichen Sanktionsverfahrens für den Fall, daß der dieses initiierende Antrag entweder abgewiesen oder aber nicht – in angemessener Frist – beschieden wird, befugt sein, ein Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten zu initiieren. Ein derartiges Rechtsschutzverfahren muß der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV in bezug auf die Substanzelemente des Rechtsschutzes – d. h. das Sanktionskriterium und die tatsächliche Entscheidungsgrundlage – entsprechen. Dies gilt lediglich dann nicht, wenn es sich auch bei dem sekundärrechtlichen Sanktionsverfahren bereits um ein Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten handelt und die Substanzelemente des Rechtsschutzes – d. h. das Sanktionskriterium und die tatsächliche Entscheidungsgrundlage – mit denjenigen im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV identisch sind. – Zweitens darf in dieser Situation für den Kläger die Erreichung seines substantiellen Verfahrensziels – d. h. die Beseitigung der Rechtswirkungen der belastenden Ausgangsentscheidung – nicht mit einem größeren verfahrensmä197
Vgl. oben § 2 C. II. Daher war der Gemeinschaftsgesetzgeber befugt, in Art. 91 Abs. 2 des Beamtenstatuts vorzusehen, daß eine Klage gegen eine beschwerende Entscheidung der Anstellungsbehörde nur dann zulässig ist, wenn zuvor das administrative Beschwerdeverfahren erfolglos durchgeführt worden ist. 199 Vgl. oben § 1 A. II. 2. (bei Fn. 38). 198
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
ßigen Aufwand verbunden sein als dies bei einer unmittelbar gegen diese Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage der Fall wäre200. Unter der Voraussetzung, daß die betreffenden Verfahren in diesem Sinne gleichwertig sind, ergibt sich somit im Ergebnis folgendes: Ist die Frist zur Initiierung eines sekundärrechtlichen Sanktionsverfahrens im Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht abgelaufen oder ist dieses Rechtsschutzverfahren nicht fristgebunden201, so ist die gerichtliche Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zum Schutz der klägerischen Individualinteressen nicht erforderlich, mit der Folge, daß ein Rechtsschutzbedürfnis für die Nichtigkeitsklage fehlt. Immer dann, wenn die Frist zur Einleitung eines sekundärrechtlichen Sanktionsverfahrens länger ist als die Klagefrist nach Art. 230 Abs. 4 EGV oder wenn dieses Verfahren überhaupt nicht fristgebunden ist, wird dessen Initiierung somit de facto zu einer Zulässigkeitsvoraussetzung der Nichtigkeitsklage. Lediglich dann, wenn die Frist zur Einleitung eines sekundärrechtlich vorgesehenen Sanktionsverfahrens kürzer ist als die Klagefrist nach Art. 230 Abs. 4 EGV und der Kläger diese Frist hat verstreichen lassen, bleibt es selbstverständlich dabei, daß die Nichtigkeitsklage nicht deswegen unzulässig ist202. Der Sache nach hat damit die klägerbezogene Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses im Rahmen von Art. 230 Abs. 4 EGV die Wirkung einer impliziten Subsidiaritätsklausel zugunsten einer sekundärrechtlichen Sanktionsnorm. Dieser Anwendungsvorrang „kraft fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses“ findet seine Grenzen zum einen in bezug auf die Initiativberechtigung: Ist der Kläger nicht zur Initiierung des sekundärrechtlichen Sanktionsverfahrens befugt, so ist ceteris paribus die Nichtigkeitsklage zum Schutz seiner Individualinteressen i. e. S. erforderlich. Zum anderen ergeben sich derartige Grenzen in bezug auf den Rechtsschutzinhalt. Ermächtigt die sekundärrechtliche Sanktionsnorm nicht zum Erlaß einer primärrechtlich vorgesehenen Sanktionsentscheidung eines bestimmten Inhalts – wie z. B. einer einstweiligen Anordnung –203, so stehen primär- und sekundärrechtliche Sanktionsnorm zueinander im Verhältnis der Disjunktion i. w. S. Das Rechtsschutzbedürfnis für den Erlaß einer Sanktionsentscheidung kann dann selbstverständlich ebenfalls nicht unter Verweis auf das Sekundärrecht verneint werden. Außerhalb ihrer Überschneidungszone schließlich gelangen die primärrechtliche Rechtsschutz- und die sekundärrechtliche Sanktionsnorm nebeneinander zur 200
Für Beispiele hierzu s. auch unten 3. Teil, § 4 A. II. 2. Wie z. B. das Nichtigkeitsverfahren nach der GMV. 202 Dies hat das EuG in seinem Urt. v. 25. 6. 2003, Pyres/Kommission, T-72/01, Slg. ÖD S. II-861, Rn. 61 f. verkannt. 203 Stets unter der Voraussetzung, dass es sich um denselben Rechtsschutzgegenstand handelt, andernfalls bereits kein Subordinationsverhältnis zwischen primär- und sekundärrechtlicher Rechtsschutznorm vorläge. 201
§ 3 Begrenzter Anwendungsvorrang des Sekundärrechts
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Anwendung204; die Frage eines Anwendungsvorrangs des Sekundärrechts stellt sich gar nicht erst. Die Tatbestände stehen also im Verhältnis der Disjunktion205: Kein Lebenssachverhalt ist denkbar, der sowohl den Tatbestand der primärrechtlichen Rechtsschutznorm als auch denjenigen der sekundärrechtlichen Sanktionsnorm erfüllt. Dies ist zum einen dann der Fall, wenn der Gegenstand der Sanktionsentscheidung in beiden Rechtsnormen unterschiedlich bestimmt wird. Beispielsweise werden Handlungen, die nach Art. 230 EGV zulässigerweise mit der Nichtigkeitsklage oder Unterlassungen, die nach Art. 232 EGV zulässigerweise mit der Untätigkeitskeitsklage angegriffen werden können, nicht von der Rechtsschutzzone eines sekundärrechtlich vorgesehenen Rechtsbehelfs erfaßt206. Zum anderen sind die Tatbestände der primärrechtlichen Rechtsschutz- und der sekundärrechtlichen Sanktionsnorm dann disjunkt, wenn das Sanktionskriterium verschieden ist. Betrachtet man diese Grenzen des Anwendungsvorrangs der sekundärrechtlichen Sanktionsnormen einerseits und die eigenständige Anwendung des primärrechtlichen Rechtsschutzregimes außerhalb der Überschneidungszone andererseits, so läßt sich zusammenfassend feststellen, daß dem letzteren eine „Auffangfunktion“ in bezug auf sekundärrechtliche Sanktionsnormen zukommt.
B. Beispiele des Anwendungsvorrangs sekundärrechtlicher Sanktionsnormen Die Konstellation des Anwendungsvorrangs sekundärrechtlicher Sanktionsnormen ist nicht beschränkt auf das Gemeinschaftsmarkenrecht207 sowie die weitgehend parallel ausgestalteten devolutiven Rechtsschutzverfahren nach der VO 2100/94 und der VO 1592/02. Einen praktisch wichtigen Bereich bildet vielmehr auch das Recht des Zugangs zu Dokumenten. Hier sehen Art. 7 Abs. 4 und Art. 8 der VO 1049/01 in bezug auf die Ablehnung eines Antrags auf Zugang zu einem Dokument ein nicht devolutives Rechtsschutzverfahren vor, das durch einen „Zweitantrag“ des Antragstellers initiiert wird208. Die Gleichwertigkeit dieses sekundärrechtlichen Sanktionsverfahrens mit demjenigen der Nich204 Im Sinne einer primärrechtskonformen und damit geltungserhaltenden Auslegung des Sekundärrechts wäre es allerdings nicht zulässig, diesem ein implizites Verbot des Erlasses einer primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidung zu entnehmen. 205 Vgl. oben § 2 C. I. 206 Im Gemeinschaftsmarkenrecht werden beispielsweise andere Entscheidungen des HABM als solche der Beschwerdekammern, durch die über eine Beschwerde entschieden wird, sowie ein Unterlassen des HABM von der Klage nach Art. 63 GMV nicht umfaßt. 207 Dazu unten 3. Teil, § 4 A. 208 Vgl. bereits oben 1. Teil, § 1 (bei Fn. 40).
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
tigkeitsklage nach Art. 230 EGV ist dadurch gewährleistet, daß dann, wenn der „Zweitantrag“ nicht innerhalb von höchstens 30 Arbeitstagen beschieden wird, Art. 8 der VO 1049/01 den Erlaß eines ablehnenden Bescheids fingiert, der nach Art. 230 EGV mit der Nichtigkeitsklage anfechtbar ist. Allerdings ist das EuG bedenklicherweise über den bloßen Anwendungsvorrang „kraft fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses“ hinausgegangen und hat der Sache nach die erfolglose Durchführung des sekundärrechtlichen Sanktionsverfahrens nach Art. 7 Abs. 4 und Art. 8 der VO 1049/01 zu einer Zulässigkeitsvoraussetzung für eine gegen die Ablehnung eines Antrags auf Zugang zu einem Dokument gerichtete Nichtigkeitsklage gemacht209. Ein Sonderfall nicht devolutiver Rechtsschutzverfahren findet sich im EGDienstrecht, wobei allerdings daran zu erinnern ist, daß Art. 236 EGV für die Ausgestaltung des Rechtsschutzes in diesem Bereich ohnehin global in qualifizierter Weise auf das Sekundärrecht – in Gestalt des Beamtenstatuts – verweist210. Hier sehen gelegentlich weitere – im Rang unterhalb des Beamtenstatuts stehende – Sekundärrechtsnormen neben der Beschwerde nach Art. 90 Abs. 2 des Beamtenstatuts einen weiteren nicht devolutiven Rechtsbehelf vor, so etwa das „Ersuchen um Überprüfung“ in bezug auf Entscheidungen des Auswahlausschusses im Rahmen eines Auswahlverfahrens211. Nach der Rechtsprechung ist eine Verwaltungsentscheidung, durch die ein derartiges Rechtsschutzverfahren beendet wird, eine „beschwerende Maßnahme“ und damit ein mit der Beschwerde nach Art. 90 Abs. 2 bzw. der Klage nach Art. 91 Abs. 1 des Beamtenstatuts anfechtbarer Akt und nicht lediglich eine wiederholende Verfügung212. Begründet wird dies damit, daß ein derartiges Rechtsschutzverfahren seinen Sinn verlieren und es der Verfahrensökonomie widersprechen würde, wenn der Betroffene genötigt wäre, unmittelbar gegen die ursprüngliche Verwaltungsentscheidung die allgemeinen Rechtsbehelfe nach Art. 90 bzw. Art. 91 des Beamtenstatuts einzulegen. Allerdings ist nicht ganz deutlich, ob die Rechtsprechung weitergehend das Rechtsschutzbedürfnis für einen der allgemeinen dienstrecht209 EuG, Urt. v. 25. 6. 2003, Pyres/Kommission, T-72/01, Slg. ÖD S. II-861, Rn. 61 f.: Dort hat das EuG den Beschluß 94/90/EG, EGKS, Euratom vom 8. 2. 1994 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der Kommission (ABl. 1994, L 46, S. 58) dahingehend ausgelegt, daß im Falle der Ablehnung eines Antrags auf Zugang zu einem Dokument die Nichtigkeitsklage nicht bereits gegen diesen Ablehnungsbescheid zulässig ist – was bei strikter Anwendung von Art. 230 EGV der Fall wäre – sondern erst gegen die Ablehnung oder Nichtbescheidung eines vom Antragsteller gestellten Zweitantrags. 210 Vgl. oben 1. Teil, § 1 (bei Fn. 6). 211 Rechtsbehelfe dieser Art haben ihre Grundlage in der Ausschreibung des betreffenden Auswahlverfahrens, vgl. z. B. ABl. C. 104 A. v. 30. 4. 2004, S. 40 (51). 212 EuG, Urt. v. 3. 4. 2001, Zaur-Gora u. A./Kommission, T-95/00 und T-96/00, SlgÖD, S. II-379, Rn. 24–28 m. w. Rechtsprechungsnachweisen; Urt. v. 7. 11. 2004, Vega Rodriguez/Kommission, T-285/03 und T-395/02, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 18 f.
§ 3 Begrenzter Anwendungsvorrang des Sekundärrechts
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lichen Rechtsbehelfe verneint, wenn dieser unmittelbar gegen die ursprüngliche Verwaltungsentscheidung eingelegt wird. Der Sache nach liefe ein solcher Ansatz darauf hinaus, dieser Entscheidung die Qualität einer „beschwerenden Maßnahme“ i. S. v. Art. 90 Abs. 2 bzw. Art. 91 Abs. 1 des Beamtenstatuts abzusprechen und damit im Ergebnis die Rechtsschutzzone der allgemeinen dienstrechtlichen Rechtsbehelfe auf diejenige Entscheidung zu beschränken, durch die der weitere sekundärrechtlich vorgesehene Rechtsbehelf abgewiesen wird213.
C. Exkurs: Bestimmung des Klagegegenstandes bei vorgeschaltetem sekundärrechtlichem Sanktionsverfahren Wenn das Sekundärrecht – wie im Falle der VO 1049/01 – kein eigenes Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten vorsieht, so kommen ausschließlich die primärrechtlichen Rechtsschutznormen der Art. 230 bzw. 232 EGV zur Anwendung214. Danach sind taugliche Klagegegenstände sowohl die das sekundärrechtliche Sanktionsverfahren beendende Entscheidung als auch die Ausgangsentscheidung, die den Gegenstand dieses Verfahrens gebildet hatte. Sieht das Sekundärrecht dagegen ein eigenes Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten vor, so ist es sinnvoll und geschieht in der Regel, daß der Sekundärrechtsgesetzgeber eine Entscheidung darüber trifft, ob die das sekundärrechtliche Sanktionsverfahren beendende Entscheidung215 oder aber die Ausgangsentscheidung als dessen Gegenstand den Gegenstand dieses Verfahrens bilden soll. Das System der GMV folgt – ebenso wie dasjenige der VO 2100/94 und der VO 1592/02 – dem ersten Modell216: Klagegegenstand ist die das Beschwerdeverfahren beendende Entscheidung. Dies entspricht der Sache nach den differenzierten Regeln des deutschen Verwaltungsprozeßrechts zum Gegenstand der Anfechtungsklage. Zwar bestimmt § 79 VwGO Abs. 1 Nr. 1 VwGO für den Regelfall nicht den Widerspruchsbescheid selbst, sondern den „ursprüngliche[n] Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat“ als Klagegenstand. Der Grund hierfür dürfte allerdings lediglich darin liegen, daß nur diese Rechtskonstruktion das erwünschte Ergebnis ermöglicht, daß die Ausgangsbehörde bzw. deren Rechtsträger – und nicht die oft einem ande213 Vgl. einerseits Rn. 26 und andererseits Rn. 27 des Urteils v. 3. 4. 2001, ZaurGora u. A./Kommission, T-95/00 und T-96/00, SlgÖD, S. II-379. 214 Vorbehaltlich eines zugunsten des Sekundärrechts wirkenden Anwendungsvorrangs „kraft fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses“, vgl. oben B. 215 Dies gilt unabhängig davon, ob dieses Verfahren einen administrativen oder ebenfalls einen gerichtlichen Charakter aufweist, dazu oben 1. Teil, § 2 B. I. 1. a) sowie 2. Teil, § 2 C. 2. c). 216 Dazu näher unten 3. Teil, § 3 B. I.
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2. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
ren Rechtsträger zugehörige Widerspruchsbehörde bzw. dieser andere Rechtsträger selbst – Beklagter des Anfechtungsprozesses ist217. Für derartige Überlegungen besteht im Kontext des organisationsrechtlich einfacher strukturierten EGEigenverwaltungsrechts jedenfalls einstweilen noch kein Anlaß; dies mag sich zukünftig allerdings ändern, sofern im Zuge der zunehmenden organisationsrechtlichen Ausdifferenzierung der EG-Eigenverwaltung218 devolutive instantielle Rechtsbehelfszüge zwischen Instanzen geschaffen werden, die nicht organisatorisch miteinander verbunden sind und insbesondere nicht demselben Rechtsträger angehören. Die dienstrechtlichen Streitigkeiten nach Art. 236 EGV folgen dagegen jedenfalls im Grundsatz dem zweiten Modell. Klagegegenstand ist die Ausgangsentscheidung219. Die ordnungs- und insbesondere fristgemäße Einleitung des in Art. 90 Abs. 2 des Statuts vorgesehenen Beschwerdeverfahrens stellt eine gesonderte Zulässigkeitsvoraussetzung der Klage dar220; diese Regel wird auch dann nicht durchbrochen, wenn die Beschwerdeinstanz eine unzulässige Beschwerde in der Sache beschieden hat221. Im Rahmen dieses Modells wird die verfahrensökonomisch erwünschte Filterfunktion des sekundärrechtlichen Rechtsschutzverfahrens durch die – richterrechtlich normierte – Regel sichergestellt, daß dort nicht erhobene Rügen im Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten präkludiert sind222. Allerdings kann ausnahmsweise auch die Beschwerdeentscheidung zum alleinigen Gegenstand des gerichtlichen Rechtsschutzverfahrens gemacht werden, nämlich dann, wenn die Beschwerdeinstanz der Beschwerde – teilweise – stattgegeben hat223.
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Zu diesem Aspekt Eyermann/Happ, VwGO, § 79, Rn. 12. Vgl. entsprechende Überlegungen bei Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, S. 560 f. sowie Klepper, Verwaltungskompetenzen der EG aus abgeleitetem Recht, S. 160 f. 219 Und zwar auch dann, wenn die Klage ausdrücklich lediglich gegen die Beschwerdeentscheidung gerichtet wird, vgl. EuGH, Urt. v. 17. 1. 1989, Vainker/Parlement, Rs. 293/87, Slg. S. 23, Rn. 7 f. 220 Ständ. Rspr.; vgl. EuG, B. v. 15. 2. 1995, Moat/Kommission, T-112/94, Slg. ÖD S. II-135, Rn. 20; Urt. v. 17. 1. 2001, Kraus/Kommission, Slg. ÖD, S. II-39, Rn. 19; B. v. 30. 3. 2001, Tavares/Kommission, T-312/00, Slg. ÖD S. II-367, Rn. 23. 221 EuG, Urt. v. 17. 1. 2001, Kraus/Kommission, Slg. ÖD, S. II-39, Rn. 19; hierin liegt ein bedeutsamer Unterschied zur deutschen Rechtssituation bei Versäumung der Widerspruchsfrist nach § 70 VwGO, vgl. Dolde, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 70, Rn. 36 ff. 222 Dieses Erfordernis der „Übereinstimmung zwischen Beschwerde und Klage“ entspricht ständiger Rechtsprechung, vgl. u. a. EuGH, Urt. v. 14. 3. 1989, Del Amo Martinez/Parlement, 133/88, Slg. S. 689; EuG, Urt. v. 3. 3. 1993, Booss und Fischer/ Kommission, T-58/91, Slg. S. II-147, Rn. 83; Urt. v. 22. 2. 2001, Tirelli/Parlement, T144/00, Slg.ÖD S. 171, Rn. 25; s. a. Kirschner/Klüpfel, S. 88 f. 223 EuG, Urt. v. 9. 4. 2003, Tejada Fernandez/Kommission, T-134/02, Slg. ÖD, S. II609, Rn. 16. 218
3. Teil
Strukturelle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes im Gemeinschaftsmarkenrecht § 1 Organisationsrechtlicher Rahmen: Die Struktur des HABM A. Das HABM als sekundärrechtlich errichtete Gemeinschaftseinrichtung Das HABM ist eine Gemeinschaftseinrichtung mit eigener Rechtspersönlichkeit. Es zählt – neben dem Sortenamt und der Flugsicherheitsagentur – zu den wenigen sekundärrechtlich errichteten Gemeinschaftseinrichtungen, denen der Gemeinschaftsgesetzgeber die Befugnis eingeräumt hat, Entscheidungen i. S. der Art. 230 und 232 EGV1 zu erlassen. Daß er hierzu primärrechtlich befugt war, ist mittlerweile allgemein anerkannt2. Auch aus den Meroni-Urteilen des Gerichtshofs3 ergeben sich letztlich keine Bedenken. Zwar hat der Gerichtshof in diesen Urteilen Schranken aufgestellt für die sekundärrechtliche Einräumung von Entscheidungsbefugnissen an vertraglich nicht vorgesehene Einrichtungen. Doch zum einen gelten diese Schranken lediglich für solche Kompetenzen, die den Organen kraft Primärrechts zugewiesen sind4, was in bezug auf die dem HABM eingeräumten Entscheidungsbefugnisse jedoch gerade nicht der Fall ist5. Denn die GMV hat überhaupt erst eine – primärrechtlich nicht vorgesehene – Verwaltungskompetenz der Gemeinschaft begründet. Zum anderen lassen es die Meroni-Urteile zu, einer vertraglich nicht vorgesehenen Einrichtung „genau umgrenzte Ausführungsbefugnisse“ zu übertragen6. Wie bereits ausgeführt, sind 1 Also regulative Handlungen, durch die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt werden, vgl. oben 2. Teil, § 1 A. 2 Uerpmann, AöR 2000, S. 551 ff. (557); Weis, EuR 1980, S. 273 ff. (283); Schwartz, in: G/S, Art. 308, Rn. 273 f. 3 EuGH, Urteile v. 13. 6. 1958, Meroni/Hohe Behörde, Rs. 9/56, Slg. 1958, S. 9 und Rs. 10/56, Slg. 1958, S. 51. 4 In den Meroni-Urteilen (Slg. 1958, S. 37 bzw. S. 76) ist ausdrücklich die Rede von „Befugnissen, die nach dem [EGKS-]Vertrag der Hohen Behörde zustehen“; vgl. in anderem Zusammenhang aber im gleichen Sinne Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, S. 35. 5 So zutreffend Schwartz, in: G/S, Art. 308, Rn. 230.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
die aufgrund der GMV ergangenen Entscheidungen des HABM gebundener Natur7. Die operative Leitung des HABM sowie die Organisationsgewalt liegen nach Art. 119 GMV bei seinem Präsidenten, der von einem oder mehreren – im Jahre 2005: 1 – Vizepräsidenten unterstützt wird (Art. 111 Abs. 3 sowie Art. 119 GMV). Der Präsident sowie die Vizepräsidenten werden auf der Grundlage eines Dreiervorschlags des Verwaltungsrates des HABM vom Rat der EU für eine fünfjährige erneuerbare Amtszeit ernannt (Art. 120 Abs. 1 und 2 sowie Art. 121 Abs. 2 GMV). An der Verwaltung des HABM nehmen die Mitgliedstaaten und die Kommission durch ihre Mitwirkung im Verwaltungsrat (Art. 121–124 GMV) sowie im Haushaltsausschuß (Art. 133–138 GMV) teil.
B. Entscheidungsinstanzen (Spruchkörper) innerhalb des HABM Die dem HABM aufgrund der GMV zustehenden Entscheidungsbefugnisse8 werden von verschiedenen Entscheidungsinstanzen (Spruchkörpern) wahrgenommen Dabei handelt es sich um die Prüfer (Art. 126 GMV), die Widerspruchsabteilungen (Art. 127 GMV), die Nichtigkeitsabteilungen (Art. 129 GMV), die Markenverwaltungs- und Rechtsabteilung (Art. 128 GMV) sowie die Beschwerdekammern (Art. 130 GMV)9. Lediglich die Prüfer entscheiden als Einzelprüfer; die übrigen Entscheidungsinstanzen sind kollegial strukturiert. Die Widerspruchs- und die Nichtigkeitsabteilungen setzen sich jeweils aus drei Mitgliedern zusammen, von denen eines rechtskundig sein muß (Art. 127 Abs. 2 bzw. Art. 129 Abs. 2 GMV). Diese Zuständigkeit professioneller, justizähnlicher Gremien10 entspricht der Situation in Deutschland in bezug auf das Deutsche Patent- und Markenamt, ist jedoch für den Bereich der EG-Eigenverwaltung eine atypische11, wenn auch sachangemessene Gestaltung. Die Zuordnung der einzelnen Entscheidungsbefugnisse zu den verschiedenen Entscheidungsinstanzen ist in der GMV selbst abschließend geregelt, und zwar nach sachlichen sowie funktionellen Kriterien. Dabei ist die auf verschiedene Typen von Sachentscheidungen bezogene Abgrenzung zwischen Prüfern, Wi6
Vgl. Slg. 1958, S. 43 bzw. S. 81. Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. a) (bei Fn. 158). 8 Die sonstigen Aufgaben des HABM, etwa auf dem Gebiet des Personal- und Beschaffungswesens, werden unmittelbar im Auftrag des Präsidenten wahrgenommen. 9 Zu letzteren näher unten § 3 A. I. 10 Zu dieser Qualifikation Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, S. 94 f. 11 Zu den – wenigen – anderen Beispielen Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, S. 344. 7
§ 1 Organisationsrechtlicher Rahmen: Die Struktur des HABM
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derspruchs-, Nichtigkeits-, sowie Markenverwaltungs- und Rechtsabteilung sachlicher Natur. Die – instantiell definierte – Abgrenzung zwischen diesen Entscheidungsinstanzen (im folgenden: erstinstanzlichen Stellen) einerseits und den Beschwerdekammern andererseits ist funktioneller Natur. Es handelt sich in beiden Fällen um eine „gesetzliche Geschäftsverteilung“ i. S. der Terminologie des deutschen Gerichtsverfassungsrechts12. Diese steht nicht zur Disposition der Organisationsgewalt des Präsidenten13. Allerdings ist aufgrund eines Umkehrschlusses aus Art. 131 Abs. 3 GMV14 anzunehmen, daß für die einzelnen Amtswalter keine Inkompatibilität zwischen den Funktionen als Prüfer, bzw. als Mitglied der Widerspruchs-, Nichtigkeits-, oder Markenverwaltungs- und Rechtsabteilung besteht. Eine rein faktisch-organisatorische Zusammenlegung dieser Entscheidungsinstanzen wäre also möglich und ist im übrigen in Art. 100 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zur GMV15 (nachfolgend: DV) ausdrücklich vorgesehen. Keine ausdrückliche Regelung enthält die GMV zu der Frage, ob die Entscheidungsinstanzen des HABM bei der Ausübung der ihnen aufgrund der GMV zustehenden Entscheidungsbefugnisse den Weisungen des Präsidenten unterworfen sind. Lediglich für die Beschwerdekammern bestimmt Art. 131 Abs. 2 GMV daß deren Mitglieder „bei ihren Entscheidungen [. . .] an keinerlei Weisungen gebunden“ sind. In bezug auf die übrigen Entscheidungsinstanzen dürfte eine allgemeine Weisungsbefugnis des Präsidenten dagegen zu bejahen sein. Hierfür spricht erstens ein Umkehrschluß aus Art. 131 Abs. 2 GMV; diese Vorschrift wäre überflüssig wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, daß die Entscheidungsinstanzen bei der Ausübung ihrer Entscheidungsbefugnisse grundsätzlich weisungsfrei agieren. Zweitens ist die dem Präsidenten durch Art. 119 Abs. 1 GMV allgemein eingeräumte Leitungsgewalt zu nennen. Drittens umfaßt diese Leitungsgewalt gemäß Art. 119 Abs. 2 lit. a GMV ausdrücklich den Erlaß „interner Verwaltungsvorschriften“, also abstrakt-genereller Weisungen16.
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Allgemein hierzu, Zöller, ZPO, § 1, Rn. 4, 6. Zum Parallelfall der gesetzlichen Geschäftsverteilung im Deutschen Patent- und Markenamt Althammmer/Ströbele/Klaka, Markengesetz, § 46, Rn. 4; für das HABM anders offenbar v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 34, Rn. 2. 14 Dieser statuiert eine Inkompatibilität zwischen der Funktion als Mitglied einer Beschwerdekammer einerseits und als Mitglied einer der übrigen Entscheidungsinstanzen andererseits; siehe näher unten § 3 A. I. 15 VO (EG) Nr. 2868/95 der Kommission vom 13. 12. 1995 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates über die Gemeinschaftsmarke, ABl. L 303, S. 1. 16 Die besondere Hervorhebung der „internen Verwaltungsvorschriften“ bedeutet nicht, daß konkret-individuelle Weisungen E. contrario ausgeschlossen wären, sie steht vielmehr damit im Zusammenhang, daß der Verwaltungsrat nach Art. 121 Abs. 5 GMV lediglich vor dem Erlaß abstrakt-genereller Weisungen anzuhören ist. 13
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
§ 2 Verfahrensstrukturierung und Grundzüge des Rechtsschutzregimes nach der GMV A. Verfahrensstrukturen und Rechtsbehelfe im Vorfeld der Markeneintragung I. Ausgangspunkt: Das Eintragungsverfahren als gestuftes Verwaltungsverfahren Das Eintragungsverfahren ist als gestuftes Verwaltungsverfahren ausgestaltet und durch eine Abschichtung von Entscheidungsgehalten gekennzeichnet. Nach Art. 45 GMV wird die Gemeinschaftsmarke eingetragen, wenn sie „den Vorschriften dieser Verordnung“ entspricht und wenn „innerhalb der Frist [. . .] kein Widerspruch erhoben oder [. . .] ein Widerspruch rechtskräftig zurückgewiesen“ wurde. Die damit der Sache nach für die Markeneintragung entscheidungserheblichen Rechtsnormen werden aus einem einheitlichen Entscheidungszusammenhang herausgelöst und in zwei getrennten konsekutiven Teilverfahren abgearbeitet17. Dabei handelt es sich einerseits um das vor dem Prüfer durchgeführte Prüfungsverfahren nach Art. 36–38 GMV und andererseits um das Widerspruchsverfahren vor der Widerspruchsabteilung nach Art. 42 f. GMV. Diese verfahrensmäßige Aufspaltung spiegelt die Dissoziierung der von der Markeneintragung berührten öffentlichen und privaten Bestandsinteressen18 wider und wird hierdurch auch überhaupt erst ermöglicht. Im Prüfungsverfahren sind diejenigen Rechtsnormen entscheidungserheblich, die als „absolute Eintragungshindernisse“ die öffentlichen Bestandsinteressen, im Widerspruchsverfahren diejenigen Rechtsnormen, die als „relative Eintragungshindernisse“ die Bestandsinteressen privater Dritter artikulieren. Strukturell ähnelt das Verhältnis zwischen Prüfungs- und Widerspruchsverfahren in gewisser Weise demjenigen zwischen Vor- und Endbescheid im deutschen Genehmigungs- und Zulassungsrecht. Anders als dort unterscheiden sich aber die beiden Teilverfahren des markenrechtlichen Eintragungsverfahrens wesentlich hinsichtlich der maßgeblichen Bestimmungsnormen zur Gewinnung der für die verfahrensbeendende Entscheidung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Entscheidungsgrundlage (der sog. „Verfahrensgrundsätze“)19. Dies bestätigt den allgemeinen Befund, wonach es sich bei den „gestuften“ Verwaltungsverfahren nicht um einen dogmatisch fest konturierten Verfahrenstypus handelt20. Vielmehr besteht ein weites Spektrum derartiger Verfahren, innerhalb 17 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 201. 18 Vgl. oben 1. Teil, § 3 C. II. 19 Dazu näher unten II. 1. und III. 1.
§ 2 Verfahrensstrukturierung des Rechtsschutzregimes nach der GMV
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dessen das hier behandelte eine weitere Facette darstellt. Es bestätigt sich hier also einmal mehr, wie sehr die Aussagen des allgemeinen Verwaltungsrechts von den in die Betrachtung einbezogenen „Referenzgebieten“ abhängen21. II. Prüfungsverfahren 1. Allgemeines – Maßgebliche rechtliche und tatsächliche Entscheidungsgrundlage Entscheidungserheblich für die das Prüfungsverfahren beendende Entscheidung sind die Rechtsnormen in bezug auf die formellen Erfordernisse der Markenanmeldung (Art. 36 GMV) sowie insbesondere hinsichtlich der im öffentlichen Interesse bestehenden „absoluten Eintragungshindernisse“. Diese liegen entweder in der Person des Markenanmelders (Art. 5 GMV) oder in der Natur der Marke, wie etwa in ihrem beschreibenden oder gegen die öffentliche Ordnung verstoßenden Charakter (Art. 7 GMV). Nach Art 74 Abs. 1, erster Hs. GMV werden die entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweismittel grundsätzlich von Amts wegen ermittelt. Allerdings hat die Rechtsprechung eine Behauptungs- und Beweisführungslast des Markenanmelders hinsichtlich der für eine Verkehrsdurchsetzung der Marke nach Art. 7 Abs. 3 GMV sprechenden Tatsachen und Beweismittel postuliert22. Man wird hieraus aber weitergehend entnehmen können, daß bereits die Einbeziehung von Art. 7 Abs. 3 GMV in die für die Prüfungsentscheidung maßgebliche rechtliche Entscheidungsgrundlage davon abhängt, daß sich der Markenanmelder auf diese Rechtsnorm berufen hat, die somit eine Einredenorm darstellt23. 2. Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens und Rechtsbehelfe Liegt mindestens ein absolutes Eintragungshindernis vor, so wird die Markenanmeldung durch Entscheidung des Prüfers zurückgewiesen (Art. 37 Abs. 1 20 Vgl. Badura, Das Verwaltungsverfahren, § 38, Rn. 29, in: Erichsen (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, der vor Verallgemeinerungen im Sinne einer „einheitlichen Lehre von ,gestuften‘ Verwaltungsverfahren“ warnt. 21 Dazu grundlegend Schmidt-Aßmann, Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Reformbedarf und Reformansätze, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Schuppert (Hg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, S. 13 ff. (15) 22 EuG, Urt. v. 12. 12. 2002, eCopy/HABM, T-247/01, Slg. S. II-5301, Rn. 47. Zur Begründung hat das EuG – unter Hinweis auf das Prinzip „ultra posse nemo obligatur“ – ausgeführt, daß dem HABM die Prüfung einer durch Benutzung erlangten Unterscheidungskraft der angemeldeten Marke faktisch unmöglich sei, wenn deren Anmelder entsprechende Tatsachen und Beweismittel nicht in das Verfahren einführt. 23 Für eine derartige Interpretation tendenziell auch EuG, Urt. v. 8. 7. 1999, Procter&Gamble/HABM, T-163/98, Slg. S. II-2383, Rn. 43 f.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
und Art. 38 Abs. 1 GMV). Anderenfalls ergeht keine gesonderte Entscheidung in Gestalt eines feststellenden „Vorbescheids“ des Inhalts, daß der Markenanmeldung keine absoluten Eintragungshindernisse entgegenstehen. Vielmehr wird die Markenanmeldung – nach Durchführung der rein verwaltungsinternen „Recherche“ nach vorbestehenden Marken Dritter (Art. 39 GMV)24 – in einem amtlichen Publikationsorgan, dem Gemeinschaftsmarkenblatt, veröffentlicht (Art. 40 GMV). Wie das primärrechtliche Rechtsschutzregime, so sieht auch dasjenige der GMV keinen auf die Verpflichtung eines Organs zur Vornahme einer Handlung – insbesondere zum Erlaß einer Entscheidung – gerichteten Rechtsbehelf vor. Rechtsschutzgegenstand ist daher die die Vornahme der beantragten Handlung versagende Entscheidung. Hat also der Prüfer die Markenanmeldung zurückgewiesen, so kann der Markenanmelder den Schutz seines in der Vornahme der Markeneintragung bestehenden Individualinteresses lediglich durch die Anfechtung dieser Entscheidung erreichen. Hierzu steht ihm zunächst die Beschwerde zu (Art. 57 GMV). Hilft der Prüfer der Beschwerde nicht innerhalb eines Monats ab, so hat er sie unverzüglich der Beschwerdekammer vorzulegen (Art. 60 GMV). Die Beschwerdekammer kann die Entscheidung des Prüfers aufheben oder abändern (Art. 62 Abs. 1 S. 2 GMV)25. Gegen die Zurückweisung der Beschwerde durch die Beschwerdekammer ist die Klage vor dem Gericht erster Instanz26 gegeben (Art. 63 Abs. 1 GMV), das die Entscheidung der Beschwerdekammer aufhebt oder abändert, wenn sie rechtswidrig ist (Art. 63 Abs. 3 GMV).
24 Nach dieser Vorschrift erstellt das HABM einen „Gemeinschaftsrecherchenbericht“, in dem diejenigen ermittelten älteren Marken oder Markenanmeldungen auf der Ebene der Gemeinschaft oder eines an dem Recherchesystem teilnehmenden Mitgliedstaats aufgeführt werden, die gemäß Art. 8 GMV gegen die Eintragung der angemeldeten Gemeinschaftsmarke geltend gemacht werden können. Diese Regelung stellt einen politischen Kompromiß dar zwischen der amtswegigen und der antragsinitiierten Prüfung der Markenanmeldung auf das Bestehen eines Konkurrenzverhältnisses zwischen der beantragten Gemeinschaftsmarke und vorbestehenden Marken Dritter, vgl. v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 39 GMV, Rn. 1 f. Wegen fehlender Effektivität und geringer Akzeptanz soll das Recherchesystem nunmehr allerdings abgeschafft werden, vgl. Vorschlag der Kommission zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 40/94, KOM (2002) endg. v. 27. 12. 2002. 25 Zur Frage, ob in dieser Fallkonstellation die Abänderung der Entscheidung des Prüfers rechtskonstruktiv möglich ist, vgl. unten § 3 F. I. 3. b). 26 Dazu unten § 3 A. II.
§ 2 Verfahrensstrukturierung des Rechtsschutzregimes nach der GMV
109
III. Widerspruchsverfahren 1. Allgemeines – Maßgebliche rechtliche und tatsächliche Entscheidungsgrundlage Formelhaft läßt sich das Widerspruchsverfahren kennzeichnen als ein der Markeneintragung vorgeschaltetes administratives Einwendungsverfahren, das dem Schutz der Individualinteressen einer bestimmten Kategorie von privaten Dritten dient, nämlich der Inhaber der relevanten vorbestehenden Marken27 bzw. von Lizenzen hieran28. Aus der Perspektive des Verfahrensinitiators besteht das substantielle Verfahrensziel des Widerspruchsverfahrens also darin, eine ihm ungünstige Zustandsveränderung – in Gestalt der ihn belastenden Markeneintragung – zu verhindern. Gleichwohl ist das Widerspruchsverfahren kein Rechtsschutzverfahren im Sinne der hier zugrundegelegten Definition29. Denn es zielt nicht auf den Erlaß einer gesonderten Rechtsschutzentscheidung ab – im Sinne einer vorbeugenden Sanktionierung der Markeneintragung als der belastenden „Ausgangsentscheidung“ – sondern lediglich darauf, den auf deren Erlaß gerichteten Antrag zurückzuweisen. Darin unterscheidet sich der Widerspruch etwa von einer vorbeugenden Unterlassungsklage. Gleichwohl weist das Widerspruchsverfahren als ein „rechts- und interessensichernde[s]“ Verfahren30 einen zumindest rechtsschutzähnlichen Charakter auf. Eine antragsgemäße Entscheidung im Widerspruchsverfahren – d. h. die Zurückweisung der Markenanmeldung – hat nach Art. 45 S. 1 GMV zur Folge, daß die beantragte Gemeinschaftsmarke nicht eingetragen, also als absolutes Privatrecht nicht begründet wird. Wird dagegen der Widerspruch zurückgewiesen, so ist die Marke einzutragen, sobald die Zurückweisungsentscheidung „endgültig“ – d. h. bestandskräftig – geworden ist31. Für die das Widerspruchsverfahren beendende Entscheidung – abstrakt – entscheidungserheblich sind lediglich diejenigen Rechtsnormen, die als „relative Eintragungshindernisse“ an ein Konkurrenzverhältnis zwischen der beantragten Gemeinschaftsmarke und bestimmten vorbestehenden Marken anknüpfen. Bei diesen handelt es sich nach Art. 8 Abs. 2–4 GMV um prioritätsältere Gemeinschaftsmarken sowie um sonstige prioritätsältere Marken, die in mindestens einem Mitgliedstaat aufgrund einer Eintragung oder internationalen Registrierung32 oder als nicht eingetra27
s. hierzu im einzelnen unten 2. Unter einer Lizenz wird hier – im Einklang mit dem üblichen Sprachgebrauch des Immaterialgüterrechts – ein absolutes Privatrecht verstanden, das von einem anderen absoluten Privatrecht in dem Sinne abgeleitet ist, daß dessen Inhaber es einem Dritten rechtsgeschäftlich eingeräumt hat. 29 Vgl. oben 1. Teil, § 2 A. 30 Allgemein hierzu Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, S. 429 ff. (449). 31 Vgl. Art. 45 S. 1 GMV. 28
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
gene Marken geschützt sind33. Nicht entscheidungserheblich sind dagegen sonstige auf die Markeneintragung bezogene Rechtsnormen wie insbesondere die „absoluten Eintragungshindernisse“34. Die das Widerspruchsverfahren beendende Entscheidung berührt nicht lediglich auch sondern ausschließlich die kollidierenden Privatinteressen der Verfahrensbeteiligten, nämlich das Veränderungsinteresse des Markenanmelders und das Bestandsinteresse des privaten Dritten, nicht aber öffentliche Interessen. Hierin liegt ein charakteristischer Unterschied zu anderen Verwaltungsentscheidungen mit Drittwirkung; zu Recht wird die Widerspruchsentscheidung daher mit einem zivilgerichtlichen Urteil verglichen und als Entscheidung über einen „Prätendentenstreit“ bezeichnet35. Dieser Interessenkonstellation entspricht die Ausgestaltung der Bestimmungsnormen hinsichtlich der Auswahl der für die Widerspruchsentscheidung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Entscheidungsgrundlage: – So wird die maßgebliche rechtliche Entscheidungsgrundlage der Widerspruchsentscheidung allein durch diejenigen der vier in Art. 8 Abs. 1 und 5 GMV36 genannten „relativen Eintragungshindernisse“ konstituiert, auf die sich der Widerspruchsführer berufen hat. Diese sind somit Einredenormen; dem Markenanmelder steht demgegenüber nach Art. 43 Abs. 2 GMV die Gegeneinrede der mangelnden ernsthaften Benutzung der vorbestehenden Marke zu.
32 Die internationale Registrierung nach dem Madrider Markenabkommen (MMA) ermöglicht dem Inhaber einer im Ursprungsland eingetragenen Marke, durch eine einzige Registrierung beim internationalen Büro der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) in den vom Antragsteller angegebenen Vertragsstaaten den gleichen Schutz zu erlangen „wie wenn die Marke dort unmittelbar hinterlegt wäre“ (Art. 4 MMA). Durch die internationale Registrierung entsteht somit ein „Bündel nationaler Marken“; vgl. Fezer, Markenrecht, Vorb. MMA, Rn. 1. 33 v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 14, Rn. 3 ff.; zum – für die Registerrechte des geistigen Eigentums zentralen – Begriff der Priorität ebd. S. 122 ff. 34 EuG, Urt. v. 9. 4. 2003, Durferrit/HABM, T-224/01, Slg. S. II-1589, Rn. 72 f. Wird während eines laufenden Widerspruchsverfahrens dem HABM gegenüber – u. U. durch den Widerspruchsführer selbst – behauptet, der Markeneintragung stünden absolute Eintragungshindernisse entgegen, so kann das Widerspruchsverfahren allerdings nach Regel 20 Abs. 6 DV ausgesetzt werden; v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 13, Rn. 124. 35 Jung, FS für U. Everling, S. 611 (620), Hackspiel, Mitteilungen, S. 532 (539); Klüpfel, MarkenR 2000, S. 237 (238); Bender, MarkenR 2004, S. 216 (217). 36 Im einzelnen handelt es sich um folgende Tatbestände: Identität der konkurrierenden Marken und der von diesen erfaßten Waren bzw. Dienstleistungen (Art. 8 Abs. 1 lit. A. GMV), Ähnlichkeit der konkurrierenden Marken und Identität der von diesen erfaßten Waren bzw. Dienstleistungen (Art. 8 Abs. 1 lit. B. GMV), Identität der konkurrierenden Marken und Ähnlichkeit der von diesen erfaßten Waren bzw. Dienstleistungen (Art. 8 Abs. 1 lit. B. GMV), Gefahr der Ausnutzung oder Beeinträchtigung der Unterscheidungkraft oder der Wertschätzung der vorbestehenden Marke durch die Benutzung der beantragten Marke (Art. 8 Abs. 5 GMV).
§ 2 Verfahrensstrukturierung des Rechtsschutzregimes nach der GMV
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– Entsprechend wird die maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage der Widerspruchsentscheidung durch die von den Verfahrensbeteiligten vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel konstituiert. Zwar wird in der französischen Fassung von Art 74 Abs. 1, letzter Hs. GMV nicht ausdrücklich auf die Einführung von Tatsachen und Beweismitteln durch die Beteiligten Bezug genommen37. Dennoch ist dieser Bestimmung zu entnehmen, daß im Widerspruchsverfahren der Beibringungsgrundsatz gilt. Diese Auslegung wird insbesondere durch die englische38, die deutsche39 und die italienische40 Sprachfassung gestützt41. Wie die Einredelast, so obliegt auch die Behauptungs- und Beweisführungslast dem Beteiligten, zu dessen Gunsten die Berücksichtigung der betreffenden Tatsache wirkt. Eine im Rahmen des Widerspruchsverfahrens erhebliche und daher von den Parteien vorzutragende und ggf. zu beweisende (Rechts-)Tatsache ist insbesondere die Existenz der vorbestehenden Marke42. Zur Geltung des Beibringungsgrundsatzes ist allerdings eine Klarstellung vorzunehmen und eine Ausnahme zu vermelden. Die Klarstellung betrifft Erfahrungssätze; diese stellen keine Tatsachen dar und unterfallen damit von vornherein nicht dem Beibringungsgrundsatz43. Die Ausnahme betrifft offenkundige Tatsachen, also Tatsachen, die entweder jederzeit wahrgenommen werden können oder von denen jederzeit aus allgemein zugänglichen Quellen Kenntnis erlangt werden kann44. Nach der Rechtsprechung kann eine Entscheidung auf offenkundige Tatsachen auch dann gestützt werden, wenn diese nicht von einem Beteiligten in das Verfahren eingeführt worden sind. Das EuG hat diese Aussage damit begründet, daß der Zweck des Beibringungsgrundsatzes, nämlich die Entlastung der Entscheidungsinstanz von der Ermittlung von Tatsachen, deren Verwertung allein im Interesse eines Verfahrensbeteiligten liegt, durch eine amtswegige Berücksichtigung offenkundiger Tatsachen nicht beeinträchtigt werde45. Außerdem zeigt der Rechtsvergleich, daß die zivilprozessualen Regelungen verschiede37 „[. . . D]ans une procédure concernant des motifs relatifs de refus d’enregistrement, l’examen est limité aux moyens invoqués et aux demandes présentées par les parties.“ 38 Diese bezieht sich auf „the facts, evidence and arguments provided by the parties“. 39 Diese spricht vom „Vorbringen [. . .] der Beteiligten“. 40 Diese enthält die Formulierung „fatti, prove ed argomenti addotti [. . .] dalle parti“. 41 EuG, Urt v. 13. 6. 2003, Chef Revival USA/HABM, T-232/00, Slg. S. II-2749, Rn. 45; Urt. v. 2003, Henkel/HABM, T-308/01, Slg. S. II-3253, Rn. 32. 42 Vgl. EuG, Urt. v. 13.6. 2002, Chef Revival/HABM (Chef), T-232/00, Slg. S. II2749, Rn. 47–49. 43 StJ, ZPO, vor § 128, Rn. 107; a. A. Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 24, Rn. 5. 44 Vgl. zum deutschen Zivilprozeßrecht die Definition bei Zöller/Greger, ZPO, § 291, Rn. 1.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
ner Mitgliedstaaten in bezug auf offenkundige Tatsachen eine Ausnahme von der Behauptungslast kennen. Insgesamt unterscheidet sich das Widerspruchsverfahren damit wesentlich von dem im deutschen Verwaltungsrecht geläufigen Modell der amtswegigen Ermittlung und Berücksichtigung von Belangen Dritter im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens, das unter fakultativer oder obligatorischer Beteiligung des Dritten auf den Erlaß eines begünstigenden Verwaltungsakts mit Drittwirkung abzielt46. 2. Ausgestaltung des Widerspruchsverfahrens und Grundzüge des Rechtsschutzes gegen die verfahrensbeendende Entscheidung Der dem Widerspruchsverfahren zugrunde liegenden Interessenkonstellation entsprechend wird es durch den Antrag – „Widerspruch“ des privaten Dritten initiiert. Initiativberechtigt – antragsbefugt – sind nach Art. 42 Abs. 1 GMV die Inhaber einer vorbestehenden Marke bzw. einer Lizenz hieran, sofern sie von dem Markeninhaber hierzu ermächtigt worden sind. Die Existenz des geltend gemachten vorbestehenden absoluten Privatrechts und seine Zuordnung zum Widerspruchsführer ist nach der hier zugrundegelegten Definition47 eine Voraussetzung der Zulässigkeit und nicht der Begründetheit des Widerspruchs48. Ausdrücklich normiert Regel 15 Abs. 2 lit. b) und c) DV zwar lediglich eine Zulässigkeitsvoraussetzung in Gestalt der Behauptung, daß eine ältere Marke existiert und dem Widerspruchsführer als Rechtsinhaber oder Ausübungsberechtigten zugeordnet ist. Dies ist jedoch in dem Sinne zu verstehen, daß hier lediglich die formellen Anforderungen an den Inhalt der Antragsschrift geregelt werden, nicht aber die materiellen, auf die Person des Antragstellers bezogenen, Zulässigkeitsvoraussetzungen. Faktisch wird einem Dritten die Initiierung eines Widerspruchsverfahrens dadurch ermöglicht, daß die Markenanmeldung im Gemeinschaftsmarkenblatt veröffentlicht wird. Dieser Veröffentlichung kommt somit die Funktion eines Aufgebots im Hinblick auf das Widerspruchsverfahren zu49. In einer stärker formalisierten Weise übernimmt die GMV somit die Figur des „Interessenbe-
45 EuG, Urt. v. 22. 6. 2004, Ruiz-Picasso/HABM, T-185/02, Slg. S. II-1739, Rn. 29 ff. 46 Vgl. § 13 Abs. 2 VwVfG, § 41 Abs. 2 Nr. 4 GWB. 47 Vgl. oben A. 5. 48 So auch Bender, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 42 GMV, Rn. 6. 49 Ingerl, Die Gemeinschaftsmarke, S. 131; vgl. zum deutschen Recht vor dem Inkrafttreten des Markengesetzes am 1.1.1995 Busse/Starck, Warenzeichengesetz, § 4, Rn. 2.
§ 2 Verfahrensstrukturierung des Rechtsschutzregimes nach der GMV
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kundungsverfahrens“50, das auch in andere Bereiche des EG-Eigenverwaltungsrechts Eingang gefunden hat, die durch mehrpolige Interessenstrukuren mit z. T. der Verwaltung unbekannten Beteiligten gekennzeichnet sind51. Wie bereits ausgeführt, bildet das Widerspruchsverfahren als Einwendungsverfahren ein selbständiges Teilverfahren innerhalb des gestuften Eintragungsverfahrens, das durch eine eigenständige Sachentscheidung beendet wird. Daher handelt es sich bei dem Widerspruch nicht lediglich um einen Antrag auf Beteiligung am Verwaltungsverfahren, wie er im deutschen Recht etwa in § 13 VwVfG oder § 41 Abs. 2 Nr. 4 GWB vorgesehen ist, sondern um einen Sachantrag, der der Substanz nach auf die Zurückweisung der Markenanmeldung gerichtet ist. Dem zumindest rechtsschutzähnlichen Charakter des Widerspruchsverfahrens entspricht die Geltung der Dispositionsmaxime: Der Inhalt der verfahrensbeendenden Entscheidung muß also mit demjenigen des Widerspruchs übereinstimmen oder zumindest darin enthalten sein52. Der Widerspruch determiniert damit insbesondere auch den Umfang der vom HABM vorzunehmenden Prüfung des Konkurrenzverhältnisses zwischen der vorbestehenden Marke und der beantragten Gemeinschaftsmarke; so kann er sich z. B. gegen deren Eintragung nur für bestimmte der in der Markenanmeldung genannten Waren oder Dienstleistungen richten53. Der Widerspruchsführer ist somit in ähnlicher Weise wie der Kläger im Zivilprozeß Herr des Verfahrens: Die Rücknahme des Widerspruchs beendet das Widerspruchsverfahren54; umgekehrt führt die Rücknahme der Markenanmeldung zu einem Zustand, in dem das substantielle Verfahrensziel des Dritten erreicht ist und damit zur Erledigung des Widerspruchsverfahrens55. Dieser Sachherrschaft der Verfahrensbeteiligten entspricht die kontradiktorische Ausgestaltung des Widerspruchsverfahrens nach Art. 73 GMV sowie Regel 20 Abs. 2 und 4 DV. 50 Hierzu allgemein Schmidt-Aßmann, in: Müller-Graff (Hg.), Perspektiven des Rechts in der europäischen Union, S. 131 ff. (156). 51 Ein weiteres Beispiel ist etwa die Bekanntmachung über die Einleitung des Verfahrens nach Art. 5 Abs. 10 der Verordnung (EG) Nr. 384/96 des Rates vom 22. Dezember 1995 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. 1996, L 56, S. 1 ff.). 52 Vgl. allgemein zur Dispositionsmaxime oben 1. Teil, § 2 A. (bei Fn. 54). 53 Zur Rechtswidrigkeit einer über den Widerspruch hinausgehenden Entscheidung der – anstelle der Widerspruchsabteilung entscheidenden – Beschwerdekammer, EuG, Urt. v. 14. 10. 2003, Phillips-Van Heusen/HABM, T-292/01, Slg. S. II-4335, Rn. 24. 54 Zur Möglichkeit der Rücknahme des Widerspruchs EuG, Beschl. v. 3. 7. 2003, Lichtwer Pharma/HABM, T-10/01, Slg. S. II-2225, Rn. 10. Die Rücknahme des Widerspruchs während eines Verfahrens, das die Entscheidung der Widerspruchsabteilung direkt oder indirekt zum Gegenstand hat – wie das Beschwerdeverfahren oder das Klageverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten – führt insofern zum Wegfall einer Verfahrensvoraussetzung. 55 EuG, Urt. v. 28. 4. 2004, Sunrider/HABM, T-124/02 u. T-156/02, Slg. S. II-1149, Rn. 37.
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Da es im Widerspruchsverfahren ausschließlich um die Entscheidung über kollidierende Privatinteressen geht, ist neben dem Verfahrensinitiator auch der Markenanmelder Verfahrensbeteiligter kraft Gesetzes. Im Anschluß an einen auch in der Rechtsprechung56 und Literatur57 häufig anzutreffenden Sprachgebrauch soll das Widerspruchsverfahren daher im folgenden als inter partes Verfahren bezeichnet werden. Die Unterscheidung zwischen inter partes Verfahren und ex parte Verfahren knüpft an die Zahl der an dem jeweiligen Verfahren notwendigerweise Beteiligten an. Ex parte Verfahren in diesem Sinne sind das Prüfungsverfahren sowie das Beschwerdeverfahren, soweit es die das Prüfungsverfahren abschließende Entscheidung zum Gegenstand hat. Dem Charakter des Widerspruchsverfahrens als eines kontradiktorischen „Parteiverfahrens“ entsprechen auch die Rechtsbehelfe gegen die das Widerspruchsverfahren beendende Entscheidung. Auch hier ist das Fehlen eines unmittelbar auf die Vornahme oder Unterlassung eines Hoheitsakts – also z. B. auf das Unterlassen der Markeneintragung – gerichteten Rechtsbehelfs von Bedeutung. Rechtsschutzgegenstand ist daher die verfahrensbeendende Entscheidung, also die Zurückweisung der Markenanmeldung oder des Widerspruchs. Gegen sie ist ohne eine Abhilfemöglichkeit der erstinstanzlichen Stelle58 die Beschwerde gegeben. Der jeweils andere – „obsiegende“ – Beteiligte des Widerspruchsverfahrens ist nach Art. 58 S. 2 GMV kraft Gesetzes am Beschwerdeverfahren beteiligt, das somit ebenfalls ein inter partes Verfahren darstellt. Gegen die Zurückweisung der Beschwerde durch die Beschwerdekammer kann wiederum nach Art. 63 Abs. 1 GMV Klage vor dem Gericht erster Instanz erhoben werden. Das gerichtliche Verfahren dient somit – je nach der konkreten Konstellation – dem Schutz der Individualinteressen entweder des Dritten59 oder des Markenanmelders60. Dabei kann es zu einer Umkehr der Situation im Vergleich zum Beschwerdeverfahren kommen. Wiederum ist der jeweils andere – „obsiegende“ – Beteiligte des Beschwerdeverfahrens am Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten beteiligt (Art. 133 f. VerfO-EuG). Im Hinblick auf das substantielle Verfahrensziel des Dritten – die Verhinderung einer rechtsbeeinträchtigenden Markeneintragung – hat das gerichtliche Rechtsschutzverfahren somit einen vorbeugenden Charakter.
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Z. B. EuG, Urt. v. 30. 6. 2004, GE Betz/HABM, T-107/02, Slg. S. II-1845, Rn. 72. Etwa bei Jung, in: Plender (Hg.), European Courts, Rn. 38-07. 58 Art. 60 Abs. 1 S. 2 GMV. 59 Wenn die Beschwerdekammer den Widerspruch bzw. eine gegen die Zurückweisung des Widerspruchs gerichtete Beschwerde zurückgewiesen hat. 60 Wenn die Beschwerdekammer die Markenanmeldung bzw. eine gegen die Zurückweisung der Markenanmeldung gerichtete Beschwerde zurückgewiesen hat. 57
§ 2 Verfahrensstrukturierung des Rechtsschutzregimes nach der GMV
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IV. Exkurs: Objektiv-rechtliche Beanstandungen durch Dritte und Wiederaufgreifen des Prüfungsverfahrens Nach Art. 41 S. 1 GMV können natürliche oder juristische Personen sowie jeder Interessenverband von Herstellern, Erzeugern, Dienstleistungsunternehmen und Verbrauchern nach der Veröffentlichung der Markenanmeldung schriftlich „Bemerkungen“ beim HABM einreichen, die von Amts wegen zu berücksichtigende – absolute – Eintragungshindernisse betreffen. Diese Bestimmung ist im Zusammenhang mit Art. 40 Abs. 2 GMV zu lesen, der die Möglichkeit voraussetzt, die Markenanmeldung nach ihrer Veröffentlichung zurückzuweisen, also das Prüfungsverfahren nachträglich wieder aufzugreifen61. Diese Dritten erlangen jedoch, wie Art. 41 S. 2 GMV klarstellt, nicht die Stellung von Beteiligten an dem Verwaltungsverfahren vor dem HABM62. Da die Beschwerde- bzw. Klagebefugnis unmittelbar bzw. mittelbar an die Beteiligtenstellung im Verfahren vor der jeweiligen erstinstanzlichen Stelle anknüpft, besteht somit kein „Popularrechtsbehelf“ im Vorfeld der Markeneintragung63. Allerdings geht die Verwaltungspraxis des HABM mittlerweile dahin, denjenigen, der Bemerkungen eingereicht hat, darüber zu unterrichten, ob das Prüfungsverfahren wieder aufgegriffen wird sowie ggf. über dessen Ausgang64. Wird das Prüfungsverfahren wieder aufgenommen und in diesem Rahmen die Markenanmeldung zurückgewiesen, so stellt dies der Sache nach die Rücknahme einer rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsentscheidung dar. Denn wenn auch im Falle des „positiven“ Abschlusses des Prüfungsverfahrens keine ausdrückliche Entscheidung ergeht65, so liegt doch der Veröffentlichung einer Markenanmeldung eine implizite Entscheidung über das Fehlen absoluter Eintragungshindernisse zugrunde. Die Rücknahme dieser begünstigenden „QuasiEntscheidung“ wirkt allerdings lediglich ex nunc. Denn nach Art. 9 Abs. 3 S. 1 GMV kann das Recht aus der Gemeinschaftsmarke Dritten erst nach der Eintragung entgegengehalten werden. Zwar entfaltet bereits die Veröffentlichung der Markenanmeldung gewisse privatrechtliche Rechtswirkungen66. Jedoch sind diese nur vorläufiger Art, da eine zivilgerichtliche Hauptsacheentscheidung bis 61 Die Vorschrift lautet: „Wird die Anmeldung nach ihrer Veröffentlichung gemäß den Artikeln 37 und 38 zurückgewiesen, so wird die Entscheidung über die Zurückweisung veröffentlicht, sobald sie unanfechtbar geworden ist.“ 62 EuG, Urt. v. 9. 4. 2003, Durferrit/HABM, T-224/01, Slg. S. II-1589, Rn. 74. 63 Zur Situation im Anschluß an die Markeneintragung siehe jedoch unten II. 3. 64 Vgl. Mitteilung Nr. 3/02 des Präsidenten des HABM vom 5.3.2002, Abl. HABM S. 1372. 65 Vgl. oben II. 2. 66 Nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GMV „kann eine angemessene Entschädigung für Handlungen verlangt werden, die nach der Veröffentlichung der Anmeldung einer Gemeinschaftsmarke vorgenommen werden und die nach Veröffentlichung der Eintragung aufgrund der Gemeinschaftsmarke verboten wären“.
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zur Markeneintragung ausgeschlossen ist (Art. 9 Abs. 3 S. 3 GMV). Art. 41 GMV ist damit – soweit ersichtlich – die einzige Vorschrift des Sekundärrechts, die eine derartige Rücknahme ausdrücklich zuläßt67. Im übrigen ist nach der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte auch ohne eine ausdrückliche sekundärrechtliche Regelung die ex nunc wirkende Rücknahme einer rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsentscheidung zulässig68. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob das Prüfungsverfahren auch ohne das Vorliegen von „Bemerkungen“ Dritter wieder aufgegriffen werden kann, ob also diesen eine verfahrensbestimmende Wirkung als Sachantrag fehlt und sie daher als schlichte „Anregungen“ zu qualifizieren sind. Diese Frage ist noch nicht allein deshalb zu bejahen, weil diese „Bemerkungen“ keine Beteiligtenstellung des Dritten begründen. Vielmehr kommt es auf die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Markenanmelders in den Bestand der impliziten Entscheidung über das Fehlen absoluter Eintragungshindernisse an. Hierfür macht es jedoch keinen Unterschied, ob „Bemerkungen“ Dritter vorliegen oder nicht. Dies spricht dafür, ein Wiederaufgreifen auch ohne das Vorliegen solcher „Bemerkungen“ zuzulassen69 und diese somit als schlichte Anregungen zu qualifizieren. Damit findet der Ausschluß der Beteiligtenstellung insofern eine Parallele im deutschen Verwaltungsverfahrensrecht, als derjenige, der bloße Anregungen oder Hinweise in bezug auf die amtswegige Einleitung eines Verwaltungsverfahrens gibt, dadurch nicht zum „Antragsteller“ i. S. v. § 13 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG wird70.
B. Verfahrensstrukturen und Rechtsbehelfe im Anschluß an die Markeneintragung: Nichtigkeitsverfahren I. Allgemeines – Maßgebliche rechtliche und tatsächliche Entscheidungsgrundlage Durch die Nichtigerklärung einer eingetragenen Gemeinschaftsmarke werden die Rechtswirkungen einer Markeneintragung ex tunc71 beseitigt. Allerdings besteht kein einheitliches Nichtigkeitsverfahren, sondern dieser Begriff bezeichnet 67 Zu sekundärrechtlichen Regelungen hinsichtlich anderer Konstellationen der Aufhebung von Verwaltungsentscheidungen Lübbig, EuZW 2003, S. 233 ff. 68 EuGH, Urt. v. 9. März 1978, Herpels/Kommission, Rs. 54/77, Slg. S. 585, Rn. 38; s. a. Lübbig, EuZW 2003, S. 233 ff. (236). 69 So auch ausdrücklich die Erläuterungen der Kommission in der Begründung ihres Vorschlags für die Gemeinschaftsmarkenverordnung (ABl. 1980 C. 351, S. 1 ff.; die entsprechende Passage – zu Art. 31 in der damaligen Fassung – findet sich auf S. 67). 70 Vgl. Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hg.): Verwaltungsverfahrensgesetz, § 13, Rn. 13. 71 Art. 54 Abs. 2 GMV.
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in Wahrheit als eine Sammelbezeichnung zwei verschiedene Verfahren, nämlich das relative und das absolute Nichtigkeitsverfahren. Beide lassen sich als der Markeneintragung nachgeschaltete administrative Einwendungsverfahren begreifen, die der Sache nach auf den Erlaß einer Sanktionsentscheidung in bezug auf die Markeneintragung abzielen72. 1. Relatives Nichtigkeitsverfahren Für die das „relative“ Nichtigkeitsverfahren beendende Entscheidung sind diejenigen Rechtsnormen – abstrakt – entscheidungserheblich, die als „relative Nichtigkeitsgründe“ an ein Konkurrenzverhältnis zwischen der beantragten Gemeinschaftsmarke und bestimmten vorbestehenden absoluten Privatrechten anknüpfen. Bei diesen Rechten handelt es sich zum einen um die vorbestehenden Marken i. S. v. Art. 8 GMV73, und zum anderen um sonstige vorbestehende absolute Privatrechte74 nach nationalem Recht, aufgrund derer die Benutzung des den Gegenstand der Gemeinschaftsmarke bildenden Zeichens untersagt werden kann. Beispielhaft nennt die GMV bestimmte Persönlichkeitsrechte – Namensrecht, Recht am eigenen Bild – sowie Immaterialgüterrechte wie das Urheberrecht und gewerbliche Schutzrechte. Die Inhaber vorbestehender Marken75 haben somit die Möglichkeit, ihre Rechte entweder ex ante – im Widerspruchsverfahren – oder ex post – im Nichtigkeitsverfahren – geltend zu machen, während den Inhabern bzw. Ausübungsberechtigten sonstiger vorbestehender absoluter Privatrechte nur letztere Möglichkeit offensteht. Dieser unterschiedlichen Behandlung liegt eine Abwägung zwischen den betroffenen Interessen zugrunde. Dabei handelt es sich um das öffentliche Interesse an der Stabilität der durch die Markeneintragung begründeten Rechtslage, das Interesse der privaten Dritten an der Unterlassung – und nicht lediglich der Möglichkeit zur Beseitigung – belastender Markeneintragungen sowie schließlich das Interesse des Markenanmelders einer möglichst raschen Durchführung des Eintragungsverfahrens. Denn die Frage, ob ein Konkurrenzverhältnis zu der Gemeinschaftsmarke tatsächlich besteht, hängt bei einer vorbestehenden Marke – anders als bei einem sonstigen absoluten Privatrecht – nicht von Wertungen einer nationalen Rechtsordnung ab, die für das HABM u. U. schwierig zu ermitteln sind. Überdies läßt sich die Existenz einer Marke als eines – typischerweise – in ein amtliches Register eingetragenen Rechts leichter beweisen als diejenige eines anderen absoluten Privatrechts, da solche Rechte typischerweise nicht in ein amtliches Register eingetragen sind. 72 73 74 75
Zu den hierdurch aufgeworfenen Fragen des Vertrauensschutzes vgl. unten II. Art. 52 Abs. 1 i.V. m. Art. 8 GMV. Art. 52 Abs. 2 GMV. Bzw. von Lizenzen hieran.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Das relative Nichtigkeitsverfahren dient – wie das Widerspruchsverfahren – dem Schutz der Individualinteressen bestimmter privater Dritter, nämlich der Inhaber der relevanten vorbestehenden absoluten Privatrechte76 bzw. von Lizenzen hieran. Wie im Falle des Widerspruchsverfahrens berührt die verfahrensbeendende Entscheidung keine öffentlichen sondern ausschließlich private Interessen der Verfahrensbeteiligten, allein in gleichsam „vertauschter“ Form: Dem Veränderungsinteresse des privaten Dritten steht das Bestandsinteresse des Markeninhabers gegenüber. Wiederum entspricht dieser Interessenkonstellation die Ausgestaltung der Bestimmungsnormen hinsichtlich der Auswahl der für die Nichtigkeitsentscheidung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Entscheidungsgrundlage: – Die maßgebliche rechtliche Entscheidungsgrundlage der Nichtigkeitsentscheidung wird allein durch diejenigen relativen Eintragungshindernisse77 bzw. Nichtigkeitsgründe konstituiert, auf die sich der Antragsteller berufen hat; es handelt sich somit um Einredenormen. – Ebenso wie im Widerspruchsverfahren, wird die maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage der Entscheidung im Nichtigkeitsverfahren durch die von den Verfahrensbeteiligten vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel konstituiert78. Obwohl sich Art 74 Abs. 1, letzter Hs., GMV seinem Wortlaut nach lediglich auf „Verfahren bezüglich relativer Eintragungshindernisse“ bezieht, ist diese Vorschrift ihrem Zweck nach so zu verstehen, daß sie auch die Verfahren bezüglich relativer Nichtigkeitsgründe umfaßt79. Wie im Wiederspruchsverfahren ist auch im relativen Nichtigkeitsverfahren insbesondere die Existenz des vorbestehenden absoluten Privatrechts eine von den Parteien vorzutragende und ggf. zu beweisende (Rechts-)Tatsache. 2. Absolutes Nichtigkeitsverfahren Die für die verfahrensbeendende Entscheidung im absoluten Nichtigkeitsverfahren – abstrakt – entscheidungserheblichen Rechtsnormen sind dagegen diejenigen, die als „absolute Eintragungshindernisse“ bereits der Entscheidung im Prüfungsverfahren zugrunde zu legen waren. Das absolute Nichtigkeitsverfahren dient somit notwendigerweise dem Schutz nicht privater Interessen des Verfahrensinitiators, sondern öffentlicher Interessen80. 76
s. hierzu im einzelnen unten 2. Vgl. oben A. III. 1. 78 Auf die Ausführungen unter II. 3. a) kann daher verwiesen werden. 79 So auch nunmehr ausdrücklich EuG, Urt. v. 25. 5. 2005, TeleTech Holdings/ HABM, T-288/03, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 65. 80 Zur Initiierung des absoluten Nichtigkeitsverfahrens befugt ist zum einen der quivis ex populo und zum anderen jeder Interessenverband von Herstellern, Erzeugern, 77
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Vor diesem Hintergrund ist die Ausgestaltung der Bestimmungsnormen hinsichtlich der Auswahl der für die Nichtigkeitsentscheidung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Entscheidungsgrundlage hybrider Natur: – Ebenso wie im relativen Nichtigkeitsverfahren wird die maßgebliche rechtliche Entscheidungsgrundlage der Nichtigkeitsentscheidung allein durch diejenigen absoluten Eintragungshindernisse81 konstituiert, auf die sich der Antragsteller berufen hat; es handelt sich somit um Einredenormen. – Dagegen gilt für die maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage – wie für das Prüfungsverfahren82 – der Amtsermittlungsgrundsatz nach Art. 74 Abs. 1, erster Hs., GMV. 3. Nichtigkeitsverfahren als Rechtsschutzverfahren? Obwohl die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke eine Sanktionsentscheidung in bezug auf die Markeneintragung darstellt, ist sie keine Rechtsschutzentscheidung im Sinne der hier zugrundegelegten Definition83. Offensichtlich ist dies bei einer Nichtigerklärung im absoluten Nichtigkeitsverfahren. Hier ist die Rechtswidrigkeit der Markeneintragung – in Gestalt des Vorliegens eines absoluten Eintragungshindernisses – zwar eine Rechtmäßigkeitsbedingung für die Sanktionsentscheidung. Diese dient aber nicht notwendigerweise den Individualinteressen des Verfahrensinitiators84; vielmehr ist das absolute Nichtigkeitsverfahren seiner Natur nach ein objektives Beanstandungsverfahren in Gestalt eines „Popularrechtsbehelfs“. Aber auch die Nichtigerklärung im Rahmen des relativen Nichtigkeitsverfahrens ist keine Rechtsschutzentscheidung im strikten Sinne, da das maßgebliche Sanktionskriterium hier nicht in der Rechtswidrigkeit der Markeneintragung liegt85. Allerdings bedeutet das Bestehen eines Konkurrenzverhältnisses zwischen der Gemeinschaftsmarke und einem vorbestehenden absoluten Privatrecht eines Dritten, daß die Markeneintragung bei materieller Betrachtung als ungerechtfertigter Eingriff in das Eigentumsgrundrecht des Dritten anzusehen ist. Dies gilt auch dann, wenn dessen vorbestehendes absolutes Privatrecht nicht in einer Marke, sondern in einem sonstigen Dienstleistungsunternehmen und Verbrauchern (vgl. unten II.). Auch im letzteren Fall dient das absolute Nichtigkeitsverfahren aber nicht notwendigerweise dem Schutz aggregierter privater Interessen des Verfahrensinitiators. Denn die genannten Interessenverbände sind nicht darauf beschränkt, ein absolutes Eintragungshindernis geltend zu machen, das ihr eigenes – aggregiertes – Interesse artikuliert. 81 Vgl. oben A. III. 1. 82 Vgl. oben A. II. 1. 83 Vgl. oben 1. Teil, § 2 A. 84 Vgl. oben 1. Teil, § 2 A. 85 Denn nach Art. 45 GMV ist die Markeneintragung bereits dann rechtmäßig, wenn innerhalb der Frist kein Widerspruch erhoben oder ein Widerspruch rechtskräftig zurückgewiesen wurde.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Recht besteht, da die Prüfung des Konkurrenzverhältnisses lediglich aus Praktikabilitätsgründen in das der Markeneintragung „nachgeschaltete“ Nichtigkeitsverfahren verlagert ist. Daher weist das relative Nichtigkeitsverfahren – ähnlich wie das Widerspruchsverfahren – einen zumindest rechtsschutzähnlichen Charakter auf. II. Ausgestaltung des Nichtigkeitsverfahrens und Grundzüge des Rechtsschutzes gegen die verfahrensbeendende Entscheidung Relatives und absolutes Nichtigkeitsverfahren sind im wesentlichen in gleicher Weise ausgestaltet wie das Widerspruchsverfahren; insbesondere gilt hier ebenfalls die Dispositionsmaxime. In beiden Fällen determiniert der Antrag auf Nichtigerklärung insbesondere auch den Umfang der vom HABM vorzunehmenden Prüfung; so kann er sich z. B. auf die Eintragung der Gemeinschaftsmarke für bestimmte der in der Markenanmeldung genannten Waren oder Dienstleitungen beschränken. Im Falle des relativen Nichtigkeitsverfahrens sind die Inhaber des vorbestehenden absoluten Privatrechts bzw. einer Lizenz hieran antragsbefugt86. Eine weitere, für das relative Nichtigkeitsverfahren spezifische – negative – Zulässigkeitsvoraussetzung des Antrags auf Nichtigerklärung besteht allerdings in Gestalt des sog. „Kumulierungsgebots“ nach Art. 52 Abs. 4 GMV87. Im Interesse der Verfahrenskonzentration ist danach ein wiederholter Antrag auf Nichtigerklärung derselben Gemeinschaftsmarke unzulässig. Der Sache nach wirkt diese Zulässigkeitsvoraussetzung somit ähnlich wie das aus der materiellen Rechtskraft folgende „Verbot“ der Wiederholung eines Prozesses mit gleichem Streitgegenstand zwischen den gleichen Parteien88. Praktisch bedeutet dies, daß der Antrag auf Nichtigerklärung im Sinn einer „Eventualmaxime“ auf sämtliche vorbestehenden absoluten Privatrechte desselben Rechtsinhabers gestützt werden muß, in bezug auf die ein Konkurrenzverhältnis mit der eingetragenen Gemeinschaftsmarke geltend gemacht werden soll. Antragsbefugt im Falle des absoluten Nichtigkeitsverfahrens ist nach Art. 55 Abs. 1 lit. a i.V. m. Art. 51 GMV zum einen der quivis ex populo – „jede natürliche oder juristische Person“ – und zum anderen jeder Interessenverband 86 Handelt es sich bei dem vorbestehenden absoluten Privatrecht um eine Marke, so sind Inhaber einer Lizenz hieran nur dann zur Initiierung eines Nichtigkeitsverfahrens befugt, wenn sie von dem Markeninhaber hierzu ermächtigt sind (Art. 55 Abs. 1 lit. C. i.V. m. Art. 42 Abs. 1 GMV). 87 v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 19, Rn. 66 f.; Just, Die Gemeinschaftsmarke im System des internationalen Markenschutzes, S. 68 f. 88 Hierzu allgemein für das Gemeinschaftsprozeßrecht Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 133; Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 27, Rn. 21.
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von Herstellern, Erzeugern, Dienstleistungsunternehmen und Verbrauchern. Das letztere Element hat allerdings eigenständige Bedeutung nur in bezug auf solche Verbände, die nicht bereits nach der für sie maßgeblichen innerstaatlichen Rechtsordnung als juristische Personen zu qualifizieren sind. Neben dem Verfahrensinitiator ist auch der Inhaber der betreffenden Gemeinschaftsmarke Beteiligter des Nichtigkeitsverfahrens, das somit ebenfalls ein inter partes Verfahren darstellt. Das – wie das Widerspruchsverfahren kontradiktorisch ausgestaltete89 – Nichtigkeitsverfahren wird entweder durch die Nichtigerklärung der Marke oder durch die Zurückweisung des Antrags auf Nichtigerklärung90 beendet. Dabei liegt es im Interesse der Rechtssicherheit, daß Wirksamkeit und Bestandskraft der Nichtigerklärung der Marke – als actus contrarius der Markeneintragung – zusammenfallen. Denn der quasi-normativen Breitenwirkung der Markeneintragung korrespondiert eine besondere Form der Publizität in Gestalt der Registereintragung. Daher muß vermieden werden, daß sich die durch die Registereintragung zugleich begründete und verlautbarte Rechtslage im Verlauf der ggf. mehreren sukzessiv gestaffelten Rechtsschutzverfahren ändert91. Art. 56 Abs. 6 GMV bestimmt ausdrücklich zwar lediglich, daß die Nichtigerklärung der Marke in das Gemeinschaftsmarkenregister eingetragen wird, wenn sie bestandskräftig ist. Aufgrund des Prinzips der Registerpublizität ist jedoch zusätzlich ein – ungeschriebener – Rechtssatz des Inhalts anzunehmen, daß sie auch erst mit der Registereintragung wirksam wird. Mit der Wirksamkeit der Nichtigerklärung der Marke erlischt die Marke als subjektives Privatrecht. Auch für die Rechtsbehelfe gegen die das Nichtigkeitsverfahren beendende Entscheidung gilt mutatis mutandis das zum Widerspruchsverfahren Gesagte92. III. Exkurs: Nichtigerklärung der Gemeinschaftsmarke und Vertrauensschutz Die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke beseitigt die Regelungswirkungen der Markeneintragung als einer begünstigenden Verwaltungsentscheidung ex tunc (vgl. Art. 54 Abs. 2 GMV). Damit stellt sich die Frage, wie das Nichtigkeitsverfahren im Hinblick auf den allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes93 und die diesen konkretisierenden richterrechtlichen Regeln über die administrative Aufhebung von Verwal89
Vgl. Regel 40 DV. Nach Art. 56 Abs. 5 GMV. 91 So würde eine bereits für nichtig erklärte Gemeinschaftsmarke wieder aufleben, wenn die Nichtigerklärung im Rahmen eines Rechtsschutzverfahrens ihrerseits aufgehoben wird. 92 Vgl. oben A. III. 2. 90
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
tungsentscheidungen im EG-Eigenverwaltungsrecht zu beurteilen ist. Hierzu ist jedoch vorab zu bemerken, daß diese Regeln lediglich subsidiär – in Ermangelung ausdrücklicher Regelungen des Sekundärrechts – eingreifen, nicht aber darüber hinaus bindende primärrechtliche Vorgaben für den Erlaß derartiger Regelungen darstellen94. Dementsprechend sehen einige Vorschriften des Sekundärrechts beispielsweise den nach den allgemeinen richterrechtlichen Regeln rechtswidrigen95 ex tunc Widerruf einer rechtmäßigen begünstigenden – „rechtsbegründenden“ – Verwaltungsentscheidung ausdrücklich vor96. Indes liegt jedenfalls im absoluten Nichtigkeitsverfahren in der Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke die Rücknahme einer rechtswidrigen Verwaltungsentscheidung97. Aber auch die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke im relativen Nichtigkeitsverfahren läßt sich bei materieller Betrachtung in diesem Sinne begreifen98. Nach den allgemeinen Vertrauensschutzregeln ist die ex tunc wirkende Rücknahme einer rechtswidrigen Entscheidung rechtmäßig, sofern erstens das öffentliche Interesse – bzw. das Interesse eines durch die Entscheidung belasteten privaten Dritten – an der Herstellung rechtmäßiger Zustände das berechtigte Vertrauen des Adressaten der Entscheidung in deren Rechtmäßigkeit überwiegt und zweitens die Rücknahme innerhalb angemessener Frist ab Bekanntgabe der Entscheidung erfolgt99. Für das relative Nichtigkeitsverfahren entsprechen die Regelungen der GMV im Ergebnis diesen richterrechtlich entwickelten allgemeinen Vertrauensschutz93 Zum Vertrauensschutz als allgemeinem Grundsatz des Gemeinschaftsrechts Mengozzi, Revue du Marché Unique Européen 1997, S. 13 ff.; aus der Rechtsprechung siehe nur EuGH, Urt. v. 3. 5. 1978, Töpfer/Kommission, Rs. 112/77, Slg. S. 1019, Rn. 19, sowie jüngst EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, Dansk Rørindustri A/S u. a./Kommission, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P à C-208/02 P et C-213/02 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 171 ff. 94 In diesem Sinne Lübbig, EuZW 2003, S. 233 ff. 95 EuGH, Urt. v. 22. 3. 1961, SNUPAT, Rs. 42 und 49/59, Slg. S. 101; Urt. v. 22. 9. 1983, Verli-Wallace/Kommission, Rs. 159/82, Slg. S. 2711, Rn. 8; EuG, Urt. v. 5. 12. 2000, Gooch/Kommission, T-197/99, Slg. ÖD, S. II-1247; Urt. v. 20. 11. 2002, Lagardère/Kommission, T-251/00, Slg. S. II-4825, Rn. 139. Siehe zum Ganzen auch Lübbig, EuZW 2003, S. 233 ff. 96 Weitere Beispiele sind Art. 8 Abs. 5 der VO (EWG) Nr. 4064/89 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen vom 21. 12. 1989 (Abl. 1990 L 257, S. 1) sowie – bis zum 1. 5. 2004 – Art. 8 Abs. 3 der VO Nr. 17 – Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages – vom 6. 2. 1962 (Abl. 1962 Nr. 13 S. 204). 97 Vgl. oben I. 3. 98 Vgl. oben I. 3. (nach Fn. 85). 99 EuGH, Urt. v. 22. 3. 1961, SNUPAT/Hohe Behörde, verb. Rs. 42/59 und 49/59, Slg. S. 99 (S. 107: Leits. 10b); Urt. v. 3. 3. 1982, Alpha Steel/Kommission, Rs. 14/81, Slg. S. 749, Rn. 10; Urt. v. 26. 2. 1987, Consorzio Cooperative d’Abruzzo/Kommission, Rs. 15/85, Slg. S. 1005, Rn. 12; EuG, Urt. v. 27. 11. 1997, Pascall/Kommission, T-20/96, Slg. ÖD S. II-977, Rn. 72 ff.; Urt. v. 20. 11. 2002, Lagardère/Kommission, T251/00, Slg. S. II-4825, Rn. 139.
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regeln. Was die Interessenabwägung betrifft, so kann jedenfalls im Regelfall angenommen werden, daß das Interesse des Inhabers eines mit der Gemeinschaftsmarke konkurrierenden vorbestehenden absoluten Privatrechts an der Nichtigerklärung dieser Marke dasjenige des Markeninhabers an deren Fortbestand überwiegt, da die Markeneintragung einen weitreichenden Eingriff in das Recht des Dritten darstellt100. Was das Erfordernis einer angemessenen Frist angeht, so ist die Nichtigerklärung zwar nicht auf eine bestimmte Frist ab der Markeneintragung beschränkt. Jedoch schließt Art. 53 GMV die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke aus, wenn der Inhaber einer vorbestehenden Marke – nicht allerdings der Inhaber eines sonstigen vorbestehenden absoluten Privatrechts101 – deren Benutzung fünf Jahre lang geduldet hat102. Geht man weiterhin davon aus, daß der Inhaber einer Gemeinschaftsmarke nicht bereits mit deren Eintragung eine materiell schutzwürdige Rechtsposition erlangt sondern erst dann, wenn er die Benutzung der Marke aufnimmt103, so ist die Möglichkeit einer Nichtigerklärung auch in zeitlicher Hinsicht noch ausreichend eingegrenzt. Anders steht es in bezug auf das absolute Nichtigkeitsverfahren. Im Rahmen der Interessenabwägung fällt hier zwar entscheidend ins Gewicht, daß die Gemeinschaftsmarke selbst als ein absolutes Privatrecht eine erhebliche, quasi-normative Breitenwirkung entfaltet, da sie die rechtliche Grundlage für direkte hoheitliche – zivilgerichtliche – Rechtseingriffe gegenüber einer unbestimmten Vielzahl privater Dritter bildet. Daher besteht ein erhebliches öffentliches Interesse an der Nichtigerklärung einer rechtswidrig eingetragenen Marke. Allerdings ist die Nichtigerklärung nicht auf eine bestimmte Frist ab der Markeneintragung beschränkt, ohne daß hier – anders als im relativen Nichtigkeitsverfahren – ein funktionales Äquivalent hierzu bestünde. Aufgrund des lediglich subsidiären Charakters der richterrechtlich entwickelten allgemeinen Vertrauensschutzregeln ist dies jedoch im Ergebnis unschädlich; das dargestellte öffentliche Interesse an der Nichtigerklärung einer rechtswidrig eingetragenen Marke 100
Vgl. oben 1. Teil, § 3 C. I. Für diese bewendet es daher bei den nach dem maßgeblichen nationalen Recht anwendbaren Schranken der Rechtsdurchsetzung, zu denen auch die Verwirkung gehören kann, vgl. v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 19, Rn. 72. 102 Rechtskonstruktiv stellt diese in der amtlichen Überschrift als „Verwirkung“ bezeichnete zeitliche Grenze keine Zulässigkeitsvoraussetzung des Antrags auf Nichtigerklärung dar, sondern gehört zur Sachprüfung eines derartigen Antrags. Weiterhin wird man davon ausgehen dürfen, daß Art. 53 GMV zu den „Einredenormen“ gehört, also nur dann zu berücksichtigen ist, wenn sich der Inhaber der jüngeren Gemeinschaftsmarke darauf beruft. 103 Daß das Gemeinschaftsmarkenrecht von dieser Vorstellung ausgeht, wird insbesondere daran deutlich, daß eine mit einer beantragten Gemeinschaftsmarke konkurrierende vorbestehende Marke nur dann ein „relatives Eintragungshindernis“ darstellt, wenn sie innerhalb der letzten 5 Jahre vor Veröffentlichung der Markenanmeldung „ernsthaft benutzt“ worden ist, vgl. Art. 43 Abs. 2 und 3 GMV. 101
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
mag unter dem stets maßgeblich bleibenden Aspekt der Verhältnismäßigkeit auch als Rechtfertigung der fehlenden zeitlichen Begrenzung dienen.
C. Prozeduralisierung des multipolaren Rechtsschutzes im Gemeinschaftsmarkenrecht Wie bereits ausgeführt, steht das auf die Eintragung der beantragten Gemeinschaftsmarke gerichtete Veränderungsinteresse des Markenanmelders – bzw. das auf den Erhalt der bereits eingetragenen Marke gerichtete Interesse des Markeninhabers – dem Bestandsinteresse eines privaten Dritten gegenüber, das umgekehrt auf das Unterlassen der Eintragung der Gemeinschaftsmarke – bzw. auf die Beseitigung einer bereits erfolgten Eintragung – gerichtet ist104. Das Rechtsschutzregime der GMV mediatisiert bzw. prozeduralisiert allerdings den Rechtsschutz privater Dritter in bezug auf die Markeneintragung dadurch, daß Rechtsschutzgegenstand allein diejenige Entscheidung ist, durch die entweder das Widerspruchsverfahren oder das Nichtigkeitsverfahren als ein vor- bzw. nachgeschaltetes administratives Einwendungsverfahren beendet wird. Dagegen kann die Markeneintragung selbst nicht unmittelbar den Gegenstand eines devolutiven Rechtsschutzverfahrens bilden. Der sachliche Grund hierfür liegt wiederum in Erwägungen der Rechtssicherheit, die gebieten, daß Wirksamkeit und Bestandskraft der Markeneintragung – bzw. der Nichtigerklärung der Marke als deren actus contrarius – zusammenfallen 105. Materiellrechtlich korrespondiert diesem Befund die Tatsache, daß das Fehlen eines Konkurrenzverhältnisses zu einem vorbestehenden absoluten Privatrecht nicht zu den Rechtmäßigkeitsbedingungen der Markeneintragung zählt; vielmehr ist diese bereits dann rechtmäßig, wenn innerhalb der Frist kein Widerspruch erhoben oder ein Widerspruch rechtskräftig zurückgewiesen wurde106.
§ 3 Speziell: Devolutive Rechtsschutzverfahren Rechtsschutz in einem umfassenden Sinne gewährleisten nur devolutive Rechtsschutzverfahren, also solche, bei denen Rechtsschutz- und Ausgangsinstanz weder identisch sind noch in einer gemeinsamen Weisungsabhängigkeit zu einer dritten Instanz stehen107. Im Rahmen des Rechtsschutzregimes der GMV weisen die Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV und die Klage nach Art. 63 GMV einen devolutiven Charakter auf. Im folgenden sollen daher die einzelnen 104 105 106 107
Vgl. oben 1. Teil, § 3 C. Vgl. oben B. II. (nach Fn. 90). Art. 45 GMV, vgl. oben A. I. Vgl. oben 1. Teil, § 2 B. I. 1. b).
§ 3 Speziell: Devolutive Rechtsschutzverfahren
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Strukturelemente des Rechtsschutzregimes108 für diese beiden Verfahren erörtert werden.
A. Rechtsschutzinstanz I. Beschwerdekammern des HABM Die Beschwerdekammern bestehen nach Art. 130 Abs. 2 GMV aus drei Mitgliedern, von denen mindestens zwei rechtskundig sein müssen. Die Mitglieder werden – seit einer 2004 in Kraft getretenen Änderung der GMV – durch den Verwaltungsrat des HABM für eine fünfjährige erneuerbare Amtszeit ernannt (Art. 131 Abs. 2 GMV)109. Sie können ihres Amtes nur durch eine auf Antrag des Rates ergehende Entscheidung des Gerichtshofs enthoben werden (Art. 131 Abs. 3 GMV). Nach Art. 131 Abs. 5 GMV können die Mitglieder der Beschwerdekammern nicht anderen Entscheidungsinstanzen des HABM angehören; man wird diese Inkompatibilitätsregelung ihrem Zweck nach ausdehnend dahin verstehen können, daß sie auch jedes andere Dienstverhältnis zum HABM, etwa als Präsident, Vizepräsident, Beamter oder sonstigen Bediensteter ausschließt. Die Zahl der Beschwerdekammern wird vom Präsidenten aufgrund seiner Organisationsgewalt (Art. 119 Abs. 2 lit. a GMV) – vorbehaltlich der haushaltsrechtlichen Befugnisse des Haushaltsausschusses des HABM (Art. 133 bis 135 GMV) – festgesetzt. Seit dem Jahre 2002 bestehen 4 Beschwerdekammern mit insgesamt 14 Mitgliedern110. Zwei Beschwerdekammern sind somit „überbesetzt“111; in diesem Fall entscheidet der Vorsitzende für jede einzelne Beschwerdesache, welche Mitglieder an der Entscheidung mitwirken112. Die Beschwerdekammern sind in das HABM organisatorisch eingegliedert, was sich beispielsweise darin zeigt, daß Maßnahmen im Bereich ihrer inneren Organisation nicht im Wege reiner „gerichtlicher Selbstverwaltung“ getroffen werden, 108
Allgemein hierzu oben 1. Teil, § 2 B. VO (EG) Nr. 422/2004 des Rates v. 19. 2. 2004 zur Änderung der [GMV], ABl. L 70, S. 1; zuvor wurden die Mitglieder auf der Grundlage eines Dreiervorschlags des Verwaltungsrates vom Rat der EU ernannt. 110 Bender, MarkenR 2002, S. 37; seit dem Jahre 2003 existiert eine weitere Beschwerdekammer für den Bereich des Geschmacksmusterrechts, die allerdings ausschließlich aus Mitgliedern der übrigen Beschwerdekammer zusammengesetzt ist. 111 Die gegenteilige Aussage von Bender, MarkenR 1999, S. 11 (12) ist also mittlerweile überholt. 112 Art. 1 Abs. 5 des Beschlusses Nr. 2001-2 des Präsidiums der Beschwerdekammern vom 21. Dezember 2001 zur Bestimmung der Mitglieder der ersten, zweiten, dritten und vierten Beschwerdekammer und ihrer Vertreter sowie zur Festlegung der Verfahren für die Geschäftsverteilung der Beschwerdekammern im Arbeitsjahr 2002 (Amtsblatt HABM 2002, S. 480). 109
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sondern unter Einbeziehung von Vertretern der Amtsleitung des HABM113. Weiterhin unterliegen die Mitglieder der Beschwerdekammern hinsichtlich bestimmter Aspekte ihres „Grundverhältnisses“ der autonomen Regelungsgewalt des HABM114. Entscheidend ist aber, daß Art. 131 Abs. 4 GMV gleichwohl eine „funktionelle“ Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit der Beschwerdekammern festschreibt115. Unter dem Gesichtpunkt der Erforderlichkeit im Rahmen von Art. 308 EGV ist die sekundärrechtliche Errichtung der Beschwerdekammern als einer neuen Rechtsschutzinstanz primär gerechtfertigt durch den Gedanken des Rechtsschutzes der Beteiligten, der im 12. Erwägungsgrund der GMV als – einziger – Zweck des Beschwerdeverfahrens erwähnt wird. Darüber hinaus wird man auch den Gedanken einer Entlastung der Gemeinschaftsgerichte als maßgebliche Zwecksetzung anzusehen haben, was insbesondere dadurch unterstrichen wird, daß beispielsweise im Zeitraum zwischen dem Beginn der Arbeitsaufnahme des HABM im Jahre 1996 und dem 30. 4. 2003 4758 Beschwerden eingereicht worden sind116. Schließlich spielt auch der Aspekt einer fachlichen Spezialisierung eine Rolle, der bei den Mitgliedern der Beschwerdekammern naturgemäß höher ist als bei denjenigen der „universell“ für den Rechtsschutz in EG-Eigenverwaltungssachen zuständigen Gemeinschaftsgerichte. Der Aspekt einer „Selbstkontrolle der Verwaltung“ spielt dagegen keine Rolle, da das Beschwerdeverfahren ein – echtes – devolutives Rechtsschutzverfahren darstellt117.
113 Nach Art. 1 der VO (EG) 216/96 der Kommission über die Verfahrensordnung vor den Beschwerdekammern des Harmonisierungsamtes für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (ABl. 1996, L 28, S. 11) erfolgt die Zuweisung der Mitglieder zu den einzelnen Beschwerdekammern (i. S. v. Spruchkörpern) sowie die Geschäftsverteilung zwischen diesen durch das „Präsidium der Beschwerdekammern“. Diesem gehören der Präsident und der zuständige Vizepräsident des HABM, die Vorsitzenden der Beschwerdekammern sowie drei von den beisitzenden Mitgliedern aus deren Mitte gewählte Vertreter an. Den Vorsitz führt der Präsident des HABM, dessen Stimme bei Stimmengleichheit den Ausschlag gibt. 114 Dies betrifft insbesondere die Besoldung. So beschloß der Verwaltungsrat des HABM auf seiner 20. Sitzung am 14. Mai 2001, neue Mitglieder der Beschwerdekammern bei ihrer Ernennung in die Besoldungsgruppe A. 5 (statt wie bisher A. 3) einzustufen (Beschluß CA-01-07, Amtsblatt HABM 2001, S. 1436). 115 Zur Bedeutung dieser Bestimmung für die Frage der Qualifikation der Beschwerdekammern als gerichtliche Rechtsschutzinstanzen vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. c). 116 Quelle: Mitteilungsblatt des HABM („OAMI news“) 2/2003, S. 3. 117 Vgl. hierzu allgemein oben 1. Teil, § 2 B. I. 1. b); das Beschwerdeverfahren unterscheidet sich damit wesentlich vom Widerspruchsverfahren nach der VwGO, vgl. hierzu Eyermann/Rennert, § 68, Rn. 2.
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II. Gemeinschaftsgerichte Nach Art. 63 Abs. 1 GMV sind die Entscheidungen der Beschwerdekammern „mit der Klage beim Gerichtshof anfechtbar“. Das Gemeinschaftsorgan „Gerichtshof“ (i. w. S.) besteht aber aus zwei selbständigen Teilen, nämlich dem Gericht erster Instanz und dem Gerichtshof i. e. S. Es stellt sich somit die Frage, welches dieser beiden Gemeinschaftsgerichte für die Entscheidung über Klagen nach Art. 63 Abs. 1 GMV sachlich zuständig ist118. Sedes materiae war bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Nizza Artikel 3 Abs. 1 des Beschlusses zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz119. Dieser hatte seit der Änderung von 1993120 folgende Fassung: „Das Gericht [erster Instanz] übt bei nachstehenden Streitsachen und Klagen im ersten Rechtszug die Zuständigkeiten aus, die dem Gerichtshof durch die Verträge zur Gründung der Gemeinschaften und die zur Durchführung dieser Verträge erlassenen Rechtsakte übertragen worden sind, sofern im Gründungsakt einer Körperschaft des Gemeinschaftsrechts nichts anderes festgelegt wurde: [. . .] c) bei Klagen, die gemäß Artikel 173 Absatz 2 [. . .] EWG-Vertrag [nunmehr: Art. 230 Abs. 4 EGV] von natürlichen oder juristischen Personen erhoben werden [. . .]“. Zwar bezieht sich Art. 230 Abs. 4 EGV lediglich auf Klagen, die die mit verbindlichen Rechtswirkungen ausgestatteten Handlungen des Parlaments, des Rates, der Kommission und der EZB zum Gegenstand haben. Wegen der inhaltlichen Nähe zwischen Klagen nach Art. 230 Abs. 4 EGV einerseits und solchen nach Art. 63 Abs. 1 GMV andererseits gingen die Literatur121 und die gerichtliche Praxis gleichwohl davon aus, daß das Gericht erster Instanz für die Entscheidung über Klagen nach der letztgenannten Bestimmung sachlich zuständig ist. Der Sache nach ist Artikel 3 Abs. 1 des EuG-Errichtungsbeschlusses somit in der Weise ausgelegt worden, daß er sich auf sämtliche von natürlichen oder juristischen Personen erhobenen Klagen gegen Gemeinschaftsorgane oder -einrichtungen bezieht. Dieselbe Auslegung dürfte nunmehr für Art. 225 Abs. 1 EGV i. d. F. des Vertrags von Nizza gelten, wonach das EuG – lediglich – „für Entscheidungen im ersten Rechtszug über die in den Artikeln 230, 232, 235, 236 und 238 [EGV] genannten Klagen zuständig“ ist.
118 Die Aufteilung der erstinstanzlichen Zuständigkeiten zwischen EuGH und EuG ist eine Frage der sachlichen, nicht der instantiellen Zuständigkeit. 119 Beschluß 88/591/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 28. 10. 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der europäischen Gemeinschaften, ABl. L 319 v. 25. 11. 1988, S. 1. 120 Beschluß 93/350/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 8. 6. 1993 zur Änderung des Beschlusses 88/591/EGKS, EWG, Euratom zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der europäischen Gemeinschaften, ABl. L 144 v. 16. 6. 1993, S. 21. 121 Jung, in: Plender (Hg.), European Courts, Rn. 38-03; Klüpfel, Markenrecht 2000, S. 237; v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 63 GMV, Rn. 13 f.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
B. Rechtsschutzgegenstand I. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV Art. 57 Abs. 1 S. 1 GMV nennt als zulässige Gegenstände der Beschwerde die Entscheidungen der Prüfer, Widerspruchs- bzw. Nichtigkeitsabteilung sowie der Markenverwaltungs- und Rechtsabteilung. Aus Art. 57 Abs. 2 GMV122 läßt sich im Umkehrschluß entnehmen, daß grundsätzlich nur verfahrensbeendende Entscheidungen der genannten erstinstanzlichen Stellen beschwerdefähig sind. Kein tauglicher Beschwerdegegenstand sind somit Verfahrensentscheidungen, die den Erlaß der verfahrensbeendenden Entscheidung lediglich vorbereiten. Wie § 44a VwGO123 beruht diese Vorschrift auf der Erwägung, daß eine Verfahrensentscheidung für einen Verfahrensbeteiligten in der Regel keine eigenständige Belastungswirkung entfaltet und daher kein Rechtsschutzbedürfnis in bezug auf den Erlaß einer spezifisch auf diese Entscheidung bezogenen Rechtsschutzentscheidung besteht. Es ist unter Gesichtspunkten eines effektiven Rechtsschutzes vielmehr ausreichend, daß die Rechtmäßigkeit der erfolgten oder unterlassenen Vornahme einer bestimmten Verfahrenshandlung im Rahmen eines gegen die verfahrensbeendende Entscheidung gerichteten Rechtsbehelfs incidenter geprüft wird. Dies entspricht auch dem Postulat der Verfahrensökonomie124. Legt man den Entscheidungsbegriff wie in Art. 230 EGV aus125, so fallen bloße Verfahrensentscheidungen ohnehin nicht darunter; die in Art. 57 Abs. 2 GMV vorgenommene Einschränkung wäre dann überflüssig126. Im Ergebnis sind beschwerdefähige Entscheidungen somit die Zurückweisung der Markenanmeldung, des Widerspruchs oder des Antrags auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit der Marke, die Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit der Marke sowie Entscheidungen über Eintragungen und Löschungen von Angaben im Gemeinschaftsmarkenregister. Daneben existiert die Möglichkeit einer „Zulassungsbeschwerde“ in bezug auf
122 Die Vorschrift lautet: „Eine Entscheidung, die ein Verfahren gegenüber einem Beteiligten nicht abschließt, ist nur zusammen mit der Endentscheidung anfechtbar, sofern nicht in der Entscheidung die gesonderte Beschwerde zugelassen ist“. 123 Zu dieser Parallele v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 21, Rn. 2. 124 Es besteht somit kein Gegensatz zwischen der Beschränkung der Rechtsschutzeröffnung auf Situationen, in denen ein Rechtsschutzbedürfnis vorliegt einerseits und dem Postulat der Verfahrensökonomie andererseits; anders aber tendenziell – in bezug auf § 44 A. VwGO – Kopp/Schenke, VwGO, § 44a, Rn. 1. 125 Für diesen Ansatz v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 57 GMV, Rn. 17 ff. 126 Dies übersieht v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 57 GMV, Rn. 17 ff. Vgl. zur Parallelproblematik bei der Bestimmung des tauglichen Gegenstandes einer Klage nach Art. 63 GMV unten II.
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bloße Verfahrensentscheidungen nach Art. 57 Abs. 2 2. Hs. GMV, die aber in der Praxis marginal geblieben ist127. Zweifelhaft ist, ob Art. 57 Abs. 1 S. 1 GMV analog auf Fälle anzuwenden ist, in denen die genannten erstinstanzlichen Stellen den Erlaß einer verfahrensbeendenden Entscheidung unterlassen. Für eine derartige „Untätigkeitsbeschwerde“ haben sich vereinzelte Stimmen in der Literatur ausgesprochen128. Unter Gesichtspunkten der Rechtsschutzeffektivität ist eine derartige Ausweitung indes nicht zwingend erforderlich. Denn das Unterlassen der erstinstanzlichen Stellen kann ggf. zum Gegenstand einer Untätigkeitsklage nach Art. 232 Abs. 3 EGV gemacht werden129. Es ist damit lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob es in die Rechtsschutzzone der Beschwerde einzubeziehen ist mit der Folge, daß für eine unmittelbar erhobene Untätigkeitsklage das Rechtsschutzbedürfnis fehlen würde. II. Klage nach Art. 63 GMV Nach Art. 63 Abs. 1 GMV sind alle „Entscheidungen der Beschwerdekammer, durch die über eine Beschwerde entschieden wird, [. . .] mit der Klage beim Gerichtshof anfechtbar“. Damit werden die als tauglicher Klagegegenstand in Betracht kommenden Akte in mehrfacher Hinsicht eingegrenzt. Was die handelnde Instanz angeht, so ist die Klage nach Art. 63 GMV lediglich gegen Akte der Beschwerdekammern, nicht jedoch solche der erstinstanzlichen Stellen des HABM gegeben. Dies gilt angesichts des eindeutigen Wortlauts von Art. 63 Abs. 1 GMV auch in bezug auf solche Entscheidungen der erstinstanzlichen Stellen, die nach Zurückverweisung einer Sache durch die Beschwerdekammern ergangen sind130. Weniger eindeutig sind die Aussagen, die Art. 63 Abs. 1 GMV in bezug auf den Inhalt der nach dieser Vorschrift anfechtbaren Handlungen macht. Hinsichtlich des Entscheidungsbegriffs ließe sich daran denken, auf die zu Art. 230 EGV entwickelte Definition zurückzugreifen131. Unter Gesichtpunkten der Rechtsschutzeffektivität ist ein derartiger Ansatz allerdings nicht zwingend. Denn sind die sekundärrechtlichen Regelungen der Struktur des Rechtsschutzes enger als das Rechtsschutzregime der Art. 220 ff. EGV, so kommt letzteres ohnehin subsidiär zur Anwendung, sofern die dort normierten Tatbestandsvoraus127
Hierzu v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 57 GMV, Rn. 29. v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 57 GMV, Rn. 22. 129 Vgl. unten § 4 B. II. 1. 130 Ebenso v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 22, Rn. 4. 131 In diesem Sinne offenbar v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 63 GMV, Rn. 9; vgl. zur parallelen Fragestellung hinsichtlich der Bestimmung des tauglichen Beschwerdegegenstandes oben I. 128
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setzungen für die primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzentscheidungen erfüllt sind132. Somit entstünden selbst bei einer „autonomen“ – und gegenüber Art. 230 EGV engeren – Definition des Entscheidungsbegriffs in Art. 63 GMV keine Rechtsschutzlücken. Gleichwohl erscheint es sinnvoll, den gleichen Entscheidungsbegriff wie im Rahmen von Art. 230 EGV zugrunde zu legen. Danach ist unter einer „Entscheidung“ jede Handlung zu verstehen, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt133, die also „Außenwirkung“ besitzt i. S. der Veränderung der Rechtssituation irgendeines Rechtssubjekts außerhalb ihres Urhebers134. Aus dem Erfordernis der Erzeugung von Rechtswirkungen wird gefolgert, daß in einem mehrphasigen Verwaltungsverfahren ergangene „Zwischenentscheidungen“ keine Entscheidungen i. S. v. Art. 230 EGV sind135. Sind demnach bloße Verfahrensentscheidungen im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens, die die verfahrensbeendende Entscheidung lediglich vorbereiten136, bereits nicht als „Entscheidung“ zu qualifizieren, so stellt sich die Frage nach der eigenständigen Bedeutung des zusätzlichen Erfordernisses, daß durch die Entscheidung „über eine Beschwerde entschieden“ worden sein muß. Die Funktion dieses Erfordernisses dürfte sich darauf beschränken, solche „inkorrekten“ Sachentscheidungen der Beschwerdekammern, denen überhaupt keine Beschwerde zugrunde liegt, aus der Rechtsschutzzone der Klage nach Art. 63 GMV herauszunehmen. Geht der Gegenstand der Beschwerdeentscheidung dagegen über denjenigen der Beschwerde hinaus, so ist eine derartige „ultra petita“ ergangene Entscheidung sehr wohl ein tauglicher Gegenstand einer Klage nach Art. 63 GMV137. Tauglicher Gegenstand einer Klage nach Art. 63 GMV ist somit jede Entscheidung der Beschwerdekammern, durch die ein durch eine Beschwerde initiiertes Verfahren beendet wird. Näherhin sind dies die Zurückweisung der Beschwerde als unbegründet oder als unzulässig138 sowie umgekehrt die Aufhebung oder Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Ebenso ist eine 132
Vgl. oben 2. Teil, § 3. Eingehend hierzu Röhl, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff. 134 Das üblicherweise weiterhin genannte Erfordernis, daß die Handlung „die Interessen des Klägers durch Eingriff in seine Rechtsstellung beeinträchtigt“ (so die Definition der Rechtsprechung seit EuGH, Urt. v. 11. 11. 1981, IBM/Kommission, Rs. 60/81, Slg. S. 2639, Rn. 9), sollte als parteibezogenes Element richtigerweise nicht bereits im Zusammenhang mit dem Klagegegenstand sondern erst beim Rechtsschutzbedürfnis geprüft werden, vgl. oben 2. Teil, § 1 A. II. 2. (bei Fn. 24). 135 Ständ. Rspr., vgl. EuGH, Urt. v. 11. 11. 1981, IBM/Kommission, Rs. 60/81, Slg. S. 2639, Rn. 10 f.; EuG, Urt. v. 15. 7. 1993, Camara Alloisio u. a./Kommission, T-17/ 90, T-28/91 und T-17/92, Slg. S. II-841, Rn. 39. Zur Anbindung an das Merkmal der „Rechtswirkungen“ Borchardt, in: Lenz, Art. 230 EGV, Rn. 16. 136 Z. B. die Ablehnung eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach Art. 75 GMV. 137 Vgl. unten F. II. 3. c) aa) sowie § 4 B. I. 138 Z. B. EuG, Urt. v. 17. 9. 2003, Classen/HABM, T-71/02, Slg. S. II-3181. 133
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Entscheidung anfechtbar, durch die festgestellt wird, daß die Beschwerde wegen Nichtzahlung der Beschwerdegebühr nach Art. 59 S. 2 GMV als nicht eingelegt gilt139. Wird eine dieser Entscheidungen der Beschwerdekammer nachträglich durch eine Berichtigungsentscheidung gemäß Regel 53 DV – ggf. auch nach Klageerhebung – berichtigt, so bildet sie in der berichtigten Fassung den Klagegegenstand140. Darüber hinaus dürften auch solche Entscheidungen der Beschwerdekammern den tauglichen Gegenstand einer Klage nach Art. 63 GMV bilden, die zwar nicht selbst das Beschwerdeverfahren beenden, sich jedoch inhaltlich auf eine derartige Entscheidung beziehen. In diesem Sinne „akzessorisch“ sind beispielsweise Berichtigungsentscheidungen gemäß Regel 53 DV141, oder Entscheidungen, durch die – nachträglich – über die Kosten des Beschwerdeverfahrens entschieden wird142.
C. Initiierung des Rechtsschutzverfahrens – Parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsschutzantrags I. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV Nach Art. 58 S. 1 GMV wird die Beschwerdebefugnis durch zwei kumulative Merkmale bestimmt. Beschwerdebefugt ist danach, wer am Verfahren vor der erstinstanzlichen Stelle beteiligt war und durch die erstinstanzliche Entscheidung beschwert ist. Eine derartige Ausgestaltung der Initiativberechtigung ist typisch für instantielle Rechtsschutzverfahren; die Beschwerdebefugnis nach der GMV ist damit strukturell derjenigen nach § 62 GWB vergleichbar143. Der Begriff der Beschwer ist aus dem Bereich der Rechtsmittel sowohl des deutschen als auch des Gemeinschaftsprozeßrechts vertraut144. Wie stets, wenn dies nicht ausdrücklich geregelt ist, stellt sich die Frage, ob die Beschwer for-
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EuG, (unveröff.) Beschl. v. 25. 5. 2004, Jakoby/HABM, T-242/03. Vgl. den Sachverhalt, der dem Urt. des EuG v. 14. 10. 2003, Phillips-van Heusen/HABM, T-292/01, Slg. S. II-4335, zugrunde lag; dies entspricht der zu Art. 230 EGV ergangenen Rechtsprechung, wonach eine Änderung der angefochtenen Entscheidung im Laufe des Verfahrens eine neue Tatsache darstellt, die dem Kläger eine Anpassung seines Vorbringens und seiner Anträge gestattet (EuG, Urt. v. 21. 10 2004, T36/99, Lenzing/Kommission, Slg. S. II-3597, Rn. 54 m.w. N.). 141 Allerdings kann im Rahmen einer derartigen Klage nur überprüft werden, ob die in Regel 53 DV normierten Voraussetzungen einer Berichtigung (sprachliche Fehler, Schreibfehler oder offenbare Unrichtigkeiten) vorlagen. 142 Sofern die Beschwerdekammer entgegen Regel 94 Abs. 1 DV nicht bereits in der Beschwerdeentscheidung selbst über die Kosten entschieden hat. 143 Nach § 62 Abs. 2 GWB steht die Beschwerde „den am Verfahren vor der Kartellbehörde Beteiligten [. . .] zu“; darüber hinaus besteht die ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung einer Beschwer des Beschwerdeführers, vgl. Schmidt, in: Immenga/ Mestmäcker (Hg.): GWB – Kommentar, § 62, Rn. 26 f. 140
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
mell zu bestimmen ist – also durch einen Vergleich zwischen dem Tenor der Ausgangsentscheidung und den Anträgen, die der Initiator des Rechtsschutzverfahrens im Ausgangsverfahren gestellt hatte – oder aber materiell – also durch einen Vergleich der Rechtsposition des Initiators des Rechtsschutzverfahrens vor und nach Erlaß der Ausgangsentscheidung. Die verschiedenen Sprachfassungen von Art. 58 S. 1 GMV ergeben ein uneinheitliches Bild145; die deutschsprachige Literatur scheint mehrheitlich eine materielle Beschwer zu fordern146. Wird jedoch lediglich auf einen Vergleich der Rechtsposition des Beschwerdeführers vor und nach Erlaß der erstinstanzlichen Entscheidung abgestellt, so wäre der Initiator des erstinstanzlichen Verfahrens in bezug auf eine seinen Antrag zurückweisende Entscheidung bei strikter Betrachtung nicht beschwerdebefugt, da sich seine materielle Rechtsposition durch diese Zurückweisung nicht verändert, sondern lediglich deren durch den Antrag erstrebte Verbesserung unterbleibt. Ein solches Ergebnis wäre indessen offenkundig sinnwidrig. Zur Bestimmung der Initiativberechtigung in einem instantiellen Rechtsschutzverfahren erscheint es vielmehr generell sachgerecht, die Dichotomie von formeller und materieller Beschwer zu überwinden. Statt dessen sollte ein einheitlicher, substantieller Begriff der Beschwer zugrunde gelegt, diese Substanz jedoch selbst in einem spezifisch verfahrensrechtlichen Sinne verstanden werden. Danach ist ein Beteiligter des Ausgangsverfahrens dann durch die dieses beendende Entscheidung beschwert, wenn diese sein parteitypisches Interesse am Verfahrensausgang frustriert. Das parteitypische Interesse des Initiators des Ausgangsverfahrens ist auf den Erlaß der beantragten Entscheidung gerichtet, dasjenige der übrigen Verfahrensbeteiligten147 auf eine Verschonung von Beeinträchtigungen ihrer verfahrensunabhängig bestehenden Individualinteressen, d. h. darauf, daß die verfahrensbeendende Entscheidung für sie keine materielle Belastungswirkung entfaltet.
144 Zu letzterem, d. h. zu dem gegen Entscheidungen des EuG gerichteten Rechtsmittel zum EuGH s. Art. 56 Abs. 2 der EuGH-Satzung; hierzu Böllhof, Das Rechtsmittelverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 40. 145 Die deutsche Sprachfassung verwendet die ambivalente Formulierung „soweit sie [scil. die Beteiligten des erstinstanzlichen Verfahrens] durch die Entscheidung beschwert sind“. Deutlich in Richtung einer materiellen Beschwer tendiert die engliche Sprachfassung („adversely affected by its decision“). Dagegen legen andere Fassungen ein Verständnis im Sinne einer formellen Beschwer nahe, so etwa die französische („pour autant que cette [décision . . .] n’a pas fait droit à ses prétentions“), italienische („a condizione que [la decisione] non abbia accolto le sue richieste“) und spanische („qualquiera de las partes cuyas pretensiones no hayan sido estimados“). 146 v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 21, Rn. 4; v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 58 GMV, Rn. 7 f. 147 Und zwar unabhängig von der Frage, ob der sonstige Verfahrensbeteiligte dem Initiator des Verfahrens im Rahmen eines zivilrechtlichen Parteiverfahrens als „Beklagter“ gegenübersteht oder nicht, wie dies bei den erstinstanzlichen Verfahren vor dem HABM der Fall ist.
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Legt man diesen Begriff der Beschwer zugrunde, so ergibt sich für die Beschwerdebefugnis nach Art. 58 S. 1 GMV folgendes: Der Initiator des erstinstanzlichen Verfahrens148 ist durch die erstinstanzliche Entscheidung beschwert und damit beschwerdebefugt, wenn deren Inhalt nicht vollständig mit demjenigen seines Antrags übereinstimmt, wenn also letzterer mindestens teilweise zurückgewiesen wurde149. Dagegen sind die sonstigen Beteiligten des erstinstanzlichen Verfahrens durch die erstinstanzliche Entscheidung beschwert und damit beschwerdebefugt, wenn diese für sie eine materielle Belastungswirkung entfaltet150. Dies entspricht im übrigen auch der Tatsache, daß in einem inter partes Verfahren die sonstigen Beteiligten des erstinstanzlichen Verfahrens keine prozessuale Obliegenheit trifft, die Zurückweisung des verfahrensinitiierenden Antrags zu beantragen151. II. Klage nach Art. 63 GMV 1. Aktive Parteifähigkeit Für Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen bestimmen die Art. 230 Abs. 4 bzw. Art. 232 Abs. 3 EGV, daß nur natürliche oder juristische Personen aktiv parteifähig sind152. Dabei folgt die Qualifikation einer Personenvereinigung als juristischer Person im Grundsatz aus ihrer nach dem Recht des Sitzstaats bestimmten Rechtsfähigkeit153. 148 Also – je nach dem betreffenden Verfahrenstyp – der Markenanmelder, der Widerspruchsführer bzw. der Initiator des Nichtigkeitsverfahrens. 149 EuG Urt. v. 16. 9. 2004, Metro-Goldwyn-Meyer/HABM, T-342/02, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 32–45. 150 Die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke entfaltet eine Belastungswirkung für den Markeninhaber, die Zurückweisung der Markenanmeldung im Widerspruchsverfahren für den Markenanmelder; hinsichtlich der letzten Konstellation liegt die ungünstige Zustandsveränderung in dem Verlust der – durch die Veröffentlichung der Markenanmeldung begründeten – Anwartschaft auf die Markeneintragung. 151 So richtig v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 58 GMV, Rn. 7; damit ist der für eine formelle Beschwer erforderliche Bezugspunkt nicht notwendigerweise vorhanden. Fraglich kann daher allenfalls sein, ob ein anderer Beteiligter des Beschwerdeverfahrens die Beschwerdeentscheidung anfechten kann, wenn der Tenor der Beschwerdeentscheidung einem von ihm gestellten Antrag entspricht, jedoch gleichwohl seine Rechtsposition verschlechtert. Diese Konstellation dürfte jedoch lediglich theoretische Bedeutung besitzen, da es – anders als im Zivilprozeßrecht (vgl. StJ/Grunsky, ZPO, Allg. Einl. vor § 411, Rn. 53) – die Möglichkeit eines „Anerkenntnisurteils“ der Beschwerdekammer nicht gibt. 152 Allgemein zur aktiven Parteifähigkeit als einer in den genannten Vorschriften normierten eigenständigen parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzung Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 22, Rn. 2–5; Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 28. 153 Dazu Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 22, Rn. 5; Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 28. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Die Rechtsprechung hat dieses Erfordernis auch für Klagen nach Art. 63 GMV postuliert und damit der Sache nach dieser Vorschrift eine zusätzliche, dort nicht ausdrücklich normierte Zulässigkeitsvoraussetzung entnommen154. Nicht jede Entität, die am Verfahren vor der Beschwerdekammer beteiligt war, kann bereits deshalb im eigenen Namen zulässigerweise eine Klage nach Art. 63 GMV erheben. Dieser Rechtsprechung ist beizupflichten. Denn das Zulässigkeitserfordernis der aktiven Parteifähigkeit bezweckt, die Rechtsfolgen einer das gerichtliche Verfahren beendenden Entscheidung wie die materielle Rechtskraftwirkung oder die Kostenlast einem eindeutig fixierten Rechtssubjekt zurechnen zu können. Diese Sachgründe gelten aber für Klagen nach Art. 63 GMV in gleicher Weise wie für Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen nach Art. 230 Abs. 4 bzw. Art. 232 Abs. 3 EGV. Dem entspricht der Befund, daß die Rechtsprechung auch die Zulässigkeit von Amtshaftungsklagen nach Art. 235 EGV und von Klagen aufgrund einer Schiedsklausel nach Art. 238 EGV155 vom Vorliegen der aktiven Parteifähigkeit abhängig macht, obwohl auch für diese – primärrechtlich geregelten – Klagearten eine derartige Zulässigkeitsvoraussetzung nicht ausdrücklich normiert ist. Allerdings dürfte das Erfordernis der aktiven Parteifähigkeit im Regelfall nur geringe eigenständige praktische Bedeutung neben der Klagebefugnis erlangen. Denn Art. 3 GMV normiert unter der mißverständlichen Überschrift „Rechtsfähigkeit“ Anforderungen an die Beteiligtenfähigkeit in bezug auf die Verfahren vor dem HABM einschließlich des Beschwerdeverfahrens, die – jedenfalls im Kern – denjenigen an die aktive Parteifähigkeit im allgemeinen EG-Prozeßrecht entsprechen. Gleichwohl ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß dem HABM im Einzelfall bei der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung der Beteiligtenfähigkeit ein Fehler unterläuft. War somit eine nach den Grundsätzen des allgemeinen EG-Prozeßrechts nicht aktiv parteifähige Entität an dem Beschwerdeverfahren beteiligt156, so entfaltet das Erfordernis der aktiven Parteifähigkeit eine eigenständige Filterfunktion für das gerichtliche Verfahren.
die Gemeinschaftsgerichte der Sache nach eine richterrechtlich festgelegte Norm des internationalen Privatrechts – also gewissermaßen eine lex fori der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit – anwenden, um zur Maßgeblichkeit des Recht des Sitzstaats zu gelangen. 154 EuG Urt. v. 22. 6. 2004, Ruiz-Picasso u. a./HABM, T-185/02, Slg. S. II-1739, Rn. 19–22. In diesem Verfahren hatte ursprünglich eine Erbengemeinschaft nach französischem Recht („indivision successorale“) geklagt, ohne jedoch ihre rechtliche Eigenständigkeit sowie die – und sei es beschränkte – Haftungsfähigkeit belegen zu können. Das EuG hielt die Klage allerdings im Ergebnis nicht für unzulässig sondern sah die unter einer Kollektivbezeichnung handelnden Miterben als eine Mehrheit von Klägern an und hat daher von Amts wegen eine Berichtigung der Parteibezeichnung für die Zwecke des Urteils vorgenommen. 155 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 9, Rn. 9 f.
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In einer allgemeinen verfahrensrechtlichen Perspektive zeigt sich hieran, daß gerichtlicher Rechtsschutz im Gemeinschaftsrecht zwar einerseits eher am Modell einer objektiv-rechtlichen Kontrolle orientiert ist und nicht primär auf den Schutz subjektiver Rechte abzielt157, das gerichtliche Verfahren andererseits gleichwohl eindeutig parteibezogen ausgestaltet ist. Hierin liegt ein charakteristischer Unterschied zum französischen Verwaltungsprozeßrecht, das jedenfalls die praktisch wichtigste und dogmatisch strukturprägende Klageart der Anfechtungsklage („recours pour excès de pouvoir“) im Ansatz als objektives, gegen die angegriffene Verwaltungsentscheidung selbst gerichtetes Verfahren („procès fait à un acte“) begreift und lediglich als Randkorrekturen hierzu gewisse Elemente der Parteibezogenheit kennt158. 2. Klagebefugnis Art. 63 Abs. 4 GMV definiert die erforderliche Beziehung zwischen dem Kläger und der Beschwerdeentscheidung als dem Rechtsschutzgegenstand durch zwei kumulative Merkmale: die Beteiligtenstellung des Klägers im Beschwerdeverfahren sowie dessen Beschwer durch die Beschwerdeentscheidung. Hieran zeigt sich, daß die Klage nach Art. 63 GMV – trotz ihres grundsätzlichen Charakters als Parteiverfahren – gewisse Züge eines instantiellen Verfahrens159 aufweist. Insbesondere besteht eine Parallele zur kartellverwaltungsrechtlichen Beschwerde nach §§ 62 ff. GWB, zu der ebenfalls – jedenfalls nach dem Gesetzeswortlaut – nur die „am Verfahren vor der Kartellbehörde Beteiligten“ berechtigt sind160. a) Beteiligung am Beschwerdeverfahren Am Beschwerdeverfahren beteiligt sind nach Art. 58 GMV der Beschwerdeführer sowie die übrigen am Verfahren vor der erstinstanzlichen Stelle Beteiligten161. Nicht am Beschwerdeverfahren beteiligt und damit nicht klagebefugt ist das HABM selbst. Aus Art. 21 der EuGH-Satzung ergibt sich, daß die Verfah156 Vgl. den dem Urt. des EuG v. 22. 6. 2004, Ruiz-Picasso u. a./HABM, T-185/02, Slg. S. II-1739, zugrundeliegenden Sachverhalt. 157 Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 66; v. Burchard, EuR 1991, S. 140 ff. (146 f.); Ehlers, VerwArch 84 (1993), S. 139 ff. (151). 158 Zum Konzept des „procès fait à un acte“ Chapus, Droit du contentieux administratif, Rn. 244 ff.; s. a. Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 329 ff.; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 57 f. 159 Dazu oben 1. Teil, § 2 B. I. 5. 160 Zur Frage einer Ausweitung im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG vgl. Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hg.): GWB – Kommentar, § 62, Rn. 22 f. 161 s. näher unten E. I.
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ren von den Gemeinschaftsgerichten generell als Parteiverfahren ausgestaltet sind162. Speziell für die Klagen nach Art. 63 GMV wird dies durch Art. 130 VerfO-EuG bestätigt, der ausdrücklich von den „gegen das HABM“ gerichteten Klagen spricht. Als Rechtsträger der Beschwerdekammern, also derjenigen Instanz, die die Ausgangsentscheidung erlassen hat, kommt dem HABM damit die Parteirolle des Beklagten zu. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, daß nach Art. 68 der VO 2100/ 94 das Sortenamt selbst am Beschwerdeverfahren beteiligt ist und daß deren Art. 73 Abs. 4 die Klagebefugnis ebenfalls an die Beteiligtenstellung im Beschwerdeverfahren knüpft. Gleichwohl wird man hieraus nicht folgern können, daß das Sortenamt – sofern die weitere Voraussetzung einer Beschwer erfüllt sein sollte – in bezug auf eine Beschwerdeentscheidung klagebefugt ist163. Denn auch die Klage nach Art. 73 der VO 2100/94 ist ein Parteiverfahren; in diesem Sinne bezieht sich Art. 130 VerfO-EuG ausdrücklich auch auf die „gegen das Sortenamt“ gerichteten Klagen. Es entspricht aber einem allgemeinen prozeßrechtlichen Postulat, daß eine bestimmte Entität164 an einem Parteiverfahren nicht in verschiedenen Parteirollen beteiligt ist. Speziell im Hinblick auf eine Kumulation der Parteirollen des Klägers und des Beklagten ergibt sich dies aus Erwägungen des Rechtsschutzbedürfnisses und zwar näherhin der Erforderlichkeit des Rechtsbehelfs zum Schutz der klägerischen Individualinteressen165. Denn der durch sich selbst als Beklagter in Anspruch genommene Kläger hat selbstverständlich die Möglichkeit, seine Individualinteressen auf andere Weise als durch eine gerichtliche Rechtsschutzentscheidung zu wahren; dies ist der richtige Kern des traditionellen Dogmas der Unzulässigkeit des „Insich-Prozesses“. b) Beschwer Wie bereits bei der Beschwerdebefugnis nach Art. 58 S. 1 GMV166 stellt sich die Frage, ob die Beschwer formell – hier also durch einen Vergleich zwischen dem Tenor der Beschwerdeentscheidung und den Anträgen des Klägers im Beschwerdeverfahren – oder aber materiell – hier also durch einen Vergleich der Rechtsposition des Klägers vor und nach Erlaß der Beschwerdeentscheidung – zu bestimmen ist. Wiederum ergeben die verschiedenen Sprachfassungen dieser
162 Vgl. oben 1. Teil, § 2 B. I. 5.; die Frage, ob eine andere Ausgestaltung mit dem Primärrecht vereinbar wäre, mag hier ausgeklammert bleiben. 163 So aber v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 63 GMV, Rn. 20. 164 Zu dieser Terminologie oben 1. Teil, § 2 B. I. 3. (bei u. in Fn. 75). 165 Vgl. oben 2. Teil, § 1 A. II. 2. 166 Vgl. oben 1.
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Vorschrift ein uneinheitliches Bild167 und scheint die deutschsprachige Literatur mehrheitlich eine materielle Beschwer zu fordern168. Der bei der Erörterung der Beschwerdebefugnis entwickelte zwar substantielle jedoch in einem spezifisch verfahrensrechtlichen Sinne verstandene Begriff der Beschwer169 kann mutatis mutandis auch im vorliegenden Zusammenhang zugrundegelegt werden. Danach ist ein Beteiligter des Beschwerdeverfahrens dann durch die Beschwerdeentscheidung beschwert, wenn diese sein – typisiert verstandenes – Interesse am Ausgang dieses Verfahrens frustriert. Im einzelnen ist wiederum nach der Parteirolle im Beschwerdeverfahren zu differenzieren: – Der Beschwerdeführer als der Initiator des Beschwerdeverfahrens ist durch die Beschwerdeentscheidung beschwert und damit klagebefugt, wenn deren Inhalt nicht vollständig mit demjenigen der Beschwerde übereinstimmt, wenn also letztere mindestens teilweise zurückgewiesen wurde170. – Hinsichtlich des parteitypischen Interesses eines sonstigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens171 an dessen Ausgang ist zu beachten, daß das Beschwerdeverfahren ein Rechtsschutzverfahren ist, dem bereits ein Verfahren vor einer erstinstanzlichen Stelle des HABM vorausgegangen ist. Daher ist das Interesse eines derartigen Beteiligten nicht nur auf eine Verschonung von Beeinträchtigungen seiner verfahrensunabhängig bestehenden Individualinteressen gerichtet, d. h. darauf, daß die Beschwerdeentscheidung für ihn keine 167 Die deutsche Sprachfassung verwendet die ambivalente Formulierung „soweit sie [scil. die Beteiligten des Beschwerdeverfahrens] durch die Entscheidung beschwert sind“. Deutlich in Richtung einer materiellen Beschwer tendiert die englische Sprachfassung („adversely affected by its decision“). Dagegen legen andere Fassungen ein Verständnis im Sinne einer formellen Beschwer nahe, so etwa die französische („pour autant que la décision de [la chambre de recours] n’a pas fait droit à ses prétentions“), italienische („se nella sua decisione [la commissione di ricorso] non ne ha accolto le richieste“) und spanische („en tanto en cuanto la resolución de [la sala de recurso] no haya estimado sus pretensiones“). 168 v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 22, Rn. 6; v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 63 GMV, Rn. 36; Klüpfel, MarkenR 2000, 237 (238). 169 Vgl. oben I. 170 Die unterlassene Rückzahlung der Beschwerdegebühr begründet dagegen erstens keine formelle Beschwer, da sich aus dem Wortlaut von Regel 51 DV ergibt, daß die Entscheidung über die Rückzahlung von Amts wegen ergeht und selbst ein ausdrücklich gestellter diesbezüglicher „Antrag“ deshalb lediglich den Charakter einer Anregung besitzt. Zweitens liegt auch keine materielle Beschwer vor, da die Beschwerdegebühr nach Art. 59 S. 2 GMV spätestens bei Einlegung der Beschwerde zu entrichten ist, so daß die Rechtsposition des Beschwerdeführers vor und nach einer – deren Rückzahlung nicht anordnenden – Beschwerdeentscheidung die gleiche ist. 171 Sofern es sich bei dem Beschwerdeverfahren um ein inter partes Verfahren handelt, was der Fall ist, wenn das Ausgangsverfahren ein Widerspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren war.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
materielle Belastungswirkung entfaltet. Es ist vielmehr auch darauf gerichtet, daß eine etwaige erstinstanzliche Entscheidung, durch die sein Interesse am Ausgang des erstinstanzlichen Verfahrens172 bereits befriedigt worden ist, nicht sanktioniert wird. Ein sonstiger Beteiligter des Beschwerdeverfahrens ist daher im Ergebnis durch die Beschwerdeentscheidung beschwert und damit klagebefugt, wenn diese entweder für ihn eine Belastungswirkung entfaltet173 oder aber eine erstinstanzliche Entscheidung sanktioniert, deren Inhalt mindestens teilweise mit demjenigen des Antrags übereinstimmt, durch den dieser Beteiligte das erstinstanzliche Verfahren initiiert hat174. In allgemein verfahrensrechtlicher Perspektive ist in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, daß auch im Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten der Beklagte, gegen den ein Versäumnisurteil des EuG ergangen ist, nach herrschender Meinung ein Rechtsmittel zum EuGH einlegen kann175. Da der Beklagte in einer derartigen Situation per definitionem im erstinstanzlichen Verfahren keinen Antrag gestellt hat, ist dieses Ergebnis nur begründbar, wenn seine Beschwer in der hier vorgeschlagenen Weise bestimmt wird. Weiterhin differenzieren auch im deutschen Prozeßrecht die Rechtsprechung und der wohl überwiegende Teil der Rechtslehre für die strukturell parallele Frage der Rechtsmittelbefugnis nach der Parteirolle im vorinstanzlichen Verfahren176. Bei einer inter partes ergangenen Beschwerdeentscheidung ist auch denkbar, daß sowohl der Beschwerdeführer als auch der (oder die) andere(n) Beteiligte(n) des Beschwerdeverfahrens durch die Beschwerdeentscheidung in dem jeweils maßgeblichen Sinne beschwert sind. In diesem Falle ergibt sich eine Mehrheit von Klagebefugten, von denen jeder die Beschwerdeentscheidung jedoch nur insoweit anfechten kann, als seine eigene Beschwer reicht177.
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Hierzu vgl. oben I. Dies ist etwa der Fall, wenn die Beschwerdeentscheidung in Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung eine eingetragene Gemeinschaftsmarke ganz oder teilweise für nichtig erklärt. 174 Dies ist etwa der Fall, wenn die erstinstanzliche Entscheidung dem Widerspruch ganz oder teilweise stattgegeben hat und diese Entscheidung durch die Beschwerdekammer aufgehoben oder abgeändert wird. 175 Biancarelli, RDTE 1991, S. 543 (563); Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 147. 176 Vgl. zum Zivilprozeßrecht Zöller/Gummer, ZPO [23. Aufl.], vor § 411, Rn. 13– 21 (zur Berufung), sowie § 442, Rn. 1 (zur Revision), zum Verwaltungsprozeßrecht Eyermann/Happ, VwGO, § 124, Rn. 29–32 sowie § 132, Rn. 5 (zur Revision). 177 Zu der daneben für die anderen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens bestehenden Möglichkeit eines „Anschlußrechtsmittels“ nach Art. 134 Abs. 3 VfO-EuG vgl. unten II. 1. 173
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3. Rechtsschutzbedürfnis Eine weitere – ungeschriebene – parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzung auch einer Klage nach Art. 63 GMV ist das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses178; der Erlaß der beantragten Rechtsschutzentscheidung muß also zum Schutz der klägerischen Individualinteressen geeignet und erforderlich sein179. Diese Eignung ist allerdings mit dem Vorliegen der Klagebefugnis indiziert, da die mit der angefochtenen Beschwerdeentscheidung verbundene Belastungswirkung für den Kläger bereits in diesem Rahmen – nämlich bei der Beschwer – berücksichtigt wird180. Somit bleibt im Kontext des Rechtsschutzbedürfnisses lediglich die negative Prüfung, ob der Erlaß der beantragten Rechtsschutzentscheidung – also die gerichtliche Aufhebung oder Abänderung der Beschwerdeentscheidung – aufgrund von Umständen, die erst nach deren Erlaß eingetreten sind, ausnahmsweise nicht mehr zum Schutz der klägerischer Individualinteressen geeignet ist181. Hauptfall ist die Erledigung der Beschwerdeentscheidung, also der nachträgliche Wegfall der von ihr für den Kläger ausgehenden Belastungswirkung. Eine Beschwerdeentscheidung erledigt sich namentlich dann, wenn sie eine erstinstanzliche Entscheidung bestätigt hat182 und anschließend der das erstinstanzliche Verfahren initiierende Antrag – also beispielsweise der Widerspruch – zurückgenommen wird183. Im Gemeinschaftsprozeßrecht ist das Rechtsschutzbedürfnis als Element der Zulässigkeit der Klage allerdings nach der Situation im Zeitpunkt der Klageerhebung zu beurteilen184 und nicht, wie im deutschen Verwaltungsprozeßrecht, nach der Situation im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung185. Daher entfällt das Rechtsschutzbedürfnis nur dann, wenn sich die Beschwerdeentscheidung vor Klageerhebung erledigt hat. Erledigt sie sich erst danach, so führt dies zwar ebenfalls zur Erledigung der Hauptsache186, ohne daß dies jedoch formal als Fall des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses und damit der – nachträglichen – Unzuläs178 s. beispielsweise EuG Urt. v. 14. 10. 2003, Philips-Van Heusen/HABM, T-292/ 01, Slg. S. II-4335, Rn. 60 sowie v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 63, Rn. 38 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 179 s. näher 2. Teil, § 1 A. II. 2. 180 Vgl. oben c) bb) sowie unten d). 181 Allgemein hierzu oben 2. Teil, § 1 A. II. 2. (nach Fn. 27). 182 Rectius: Wenn sie die gegen eine derartige erstinstanzliche Entscheidung gerichtete Beschwerde zurückgewiesen hat. 183 Vgl. für eine Fall der Rücknahme des Widerspruchs nach Klageerhebung EuG, Beschl. v. 3. 7. 2003, Lichtwer Pharma/HABM, T-10/01, Slg. S. II-1443 184 Ständ. Rspr., vgl. nur EuG, Urt. v. 16. 12. 1993, Moat/Kommission, T-58/92, Slg. S. II-1443, Rn. 32. s. a. Lasok, The European Court of Justice, S. 197. 185 Vgl. Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, vor § 40, Rn. 19. 186 Vgl. EuG, Beschl. v. 3. 7. 2003, Lichtwer Pharma/HABM, T-10/01, Slg. S. II1443, Rn. 16–18.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
sigkeit der Klage qualifiziert wird187. Der einzige praktische Unterschied zwischen den beiden Ansätzen besteht freilich in der Kostenfolge188. Allerdings ist zu bedenken, daß auch die Klagebefugnis im Gemeinschaftsprozeßrecht nach der Situation im Zeitpunkt der Klageerhebung beurteilt wird. Nimmt man weiterhin an, daß durch die Erledigung der Beschwerdeentscheidung die hiermit ursprünglich verbundene Beschwer des Klägers wegfällt, so fehlt es in dieser Situation bereits an der Klagebefugnis. Die Filterfunktion des Rechtsschutzbedürfnisses ist somit entsprechend reduziert, jedenfalls was das Erfordernis der Eignung des Erlasses der beantragten Rechtsschutzentscheidung zum Schutz der klägerischen Individualinteressen189 angeht. 4. Exkurs: Vergleich mit den parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV In systematischer Hinsicht ist bemerkenswert, daß lediglich die parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzung der aktiven Parteifähigkeit im Kontext von Art. 63 GMV einerseits und von Art. 230 Abs. 4 EGV andererseits identisch ist. Dagegen unterscheiden sich die parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klagebefugnis und des Rechtsschutzbedürfnisses im Kontext der beiden Vorschriften strukturell voneinander. Denn die von der Ausgangsentscheidung für den Kläger ausgehende Belastungswirkung gehört im Rahmen von Art. 63 GMV zur Beschwer und damit zur Klagebefugnis, bei Art. 230 Abs. 4 EGV dagegen zum Rechtsschutzbedürfnis und zwar näherhin zum Erfordernis, daß die beantragte Rechtsschutzentscheidung zum Schutz klägerischer Individualinteressen geeignet sein muß190. Aufgrund dieser „voraussetzungsreicheren“ Fassung der Klagebefugnis kommt dem Rechtsschutzbedürfnis bei Klagen nach Art. 63 GMV nurmehr eine residuale Funktion zu. Hieran zeigt sich, daß ver187 Die Situation ist also anders als im deutschen Recht, wo die Erledigung der Hauptsache dann, wenn der Klageantrag gleichwohl aufrechterhalten wird, zugleich als Fall des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses und damit der Unzulässigkeit der Klage angesehen wird, vgl. Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 161, Rn. 12. 188 Im Fall der Erledigung der Hauptsache entscheidet das Gericht über die Kosten nach freiem Ermessen (Art. 87 Abs. 6 VfO-EuG), im Fall der Abweisung der Klage als unzulässig legt es die Kosten der unterlegenen Partei auf (Art. 87 Abs. 2 VfOEuG). 189 Vgl. oben 2. Teil, § 1 A. II. 2. 190 Vgl. oben 2. Teil, § 1 A. II. 2.; es entspricht daher der Verfahrensökonomie, daß die Gemeinschaftsgerichte das Rechtsschutzbedürfnis – und zwar insbesondere den Aspekt der Belastungswirkung des angefochtenen Akts – vor der Klagebefugnis prüfen, vgl. EuG, Urt. v. 18. 12. 2003, Fern Olivieri/Kommission, T-326/99, Slg. S. II6053, Rn. 66 ff.; Urt. v. 17. 2. 2000, Micheli u. a./Kommission, T-183/97 Slg. S. II287, Rn. 34.
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schiedene Prozeßrechtsnormen ein und dasselbe Element im Kontext der einzelnen parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzungen unterschiedlich qualifizieren. Zugleich bestätigt sich, daß die Eigenständigkeit des Systembegriffs der Klagebefugnis gegenüber demjenigen des Rechtsschutzbedürfnisses lediglich eine Frage der terminologischen Zweckmäßigkeit ist. III. Rekurs: Initiativberechtigung und materielle Belastungswirkung Die Zurückweisung eines Antrags, durch den ein administratives Einwendungsverfahren iniitiert worden ist – hier also des Widerspruchs bzw. des Antrags auf Nichtigerklärung der eingetragenen Gemeinschaftsmarke –, entfaltet als solche nicht notwendigerweise eine materielle Belastungswirkung für den Antragsteller in dem Sinne, daß sie eine diesem ungünstige Zustandsveränderung herbeiführt. Im Falle des Widerspruchs und des relativen Nichtigkeitsantrags ist dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn ein Konkurrenzverhältnis zwischen dem vorbestehenden absoluten Privatrecht und der Gemeinschaftsmarke tatsächlich bestand, wenn die den Antrag zurückweisende Entscheidung also materiell rechtswidrig war191. Im Falle des absoluten Nichtigkeitsantrags liegt eine materielle Belastungswirkung für den Antragsteller per definitionem in keinem Falle vor. Wenn der Antragsteller in diesen Fällen nach dem hier zugrundegelegten substantiellen, jedoch in einem spezifisch verfahrensrechtlichen Sinne verstandenen Begriff der Beschwer gleichwohl beschwert und damit beschwerdebefugt ist192, so bedeutet dies der Sache nach, daß die als Element der Initiativberechtigung erforderliche Belastungswirkung der Ausgangsentscheidung für den Initiator des Rechtsschutzverfahrens prozedural bestimmt wird193. Diese Prozeduralisierung der Belastungswirkung entspricht derjenigen des Rechtsschutzes gegen die Markeneintragung als einer drittbelastenden Verwaltungsentscheidung überhaupt194. Ohne sie müßte im übrigen die Begründetheit eines gegen die Zurückweisung eines Widerspruchs bzw. eines – relativen – Nichtigkeitsantrags eingelegten Rechtsbehelfs stets bereits im Rahmen der Zulässigkeit geprüft werden. Denn eine derartige Entscheidung entfaltet für den privaten Dritten nur dann eine materielle Belastungswirkung195, wenn der verfahrensinitiierende Antrag begründet war, wenn also ein Konkurrenzverhältnis 191
Vgl. oben I. und II. Bzw. klagebefugt, wenn seine hiergegen gerichtete Beschwerde zurückgewiesen worden ist. 193 Und zwar unabhängig davon, ob dieses Erfordernis bei der Klagebefugnis oder beim Rechtsschutzbedürfnis verortet wird, vgl. oben II. 4. 194 Vgl. oben § 2 C. 195 In dem Sinne, daß sie eine dem Dritten ungünstige Zustandsveränderung herbeiführt, vgl. oben 1. Teil, § 2 A. 192
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
zwischen dem vorbestehenden absoluten Privatrecht und der Gemeinschaftsmarke tatsächlich bestand. Die Belastungswirkung einer derartigen Entscheidung für den privaten Dritten koinzidiert also notwendigerweise mit deren materieller Rechtswidrigkeit. Eine derartige Prozeduralisierung der Belastungswirkung findet sich allerdings gelegentlich auch in anderen Bereichen des Rechtsschutzes im EG-Eigenverwaltungsrecht und zwar insbesondere im Rahmen der Wettbewerbsaufsicht: Wird etwa ein Antrag nach Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung Nr. 17 auf Feststellung einer Zuwiderhandlung gegen die Artikel 81 oder 82 EGV ganz oder teilweise abgelehnt, so besitzt der Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis für eine hiergegen gerichtete Nichtigkeitsklage, ohne daß es auf die Frage ankäme, ob die Entscheidung für ihn eine materielle Belastungswirkung entfaltet196. Im Gemeinschaftsmarkenrecht kommt die Prozeduralisierung des Rechtsschutzes gegen die Markeneintragung noch in einem anderen Zusammenhang zum tragen und zwar in einschränkender Weise: Für den Inhaber einer vorbestehenden Marke, zu der die Gemeinschaftsmarke in Konkurrenz tritt, entfaltet die Markeneintragung eine materielle Belastungswirkung. Hat er es jedoch unterlassen, das Widerspruchsverfahren – als vorheriges Einwendungsverfahren – einzuleiten, so ist er in bezug auf die Rechtsbehelfe der GMV nicht initiativberechtigt. Einer Ausdehnung der Initiativberechtigung wegen „unterbliebener Verfahrensbeteiligung“ nach dem Vorbild der von Karsten Schmidt zu § 62 GWB vertretenen Auffassung197 bedarf es gleichwohl nicht. Denn ein derartiger privater Dritter bleibt in diesem Fall in bezug auf die Rechtsbehelfe der GMV dann initiativberechtigt, sofern er zuvor das relative Nichtigkeitsverfahren – als nachträgliches Einwendungsverfahren – erfolglos eingeleitet hat.
D. Rechtswirkungen des Rechtsschutzantrags – Aufschiebende Wirkung I. Allgemeines Die aufschiebende Wirkung eines gegen eine Verwaltungsentscheidung gerichteten Rechtsbehelfs bedeutet, daß die Verwaltung bis zur Entscheidung über 196 D. h. ob die Verhängung einer Sanktion gegen das betroffene Unternehmen den Antragsteller begünstigt hätte, vgl. EuGH, Urt. v. 25. 10. 1977, Rs. 26/76, Metro/Kommission, Slg. S. 1875, Rn. 13; EuG, Urt. v. 18. 5. 1994, T-37/92, BEUC u. NCC/Kommission, Slg. S. II-285, Randnr. 36; Urt. v. 26. 1. 2005, T-193/02, Piau/Kommission, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 38. Seit dem 1. 5. 2004 ist die VO (EG) 1/2003 vom 16. 12. 2002 (Abl. 2003, L 1, S. 1) an die Stelle der VO Nr. 17 getreten; ihr Art. 7 Abs. 1 entspricht Art. 3 der VO Nr. 17. 197 Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hg.): GWB – Kommentar, § 62, Rn. 22, 27.
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den Rechtsbehelf am Erlaß von solchen Maßnahmen gehindert ist, zu deren Rechtmäßigkeitsbedingungen die Wirksamkeit der betreffenden Verwaltungsentscheidung gehört („Folgemaßnahmen“)198. Der Sache nach stimmt dies mit der Theorie der „vorläufigen Wirksamkeitshemmung“199 überein. Von einer aufschiebenden Wirkung kann daher sinnvollerweise nur in bezug auf eine Entscheidung gesprochen werden, die über die Beendigung des ihrem Erlaß vorausgehenden Verfahrens hinausreichende Rechtswirkungen entfaltet200. Derartige Entscheidungen sollen im folgenden vereinfachend als verfahrensextern relevante Entscheidungen bezeichnet werden201. II. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV Nach Art. 57 S. 1 GMV kommt der Beschwerde gegen eine Entscheidung der erstinstanzlichen Stellen aufschiebende Wirkung zu. Von diesen Entscheidungen weisen aber die Zurückweisung der Markenanmeldung durch den Prüfer202 oder durch die Widerspruchsabteilung203 sowie die Zurückweisung des Antrags auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit der Marke204 keine verfahrensexternen Rechtswirkungen auf. Anders ist dies jedoch in den Fällen der Zurückweisung des Widerspruchs205, der Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit der Marke206 sowie der Entscheidungen über Eintragungen und Löschungen von Angaben im Gemeinschaftsmarkenregister207. Nur in bezug auf diese Entscheidungen entfaltet die Beschwerde somit eine aufschiebende Wirkung. 198
Vgl. bereits oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. b). Plakativ formuliert Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 80, Rn. 86, vom Regelungsgehalt des angefochtenen Verwaltungsakts gingen einstweilen keine rechtliche Wirkungen aus. 200 Dieses normstrukturell begründete Erfordernis gilt unabhängig davon, ob der Suspensiveffekt – wie im Falle der GMV – ex lege eintritt oder aber – wie im Falle von Art. 242 S. 2 EGV – durch richterliche Entscheidung angeordnet werden muß. Demgemäß betonen Rechtsprechung und Rechtslehre, daß die Vollzugsaussetzung nach dieser letzten Vorschrift nur in Betracht kommt in bezug auf Entscheidungen, die „Rechtswirkungen erzeugen und zum Vollzug geeignet sind“; vgl. EuG, Beschl. v. 7. 6. 1991, Vichy/Kommission, T-19/91 R, Slg. S. II-265, Rn. 20 sowie Lenaerts/Arts, Europees Procesrecht, Rn. 536 und Borchardt, in: Lenz, Art. 243 EGV, Rn. 10. 201 Diese zugegebenermaßen etwas künstliche Begriffsbildung dient auch dazu, das im Rahmen der Theorie der „vorläufigen Wirksamkeitshemmung“ mißverständliche Gegensatzpaar der gestaltenden und der feststellenden Entscheidung zu vermeiden. 202 Nach Art. 37 Abs. 1 GMV oder Art. 38 Abs. 1 GMV. 203 Nach Art. 43 Abs. 5 S. 1 GMV. 204 Nach Art. 56 Abs. 5 S. 2 GMV. 205 Nach Art. 43 Abs. 5 S. 2 GMV; die Zurückweisung des Widerspruchs ist nach Art. 45 S. 1, 2. Var. GMV Voraussetzung für die Markeneintragung. 206 Nach Art. 56 Abs. 5 S. 1 GMV. 207 Nach Art. 128 Abs. 1 GMV in Verbindung mit der jeweils einschlägigen Spezialvorschrift. 199
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Allerdings wird nach Art. 45 S. 1 GMV die Marke ohnehin erst dann eingetragen, wenn die Zurückweisung des Widerspruchs unanfechtbar – d. h. bestandskräftig – geworden ist. Dies stellt der Sache nach eine Sonderregelung des Suspensiveffekts208 hinsichtlich der gegen die Zurückweisung des Widerspruchs gerichteten Rechtsbehelfe dar. Ebenso ordnet Art. 56 Abs. 6 GMV an, daß die Nichtigerklärung der Marke erst bei Bestandskraft in das Register einzutragen ist. Da aufgrund des Prinzips der Registerpublizität zusätzlich ein – ungeschriebener – Rechtssatz des Inhalts zu postulieren ist, daß die Nichtigerklärung erst mit der Registereintragung wirksam wird209, wird deutlich, daß es auch für diesen Bereich des Rückgriffs auf Art. 57 S. 1 GMV nicht bedarf. Zur Dauer des Suspensiveffekts der Beschwerde enthält die GMV keine ausdrückliche Regelung. Extrapoliert man jedoch den Inhalt der soeben erwähnten Bestimmungen der Art. 45 S. 1 und Art. 56 Abs. 6 GMV auf die Bereiche, in denen Art. 57 S. 1 GMV unmittelbare Anwendung findet, so liegt es nahe, anzunehmen, daß die aufschiebende Wirkung endet, sobald die angefochtene Entscheidung der erstinstanzlichen Stelle Bestandskraft erlangt. Da allerdings per definitionem der unmittelbare Eintritt der Bestandskraft durch die Einlegung der Beschwerde gehindert worden ist, dauert der Suspensiveffekt der Beschwerde im Ergebnis bis zu dem Zeitpunkt, in dem die abweisende Beschwerdeentscheidung in Bestandskraft erwächst210. Der gleiche Ansatz wird der Sache nach im deutschen Prozeßrecht bei der Bestimmung der Dauer des Suspensiveffekts der Anfechtungsklage nach § 80 Abs. 1 VwGO zugrundegelegt 211. III. Klage nach Art. 63 GMV Nach Art. 62 Abs. 3 GMV wird eine Entscheidung der Beschwerdekammer erst mit Ablauf der Klagefrist nach Art. 63 Abs. 5 GMV bzw. mit der Abweisung einer fristgemäß eingelegten Klage wirksam. Damit kommt der Klage nach Art. 63 GMV der Sache nach ebenfalls eine aufschiebende Wirkung zu. Diese kommt allerdings nur dann zum tragen, wenn die Beschwerdeentscheidung eine verfahrensexterne Relevanz im Sinne des hier zugrunde gelegten Verständnisses212 aufweist. Daß dies bei einer stattgebenden Beschwerdeentscheidung, durch die die Entscheidung der erstinstanzlichen Stelle aufgehoben 208 Dieser Begriff wird hier – einem verbreiten dogmatischen Sprachgebrauch folgend und entgegen den Bedenken von Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 80, Rn. 72 – synonym zu demjenigen der „aufschiebenden Wirkung“ benutzt. 209 Vgl. oben § 2 B. II. (nach Fn. 91). 210 D. h. maßgeblich ist der Ablauf der Klagefrist nach Art. 63 Abs. 5 GMV. 211 Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 80, Rn. 103. 212 Vgl. oben I.
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oder abgeändert wird, der Fall ist, bedarf keiner näheren Erläuterung. Aber auch eine abweisende Beschwerdeentscheidung ist verfahrensextern relevant. Denn sie bewirkt – kumulativ mit dem Verstreichenlassen der Klagefrist – daß die Entscheidung der erstinstanzlichen Stelle Bestandskraft erlangt. Dies gilt unabhängig davon, ob die abgewiesene Beschwerde gegen eine ihrerseits verfahrensextern relevante Entscheidung einer erstinstanzlichen Stelle213 gerichtet war214 oder nicht. Wenn dies der Fall ist, so stellt die Beendigung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde lediglich einen weiteren, indirekten Effekt der abweisenden Beschwerdeentscheidung dar. Im Ergebnis entfaltet die Klage nach Art. 63 GMV somit in bezug auf sämtliche Beschwerdeentscheidungen eine aufschiebende Wirkung. Da der Suspensiveffekt der Beschwerde bis zu dem Zeitpunkt andauert, in dem die abweisende Beschwerdeentscheidung in Bestandskraft erwächst215, führt also erst der Suspensiveffekt der Klage dazu, daß die aufschiebende Wirkung der Beschwerde nach Art. 57 S. 1 GMV im Ergebnis bis zu der Bescheidung der Klage fortdauert216. Durch ihren Suspensiveffekt unterscheidet sich die Klage nach Art. 63 GMV wesentlich von der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV. Denn nach Art. 242 S. 1 EGV haben Klagen keine aufschiebende Wirkung. Vielmehr sieht Art. 243 EGV lediglich die Möglichkeit vor, daß die Gemeinschaftsgerichte eine einstweilige Anordnung erlassen; in diesem Rahmen kann auch die Aussetzung des Vollzugs der angegriffenen Entscheidung angeordnet werden217. Die in Art. 62 Abs. 3 GMV getroffene Sonderregelung findet ihren sachlichen Grund in Erwägungen der Rechtssicherheit. Diese legen es nahe, daß Wirksamkeit und Bestandskraft der Markeneintragung – bzw. der Nichtigerklärung der Marke als deren actus contrarius – zusammenfallen. Denn hätten die gegen die Zurückweisung des Widerspruchs eingelegten Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung, so müßte die Marke nach Art. 45 S. 1 GMV sofort eingetragen, die Eintragung jedoch im Falle einer Aufhebung der Zurückweisung des Widerspruchs wieder rückgängig gemacht werden. Entsprechendes gälte, wenn die Nichtiger213
Vgl. oben II. Also beispielsweise gegen die Zurückweisung des Widerspruchs, vgl. oben bei u. in Fn. 203. 215 Vgl. oben II. 216 Die Aussage bei v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 22, Rn. 13, die aufschiebende Wirkung der Beschwerde dauere bis zur „endgültigen“ Entscheidung über die Klage fort, darf allerdings nicht so verstanden werden, als beziehe sie sich auch auf die Entscheidung des EuGH über ein gegebenenfalls eingelegtes Rechtsmittel. Denn nach Art. 60 Abs. 1 EuGH-Satzung besitzt ein Rechtsmittel gegen ein Urteil des EuG keine aufschiebende Wirkung; vgl. hierzu Jung, in: G/S, Art. 224 bis 225 A. EG, Rn. 173. 217 Zur Frage der Vereinbarkeit mit dem Vorrang des Primärrechts vgl. oben 2. Teil, § 2 C. II. 2. b). 214
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
klärung der Marke aufgehoben wird. Dies würde aber den Interessen Dritter wie auch des Rechtsverkehrs insgesamt an einer größtmöglichen Stabilität der durch die Markeneintragung zugleich begründeten und verlautbarten Rechtslage218 zuwiderlaufen.
E. Verfahrensbeteiligte neben dem Initiator des Verfahrens I. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV Nach Art. 58 S. 2 GMV sind neben dem Beschwerdeführer als dem Initiator des Verfahrens lediglich die anderen Beteiligten des erstinstanzlichen Verfahrens – ex lege – am Beschwerdeverfahren beteiligt, dagegen weder die erstinstanzliche Stelle selbst noch das HABM als deren Rechtsträger. Bei dem Beschwerdeverfahren handelt es sich somit um ein instantielles Verfahren219. Allerdings kann die Beschwerdekammer den Präsidenten des HABM von Amts wegen oder auf dessen Antrag hin auffordern, sich in einem Beschwerdeverfahren „zu Fragen von allgemeinem Interesse“ zu äußern (Art. 11 der VO 216/96220). Eine Art. 58 S. 2 GMV inhaltsgleiche Regelung enthält Art. 36 der VO 1592/ 2002 in bezug auf die Europäische Agentur für Flugsicherheit. Dagegen ist nach Art. 68 der VO 2100/94 neben den anderen Beteiligten des erstinstanzlichen Verfahrens auch das Sortenamt selbst am Beschwerdeverfahren beteiligt221. II. Klage nach Art. 63 GMV 1. HABM a) Grundsatz: HABM als Beklagter Als dem Rechtsträger der Beschwerdekammern, als der Ausgangsinstanz, kommt dem HABM die Parteirolle des Beklagten zu222. Da es als solches nicht am Beschwerdeverfahren beteiligt ist, ist es weder nach Art. 63 Abs. 4 GMV klagebefugt noch in der Position eines potentiellen privilegierten Streithelfers 218
Vgl. oben § 2 B. II. Vgl. oben 1. Teil, § 2 B. I. 5. 220 Verordnung (EG) Nr. 216/96 der Kommission vom 5. 2. 1996 über die Verfahrensordnung vor den Beschwerdekammern des [HABM] (ABl. L 28 v. 6. 2. 1996, S. 11 ff.). 221 Zu den sich hieraus ergebenden Fragen in bezug auf die Klagebefugnis des Sortenamtes vgl. oben B. I. 2. c) aa). 222 Vgl. oben B. I. 2. c). 219
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nach Art. 134 Vf-O EuG223. Diese Regelungen entsprechen dem Prinzip, wonach in einem Parteiverfahren dieselbe Entität nicht verschiedene Parteirollen kumulieren kann224. Speziell für die Parteirollen des Beklagten und des Streithelfers folgt dies daraus, daß für eine solche Kumulation kein Bedürfnis besteht. Denn die Zwecke der Zuerkennung der Parteirolle des Streithelfers, nämlich die Gewährung des rechtlichen Gehörs sowie die Einbeziehung in die Wirkung der materiellen Rechtskraft sind in bezug auf die betreffende Entität bereits aufgrund ihrer Beklagtenrolle erfüllt. b) Nuancierungen: HABM als amicus curiae aa) Ausgangspunkt Aus der formalen Erwägung, daß das Klageverfahren nach Art. 63 GMV den Charakter eines Parteiverfahrens aufweist, innerhalb dessen dem HABM die Beklagtenrolle zukommt, dürfen allerdings keine zu weitgehenden Folgerungen gezogen werden. Erstens ist in systematischer Perspektive daran zu erinnern, daß das Beschwerdeverfahren zwar grundsätzlich als instantielles Verfahren ausgestaltet ist. Gleichwohl verfügt der Präsident des HABM in Gestalt seines – wenn auch an die Zulassung durch die Beschwerdekammer gebundenen – Äußerungsrechts nach Art. 11 der VO 216/96225 über die Möglichkeit, auf das Beschwerdeverfahren „im Interesse des Rechts“ – also in der Parteirolle eines amicus curiae – einzuwirken. In dieser Einwirkungsmöglichkeit liegt aber eine Erweiterung gegenüber dem strikten Modell eines instantiellen Rechtsschutzverfahrens, das durch die fehlende Beteiligung der Ausgangsinstanz bzw. ihres Rechtsträgers gekennzeichnet ist. Daher sollte es auch umgekehrt zulässig sein, daß das HABM auf das als Parteiverfahren ausgestaltete gerichtliche Verfahren nach Art. 63 GMV lediglich in der zurückgenommenen – und als solche nicht ausdrücklich vorgesehenen – Parteirolle eines amicus curiae einwirkt. Dies gilt um so mehr, als das Verhältnis zwischen Beschwerdeverfahren und gerichtlichem Verfahren in bezug auf die privaten Parteien ohnehin durch den Grundsatz der Kontinuität der Verfahrensbeteiligung geprägt ist226. 223
Dazu unten 2. a). Vgl. oben bei Fn. 161. 225 Vgl. oben vor Fn. 220; in vergleichender verfahrensrechtlicher Perspektive ist bemerkenswert, daß – obwohl die gegen die Entscheidungen des Deutschen Patentund Markenamtes gerichteten gerichtlichen Rechtsbehelfe instantiell ausgestaltet sind – der Präsident des Amtes zur Wahrung des öffentlichen Interesses kraft Gesetzes im patentgerichtlichen Verfahren äußerungsberechtigt ist; darüber hinaus kann ihm das Patentgericht wegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung anheimgeben, dem Verfahren beizutreten (vgl. § 68 MarkenG sowie §§ 76 und 77 PatentG). 224
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Zweitens gilt es wie stets so auch hier, das Verfahrensrecht im Sinne einer größtmöglichen Adäquanz in bezug auf die zugrunde liegenden materiell-rechtlichen Beziehungen auszulegen und anzuwenden. Wie gezeigt sind die inter partes ergangenen Beschwerdeentscheidungen dadurch gekennzeichnet, daß sie ausschließlich kollidierende Privatinteressen der Verfahrensbeteiligten, nicht aber öffentliche Interessen berühren227. Dieser Interessenkonstellationen entspricht es, das HABM in seinem zulässigen Prozeßverhalten nicht auf eine Verteidigung der Beschwerdeentscheidung – d. h. auf einen Antrag auf Klagabweisung – festzulegen sondern ihm freizustellen, sich der Sache nach auf eine Parteirolle als amicus curiae zu beschränken. Eine derartige Prozeßführungsstrategie dürfte in der Praxis allerdings nur dann in Betracht kommen, wenn durch die den Klagegegenstand bildende Beschwerdeentscheidung die erstinstanzliche Entscheidung sanktioniert wird. Denn die Divergenz zwischen den Rechtsauffassungen der Beschwerdekammer einerseits und des HABM – bzw. dessen Leitung – andererseits wird i. d. R. darauf beruhen, daß letztere die Entscheidung der – ihrer Weisungsbefugnis unterstehenden228 – erstinstanzlichen Stelle für rechtmäßig hält. Anders mag dies allenfalls dann sein, wenn die Leitung des HABM das gerichtliche Verfahren zu einer „Selbstkorrektur“ in bezug auf die erstinstanzliche Entscheidung nutzen will229. Bei einer ex parte ergangenen Beschwerdeentscheidung wird dagegen eine eventuelle Divergenz zwischen den Rechtsauffassungen von Beschwerdekammer und Leitung des HABM von vornherein nicht prozessual relevant. Denn eine die erstinstanzliche Entscheidung sanktionierende Beschwerdeentscheidung enthält per definitionem keine Beschwer des Markenanmelders als des – einzigen – am Beschwerdeverfahren Beteiligten und kann daher mangels Klagebefugnis nicht zulässigerweise zum Gegenstand einer Klage gemacht werden. Unterläßt es das HABM, die Abweisung der Klage zu beantragen, so stellt sich allerdings die Frage, ob es dadurch den Vertrauensschutz des von der Beschwerdeentscheidung Begünstigten verletzt230. Diese Frage ist richtigerweise jedoch zu verneinen, da die von der Beschwerdekammer als einer weisungsfreien Rechtsschutzinstanz231 getroffene Entscheidung nicht als ein Vertrauenstatbestand angesehen werden kann, der dem – durch seine Leitung vertretenen – 226
s. unten 2. a) dd) a. E. Vgl. oben § 2 A. III. 1., B. I. 228 Vgl. oben § 1 B. 229 Das Rechtsschutzbedürfnis für einen derartigen Antrag des HABM ist gegeben, da die erstinstanzlichen Stellen grundsätzlich – d. h. außerhalb der Abhilfe nach Art. 60 GMV – nicht zur Aufhebung oder Abänderung ihrer eigenen Entscheidungen befugt sind, vgl. dazu v. Kapff, in: Ekey/Kippel (Hg.): Markenrecht, Art. 57, Rn. 8. 230 So EuG, Urt. v. 12. 12. 2002, Vedial/HABM – France Distribution (Hubert), T110/01, Slg. S. II-5275, Rn. 23. 231 Vgl. oben A. I. (bei Fn. 113). 227
§ 3 Speziell: Devolutive Rechtsschutzverfahren
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HABM zurechenbar wäre. Der für die Beteiligten des Beschwerdeverfahrens insoweit fehlende Vertrauensschutz ist also gewissermaßen die Kehrseite der funktionellen Unabhängigkeit der Beschwerdekammern. Prozessual konkretisiert sich die Parteirolle des HABM als amicus curiae entweder durch einen nicht auf Klagabweisung gerichteten akzessorischen Antrag (unten bb)) oder durch sonstiges Prozeßverhalten (unten cc)). bb) Nicht auf Klagabweisung gerichtete akzessorische Anträge Unter einem akzessorischen Antrag soll im folgenden ein Antrag verstanden werden, den ein Verfahrensbeteiligter im Rahmen eines von einem anderen wirksam initiierten Verfahrens stellt. In der Rechtspraxis hat das HABM gelegentlich nicht die Abweisung der Klage beantragt sondern akzessorische Anträge gestellt, die entweder „indifferent“ gefaßt232 waren oder sogar auf eine Sanktionierung der angefochtenen Beschwerdeentscheidung gerichtet waren233. Die Rechtsprechung hat in diesen Fällen die Frage der Zulässigkeit des jeweiligen Antrags geprüft, diese allerdings in unterschiedlichem Sinne beantwortet234. Richtigerweise ist jedoch die Frage der Zulässigkeit eines Antrags nur dann von Bedeutung, wenn der Antrag abstrakt rechtserheblich bzw. verfahrensbestimmend ist, d. h. wenn die Rechtmäßigkeit einer verfahrensbeendenden Entscheidung davon abhängt, daß ein entsprechender Antrag wirksam gestellt worden ist. Für den verfahrensbestimmenden Charakter eines Antrags ist auch die Parteirolle des Antragstellers in dem betreffenden Verfahren von Bedeutung. In diesem Sinne ist der auf eine Sanktionierung der Ausgangsentscheidung gerichtete Antrag nur dann verfahrensbestimmend, wenn er vom Kläger oder von einem privilegierten Streithelfer235 gestellt wird, der auf Klagabweisung gerich-
232 So etwa der Antrag, das Gericht möge „nach Maßgabe der Sach- und Rechtslage bei Schluß der mündlichen Verhandlung entscheiden“ (EuG, Urt. v. 13. 6. 2002, Chef Revival USA/HABM, T-232/00, Slg. S. II-2749) oder der Antrag, das Gericht möge „das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten berücksichtigen“ (EuG, Urt. v. 15. 1. 2003, Mystery Drinks/HABM, T-99/01, Slg. S. II-43). 233 Vgl. die Anträge in EuG, Urt. v. 12. 12. 2002, Vedial/HABM – France Distribution (Hubert), T-110/01, Slg. S. II-5275; EuG, Urt. v. 30. 6. 2004, GE Betz/HABM, T107/02, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht: Unterstützung eines auf die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung gerichteten klägerischen Antrags. 234 Für Unzulässigkeit: EuG, Urt. v. 12. 12. 2002, Vedial/HABM – France Distribution (Hubert), T-110/01, Slg. S. II-5275, Rn. 16 ff.; im gegenteiligen Sinne: EuG, Urt v. 13. 6. 2002, Chef Revival USA/HABM, T-232/00, Slg. S. II-2749 ohne weitere Problematisierung, ebenso EuG, Urt. v. 30. 6. 2004, GE Betz/HABM, T-107/02, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 33–36; ausführlich begründet nunmehr EuG, Urt. v. 25. 10. 2005, Peek und Cloppenburg/HABM, T-379/03, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 22–29. 235 Dazu unten 2. a) cc).
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
tete Antrag nur dann, wenn er vom Beklagten oder von einem privilegierten Streithelfer236 gestellt wird237. Demnach sind „indifferente“ oder gar auf eine Sanktionierung der angefochtenen Beschwerdeentscheidung gerichtete akzessorische Anträge des beklagten HABM nicht verfahrensbestimmend und daher als bloße Anregungen zu qualifizieren, in bezug auf die sich die Frage nach einer Zulässigkeit stricto sensu nicht stellt. Gleichwohl kann auch eine derartige Anregung im Einzelfall bestimmte Rechtsfolgen auslösen. So bewirkt sie etwa, daß eine Versäumnislage auch dann nicht entsteht, wenn keiner der privilegierten Streithelfer seinerseits eine Klagebeantwortung eingereicht hat238. Wird der Klage stattgegeben, die angefochtene Beschwerdeentscheidung also sanktioniert, ist es dem HABM somit verwehrt, Einspruch gegen das Urteil nach Art. 122 Abs. 4 Vf-EuG zu erheben. Denn es hat durch seine Anregung erkennen lassen, daß es dem Klageantrag nicht in der Sache entgegentreten will. Dagegen löst eine derartige Anregung in anderer Hinsicht keine Rechtsfolgen für das beklagte HABM aus: Insbesondere ändert sie nichts daran, daß das HABM bei einer Sanktionierung der angefochtenen Beschwerdeentscheidung als die unterlegene Partei im Hinblick auf die Kostenfolge und die Rechtsmittelbefugnis anzusehen ist, da das Unterliegen für den Beklagten richtigerweise materiell zu bestimmen ist239. cc) Sonstiges Prozeßverhalten Auch außerhalb eines nicht auf Klagabweisung gerichteten akzessorischen Antrags kann das HABM in verschiedener Weise der Sache nach die Parteirolle eines amicus curiae übernehmen. So steht es ihm zum einen frei, auf eine Klagebeantwortung – und damit auf das Stellen von Sachanträgen – gänzlich zu verzichten. Zum anderen kann es, wenn es eine Klagebeantwortung einreicht, seinen Antrag auf eine teilweise Klagabweisung beschränken. Außerdem steht es ihm frei, trotz eines Antrags auf – vollständige oder teilweise – Klagabweisung auch tatsächliche und/oder rechtliche Gesichtspunkte vorzutragen, die für die Rechtswidrigkeit der Beschwerdeentscheidung und damit für deren Sanktionierung sprechen.
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Dazu unten 2. a) cc). Der verfahrensbestimmende Charakter eines Antrags auf Klagabweisung ergibt sich – lediglich – daraus, daß er nach Art. 122 VfO-EuG eine negative Rechtmäßigkeitsbedingung für den Erlaß eines Versäumnisurteils darstellt. 238 Nach Art. 134 Abs. 4 VfO-EuG kann in diesem Fall – abweichend von Art. 122 VfO-EuG – ein Versäumnisurteil dann nicht ergehen, wenn ein privilegierter Streithelfer seinerseits eine Klagebeantwortung eingereicht hat. 239 So für die Rechtsmittelbefugnis – im Hinblick auf ein Versäumnisurteil, d. h. auf eine Situation, in der der Beklagte per definitionem keinen Antrag gestellt hat – Biancarelli, RDTE 1991, S. 543 (563); Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 147. 237
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2. Private Dritte a) Sonstige Beteiligte eines inter partes Beschwerdeverfahrens als privilegierte Streithelfer aa) Ausgangspunkt Von besonderer Bedeutung ist die Beteiligung privater Dritter am gerichtlichen Verfahren, wenn sich die Klage gegen eine inter partes ergangene Beschwerdeentscheidung richtet. In diesen Fällen sind die sonstigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens neben dem Kläger typischerweise240 durch die Beschwerdeentscheidung in dem Sinne begünstigt, daß ihr parteitypisches Interesse am Ausgang des Beschwerdeverfahrens mindestens teilweise befriedigt worden ist. Sanktioniert nun die das gerichtliche Verfahren beendende Entscheidung die Beschwerdeentscheidung, so entfaltet sie aufgrund dieser „Gestaltungswirkung“ eine mindestens prozedurale Belastungswirkung für einen derartigen Beteiligten. Hierbei kann angeknüpft werden an den bei der Erörterung der Beschwerde- und der Klagebefugnis entwickelten Begriff des parteitypischen Interesses am Ausgang eines Verfahrens241. Dieses ist im Falle eines sonstigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens nicht nur auf eine Verschonung von Beeinträchtigungen seiner verfahrensunabhängig bestehenden Individualinteressen gerichtet, d. h. darauf, daß die gerichtliche Entscheidung für ihn keine materielle Belastungswirkung entfaltet. Es ist vielmehr auch darauf gerichtet, daß eine etwaige Beschwerdeentscheidung, durch die sein Interesse am Ausgang des Beschwerdeverfahrens bereits befriedigt worden ist, nicht sanktioniert wird. Dieses letztere Interesse würde aber durch die gerichtliche Aufhebung einer stattgebenden Beschwerdeentscheidung oder einer stattgebenden erstinstanzlichen Entscheidung242 ebenso frustriert wie durch die gerichtliche Abänderung einer stattgebenden erstinstanzlichen Entscheidung243. Um den sonstigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens effektives rechtliches Gehör zu gewähren244, weist ihnen Art. 134 VfO-EuG eine besondere Parteirolle im gerichtlichen Verfahren zu, die sich als privilegierte Streithilfe kennzeichnen läßt. Eine Privilegierung gegenüber dem Normalregime der „einfachen“ Streithilfe nach Art. 40 EuGH-Satzung i.V. m. Art. 115 f. VfO-EuG besteht dabei sowohl in bezug auf den Erwerb dieser Parteirolle (dazu un240
Zu einer Ausnahme unten bb) (1) (a. E.). Vgl. oben B. I. und II. 2. b). 242 D. h. der im Widerspruchsverfahren erfolgten Zurückweisung der Markenanmeldung bzw. der Nichtigerklärung der eingetragenen Gemeinschaftsmarke. 243 Im Sinne einer Zurückweisung des Widerspruchs bzw. des Antrags auf Nichtigerklärung der eingetragenen Gemeinschaftsmarke. 244 Dazu Jung, FS für U. Everling, S. 611 (620 f.); Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 22, Rn. 46. 241
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
ten bb)) als auch auf die hiermit verbundenen prozessualen Befugnisse (dazu unten cc)). Der sachliche Grund für diese Ausdifferenzierung liegt in der besonderen Interessenkonstellation in den inter partes Verfahren, die die Dissoziierung der von der Markeneintragung berührten öffentlichen und privaten Interessen widerspiegeln: Wie gezeigt, artikulieren die im Widerspruchs- bzw. im relativen Nichtigkeitsverfahren entscheidungserheblichen Rechtsnormen ausschließlich die Bestands- bzw. Veränderungsinteressen Privater – nämlich: des Markenanmelders bzw. -inhabers einerseits sowie bestimmter privater Dritter andererseits –, nicht aber öffentliche Interessen245. Daher muß diesen Privaten auch die Möglichkeit einer Verfahrensbeteiligung eingeräumt werden, die sich nicht „anzillarisch“ auf die Unterstützung einer Hauptpartei – d. h. typischerweise des HABM – beschränkt, wie dies bei der „einfachen“ Streithilfe der Fall ist. bb) Erwerb und Verlust der Parteirolle des privilegierten Streithelfers (1) Grundsatz: Beteiligtenstellung im Beschwerdeverfahren Das Primärrecht bestimmt in Art. 40 Abs. 2 EuGH-Satzung, daß Personen, die „ein berechtigtes Interesse am Ausgang eines [. . .] anhängigen Rechtstreits haben“, diesem beitreten können. Im konkreten Fall erwirbt ein Dritter die Parteirolle des – „einfachen“ – Streithelfers kraft Zulassung durch den Präsidenten nach Art. 116 Abs. 1 VfO-EuG. Dagegen bestimmt Art. 134 Abs. 1 VfO-EuG, daß „[d]ie Parteien des Verfahrens vor der Beschwerdekammer mit Ausnahme des Klägers [. . .] sich als Streithelfer am Verfahren vor dem Gericht beteiligen [können]“246. Zwar enthält die EuGH-Satzung keine spezifische Öffnungsklausel in bezug auf den Erwerb der Parteirolle des Streithelfers247. Gleichwohl ist Art. 134 Abs. 1 VfO-EuG mit Art. 40 Abs. 2 EuGH-Satzung kompatibel, da die sonstigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens aus den genannten Gründen248 ex hypothesi ein berechtigtes Interesse am Ausgang des gerichtlichen Verfahrens 245 Vgl. oben § 2 A. I. (bei Fn. 18) sowie 1. Teil, § 3 C. II. (bei u. nach Fn. 147). Streng genommen besteht daher keine Notwendigkeit für die Eröffnung einer derartigen privilegierten Streithilfe, wenn es sich bei dem sonstigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens um den Initiator eines absoluten Nichtigkeitsverfahrens handelt. Denn die dort entscheidungserheblichen Rechtsnormen artikulieren keine privaten Interessen des Verfahrensinitiators sondern allein öffentliche Interessen in Gestalt der „absoluten Eintragungshindernisse“, vgl. oben § 2 B. I. 2. (vor und in Fn. 80). 246 Nach Art. 133 Abs. 1 VfO-EuG werden die – sonstigen – Parteien des Beschwerdeverfahrens von der Einreichung einer gegen die Beschwerdeentscheidung gerichteten Klage unterrichtet und erhalten die Klageschrift zugestellt. 247 Anders als dies in bezug auf dessen prozessuale Befugnisse der Fall ist, vgl. unten cc). 248 Vgl. oben aa).
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nach Art. 63 GMV haben249. Da somit Art. 134 Abs. 1 VfO-EuG als „sekundärrechtliche“ Norm keinen gegenüber dem Primärrecht eigenständigen Regelungsgehalt aufweist sondern mit diesem partiell identisch ist, stellt sich die Frage nach dem Vorrang des Primärrechts gar nicht erst250. Allerdings ergibt sich aus der Formulierung von Art. 134 Abs. 1 VfO-EuG nicht eindeutig, ob die Parteirolle des privilegierten Streithelfers den sonstigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens kraft Gesetzes zuwächst oder erst durch deren effektive Teilnahme am gerichtlichen Verfahren, also durch die Vornahme entsprechender Verfahrenshandlungen wie insbesondere die Einreichung einer Klagebeantwortung nach Art. 135 Abs. 1 VfO-EuG. Die Praxis des EuG geht dahin, nur denjenigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens die Parteirolle des privilegierten Streithelfers zuzuerkennen, die effektiv am gerichtlichen Verfahren teilnehmen251. Diese Praxis erscheint jedoch nicht unproblematisch. Denn der sachliche Grund für die Beteiligung der übrigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens am gerichtlichen Verfahren, nämlich die Tatsache, daß die Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung – als potentieller Ausgang des gerichtlichen Verfahrens – eine nachteilige Veränderung ihrer verfahrensrechtlichen Situation bewirkt, besteht unabhängig von ihrer effektiven Teilnahme am gerichtlichen Verfahren. Deshalb sollten auch die prozessualen Rechtswirkungen der Stellung als Streithelfer, nämlich insbesondere die Einbeziehung in die Rechtskraftwirkung der gerichtlichen Entscheidung252, un249
Vgl. Kirschner/Klüpfel, Rn. 192 (vor Fn. 686). Vgl. oben 2. Teil, § 2 A.; normstrukturell betrachtet knüpft das sekundärrechtliche Rechtsschutzregime die Rechtmäßigkeit einer – primärrechtlich vorgesehenen – Verfahrenshandlung an eine im Primärrecht nicht normierte Bedingung, die an die Stelle einer strukturell gleichartigen primärrechtlich normierten Bedingung tritt; dabei ist im Falle der Erfüllung der sekundärrechtlich normierten Bedingung notwendigerweise auch eine strukturell gleichartige primärrechtlich normierte Bedingung erfüllt, während das umgekehrte nicht gilt, vgl. oben 2. Teil, § 1 C. (Konstellation 3). 251 s. einerseits EuG, Urt. v. 30. 6. 2004, GE Betz/HABM, T-107/02, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, und EuG, Urt. v. 6. 10. 2004, Vitakraft-Werke Wühmann/HABM, T-356/02, Slg. S. II-3445 (ein sonstiger Beteiligter des Beschwerdeverfahrens, der effektiv am gerichtlichen Verfahren teilnimmt, wird im Rubrum als „andere Beteiligte am Verfahren vor der Beschwerdekammer des HABM und Streithelferin vor dem Gericht“ bezeichnet) sowie andererseits EuG, Urt. v. 28. 4. 2004, Sunrider/HABM, T-124/02 u. T-156/02, Slg. S. II-1149, und EuG, Urt. v. 17. 3. 2004, El Corte Ingles/HABM, T-183/02 u. T-184/04, Slg. S. II-965 (ein sonstiger Beteiligter des Beschwerdeverfahrens, der nicht effektiv am gerichtlichen Verfahren teilnimmt, wird im Rubrum lediglich als „andere Beteiligte am Verfahren vor der Beschwerdekammer des HABM“ bezeichnet). 252 Eine Erstreckung der materiellen Rechtskraft auf den Streithelfer entspricht allgemeinen Grundsätzen und ist darüber hinaus auch unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie (Prinzip der Verfahrensvermeidung) funktionsnotwendig, eingehend hierzu Nissen, Die Intervention Dritter in Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 207 ff. 250
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
abhängig hiervon eintreten. Hierfür spricht auch ein Vergleich mit dem Institut der notwendigen Beiladung nach deutschem Verwaltungsprozeßrecht253. Auch dort erwirbt der Dritte seine Parteirolle nicht kraft eigener Willensbetätigung sondern kraft – gebundener – gerichtlicher Entscheidung254. Während der Kläger ex hypothesi durch die Beschwerdeentscheidung beschwert ist255, ist ein sonstiger Beteiligter des Beschwerdeverfahrens – und damit ein potentieller privilegierter Streithelfer – im Regelfall durch die Beschwerdeentscheidung begünstigt. Notwendig ist dies jedoch nicht. Wird der Beschwerde nur teilweise stattgegeben, so sind sowohl der Kläger als auch – mindestens – ein sonstiger Beteiligter des Beschwerdeverfahrens durch die Beschwerdeentscheidung teilweise beschwert. Schließlich ist auch denkbar, daß ein durch die Beschwerdeentscheidung beschwerter Beteiligter des Beschwerdeverfahrens, sich – anstatt selbst hiergegen Klage zu erheben – als privilegierter Streithelfer an dem gerichtlichen Verfahren beteiligt, das durch die Klage eines anderen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens initiiert worden ist256. Diese Konstellation kann als „opportunistische“ Streithilfe bezeichnet werden. (2) Sonderfall: Übertragung der für die Beteiligung am Beschwerdeverfahren maßgeblichen Rechtsposition Gelegentlich mag es vorkommen, daß ein sonstiger Beteiligter des Beschwerdeverfahren nach dessen Abschluß diejenige Rechtsposition an einen Dritten überträgt, auf die sich seine Beteiligung an dem erstinstanzlichen Verfahren vor dem HABM und damit indirekt auch am Beschwerdeverfahren257 gegründet hatte. Konkret geht es insbesondere um die Übertragung des vorbestehenden absoluten Privatrechts, aufgrund dessen der sonstige Beteiligte des Beschwerdeverfahrens das diesem zugrunde liegende Widerspruchs- bzw. relative Nichtigkeitsverfahren initiiert hatte oder aber um die Übertragung der eine Art zivilrechtlicher Anwartschaft vermittelnden Anmeldung der Gemeinschaftsmarke nach Art. 17 und 24 GMV. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob der Zedent – aufgrund seiner formalen Stellung als sonstiger Beteiligter des Beschwerdeverfahrens weiter als privilegierter Streithelfer am gerichtlichen Verfahren beteiligt bleiben oder ob der Zessionar als nunmehriger Träger des von der Be-
253
Dazu näher unten dd). Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 65, Rn. 29. 255 Vgl. oben B. II. 2. b). 256 Ein solcher Fall kann etwa dann eintreten, wenn die Beschwerdekammer einen von mehreren Widerspruchsführern gemeinsam eingelegten Widerspruch zurückgewiesen hat. 257 s. Art. 58 GMV; dazu oben I. 254
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schwerdeentscheidung betroffenen materiellen Interesses in das gerichtliche Verfahren eintreten soll. Die prozessualen Befugnisse des privilegierten Streithelfers reichen indes weit über diejenigen des „einfachen“ Streithelfers hinaus258. Könnte sich der Zessionar an dem gerichtlichen Verfahren lediglich als „einfacher“ Streithelfer beteiligen, so ermöglichte ihm dies nicht in vollem Umfang die Wahrnehmung seiner Rechte. Denn seine Stellung im gerichtlichen Verfahren entspräche nicht derjenigen der Hauptparteien, wohingegen der Zedent an der wirksamen Wahrnehmung dieser Rechte wegen deren Übertragung möglicherweise kein Interesse mehr hätte259. Zutreffend hat das EuG es daher praeter legem zugelassen, daß der Zessionar den Zedenten in der Parteirolle des privilegierten Streithelfers im gerichtlichen Verfahren ersetzt260. Die Ersetzung des Zedenten durch den Zessionar tritt jedoch nicht von Rechts wegen mit der Übertragung der fraglichen Rechtsposition ein sondern bedarf eines gerichtlichen Beschlusses in analoger Anwendung der Art. 115 f. VfO-EuG; stets ist die Zustimmung des bisherigen privilegierten Streithelfers erforderlich261. Letzteres entspricht dem allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsatz, wonach keinem Verfahrensbeteiligten diese Stellung gegen seinen Willen entzogen werden darf. cc) Prozessuale Befugnisse des privilegierten Streithelfers Nach allgemeinem Prozeßrecht beschränken sich die prozessualen Befugnisse eines – „einfachen“ – Streithelfers darauf, die Anträge einer Hauptpartei zu unterstützen262. Art. 53 Abs. 2 EuGH-Satzung enthält jedoch insofern eine Öffnungsklausel in bezug auf Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des geistigen Eigentums. Von dieser Ermächtigung hat der Gesetzgeber der Verfahrensordnung des EuG Gebrauch gemacht: Nach deren Art. 134 Abs. 2, 1. UA verfügen die privilegierten Streithelfer „über dieselben prozessualen Rechte wie die Parteien“. Operationalisiert wird diese Programmnorm durch die nachfolgenden
258
Dazu unten cc). Speziell im Fall einer Abtretung von Rechten aus der Anmeldung einer Gemeinschaftsmarke, hätte eine Beteiligung des Zessionars als „einfacher“ Streithelfer außerdem zur Folge, daß dessen Stellung vor dem HABM – vor dem er in Bezug auf die Anmeldung einer Gemeinschaftsmarke als der neue Rechtsinhaber und als solcher als vollwertige Partei im Widerspruchsverfahren angesehen wird – und seine Stellung vor dem Gericht auseinander fielen (vgl. EuG, Beschl. v. 5. 3. 2004, Hugo Boss/HABM, T94/02, Slg. S. II-813, Rn. 18). 260 EuG, Beschl. v. 5. 3. 2004, Hugo Boss/HABM, T-94/02, Slg. S. II-813. 261 EuG, Beschl. v. 5. 3. 2004, Hugo Boss/HABM, T-94/02, Slg. S. II-813, Rn. 29. 262 Vgl. Art. 40 Abs. 4 EuGH-Satzung sowie Art. 116 Abs. 4, 2. UA, lit. a) VfOEuG. 259
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Bestimmungen der Art. 134 Abs. 2, 2. UA und Abs. 3, 1. UA VfO-EuG. Danach kann ein privilegierter Streithelfer „Anträge stellen und Angriffs- und Verteidigungsmittel vorbringen, die gegenüber denen der Parteien eigenständig sind“ (Art. 134 Abs. 2, 2. UA VfO-EuG) und hat die Befugnis, „Anträge [zu] stellen, die auf Aufhebung oder Abänderung der Entscheidung der Beschwerdekammer in einem in der Klageschrift nicht geltend gemachten Punkt gerichtet sind, und Angriffs- und Verteidigungsmittel vor[zu]bringen, die in der Klageschrift nicht geltend gemacht sind“ (Art. 134 Abs. 3, 1. UA VfO-EuG). Die spezifischen prozessualen Befugnisse des privilegierten Streithelfers bestehen somit in der Vornahme derartiger „eigenständiger“ Prozeßhandlungen. Eigenständig in diesem Sinne ist eine Prozeßhandlung dann, wenn keine der Hauptparteien eine inhaltsgleiche Prozeßhandlung vorgenommen hat. Rekonstruiert man die genannten Bestimmungen rechtssystematisch, so verleiht Art. 134 Abs. 2, 2. UA VfO-EuG dem privilegierten Streithelfer die Befugnis zu eigenständigen Verfahrensanträgen sowie zu einem eigenständigen Sachantrag auf Klagabweisung, Art. 134 Abs. 3, 1. UA VfO-EuG diejenige zu eigenständigen Sachanträgen auf Sanktionierung der angefochtenen Beschwerdeentscheidung. Daneben steht dem privilegierten Streithelfer nach Art. 134 Abs. 2, 2. UA VfOEuG auch die unspezifische prozessuale Befugnis zu, – wie ein „einfacher“ Streithelfer – lediglich die Anträge einer Hauptpartei zu unterstützen. Für einen eigenständigen Sachantrag auf Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung wird man eine – ungeschriebene – parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzung des Inhalts postulieren müssen, daß der privilegierte Streithelfer selbst hierdurch beschwert ist. Denn es würde einen Wertungswiderspruch darstellen, wenn der privilegierte Streithelfer hinsichtlich seiner – akzessorischen263 – Anträge besser gestellt wäre als der Kläger nach Art. 63 Abs. 4 GMV hinsichtlich seiner – prinzipalen – Anträge264. Da auch der Kläger – ex hypothesi – durch die Beschwerdeentscheidung beschwert ist265, kommt ein derartiger eigenständiger Sachantrag des privilegierten Streithelfers auf Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung nur im Falle einer teilweisen Stattgabe der Beschwerde oder im Rahmen einer „opportunistischen“ Streithilfe266 in Betracht. Diese Konstellationen entsprechen strukturell derjenigen eines Anschlußrechtsmittels im Rahmen eines gerichtlichen Instanzenzugs267. 263
Dazu sogleich (bei Fn. 264). Vgl. oben C. I. 2. b) bb); in diesem Zusammenhang kann wiederum auf die Parallele zum deutschen Verwaltungsprozeßrecht verwiesen werden, nach dem Sachanträge des notwendig Beigeladenen eine Betroffenheit in eigenen Rechten voraussetzen Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 66, Rn. 6. 265 Vgl. oben B. II. 2. b). 266 Vgl. oben bb) (1) (a. E.). 267 Vgl. Jung, FS f. Everling, S. 611 ff. (622) sowie Kirschner/Klüpfel, Rn. 192; zur Frage der reformatio in peius in diesem Zusammenhang vgl. unten F. II. 3. d) aa). 264
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Insgesamt kumuliert also der privilegierte Streithelfer die prozessualen Befugnisse einer (Haupt-)Partei des gerichtlichen Verfahrens und diejenigen eines „einfachen“ Streithelfers. Allerdings sind seine eigenständigen Sach- (und a fortiori) Verfahrensanträge im Sinne der hier zugrundegelegten Definition268 akzessorischer Natur, da sie im Rahmen eines von einem anderen – nämlich dem Kläger – wirksam initiierten Verfahrens gestellt werden. Sie sind daher in ihrer Wirksamkeit von der Anhängigkeit dieses Verfahrens konditioniert; Art. 134 Abs. 3, 2. UA VfO-EuG bestimmt demgemäß, daß diese Anträge im Falle der Klagerücknahme gegenstandslos werden. Gleichwohl erscheint die praktische Bedeutung der spezifischen prozessualen Befugnisse des privilegierten Streithelfers eher gering. Denn, wie bereits ausgeführt, handelt es sich im Regelfall bei einem privilegierten Streithelfer um den durch die Beschwerdeentscheidung begünstigten Beteiligten des Beschwerdeverfahrens269. In diesem Fall kommt aber nach der Interessenlage des privilegierten Streithelfers nur ein Sachantrag auf Klagabweisung in Betracht, der allerdings nur dann eigenständiger Natur ist, wenn das beklagte HABM ausnahmsweise nicht die Abweisung der Klage beantragt. Nur für den praktisch wohl eher seltenen Fall, daß der privilegierte Streithelfer selbst durch die Beschwerdeentscheidung – mindestens teilweise – beschwert ist270, kommt nach der Interessenlage ein Sachantrag auf Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung in Betracht. Auf diese Konstellation beschränkt sich auch die praktische Bedeutung der spezifischen prozessualen Befugnis, „eigenständige Angriffsmittel“ geltend zu machen271. Eine größere praktische Bedeutung dürfte lediglich die spezifische prozessuale Befugnis erlangen, „eigenständige Verteidigungsmittel“ geltend zu machen, also insbesondere Tatsachenbehauptungen des Klägers substantiiert zu bestreiten und Beweistatsachen zur Stützung eines derartigen Bestreitens in das Verfahren einzuführen. Der verfahrensbestimmende Charakter eines derartigen Prozeßverhaltens ergibt sich daraus, daß die Bestimmungsnormen zur Identifizierung der entscheidungserheblichen Tatsachenhypothesen und Beweistatsachen für die Rechtsschutzentscheidungen der Gemeinschaftsgerichte im Sinne einer Mischung aus Beibringungs- und Amtsermittlungsgrundsatz ausgestaltet sind 272.
268
Vgl. oben 1. b) bb). Vgl. oben bb) (1). 270 Also im Fall der „opportunistischen“ Streithilfe, vgl. oben bb) (1) (a. E.). 271 Dabei handelt es sich der Sache nach um einen Aspekt des maßgeblichen Sanktionskriteriums in dem Sinne, daß die Beschwerdeentscheidung auch auf solche Fehler des Rechtsanwendungsprozesses hin überprüft wird, die nicht vom Kläger sondern von einem privilegierten Streithelfer gerügt worden sind; vgl. hierzu unten 4. Teil, § 1 B. 1. a) und § 3 A. 272 Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 21, Rn. 8 f.; Kirschner/Klüpfel, Rn. 114. 269
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
dd) Exkurs: Privilegierte Streithilfe im Vergleich zur notwendigen Beiladung nach deutschem Verwaltungsprozeßrecht Das Institut der privilegierten Streithilfe wird häufig mit demjenigen der notwendigen Beiladung nach deutschem Verwaltungsprozeßrecht der Sache nach weitgehend gleichgesetzt273. In der Tat liegt die ratio legis beider Institute in der Gewährung effektiven rechtlichen Gehörs für den vom Verfahrensausgang potentiell Betroffenen274. Auch die mit der jeweiligen Parteirolle verbundenen prozessualen Befugnisse sind weitgehend inhaltsgleich. Denn auch der notwendig Beigeladene hat die Befugnis zu eigenständigen Sachanträgen275. Hinsichtlich des Erwerbs der jeweiligen Parteirolle sind dagegen gewisse Nuancierungen angebracht, aus denen sich insgesamt ein gegenüber der notwendigen Beiladung stärker prozedural ausgerichtetes Grundverständnis der privilegierten Streithilfe ergibt. Die Parteirolle des notwendigen Beigeladenen kommt nach § 65 Abs. 2 VwGO demjenigen zu, der an dem „streitigen Rechtsverhältnis [. . .] derart beteiligt [ist], daß die Entscheidung auch [ihm] gegenüber nur einheitlich ergehen kann“. Damit wird der notwendig Beigeladene der Sache nach durch ein materielles Merkmal identifiziert, nämlich dadurch, daß seine Rechtsstellung durch den Erlaß der beantragten gerichtlichen Entscheidung nachteilig verändert würde. Art. 134 Abs. 1 VfO-EuG knüpft dagegen die Parteirolle des privilegierten Streithelfers – rein prozedural – an diejenige eines Beteiligten des Beschwerdeverfahrens. Die mit der Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung als dem potentiellen Ausgang des gerichtlichen Verfahrens verbundene nachteilige Veränderung der Rechtsstellung des Dritten ist hier also lediglich ratio legis, nicht aber – wie bei der notwendigen Beiladung – Tatbestandsmerkmal der Regelung. Weiterhin bestehen Unterschiede in bezug auf die Art der rechtlichen Situation des Dritten, deren potentielle nachteilige Veränderung zu seiner Einbeziehung in das gerichtliche Verfahren führt. Im Falle der notwendigen Beiladung handelt es sich um seine materiell-rechtliche Situation: Notwendig beizuladen ist derjenige, dem durch eine gestaltende gerichtliche Entscheidung eine Rechtsposition unmittelbar entzogen276 oder durch eine die Behörde verpflichtende gerichtliche Entscheidung ein Handlungsgebot mittelbar auferlegt wird277. Bei der Klage gegen eine Beschwerdeentscheidung nach Art. 63 GMV wird die ma273 Nissen, Die Intervention Dritter in Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 226; Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 22, Rn. 49; v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 22, Rn. 15. 274 Für die Beiladung Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 65, Rn. 4 und 7. 275 Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 66, Rn. 6.
§ 3 Speziell: Devolutive Rechtsschutzverfahren
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teriell-rechtliche Situation der übrigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens durch die Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung als potentieller Ausgang des gerichtlichen Verfahrens nicht notwendigerweise nachteilig verändert. Eine Veränderung der materiell-rechtlichen Situation tritt vielmehr nur dann ein, wenn das Gericht im Wege des „Durchgriffs“ die erstinstanzliche Entscheidung abändert278 und in diesem Rahmen selbst die Markenanmeldung zurückweist279 oder eine eingetragene Gemeinschaftsmarke für nichtig erklärt. Immerhin führt die Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung notwendigerweise zu einer nachteiligen Veränderung der verfahrensrechtlichen Situation des Dritten280. Treffender als durch einen Vergleich mit dem Institut der notwendigen Beiladung läßt sich die privilegierte Streithilfe als Ausprägung eines Grundsatzes der Kontinuität der Verfahrensbeteiligung zwischen Ausgangsverfahren und Rechtsschutzverfahren erfassen, wie er im deutschen Prozeßrecht etwa in § 66 GWB verankert ist, jedenfalls sofern man diese Vorschrift in rechtsschutzkonformer Weise korrigierend auslegt281. b) Sonstige private Dritte als „einfache“ Streithelfer Hat ein privater Dritter, der nicht bereits als sonstiger Beteiligter des Beschwerdeverfahrens die Parteirolle eines privilegierten Streithelfers einnimmt, gleichwohl ein berechtigtes Interesse am Ausgang des gerichtlichen Verfahrens i. S. v. Art. 40 Abs. 2 EuGH-Satzung, so kann er nach den allgemeinen Regeln als „einfacher“ Streithelfer zugelassen werden. Nach den allgemeinen Grundsätzen über die Auffangfunktion des primärrechtlichen Rechtsschutzregimes282 wird diese Möglichkeit also durch Art. 134 VfO-EuG nicht verdrängt283. In der 276 Musterbeispiel ist die Aufhebung einer Baugenehmigung auf die Anfechtungsklage eines Dritten, dazu Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 65, Rn. 19. 277 Musterbeispiel ist die Verpflichtung der Behörde zum Erlaß eines bauordnungsrechtlichen Verfügung auf die Verpflichtungsklage des Nachbarn, dazu Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 65, Rn. 22; kritisch zur Annahme einer notwendigen Beiladung in dieser Konstellation Nissen, Die Intervention Dritter in Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 67. 278 Dazu näher unten F. II. 3. a) (nach Fn. 352). 279 Hier liegt die nachteilige Veränderung der materiell-rechtlichen Situation des Markenanmelders in dem Verlust seiner – durch die Veröffentlichung der Markenanmeldung begründeten – Anwartschaft, vgl. auch oben Fn. 147. 280 Vgl. oben aa). 281 Dazu Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hg.): GWB – Kommentar, § 66, Rn. 1 u. 5. 282 Dazu oben 2. Teil, § 3 A. 283 Nissen, Die Intervention Dritter in Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 166 f.; Jung, FS für U. Everling, S. 611 (623).
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Rechtspraxis kommt die „einfache“ Streithilfe insbesondere für den Zessionar der für die Beteiligung am Beschwerdeverfahren maßgeblich gewesenen Rechtsposition in Betracht, sofern dieser entweder nicht die Ersetzung des Zedenten als privilegierter Streithelfer beantragt hat oder ein solcher Antrag – etwa wegen eines Widerspruchs des Zedenten – zurückgewiesen worden ist284. Denkbar ist auch, daß sich im Falle einer derartigen Ersetzung umgekehrt der Zedent nunmehr als „einfacher“ Streithelfer an dem gerichtlichen Verfahren beteiligt285.
F. Inhalt und Rechtswirkungen der Rechtsschutzentscheidung I. Beschwerde nach Art. 57 ff. GMV 1. Aufhebung und Abänderung der Entscheidungen der erstinstanzlichen Stellen Art. 62 Abs. 1 S. 2 GMV bestimmt, daß die Beschwerdekammer „entweder im Rahmen der Zuständigkeit der Dienststelle tätig [wird], die die angefochtene Entscheidung erlassen hat, oder [. . .] die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an diese Dienststelle zurück[verweist]“. Mit der zweiten Variante wird – implizit – die Befugnis der Beschwerdekammer zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung begründet286, mit der ersten die Befugnis zu deren Abänderung. Bestätigt wird diese Lektüre durch die Regel 48 lit. c) der Durchführungsverordnung zur GMV287, die ausdrücklich die Möglichkeit voraussetzt, daß die Beschwerdekammer die erstinstanzliche Entscheidung aufhebt oder abändert. Hinsichtlich der Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten steht der Beschwerdekammer ein weites Verfahrensermessen zu, innerhalb dessen insbesondere Raum für Erwägungen der Verfahrensökonomie ist288.
284 Vgl. oben bb) (2); als Beispiel aus der Rechtsprechung EuG, Urt. v. 31. 3. 2004, Interquell/HABM, T-20/02, Slg. S. II-1001, Rn. 13 (der Zessionar des vorbestehenden absoluten Privatrechts hat lediglich die Zulassung als „einfacher“ Streithelfer beantragt). 285 Ein berechtigtes Interesse am Ausgang des gerichtlichen Verfahrens i. S. v. Art. 40 Abs. 2 EuGH-Satzung kann der Zedent etwa aufgrund einer vertraglich übernommenen Garantie gegenüber dem Zessionar haben. 286 v. Kapff, in: Ekey/Kippel (Hg.): Markenrecht, Art. 62 GMV. 287 Die Vorschrift lautet: „Die Beschwerdeschrift muß folgende Angaben enthalten: [. . .] c) eine Erklärung, in der die angefochtene Entscheidung und der Umfang genannt werden, in dem ihre Änderung oder Aufhebung begehrt wird.“ 288 v. Kapff, in: Ekey/Kippel (Hg.): Markenrecht, Art. 62, Rn. 15; Bender, MarkenR 1999, S. 11 (17); vgl. auch § 130 VwGO zur parallelen Frage im Rahmen der Entscheidung des Berufungsgerichts; eingehend zum Prinzip der Verfahrensökonomie unten II. 3. b) aa).
§ 3 Speziell: Devolutive Rechtsschutzverfahren
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2. Aufhebung – Rechtswirkungen Hebt die Beschwerdekammer die erstinstanzliche Entscheidung lediglich auf, so wird dadurch zwar das Beschwerde-, nicht aber das erstinstanzliche Verfahren beendet. Letzteres wird vielmehr in dasjenige Stadium zurückversetzt, in dem es sich vor Erlaß der erstinstanzlichen Entscheidung befand und erst durch eine weitere Neuentscheidung der erstinstanzlichen Stelle beendet. Zwischen dieser Neuentscheidung und der Beschwerdeentscheidung besteht ein funktionaler Zusammenhang. Denn die Begründung der Beschwerdeentscheidung determiniert die tatsächliche und rechtliche Entscheidungsgrundlage der Neuentscheidung, da die erstinstanzliche Stelle nach Art. 62 Abs. 2 GMV an „die rechtliche Beurteilung der Beschwerdekammer, die der Entscheidung zugrunde gelegt ist, gebunden [ist] soweit der Tatbestand derselbe ist“. Diese Bindungswirkung entspricht strukturell der aus dem Bereich des Rechtsmittelrechts vertrauten Bindung des Instanzgerichts an die rechtliche Beurteilung durch das Rechtsmittelgericht, wie sie etwa für das Gemeinschaftsprozeßrecht in Art. 61 2. UA der EuGH-Satzung289 und für das deutsche Verwaltungsprozeßrecht in §§ 130 Abs. 2 und 144 Abs. 6 VwGO normiert ist. Eine ähnliche Bindungswirkung ergibt sich in der Sache aus der Befolgungspflicht, die Art. 233 EGV bzw. Art. 63 Abs. 6 GMV für den Fall der Aufhebung einer Entscheidung durch die Gemeinschaftsgerichte statuiert290. Es fragt sich allerdings, ob diese Bindungswirkung nur in rechtlicher Hinsicht besteht, wie es der Wortlaut von Art. 62 Abs. 2 GMV sowie die Analogie mit den revisionsrechtlichen Vorschriften nahelegen oder ob die erstinstanzlichen Stellen des HABM darüber hinaus auch an die tatsächliche Beurteilung der Beschwerdekammer gebunden sind. Generell ist eine Beschränkung der Bindungswirkung auf die von der Sanktionsinstanz vorgenommene rechtliche Beurteilung dann – und nur dann – sinnvoll, wenn diese ihrerseits an die tatsächliche Beurteilung der erstinstanzlichen Stelle gebunden ist, wie dies etwa im Bereich des Revisionsrechts der Fall ist. Da die Beschwerdekammer aber nicht an eine von der jeweiligen erstinstanzlichen Stelle des HABM vorgenommene tatsächliche Beurteilung gebunden ist sondern die angefochtene Entscheidung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht überprüft291, sprechen Erwägungen der Verfahrensökonomie dafür, die erstinstanzlichen Stellen auch an die tatsächliche Beurteilung der Beschwerdekammer zu binden. Denn nur so kann ein „Ping-PongEffekt“ vermieden werden, also eine wiederholte erfolgreiche Anfechtung einer 289 Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 28, Rn. 47; Bölhoff, Rechtsmittelverfahren, S. 131 ff. 290 Dazu unten II. 2. b). 291 Eingehend zu dem für die Beschwerdeentscheidung maßgeblichen Sanktionskriterium der regelungsbzogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher vgl. unten 4. Teil § 1 A. II. 3. und § 2 A.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Neuentscheidung der erstinstanzlichen Stelle, deren tatsächliche Beurteilung von derjenigen der Beschwerdekammer abweicht. In normstruktureller Hinsicht bedeutet die Bindungswirkung der Begründung der Beschwerdeentscheidung, daß die darin niedergelegten Ergebnisse des Rechtsanwendungsprozesses der Beschwerdekammer – also die Ergebnisse der den Erlaß der Beschwerdeentscheidung vorbereitenden Erkenntnis- bzw. Wertungsakte292 – für die Neuentscheidung zugrunde zulegen sind. Die erstinstanzliche Stelle ist also bei ihrer eigenen Rechtsanwendung von diesen Erkenntnisbzw. Wertungsakten dispensiert. Konkret handelt es sich um die Gewinnung erstens der rechtlichen Entscheidungsgrundlage – also um die Identifizierung der entscheidungserheblichen Rechtsnormen und deren Auslegung – sowie zweitens der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage, also um die Identifizierung der entscheidungserheblichen Tatsachenhypothesen und die Feststellung von deren normativer Maßgeblichkeit. Der Begründung der Beschwerdeentscheidung kommt somit eine Tatbestandswirkung für die Neuentscheidung zu. Daher kann sich die Frage stellen, ob der obsiegende Verfahrensbeteiligte – also der Beschwerdeführer – dann i. S. v. Art. 63 Abs. 4 GMV beschwert ist, wenn bestimmte Elemente dieser Begründung für ihn „ungünstiger“ sind als die in der Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung enthaltenen Ausführungen293. Konkret handelt es sich beispielsweise um den Fall, daß die Widerspruchsabteilung die Markenanmeldung mit der Begründung zurückweist, es bestehe Zeichenähnlichkeit sowie die Gefahr der Ausnutzung oder Beeinträchtigung der Unterscheidungskraft oder der Wertschätzung der vorbestehenden Marke durch die Benutzung der beantragten Marke (Art. 8 Abs. 5 GMV). In diesem Fall ist es denkbar, daß die Beschwerdekammer auf die Beschwerde des Markenanmelders die Widerspruchsentscheidung mit der Begründung aufhebt, weder liege das von der Widerspruchsabteilung angenommene relative Eintragungshindernis vor noch sei – trotz bestehender Warenähnlichkeit – der Grad der Zeichenähnlichkeit so hoch, daß Verwechslungsgefahr i. S. v. Art. 8 Abs. 1 lit. b) GMV gegeben sei. Die Feststellung, daß Warenähnlichkeit bestehe, ist dann für den im Ergebnis obsiegenden Beschwerdeführer „ungünstiger“ als es die Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung war.
292
Dazu im einzelnen unten 4. Teil, § 1 A. II. 1. a) aa). Das in der Praxis insoweit häufigste Beispiel hierfür ist dadurch gekennzeichnet, daß die Beschwerdekammer die Zurückweisung der Beschwerde damit begründet, der Markenanmeldung stehe neben dem vom Prüfer als erstinstanzliche Stelle angenommenen noch ein weiteres absolutes Eintragungshindernis entgegen. Die Rechtsprechung hat diese „Verschärfung der Begründung“ zugelassen, allerdings zur Wahrung des rechtlichen Gehörs des betroffenen Beteiligten einen rechtlichen Hinweis durch die Beschwerdekammer gefordert, siehe EuG, Urt. v. 16. 2. 2000, Procter&Gamble/ HABM (Seifenstück I), T-122/99, Slg. S. II-265, Rn. 26–28 und 39–47. 293
§ 3 Speziell: Devolutive Rechtsschutzverfahren
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Im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV gehen die Gemeinschaftsgerichte in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß grundsätzlich nur der verfügende Teil eines Rechtsakts bindende Rechtswirkungen erzeugen und folglich den tauglichen Gegenstand einer Nichtigkeitsklage darstellen kann, nicht aber Elemente der Begründung eines Rechtsakts294. Anders ist dies allerdings dann, wenn die Begründung mindestens potentiell für den Inhalt des Tenors einer den Kläger belastenden Entscheidung rechtserheblich ist. Dies ist zum einen dann der Fall, wenn die Begründung ausnahmsweise eine Tatbestandswirkung für nachfolgende Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren entfaltet295 und zum anderen, wenn eine Änderung der Begründung zugleich den materiellen Gehalt des verfügenden Teils einer Entscheidung zulasten des Klägers ändert296. Im vorliegenden Zusammenhang entfaltet die Begründung einer Beschwerdeentscheidung insofern eine – verfahrensinterne – Tatbestandswirkung, als sie die tatsächliche und rechtliche Entscheidungsgrundlage der Neuentscheidung determiniert. Allerdings ist zu beachten, daß für das Beschwerdeverfahren das Sanktionskriterium297 der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher maßgeblich ist. Nach diesem Sanktionskriterium wird aber die erstinstanzliche Entscheidung ohnehin nur dann aufgehoben, wenn im Zeitpunkt des Erlasses der Beschwerdeentscheidung keine derjenigen „positiven“ materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen vorliegt, die für den Erlaß einer neuen Sachentscheidung mit demselben Tenor wie die erstinstanzliche Entscheidung maßgeblich und als solche hinreichend sind298. Wird die erstinstanzliche Entscheidung unter Anwendung dieses Sanktionskriteriums aufgehoben, so ist es aber ausgeschlossen, daß die erstinstanzliche Stelle unter Bindung an die Begründung der Beschwerdeentscheidung eine den Beschwerdeführer belastende, d. h. aber mit der erstinstanzlichen Entscheidung tenorgleiche Neuentscheidung erläßt. Eine Neuentscheidung dieses Inhalts ist allenfalls dann denkbar, wenn sich die Sach- oder Rechtslage nach Erlaß der Beschwerdeentscheidung zulasten des Beschwerdeführers geändert hat; in diesem Fall ist die Entscheidungs294 EuG Urt. v. 30. 1. 2002, Nuove Industrie Molisane/Kommission, T-212/00, Slg. S. II-347, Rn. 36–48; Urt. v. 22. 3. 2000, Coca-Cola/Kommission, T-125/97 und T-127/ 97, Slg. S. II-1733, Rn. 77–92. Diese Rechtsprechung hat genau genommen zwei Dimensionen: Erstens ist die Belastungswirkung einer Entscheidung für den Kläger – im Rahmen der Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses – lediglich anhand des Tenors und nicht der Gründe zu bestimmen; zweitens sind die Gründe kein eigenständiger Rechtsschutzgegenstand. 295 EuG Urt. v. 22. 3. 2000, Coca-Cola/Kommission, T-125/97 und T-127/97, Slg. S. II-1733, Rn. 77–92. 296 EuG Urt. v. 20. 11. 2002, Lagardère/Kommission, T-251/00, Slg. S. II-4825, Rn. 63–68, unter Hinweis darauf, daß die Begründung eines Rechtsakts zu berücksichtigen ist, um zu bestimmen, was im verfügenden Teil entschieden worden ist. 297 Zu diesem Begriff vgl. oben 1. Teil, § 2 B. II. 298 Eingehend hierzu unten 4. Teil, § 1 A. II. 3. und § 2 A.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
grundlage der Neuentscheidung aber gerade nicht mehr durch die Begründung der Beschwerdeentscheidung determiniert, da deren Bindungswirkung rebus et iure sic stantibus begrenzt ist299. Da somit bestimmte Elemente der Begründung der Beschwerdeentscheidung, die für den obsiegenden Beschwerdeführer „ungünstiger“ sind als die in der Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung enthaltenen Ausführungen, niemals die rechtliche Grundlage für den Tenor einer diesen belastenden Entscheidung bilden können, ist der Beschwerdeführer durch eine derartige Begründung nicht i. S. v. Art. 63 Abs. 4 GMV beschwert. 3. Abänderung a) Allgemeines Im Gegensatz zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung hat deren Abänderung durch die Beschwerdekammer zur Folge, daß hierdurch auch das erstinstanzliche Verfahren beendet wird. Die Frage einer wie immer gearteten Bindungswirkung der Beschwerdeentscheidung für die erstinstanzliche Stelle stellt sich daher nicht. Dafür kommt der Frage nach den für die Abänderung maßgeblichen Rechtmäßigkeitsbedingungen eine umso größere Bedeutung zu. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Feststellung, daß die Abänderung einer Entscheidung bei normstruktureller Betrachtung eine Kumulation zweier verschiedener, jedoch in einer Entscheidung als regelungstechnischer Einheit uno actu zusammengefaßter Entscheidungskomponenten bildet. Dabei handelt es sich erstens um die Aufhebung der Ausgangsentscheidung300 sowie zweitens um den Erlaß einer Sachentscheidung – Neuentscheidung – mit anderem Inhalt als die Ausgangsentscheidung301. Hieraus folgt, daß die Abänderung einer Entscheidung grundsätzlich nur dann rechtmäßig ist, wenn die Rechtmäßigkeitsbedingungen für die Aufhebung und für die Neuentscheidung kumulativ vorliegen302. Unspezifische Rechtmäßigkeitsbedingungen für die Neuentscheidung sind diejenigen – materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen – Rechtmäßigkeitsbedingungen, die überhaupt für eine Entscheidung dieses Inhalts maßgeblich sind (dazu unten b)). Darüber hinaus hängt die Rechtmäßigkeit der Neuentscheidung von bestimmten, für diese spezifischen verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeitsbedingungen ab; eine besondere Bedeutung kommt hier dem 299 Auch die Bindungswirkung eines revisionsgerichtlichen Urteils besteht nur iure sic stante, vgl. Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 144, Rn. 125. 300 Also der den Rechtsschutzgegenstand bildenden Entscheidung. 301 Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. a). 302 Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. a).
§ 3 Speziell: Devolutive Rechtsschutzverfahren
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Verhältnis zwischen Beschwerdeantrag und Beschwerdeentscheidung zu (dazu unten c)). b) Maßgeblichkeit der allgemeinen Rechtmäßigkeitsbedingungen Die Maßgeblichkeit der allgemeinen Rechtmäßigkeitsbedingungen bedeutet erstens, daß der Inhalt der Neuentscheidung als solcher rechtlich vorgesehen sein muß. Speziell für die Abänderung von Entscheidungen der erstinstanzlichen Stellen des HABM durch die Beschwerdekammer erlangt dieses Erfordernis dann Bedeutung, wenn der Prüfer als erstinstanzliche Stelle die Markenanmeldung zurückgewiesen hat, weil ein absolutes Eintragungshindernis in bezug auf sämtliche oder einige der von der Markenanmeldung umfaßten Waren bzw. Dienstleistungen vorliege. Sanktioniert nun die Beschwerdekammer diese Entscheidung in toto, weil der Markenanmeldung in Wahrheit keine absoluten Eintragungshindernisse entgegenstehen, so ist eine Neuentscheidung welchen Inhalts auch immer und damit überhaupt eine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung ausgeschlossen. Denn wie bereits dargelegt303, ergeht, wenn der Markenanmeldung keine absoluten Eintragungshindernisse entgegenstehen, keine gesonderte Entscheidung etwa in Gestalt eines feststellenden positiven „Vorbescheids“. Die Beschwerdekammer ist in diesem Falle also auf die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung beschränkt. Auch dann, wenn die Entscheidung des Prüfers lediglich partiell sanktioniert wird, d. h. in bezug auf einige der Waren bzw. Dienstleistungen, für die die Markenanmeldung zurückgewiesen wurde, ist dies begriffsökonomisch einfacher als teilweise Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung zu konstruieren denn als deren Abänderung304. Weist dagegen die Beschwerdekammer die Markenanmeldung auch für solche Waren bzw. Dienstleistungen zurück, die von der negativen Entscheidung des Prüfers und damit auch von der Beschwerde nicht umfaßt waren, so handelt es sich um eine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung, die allerdings als reformatio in peius unzulässig ist305. Zweitens sind für die Neuentscheidung selbstverständlich grundsätzlich sämtliche Rechtsnormen maßgeblich, die ceteris paribus auch für die erstinstanzliche Stelle beim Erlaß einer Entscheidung dieses Inhalts maßgeblich wären. Die einzige – allerdings begriffsnotwendige – Ausnahme hiervon ist diejenige, daß die zuständige Entscheidungsinstanz eine andere, nämlich die Rechtsschutzinstanz ist. Besondere Bedeutung kommt hier dem das Ausgangsverfahren initiie303
Vgl. oben § 1 B. II. 2. Denn eine solche Abänderung wäre rechtskonstruktiv nichts anderes als eine vollständige Aufhebung der Prüferentscheidung, kumuliert mit einer Neuentscheidung in Gestalt einer partiellen Zurückweisung der Markenanmeldung. 305 Dazu sogleich unter c). 304
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
renden Antrag zu, an den die Beschwerdekammer im Rahmen einer Neuentscheidung ebenso gebunden ist wie die erstinstanzliche Stelle. Der Gegenstand der Neuentscheidung muß also mit dem Gegenstand des Antrags identisch sein, durch den das Ausgangsverfahren initiiert worden ist306. In dem hier zugrundegelegten Sinne bildet die betreffende Gemeinschaftsmarke selbst den Gegenstand eines Antrags auf Erlaß einer „an sich“ in die Zuständigkeit einer der erstinstanzlichen Stellen des HABM fallenden Entscheidung. Definiert wird die Gemeinschaftsmarke durch das geschützte Zeichen und dem ihm korrespondierenden „Verbotsbereich“307. Der so verstandene Gegenstand eines auf den Erlaß einer erstinstanzlichen Entscheidung gerichteten Antrags ist zu unterscheiden von dem Inhalt dieses Antrags, der in der Begründung der Gemeinschaftsmarke308 bestehen kann, in deren Versagung309 oder in deren Aufhebung310. Nicht erforderlich ist dagegen eine Identität der Gegenstände von Neuentscheidung und erstinstanzlicher Entscheidung. Hieraus ergibt sich eine wichtige Folgerung für den Fall, daß die erstinstanzliche Entscheidung infra petita ergangen ist, die erstinstanzliche Stelle den Antrag, durch den das vor ihr anhängige Verfahren initiiert worden ist, also nur unvollständig beschieden hat. In einer derartigen Situation ist die Beschwerdekammer befugt, diesen Antrag erstmals selbst – partiell – zu bescheiden. Drittens ist allerdings daran zu erinnern, daß die ebenfalls in der Abänderung liegende Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung das erstinstanzliche Verfahren in dasjenige Stadium zurückversetzt, in dem es sich vor Erlaß der erstinstanzlichen Entscheidung befunden hat311. Als Folge hiervon wirken Verfahrenshandlungen der Beteiligten wie auch der Entscheidungsinstanz fort312 und müssen daher im Beschwerdeverfahren nicht erneut vorgenommen werden313. Dies gilt allerdings nur, sofern sich die Rechts- oder Sachlage, auf die sich diese Verfahrenshandlungen beziehen, nicht zwischenzeitlich geändert hat.
306 Dies läßt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Richtet sich der Widerspruch gegen die Eintragung der Gemeinschaftsmarke für die Produkte P(1) bis P(3) und hat die Widerspruchsabteilung für die Produkte P(1) bis P(3) den Widerspruch zurückgewiesen so kann die Beschwerdekammer im Wege der Neuentscheidung die Markenanmeldung zwar für diese Produkte zurückweisen, nicht aber für das von der Markenanmeldung ebenfalls umfaßte Produkt P(4). 307 Vgl. oben 1. Teil, § 3 C. I. 308 Im Falle der Markenanmeldung. 309 Im Falle des Widerspruchs. 310 Im Falle des Antrags auf Nichtigerklärung der Gemeinschaftsmarke. 311 Vgl. oben a). 312 Beispielsweise Anträge, die Einführung von Tatsachen oder Beweismitteln in das Verfahren oder auch die Gewährung der Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu. 313 Dies entspricht strukturell der Situation im Berufungsverfahren im deutschen Prozeßrecht; vgl. Meyer-Ladewig, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 128, Rn. 3. Speziell für die zivilprozessuale Prozeßhand-
§ 3 Speziell: Devolutive Rechtsschutzverfahren
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c) Verhältnis zwischen Beschwerdeantrag und Beschwerdeentscheidung: Dispositionsmaxime und reformatio in peius aa) Grundsatz Von den beiden Komponenten der Abänderung stellt lediglich die Aufhebung der Ausgangsentscheidung eine Sanktionsentscheidung und damit eine Rechtsschutzentscheidung dar, nicht aber die Neuentscheidung. Letztere läßt sich vielmehr als „rechtsschutzakzessorische Entscheidung“ qualifizieren. Damit stellt sich die Frage, ob für sie gleichwohl – wie für die Aufhebung314 – die Dispositionsmaxime gilt, ob also deren Inhalt mit demjenigen der Beschwerde übereinstimmen – bzw. mindestens in diesem enthalten sein – muß. Die Antwort hierauf hängt von der kompetenzrechtlichen Frage nach dem Charakter der Entscheidungsbefugnis ab, die der Rechtsschutzinstanz in bezug auf den Gegenstand der Neuentscheidung zukommt. Die Entscheidungsbefugnis ist selbständig, wenn sie von einem anhängigen Rechtsschutzverfahren unabhängig ist, im anderen Falle dagegen rechtsschutzakzessorisch. Ist die Entscheidungsbefugnis der Rechtsschutzinstanz in diesem Sinne lediglich rechtsschutzakzessorisch, so betrifft diese Charakteristik nicht nur die Existenz sondern auch den Inhalt dieser Befugnis. Dies bedeutet, daß die Rechtsschutzinstanz für den Erlaß einer Neuentscheidung – in gleicher Weise wie für die Aufhebung als Rechtsschutzentscheidung – an den verfahrensinitiierenden Rechtsbehelf gebunden ist. Der Inhalt auch dieser Entscheidung muß also mit demjenigen des Antrags übereinstimmen, es gilt mithin die Dispositionsmaxime. Typischerweise verfügen nur solche Rechtsschutzinstanzen über eine selbständige Entscheidungsbefugnis, die nicht als gerichtliche oder gerichtsähnliche Instanzen weisungsfrei gestellt sind. So besitzt im deutschen Prozeßrecht beispielsweise die Widerspruchsbehörde im Rahmen der §§ 68 ff. VwGO eine selbständige Entscheidungsbefugnis, wenn es sich um die der Ausgangsbehörde hierarchisch übergeordnete Behörde handelt und zwar unabhängig davon, ob sie im Verhältnis zur Ausgangsbehörde über ein Selbsteintrittsrecht oder lediglich über eine Weisungsbefugnis verfügt315. Dagegen sind die Entscheidungsbefugnisse der aufgrund von § 73 Abs. 2 VwGO als Widerspruchsbehörden tätigen – weisungsfreien – Stadt- bzw. Kreisrechtsausschüsse lediglich rechtsschutzakzes-
lung des gerichtlichen Geständnisses bestimmt § 432 ZPO, daß das im ersten Rechtszug abgelegte Geständnis seine Wirksamkeit auch für die Berufungsinstanz behält. 314 Nach der hier zugrundegelegten Definition besteht eines der Merkmale des Begriffs der Rechtsschutzentscheidung in der Geltung der Dispositionsmaxime, vgl. oben 1. Teil, § 2 A. 315 Dolde, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 68, Rn. 51.
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sorischer Natur316. Gleiches gilt im Bereich der gerichtlichen Rechtsmittel für die Entscheidungsbefugnisse eines Berufungs- bzw. Revisionsgerichts317. Auch die Entscheidungsbefugnis der Beschwerdekammern des HABM in bezug auf den Gegenstand der Neuentscheidung – d. h. einer „an sich“ in die Zuständigkeit der erstinstanzlichen Stelle fallenden Entscheidung318 – ist durch ein anhängiges Beschwerdeverfahren konditioniert und damit rechtsschutzakzessorisch. Denn außerhalb eines solchen Verfahrens kommt den Beschwerdekammern – die, wie bereits ausgeführt, weisungsfreie Rechtsschutzinstanzen darstellen – weder ein Selbsteintrittsrecht zu noch eine Weisungsbefugnis gegenüber der erstinstanzlichen Stelle. Somit gilt die Dispositionsmaxime auch für den Erlaß einer Neuentscheidung durch die Beschwerdekammer. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß der normativ relevante Inhalt eines Rechtsschutzantrags nicht gegenständlich auf den konkreten Inhalt der Rechtsschutzentscheidung gerichtet ist sondern final auf deren Rechtswirkungen, nämlich auf die vollständige oder partielle Beseitigung der mit der erstinstanzlichen Entscheidung für den Kläger verbundenen Belastungswirkung319. Dies bedeutet, daß die Neuentscheidung diese Belastungswirkung vollständig oder partiell beseitigen muß. Hierfür spricht auch der Wortlaut von Art. 62 Abs. 1 S. 1 GMV, wonach die Beschwerdekammer „über die Beschwerde“ entscheidet320. Darüber hinaus läßt sich dem 12. Erwägungsgrund der GMV entnehmen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber die Funktion des Beschwerdeverfahrens in der Rechtsschutzgewährung gesehen hat321.
316 Dazu Dolde, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 68, Rn. 51 a. E. 317 Zum Berufungsverfahren Meyer-Ladewig, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 124, Rn. 62, zum Revisionsverfahren, ders., in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 129, Rn. 5. 318 Dazu oben b) (bei Fn. 302). 319 Wie bereits im Rahmen der Beschwerdebefugnis (oben C. I.) ausgeführt, ist ein sonstiger Beteiligter des erstinstanzlichen Verfahrens dann durch die verfahrensbeendende Entscheidung beschwert, wenn diese sein – typisiert verstandenes – Interesse am Verfahrensausgang frustriert, das im Falle des Verfahrensinitiators auf den Erlaß der beantragten Entscheidung gerichtet ist, im Falle der sonstigen Verfahrensbeteiligten auf eine Verschonung ihrer verfahrensunabhängig bestehenden Individualinteressen, d. h. darauf, daß die verfahrensbeendende Entscheidung für sie keine materielle Belastungswirkung entfaltet. 320 Vgl. zur Parallele im zivilprozessualen Berufungsverfahren (vor Inkrafttreten der ZPO-Reform) Zöller/Gummer, ZPO [23. Aufl.], § 528, Rn. 24. 321 Der Erwägungsgrund lautet: „Den von den Entscheidungen des Amtes in Markensachen Betroffenen ist ein rechtlicher Schutz zu gewähren, welcher der Eigenart des Markenrechts voll gerecht wird. Zu diesem Zweck ist vorgesehen, daß die Entscheidungen der Prüfer und der verschiedenen Abteilungen des Amtes mit der Beschwerde anfechtbar sind. Sofern die Dienststelle, deren Entscheidung angefochten wird, der Beschwerde nicht abhilft, legt sie die Beschwerde einer Beschwerdekammer des Amtes vor, die darüber entscheidet. [. . .]“.
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Aus der Geltung der Dispositionsmaxime folgt insbesondere, daß die Beschwerdekammer nicht zu einer reformatio in peius befugt ist. Denn die reformatio in peius ist allgemein dadurch gekennzeichnet, daß die Neuentscheidung im Vergleich zur Ausgangsentscheidung eine quantitativ gesteigerte Beschwer enthält. Im vorliegenden Zusammenhang handelt es sich also dann um eine rechtswidrige reformatio in peius, wenn die Beschwerdeentscheidung das – typisiert verstandene – Interesse des Beschwerdeführers am Ausgang des erstinstanzlichen Verfahrens in höherem Maße frustriert, als dies bereits durch die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung geschehen ist322. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß die Rechtswidrigkeit einer reformatio in peius durch die Beschwerdekammer allein in der Geltung der Dispositionsmaxime, d. h. verfahrensrechtlich begründet ist. Denn weder enthält die GMV eine ausdrückliche Regelung dieser Frage noch ergeben sich diesbezüglich – von marginalen Ausnahmen abgesehen – materiell-rechtliche Begrenzungen aus den allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen über die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Entscheidungen323. Andererseits gibt es 322 Dies ist dann der Fall, wenn die Beschwerdeentscheidung entweder den das erstinstanzliche Verfahren initiierenden Antrag (Markenanmeldung, Widerspruch, Antrag auf Nichtigerklärung) in einem noch weiteren Umfang zurückweist oder die Gemeinschaftsmarke in einem noch weiteren Umfang für nichtig erklärt, als dies die erstinstanzliche Entscheidung getan hatte. 323 Sofern man auch im Gemeinschaftsrecht anerkennt, daß die Rechtmäßigkeit einer reformatio in peius grundsätzlich – auch – eine Frage des materiellen allgemeinen Verwaltungsrechts ist, wie dies im deutschen Prozeßrecht für die Verböserung durch die Widerspruchsbehörde anerkannt ist, deren Zulässigkeit sich nach den §§ 48 f. VwVfG richtet, vgl. Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 687 ff.; Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, § 9, Rn. 15 ff. Unter dieser Voraussetzung gilt für das Gemeinschaftsmarkenrecht folgendes: Weist die Beschwerdekammer die Markenanmeldung in einem weiteren Umfang zurück, als dies der Prüfer bzw. die Widerspruchsabteilung getan hat, so ist dies zwar der Sache nach mit der Rücknahme einer begünstigenden rechtswidrigen Entscheidung zumindest vergleichbar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man, wie dies im deutschen Verwaltungsrecht vertreten wird, davon ausgeht, daß die Ersetzung eines belastenden Verwaltungsakts durch einen stärker belastenden Verwaltungsakt nach Maßgabe der für die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte geltenden Regeln zu behandeln ist (vgl. Erichsen, in: ders. (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16, Rn. 9 a. E.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9, Rn. 49; differenzierend Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 52 ff.). Denn die Zurückweisungsentscheidung der erstinstanzlichen Stelle enthält implizit die Feststellung, daß der Markenanmeldung ein Eintragungshindernis nur in dem entsprechenden Umfang entgegensteht. Da diese Rücknahme jedoch lediglich ex nunc wirkt, ist sie unbegrenzt zulässig (EuGH, Urt. v. 9. März 1978, Herpels/Kommission, Rs. 54/77, Slg. S. 585, Rn. 38; s. a. Lübbig, EuZW 2003, S. 233 ff. (236)). Weist die Beschwerdekammer den Widerspruch in einem weiteren Umfang zurück als die Widerspruchsabteilung, so ist dies gleichbedeutend mit einer Verringerung des Umfangs der Zurückweisung der Markenanmeldung; es gilt also ein „Prinzip der kommunizierenden Röhren“, vgl. Art. 43 Abs. 5 GMV. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die Zurückweisung der Markenanmeldung des Anmelders A. im Sinne der Vertrauensschutzrechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte eine „rechtsbegründende“ Entscheidung zugunsten des Wi-
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
im Gemeinschaftsrecht auch keine gewohnheitsrechtlich oder im Wege einer Gesamtanalogie begründbare Verschlechterungsbefugnis einer sekundärrechtlich derspruchsführers B. darstellt. Denn diese Rechtsprechung dürfte in dem Sinne zu verstehen sein, daß als „rechtsbegründend“ nur solche Entscheidungen angesehen werden, die die rechtliche Situation eines Beteiligten positiv verändern. So betrafen die jeweils zurückgenommenen Entscheidungen der Kommission die Festlegung von Produktionsquoten von Stahl (EuGH, Urt. v. 3. 3. 1982, Alpha Steel/Kommission, Rs. 14/81, Slg. S. 749) bzw. die Gewährung einer Gemeinschaftsbeihilfe im Rahmen des EAGFL, Abteilung Ausrichtung (EuGH, Urt. v. 26. 2. 1987, Consorzio Cooperative d’Abruzzo/ Kommission, Rs. 15/85, Slg. S. 1005, Rn. 12) oder die Feststellung, daß ein Unternehmenszusammenschluß mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist (EuG, Urt. v. 20.11. 2002, Lagardère/Kommission, T-251/00, Slg. S. II-4825, Rn. 139). Deutlich im Sinne einer Beschränkung auf Entscheidungen, durch die ein „wohlerworbenes Recht“ begründet wird, GA Mischo in seinen Schlußanträgen in der Rs. 15/85, Consorzio Cooperative d’Abruzzo/Kommission, Slg. 1987, S. 1014 (1024). Zwar verändert die Eintragung einer mit einer vorbestehenden Marke konkurrierenden Gemeinschaftsmarke die rechtliche Situation des Inhabers der vorbestehenden Marke nachteilig. Durch die Zurückweisung der entsprechenden Markenanmeldung wird die rechtliche Situation des Inhabers der vorbestehenden Marke dagegen nicht positiv verändert, sie bleibt vielmehr unberührt. Dieser Befund ist letztlich die „Kehrseite“ der Tatsache, daß das Widerspruchsverfahren in bezug auf das substantielle Verfahrensziel des Inhabers der vorbestehenden Marke – die Abwehr einer rechtsbeeinträchtigenden Markeneintragung – einen vorbeugenden Charakter aufweist. Selbst wenn man jedoch eine „rechtsbegründende“ Entscheidung annehmen wollte, so wäre deren – teilweise – Rücknahme durch die Beschwerdeentscheidung, da lediglich ex nunc wirkend, zulässig. Wenn die Beschwerdekammer den Antrag auf Nichtigerklärung einer eingetragenen Gemeinschaftsmarke in einem weiteren Umfang zurückweist als durch die Nichtigkeitsabteilung geschehen, so bedeutet dies „spiegelbildlich“ eine Verringerung des Umfangs der Nichtigerklärung (d. h. aber: eine teilweise Rücknahme) der Gemeinschaftsmarke; das „Prinzip der kommunizierenden Röhren“ ergibt sich für diese Konstellation aus Art. 56 Abs. 5 GMV. Die Nichtigerklärung einer mit einem vorbestehenden Verbotsrecht konkurrierenden Gemeinschaftsmarke dürfte nämlich im Sinne der zitierten Vertrauensschutzrechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte als eine „rechtsbegründende“ Entscheidung zugunsten des Inhabers des vorbestehenden Verbotsrechts zu qualifizieren sein. Denn sie bildet den actus contrarius zu der Eintragung der betreffenden Gemeinschaftsmarke, also zu einer Entscheidung, durch welche die rechtliche Situation des Inhabers des vorbestehenden Verbotsrechts nachteilig verändert wird. Für die Frage nach der zeitlichen Wirkung einer solchen – teilweisen – Rücknahme der Nichtigerklärung durch die Beschwerdeentscheidung, ist daran zu erinnern, daß die Nichtigerklärung erst mit Eintritt der Bestandskraft wirksam wird (vgl. oben Fn. 91). Dies spricht dafür, lediglich von einer ex nunc Wirkung der Rücknahme und damit von ihrer unproblematischen Zulässigkeit auszugehen. Erklärt schließlich die Beschwerdekammer die Gemeinschaftsmarke in einem weiteren Umfang für nichtig als dies die Nichtigkeitsabteilung getan hat, so ist dies eine mit der ex tunc wirkenden Rücknahme einer rechtswidrigen begünstigenden Entscheidung zumindest vergleichbare Situation. Jedoch entsprechen, wie bereits ausgeführt, die Regelungen der GMV zur Nichtigerklärung der Gemeinschaftsmarke den von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen über die ex tunc Rücknahme rechtswidriger begünstigender Entscheidungen. Dies gilt nicht nur für die Nichtigerklärung durch die erstinstanzliche Stelle, sondern auch für die verschlechternde Nichtigerklärung durch die Beschwerdekammer. Das Erfordernis einer angemessenen Frist ist hierbei aufgrund der Fristgebundenheit der Beschwerde in der Regel erfüllt; anders mag dies allenfalls bei einer überlangen Dauer des Beschwerdeverfahrens liegen.
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errichteten Rechtsschutzinstanz. Vielmehr hat der EuGH umgekehrt entschieden, daß etwa die Anstellungsbehörde bei ihrer Entscheidung über einen sekundärrechtlich vorgesehenen Rechtsbehelf324 nicht zum Nachteil des Beamten von ihrer ursprünglichen Entscheidung abweichen darf325. bb) Präzisierungen zur reformatio in peius Ist nach dem Gesagten eine reformatio in peius grundsätzlich unzulässig, so bedarf dieser Begriff doch einiger Präzisierungen: – Erstens kommt es für den „Günstigkeitsvergleich“ zwischen der Beschwerdeentscheidung und der erstinstanzlichen Entscheidung lediglich auf den Tenor der beiden Entscheidungen an. Ausführungen in der Begründung der Beschwerdeentscheidung, die für den Beschwerdeführer „ungünstiger“ sind als die in der Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung enthaltenen Ausführungen326, stellen somit keine reformatio in peius dar. Dies folgt zum einen mutatis mutandis aus der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte, wonach Elemente der Begründung eines Rechtsaktes i. d. R. mangels eigenständiger Rechtswirkungen – d. h. sofern sie nicht ausnahmsweise Tatbestandswirkung für nachfolgende Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren entwickeln – kein tauglicher Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sind327. Zum anderen kann die für das deutsche Recht vorgenommene Auslegung der
324 Konkret: Die Anrufung des Ärzteausschusses nach Art. 23 der „Regelung zur Sicherung der Beamten der Europäischen Gemeinschaften bei Unfällen und Berufskrankheiten“ (in einem Fall betreffend die Anerkennung eines bestimmten Grades der dauernden Teilinvalidität eines Beamten). 325 EuGH, Urt. v. 29. 11. 1984, Suss/Kommission, Rs. 265/83, Slg. S. 4029. In der Rechtsprechung zu der beamtenrechtlichen Beschwerde nach Art. 90 Abs. 2 des Statuts – die freilich keinen devolutiven Charakter aufweist – ist, soweit ersichtlich, die Frage einer reformatio in peius der erstinstanzlichen Entscheidung bisher nicht behandelt worden. 326 Das in der Praxis insoweit häufigste Beispiel hierfür ist dadurch gekennzeichnet, daß die Beschwerdekammer die Zurückweisung der Beschwerde damit begründet, der Markenanmeldung stehe neben dem vom Prüfer als erstinstanzliche Stelle angenommenen noch ein weiteres absolutes Eintragungshindernis entgegen. Die Rechtsprechung hat diese „Verschärfung der Begründung“ zugelassen, allerdings zur Wahrung des rechtlichen Gehörs des betroffenen Beteiligten einen rechtlichen Hinweis durch die Beschwerdekammer gefordert, siehe EuG, Urt. v. 16. 2. 2000, Procter&Gamble/ HABM (Seifenstück I), T-122/99, Slg. S. II-265, Rn. 26–28 und 39–47. 327 EuG Urt. v. 30. 1. 2002, Nuove Industrie Molisane/Kommission, T-212/00, Slg. S. II-347, Rn. 36–48; Urt. v. 22.3.2000, Coca-Cola/Kommission, T-125/97 und T-127/ 97, Slg. S. II-1733, Rn. 77–92. Diese Rechtsprechung hat genau genommen zwei Dimensionen: Erstens ist die Belastungswirkung einer Entscheidung für den Kläger – im Rahmen der Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses – lediglich anhand des Tenors und nicht der Gründe zu bestimmen; zweitens sind die Gründe kein eigenständiger Rechtsschutzgegenstand.
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Reichweite des Verschlechterungsverbots im gerichtlichen Berufungsverfahren328 im Sinne einer Parallelwertung herangezogen werden329. – Zweitens kommt es für diesen „Günstigkeitsvergleich“ selbstverständlich lediglich auf die Rechtsposition des Beschwerdeführers an. In einem inter partes Verfahren fallen daher solche Abänderungen der erstinstanzlichen Entscheidung nicht unter den Begriff der reformatio in peius, die nicht dem Beschwerdeführer sondern einem anderen Beteiligten des erstinstanzlichen Verfahrens – und damit auch des Beschwerdeverfahrens – nachteilig sind330. Derartige Abänderungen sind vielmehr notwendig mit einer Stattgabe der Beschwerde in einem inter partes Verfahren verbunden331. – Drittens handelt es sich nicht um eine Frage der reformatio in peius, wenn eine inter partes ergangene Beschwerdeentscheidung, die zulasten des Beschwerdeführers über den das erstinstanzliche Verfahren initiierenden Antrag – d. h. den Widerspruch oder den Antrag auf Nichtigerklärung der Marke – hinausgeht332. Vielmehr ist eine derartige Beschwerdeentscheidung bereits wegen Verletzung der für die erstinstanzliche Stelle – und damit auch für die an deren Stelle tretende Beschwerdekammer – geltenden Dispositionsmaxime rechtswidrig333. – Viertens stellt es keine unzulässige reformatio in peius dar, wenn beide Beteiligten eines erstinstanzlichen inter partes Verfahrens gegen die dieses beendende Sachentscheidung Beschwerde eingelegt haben und die Beschwerdekammer diese Entscheidung – im Rahmen der Anträge des einen Beteiligten – zulasten des anderen abändert. Denn auch in diesem Falle ist der Inhalt der Beschwerdeentscheidung durch denjenigen des verfahrensinitiierenden Antrags eines der Beschwerdeführer determiniert. Die Situation entspricht somit strukturell derjenigen im Falle eines Anschlußrechtsmittels334. 328
Vgl. Gummer, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, § 436, Rn. 9. Auch bei der Abgrenzung zwischen begünstigenden und belastenden Verwaltungsakten im Rahmen von §§ 48, 49 VwVfG kommt es lediglich auf den Tenor des Verwaltungsakts (die „Regelung“) und nicht auf dessen Begründung an, vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 127 und § 49, Rn. 20. 330 Beispiel: Auf die Beschwerde des Markenanmelders gegen die die Markenanmeldung zurückweisende Entscheidung der Widerspruchsabteilung weist die Beschwerdekammer den Widerspruch zurück. 331 Vgl. zur analogen Situation im Falle des von einem Dritten eingelegten Widerspruchs nach § 68 VwGO Dolde, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 68, Rn. 48. 332 Also z. B. im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens die Markenanmeldung in bezug auf solche Waren bzw. Dienstleistungen zurückweist, die nicht vom Widerspruch erfaßt sind. 333 EuG, Urt. v. 14. 10. 2003, Phillips-Van Heusen/HABM, T-292/01, Slg. S. II4335, Rn. 24. 334 Vgl. Zöller/Gummer, ZPO, § 428 [n. F.], Rn. 24; vgl. auch unten II. 3. d) aa). 329
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II. Klage nach Art. 63 GMV 1. Aufhebung und Abänderung der Entscheidung der Beschwerdekammer Nach Art. 63 Abs. 3 GMV kann das Gericht die Entscheidung der Beschwerdekammer aufheben oder abändern. Diese möglichen Rechtsschutzinhalte determinieren damit zugleich die Zulässigkeit und zwar näherhin die Statthaftigkeit der konkreten Klageanträge335. Nicht statthaft sind daher, ebenso wie im Rahmen von Art. 230 EGV336, Anträge, die darauf abzielen, das HABM zur Vornahme einer bestimmten Handlung zu verurteilen. Dies gilt beispielsweise für Anträge, mit denen die Eintragung der beantragten Gemeinschaftsmarke337, das Unterlassen einer solchen Eintragung338 oder auch die Veröffentlichung der Markenanmeldung339 angestrebt wird. Weiterhin sind Feststellungsanträge – z. B. des Inhalts, daß einer Markeneintragung ein bestimmtes Eintragungshindernis nicht entgegensteht – nicht statthaft340. 2. Aufhebung a) Allgemeines Hebt das Gericht die angefochtene Entscheidung der Beschwerdekammer auf, so lebt das Beschwerdeverfahren im Stadium vor Erlaß dieser Entscheidung wieder auf. Dies bedeutet zugleich, daß auch eine durch die Beschwerdekammer ggf. aufgehobene Sachentscheidung der erstinstanzlichen Stelle341 wieder auflebt. Allerdings treten etwaige verfahrensexterne Rechtswirkungen einer derartigen Sachentscheidung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht ein, da der Beschwerde aufschiebende Wirkung zukommt342.
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Vgl. allgemein Eyermann/Happ, VwGO, § 42, Rn. 22. Dazu Hackspiel, in: G/S, Art. 21 EuGH-Satzung, Rn. 10 f. m.w. N. (dort auch Fn. 31 ff.). 337 EuG, Urt. v. 31. 3. 2004, Fieldturf/HABM, T-216/02, Slg. S. II-1023, Rn. 15 f. 338 EuG, Urt. v. 23. 10. 2002, Institut für Lernsysteme/HABM, T-388/00, Slg. S. II4301, Rn. 19. 339 EuG, Urt. v. 31. 1. 2001, Mitsubishi HiTec Paper Bielefeld/HABM, T-331/99, Slg. S. II-433, Rn. 33. 340 Zur Parallele im Rahmen von Art. 230 EGV vgl. EuGH, Urt. v. 15. 12. 1983, Schoellershammer/Kommission, Rs. 283/82, Slg. S. 4219, Rn. 10 sowie EuG, Urt. v. 8. 1. 2003, Hirsch u. a./EZB, T-94/01, T-152/01 und T-286/01, SlgÖD S. II-1, Rn. 15 m.w. N.; s. a. Borchardt, in: Lenz, Art. 230 EGV, Rn. 2. 341 Z. B. die Zurückweisung des Widerspruchs. 342 Vgl. oben D. II. 336
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In Betracht kommt auch eine lediglich teilweise Aufhebung der Beschwerdeentscheidung. Dies ist mit der Dispositionsmaxime343 vereinbar344, da es ausreicht, daß der Inhalt der Rechtsschutzentscheidung in demjenigen des Rechtsschutzantrags enthalten ist. Vorausgesetzt ist dabei allerdings, daß die Beschwerdeentscheidung teilbar ist. Dies ist der Fall, wenn ihr Gegenstand, also die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung345, ebenfalls teilbar ist, also ein Bündel gleichartiger Entscheidungen darstellt, wie z. B. die Zurückweisung der Markenanmeldung für eine Mehrzahl von Waren oder Dienstleistungen. Schließlich sei in diesem Zusammenhang angemerkt, daß es nicht erforderlich ist, den Kläger vor einer teilweisen Aufhebung der Beschwerdeentscheidung besonders anzuhören346. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör erstreckt sich zwar auf alle tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte, die die Grundlage für die Entscheidungsfindung bilden, nicht aber auf den endgültigen Standpunkt, den die Entscheidungsinstanz einzunehmen beabsichtigt347. b) Rechtswirkungen der Aufhebung: „Befolgungspflicht“ nach Art. 63 Abs. 6 GMV Durch die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung wird das Beschwerdeverfahren in dasjenige Stadium zurückversetzt, in dem es sich vor Erlaß der erstinstanzlichen Entscheidung befand; beendet wird es erst durch eine weitere Neuentscheidung der Beschwerdekammer348. Im Rahmen dieser Neuentscheidung gibt nun Art. 63 Abs. 6 GMV der Beschwerdekammer auf, „die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben“. Die damit begründete „Befolgungspflicht“ entspricht inhaltlich derjenigen, die Art. 233 EGV349 im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV anordnet; das Aufhebungsurteil entfaltet in seinem Tenor und seiner Begründung somit eine Tatbestandswirkung. Ihrem Inhalt nach ist die „Befolgungspflicht“ umfassend auf die Beseitigung sämtlicher dem Kläger nachteiliger Folgen der aufgehobe343 Allgemein zur Geltung der Dispositionsmaxime in Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 21, Rn. 4; Kirschner/ Klüpfel, Rn. 108. 344 Zweifelnd v. Kapff, in: Ekey/Kippel (Hg.): Markenrecht, Art. 63 GMV, Rn. 103 ff. 345 Eingehend zur Bestimmung des Gegenstandes der Beschwerdeentscheidung vgl. unten c) aa). 346 Tendenziell anders v. Kapff, in: Ekey/Kippel (Hg.): Markenrecht, Art. 63 GMV, Rn. 103. 347 EuG, Urt. v. 21. 1. 1999, T-129/95, T-2/96 und T-97/96, Neue Maxhütte Stahlwerke und Lech-Stahlwerke/Kommission, Slg. S. II-17, Rn. 231; Urt. v. 3. 12. 2003, T16/02, Audi/HABM, Slg. S. II-5167, Rn. 75. 348 Zur parallelen Situation bei der Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung durch die Beschwerdekammer vgl. oben I. 2. 349 Dazu allgemein Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 27, Rn. 29.
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nen Entscheidung gerichtet350. Wenn es sich bei der aufgehobenen Entscheidung um die Zurückweisung eines Antrags handelt, d. h. wenn infolge der Aufhebung ein antragsinitiiertes Verwaltungsverfahren wieder auflebt, so schließt die Befolgungspflicht eine Bindungswirkung ein, die derjenigen entspricht, die in Art. 62 Abs. 2 GMV bzw. in Art. 61 2. UA der EuGH-Satzung normiert ist351. Im Ergebnis determiniert also die Begründung des Aufhebungsurteils die tatsächliche und rechtliche Entscheidungsgrundlage der Neuentscheidung, da die Beschwerdekammer an die diesem Urteil zugrundeliegende rechtliche Beurteilung des Gerichts gebunden ist. 3. Abänderung a) Grundlagen Ändert das Gericht eine Entscheidung der Beschwerdekammer ab, so hebt es, normstrukturell betrachtet, zum einen die den Rechtsschutzgegenstand bildende Entscheidung auf, zum anderen erläßt es eine Sachentscheidung – Neuentscheidung – mit anderem Inhalt als die Ausgangsentscheidung352. Das Gericht zieht also der Sache nach das Beschwerdeverfahren im Wege der Evokation an sich und beendet es durch die Abänderung der Beschwerdeentscheidung. Es besteht daher bereits rechtskonstruktiv kein Raum für eine „Befolgungspflicht“ der Beschwerdekammer nach Art. 63 Abs. 6 GMV; der Tatbestand dieser Bestimmung ist also entgegen ihrem Wortlaut auf den Fall der gerichtlichen Aufhebung der Beschwerdeentscheidung beschränkt353. In allgemeiner verfahrensrechtlicher Perspektive ist eine Abänderungsbefugnis der Rechtsschutzinstanz typisch für instantielle Rechtsschutzverfahren wie etwa die gerichtlichen Rechtsmittelverfahren des deutschen wie des Gemeinschaftsprozeßrechts354. Es zeigt sich somit – wie bereits bei dem Erfordernis einer Beschwer im Rahmen der Klagebefugnis355 –, daß die Klage nach Art. 63
350 EuGH, Urt. v. 14. 5. 1998, Rat/De Nil u. Impens, C-259/96 P, Slg. S. I-2915, Rn. 20; EuG, Urt. v. 6. 10. 2004, Vicente Nunez/Kommission, T-294/02, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 46, 79. 351 Vgl. oben I. 2.; zum Zusammenhang zwischen Art. 63 Abs. 6 und Art. 62 Abs. 2 GMV auch v. Kapff, in: Ekey/Kippel (Hg.): Markenrecht, Art. 63 GMV, Rn. 152. 352 Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. a). 353 Vgl. oben 2. b); allerdings kann Art. 62 Abs. 2 GMV zur Anwendung gelangen, dazu unten bei Fn. 354 f. 354 Zu letzterem vgl. Art. 61, 1. UA EuGH-Satzung: Die Abänderungsbefugnis folgt indirekt aus der Formulierung, daß der Gerichtshof „den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden kann, wenn dieser zur Entscheidung reif ist“. Zum Begriff der Entscheidungsreife näher unten c) bb). 355 Vgl. oben B. II. 2. b).
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GMV trotz ihres grundsätzlichen Charakters als Parteiverfahren gewisse Züge eines instantiellen Verfahrens aufweist. Da Art. 62 Abs. 1 S. 2 GMV der Beschwerdekammer die Befugnis verleiht, die Entscheidung der erstinstanzlichen Stelle entweder aufzuheben oder abzuändern356, ist auch eine „Durchgriffsabänderung“ denkbar, d. h. eine gerichtliche Neuentscheidung, durch die die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert wird. Im Wege der Abänderung dieser Entscheidung sind die Gemeinschaftsgerichte somit befugt, die Markenanmeldung, den Widerspruch oder den Antrag auf Nichtigerklärung der Marke selbst zurückzuweisen oder eine eingetragene Marke selbst für nichtig zu erklären. Hebt das Gericht die erstinstanzliche Entscheidung dagegen lediglich auf, so wird das erstinstanzliche Verfahren nicht durch die gerichtliche Neuentscheidung beendet sondern erst durch eine weitere Neuentscheidung der erstinstanzlichen Stelle357. In diesem Falle entfaltet das funktional an die Stelle einer Beschwerdeentscheidung tretende gerichtliche Urteil eine Bindungswirkung nach Art. 62 Abs. 2 GMV358: Die erstinstanzliche Stelle ist hinsichtlich der von ihr zu erlassenden verfahrensbeendenden Neuentscheidung an die rechtliche Beurteilung des Gerichts gebunden, die seiner Entscheidung zugrundeliegt359. Die gerichtliche Abänderung der Beschwerdeentscheidung ist nur dann materiell rechtmäßig, wenn die Rechtmäßigkeitsbedingungen für deren Aufhebung und für die Neuentscheidung kumulativ vorliegen360. Das Gericht hat seiner Neuentscheidung die im Zeitpunkt ihres Erlasses bestehende Sach- und Rechtslage zugrundezulegen. Dabei sind für die Neuentscheidung grundsätzlich – d. h. mit Ausnahme der Bestimmung der zuständigen Entscheidungsinstanz – sämtliche Rechtsnormen erheblich, die es überhaupt für eine Entscheidung dieses Inhalts sind. Darüber hinaus bestehen für die Neuentscheidung spezifische Rechtmäßigkeitsbedingungen. Zum einen sind dies materiell-rechtliche Rechtmäßigkeitsbedingungen in Gestalt eines inhaltlichen Bezugs zwischen Beschwerdeverfahren und gerichtlicher Entscheidung (dazu unten c)). Zum anderen sind die für die Neuentscheidung maßgeblichen verfahrensrechtlichen Rechtmäßigkeitsbedingungen für diese spezifisch; eine besondere Bedeutung
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Vgl. oben I. 1. Dazu Hackspiel, Mitteilungen, S. 532 (538). 358 Dazu oben I. 2. 359 Hebt also beispielsweise das Gericht die Zurückweisung der Markenanmeldung durch den Prüfer auf, so kann der Prüfer im Rahmen seiner nunmehr zu erlassenden verfahrensbeendenden Neuentscheidung die Markenanmeldung erneut zurückweisen und dies entweder auf eine andere Rechtsnorm – d. h. auf ein anderes „absolutes Eintragungshindernis“ – stützen oder auf dieselbe Rechtsnorm, jedoch auf andere Tatsachen oder Beweismittel. 360 Es gilt somit mutatis mutandis das zur Abänderungsbefugnis der Beschwerdekammer Ausgeführte, vgl. oben I. 3. a). 357
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kommt hier dem Verhältnis zwischen Klageantrag und gerichtlicher Entscheidung zu (dazu unten d)). b) Sachgründe für die Abänderungsbefugnis Unter dem Gesichtpunkt der Erforderlichkeit im Rahmen von Art. 308 EGV ist die Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte durch Sachgründe gerechtfertigt, nämlich insbesondere durch Erwägungen der Verfahrensökonomie361. aa) Allgemeine Bemerkungen zum Prinzip der Verfahrensökonomie Die Gemeinschaftsgerichte haben die Existenz eines Rechtsprinzips der Verfahrensökonomie punktuell anerkannt362, ohne allerdings seinen Inhalt, seine Struktur oder seinen normativen Zweck in abstracto genauer zu bestimmen. Die vorliegende Arbeit ist selbstverständlich nicht der Ort, um eine umfassende Analyse oder gar eine theoretische Fundierung dieses Prinzips zu leisten363. Vielmehr muß es bei einigen skizzenhaften Bemerkungen bewenden. Seinem Status nach bildet das Prinzip der Verfahrensökonomie eine regulative Idee bzw. ein Optimierungsgebot364 für den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung verfahrensrechtlicher Normen sowie ggf. für eine Entscheidungsinstanz bei deren Anwendung. Der Inhalt des Prinzip der Verfahrensökonomie besteht allgemein gesprochen in einer Minimierung der verfahrensinduzierten Transaktionskosten. Speziell für den Bereich der Rechtsschutzverfahren folgt der Unterscheidung zwischen substantiellem Verfahrensziel und potentiellem Verfahrensausgang365 diejenige zwischen den Prinzipien der Verfahrensvermeidung und der Verfahrensstraffung: 361 v. Kapff, in: Ekey/Kippel (Hg.): Markenrecht, Art. 63 GMV, Rn. 53; Jung, in: Plender (Hg.), European Courts, Rn. 38-09. 362 Zahlreiche jüngere Entscheidungen betreffen gerade das Gemeinschaftsmarkenrecht, vgl. etwa EuG, Urt. v. 16. 9. 2004, Metro-Goldwyn-Meyer/HABM, T-342/02, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 46; Urt. v. 28. 4. 2004, Sunrider/HABM, T-124/02 und T-156/02, Slg. S. II-1149, Rn. 58; Urt. v. 13. 6. 2002, Chef Revival/HABM, T-232/00, Slg. S. II-2749, Rn. 47. Aber auch in anderen Bereichen ist die Geltung dieses Prinzips anerkannt, vgl. EuGH, Urt. v. 7. 9. 1999, De Haan, C-61/98, Slg. S. I-5003, Rn. 49; Urt. v. 14. 9. 1999, Kommission/AssiDomän, C-310/ 97 P, Slg. S. I-5363, Rn. 61. 363 s. hierzu ansatzweise – fokussiert auf den Bereich des Zivilprozeßrechts – Schöpflin, Die Verfahrensökonomie – eine Prozeßmaxime, JurRundschau 2003, S. 485 ff. 364 Allgemein zum Charakter von Prinzipien als Optimierungsgeboten Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. 365 Vgl. oben 1. Teil, § 2 A. (nach Fn. 59).
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
– Das Prinzip der Verfahrensvermeidung geht von einer verfahrensexternen Makroperspektive aus. Bezugspunkt ist das substantielle Verfahrensziel des Verfahrensinitiators, also der Herbeiführung oder Verhinderung einer normativ relevanten Zustandsveränderung: Ein Verfahren vor einer bestimmten Entscheidungsinstanz soll nur dann eingeleitet bzw. fortgesetzt werden, wenn es zur Erreichung des substantiellen Verfahrenszieles geeignet und erforderlich ist. Eine wesentliche Ausprägung des Prinzips der Verfahrensvermeidung besteht in der parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses366. – Dagegen ist das Prinzip der Verfahrensstraffung durch eine verfahrensinterne Mikroperspektive gekennzeichnet. Bezugspunkt ist hier der potentielle Ausgang eines anhängigen Verfahrens – also entweder der Erlaß der beantragten Rechtsschutzentscheidung oder die Abweisung des Rechtsschutzantrags. Die verfahrensbeendende Entscheidung ist demnach unter Entfaltung des geringstmöglichen verfahrensmäßigen Aufwands zu erlassen. Dies betrifft sowohl den äußeren Entscheidungsprozeß – also die Gesamtheit der Verfahrenshandlungen367 – als auch den inneren Entscheidungsprozeß oder Rechtsanwendungsprozeß – also die Gesamtheit der dem Erlaß einer rechtlich determinierten Entscheidung notwendigerweise vorausgehenden Erkenntnis- bzw. Wertungsakte der Entscheidungsinstanz368. In struktureller Hinsicht kann der relevante verfahrensmäßige Aufwand entweder aus der Perspektive des „Rechtsstabs“ als des Inbegriffs der potentiell zuständigen Entscheidungsinstanzen bestimmt werden (systembezogene Dimension der Verfahrensökonomie) oder aber aus der Perspektive des Verfahrensinitiators und der sonstigen Verfahrensbeteiligten (parteibezogene Dimension der Verfahrensökonomie). Näherhin ist das Prinzip der Verfahrensstraffung der systembezogenen Dimension der Verfahrensökonomie zuzuordnen, soweit es Verfahrenshandlungen der Entscheidungsinstanz oder aber den inneren Entscheidungsprozeß betrifft: Es geht um eine Entlastung der Entscheidungsinstanz, vor der das betreffende Verfahren anhängig ist. Soweit das Prinzip der Verfahrensstraffung Verfahrenshandlungen der Parteien betrifft, ist es dagegen der parteibezogenen Dimension der Verfahrensökonomie zuzuordnen. Das Prinzip der Verfahrensvermeidung schließlich kann beiden Dimensionen der Verfahrensökonomie gleichermaßen zugeordnet werden. Seinem normativen Zweck nach dient das Prinzip der Verfahrensökonomie in seiner systembezogenen Dimension somit der optimalen Allokation knapper Entscheidungsressourcen. Dabei wird eine skalare Abstufung der Wertigkeit der 366 I. E. ebenso Schöpflin, JurRundschau 2003, S. 485 ff. (486); zum Rechtsschutzbedürfnis im Gemeinschaftsprozeßrecht näher oben 2. Teil, § 1 A. II. 2. 367 Vgl. unten 4. Teil, § 1 A. I. (bei Fn. 7). 368 Dazu im einzelnen unten 4. Teil, § 1 A. II. 1. a) aa).
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verschiedenen Entscheidungsinstanzen vorausgesetzt. Diese orientiert sich nicht nur an der Quantität und Qualität der eingesetzten Humanressourcen, sondern auch an dem für die jeweilige Entscheidungsinstanz „abstrakt“ rechtlich induzierten Verfahrensaufwand. Am Beispiel: Was durch eine monokratische administrative Instanz in formlosem Verfahren entschieden werden kann, braucht nicht durch eine kollegiale gerichtliche Instanz in einem förmlichen Verfahren aufgrund einer mündlichen Verhandlung entschieden zu werden. Dagegen bildet die parteibezogene Dimension der Verfahrensökonomie eine Ausprägung des Postulats effizienten Individualrechtsschutzes369. Die systembezogene und die parteibezogene Dimension der Verfahrensökonomie führen in der Regel zu gleichgerichteten Postulaten in bezug auf die Ausgestaltung bzw. die Anwendung verfahrensrechtlicher Normen. In bestimmten Konstellationen kann aber auch das Gegenteil der Fall sein370; hier ist es dann Aufgabe des Gesetzgebers bzw. der Entscheidungsinstanz, aufgrund einer wertenden Abwägung zu entscheiden, welcher Dimension der Vorrang zukommen soll. In der Regel wird es dabei nahe liegen, die systembezogene Dimension wegen ihrer Breitenwirkung als vorrangig anzusehen. bb) Verfahrensökonomische Rechtfertigung der Abänderungsbefugnis Bei einer Klage nach Art. 63 GMV ist dem gerichtlichen Verfahren bereits ein erstes Rechtsschutzverfahren in Gestalt des Beschwerdeverfahrens vorausgegangen, das durch diejenige Entscheidung beendet worden ist, die den Gegenstand der gerichtlichen Rechtsschutzentscheidung bildet. Hierin liegt ein charakteristischer Unterschied zu der allgemeinen Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV371. Es entspricht daher dem Prinzip der Verfahrensvermeidung in seiner parteibezogenen Dimension, das Beschwerdeverfahren durch den Erlaß einer gerichtlichen Neuentscheidung zu beenden und nicht durch die bloße Aufhebung der Beschwerdeentscheidung dessen Fortsetzung zu bewirken. Prima facie läuft dies allerdings umgekehrt dem Prinzip der Verfahrensstraffung – in seiner systembezogenen Dimension – zuwider. Denn da das Beschwerdeverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten im Wege der Evokation fortgesetzt wird372, wird
369 Dazu allgemein Schöpflin, JurRundschau 2003, S. 485 ff. (486); eine weitere Dimension dieses Postulats ist die Beschleunigung des Rechtsschutzes, dazu unten 5. Teil, § 1. 370 Für ein Beispiel aus dem Bereich des Gemeinschaftsmarkenrechts siehe unten c) bb). 371 So auch Jung, FS für U. Everling, S. 611 (615). Streng genommen gilt dies allerdings nur dann, wenn nicht im Einzelfall der Klagegegenstand in einer Entscheidung besteht, die ihrerseits ein sekundärrechtlich vorgesehenes Rechtsschutzverfahren beendet. 372 Vgl. oben a) (nach Fn. 348).
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
dasselbe Verfahrensergebnis mit einem höheren verfahrensmäßigen Aufwand herbeigeführt. Um gleichwohl beide Dimensionen des Prinzips der Verfahrensvermeidung weitestmöglich zur Deckung zu bringen, ist die Reichweite der Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte in zweifacher Weise eingeschränkt. So wird der gegenständliche Umfang, in dem die Gemeinschaftsgerichte befugt sind, das Beschwerdeverfahren an sich zu ziehen und fortzusetzen, dadurch beschränkt, daß der Gegenstand der gerichtlichen Neuentscheidung mit demjenigen der Beschwerdeentscheidung identisch sein muß (dazu unten c) aa)). Komplementär hierzu wird dem Prinzip der Verfahrensstraffung auch durch das Erfordernis der Entscheidungsreife (dazu unten c) bb)) Rechnung getragen: Insoweit das Beschwerdeverfahren demnach vor den Gemeinschaftsgerichten fortgesetzt wird, wird deren innerer Entscheidungsprozeß weitestgehend entlastet. Anders gewendet wird der Inhalt einer gerichtlichen Neuentscheidung der Sache nach auf eine „Ersatzvornahme“ der ansonsten der Beschwerdekammer nach Art. 63 Abs. 6 GMV obliegenden „Befolgungsentscheidung“373 beschränkt. c) Inhaltlicher Bezug zwischen Beschwerdeverfahren und gerichtlicher Entscheidung aa) Identität der Gegenstände von gerichtlicher Neuentscheidung und Beschwerdeentscheidung Der positiv-rechtliche Anknüpfungspunkt für das Erfordernis, daß der Gegenstand der Neuentscheidung mit demjenigen der Beschwerdeentscheidung identisch sein muß, findet sich in Art. 135 Abs. 4 VfO-EuG. Nach dieser Vorschrift können „die Schriftsätze der Parteien [. . .] den vor der Beschwerdekammer verhandelten Streitgegenstand nicht ändern“. Diese – durchaus mißverständliche – Vorschrift ist somit nicht redundant374, allerdings ist ihr Anwendungsbereich auf den vorliegenden Zusammenhang beschränkt. Das Verständnis dieses Erfordernisses setzt eine Bestimmung des Gegenstandes der Beschwerdeentscheidung voraus. Es liegt nahe, den erfolgten Erlaß einer bestimmten erstinstanzlichen Entscheidung als Gegenstand der Beschwerdeentscheidung anzusehen, insoweit sich die Beschwerdeentscheidung hierauf bezieht. Dies gilt sowohl dann, wenn die Beschwerdekammer dem Beschwerdeantrag stattgibt und die erstinstanzliche Entscheidung aufhebt oder abändert375, als auch dann, wenn sie die Beschwerde zurückweist. Im Regelfall ist der so 373 374
Vgl. oben 2. b). Anders Jung, FS für U. Everling, S. 611 (623, dort Fn. 50).
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bestimmte Gegenstand der Beschwerdeentscheidung identisch mit demjenigen des Beschwerdeantrags; anders ist dies allerdings im Falle einer infra petita oder ultra petita ergangenen Beschwerdeentscheidung376. Die vorliegende Fragestellung entspricht strukturell derjenigen nach der Bestimmung des Streit(bzw. Urteils-)Gegenstandes einer verfahrensbeendenden Entscheidung im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage. Hier geht die deutsche Prozeßrechtsdogmatik allerdings – bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze im einzelnen – im Kern übereinstimmend davon aus, daß dieser Gegenstand unter Rekurs auf den Grund für den Erlaß der betreffenden Entscheidung, also auf das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen des maßgeblichen Sanktionskriteriums zu bestimmen ist377. Demgegenüber bedarf es für die Bestimmung des Gegenstandes der Beschwerdeentscheidung eines derartigen Rekurses nicht. Dies beruht letztlich darauf, daß der Beschwerdeentscheidung – im Gegensatz zu den verfahrensbeendenden Entscheidungen im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage – keine verfahrensexterne Bindungswirkung im Sinne einer materiellen Rechtskraft zukommt. Das Erfordernis einer Identität der Gegenstände der gerichtlichen Neuentscheidung einerseits und der Beschwerdeentscheidung andererseits erlangt Bedeutung vor allem im Fall einer infra petita ergangenen Beschwerdeentscheidung. In bezug auf denjenigen Teil des Beschwerdeantrags, den die Beschwerdekammer nicht beschieden hat, bezieht sich die Beschwerdeentscheidung gerade nicht auf eine bestimmte erstinstanzliche Entscheidung und bleibt ihr Gegenstand hinter demjenigen des Beschwerdeantrags zurück. Die Gemeinschaftsgerichte sind daher nicht befugt, den Beschwerdeantrag insofern erstmals selbst – partiell – zu bescheiden und ihn entweder abzuweisen oder die erstinstanzliche Entscheidung aufzuheben oder abzuändern378. Der sachliche Grund hierfür liegt im Prinzip der Verfahrensvermeidung, unter Berücksichtigung der skalaren Abstufung der Wertigkeit der verschiedenen Entscheidungsinstanzen379: Zur Bescheidung des Beschwerdeantrags ist das aufwendige Verfahren
375 In diesem Fall stellt die Beschwerdeentscheidung eine Rechtsschutzmaßnahme dar (vgl. oben 1. Teil, § 2 A.); hier fällt der wie vorliegend bestimmte Gegenstand der Beschwerdeentscheidung zusammen mit dem „Rechtsschutzgegenstand“. 376 Da diese Möglichkeiten bestehen, trifft die von Clausing, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 121, Rn. 54, vertretene These nicht zu, wonach „die Annahme eines vom Streitgegenstand zu unterscheidenden Urteilsgegenstandes nicht erforderlich“ sei. 377 Vgl. Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 121, Rn. 59–61 („Anspruch des Klägers auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts“ bzw. „Rechtsbehauptung, der Kläger werde durch den angefochtenen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt, weil dieser rechtswidrig sei“). 378 Vgl. EuG, Urt. v. 2. 7. 2002, SAT.1/HABM (SAT.2), T-323/00, Slg. S. II-2839, Rn. 18–21. 379 Vgl. oben b) aa).
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
vor den Gemeinschaftsgerichten nicht erforderlich, dasjenige vor der Beschwerdekammer vielmehr ausreichend. Mithin reicht es nicht aus, daß der Gegenstand der Neuentscheidung lediglich mit demjenigen des Beschwerdeantrags identisch ist. Der erforderliche inhaltliche Bezug zwischen der von der Sanktionsinstanz erlassenen Neuentscheidung einerseits und dem erstinstanzlichen Verfahren andererseits ist somit im Verhältnis zwischen Beschwerdekammer und Gemeinschaftsgerichten enger als im Verhältnis zwischen den Beschwerdekammern und den erstinstanzliche Stellen des HABM. Denn, wie bereits ausgeführt, ist dann, wenn die erstinstanzliche Stelle den Antrag, durch den das vor ihr anhängige Verfahren initiiert worden ist, nur unvollständig beschieden hat, die Beschwerdekammer sehr wohl befugt, diesen Antrag erstmals selbst – partiell – zu bescheiden380. Dies zeigt, daß in diesem Verhältnis der Unterschied in der Wertigkeit der verschiedenen Entscheidungsinstanzen nicht hinreichend bedeutend ist, um der systembezogenen Dimension des Prinzips der Verfahrensvermeidung den Vorrang gegenüber dessen parteibezogener Dimension einzuräumen381. Insgesamt reicht somit die Befugnis der Gemeinschaftsgerichte zum Erlaß einer Neuentscheidung gegenständlich nicht über deren Befugnis zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung hinaus. Dies zeigt, daß auch die Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte gegenüber Entscheidungen der Beschwerdekammer nichts daran ändert, daß sie funktional auf die Rolle einer Sanktionsinstanz in bezug auf existierende Entscheidungen eines anderen Organs beschränkt und grundsätzlich nicht befugt sind, dessen genuine Aufgaben selbst wahrzunehmen. bb) Entscheidungsreife Das EuG hat in mehreren Entscheidungen postuliert, daß eine Abänderung einer Beschwerdeentscheidung durch die Gemeinschaftsgerichte nur dann in Betracht komme, wenn der Rechtsstreit entscheidungsreif ist382. In allgemein verfahrensrechtlicher Perspektive bildet das Erfordernis der Entscheidungsreife damit ein Beispiel dafür, wie eine legislative Ausdifferenzierung der Struktur des Rechtsschutzes – hier: die Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte –
380
Vgl. oben I. 3. b). Der parteibezogenen Dimension wird durch die Befugnis der Beschwerdekammer zur erstmaligen Bescheidung des das erstinstanzliche Verfahren initiierenden Antrags Rechnung getragen, da auf diese Weise dieses Verfahren beendet und damit seine Fortsetzung dem Verfahrensinitiator erspart wird. 382 EuG, Urt. v. 2. 7. 2002, SAT.1/HABM, T-323/00, Slg. S. II-2839, Rn. 18; Urt. v. 8. 7. 2004, MFE Marienfelde/HABM, T-334/01, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 63. 381
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durch die jurisprudentielle Entwicklung einschränkender Erfordernisse wieder relativiert wird. Der aus dem deutschen wie dem Gemeinschaftsprozeßrecht vertraute Begriff der „Entscheidungsreife“ entstammt dem Bereich des Revisionsrechts383. Dort liegt der sachliche Grund für das Erfordernis der Entscheidungsreife in der funktionalen Trennung zwischen den Verfahren vor einer Tatsacheninstanz einerseits und vor einer an deren Tatsachenfeststellungen gebundenen Revisionsinstanz andererseits. Hieraus ergibt sich zweierlei: Zum einen betrifft der Anwendungsbereich des Erfordernisses der Entscheidungsreife nur solche Abänderungen des angefochtenen Urteils, durch die das Revisionsgericht im Wege der „eigenen Sachentscheidung“384 den „Rechtsstreit“ abschließend entscheidet, d. h. der Sache nach das Verfahren vor der gerichtlichen Eingangsinstanz beendet385. Zum anderen wird der Inhalt des Begriffs der „Entscheidungsreife“ im Bereich des Revisionsrechts in dem Sinne verstanden, daß das Tatsachengericht bereits sämtliche für die Neuentscheidung des Revisionsgerichts erheblichen Tatsachen festgestellt hat386. Im Kontext der Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte nach Art. 63 Abs. 3 GMV findet das Erfordernis der Entscheidungsreife jedoch – ebenso wie dasjenige für die Identität der Regelungsgegenstände – seinen sachlichen Grund in Erwägungen der Verfahrensökonomie. Gemäß dem Prinzip der Verfahrensstraffung in seiner systembezogenen Dimension geht es um eine weitestgehende Entlastung des inneren Entscheidungsprozesses für die Gemeinschaftsgerichte, in einer Situation, in der das Beschwerdeverfahren im Rahmen der Abänderung einer Beschwerdeentscheidung vor diesen fortgesetzt wird387. Der Aspekt einer funktionalen Trennung zwischen einer Tatsachen- und einer Rechtsinstanz spielt dagegen im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle, da die Gemeinschaftsge-
383
Zum Gemeinschaftsprozeßrecht Bölhoff, Rechtsmittelverfahren, S. 94 ff.; Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 28, Rn. 42; zum deutschen Prozeßrecht etwa Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 144, Rn. 74–78. Teilweise wird auch der Begriff der „Spruchreife“ verwendet. 384 So spricht beispielsweise § 144 Abs. 3 Nr. 1 VwGO davon, daß das Bundesverwaltungsgericht „in der Sache selbst entscheidet“; zu dem Begriff der „eigenen Sachentscheidung“ Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 144, Rn. 73. 385 In terminologischer Hinsicht ist allerdings anzumerken, daß die Entscheidungsreife richtigerweise auf denjenigen Antrag bezogen werden sollte, durch den das jeweils „erstinstanzliche“ Verfahren initiiert worden ist, und nicht auf den „Rechtsstreit“. 386 Bölhoff, Rechtsmittelverfahren, S. 94 ff.; zum deutschen Prozeßrecht etwa Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 144, Rn. 74–78. 387 Vgl. oben b).
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richte gerade nicht an die Tatsachenfeststellungen der Beschwerdekammern gebunden sind388. Hieraus ergibt sich für den Inhalt des Begriff der „Entscheidungsreife“, daß dieser – anders als im Bereich des Revisionsrechts – in dem Sinne zu verstehen ist, daß das Gericht beim Erlaß einer Neuentscheidung nur diejenigen Rechtsnormen anwenden389 darf, auf deren Anwendung bereits der Erlaß der Beschwerdeentscheidung beruhte. Die Entlastung des inneren Entscheidungsprozesses für die Gemeinschaftsgerichte liegt hierbei darin, daß die auf den Erlaß der gerichtlichen Neuentscheidung abzielende Anwendung einer Rechtsnorm gewissermaßen die Kehrseite der Feststellung bildet, daß die Beschwerdekammer dieselbe Rechtsnorm unrichtig angewendet hat. Diese letztere Feststellung hat das Gericht aber nach dem maßgeblichen Sanktionskriterium der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses ohnehin bereits im Rahmen der Aufhebung der Beschwerdeentscheidung getroffen390. Konkret bedeutet das Erfordernis der Entscheidungsreife, daß dann, wenn die Beschwerdekammer eine bestimmte – von ihr für nicht entscheidungserheblich erachtete – Rechtsnorm nicht angewendet hat, das Gericht keine Neuentscheidung erlassen darf, für die die betreffende Rechtsnorm ihrerseits entscheidungserheblich ist391. Weiterhin folgt aus der verfahrensökonomischen Prägung des Erfordernisses der Entscheidungsreife, daß diese im vorliegenden Zusammenhang eine Rechtmäßigkeitsbedingung für jede Abänderung der Beschwerdenentscheidung bildet, also nicht nur für solche gerichtlichen Neuentscheidungen, durch die das Gericht das erstinstanzliche Verfahren beendet, indem es die Beschwerde zurückweist oder eine Durchgriffsabänderung392 vornimmt. 388
Jung, FS für Everling, S. 611 ff. (614, Fn. 14); Weis, EuR 1980, S, 273 ff.
(285). 389
Zum Begriff der Anwendung einer Rechtsnorm unten 4. Teil, § 1 A. II. 1. a)
aa). 390
Vgl. unten 4. Teil, § 3 A. Am Beispiel: Macht der Widerspruchsführer lediglich das relative Eintragungshindernis nach Art. 8 Abs. 1 lit. b) GMV geltend, so ist der Widerspruch zurückzuweisen, wenn entweder die Voraussetzungen dieser Bestimmung (also Waren- bzw. Dienstleistungsähnlichkeit und Verwechslungsgefahr) nicht vorliegen oder wenn die Widerspruchsmarke innerhalb der letzten 5 Jahre vor Veröffentlichung der Markenanmeldung nicht ernsthaft benutzt worden ist (Art. 43 Abs. 2 und 5 GMV). Hat die Beschwerdekammer die Zurückweisung des Widerspruchs – bzw. die Zurückweisung einer gegen die Zurückweisung des Widerspruchs gerichteten Beschwerde – lediglich auf die fehlende ernsthafte Benutzung der Widerspruchsmarke gestützt, nicht aber auf die fehlende Verwechslungsgefahr (also Art. 8 Abs. 1 lit. b) GMV nicht angewendet), so kann das Gericht die Beschwerdeentscheidung nicht dahingehend abändern, daß es die Markenanmeldung zurückweist. Denn für die Zurückweisung der Markenanmeldung ist – sofern lediglich das relative Eintragungshindernis nach Art. 8 Abs. 1 lit. b) GMV geltend gemacht wird – diese Rechtsnorm entscheidungserheblich, da das Vorliegen von Verwechslungsgefahr eine Voraussetzung für die Zurückweisung der Markenanmeldung ist. 391
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Wird somit dem Prinzip der Verfahrensstraffung in seiner systembezogenen Dimension Genüge getan, so gilt allerdings das Gegenteil in bezug auf das Prinzip der Verfahrensvermeidung in seiner parteibezogenen Dimension. Denn insofern die Gemeinschaftsgerichte die Beschwerdeentscheidung wegen mangelnder Entscheidungsreife nicht abändern sondern lediglich aufheben, hat dies zur Folge, daß das Beschwerdeverfahren fortgesetzt wird. Es ist jedoch legitim, daß die Rechtsprechung der systembezogenen Dimension des Prinzips der Verfahrensökonomie den Vorrang einräumt. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis wichtig, daß das Prinzip der Verfahrensvermeidung in seiner systembezogenen Dimension durch das Erfordernis der Entscheidungsreife keine Einbuße erleidet. Denn es ist zwar möglich aber nicht sicher, daß die Neuentscheidung der Beschwerdekammer den Kläger erneut beschwert und von diesem gerichtlich angefochten wird. d) Verhältnis zwischen Klageantrag und gerichtlicher Entscheidung: Dispositionsmaxime und reformatio in peius aa) Grundsatz Aus den Überlegungen, die bereits zum Verhältnis zwischen der Beschwerdekammer und der erstinstanzlichen Stelle angestellt worden sind393, ergibt sich a fortiori, daß die Dispositionsmaxime auch für die gerichtliche Neuentscheidung gilt und eine reformatio in peius damit unzulässig ist. Denn auch die Gemeinschaftsgerichte als weisungsfreie Rechtsschutzinstanzen verfügen lediglich über rechtsschutzakzessorische Entscheidungsbefugnisse in bezug auf den Gegenstand der Neuentscheidung, d. h. der „an sich“ in die Zuständigkeit der Beschwerdekammern fallenden Entscheidungen. Auch die bereits oben394 erläuterten Präzisierungen zur Reichweite der reformatio in peius sind im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung: So liegt insbesondere dann keine unzulässige reformatio in peius vor, wenn im Rahmen ein und desselben gerichtlichen Verfahrens beide Beteiligten des Beschwerdevererfahrens die Aufhebung bzw. Abänderung einer inter partes ergangenen Beschwerdeentscheidung in jeweils verschiedenen Punkten beantragen395 und das Gericht diese Entscheidung – im 392
Dazu oben a) (bei Fn. 352). Vgl. oben I. 3. c) aa). 394 Bei I. 3. c) bb). 395 Prozessual handelt es sich um die Situation, in der einer der Beteiligten des Beschwerdeverfahrens der Kläger im gerichtlichen Verfahren ist, der andere privilegierter Streithelfer, der nach Art. 134 VfO-EuG Abs. 3, 1. UA eigenständige Sachanträge stellen kann, vgl. oben E. II. 2. a) cc). Klagen dagegen beide Beteiligten des Beschwerdeverfahrens selbständig gegen die Beschwerdeentscheidung, so stellt sich das Problem der reformatio in peius von vornherein nicht, da diese nur innerhalb ein und desselben Verfahrens verboten ist. 393
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Rahmen der Anträge des einen Beteiligten – zu Lasten des anderen abändert. Denn auch in diesem Falle ist der Inhalt der gerichtlichen Entscheidung durch denjenigen des Antrags eines der Beteiligten des gerichtlichen Verfahrens determiniert (Situation des „Anschlußrechtsmittels“396). Wie bereits ausgeführt397, ist der normativ relevante Inhalt eines Rechtsschutzantrags auf die vollständige oder partielle Beseitigung der mit der erstinstanzlichen Entscheidung verbundenen Belastungswirkung gerichtet398 und somit nicht gegenständlich auf den konkreten Inhalt der Rechtsschutzentscheidung bezogen sondern final auf deren Rechtswirkungen. Der Erlaß einer Neuentscheidung eines bestimmten Inhalts erfordert also nicht, daß der Kläger einen spezifischen Antrag dahingehend stellt. Vielmehr umfaßt ein auf die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung gerichteter Antrag auch deren Abänderung399. bb) Vergleich mit Art. 229 EGV Eine Verschlechterungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte läßt sich auch nicht aus deren vorgeblicher Befugnis herleiten, im Rahmen von Verfahren der „uneingeschränkten Ermessensnachprüfung“ nach Art. 229 EGV eine von der Kommission verhängte Geldbuße heraufzusetzen. Denn zum einen handelt es sich bei den Befugnissen der Gemeinschaftsgerichte nach Art. 63 Abs. 3 GMV gerade nicht um eine „unbeschränkte Ermessensnachprüfung“ i. S. v. Art. 229 EGV400, so daß bereits aus diesem Grunde ein Schluß von der einen auf die andere Bestimmung hinsichtlich der reformatio in peius nicht zulässig ist.
396
Vgl. Jung, FS f. Everling, S. 611 ff. (622). Vgl. oben 1. Teil, § 2 A. (bei Fn. 59). 398 Wie bereits im Rahmen der Beschwerdebefugnis ausgeführt, ist ein Verfahrensbeteiligter dann durch die verfahrensbeendende Entscheidung beschwert, wenn diese sein – typisiert verstandenes – Interesse am Verfahrensausgang frustriert, das im Falle des Initiators des Verfahrens auf den Erlaß der beantragten Entscheidung gerichtet ist, im Falle der übrigen Verfahrensbeteiligten auf eine Verschonung von Beeinträchtigung ihrer „materiellen“ – d. h. verfahrensunabhängig bestehenden – Individualinteressen, insbesondere also auf eine Verschonung von nachteiligen Veränderungen ihrer materiell-rechtlichen Situation. 399 Vgl. die Prozeßlage, die dem Urteil des EuG vom 14. 10. 2003, Phillips-Van Heusen/HABM, T-292/01, Slg. S. II-4335, zugrundelag: Die Klägerin hatte die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung sowie die Zurückweisung des Widerspruchs – also eine Durchgriffsabänderung – beantragt, nicht aber die Zurückweisung der Beschwerde in „einfacher“ Abänderung der Beschwerdeentscheidung (s. Rn. 19 des Urteils). Gleichwohl hat das Gericht – lediglich – die Beschwerde zurückgewiesen (s. Rn. 59 der Urteilsgründe). 400 Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. II. 2. a). 397
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Zum anderen herrscht die Auffassung, wonach die Gemeinschaftsgerichte im Rahmen von Art. 229 EGV zu einer reformatio in peius befugt sind, zwar möglicherweise in der Literatur vor401, sie ist jedoch keineswegs unumstritten402. Vielmehr läßt sich argumentieren, daß die Gemeinschaftsgerichte auch in bezug auf die Verhängung von Geldbußen im Rahmen von Art. 229 EGV lediglich über eine rechtsschutzakzessorische Entscheidungsbefugnis verfügen403 und daß daher der Inhalt der von ihnen erlassenen Neuentscheidung mit demjenigen des verfahrensinitiierenden Klageantrags übereinstimmen – bzw. mindestens in diesem enthalten sein – muß404. Dies wäre nur dann anders, wenn man davon ausginge, daß Art. 229 EGV es erlaubte, den Gemeinschaftsgerichten eine selbständige Entscheidungsbefugnis in bezug auf den Gegenstand der Neuentscheidung einzuräumen, also die Befugnis, erstmals eine Geldbuße zu verhängen405. Eine derartige Auffassung kann sich allerdings lediglich auf den deutschsprachigen Wortlaut von Art. 229 EGV stützen406, nicht aber auf die französische und englische Fassung dieser Bestimmung407. Selbst wenn jedoch Art. 229 EGV in dieser Weise zu verstehen wäre, so enthält doch Art. 63 Abs. 3 GMV keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Gesetzgeber den Gemeinschaftsgerichten eine selbständige Entscheidungsbefugnis auch in bezug auf den Gegenstand der Neuentscheidung, d. h. der „an sich“ in die Zuständigkeit der Beschwerdekammern fallenden Entscheidungen einräumen wollte.
401 Borchardt, in: Lenz, Art. 229 EGV, Rn. 5 f.; Kirschner/Klüpfel, Rn. 61; Lasok, The European Court of Justice, S. 568, w. Nachw. bei Jakobs, Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Titel, § 32, Rn. 10, Fn. 28. 402 Gegen eine derartige Möglichkeit insbesondere Jakobs, Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Titel, § 32, Rn. 10; Daig, in: G/T/E, Art. 172, Rn. 12. 403 Art. 229 EGV begründet keine von Art. 230 EGV verschiedene Klageart sondern erweitert lediglich die Entscheidungsbefugnisse der Gemeinschaftsgerichte im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV, vgl. EuG, Beschl. v. 9. 11. 2004, FNICGV/Kommission, T-252/03, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 22–25. 404 So der Sache nach Jakobs, Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Titel, § 32, Rn. 10. 405 So Wils, World Competition 2004, S. 1 ff. (11); vgl. zu dieser Frage auch Borchardt, in: Lenz, Art. 229 EGV, Rn. 6. 406 Dort ist die Rede von der „Änderung oder Verhängung solcher Maßnahmen“. 407 In der französischen Fassung wird lediglich der Ausdruck „compétence de pleine juridiction“ verwendet, also selbst die Befugnis zur Abänderung einer Entscheidung nicht ausdrücklich erwähnt. Im gleichen Sinne spricht auch die englische Fassung lediglich von „unlimited jurisdiction“.
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§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen im Bereich des Gemeinschaftsmarkenrechts A. Anwendungsvorrang der Sanktionsnormen der GMV in der Überschneidungszone mit Art. 230 Abs. 4 EGV I. Ausgangspunkt Wie bereits ausgeführt, ergibt sich aus der allgemeinen richterrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses der Sache nach ein weitgehender Anwendungsvorrang sekundärrechtlicher Sanktionsnormen, deren Tatbestand sich mit demjenigen von Art. 230 EGV überschneidet408. Denn die gerichtliche Aufhebung einer den Kläger belastenden Entscheidung im Rahmen einer Nichtigkeitsklage ist dann nicht zum Schutz der klägerischen Individualinteressen i. e. S. erforderlich, wenn der Kläger die Möglichkeit hat, sein substantielles Verfahrensziel – in Gestalt der Beseitigung der Rechtswirkungen dieser Entscheidung – durch die Initiierung eines anderen Verfahrens zu erreichen, das gegenüber dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren weniger aufwendig, diesem jedoch gleichwertig ist. Zu untersuchen ist daher, in welchem Verhältnis die Tatbestände der verschiedenen Sanktionsnormen der GMV zu demjenigen von Art. 230 Abs. 4 EGV stehen, wobei daran zu erinnern ist, daß der Tatbestand einer Sanktionsnorm durch den Sanktionsgegenstand und das Sanktionskriterium konstituiert wird409. Was die Sanktionsnormen der GMV in bezug auf das relative Nichtigkeitsverfahren angeht, so stellt zwar die Eintragung einer Gemeinschaftsmarke eine „Entscheidung“ i. S. v. Art. 230 EGV dar. Denn sie erzeugt verbindliche Rechtswirkungen in Gestalt der Begründung eines subjektiven Privatrechts, besitzt also „Außenwirkung“ i. S. der Veränderung der Rechtssituation irgendeines Rechtssubjekts außerhalb ihres Urhebers410. Der Sanktionsgegenstand des relativen Nichtigkeitsverfahrens ist also gegenüber demjenigen der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV subordiniert. Dagegen verhalten sich die Sanktionskriterien im Falle des relativen Nichtigkeitsverfahrens einerseits und der Nichtigkeitsklage andererseits disjunkt zueinander: Im ersten Falle besteht es im Vorliegen eines Konkurrenzverhältnisses zwischen der eingetragenen Gemeinschaftsmarke und einem der maßgeblichen vorbestehenden absoluten Privatrechte, im zweiten Fall in der Rechtswidrigkeit einer Entscheidung, hier also der Markeneintragung. Aus Art. 45 S. 1 GMV ergibt sich indes, daß die Markeneintragung nur 408 409 410
Vgl. oben 2. Teil, § 3 A. Vgl. oben 2. Teil, § 3 A. Vgl. oben 2. Teil, § 1 A. I. (bei Fn. 6 u. 7).
§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen
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dann rechtswidrig ist, wenn sie erfolgt, obwohl ein Widerspruch erhoben und dieser nicht bestandskräftig zurückgewiesen wurde. Damit stehen auch die beiden Sanktionsnormen insgesamt411 im Verhältnis der Disjunktion zueinander. Für die Sanktionsnormen der GMV in bezug auf das Beschwerdeverfahren (Art. 57–62) sowie in bezug auf das Klageverfahren (Art. 63 Abs. 1) gilt dagegen folgendes: Die nach Art. 57 GMV beschwerdefähigen Entscheidungen der erstinstanzlichen Stellen412 sowie die von Art. 63 Abs. 1 GMV umfaßten Entscheidungen der Beschwerdekammer – also diejenigen Entscheidungen, durch die „über eine Beschwerde“ entschieden wird – stellen ebenfalls „Entscheidungen“ i. S. v. Art. 230 EGV dar. Die Sanktionsgegenstände dieser Verfahren sind also gegenüber demjenigen der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV subordiniert. Auch das Sanktionskriterium der Rechtswidrigkeit ist in beiden Fällen praktisch identisch413. Damit stehen die genannten Sanktionsnormen der GMV in einem Subordinationsverhältnis zu Art. 230 EGV. Für diesen Überschneidungsbereich ist somit zu untersuchen, inwieweit die Sanktionsverfahren der GMV den Schutz der klägerischen Individualinteressen in gleicher Weise bewirken wie eine gerichtliche Aufhebung der den Kläger belastenden Ausgangsentscheidung im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV. Diese Frage stellt sich selbstverständlich nur dann, wenn sämtliche sonstigen Elemente der Initiativberechtigung für eine derartige Nichtigkeitsklage – außer deren Erforderlichkeit i. e. S. – vorliegen. II. Nichtigkeitsklage gegen erstinstanzliche Entscheidungen 1. Vorliegen der sonstigen Elemente der Initiativberechtigung Für eine unmittelbar gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichtete Nichtigkeitsklage liegen die sonstigen Elemente der Initiativberechtigung außer deren Erforderlichkeit i. e. S. – nämlich individuelle und unmittelbare Betroffenheit – begrifflich notwendig bei einem Kläger vor, der auch zur Initiierung eines Beschwerdeverfahrens befugt ist, der also an dem erstinstanzlichen Verfahren beteiligt war und durch die dieses beendende Entscheidung beschwert ist414. 411 Da Sanktionsgegenstand und Sanktionskriterium kumulative Tatbestandsmerkmale einer Sanktionsnorm sind, sind zwei Sanktionsnormen bereits dann disjunkt, wenn die Disjunktion in bezug auf eines der Tatbestandsmerkmale besteht. 412 Also die Zurückweisung der Markenanmeldung oder des Widerspruchs, die Nichtigerklärung einer Marke bzw. die Zurückweisung eines Antrags auf Nichtigerklärung. 413 Auf die insofern bestehenden geringfügigen Unterschiede – vgl. dazu unten 4. Teil, § 1 A. II. – kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. 414 Vgl. oben § 3 B. I.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Bei anderen Klägern dürften die genannten sonstigen Elemente der Initiativberechtigung dagegen nur in seltenen Fällen vorliegen: – Wird die Markenanmeldung zurückgewiesen bzw. eine Gemeinschaftsmarke für nichtig erklärt, so sind praktisch kaum Konstellationen denkbar, in denen andere Personen als der Markenanmelder bzw. -inhaber hierdurch individuell betroffen sind415. – Durch die Zurückweisung des Widerspruchs sind zwar möglicherweise – ebenso wie durch die Markeneintragung selbst – die Inhaber vorbestehender und mit der beantragten Gemeinschaftsmarke konkurrierender absoluter Privatrechte individuell betroffen416. Ist der Kläger jedoch seinerseits zur Einleitung eines relativen Nichtigkeitsverfahrens befugt, so ist eine Nichtigkeitsklage gegen die – der Markeneintragung lediglich vorgelagerte – Zurückweisung des Widerspruchs zum Schutz der klägerischen Individualinteressen nicht – i. e. S. – erforderlich. Fehlt dem Kläger dagegen die Befugnis zur Einleitung eines relativen Nichtigkeitsverfahrens, so ist nicht nur die Erforderlichkeit – i. e. S. – einer gegen die Zurückweisung des Widerspruchs gerichteten Nichtigkeitsklage zu bejahen. Vielmehr dürfte der Kläger hierdurch auch unmittelbar betroffen sein. Grundsätzlich bewirkt zwar eine gegen die Markeneintragung – also gegen einen der Zurückweisung des Widerspruchs nachfolgenden Hoheitsakt – gerichtete Nichtigkeitsklage den erstrebten Schutz seiner Individualinteressen in gleicher Weise. Allerdings besteht dann, wenn der Widerspruch zurückgewiesen worden ist, kein Ermessensspielraum des HABM mehr hinsichtlich der Markeneintragung als der den Kläger eigentlich belastenden Verwaltungsentscheidung. In derartigen Konstellationen bejaht die Rechtsprechung aber üblicherweise die unmittelbare Betroffenheit des Klägers417. Allenfalls dann, wenn noch andere Widerspruchsverfahren gegen dieselbe Markenanmeldung anhängig sind, könnte eine unmittelbare Betroffenheit im Einzelfall unter Hinweis darauf verneint werden, daß noch nicht feststehe, ob die Markeneintragung tatsächlich erfolgen werde. Für 415 Dies gilt grundsätzlich auch für solche Kläger, die mit dem Markenanmelder bzw. -inhaber rechtlich und/oder wirtschaftlich verbunden sind, wie z. B. Gesellschafter oder Kreditgeber. Denn nach der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte wird eine in der Person (A) bestehende individuelle Betroffenheit lediglich dann auf eine andere – juristische – Person (B) erstreckt, wenn diese zu der Person (A) in engen rechtlichen Verbindungen konzernmäßiger Art steht, EuGH, Urt. v. 17. 3. 1983, Control Data/Kommission, Rs. 294/81, Slg. S. 911, Rn. 9 f.; Urt. v. 28. 2. 1984, Ford/Kommission, verb. Rs. 228 und 229/82, Slg. S. 1129, Rn. 12 f. Gegenbeispiel (Fehlen hinreichend enger rechtlicher Verbindungen bei einer „faktischen Gesellschaft bzw. bloßen Arbeitsgemeinschaft): EuGH, Urt. v. 28. 10. 1982, Groupement des agences de voyages/Kommission, Rs. 135/81, Slg. S. 3799, Rn. 7 (dort allerdings als Frage der unmittelbaren Betroffenheit behandelt). 416 s. unten B. II. 1. 417 Vgl. z. B. EuG, Beschl. v. 21. 10. 1993, Nutral/Kommission, T-492/92 R und T493/92 R, Slg. II-1023, Rn. 26–29.
§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen
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einen Vorrang einer Nichtigkeitsklage gegen die Zurückweisung des Widerspruchs gegenüber einer Nichtigkeitsklage gegen die Markeneintragung spricht überdies der Aspekt der Gewährleistung einer größtmöglichen Stabilität der durch die Markeneintragung zugleich begründeten und verlautbarten Rechtslage418, der eine weitgehende Einschränkung der gegen die Markeneintragung selbst gerichteten Rechtsbehelfe gebietet. – Auch durch die Zurückweisung des Antrags auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke sind die Inhaber vorbestehender und mit der beantragten Gemeinschaftsmarke konkurrierender absoluter Privatrechte individuell betroffen. Einem Kläger fehlt jedoch das Rechtsschutzbedürfnis für eine Nichtigkeitsklage, wenn er seinerseits ebenfalls zur Initiierung eines relativen Nichtigkeitsverfahrens befugt ist419. Allerdings dürfte auch die von einem nicht hierzu befugten Kläger erhobene Nichtigkeitsklage unzulässig sein, sofern die Markeneintragung – wie regelmäßig – dem Kläger gegenüber im Zeitpunkt der Klageerhebung bereits bestandskräftig geworden ist420. Denn der Antrag auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke ist der Sache nach auf das Wiederaufgreifen des Eintragungsverfahrens gerichtet421. Nach ständiger Rechtsprechung besteht aber nur bei Vorliegen wesentlicher neuer Tatsachen ein Anspruch auf Wiederaufgreifen eines Verwaltungsverfahrens mit dem Ziel der Überprüfung einer bestandskräftigen Entscheidung422. Diese Durchbrechung der Bestandskraft der Markeneintragung wirkt indes ratione personae lediglich zugunsten derjenigen Dritten, die zur Initiierung eines relativen Nichtigkeitsverfahrens befugt sind. Andere Dritte können daher nicht die Bestandskraft der Markeneintragung dadurch durchbrechen, daß sie die Zurückweisung eines zulässigerweise erhobenen Antrags auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke mit einer Nichtigkeitsklage anfechten. 2. Anwendungsvorrang der Sanktionsnormen in bezug auf das Beschwerdeverfahren Hebt die Beschwerdekammer die Entscheidung einer erstinstanzlichen Stelle auf oder ändert sie ab, so werden hierdurch die Rechtswirkungen dieser Entscheidung ex tunc beseitigt. Das substantielle Verfahrensziel des Klägers einer 418
Vgl. auch oben bei Fn. 75 u. 91. Vgl. oben II. 2. 420 Für den Zeitpunkt des Eintritts der Bestandskraft ist in analoger Anwendung von Art. 254 EGV darauf abzustellen, daß die Markeneintragung jedem Dritten gegenüber mit Veröffentlichung im Gemeinschaftsmarkenregister Wirksamkeit erlangt. 421 Vgl. oben § 2 B. I. 422 Z. B. EuGH, Beschl. v. 18. 11. 1999, Progoulis/Kommission, C-431/98 P, Slg. S. I-3389, Rn. 36; EuG, Beschl. v. 13. 12. 2002, van Dyck/Kommission, T-112/02, SlgÖD S. II-1527, Rn. 54–56. 419
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
gegen diese Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage wird damit erreicht. Die Initiierung eines Beschwerdeverfahrens kann für den Kläger allerdings natürlich nur dann ein vorrangig zu beschreitender Weg zur Erreichung dieses substantiellen Verfahrensziels sein, wenn er hierzu befugt ist, also an dem erstinstanzlichen Verfahren beteiligt war und durch die dieses beendende Entscheidung beschwert ist423. Ist der Kläger demnach zur Initiierung eines Beschwerdeverfahrens befugt, so fragt sich daher, ob dieses Verfahren tatsächlich einer gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage gleichwertig, jedoch im Sinne der Verfahrensökonomie424 weniger aufwendig ist. Hinsichtlich des verfahrensökonomischen Aufwands kann auf die allgemeinen Ausführungen zum Prinzip der Verfahrensvermeidung und insbesondere zur skalaren Abstufung der Wertigkeit der verschiedenen Entscheidungsinstanzen verwiesen werden425. Danach ist offensichtlich, daß das Beschwerdeverfahren vor einer Beschwerdekammer des HABM mit einem geringeren Aufwand verbunden ist als ein Klageverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten. Wie bereits ausgeführt426, ist ein sekundärrechtliches Sanktionsverfahren, das die Beseitigung der Rechtswirkungen einer belastenden Entscheidung ermöglicht, nur unter zwei Voraussetzungen einer unmittelbar hiergegen gerichteten Nichtigkeitsklage gleichwertig: Erstens muß der Initiator dieses Verfahrens für den Fall, daß sein Antrag entweder abgewiesen oder aber nicht – in angemessener Frist – beschieden wird, befugt sein, ein Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten zu initiieren, das einer solchen Nichtigkeitsklage in bezug auf die Substanzelemente des Rechtsschutzes – d. h. das Sanktionskriterium und die tatsächliche Entscheidungsgrundlage – entspricht. Zweitens darf in dieser Situation die Erreichung des substantiellen Verfahrensziels des Klägers – d. h. die Beseitigung der Rechtswirkungen der ihn belastenden Entscheidung – nicht mit einem größeren verfahrensmäßigen Aufwand verbunden sein, als dies bei einer unmittelbar gegen diese Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage der Fall wäre. Das Beschwerdeverfahren ist einer gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage allerdings nicht vollständig sondern nur annähernd gleichwertig: – Für die Konstellation der Zurückweisung der Beschwerde ist zwar die Klage nach Art. 63 GMV eröffnet, die unmittelbar nur eine Sanktionierung der zurückweisenden Beschwerdeentscheidung, mittelbar damit aber auch der be423 424 425 426
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
oben oben oben oben
§ 3 B. I. § 3 F. II. 3. b) aa). § 3 F. II. 3. b) aa) (vor Fn. 365). 2. Teil, § 3 A. (vor Fn. 200).
§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen
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lastenden erstinstanzlichen Entscheidung ermöglicht. Eine Einschränkung ist aber insofern vorzunehmen, als – wie noch näher zu zeigen sein wird427 – das Sanktionskriterium des Beschwerdeverfahrens enger, d. h. voraussetzungsreicher gefaßt ist als das dasjenige der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV. Somit bleiben diejenigen erstinstanzlichen Entscheidung im Ergebnis sanktionslos, die zwar das Sanktionskriterium der Nichtigkeitsklage, nicht aber dasjenige des Beschwerdeverfahrens erfüllen. – Auch in bezug auf die Konstellation der Nichtbescheidung der Beschwerde sind gewisse Zweifel daran erlaubt, ob das Beschwerdeverfahren einer unmittelbar gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage gleichwertig ist. Zwar steht dem Initiator des Beschwerdeverfahrens in diesem Fall die Untätigkeitsklage nach Art. 232 EGV offen428. Richtigerweise hat das Gericht im Rahmen einer derartigen Klage aber lediglich festzustellen, daß die Ausgangsinstanz – hier also: die Beschwerdekammer – es rechtswidrig unterlassen hat, den Antrag zu bescheiden429. Wird die Beschwerde nicht beschieden, so ist der Beschwerdeführer somit genötigt, zunächst ein Feststellungsurteil nach Art. 232 EGV zu erwirken und sodann – im Fall der nunmehrigen Zurückweisung seiner Beschwerde – den in der GMV vorgesehenen Rechtbehelf der Klage nach Art. 63 GMV einzulegen. Dem Initiator des Beschwerdeverfahrens steht somit zwar im Ergebnis ein Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten offen, das einer unmittelbar gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage in bezug auf die Substanzelemente des Rechtsschutzes – d. h. das Sanktionskriterium und die tatsächliche Entscheidungsgrundlage – entspricht. Der hierfür erforderliche verfahrensmäßige Aufwand in Gestalt der Initiierung zweier sukzessiver Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten ist jedoch erheblich größer als bei einer unmittelbar gegen diese Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage. Allerdings dürfte diese Lücke in der Gleichwertigkeit zwischen dem Beschwerdeverfahren einerseits und einer unmittelbar gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage andererseits eher theoretischer Natur sein. Denn jedenfalls in der bisherigen Rechtspraxis ist noch kein Fall bekannt geworden, in dem eine Beschwerde nicht – in angemessener Frist – beschieden und deshalb eine Untätigkeitsklage nach Art. 232 EGV erhoben worden wäre. Gleichwohl wäre es dem Gemeinschaftsgesetzgeber zu empfehlen, dem Vorbild von Art. 8 Abs. 3 der VO 1049/01 zu folgen430 und für den Fall, daß die Beschwerde nicht innerhalb einer bestimmten Frist beschieden
427 428 429 430
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
unten 4. Teil, § 2 A. I. unten B. I. 2. unten B. I. 2. c). oben 2. Teil, § 3 B. (nach Fn. 208).
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
wird, den Erlaß eines ablehnenden Bescheides zu fingieren, gegen den die Klage nach Art. 63 GMV offensteht. Unter diesen Vorbehalten bildet das Beschwerdeverfahren somit einen Weg zur Erreichung des substantiellen Verfahrensziels des Klägers – der Beseitigung der Rechtswirkungen der ihn belastenden erstinstanzlichen Entscheidung –, der im Vergleich zu einer gegen diese Entscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage gleichwertig, jedoch weniger aufwendig als eine derartige Nichtigkeitsklage ist. Für diese fehlt somit das Rechtsschutzbedürfnis, da eine gerichtliche Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung zur Erreichung des klägerischen Verfahrensziels nicht – i. e. S. – erforderlich ist431. Da die Initiierung des Beschwerdeverfahrens fristgebunden ist, gilt dies allerdings nur dann, wenn die Beschwerdefrist im Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht abgelaufen ist. Anderenfalls besteht zwar ein Rechtsschutzbedürfnis für eine unmittelbar gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichtete Nichtigkeitsklage; diese ist indes gleichwohl regelmäßig unzulässig, da verfristet432. Denn sowohl die Beschwerdefrist nach Art. 59 GMV als auch die Klagefrist nach Art. 230 Abs. 5 EGV betragen zwei Monate. Zwar besteht hinsichtlich des dies a quo ein Unterschied zwischen beiden Fristen dahingehend, daß die Beschwerdefrist erst mit der Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung, die Klagefrist aber – bei fehlender individueller Bekanntgabe der Entscheidung – bereits im Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntniserlangung zu laufen beginnt433. Diese Divergenz kann jedoch allenfalls zur Folge haben, daß die Klage- vor der Beschwerdefrist abläuft. III. Nichtigkeitsklage gegen Beschwerdeentscheidungen 1. Vorliegen der sonstigen Elemente der Initiativberechtigung Außer der Erforderlichkeit i. e. S. einer unmittelbar gegen die Beschwerdeentscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage sind die individuelle und unmittelbare Betroffenheit des Klägers Elemente der Initiativberechtigung für eine derartige Klage. Diese liegen begrifflich notwendig bei einem Kläger vor, der auch 431 Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß im deutschen Verwaltungsprozeßrecht dem Kläger, der den einen Dritten begünstigenden Verwaltungsakt angreift, das Rechtsschutzinteresse nicht unter Hinweis auf die Möglichkeit abgesprochen wird, bei der Verwaltungsbehörde einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens i. w. S. mit dem Ziel eines Widerrufs des Verwaltungsakts nach § 48 VwVfG zu stellen. Denn ein derartiges Vorgehen ist einer Anfechtungsklage nicht gleichwertig, da die Behörde lediglich zu einer fehlerfreien Ermessensentscheidung über das Wiederaufgreifen, nicht aber zu einer neuen Sachentscheidung verpflichtet ist. 432 Gleiches gilt für den Fall, daß der durch die erstinstanzliche Entscheidung beschwerte Beteiligte des erstinstanzlichen Verfahrens gegen diese Entscheidung fristgemäß aber erfolglos Beschwerde eingelegt hat. 433 Borchardt, in: Lenz, Art. 230 EGV, Rn. 1 ff.
§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen
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zur Erhebung einer Klage nach Art. 63 GMV befugt ist, der also an dem Beschwerdeverfahren beteiligt war und durch die dieses beendende Entscheidung beschwert ist434. Ist der Kläger dagegen nicht nach Art. 63 Abs. 3 GMV klagebefugt, so liegen die sonstigen Elemente der Initiativberechtigung für eine Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV nur in seltenen Konstellationen vor: War der Kläger zwar am Beschwerdeverfahren beteiligt, ist er aber durch die Beschwerdeentscheidung nicht i. S. v. Art. 63 Abs. 3 beschwert435, so fehlt ihm das Rechtsschutzbedürfnis. Denn da diese Entscheidung für ihn keine Belastungswirkung entfaltet, ist ihre gerichtliche Aufhebung zum Schutz seiner Individualinteressen nicht geeignet. War der Kläger dagegen überhaupt nicht am Beschwerdeverfahren beteiligt, so kommt es auf den Inhalt der Beschwerdeentscheidung an: Hebt die Beschwerdekammer die Zurückweisung der Markenanmeldung auf oder weist sie umgekehrt eine gegen die Zurückweisung des Widerspruchs eingelegte Beschwerde zurück, so schafft die Beschwerdeentscheidung zwar die rechtlichen Voraussetzungen für eine Eintragung der Gemeinschaftsmarke. Gleichwohl sind die von der Markeneintragung individuell Betroffenen436 von einer derartigen Beschwerdeentscheidung selbst nicht unmittelbar betroffen. Vielmehr läßt sich der Schutz ihrer Individualinteressen in gleicher Weise durch eine Klage gegen den der Beschwerdeentscheidung nachfolgenden Hoheitsakt der Markeneintragung bewirken. Weist die Beschwerdekammer dagegen umgekehrt – in Wahrnehmung ihrer Abänderungsbefugnis – die Markenanmeldung zurück oder bestätigt sie die von der erstinstanzlichen Stelle ausgesprochene Zurückweisung der Markenanmeldung437, so ist die Frage der Initiativberechtigung in Analogie zur Situation bei einer Klage gegen eine erstinstanzliche Entscheidung dieses Inhalts zu beantworten, die von einem an dem betreffenden erstinstanzlichen Verfahren nicht Beteiligten erhoben wird438. Gleiches gilt mutatis mutandis, wenn die Beschwerdekammer die Gemeinschaftsmarke für nichtig erklärt oder den Widerspruch oder den Antrag auf Nichtigerklärung zurückweist. bzw. eine von einer erstinstanzlichen Stelle erlassene Entscheidung dieses Inhalts bestätigt.
434
Vgl. oben § 3 B. I. Zur Definition der Beschwer oben § 3 C. I. 2. b) bb). 436 Aufgrund Eingriffs in „besondere Rechte“ oder in rechtlich nicht ausgeformte schutzwürdige Individualinteressen; vgl. oben II. 2. 437 Indem sie eine gegen die Zurückweisung der Markenanmeldung gerichtete Beschwerde zurückweist. 438 Vgl. oben II. 1. 435
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
2. Anwendungsvorrang von Art. 63 GMV? Einer Rechtsschutznorm kommt gegenüber einer anderen Rechtsschutznorm nur dann ein Anwendungsvorrang „kraft fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses“ zu, wenn zwischen den beiden Rechtsschutzverfahren ein Unterschied in bezug auf die verfahrensinduzierten Transaktionskosten besteht. Dies ist im Verhältnis zwischen Art. 63 GMV und Art. 230 EGV jedoch nicht der Fall, da es sich in beiden Fällen um Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten handelt, die mit einem identischen verfahrensmäßigen Aufwand verbunden sind. Insoweit Art. 63 GMV zu Rechtsschutzentscheidungen desselben Inhalts ermächtigt wie Art. 230 EGV – nämlich zur Aufhebung einer Beschwerdeentscheidung –, kommt ihm mithin kein Anwendungsvorrang zu, beide Rechtsschutznormen gelangen vielmehr simultan und ununterschieden zur Anwendung. Insoweit Art. 63 GMV dagegen – über Art. 230 EGV hinausgehend – zur Abänderung einer Beschwerdeentscheidung ermächtigt, stehen beide Rechtsschutznormen im Verhältnis der Disjunktion i. w. S. zueinander. IV. Grenzen des Anwendungsvorrangs in bezug auf den Rechtsschutzinhalt: Anordnung des Sofortvollzugs von Entscheidungen des HABM? 1. Grundlagen Die Klage nach Art. 63 GMV entfaltet in bezug auf sämtliche Beschwerdeentscheidungen aufschiebende Wirkung; sofern bereits die Beschwerde die Entscheidung der erstinstanzlichen Stelle suspendiert hatte, dauert auch dieser Suspensiveffekt bis zur Entscheidung über die Klage fort439. Richtet sich die Klage gegen eine inter partes ergangene Beschwerdeentscheidung, so ist der Träger des jeweiligen Veränderungsinteresses440 durch die Verfahrensdauer gegenüber dem Träger des jeweiligen Bestandsinteresses441 strukturell benachteiligt. Daher stellt sich die Frage, ob das Gericht im Wege der einstweiligen Anordnung nach Art. 243 EGV den Sofortvollzug der Beschwerdeentscheidung bzw. der erstinstanzlichen Entscheidung442 anordnen kann443. Aufgrund der ver-
439
Vgl. oben § 3 D. III. D. h. – je nachdem, ob es um ein Widerspruchs- oder um ein Nichtigkeitsverfahren geht – entweder der Markenanmelder oder der Initiator des Nichtigkeitsverfahrens. 441 D. h. – je nachdem, ob es um ein Widerspruchs- oder um ein Nichtigkeitsverfahren geht – entweder der Widerspruchsführer oder der Markeninhaber. 442 Sofern die Beschwerde dieser gegenüber eine aufschiebende Wirkung entfaltet, vgl. dazu oben § 3 D. II. 443 Vergleichbar der Anordnung nach § 80 A. Abs. 1 Nr. 1 bzw. Abs. 2 VwGO. 440
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schiedenen Inhalte der jeweiligen Rechtsschutzentscheidungen stehen Art. 243 EGV und Art. 63 GMV im Verhältnis der Disjunktion i. w. S. zueinander444. Art. 243 EGV umschreibt den Inhalt der – vorläufigen – Rechtsschutzentscheidung lediglich final („die erforderlichen einstweiligen Anordnungen“). Daher sollten grundsätzlich keine Bedenken dagegen bestehen, daß der Sofortvollzug einer Entscheidung auf dieser Grundlage angeordnet werden kann, sofern der Klage – wie im Gemeinschaftsmarkenrecht – kraft sekundärrechtlicher Regelung ausnahmsweise aufschiebende Wirkung zukommt. Die geläufige Aussage, die einstweilige Anordnung komme nur in Betracht bei Feststellungsklagen nach Art. 226 f. EGV, Untätigkeitsklagen nach Art. 232 EGV und Schadensersatzklagen nach Art. 235 EGV445, muß also relativiert werden. Was speziell eine Anordnung des Sofortvollzugs der erstinstanzlichen Entscheidung angeht, so dürfte auch insofern das Erfordernis erfüllt sein, daß zwischen dem Gegenstand der einstweiligen Anordnung und demjenigen des Hauptsacheverfahrens ein unmittelbarer Zusammenhang bestehen muß446. Zwar bildet lediglich die Beschwerdeentscheidung den Gegenstand des Hauptsacheverfahrens. Als verfahrensbeendende Entscheidung im Rahmen eines Rechtsschutzverfahrens bezieht sich diese jedoch inhaltlich und funktional auf die erstinstanzliche Entscheidung. 2. Parteibezogene Zulässigkeitsvoraussetzungen Art. 104 Abs. 1, 2. UA VerfO-EuG behält die Antragsbefugnis den Parteien des Hauptsacheverfahrens vor. In der Literatur ist die Frage umstritten, ob lediglich die Hauptparteien oder darüber hinaus auch die Streithelfer des Hauptsacheverfahrens antragsbefugt sind447. Speziell in bezug auf Klagen gegen Entscheidungen der Beschwerdekammern des HABM ist zu bedenken, daß Art. 133 VerfO-EuG den übrigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens die Parteirolle eines privilegierten Streithelfers zuweist, da eine Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung – als potentieller Ausgang des gerichtlichen Verfahrens – eine nachteilige Veränderung ihrer verfahrensrechtlichen Situation bewirken würde448. Die prozessualen Befugnisse eines derartigen privilegierten Streithelfers reichen jedoch weit über diejenigen eines einfachen Streithelfers hinaus und sind nach Art. 134 VerfO-EuG den prozessualen Befugnissen einer Hauptpartei angenähert449. Daher sollte jedenfalls ein derartiger privilegierter Streithelfer 444
Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. I. So etwa Borchardt in: Lenz, Art. 243 EGV, Rn. 2 a. E. 446 Dazu Borchardt in: Lenz, Art. 243 EGV, Rn. 12. 447 Im ersten Sinne Lenaerts/Arts, Europees Procesrecht, Rn. 545, im zweiten Lasok, The European Court of Justice, S. 289. 448 Vgl. oben E. II. 2. a) aa). 445
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auch zur Stellung eines Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung befugt sein450. Neben der Antragsbefugnis hängt der Erlaß einer einstweiligen Anordnung von einer weiteren parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzung in Gestalt des Rechtsschutzbedürfnisses451 ab. Der Sofortvollzug der Entscheidung muß somit zum Schutz von Individualinteressen des Antragstellers geeignet und erforderlich sein. Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung hierfür ist, daß der Antragsteller durch die betreffende Entscheidung begünstigt ist. Durch eine bestimmte Entscheidung begünstigt ist derjenige, dessen parteitypisches Interesse am Ausgang des betreffenden Verfahrens befriedigt worden ist. Im einzelnen ist zu differenzieren: – Durch die Beschwerdeentscheidung ist der Kläger ex hypothesi beschwert452, ein sonstiger Beteiligter des Beschwerdeverfahrens – und damit potentieller privilegierter Streithelfer im gerichtlichen Verfahren – dagegen dann begünstigt, wenn diese Entscheidung eine ihn beschwerende erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben oder abgeändert hat. – Der durch die Entscheidung der erstinstanzlichen Stelle Begünstigte kann entweder die Parteirolle des Klägers einnehmen – sofern diese Entscheidung durch die Beschwerdeentscheidung aufgehoben oder abgeändert worden ist – oder aber diejenige eines sonstigen Beteiligten des Beschwerdeverfahrens – sofern die Beschwerdekammer die gegen diese Entscheidung gerichtete Beschwerde zurückgewiesen hat –. – Im letzteren Falle ist der sonstige Beteiligte des Beschwerdeverfahrens zwar auch durch die Beschwerdeentscheidung begünstigt. Jedoch ist die Anordnung des Sofortvollzugs der Beschwerdeentscheidung zum Schutz seiner Individualinteressen nicht geeignet. Denn sein substantielles Verfahrensziel wird allein durch die erstinstanzliche Entscheidung, nicht aber durch die Beschwerdeentscheidung erreicht. Sein normativ relevantes Interesse ist daher darauf gerichtet, daß die erstinstanzliche Entscheidung ihre Rechtswirkungen entfaltet, also darauf, daß der hierauf bezogene Suspensiveffekt der Beschwerde endet. Dieser endet aber erst mit der Bestandskraft der Beschwerdeentscheidung453, nicht aber bereits mit deren sofortiger Vollziehbarkeit.
449
Vgl. oben E. II. 2. a) cc). Wie dies im deutschen Prozeßrecht § 80 A. Abs. 1 Nr. 1 VwGO ausdrücklich vorgesehen ist. 451 EuGH, Beschl. v. 25. 2. 1975, Küster/Europäisches Parlament, Rs. 22/75 R, Slg. S. 277, Rn. 6 f. 452 Vgl. oben B. II. 2. b). 453 Vgl. oben § 3 B. 450
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3. Materielle Rechtmäßigkeitsbedingungen – Insbesondere: Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache Den Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird durch drei kumulative materielle Rechtmäßigkeitsbedingungen konditioniert: Erstens muß die Klage in der Hauptsache eine hinreichende Erfolgsaussicht aufweisen. Zweitens muß die einstweilige Anordnung zur Abwendung des drohenden Eintritts eines schweren und durch eine stattgebende Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht wieder gutzumachenden Schadens des Antragstellers geeignet und erforderlich sein. Drittens muß das Interesse des Antragstellers am Erlaß der einstweiligen Anordnung dasjenige Allgemeinheit und/oder privater Dritter an deren Unterbleiben überwiegen454. Die Beurteilung dieser Faktoren ist allerdings weitgehend kasuistisch geprägt. Von allgemeinem Interesse in der Perspektive einer strukturellen Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes ist dagegen das weitere in Art. 39 (ex 36) der EuGH-Satzung – i.V. m. Art. 86 Abs. 4 VfO-EuGH bzw. Art. 107 Abs. 4 VfOEuG – niedergelegte Erfordernis, daß eine einstweilige Anordnung der Entscheidung in der Hauptsache nicht vorgreifen darf. Durch die einstweilige Anordnung darf somit kein Zustand geschaffen werden, der durch die Hauptsacheentscheidung – bzw. aufgrund dieser Entscheidung – nicht mehr revidiert werden kann455, der also zur Folge hätte, daß die Hauptsacheentscheidung wirkungs- bzw. bedeutungslos würde456. Für den vorliegenden Zusammenhang ergibt sich hieraus folgendes: Besteht die erstinstanzliche Entscheidung bzw. – im Falle der Abänderung nach Art. 62 Abs. 1 S. 2 GMV457 – die Beschwerdeentscheidung in der Zurückweisung des Widerspruchs, so liefe eine Anordnung des Sofortvollzugs dieser Entscheidung der Sache nach auf eine Registereintragung der Marke hinaus. Wird dann aber im Hauptsacheverfahren die Zurückweisung des Widerspruchs aufgehoben oder sogar weitergehend – im Wege der Durchgriffsabänderung458 – die Markenanmeldung zurückgewiesen, so wäre das HABM grundsätzlich nach Art. 233 EGV bzw. Art. 63 Abs. 6 GMV verpflichtet, die Registereintragung der Marke rückgängig zu machen. Dies ist dem HABM aber aus Gründen des materiellen Rechts verwehrt. Denn die GMV sieht keine Befugnis des HABM vor, eine 454
Dazu Borchardt in: Lenz, Art. 243 EGV, Rn. 14–28. EuGH, Beschl. v. 28. 5. 1975, Könecke/Kommission, Rs. 44/75 R, Slg. S. 637, Rn. 4; s. a. Lenaerts/Arts, Europees Procesrecht, Rn. 543. 456 Ständ. Rspr., vgl. z. B. EuGH, Beschl. v. 22. 5. 1992, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-40/92 R, Slg. I-3389, Rn. 29; EuG, Beschl. v. 29. 11. 1996, Antonissen/ Rat und Kommission, T-179/96 R, Slg. II-1641, Rn. 29; s. a. Borchardt in: Lenz, EGVKommentar, Art. 243, Rn. 37; Gaitanides, in: G/S, Art. 242 und 243 EG, Rn. 52. 457 Vgl. oben F. I. 3. 458 Vgl. oben § 3 F. III. 3. a). 455
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Markeneintragung von Amts wegen – d. h. außerhalb eines anhängigen relativen oder absoluten Nichtigkeitsverfahrens – zu löschen. Eine Anordnung des Sofortvollzugs der Zurückweisung des Widerspruchs würde daher der Entscheidung in der Hauptsache vorgreifen und ist somit nicht statthaft. Gleiches gilt mutatis mutandis für die Nichtigerklärung der Marke459. Hier ergibt sich ein zusätzliches Hindernis für eine Anordnung des Sofortvollzugs daraus, daß nach Art. 56 Abs. 6 GMV die Nichtigerklärung der Marke erst bei Bestandskraft in das Register eingetragen und damit Wirksamkeit erlangen kann460. Somit käme eine Anordnung des Sofortvollzugs allenfalls in bezug auf die Zurückweisung der Markenanmeldung bzw. des Antrags auf Nichtigerklärung in betracht; hier ist sie allerdings nicht erforderlich, da die Beschwerde in bezug auf diese Entscheidungen ohne verfahrensexterne Relevanz keinen Suspensiveffekt entfaltet461. Wenn somit im Ergebnis eine Anordnung des Sofortvollzugs von Entscheidungen der Beschwerdekammer bzw. der erstinstanzlichen Stellen ausgeschlossen ist, so ist dies ein Beispiel für eine „unechte“ jurisprudentielle Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes462.
B. Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen neben den Sanktionsnormen der GMV Wie bereits ausgeführt, gelangen primärrechtliche Rechtsschutz- und sekundärrechtliche Sanktionsnormen nebeneinander zur Anwendung463, wenn ihre Tatbestände zueinander im Verhältnis der Disjunktion stehen464. Dies ist dann der Fall, wenn entweder der Gegenstand der Sanktionsentscheidung (unten I.) oder das Sanktionskriterium (unten II.) in beiden Rechtsnormen in disjunkter Weise bestimmt wird.
459 Sowie für Entscheidungen über Eintragungen und Löschungen von Angaben im Register nach Art. 128 Abs. 1 GMV. 460 Vgl. oben § 2 B. II. (bei Fn. 91). 461 Vgl. oben § 3 D. II. 462 Vgl. oben 1. Teil, § 2 C. 463 Im Sinne einer primärrechtskonformen und damit geltungserhaltenden Auslegung des Sekundärrechts wäre es allerdings nicht zulässig, diesem ein implizites Verbot des Erlasses einer primärrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzmaßnahme zu entnehmen. 464 Vgl. oben 2. Teil, § 3 A.
§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen
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I. Disjunktion aufgrund des Gegenstandes der Sanktionsentscheidung 1. Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV gegen von Art. 63 Abs. 1 GMV nicht umfaßte Entscheidungen der Beschwerdekammern Die GMV hält kein Sanktionsverfahren bereit gegen Entscheidungen der Beschwerdekammer, die nicht von Art. 63 Abs. 1 GMV umfaßt sind, durch die also nicht „über eine Beschwerde“ entschieden wird465. Eine derartige Entscheidung ist daher nur durch eine Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 1 und 4 EGV anfechtbar. Denkbar ist diese Konstellation allerdings nur dann, wenn die Beschwerdekammer entweder funktional zwar als Sanktionsinstanz tätig wird, jedoch die Dispositionsmaxime verletzt – also eine erstinstanzliche Entscheidung sanktioniert, ohne daß überhaupt eine Beschwerde eingelegt worden ist466 – oder wenn sie unter Verletzung ihrer funktionellen Zuständigkeit überhaupt nicht als Sanktionsinstanz tätig wird sondern sich einer erstinstanzlichen Stelle substituiert467. 2. Untätigkeitsklage nach Art. 232 Abs. 3 EGV wegen des unterlassenen Erlasses einer Entscheidung des HABM a) Allgemeines In bezug auf das Unterlassen des Erlasses einer Entscheidung hält die GMV kein Sanktionsverfahren bereit. Dies betrifft insbesondere den Fall, daß entweder eine erstinstanzliche Stelle oder die Beschwerdekammer es entgegen ihrer allgemeinen verfahrensrechtlichen Pflicht zur Antragsbescheidung468 unterläßt, eine verfahrensbeendende Sachentscheidung zu erlassen469. Dies gilt auch dann, wenn eine gegenstandsgleiche vorherige Entscheidung der betreffenden Instanz bereits durch das Gemeinschaftsgericht aufgehoben worden ist. Handelt es sich um eine Entscheidung der Beschwerdekammer, so ergibt sich deren Handlungspflicht nicht nur aus der allgemeinen verfahrensrechtlichen Pflicht zur Antragsbescheidung, sondern auch aus der Befolgungspflicht nach Art. 63 Abs. 6
465
Zu diesem Merkmal oben A. II. Geht der Inhalt der Beschwerdeentscheidung dagegen über denjenigen der Beschwerde hinaus, so ist eine derartige ultra petita ergangene Entscheidung sehr wohl ein tauglicher Gegenstand einer Klage nach Art. 63 GMV; vgl. oben A. II. 467 Beispiel: Die Beschwerdekammer entscheidet anstelle des Prüfers über die Zurückweisung der Markenanmeldung im Prüfungsverfahren. 468 Hierzu EuG, Urt. v. 2. 7. 2002, SAT.1/HABM (SAT.2), T-323/00, Slg. S. II-2839, Rn. 18–21. 469 So auch – in bezug auf ein Unterlassen der Beschwerdekammern – v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 22, Rn. 4. 466
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
GMV470. Damit kommt ein solches Unterlassen grundsätzlich als Gegenstand einer Untätigkeitsklage nach Art. 232 Abs. 3 EGV in Betracht. Gegenstand der Untätigkeitsklage ist das Unterlassen eines Gemeinschaftsorgans, eine Entscheidung zu erlassen. Von der Verpflichtungsklage des deutschen Verwaltungsprozeßrechts unterscheidet sich die Untätigkeitsklage zum einen dadurch, daß die Zurückweisung eines Antrags kein tauglicher Klagegegenstand ist und zum anderen dadurch, daß der Inhalt der gerichtlichen Rechtsschutzentscheidung darin besteht, daß das Gericht lediglich die Rechtswidrigkeit dieses Unterlassens feststellt, nicht aber die Verpflichtung des Organs zum Erlaß der betreffenden Entscheidung ausspricht. Nach der Rechtsprechung steht die Befugnis zur Erhebung einer Untätigkeitsklage nur demjenigen zu, der im Falle des hypothetischen Erlasses der unterlassenen Entscheidung durch diese individuell und unmittelbar betroffen wäre471. Dies ist jedenfalls dann unproblematisch der Fall, wenn die Untätigkeitsklage von demjenigen erhoben wird, der das Verfahren vor der betreffenden Entscheidungsinstanz des HABM durch seinen Antrag bzw. seine Beschwerde initiiert hat. Hält man allerdings in bezug auf ein Unterlassen der erstinstanzlichen Stellen eine „Unterlassungsbeschwerde“ für statthaft, wie dies ein Teil der Literatur tut472, so ist ein gerichtliches Feststellungsurteil zum Schutz der klägerischen Individualinteressen nicht erforderlich; damit fehlt das Rechtsschutzbedürfnis für eine Untätigkeitsklage. Hinsichtlich des Unterlassens der Beschwerdekammern ist zu bemerken, daß es vorliegend – zunächst – allein um den Fall einer völligen Untätigkeit der Beschwerdekammer geht und nicht darum, daß der Gegenstand der Beschwerdeentscheidung hinter demjenigen der Beschwerde zurückbleibt, also nicht um die Situation einer infra petita ergangenen Entscheidung473. b) Notwendigkeit einer vorherigen „Aufforderung“ Eine Untätigkeitsklage ist nur dann zulässig, wenn der Kläger zuvor vergeblich einen – in Art. 232 EGV als „Aufforderung“ bezeichneten – Antrag auf Erlaß der betreffenden Entscheidung an das Gemeinschaftsorgan gerichtet hat. 470 Vgl. oben F. II. 2. b); auch die Verletzung der Befolgungspflicht aus Art. 233 EGV kann mit der Untätigkeitsklage geltend gemacht werden, vgl. EuG, Urt. v. 19. 2. 2004, SIC/Kommission, T-297/01 u. T-298/01, Slg. S. II-743, Rn. 32 m.w. N. 471 EuGH, Urt. v. 26. 11. 1996, T Port, C-68/95, Slg. S. I-6065, Rn. 59; EuG, Urt. v. 8. 6. 2000, Camar/Kommission u. Rat, T-79/96 u. a., Slg. S. II-2193, Rn. 75. 472 v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 57 GMV, Rn. 22; vgl. dazu bereits oben § 3 B. I (bei Fn. 126). 473 Vgl. dazu unten 4.
§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen
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Es handelt sich bei dieser verfahrensbezogenen Zulässigkeitsvoraussetzung um eine Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses: Eine gerichtliche Rechtsschutzentscheidung in Gestalt eines Feststellungsurteils ist zum Schutz der klägerischen Individualinteressen nicht erforderlich, wenn der Kläger sein substantielles Verfahrensziel, also den Erlaß der begehrten Entscheidung, ebensogut auf andere Weise erreichen kann. Da die Rechtsfolgen einer derartigen „Aufforderung“ ausschließlich auf prozeßrechtlichem Gebiet liegen, handelt es sich somit um eine prozeßrechtliche Willenserklärung. Gemäß der Dispositionsmaxime hängt allerdings bereits der Erlaß der Entscheidungen nach der GMV durch die erstinstanzlichen Stellen474 sowie die Beschwerdekammern475 – und damit die entsprechende Handlungspflicht dieser Entscheidungsinstanzen – von einem materiell-rechtlichen 476 Antrag ab. Grundsätzlich ist eine Untätigkeitsklage selbstverständlich auch in bezug auf den unterlassenen Erlaß einer von einem Antrag abhängigen – „antragsbestimmten“ – Entscheidung zulässig477. Dies dürfte auch dann gelten, wenn die Klage von dem Antragsteller als dem Initiator des Verwaltungsverfahrens erhoben wird. Richtet sich die Untätigkeitsklage gegen den unterlassenen Erlaß einer antragsinitiierten Entscheidung, so hängt es vom Vorliegen eines ordnungsgemäß gestellten materiell-rechtlichen Antrags ab, ob eine Handlungspflicht des Organs tatsächlich besteht, ob also das Unterlassen rechtswidrig war; dieser Aspekt ist daher an sich erst im Rahmen der Begründetheit der Untätigkeitsklage zu prüfen. Allerdings stellt sich die Frage, ob dann wenn feststeht, daß ein materiellrechtlicher Antrag ordnungsgemäß gestellt wurde, die Zulässigkeit einer Untätigkeitsklage noch eine gesonderte – prozeßrechtliche – „Aufforderung“ voraussetzt. Dies sollte aus verfahrensökonomischen Gründen jedenfalls dann verneint werden, wenn die Untätigkeitsklage von dem Initiator des Verfahrens vor der Ausgangsinstanz – also von demjenigen, der den materiell-rechtlichen Antrag gestellt hat – erhoben wird. In diesem Falle koinzidieren vielmehr materiellrechtlicher Antrag und prozeßrechtliche „Aufforderung“. In diesem Zusammenhang kann darauf verwiesen werden, daß nach deutscher Dogmatik der nach § 42 Abs. 1 VwGO vor Erhebung einer Verpflichtungsklage zu stellende „Antrag“ einen sowohl prozeßrechtlichen als auch materiell-rechtlichen Charakter aufweist478. Zwar löst im Falle einer in bezug auf den unterlassenen Erlaß einer antragsbestimmten Entscheidung erhobenen Untätigkeitsklage erst die prozeß474 Vgl. oben § 2 A. III. 2. (zum Widerspruchsverfahren) sowie § 2 B. II. 3. (zum Nichtigkeitsverfahren). 475 Vgl. oben F. I. 3. c). 476 Rectius: verwaltungsverfahrensrechtlichen. 477 Burgi, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 8, Rn. 35 bildet das Beispiel daß die Kommission die Bescheidung des von einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf Genehmigung einer staatlichen Beihilfe unterläßt; hier ist der potentielle Beihilfeempfänger zur Erhebung einer Untätigkeitsklage befugt.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
rechtliche „Aufforderung“ die Handlungspflicht des Organs aus, wohingegen diese Pflicht von einer derartigen „Aufforderung“ per definitionem unabhängig ist, wenn die Untätigkeitsklage den unterlassenen Erlaß einer ex officio zu erlassenden Entscheidung zum Gegenstand hat. Diese Tatsache ist jedoch unter dem hier allein interessierenden verfahrensökonomischen Gesichtspunkt des Rechtsschutzbedürfnisses479 ohne Bedeutung. c) Inhalt der gerichtlichen Entscheidung Hängt – wie im Gemeinschaftsmarkenrecht – die Pflicht der Ausgangsinstanz zum Erlaß einer gebundenen Entscheidung von einem materiell-rechtlichen 480 Antrag ab, so stellt sich die Frage, welchen Inhalt das gerichtliche Feststellungsurteil aufzuweisen hat. Genauer geht es darum, ob das Gericht lediglich festzustellen hat, daß die Ausgangsinstanz es rechtswidrig unterlassen hat, den Antrag zu bescheiden oder ob es weitergehend festzustellen hat, daß sie es rechtswidrig unterlassen hat, eine Entscheidung mit einem bestimmten Inhalt zu erlassen. Diese Frage läßt sich auch dahingehend formulieren, ob das Feststellungsurteil die unterlassene Entscheidung der Ausgangsinstanz nach ihrem Inhalt oder lediglich nach ihrem Gegenstand zu identifizieren hat. Diese Fragestellung findet eine strukturelle Parallele in einer Diskussion zur Verpflichtungsklage des deutschen Verwaltungsprozeßrechts, die die Konstellation betrifft, in der ein auf einen gebundenen Verwaltungsakt gerichteter Antrag unbeschieden geblieben ist. Näherhin geht es auch dort – unter dem Stichwort der „Herstellung der Spruchreife“ – um die Frage, ob sich der Urteilstenor in diesem Falle darauf beschränken darf, die Verpflichtung481 der Behörde zur Bescheidung des Antrags auszusprechen oder ob das Gericht stets die Verpflichtung zum Erlaß eines Verwaltungsakts mit einem bestimmten Inhalt auszusprechen hat. Rechtsprechung und herrschende Meinung votieren für die erste Option482. Dabei wird insbesondere auf den in der Entstehungsgeschichte von § 113 Abs. 5 VwGO manifestierten Willen des Gesetzgebers verwiesen.
478 So ausdrücklich in bezug auf die Ablehnung eines Antrags Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 42 Abs. 1, Rn. 96. 479 Vgl. oben 1. 480 Rectius: verwaltungsverfahrensrechtlichen. 481 Daß es vorliegend um den Tenor eines Feststellungs- und nicht eines Verpflichtungsurteils geht, ändert nicht daran, daß es in beiden Fällen um die strukturell identische Frage geht, ob das Urteil die unterlassene Entscheidung der Ausgangsinstanz nach ihrem Inhalt oder lediglich nach ihrem Gegenstand zu identifizieren hat. 482 Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 113, Rn. 66 ff.
§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen
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Die Gemeinschaftsgerichte haben zu dieser Frage bisher noch nicht ausdrücklich Stellung bezogen, was daran liegen mag, daß strikt gebundene Entscheidungen im Bereich des EG-Eigenverwaltungsrechts traditionell eher selten vorkommen. Immerhin wird man der Rechtsprechung eine indirekte Aussage in dem Sinn entnehmen können, daß das Gericht lediglich festzustellen hat, daß die Ausgangsinstanz es rechtswidrig unterlassen hat, den Antrag zu bescheiden. Hierfür spricht erstens, daß die Gemeinschaftsgerichte ausdrücklich die „Untätigkeit durch Nichtbescheidung oder Unterlassen einer Stellungnahme“ als Gegenstand der Untätigkeitsklage bezeichnet haben, die sich dagegen nicht auf den Erlaß eines anderen als der von dieser Partei gewünschten oder für notwendig erachteten Rechtsaktes beziehe483. Zweites betonen die Gemeinschaftsgerichte, daß sie sich im Rahmen einer Untätigkeitsklage nicht an die Stelle des beklagten Organs setzen und im Urteil den Rechtsakt erlassen dürfen, den dieses hätte erlassen müssen, um seiner Handlungspflicht nachzukommen484. Wenn das Gericht feststellen würde, daß das beklagte Organ es rechtswidrig unterlassen hat, eine Entscheidung mit bestimmtem Inhalt zu erlassen, so würde es im strikten Sinne zwar nicht selbst anstelle dieses Organs den betreffenden Rechtsakt erlassen. Ein Feststellungsurteil nach Art. 233 EGV hat aber zur Folge, daß das beklagte Organ die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen zu treffen hat. Die Wirkung eines Feststellungsurteils mit dem genannten Inhalt würde daher der Sache nach auf eine an dieses Organ gerichtete Anordnung hinauslaufen. Ein solcher Urteilsinhalt ist jedoch im Rahmen von Art. 232 EGV ebensowenig statthaft485 wie im Rahmen von Art. 230 EGV oder von Art. 63 GMV486. Drittens sprechen Erwägungen der Verfahrensökonomie für das hier befürwortete Ergebnis487. Denn wäre das Gericht verpflichtet, festzustellen, daß die Ausgangsinstanz es rechtswidrig unterlassen hat, eine Entscheidung mit bestimmtem Inhalt zu erlassen, so liefe das gerichtliche Verfahren der Sache nach auf eine Bescheidung desjenigen Antrags hinaus, durch den das betreffende Ausgangsverfahren initiiert worden ist. Dies wäre aber mit dem Prinzip der Verfahrensvermeidung unvereinbar.
483 EuGH, Beschl. v. 13. 12. 2000, Sodima/Kommission, C-44/00 P, Slg. S. I-11231, Rn. 83; EuG, Urt. v. 19. 2. 2004, SIC/Kommission, T-297/01 u. T-298/01, Slg. S. II743, Rn. 13. 484 EuG, Urt. v. 8. 6. 2000, Camar/Kommission u. Rat, T-79/96 u. a., Slg. S. II-2193, Rn. 67. 485 EuG, Urt. v. 9. 9. 1999, UPS/Kommission, T-127/98, Slg. S. II-2633, Rn. 50. 486 Vgl. hierzu oben F. II. 1. 487 Zu parallelen Überlegungen im deutschen Recht Gerhardt, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 113, Rn. 67 f.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
d) Sonderfall: Rechtsschutz bei unvollständiger Bescheidung des Beschwerdeantrags durch die Beschwerdekammer Hat die Beschwerdekammer den Beschwerdeantrag nur unvollständig beschieden, so sind die Gemeinschaftsgerichte einerseits nicht befugt, diesen Antrag in bezug auf den nicht beschiedenen Teil erstmals selbst zu bescheiden488. Andererseits ist in diesem Falle die Beschwerdeentscheidung als solche nicht rechtswidrig; insbesondere leidet sie – anders als eine ultra petita ergangene Entscheidung489 – nicht an einem verfahrensrechtlichen Mangel. Denn insoweit sie den Beschwerdeantrag bescheidet, stimmt ihr Tenor mit dem Inhalt des Beschwerdeantrags überein. Vielmehr handelt es sich der Sache nach um ein teilweises Unterlassen der Beschwerdekammer, das rechtswidrig ist, da die Beschwerdekammer verpflichtet ist, den Beschwerdeantrag vollständig zu bescheiden490. In einer derartigen Situation ist das Bedürfnis für den Beschwerdeführer offensichtlich, Rechtsschutz gegen das teilweise Unterlassen der Beschwerdekammer zu erlangen. Für eine vergleichbare Konstellation sieht das deutsche Prozeßrecht in § 321 ZPO ein Verfahren der Urteilsergänzung vor, das eine nachträgliche Bescheidung eines der prozessualen Ansprüche491 ermöglicht, die mit dem Klageantrag geltend gemacht, im Urteil jedoch – ganz oder teilweise – übergangen worden sind. Die GMV kennt dagegen kein entsprechendes Verfahren zur „Ergänzung“ einer Beschwerdeentscheidung. Für den Rechtsschutz des Beschwerdeführers bieten sich daher theoretisch zwei Möglichkeiten an: In Betracht kommt entweder – außerhalb von Art. 63 GMV – die Erhebung einer Untätigkeitsklage nach Art. 232 Abs. 3 EGV wegen des unterlassenen Erlasses einer Entscheidung oder die Gewährung von Rechtsschutz auch gegen die unvollständige Bescheidung des Beschwerdeantrags im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 63 GMV. Der erste Weg entspricht jedoch jedenfalls dann nicht dem Prinzip der Verfahrensökonomie – im Sinne der Verfahrensvermeidung –492, wenn sich der Kläger zugleich gegen die Beschwerdeentscheidung wendet, insofern die Be488
Vgl. oben F. II. 3. c) aa). Vgl. oben B. II. sowie unten 4. Teil, § 3 B. 490 EuG, Urt. v. 2. 7. 2002, SAT.1/HABM (SAT.2), T-323/00, Slg. S. II-2839, Rn. 18. 491 Für die Entscheidungen des EuGH sieht Art. 67 VfO-EuGH ein Verfahren der Urteilsergänzung vor, für die Entscheidungen des EuG besteht diese Möglichkeit nach Art. 85 VfO-EuG nur, wenn das EuG eine Entscheidung zum Kostenpunkt unterlassen hat. Die Literatur sieht daher in dem Fall, daß das EuG einen sonstigen Antrag übergangen hat, einen Rechtsmittelgrund, vgl. Biancarelli, RDTE 1991, S. 543 ff. (558 f.). Zu den wenigen Anwendungsfällen der Urteilsergänzung im übrigen, Barents, in: Plender (Hg.), European Courts, Rn. 14–34. 492 Vgl. oben F. II. 3. b) aa). 489
§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen
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schwerdekammer den Beschwerdeantrag beschieden hat493. Denn in diesem Falle müßte er zwei getrennte Prozesse führen. Daher erscheint es jedenfalls in dieser Konstellation sinnvoll, den zweiten Weg zu beschreiten. Der Sache nach handelt es sich dann um eine objektive Klagehäufung, bei welcher der gegen das Handeln und der gegen das Unterlassen der Beschwerdekammer gerichtete Rechtsschutzantrag zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbunden sind. Im Urteilstenor wird diesem zweiten Rechtsschutzantrag dadurch Rechnung getragen, daß die infra petita ergangene Entscheidung aufgehoben wird „[in]soweit die Beschwerdekammer es versäumt hat, über die Beschwerde zu entscheiden“494. Daß somit der Sache nach die unterlassene Entscheidung der Beschwerdekammer nach ihrem Gegenstand und nicht nach ihrem Inhalt identifiziert wird, ist im übrigen ein weiteres Argument dafür, daß das Gericht auch im Falle der vollständigen Untätigkeit der Beschwerdekammer lediglich festzustellen hat, daß sie es rechtswidrig unterlassen habe, die Beschwerde zu bescheiden495. Denn es wäre inkonsistent, wollte man annehmen, das Gericht habe im Falle des vollständigen Unterlassens eine weiter reichende Feststellung zu treffen als im Falle des lediglich teilweisen Unterlassens. Weitergehend ist denkbar, den Rechtsschutz gegen die unvollständige Bescheidung des Beschwerdeantrags generell ausschließlich im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 63 GMV zu gewähren, also auch in den Fällen, in denen sich der Kläger nicht zugleich gegen die Beschwerdeentscheidung wendet, insofern diese den Beschwerdeantrag beschieden hat. Dogmatisch läßt sich dies allerdings wohl nur in der Weise begründen, daß eine infra petita ergangene Beschwerdeentscheidung trotz der geschilderten Bedenken496 als verfahrensfehlerhaft anzusehen ist. II. Disjunktion aufgrund des Sanktionskriteriums: Nichtigkeitsklage gegen die Markeneintragung 1. Initiativberechtigung Die Klagebefugnis in Gestalt der individuellen Betroffenheit dürfte sich bei einer Nichtigkeitsklage gegen die Markeneintragung lediglich aufgrund der Fallgruppe des Eingriffs in „besondere Rechte“ des Klägers497 ergeben. Ihrem Begründungsansatz nach ist diese Fallgruppe nicht notwendig auf Entscheidun493 Vgl. etwa die Verfahrensgestaltung, die dem Urt. d. EuG v. 2. 7. 2002, SAT.1/ HABM (SAT.2), T-323/00, Slg. S. II-2839 zugrundelag. 494 Als Beispiel aus der Rechtsprechung siehe EuG, Urt. v. 2. 7. 2002, SAT.1/HABM (SAT.2), T-323/00, Slg. S. II-2839, Rn. 18–21 der Urteilsgründe sowie Pkt. 1 des Tenors. 495 Vgl. oben 3. 496 Vgl. oben bei Fn. 482 f.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
gen „in Form von Verordnungen“ beschränkt, sondern kann auch bei Entscheidungen mit Drittwirkung wie etwa Markeneintragungen zur Anwendung gelangen498. Die Gemeinschaftsgerichte haben indes im Anschluß an die CodorniuEntscheidung bisher in keinem weiteren Fall eine Klage aufgrund dieses Kriteriums tatsächlich für zulässig erklärt, was in der Literatur mit der resignativen Bemerkung kommentiert worden ist, die eigenständige Fallgruppe des Eingriffs in „besondere Rechte“ sei eine unerfüllte Hoffnung geblieben499. Da die Gemeinschaftsgerichte sie gleichwohl weiterhin – in obiter dicta – erwähnt haben500, ist aber von ihrem Fortbestand auszugehen. Allerdings bestand in der der Codorniu-Entscheidung zugrunde liegenden Konstellation der Eingriff in die „besonderen Rechte“ des Klägers darin, daß die Entscheidung diesem genau diejenigen Handlungen verboten hat, die ihrerseits vom Verbotsbereich seines subjektiven Rechts umfaßt waren501. Die Eintragung einer mit einem vorbestehenden absoluten Privatrecht konkurrierenden Gemeinschaftsmarke greift dagegen in dieses Recht dadurch ein, daß sie ein inhaltsgleiches Verbotsrecht an – mindestens partiell – demselben Gegenstand502 begründet, also den Verlust der alleinigen Inhaberschaft des vorbestehenden Rechts bewirkt503. Gleichwohl besteht bei wertender Betrachtung kein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Konstellationen. Daher ist auch die Eintragung einer mit einem vorbestehenden absoluten Privatrecht konkurrierenden Gemeinschaftsmarke der Fallgruppe des Eingriffs in „besondere Rechte“ des Klägers zuzuordnen, so daß dessen Inhaber hierdurch individuell betroffen ist. In bezug auf den – hier al497 EuGH, Urt. v. 18. 5. 1994, Codorniu/Rat, C-309/89, Slg. S. I-1853, Rn. 17–23; zu diesem Urteil siehe Waelbroeck/Fosselard, CMLR 1995, S. 257 ff.; Arnull/Dashwood/Ross/Wyatt, European Union Law, S. 238 f.; Arnull, CMLR 2001, S. 7 ff. (40 ff.) sowie Röhl, Jura 2003, S. 830 (834). In dieser Entscheidung hat der EuGH den Inhaber der spanischen Marke „Gran Cremant de Codorniu“ als individuell betroffen angesehen von einer EG-Verordnung, durch die die Benutzung des Wortes „crémant“ für die Vermarktung von Schaumweinen den französischen und luxemburgischen Herstellern vorbehalten wurde. 498 Dies entgegen der Einordnung bei Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 7, Rn. 60 ff. 499 Arnull, CMLR 2001, S. 7 ff. (40 ff.); Röhl, Jura 2003, S. 830 (834); ähnlich Schwarze, DVBl. 2002, S. 1297 (1302), der von einem „spezifischen Sonderfall, der sich nur schwer verallgemeinern lässt“ spricht. Arnull/Dashwood/Ross/Wyatt, European Union Law, S. 238, bringen die spätere restriktivere Haltung der Gemeinschaftsgerichte mit dem Übergang der erstinstanzlichen Zuständigkeit für Direktklagen auf das EuG in Verbindung. 500 s. z. B. EuGH, Beschl. v. 23. 11. 1995, Asocarne/Rat, C-10/95 P, Slg. S. I-4149, Rn. 43. 501 Nämlich: das Zeichen „Grand crémant“ für die entsprechenden Waren zu verwenden. 502 Unter dem „Gegenstand“ des vorbestehenden Verbotsrechts wird in diesem Zusammenhang die Gesamtheit der Handlungen Privater verstanden, die aufgrund dieses Rechts verboten werden können. 503 Vgl. oben 1. Teil, § 3 C.
§ 4 Anwendung der primärrechtlichen Rechtsschutznormen
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lein interessierenden – Inhaber einer Lizenz an einem vorbestehenden absoluten Privatrecht dürfte dies allerdings nur dann gelten, wenn die Lizenz den Charakter eines – beschränkten – gegenständlichen Rechts aufweist504. Durch die Eintragung einer Gemeinschaftsmarke können theoretisch auch solche schutzwürdigen Individualinteressen Dritter berührt werden, die nicht durch die maßgebliche innerstaatliche Rechtsordnung zu einem absoluten Privatrecht in Gestalt eines „allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ ausgeformt worden sind505. In derartigen Fällen dürfte jedenfalls dann ein „besonderes Recht“ i. S. der Codorniu-Entscheidung und damit eine individuelle Betroffenheit des Dritten anzunehmen sein, wenn das betroffene Individualinteresse unter dem besonderen Schutz der Gemeinschaftsrechtsordnung steht. Dies gilt insbesondere für solche Individualinteressen, die von den Gemeinschaftsgrundrechten, wie insbesondere dem Recht auf Achtung der Menschenwürde506 und dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten507, unterfangen sind. Liegt demnach eine Klagebefugnis vor, so dürfte auch der zweite Aspekt der Erforderlichkeit – i. w. S. – einer gerichtlichen Aufhebung der Markeneintragung – nämlich die unmittelbare Betroffenheit des Klägers – regelmäßig nicht fehlen. Denn die Markeneintragung führt ohne Hinzutreten eines weiteren Hoheitsakts zum Verlust der alleinigen508 Inhaberschaft des vorbestehenden absoluten Privatrechts bzw. zum Eingriff in das nicht zu einem derartigen Recht ausgeformte Individualinteresse. Ein gegen einen anderen Hoheitsakt als die Markeneintragung gerichteter Rechtsbehelf kann daher den Schutz der Individualinteressen des Klägers nicht in gleicher Weise bewirken. 2. Begründetheit einer gegen die Markeneintragung gerichteten Nichtigkeitsklage Nach Art. 45 GMV ist eine Markeneintragung bereits dann rechtmäßig, wenn kein Widerspruch erhoben bzw. dieser bestandskräftig zurückgewiesen wurde. Ein Kläger kann also mit seiner gegen eine Markeneintragung gerichteten Nichtigkeitsklage unproblematisch lediglich geltend machen, daß die Gemeinschaftsmarke trotz einer entgegenstehenden Entscheidung im Widerspruchsverfahren eingetragen worden ist. Beruft er sich dagegen darauf, daß die Markeneintragung ein schutzwürdiges Individualinteresse beeinträchtigt, so kann er in der 504 Maßgeblich hierfür ist die jeweilige nationale Rechtsordnung; zum deutschen Recht vgl. Berlitt, Das neue Markenrecht, Rn. 349 ff. 505 Zu denken wäre etwa an das Interesse an der moralischen Integrität einer Person, vgl. oben 1. Teil, § 3 C. I. (bei Fn. 130). 506 Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 507 Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 508 Dies ist im Fall der Lizenz mutatis mutandis zu verstehen, d. h. vorbehaltlich der Rechtsstellung des Inhabers des Stammrechts.
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3. Teil: Strukturelle Ausdifferenzierungen im Gemeinschaftsmarkenrecht
Sache nur dann Erfolg haben, wenn man Art. 45 GMV insofern als mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht – und insbesondere mit den Gemeinschaftsgrundrechten – unvereinbar ansieht, als diese Norm die Prüfung der Beeinträchtigung dieses Individualinteresses aus dem für die Markeneintragung maßgeblichen Entscheidungsprogramm ausklammert. Hier ist nun nach der Art des betroffenen Individualinteresses zu differenzieren: Ist dieses zu einem – vorbestehenden – absoluten Privatrecht erstarkt, so sollte die Befugnis zur Initiierung eines – nicht fristgebundenen – relativen Nichtigkeitsverfahrens509 zur Wahrung des klägerischen Individualinteresses ausreichen. Allenfalls dann, wenn das betroffene Individualinteresse nicht zu einem absoluten Privatrecht ausgeformt ist, könnte in Extremfällen eine gegen die Markeneintragung gerichtete Nichtigkeitsklage trotz der in Art. 45 GMV normierten Beschränkung in der Sache Erfolg haben.
509
Vgl. oben § 2 B. I. und II.
4. Teil
Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes im Gemeinschaftsmarkenrecht – Insbesondere: Sanktionskriterium Die beiden Substanzelemente eines Rechtsschutzregimes sind das maßgebliche Sanktionskriterium einerseits und die maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage für die Rechtsschutzentscheidung andererseits1. Im Bereich des Gemeinschaftsmarkenrechts sind substantielle Ausdifferenzierungen insbesondere bei dem Aspekt des Sanktionskriteriums zu verzeichnen; hierauf konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen.
§ 1 Grundlagen A. Rechtssystematische Überlegungen I. Ausgangspunkt Als maßgebliches Sanktionskriterium wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Inbegriff derjenigen für den Erlaß einer Rechtsschutzentscheidung maßgeblichen materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen bezeichnet, die sich inhaltlich auf den Rechtsschutzgegenstand – also: auf die Ausgangsentscheidung – beziehen2. Dabei wird in die nachfolgende Darstellung auch das Recht der gerichtlichen Rechtsmittelverfahren einbezogen, da sich diese – ebenso wie das Beschwerdeverfahren nach der GMV – als instantielle Rechtsschutzverfahren verstehen lassen3. Übliche Sanktionskriterien sind die Rechtswidrigkeit i. w. S.4 der Ausgangsentscheidung einerseits sowie deren „Unzweckmäßigkeit“ andererseits. Letztere
1
Vgl. oben 1. Teil, § 2 B. II. Da die GMV keine Rechtsbehelfe gegen den unterlassenen Erlaß einer Entscheidung enthält, beschränken sich die nachfolgenden Erörterungen auf die Konstellation, in der der Rechtsschutzgegenstand in dem erfolgten Erlaß einer Entscheidung besteht, vgl. oben 1. Teil, § 2 A. (bei u. in Fn. 48) und B. I. 2. 3 Vgl. oben 1. Teil, § 2 A. I. 1. a) und 3. Teil, § 3 E. I. 4 Dazu eingehend sogleich im Text sowie unten II. 2
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
bedeutet normstrukturell, daß der Rechtsschutzinstanz hinsichtlich des Erlasses der Sanktionsentscheidung ein Ermessen zusteht. Die Rechtsschutzinstanz muß hier also substantiiert und plausibel darlegen, daß die Sanktionsentscheidung hinsichtlich bestimmter normativ relevanter Belange einen positiven Nutzensaldo – bzw. spiegelbildlich dazu: daß die Ausgangsentscheidung einen negativen Nutzensaldo – aufweist5. Allerdings gehört es nach der hier zugrundegelegten Definition bereits zu den Begriffsmerkmalen einer Rechtsschutzentscheidung, daß sie in Anwendung einer Rechtsnorm erlassen wird, zu deren materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen die Rechtswidrigkeit i. w. S. der Ausgangsentscheidung gehört6. Daher konzentrieren sich die folgenden Darlegungen auf die Sanktionskriterien, die der Rechtswidrigkeit i. w. S. zuzuordnen sind. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem der Ausgangsentscheidung anhaftenden sanktionsbegründenden Rechtsfehler einerseits und sonstigen fehlerfehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmalen andererseits; letztere sind funktional auf einen Rechtsfehler bezogen. Innerhalb der sanktionsbegründenden Rechtsfehler ist näherhin zwischen Verfahrensfehlern und materiellen Rechtsfehlern zu unterscheiden: Der Begriff des Verfahrensfehlers i. w. S. ist leicht zu definieren: Seine alternativen Merkmale sind, daß entweder im Zeitpunkt des Erlasses der Ausgangsentscheidung eine in einer Verfahrensnorm vorgesehene Rechtmäßigkeitsbedingung7 nicht vorlag – Verfahrensfehler i. e. S. – oder dadurch, daß die Ausgangsentscheidung durch eine andere als die hierzu berufene Entscheidungsinstanz erlassen worden ist – Zuständigkeitsfehler –. Beiden Arten von Verfahrensfehlern i. w. S. ist gemeinsam, daß sie handlungs- und nicht regelungsbezogen sind. Sie beziehen sich also auf die Entscheidung „als Handlung“ – als ein raum-zeitlich fixierbares Ereignis – und nicht auf die Entscheidung „als Regelung“ – als ein von diesem Ereignis abstrahierter, normativ „geltender“ Inhalt8. Der vertraute und scheinbar eindeutige Begriff der „materiellen“ Rechtsfehler i. w. S. bezeichnet in Wahrheit verschiedene Arten von – normstrukturell ganz unterschiedlich beschaffenen – Rechtsfehlern. Verbunden sind sie lediglich durch das gemeinsame Merkmal, daß sie sich in irgendeiner Weise auf die für die Entscheidung maßgeblichen materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen beziehen, also: auf diejenigen Rechtmäßigkeitsbedingungen, die nicht in der erfolg5
Dazu näher oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. a) (bei Fn. 155 f.). Vgl. oben 1. Teil, § 2 A. 7 Also: Einer Rechtmäßigkeitsbedingung, die in der erfolgten oder unterlassenen Vornahme einer Verfahrenshandlung besteht. 8 Grundlegend das berühmte Diktum Kelsens (Reine Rechtslehre, S. 5), die Norm sei „der spezifische Sinn eines intentional auf das Verhalten eines andern gerichteten Aktes“ und daher „etwas anderes als der Willensakt, dessen Sinn sie ist“; zur Unterscheidung zwischen Handlung und Regelung im Zusammenhang mit dem privatrechtlichen Handeln der Verwaltung Röhl, VerwArch 38 (2002), S. 531 ff. (535). 6
§ 1 Grundlagen
213
ten oder unterlassenen Vornahme einer Verfahrenshandlung bestehen. Eine erste, grundlegende Unterscheidung innerhalb dieses Bereichs ist diejenige zwischen Fehlern des Rechtsanwendungsprozesses (unten II. 1.), des Ergebnisses des Rechtsanwendungsprozesses (unten II. 2.) und der Entscheidung als solcher (unten II. 3.). II. Typologie materieller Rechtsfehler 1. Fehlerhafter Rechtsanwendungsprozeß a) Grundlagen aa) Struktur und rechtliche Determination des Rechtsanwendungsprozesses Der innere Entscheidungsprozeß oder Rechtsanwendungsprozeß besteht in der Gesamtheit der dem Erlaß einer rechtlich determinierten Entscheidung notwendigerweise vorausgehenden Erkenntnis- und Wertungsakte der Entscheidungsinstanz. In der hier gebotenen Verkürzung lassen sich folgende Schritte unterscheiden: (1) Die Gewinnung des normativen Obersatzes des juristischen Syllogismus als der rechtlichen Entscheidungsgrundlage, wobei die für den Entscheidungsinhalt erheblichen materiellen Normen des positiven Rechts erstens zu identifizieren und zweitens auszulegen – d. h. mit Blick auf die tatsächliche Entscheidungsgrundlage zu konkretisieren bzw. zu operationalisieren – sind. (2) Die Gewinnung des faktischen Untersatzes des juristischen Syllogismus als der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage. Wiederum sind mehrere Zwischenschritte zu unterscheiden: Erstens sind bestimmte Tatsachenhypothesen – „möglicherweise prozessual wahre9 Haupttatsachen“ – als für den Entscheidungsinhalt erheblich zu identifizieren10. Zweitens ist im Wege der „Tatsachenwürdigung“ die „prozessuale Wahrheit“ der identifizierten Tatsachenhypothesen festzustellen11. Ist eine Tatsachenhypothese nach dem positiven Recht
9
Zum Begriff der „prozessualen Wahrheit“ sogleich im Text. Im Sinne der in Kants Kritik der Urteilskraft verwendeten Terminologie geht es also um die Gewinnung eines problematischen Urteils. Entscheidungserheblich sind solche Tatsachenhypothesen, die ein Tatbestandsmerkmal einer als entscheidungserheblich identifizierten Rechtsnorm – in der von der Entscheidungsinstanz vorgenommenen Auslegung – ausfüllen. Die Entscheidungserheblichkeit einer bestimmten Tatsachenhypothese hängt somit sowohl von der Identifizierung bestimmter Rechtsnormen als entscheidungserheblich ab als auch von der Auslegung dieser Rechtsnormen. 11 Hierunter wird dabei deren – aus der Anwendung entsprechender Bestimmungsnormen des positiven Rechts resultierende (dazu unten bb)) – Maßgeblichkeit verstanden. 10
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
i. e. S. zu verifizieren, also zu beweisen, so ergeben sich als zusätzliche Zwischenschritte die Identifizierung bestimmter Beweistatsachen12 sowie deren Würdigung, also der Schluß von den Beweistatsachen auf die zu verifizierende Haupttatsache. (3) Die Subsumtion des tatsächlichen Untersatzes des juristischen Syllogismus unter dessen rechtlichen Obersatz. Einige der Schritte bzw. Zwischenschritte des Rechtsanwendungsprozesses können durch – im folgenden sogenannte – Bestimmungsnormen rechtlich determiniert sein: – Im Hinblick auf die Identifizierung der entscheidungserheblichen Rechtsnormen13 sind insbesondere zwei Arten von Bestimmungsnormen von Bedeutung: Zum einen kann eine Bestimmungsnorm festlegen, daß der Entscheidung nur solche Rechtsnormen zugrunde zu legen sind, auf die sich ein Verfahrensbeteiligter berufen hat. In diesen Fällen läßt sich von Einredenormen sprechen, auf die der Satz „iura novit magistratus“ keine Anwendung findet. Derartigen Einredenormen korrespondiert eine normative Einredelast eines bestimmten Verfahrensbeteiligten. Zum anderen kann eine Bestimmungsnorm die Auswahl unter mehreren abstrakt entscheidungserheblichen Rechtsnormen determinieren, indem sie den Anwendungsvorrang einer dieser Rechtsnormen anordnet14. – Als Bestimmungsnormen in bezug auf die Identifizierung bestimmter entscheidungserheblicher Tatsachenhypothesen besitzen insbesondere der Beibringungsgrundsatz und der Amtsermittlungsgrundsatz Bedeutung. Letzterer bestimmt als entscheidungserheblich sämtliche Tatsachenhypothesen, von denen die Entscheidungsinstanz mit vertretbarem Aufwand Kenntnis erlangen kann, ersterer dagegen lediglich diejenigen Tatsachenhypothesen, die ein bestimmter – „behauptungsbelasteter“ – Verfahrensbeteiligter vorgetragen hat. 12 Die in der prozeßrechtlichen Terminologie sogenannten „Beweismittel“ sind genau genommen offenkundige – nämlich gerichts- bzw. amtsbekannte – (Hilfs-)Tatsachen in bezug auf die das „Beweisthema“ bildende (Haupt-)Tatsachenhypothese. Am Beispiel: Daß die Person (Z) vor Gericht die Aussage („Ich habe den Angeklagten A. im Zeitpunkt T am Tatort gesehen“) gemacht hat, ist eine gerichtsbekannte (Hilfs)Tatsache, die mit Hilfe der allgemeinen Erfahrungssätze – insbesondere im Hinblick auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen – den Schluß auf die Haupttatsache zuläßt, daß der Angeklagte A. im Zeitpunkt T am Tatort gewesen ist. Das gerichtliche bzw. behördliche Beweisverfahren (d. h. die „Beweiserhebung“) besteht darin, entweder die als Beweismittel fungierende (Hilfs-)Tatsache selbst herbeizuführen (z. B. im Falle der Zeugenaussage) oder doch mindestens deren Gerichts- bzw. Amtsbekanntheit (z. B. im Falle der Vorlage von Urkunden). 13 Dagegen bestehen üblicherweise keine Bestimmungsnormen hinsichtlich der Auslegung von Rechtsnormen, abgesehen etwa von dem Gebot der verfassungs- bzw. primärrechtskonformen Auslegung. 14 Beispiele hierfür sind etwa die Regeln „lex specialis derogat legi generali“ oder „lex primaria derogat legi subsidiaria“; vgl. oben 2. Teil, § 2 C. I.
§ 1 Grundlagen
215
– Regelmäßig ist auch die Tatsachenwürdigung rechtlich determiniert. Hier findet sich häufig eine – ungeschriebene – Bestimmungsnorm des Inhalts, daß eine Tatsachenhypothese als tatsächliche Entscheidungsgrundlage maßgeblich, also „prozessual wahr“ ist, wenn sie entweder nicht bestritten, offenkundig, oder i. e. S. verifiziert, also bewiesen ist. Speziell hinsichtlich des Beweises einer Tatsachenhypothese können grundsätzlich sämtliche der oben herausgearbeiteten Zwischenschritte durch Bestimmungsnormen determiniert sein15. So gilt für die Identifizierung bestimmter Beweistatsachen i. d. R. entweder der Amtsermittlungs- oder der Beibringungsgrundsatz16. Weiterhin gehören in den vorliegenden Zusammenhang auch die sog. Beweisverwertungsverbote, die als „negative“ Bestimmungsnormen bestimmte Tatsachen als zulässige Beweistatsachen ausdrücklich ausschließen. In bezug auf die Beweiswürdigung – also den Schluß von den Beweistatsachen auf die zu verifizierende Haupttatsache – bestehen in der Regel in modernen Rechtsordnungen keine Bestimmungsnormen i. S. v. normativen Beweisregeln17. bb) Terminologische Klärungen: Maßgebliche, effektive und potentielle Entscheidungsgrundlage Die Gesamtheit der Rechtsnormen bzw. der Tatsachenhypothesen, die einer Entscheidung eines bestimmten Typs bei korrekter Anwendung der maßgeblichen Bestimmungsnormen zugrundezulegen sind, läßt sich als deren maßgebliche rechtliche Entscheidungsgrundlage bzw. maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage i. e. S. bezeichnen18. Entsprechend bildet die Gesamtheit der Beweistatsachen, aufgrund derer bei korrekter Anwendung der maßgeblichen Bestimmungsnormen die prozessuale Wahrheit einer für eine Entscheidung bestimmten Inhalts erheblichen Tatsachenhypothese festzustellen ist, deren „maßgebliche Beweisgrundlage“. Tatsächliche Entscheidungsgrundlage i. e. S. und Beweisgrundlage lassen sich zusammenfassend als „tatsächliche Entscheidungsgrundlage i. w. S.“ bezeichnen; im folgenden wird der Begriff der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage ausschließlich in dieser Bedeutung gebraucht. Von der maßgeblichen Entscheidungsgrundlage eines bestimmten Entscheidungstyps abzugrenzen ist die effektive rechtliche bzw. tatsächliche Entscheidungsgrundlage einer konkreten Entscheidung, also die dieser ausweislich ihrer 15
Vgl. oben bei Fn. 13. Dabei stimmen diese Bestimmungsnormen üblicherweise inhaltlich mit denjenigen überein, die für die Identifizierung bestimmter Tatsachenhypothesen als entscheidungserheblich gelten, vgl. oben nach Fn. 14. 17 Anders ist dies in vormodernen Rechtsordnungen wie etwa dem islamischen Recht. 18 Wiederum bezieht sich diese Definition sowohl auf Ausgangs- als auch auf Sanktionsentscheidungen. 16
216
4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
Begründung zugrunde gelegten Rechtsnormen bzw. Haupt- und Beweistatsachen. Mit dem Begriff der potentiellen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage soll schließlich die Gesamtheit der für eine konkrete Entscheidung erheblichen Haupt- und Beweistatsachen bezeichnet werden, die „objektiv“ existieren, also unabhängig davon, ob sie durch die Entscheidungsinstanz oder einen Verfahrensbeteiligten in das Verfahren eingeführt worden sind. b) Typologie der Fehler des Rechtsanwendungsprozesses Nach der sachlichen Abfolge des Rechtsanwendungsprozesses lassen sich drei verschiedene Typen von Fehlern unterscheiden: Zu den logischen bzw. sachlichen Fehlern gehört – neben dem Fall einer unzutreffenden Subsumtion des tatsächlichen Untersatzes unter den rechtlichen Obersatz des juristischen Syllogismus – insbesondere die Situation, daß die allgemeinen Erfahrungssätze sowie die Denkgesetze den von der Ausgangsinstanz gezogenen Schluß von den Beweistatsachen auf die zu verifizierende Haupttatsache nicht zulassen. Rechtsfehler des Rechtsanwendungsprozesses bestehen in der Verletzung einer Bestimmungsnorm hinsichtlich der Identifizierung der rechtlichen oder tatsächlichen Entscheidungsgrundlage19: Der Ausgangsentscheidung wird entweder ein nicht zur maßgeblichen Entscheidungsgrundlage gehörendes Element zugrunde gelegt (Überdetermination) oder ein zur maßgeblichen Entscheidungsgrundlage gehörendes Element nicht zugrunde gelegt (Unterdetermination). Von besonderer praktischer Bedeutung ist die Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses „aufgrund Beurteilungsdivergenz“. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß die Rechtsschutzinstanz im Rahmen der für die Gewinnung der rechtlichen oder tatsächlichen Entscheidungsgrundlage maßgeblichen Erkenntnis- und Wertungsakte zu anderen Ergebnissen gelangt als die Ausgangsinstanz. Als Folge einer solchen inzidenten – nachträglichen – Veränderung der Entscheidungsgrundlage trägt der von der Ausgangsinstanz vorgenommene Subsumtionsschluß den Entscheidungsinhalt nicht mehr. Im einzelnen kann die Rechtsschutzinstanz etwa die Entscheidungserheblichkeit einer bestimmten Rechtsnorm anders einschätzen oder diese anders auslegen als die Ausgangsinstanz20. Als Folge hiervon können beide Entscheidungsinstanzen zu divergieren19 Also der für die Entscheidung erheblichen Rechtsnormen, Tatsachenhypothesen oder Beweistatsachen. 20 Zur Fallgruppe einer Beurteilungsdivergenz hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit von Normen des positiven Rechts gehört insbesondere die Konstellation, in der die Rechtsschutzinstanz im Gegensatz zur Ausgangsinstanz eine Entscheidungser-
§ 1 Grundlagen
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den Beurteilungen der Entscheidungserheblichkeit einer Tatsachenhypothese gelangen. Eine Beurteilungsdivergenz ist weiterhin denkbar bezüglich der Frage der prozessualen Wahrheit einer Tatsachenhypothese21. Schließlich kann die Rechtsschutzinstanz den von der Ausgangsinstanz gezogenen Schluß von den Beweistatsachen auf die zu verifizierende Haupttatsache nicht teilen. c) „Begründungsimmanenter“ Charakter der Rechtskontrolle Der Rechtsanwendungsprozeß ist als solcher „transphänomenaler“ Natur und kann daher lediglich indirekt und zwar aus der Begründung der Ausgangsentscheidung erschlossen werden. Diese stellt daher notwendigerweise die maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage der Rechtsschutzentscheidung dar; die Rechtskontrolle erhält damit einen „begründungsimmanenten“ Charakter. Hieraus ergeben sich zwei wichtig Konsequenzen für die Normierung der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses als maßgebliches Sanktionskriterium: Zum einen eignet sich dieses Sanktionskriterium nur in bezug auf solche Ausgangsentscheidungen, hinsichtlich derer die Ausgangsinstanz rechtlich dazu verpflichtet ist, in einer schriftlichen Entscheidungsbegründung die essentialia des Rechtsanwendungsprozesses darzulegen22. Zum anderen bedarf es im Bereich der Verfahrensfehlerfolgen im Prinzip immer dann einer Sanktionierung der Ausgangsentscheidung, wenn deren Begründung keine derartige Darlegung enthält23. 2. Fehlerhaftes Ergebnis des Rechtsanwendungsprozesses Das Ergebnis des Rechtsanwendungsprozesses ist ein Urteil der Ausgangsinstanz des Inhalts, daß im Zeitpunkt des Erlasses der Ausgangsentscheidung eine bestimmte, für diese Entscheidung erhebliche materielle Rechtmäßigkeitsbedingung vorliegt24. Dieses Ergebnis ist dann fehlerhaft, wenn dieses Urteil – unter heblichkeit von solchen Rechtssätzen annimmt, die als „negative“ Normen des Verfassungsrechts (Grundrechte, Verbot der Ungleichbehandlung etc.) oder des einfachen Rechts (Ausnahmenormen) den Anwendungsbereich der von der Ausgangsinstanz allein für entscheidungserheblich erachteten Rechtssätze einschränken. 21 So kann deren Offenkundigkeit ebenso abweichend beurteilt werden wie der zugestehende Charakter einer prozessualen Willenserklärung. 22 Diese Voraussetzung ist beispielsweise bei mündlich erlassenen Verwaltungsakten nicht erfüllt. 23 Dies ist der Fall im Gemeinschaftsprozeßrecht, vgl. etwa EuGH, Urt. v. 26. 3. 1987, Kommission/Rat, Rs. 45/86, Slg. S. 1493, Rn. 9. 24 Dies bezieht sich auf „positive“ materielle Rechtmäßigkeitsbedingungen; gleichzusetzen ist selbstverständlich der Fall, in dem die Ausgangsinstanz annimmt, daß keine der für die Ausgangsentscheidung entscheidungserheblichen negativen materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen vorliegen.
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
Anwendung der maßgeblichen Bestimmungsnormen – unzutreffend war. Der Unterschied zwischen der Fehlerhaftigkeit des Ergebnises des Rechtsanwendungsprozesses und derjenigen des Rechtsanwendungsprozesses als solchen besteht darin, daß sich bei ersterer – nicht aber bei letzterer – bestimmte Rechtsanwendungsfehler gegenseitig kompensieren können. Zu einer derartigen Fehlerkompensation kann es etwa dann kommen, wenn die Ausgangsinstanz zwar ein Tatbestandsmerkmal einer entscheidungserheblichen Rechtsnorm zu eng auslegt, anschließend aber eine – zutreffend als prozessual wahr identifizierte25 – Tatsache hierunter subsumiert, wobei diese Subsumtion zwar nicht aufgrund der vorgenommenen, wohl aber aufgrund einer korrekten Auslegung der betreffenden Rechtsnorm zutrifft. 3. Fehlerhafte Ausgangsentscheidung als solche Das Konzept der Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher stellt auf die Gesamtheit der für den Erlaß der Ausgangsentscheidung maßgeblichen materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen ab26. Darin unterscheidet es sich von demjenigen der Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses des Rechtsanwendungsprozesses, das auf jede einzelne dieser Rechtmäßigkeitsbedingungen – bzw. auf das diesbezügliche Urteil der Ausgangsinstanz – abstellt27. Dieser Unterschied kommt insbesondere dann zum tragen, wenn die Ausgangsinstanz zwar zu unrecht angenommen hat, daß eine bestimmte, für die Ausgangsentscheidung maßgebliche materielle Rechtmäßigkeitsbedingung vorliegt, jedoch deren Rechtmäßigkeit alternativ auch von mindestens einer anderen – tatsächlich vorliegenden – materiellen Rechtmäßigkeitsbedingung abhängt: In einer solchen Konstellation ist zwar das Ergebnis des Rechtsanwendungsprozesses fehlerhaft, die Ausgangsentscheidung als solche dagegen nicht. Innerhalb des Konzepts der Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher ist nochmals zwischen handlungsbezogenen und regelungsbezogenen Fehlern zu unterscheiden28: – Die Ausgangsentscheidung ist als solche handlungsbezogen fehlerhaft, wenn im Zeitpunkt ihres Erlasses keine der hierfür maßgeblichen und als solche hinreichenden „positiven“ materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen vorlag29. – Um eine regelungsbezogene Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher handelt es sich dagegen, wenn im Zeitpunkt des Erlasses der Rechts25
Vgl. oben 1. a) aa). Genau genommen ist die Gesamtheit der für eine Entscheidung mit einem bestimmten Inhalt maßgeblichen materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen einem interpretatorisch zu erschließenden „vollständigen Rechtssatz“ zu entnehmen. 27 Vgl. oben 2. c). 28 Vgl. oben I. (vor Fn. 8). 29 Oder wenn umkehrt mindestens eine negative materielle Rechtmäßigkeitsbedingung vorlag. 26
§ 1 Grundlagen
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schutzentscheidung keine derjenigen „positiven“ materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen vorliegt, die für den Erlaß einer neuen Sachentscheidung mit demselben Tenor wie die Ausgangsentscheidung maßgeblich und als solche hinreichend sind30. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, daß die Rechtsschutzinstanz bei der Anwendung des Konzepts der Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher stets die für die Rechtsschutzentscheidung maßgeblichen Bestimmungsnormen anwendet; auf die für die Ausgangsentscheidung maßgeblichen Bestimmungsnormen kommt es dagegen nicht an31. III. Normative Strukturen möglicher Sanktionskriterien Die einzelnen materiellen Rechtsfehler stehen im Verhältnis der Subordination32 zueinander. Der „weiteste“ – d. h. voraussetzungsärmste und daher ceteris paribus von den meisten Lebenssachverhalten erfüllte – Fehlerbegriff ist derjenige der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses, der „engste“ – d. h. voraussetzungsreichste – derjenige der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher. Ein Sanktionskriterium kann erstens ausschließlich in einem bestimmten sanktionsbegründenden Rechtsfehler bestehen bzw. – in der Rechtswirklichkeit häufiger – in der alternativen Kombination eines bestimmten materiellen Rechtsfehlers und eines Verfahrensfehlers33. Zweitens kann ein – relativ weiterer – materieller Rechtsfehler des Typs A mit einem – relativ engeren – materiellen Rechtsfehler des Typs B in der Weise kumuliert werden, daß die Ausgangsentscheidung nur dann sanktioniert wird, wenn der erste vorliegt und der zweite nicht vorliegt34. Drittens schließlich kann ein sanktionsbegründender
30
Das in Fn. 29 Gesagte gilt hier entsprechend. Gilt daher für die Gewinnung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage der Ausgangsentscheidung der Beibringungsgrundsatz, so ist diese Entscheidung gegen eine Sanktionierung aufgrund einer erst im Rechtsschutzverfahren von dem behauptungsbelasteten Verfahrensbeteiligten vorgetragenen Haupt- oder Beweistatsache „immunisiert“, wenn entweder das Sanktionskriterium der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses gilt oder wenn entsprechende Präklusionsregeln in bezug auf die Gewinnung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage der Rechtsschutzentscheidung gelten. 32 Dazu allgemein oben 2. Teil, § 2 C. I. 33 Dabei kann grundsätzlich jeder der einzelnen materiellen Rechtsfehler mit einem Verfahrensfehler alternativ kombiniert werden. Dagegen ist eine derartige Verknüpfung von materiellen Rechtsfehlern verschiedenen Typs wegen des insoweit bestehenden Subordinationsverhältnisses (vgl. soeben bei Fn. 32) nicht sinnvoll. 34 Der – relativ weitere – Rechtsfehler X ist hier also ein positives, der – relativ engere – Rechtsfehler Y ein negatives Tatbestandselement des Sanktionskriteriums; zu Beispielen s. unten B. und C. 31
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
Rechtsfehler eines bestimmten Typs – Verfahrensfehler oder materieller Rechtsfehler – mit einem fehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmal kumuliert werden. Ein häufig zu findendes fehlerakzessorisches Tatbestandsmerkmal ist die Erhebung einer Rüge durch einen bestimmten Verfahrensbeteiligten und zwar namentlich dem Verfahrensinitiator. Eine Rüge besteht in einer Rechtsbehauptung des Inhalts, der Rechtsanwendungsprozeß leide an einem bestimmten Fehler. Wird eine derartige Rügelast mit der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses kumuliert, so wird die Ausgangsentscheidung nur dann sanktioniert, wenn gerade der von dem rügebelasteten Verfahrensbeteiligten behauptete Fehler des Rechtsanwendungsprozeses tatsächlich vorliegt. Besondere Bedeutung kommt fehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmalen auch in der Kombination mit einem Verfahrensfehler zu35. Je nachdem, welche Art von Rechtsfehler das positive Tatbestandsmerkmal eines bestimmten Sanktionskriteriums bildet, soll nachfolgend von materiellrechtlichen bzw. verfahrensrechtlichen Sanktionskriterien die Rede sein. Der Begriff des verfahrensrechtlichen Sanktionskriteriums bezeichnet aus der Perspektive des Rechtsschutzregimes – gleichsam spiegelbildlich – dasjenige normative Phänomen, das aus der Perspektive des „Erlaßregimes“ der Ausgangsentscheidung üblicherweise unter dem Stichwort der „Verfahrensfehlerfolgen“ behandelt wird. IV. Rechtspolitische Parameter für die Normierung von Sanktionskriterien – Insbesondere: Verfahrensökonomie 1. Materiell-rechtliche Sanktionskriterien: „Reformatorische“ und „kassatorische“ Rechtsschutzverfahren a) Systematische Überlegungen Die – legislative oder jurisprudentielle – Normierung eines bestimmten materiell-rechtlichen Sanktionskriteriums wird rationalerweise auch von Erwägungen der Verfahrensökonomie bestimmt. Hier besteht nun eine Beziehung zwischen dem Sanktionskriterium als einem Substanzelement eines Rechtsschutzregimes einerseits und dem Rechtsschutzinhalt als einem von dessen Strukturelementen36 andererseits: Verkürzt gesprochen geht es bei der Frage des Sanktionskriteriums um das „ob“ einer Sanktionsentscheidung, bei derjenigen des Rechtsschutzinhalts um deren „wie“. Daher ist es plausibel, daß auch die Frage des Sanktionskriteriums in gängiger dogmatischer Terminologie unter dem Stich-
35 36
s. näher unten IV. 2. Hierzu oben 3. Teil, § 3 F.
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wort des „reformatorischen“ oder aber lediglich „kassatorischen“ Charakters des Rechtsschutzverfahrens behandelt wird37. Ansatzpunkt der verfahrensökonomischen Erwägungen ist die Feststellung, daß eine Aufhebung der Ausgangsentscheidung eigentlich dem Prinzip der Verfahrensvermeidung zuwiderläuft, da sie zur Folge hat, daß das Ausgangsverfahren wieder auflebt und vor der Ausgangsinstanz fortgesetzt wird. Bei der Abänderung der Ausgangsentscheidung wird diese Folge dagegen vermieden38. Das Prinzip der Verfahrensvermeidung wird daher durch ein Sanktionskriterium optimal verwirklicht39, das nur dann erfüllt ist, wenn auch eine Abänderung der Ausgangsentscheidung rechtlich möglich ist. Die Abänderung der Ausgangsentscheidung besteht aber – wie gezeigt40 – in dem Erlaß einer neuen Sachentscheidung mit anderem Inhalt als die Ausgangsentscheidung. Daher gewährleistet nur das Sanktionskriterium der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher eine strukturelle Konkordanz zwischen Sanktionierung und Abänderbarkeit der Ausgangsentscheidung. Denn dieses Sanktionskriterium ist nur dann erfüllt, wenn im Zeitpunkt des Erlasses der Rechtsschutzentscheidung keine der für den Erlaß einer neuen Sachentscheidung mit demselben Tenor wie die Ausgangsentscheidung maßgeblichen „positiven“ materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen vorlag41. Verwirklicht somit das Sanktionskriterium des regelungsbezogenen Fehlers der Ausgangsentscheidung als solcher in optimaler Weise das Prinzip der Verfahrensvermeidung, so gilt allerdings gleiches nicht für das Prinzip der Verfahrensstraffung. Denn je enger – d. h. je voraussetzungsreicher – ein zum Sanktionskriterium erhobener Begriff des materiellen Rechtsfehlers ist, desto größer ist der durch die Rechtsschutzentscheidung induzierte verfahrensmäßige Aufwand in Gestalt der Erkenntnis- und Wertungsakte, die den Prozeß der Rechtsanwendung durch die Rechtsschutzinstanz konstituieren. Das Sanktionskriterium des regelungsbezogenen Fehlers der Ausgangsentscheidung als solcher ist aber – wie gezeigt42 – das voraussetzungsreichste. Dagegen ist dasjenige der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses am voraussetzungsärmsten und verwirklicht damit das Prinzip der Verfahrensstraffung am besten. Somit bedarf es einer Abwägung zwischen den hier gegenläufigen Teilprinzipien der Verfah-
37 Hierzu im Zusammenhang mit den gerichtlichen Rechtsmitteln Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 144, Rn. 29, 39, 72 ff.; Bölhoff, Rechtsmittelverfahren, S. 89 f., 128. 38 Vgl. oben 3. Teil, § 3 F. II. 3. b) bb). 39 Zum Charakter als Optimierungsgebot vgl. oben 3. Teil, § 3 F. II. 3. b) aa) (bei und in Fn. 361). 40 Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. a) (bei Fn. 143). 41 Vgl. oben II. 3. (vor Fn. 32). 42 Vgl. oben III. (nach Fn. 32).
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
rensökonomie, wobei die skalare Abstufung in der Wertigkeit von Ausgangsund Rechtsschutzinstanz zu berücksichtigen ist43. Der Vergleich der einzelnen Sanktionskriterien zeigt im übrigen, daß es sich bei der Unterscheidung zwischen „reformatorischen“ und lediglich „kassatorischen“ Rechtsschutzverfahren um eine graduelle Abstufung und nicht um eine strikte Dichotomie handelt. An dem „reformatorischen“ Ende dieser Skala steht das Sanktionskriterium der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses, an deren „kassatorischen“ Ende dasjenige der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung. b) Exkurs: Rechtsvergleichende Beispiele In den einzelnen nationalen Rechtsordnungen sind unterschiedliche materiellrechtliche Sanktionskriterien für das gerichtliche Rechtsschutzverfahren in bezug auf administrative Hoheitsakte maßgeblich. Diese spiegeln die jeweilige konzeptionelle Grundausrichtung des gerichtlichen Rechtsschutzauftrags sowie die diesen prägenden historischen Traditionen wieder. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung mag es hierzu bei einigen skizzenhaften Bemerkungen zum deutschen und französischen Recht bewenden, als denjenigen Rechtsordnungen, die das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzsystem am stärksten geprägt haben. Im deutschen Verwaltungsprozeßrecht sind positive Tatbestandsmerkmale des materiell-rechtlichen Sanktionskriteriums der Anfechtungsklage die handlungsbezogene Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher44 sowie das fehlerakzessorische Tatbestandsmerkmal der Verletzung des Klägers in eigenen Rechten45. Diese Pflicht des Gerichts zur „Herstellung materieller Spruchreife“46 ist letztlich Ausdruck einer in die vormoderne Epoche zurückreichen43
Vgl. oben 3. Teil, § 3 F. II. 3. b) aa) (bei Fn. 367). So muß das Gericht „alle [. . .] rechtlichen Gesichtspunkte auch dann berücksichtigen, wenn der Verwaltungsakt nicht auf sie gestützt war, vorausgesetzt, daß [dieser] dadurch nicht in seinem Wesen verändert wird“, vgl. Eyermann/Schmidt, VwGO, § 113, Rn. 22; ebenso Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 113, Rn. 21: Gemäß dem Grundsatz „Reparatur geht vor Kassation“ ist beispielsweise ein „Auswechseln der Rechtsgrundlage“ durch das Gericht möglich. Die Ausnahme hinsichtlich der Veränderung eines Verwaltungsakts „in seinem Wesen“ bezieht sich, wie Eyermann/Schmidt, VwGO, § 113, Rn. 23, im Anschluß an Schoch, DÖV 1984, S. 401 richtig ausführt, lediglich auf Ermessensentscheidungen und Entscheidungen aufgrund eines Beurteilungsspielraums da es hier „in Wahrheit nicht um das Nachschieben von Gründen, sondern um das Nachholen von Ermessenerwägungen geht [] der Sache nach [. . .] also ein neuer Verwaltungsakt erlassen [wird]“. 45 Dazu Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 113, Rn. §, 7, 11 ff. 46 Vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 46, Rn. 72 f. 44
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den Tradition justizstaatlichen Verwaltungshandelns, in der Ausgangs- und Rechtsschutzinstanz in einer funktionellen Kontinuität erschienen. Vor diesem Hintergrund ist die eher reformatorische Ausrichtung des materiell-rechtlichen Sanktionskriteriums plausibel. Noch stärker „reformatorisch“ ausgestaltet ist das materiell-rechtliche Sanktionskriterium des Widerspruchsverfahrens nach der VwGO, das im wesentlichen in der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher besteht47. Im gerichtlichen Revisionsverfahren sind positive Tatbestandsmerkmale des materiell-rechtlichen Sanktionskriteriums die Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses und – als fehlerakzessorisches Tatbestandsmerkmal – eine Rüge des Rechtsmittelführers, negatives Tatbestandsmerkmal die regelungsbezogene Fehlerhaftigkeit des vorinstanzlichen Urteils48. Anders ist das materiell-rechtliche Sanktionskriterium im französischen Verwaltungsprozeßrecht ausgestaltet. Im Rahmen der typusprägenden Klageart des „recours pour excès de pouvoir“ ist der Sache nach das Sanktionskriterium der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses maßgeblich, kumulativ verbunden mit dem fehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmal einer Rüge des betreffenden Rechtsanwendungsfehlers49. Diese Ausrichtung ist historisch damit zu erklären, daß die Sanktionierung einer Verwaltungsentscheidung bis ca. 1850 47 Wenn Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 684, demgegenüber ausführt, das Kriterium für die Entscheidung über den Widerspruch liege darin, ob die Aufrechterhaltung des Verwaltungsakts im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids rechtmäßig ist, so liegt hierin – entgegen Schenke (ebd.) – kein Unterschied zu dem Sanktionskriterium der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung. Dies wird auch nicht durch das von Schenke (a. a. O., Rn. 792) gebrachte vermeintliche Gegenbeispiel (Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung der „Entlassung“ eines Beamten wegen Trunksucht, obwohl die Trunksucht im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids nicht mehr besteht) widerlegt. Denn maßgeblich für die materielle Rechtmäßigkeit der hier einschlägigen Versetzung eines Beamten in den Ruhestand ist nach § 42 BBG, daß dieser wegen seines körperlichen Zustands oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd unfähig ist. Dieses Tatbestandsmerkmal besteht strukturell in einer Prognose über eine zukünftige Situation. Eine derartige Prognose kann trotz des zwischenzeitlichen Wegfalls der dem ursprünglichen Verwaltungsakt zugrundegelegten Prognosebasis (akute Trunksucht) auch im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids noch – und zwar auf einer anderen Prognosebasis – begründet sein. Eine Entscheidung mit demselben Tenor wie die Ausgangsentscheidung kann daher auch in diesem Zeitpunkt noch in materiell rechtmäßiger Weise erlassen werden; das Sanktionskriterium der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung ist in diesem Falle also nicht erfüllt. 48 Zur Revision im Verwaltungsprozeßrecht Eichberger, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 144, Rn. 29, 39, 72 ff. Die materiell-rechtlichen Sanktionskriterien der Revision entsprechen somit weitgehend denjenigen des Rechtsmittelverfahrens vor dem EuGH (vgl. oben B. II.), mit dem Unterschied allerdings, daß bei ersteren die regelungsbezogene Fehlerhaftigkeit des vorinstanzlichen Urteils an die Stelle von dessen handlungsbezogener Fehlerhaftigkeit tritt; dies ergibt sich daraus, daß nach dem Erlaß des vorinstanzlichen Urteils erfolgte Rechtsänderungen für die Entscheidung über die Revision zu berücksichtigen sind, vgl. Eichberger, a. a. O. Rn. 25.
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nur wegen eines Zuständigkeitsfehlers in Betracht kam50. Die damit erforderliche Spezifizierung des Rechtsfehlers wurde beibehalten, als der Conseil d’Etat dazu überging, Verwaltungsentscheidungen auch aus materiell-rechtlichen Gründen zu sanktionieren. Darüberhinaus war der Conseil d’Etat als jedenfalls quasigerichtliche Rechtsschutzinstanz nach dem bis 1872 jedenfalls theoretisch aufrechterhaltenen System der „justice retenue“51 nicht selbst zur Entscheidung über eine Klage befugt, also ggf. zur Aufhebung der angegriffenen Verwaltungsentscheidung. Vielmehr richtete er lediglich eine entsprechende Empfehlung an das Staatsoberhaupt als die Exekutivspitze. Strukturell hatte diese verfahrensbeendende Empfehlung aber einen Feststellungscharakter. Auch aus diesem Grund war somit eine Spezifizierung des Rechtsfehlers – in Gestalt der Feststellung eines bestimmten Rechtsfehlers – eher plausibel, als dies bei einem gestaltenden Tenor der verfahrensbeendenden Entscheidung der Fall gewesen wäre. Überspitzt ließe sich somit sagen, der „recours pour excès de pouvoir“ verdanke seinen ausgesprochen „kassatorischen“ Charakter jedenfalls auch der Tatsache, daß der Rechtsschutzinstanz kassatorische Befugnisse ursprünglich versagt waren. 2. Verfahrensrechtliche Sanktionskriterien a) Ausgangspunkt: Nutzenspezifische und nicht nutzenspezifische Rechtmäßigkeitsbedingungen Leidet die Ausgangsentscheidung an einem Verfahrensfehler, so kommt deren Sanktionierung nur in Gestalt der Aufhebung in Betracht. Denn da die Ausgangsentscheidung nicht notwendigerweise zugleich mit einem regelungsbezogenen Fehler behaftet ist, ist nicht zwingend gewährleistet, daß im Zeitpunkt des Erlasses der Rechtsschutzentscheidung eine neue Sachentscheidung mit einem anderen Inhalt als die Ausgangsentscheidung rechtmäßigerweise erlassen werden kann52. Es liegt daher aus den bereits beschriebenen53 verfahrensökonomischen Gründen nahe, das verfahrensrechtliche Sanktionskriterium in der Weise restriktiv auszugestalten, daß der sanktionsbegründende Verfahrensfehler mit einem – positiven oder negativen – fehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmal kumuliert wird. Diesen Weg haben in der Tat zahlreiche Rechtsordnungen 49 Eingehend Chapus, Droit du contentieux administratif, Rn. 905 ff.; s. a. Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 337 ff. 50 Burdeau, Histoire du droit administratif, S. 170 ff.; Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 339 f. 51 Hierzu eingehend Burdeau, Histoire du droit administratif, S. 68, 200 ff. 52 Vgl. oben 1. (vor Fn. 42). 53 Vgl. oben 1.
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beschritten54. So finden sich derartige Einschränkungen der Verfahrensfehlerfolgen bei den gerichtlichen Rechtsschutzverfahren in bezug auf Verwaltungsentscheidungen nicht nur im deutschen Recht – in § 46 VwVfG – sondern beispielsweise auch im französischen Recht55. Auch das Gemeinschaftsprozeßrecht kennt grundsätzlich – wenn auch bei gewissen Nuancierungen – derartige fehlerakzessorische Tatbestandsmerkmale56. Zum Teil knüpfen diese fehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmale an die Art des Verfahrensfehlers und zwar insbesondere an dessen konkrete oder abstrakte „Ergebnisrelevanz“ an. Nach dem ersten – situationsbezogenen – Kriterium wird die Ausgangsentscheidung nur dann sanktioniert, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, daß sich der Verfahrensfehler im konkreten Fall auf den Ausgang des Verfahrens ausgewirkt hat57, nach dem zweiten – normbezogenen – Kriterium nur dann, wenn gegen eine Verfahrensnorm verstoßen wurde, bei deren Verletzung typischerweise eine derartige Auswirkung nicht ausgeschlossen werden kann58. An die Art der Ausgangsentscheidung – nämlich: an die Frage, ob eine Ermessens- oder Beurteilungsermächtigung zu deren materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen zählt – knüpft dagegen das normbezogene Kriterium der „rechtlichen Alternativlosigkeit“ an59. Unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie lassen sich diese fehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmale – und zugleich ihr Fehlen im Zusammenhang mit materiellen Rechtsfehlern – aus dem Postulat rechtfertigen, daß die Aufhebung der Ausgangsentscheidung als solche einen positiven Nutzensaldo aufweisen muß. Dabei ist zwischen nutzenspezifischen und nicht nutzenspezifischen Rechtmäßigkeitsbedingungen für eine Ausgangsentscheidung eines be54
Rechtsvergleichend Schmidt-Aßmann/Krämer, EuZÖR-Sonderheft 1993, S. 99 ff. Hierzu Moreau, EuZÖR-Sonderheft 1993, S. 85 ff. sowie eingehend Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 156 ff. 56 Dazu näher unten B. 57 Richtigerweise kommt es auf den Ausgang des Verfahrens an und nicht – wie nach einer verbreiteten dogmatischen Terminologie – auf den Inhalt der – verfahrensbeendenden – Ausgangsentscheidung. Denn die Alternative zu deren Erlaß wird – außerhalb einer nur bei antragsinitiierten Verfahren bestehenden „Bescheidungspflicht“ – häufig nicht im Erlaß einer Entscheidung anderen Inhalts sondern darin liegen, daß überhaupt keine Entscheidung erlassen wird; zum Ganzen auch Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 193 ff., 262 ff., 309 ff. 58 Zur Begrifflichkeit vgl. Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 164 (bei und in Fn. 34), 243, sowie Schmidt-Aßmann/Krämer EuZÖR-Sonderheft 1993, S. 99 ff. (105, 108, 115 f.). 59 Zur Begrifflichkeit Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 164, Fn. 34 u. S. 245; das Kriterium der rechtlichen Alternativlosigkeit war – bis zum 19. 9. 1996 – im deutschen Recht in § 46 VwVfG normiert; siehe auch bereits Schmidt-Aßmann/Krämer, EuZÖR-Sonderheft 1993, S. 99 ff. (107 f.) 55
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stimmten Typs zu unterscheiden. Eine Rechtmäßigkeitsbedingung ist nutzenspezifisch, wenn bei ihrem Vorliegen die durch den Erlaß der Entscheidung herbeigeführten günstigen Zustandsveränderungen die ungünstigen überwiegen, während bei ihrem Nicht-Vorliegen die Entscheidung einen negativen Nutzensaldo aufweist60. Die Grundlage hierfür bildet die rechtssystematische Überlegung, daß der Gesetzgeber – aufgrund einer Bewertung der durch den Erlaß einer bestimmten Entscheidung herbeigeführten Zustandsveränderungen und im Rahmen einer gestalterischen Abwägung – die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung an Bedingungen knüpft, bei deren Vorliegen die günstigen Zustandsveränderungen die ungünstigen überwiegen. Materielle Rechtmäßigkeitsbedingungen sind stets in diesem Sinne nutzenspezifisch, verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeitsbedingungen dagegen – jedenfalls im Grundsatz – nicht. Verstößt die Ausgangsentscheidung gegen eine derartige nutzenspezifische Rechtsnorm und weist ihr Erlaß mithin einen negativen Nutzensaldo auf, so wird dieser durch die Sanktionsentscheidung kompensiert, deren Nutzensaldo somit per definitionem positiv ist. b) Funktion fehlerakzessorischer Tatbestandsmerkmale Hat eine Rechtsnorm dagegen keinen nutzenspezifischen Charakter – wie dies bei Verfahrensnormen i. d. R. der Fall ist – und weist der Erlaß einer hiergegen verstoßenden Ausgangsentscheidung daher keinen negativen Nutzensaldo auf, so kann sich ein positiver Nutzensaldo der Sanktionsentscheidung nur aus bestimmten zusätzlichen Umständen ergeben. Die Funktion der fehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmale besteht nun darin, derartige zusätzliche Umstände zu artikulieren. Besondere Bedeutung erlangt dabei die Situation, in welcher die effektive tatsächliche Entscheidungsgrundlage der Ausgangsentscheidung deren potentielle tatsächliche Entscheidungsgrundlage61 nicht vollständig ausschöpft. Denn in diesem Fall kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, daß sich der Verfahrensfehler auf den Ausgang des Verfahrens ausgewirkt hat. Das Postulat einer möglichst vollständigen Ausschöpfung der potentiellen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage ist dem Prinzip der materialen Richtigkeitsgewähr zuzuordnen, das – ähnlich wie die Prinzipien der Verfahrensökonomie und der Verfahrensbeschleunigung62 – eine regulative Idee bzw. ein Optimierungsgebot dar60 Am Beispiel: Besteht eine Rechtmäßigkeitsbedingung für die Versagung der Einbürgerung darin, daß von dem Bewerber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit des Aufnahmestaates ausgeht und liegt diese Rechtmäßigkeitsbedingung im Einzelfall nicht vor, so bewirkt die gleichwohl ausgesprochene Versagung der Einbürgerung eine ungünstige Zustandsveränderung für den Bewerber, ohne jedoch eine günstige Zustandsveränderung für die Öffentlichkeit zu bewirken; der Nutzensaldo der Entscheidung ist daher negativ. 61 Vgl. oben II. 1. a) aa).
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stellt, das bei der Ausgestaltung gesetzlicher oder richterrechtlicher Verfahrensnormen zu beachten ist63. Die an die Art des Verfahrensfehlers anknüpfenden fehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmale stellen der Sache nach auf die unvollständige Ausschöpfung der potentiellen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage ab: Bezieht sich die verletzte Verfahrensnorm ihrem Gegenstand nach überhaupt nicht auf die Gewinnung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage, so ist der Verfahrensfehler bereits nicht „abstrakt ergebnisrelevant“. Die praktisch wichtigste abstrakt ergebnisrelevante Verfahrensnorm ist die Verpflichtung zur Gewährung des rechtlichen Gehörs64. An der „konkreten Ergebnisrelevanz“ eines vorliegenden abstrakt ergebnisrelevanten Verfahrensfehlers fehlt es, wenn im konkreten Fall davon auszugehen ist, daß entweder die potentielle tatsächliche Entscheidungsgrundlage gleichwohl vollständig ausgeschöpft worden ist oder daß wenigstens auch bei deren – hypothetischer – vollständiger Ausschöpfung das Ausgangsverfahren keinen anderen Ausgang genommen hätte65. Ist der vorliegende Verfahrensfehler abstrakt ergebnisrelevant66, so resultiert ein positiver Nutzensaldo der Aufhebung der Ausgangsentscheidung im Regelfall daraus, daß diese erforderlich ist, um den Erlaß einer material richtigen – d. h. aufgrund einer vollständig ausgeschöpften potentiellen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage ergehenden – neuen Sachentscheidung zu ermöglichen.
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Vgl. oben 3. Teil, § 3 F. II. 3. b) aa) sowie unten 5. Teil, § 2. Die Anforderungen dieses materialen Prinzips gehen über das Gebot hinaus, die materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidungen – d. h. die Fehlerfreiheit des Rechtsanwendungsprozesses und der Entscheidung als solcher – zu gewährleisten. Dies zeigt sich an folgendem Beispiel: Im Anwendungsbereich des Beibringungsgrundsatzes ist eine auf die Tatsache A. nicht gestützte Entscheidung materiell rechtmäßig, wenn der behauptungsbelastete Verfahrensbeteiligte diese Tatsache nicht vorgetragen hat – und zwar auch dann, wenn dieses Unterlassen auf einem Verfahrensfehler – wie der Verletzung des Anhörungs- oder des Akteneinsichtsrechts – beruhte. 64 Daß sich ihre Verletzung auf die Auswahl der effektiven tatsächlichen Entscheidungsgrundlage zumindest auswirken kann, ist offensichtlich zunächst im Anwendungsbereich des Beibringungsgrundsatzes, da nicht ausgeschlossen werden kann, daß der nicht oder nur unzureichend angehörte Beteiligte bei ordnungsgemäßer Anhörung entscheidungserhebliche Haupt- oder Beweistatsachen vorgetragen haben würde. Die Anhörung der Beteiligten stellt jedoch auch im Anwendungsbereich des Amtsermittlungsgrundsatzes ein wesentliches Instrument zur Gewinnung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage dar. Weiterhin kann sich die Verletzung des rechtlichen Gehörs auch auf die Auswahl der realen rechtlichen Entscheidungsgrundlage auswirken, nämlich dann, wenn ein Beteiligter es aufgrund unterbliebener oder nur unvollständiger Anhörung unterläßt, sich auf eine einredeweise geltend zu machende Rechtsnorm zu berufen. 65 Hierzu Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 113, Rn. 29. 66 Gelegentlich verzichten gesetzliche bzw. richterrechtliche Fehlerfolgennormen allerdings – v. a. aus Gründen der schwierigen Beweisbarkeit – auf das Erfordernis der konkreten Ergebnisrelevanz des Verfahrensfehlers. 63
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Unter bestimmten normativen Rahmenbedingungen ist eine Aufhebung einer mit einem abstrakt ergebnisrelevanten Verfahrensfehler behafteten Ausgangsentscheidung allerdings nicht erforderlich, um den Erlaß einer material richtigen67 Entscheidung zu ermöglichen; in einem derartigen Fall weist eine Aufhebung der Ausgangsentscheidung daher keinen positiven Nutzensaldo auf. Allgemein lassen sich diese normativen Rahmenbedingungen dahingehend umschreiben, daß die Ausgangsentscheidung immer dann sanktioniert wird, wenn feststeht, daß das Ausgangsverfahren ohne den Verfahrensfehler – d. h. bei vollständiger Ausschöpfung der potentiellen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage – ein anderes Ergebnis gehabt hätte. Eine derartige Neutralisierung des Verfahrensfehlers durch das Rechtsschutzverfahren setzt dreierlei voraus: Erstens muß das maßgebliche materiell-rechtliche Sanktionskriterium in der Weise ausgestaltet sein, daß die Ausgangsentscheidung nicht lediglich dann sanktioniert wird, wenn sie unter Verletzung einer Bestimmungsnorm hinsichtlich der Gewinnung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage ergangen ist. Vielmehr muß die Ausgangsentscheidung bereits dann sanktioniert werden, wenn sich aufgrund der – gemäß den für die Rechtsschutzentscheidung maßgeblichen Bestimmungsnormen gewonnenen – tatsächlichen Entscheidungsgrundlage ergibt, daß keine der für ihren Erlaß68 maßgeblichen und als solche hinreichenden „positiven“ materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen vorlag69. Diese Voraussetzung ist aber nur bei dem Sanktionskriterium der – handlungs- oder regelungsbezogenen – Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung erfüllt70. Materiell-rechtliches und verfahrensrechtliches Sanktionskriterium stehen also in einer Wechselwirkung zueinander. Zweitens bestehen solche Wechselwirkungen auch zwischen dem verfahrensrechtlichen Sanktionskriterium und den für den Erlaß der Ausgangsentschei67 D. h. aufgrund einer vollständig ausgeschöpften potentiellen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage ergehenden. 68 Bzw. für den Erlaß einer neuen Sachentscheidung mit demselben Tenor wie die Ausgangsentscheidung. 69 Dies ist der Sinn der geläufigen Umschreibung, daß „nach materiellem Recht keine andere Sachentscheidung hätte getroffen werden dürfen“. Zu diesem Aspekt auch Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, § 70, Rn. 38: Die Sanktionslosigkeit verfahrensfehlerhafter Verwaltungsentscheidungen „wo in der Sache selbst richtig entschieden worden ist, [. . .] setzt [. . .] eine eingehende gerichtliche Inhaltskontrolle voraus“. 70 Da im deutschen Verwaltungsprozeßrecht das Sanktionskriterium der handlungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung gilt, können – jedenfalls im Bereich des gebundenen Verwaltungshandelns – Mängel der behördlichen Sachverhaltsermittlung grundsätzlich im Verwaltungsprozeß „überholt“ werden, vgl. Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 249. § 46 VwVfG a. F. stellte daher in rechtsstaatlich jedenfalls vertretbarer Weise lediglich auf die rechtliche Alternativlosigkeit der Sachentscheidung ab, vgl. auch Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, § 46, Rn. 73.
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dung71 maßgeblichen materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen: So darf eine als solche hinreichende „positive“ materielle Rechtmäßigkeitsbedingung nicht darin bestehen, daß die Ausgangsinstanz den durch die Ausgangsentscheidung bewirkten positiven Nutzensaldo darlegt, also nicht in einer Ermessens- oder Beurteilungsermächtigung. Denn das Prinzip der materialen Richtigkeitsgewähr erfordert gerade, daß diese Darlegung auf einer vollständigen Ausschöpfung der potentiellen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage beruht. Eine Neutralisierung von Verfahrensfehlern kommt also nur in bezug auf eine „gebundene“ Ausgangsentscheidung in Betracht. Dies ist der präzise normative Sinn des an die Art der Ausgangsentscheidung anknüpfenden – negativen – fehlerakzessorischen Tatbestandsmerkmals der „rechtlichen Alternativlosigkeit“72. Drittens darf die maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage für die Rechtsschutzentscheidung nicht in den entsprechenden Feststellungen in der Begründung der Ausgangsentscheidung bestehen73.
B. Sanktionskriterien im Gemeinschaftsprozeßrecht I. Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV 1. Materiell-rechtliches Sanktionskriterium a) Grundsatz: Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses und Rügelast Art. 230 EGV Abs. 2 EGV umschreibt den i. e. S. materiell-rechtlichen „Anfechtungsgrund“74 als die „Verletzung des Vertrags oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm“. Nach der Auslegung und Anwendung dieses Tatbestands durch die Gemeinschaftsgerichte besteht das maßgebliche materiell-rechtliche Sanktionskriterium für die Nichtigkeitsklage in erster Näherung in der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses. Allerdings wird dies nur selten so explizit ausgesprochen, wie es der EuGH in einem Beschluß vom 11. Mai 200075 getan hat. Dort hat er es ausdrücklich als die Aufgabe der 71 Bzw. für den Erlaß einer neuen Sachentscheidung mit demselben Tenor wie die Ausgangsentscheidung. 72 Das zur Folge hat, daß die gesamte Klasse der rechtlich gebundenen Ausgangsentscheidungen wegen eines Verfahrensfehlers – egal welcher Art – nicht sanktioniert wird. 73 Anders als dies etwa im Verhältnis zwischen Tatsachen- und Revisionsgericht der Fall ist. 74 Ausführlich zu diesen „Anfechtungsgründen“ Gaitanides, in: G/S, Art. 230 EG, Rn. 115 ff.; Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 95. 75 Deutsche Post/Kommission, C-428/98 P, Slg. S. I-3061, Rn. 24–29.
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Gemeinschaftsgerichte im Rahmen einer Nichtigkeitsklage bezeichnet, – lediglich – zu prüfen, ob die in der Begründung der Ausgangsentscheidung enthaltene Argumentation des betreffenden Organs stichhaltig war. Ein weiterer Hinweis auf die Maßgeblichkeit des Sanktionskriteriums der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses kann jedoch der ständigen Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte entnommen werden, wonach der Zweck der Begründungspflicht nach Art. 253 EGV jedenfalls auch darin besteht, die Wahrnehmung der gerichtlichen Rechtsschutzfunktion – „Kontrollaufgabe“ – zu ermöglichen76. Wird die erforderliche Begründungsdichte unterschritten77 – d. h. fehlt es an einer Darlegung der essentialia des Rechtsanwendungsprozesses und insbesondere an der Nennung der Rechtsgrundlage der Ausgangsentscheidung78 –, so stellt dies stets einen sanktionsbegründenden Verfahrensfehler dar79. Denn die Anwendung des Sanktionskriteriums der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses ist in diesem Falle unmöglich. Diese Sanktionierung von Verstößen gegen die Begründungspflicht ist somit das verfahrensrechtliche Korrelat einer begründungsimmanenten Rechtskontrolle. Kumulativ verbunden mit dem Sanktionskriterium der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses ist – wie im französischen Verwaltungsprozeßrecht80 – das fehlerakzessorische Tatbestandsmerkmal einer Rüge des betreffenden Rechtsanwendungsfehlers81. Die angefochtene Ausgangsentscheidung wird grundsätzlich nur dann sanktioniert, wenn gerade der vom Kläger behauptete konkrete Rechtsanwendungsfehler vorliegt82, die Rüge – der sogenannte „Klagegrund“83 – also begründet ist. Diese Rügelast betrifft also nicht lediglich, wie ihre legislative Verortung in Art. 21 Abs. 1 der EuGH-Satzung und Art. 44 Abs. 1 lit. c) Vf-O EuG vermuten lassen könnte, die Zulässigkeit der Klage84, 76 s. nur EuGH, Urt. v. 19. 9. 2000, Deutschland/Kommission, C-156/98, Slg. S. I6857, Rn. 96; Urt. v. 17. 1. 1984, VBVB und VBBB/Kommission, Rs. 43/82 und 63/ 82, Slg. S. 19, Rn. 22. Der weitere Zweck der Begründungspflicht besteht darin, dem von einem Rechtsakt Betroffenen die Rechtsverteidigung zu erleichtern. 77 Hierzu eingehend Schmidt, in: G/S, Art. 230 EG, Rn. 6 ff. 78 Sofern sich diese nicht aus anderen, in dem Rechtsakt selbst enthaltenen Anhaltspunkten ergibt. 79 Dieser braucht sogar – anders als materielle Rechtsfehler – vom Kläger nicht gerügt zu werden; hierzu Gaitanides, in: G/S, Art. 230 EG, Rn. 132 a. E. (m.w. N.). 80 Vgl. oben A. V. 81 Dazu Lasok, The European Court of Justice, S. 308 ff.; Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 95; Hackspiel, in: G/S, Art. 21 Satzung des Gerichtshofs, Rn. 16 ff.; zu einzelnen punktuellen Einschränkungen der Rügelast Castillo de la Torre, Cahiers de droit européen 2005, S. 395 ff. 82 Gaitanides, in: G/S, Art. 230 EG, Rn. 115; Beutler/Bieber/Pikorn/Streil, Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, Rn. 564. 83 Vgl. Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 95: Klagegrund als „konkretes Vorbringen, das rechtlich einen Anfechtungsgrund darstellt“; ähnlich Hackspiel, in: G/S, Art. 21 Satzung des Gerichtshofs, Rn. 18.
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sondern auch deren Begründetheit. Die Rügen müssen grundsätzlich in der Klageschrift erhoben werden85; lediglich dann, wenn sich eine Rüge auf erst nach diesem Zeitpunkt zutage getretene „tatsächliche oder rechtliche Gründe“ bezieht, kann sie auch später erhoben werden86. b) Erweiterungen aa) Nichtanwendung rechtswidriger Sekundärrechtsnormen nach Art. 241 EGV Von Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang ist die Nichtanwendungskompetenz87 der Gemeinschaftsgerichte in bezug auf rechtswidrige Normen des Sekundärrechts nach Art. 241 EGV88, die Rechtsprechung und Literatur auch als „Einrede der Unanwendbarkeit“89 apostrophieren. Zweck dieser Bestimmung ist es zu verhindern, daß rechtswidrige Sekundärrechtsnormen zulasten eines einzelnen angewendet werden, der diese mangels Initiativberechtigung nicht selbst zulässigerweise zum Gegenstand einer Nichtigkeitsklage hätte machen können. Rechtssystematisch betrachtet begründet Art. 241 EGV allerdings keine eigenständige Befugnis der Gemeinschaftsgerichte, da er nicht zum Erlaß einer gesonderten Entscheidung ermächtigt, sondern lediglich zur inzidenten Normen84 Eine Klage ist unzulässig, wenn die Klageschrift nicht mindestens eine Rüge enthält; vgl. Hackspiel, in: G/S, Art. 21 Satzung des Gerichtshofs, Rn. 16. 85 In bezug auf die Anforderungen an die ordnungsgemäße Erhebung einer Rüge wird üblicherweise von deren Zulässigkeit – die von derjenigen der Klageerhebung als solcher zu unterscheiden ist – gesprochen, vgl. z. B. EuG, Urt. v. 29. 6. 1995, Solvay/ Kommission, T-32/91, Slg. S. II-1825, Rn. 35–42. 86 Art. 48 Abs 2 Vf-O EuG. Nach Klageerhebung eingetretene Rechtsänderungen sind allerdings grundsätzlich unbeachtlich, da sich die Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsentscheidung nach der im Zeitpunkt ihres Erlasses geltenden Rechtslage bemißt, vgl. nur EuG, Urt. vom 6. 10. 1999, Salomon SA/Kommission, T-123/97, Slg. II-2925, Rn. 48 und Urt. vom 14. 5. 2002, Graphischer Maschinenbau/Kommission, T-126/99, Slg. II-2427, Rn. 33. 87 Zur Terminologie vgl. Schmidt-Aßmann, in: FS f. K. Stern, S. 745 ff. (759), der die Kompetenz zur Nichtanwendung einer Norm von derjenigen zu deren Verwerfung – durch die der Norm die Geltung im umfassenden Sinne abgesprochen bzw. ihre Nichtigkeit erga omnes festgestellt wird – unterscheidet. 88 Die Vorschrift lautet: „Ungeachtet des Ablaufs der in Artikel 230 Absatz 5 genannten Frist kann jede Partei in einem Rechtsstreit, bei dem es auf die Geltung einer vom Europäischen Parlament und vom Rat gemeinsam erlassenen Verordnung oder einer Verordnung des Rates, der Kommission oder der [Europäischen Zentralbank] ankommt, vor dem Gerichtshof die Unanwendbarkeit dieser Verordnung aus den in Artikel 230 Absatz 2 genannten Gründen geltend machen.“ 89 Bzw. als „Einrede der Rechtswidrigkeit“ („exception d’illégalité“); zur Terminologie vgl. Middeke, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 11, Rn. 2; Beutler/Bieber/Pikorn/Streil, Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, Rn. 575.
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kontrolle im Rahmen eines Rechtsschutzverfahrens, das auf den Erlaß eines Nichtigkeits- oder Untätigkeitsurteils abzielt90. Vielmehr normiert Art. 241 EGV ein eigenständiges Sanktionskriterium, das in der Rechtswidrigkeit einer Sekundärrechtsnorm besteht, die ein Element der effektiven rechtlichen Entscheidungsgrundlage der Ausgangsentscheidung bildet. Dieses Sanktionskriterium ist mit demjenigen der materiellen Rechtswidrigkeit der Ausgangsentscheidung – verstanden als Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses – zwar verwandt aber gleichwohl hiervon zu unterscheiden91. Denn da die Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen beim Erlaß von Rechtsakten das geltende Sekundärrecht grundsätzlich tel quel anzuwenden haben – also: nicht ihrerseits über eine Nichtanwendungskompetenz verfügen –92, ist der Rechtsanwendungsprozeß nicht fehlerhaft, wenn die Ausgangsinstanz ihrer Entscheidung eine rechtswidrige Sekundärrechtsnorm zugrundelegt. Daß die Ausgangsentscheidung gleichwohl auch in dieser Konstellation aus evidenten rechtsstaatlichen Gründen im Ergebnis zu sanktionieren ist, ändert hieran nichts. Auch das Sanktionskriterium der Rechtswidrigkeit einer der Ausgangsentscheidung zugrundegelegten Sekundärrechtsnorm ist grundsätzlich93 kumulativ verbunden mit dem akzessorischen Tatbestandsmerkmal einer klägerischen Rüge. Hieraus ergibt sich eine zweistufige Rügelast. Der Kläger muß erstens die Rechtswidrigkeit dieser Sekundärrechtsnorm behaupten und zweitens einen bestimmten Rechtsfehler geltend machen, der, wenn er unmittelbar in bezug auf die Ausgangsentscheidung geltend gemacht würde, deren Sanktionierung zur Folge haben würde94.
90 Middeke, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 11, Rn. 4. Daneben kommt Art. 241 EGV auch bei Schadensersatzklagen nach Art. 235 EGV sowie bei dienstrechtlichen Streitigkeiten nach Art. 236 EGV zur Anwendung; vgl. Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 86. Dagegen scheidet eine Anwendung von Art. 241 „als solchen“ im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV aus, vgl. EuGH, Urt. v. 15. 2. 2001, Nachi Europe, C-239/99, Slg. S. I-1197, Rn. 33 f. sowie Rn. 62 der Schlußanträge von GA Jacobs hierzu. 91 I. E. ähnlich Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 84: Art. 241 eröffne „einen besonderen Klagegrund“. 92 Denn nach ständiger Rechtsprechung gilt für Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane grundsätzlich die Vermutung der Gültigkeit, weshalb sie selbst dann, wenn sie fehlerhaft sind, Rechtswirkungen entfalten, solange sie nicht aufgehoben oder zurückgenommen werden, eine Ausnahme bildet der extrem seltene Fall der Nichtigkeit („rechtlichen Inexistenz“) eines Rechtsaktes, s. dazu EuGH, Urt. v. 15. 6. 1994, C-137/ 92 P, Slg. S. I-2555, Rn. 48–52 sowie Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, S. 264 f. 93 Zu einer Ausnahme EuGH, Urt. v. 17. 12. 1959, Société des fonderies de Pont-àMousson/Hohe Behörde, Rs. 14/59, Slg. S. 481 (511). 94 Anschauliches Beispiel: EuG, Urt. v. 30. 9. 1998, Losch/Gerichtshof, T-13/97, SlgÖD S. II-1633, Rn. 102 ff.
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bb) „Ermessensmißbrauch“ Der – selten durchgreifende – Anfechtungsgrund des Ermessensmißbrauchs setzt nach der Standardformulierung der Rechtsprechung voraus, daß der Erlaß der Ausgangsentscheidung ausschließlich oder zumindest maßgebend dadurch bestimmt war, andere als die angegebenen Zwecke zu erreichen95. Wiederum ist der Rechtsanwendungsprozeß im strikten Sinne nicht fehlerhaft. Vielmehr handelt es sich um ein zusätzliches – alternatives – Sanktionskriterium, das allerdings nur in bezug auf solche Ausgangsentscheidungen zur Anwendung gelangen kann, zu deren materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen eine Ermessens- oder Beurteilungsermächtigung zählt. Es besteht der Sache nach darin, daß für die Entscheidungsinstanz andere Motive maßgeblich gewesen sind als die in der Begründung der Ausgangsentscheidung dargelegten Erwägungen in bezug auf den positiven Nutzensaldo des Erlasses der Entscheidung96. 2. Verfahrensrechtliches Sanktionskriterium Weder die Rechtsprechung noch die Dogmatik haben bisher feste Maßstäbe zur Behandlung der Verfahrensfehlerfolgen im Rahmen der Nichtigkeitsklage entwickelt97. Dieses Thema kann selbstverständlich im vorliegenden Rahmen nicht umfassend aufgearbeitet werden. Trotz ihres eher kasuistischen Charakters lassen sich der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte immerhin einige verallgemeinerungsfähige Ansätze entnehmen: Sedes materiae ist der in Art. 230 Abs. 2 EGV normierte Tatbestand der „Verletzung wesentlicher Formvorschriften“, der nicht nur Formfehler im engeren Sinne98 sondern auch und v. a. Verfahrensfehler umfaßt99. 95 EuG, Urt. v. 24. 4. 1996, Industrias Pesqueras Campos/Kommission, T-551/93 und T-231/94 bis T-234/94, Slg. S. II-247, Rn. 168 sowie – aus dem Bereich des Gemeinschaftsmarkenrechts – EuG, Urt. v. 12. 1. 2000, DKV/HABM, T-19/99, Slg. S. II-1, Rn. 33 und Urt. v. 12. 12. 2002, eCopy/HABM, T-247/01, Slg. S. II-5301, Rn. 22; s. näher Borchardt, in: Lenz, Art. 230 EGV, Rn. 77 f. 96 Hierzu vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. c). 97 Ansätze hierzu bei Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 2, S. 1367 ff.; sowie bei Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 169 ff., dessen Aussage, daß „Fehler im Verwaltungsverfahren grundsätzlich beachtlich sind“ (ebd., S. 179) allerdings, wie sogleich zu zeigen sein wird, deutlich zu weit geht. 98 Wie z. B. Verstöße gegen Schriftformerfordernisse oder die fehlende Ausfertigung der von der Kommission in einer Sitzung oder im schriftlichen Verfahren gefaßten formellen Beschlüsse in der Sprache oder in den Sprachen, in denen sie verbindlich sind, durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs nach Art. 12 Abs. 1 der Geschäftsordnung der Kommission, vgl. EuGH, Urt. v. 6. 4. 2000, Kommission/ICI, C-286/95 P, Slg. S. I-2341, Rn. 60, 63; sowie Urt. v. 15. 6.1994, Kommission/BASF, C-137/92 P, Slg. S. I-2555, Rn. 75 f. 99 Middeke, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 7, Rn. 96; Borchardt, in: Lenz, Art. 230 EGV, Rn. 66.
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
Ein erstes fehlerakzessorisches Tatbestandsmerkmal besteht – wie auch in bezug auf die materiellen Rechtsfehler100 – jedenfalls im Grundsatz101 – in einer vom Kläger zu erhebenden Rüge des betreffenden Verfahrensfehlers. In bezug auf bestimmte schwere Verfahrensfehler besteht allerdings eine Ausnahme von dieser Rügelast. Die inhaltliche Reichweite dieser „von Amts wegen zu berücksichtigenden Klagegründe“ ist allerdings im einzelnen noch nicht abschließend geklärt; mit Sicherheit zählen jedoch Zuständigkeitsfehler hierzu102. Ebenfalls offen ist die Frage, ob die amtswegige Berücksichtigung derartiger Rechtsverstöße durch den Gemeinschaftsrichter geboten oder lediglich freigestellt ist103. Entgegen dem Wortlaut von Art. 230 Abs. 2 EGV, der eine normbezogene Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Verfahrensnormen nahelegt, verwendet die Rechtsprechung gelegentlich104 als weiteres – positives – fehlerakzessorisches Tatbestandsmerkmal das situationsbezogene Kriterium der „konkreten Ergebnisrelevanz“105 des Verfahrensfehlers. Es wird also zwischen wesentlichen und unwesentlichen Verstößen gegen solche eine Verfahrensnorm unterschieden106. Daneben sieht die Rechtsprechung in bezug auf bestimmte Verfahrensfehler von einer Sanktionierung der angefochtenen Ausgangsentscheidung ab. Dabei handelt es sich zum einen um Begründungsmängel107 – sofern nur die essentialia des Rechtsanwendungsprozesses dargelegt worden sind108 – und zum ande100
Vgl. oben 1. a). Zur Ausnahme in bezug auf die sog. „von Amts wegen zu berücksichtigenden Klagegründe“ sogleich im Text. 102 Eingehend hierzu Castillo de la Torre, Cahiers de droit européen 2005, S. 395 ff., s. a. Kirschner/Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 112. 103 Allgemein hierzu Lenaerts/Arts, Europees Procesrecht, Rn. 315, 328; Kirschner/ Klüpfel, Gericht erster Instanz, Rn. 112. 104 So etwa in EuGH, Urt. v. 10. 7. 1980, Distillers Company/Kommission, Rs. 30/ 78, Slg. S. 2229, Rn. 26; Urt. v. 14. 2. 1990, Frankreich/Kommission, C-301/87, Slg. S. I-307, Rn. 31; Urt. v. 5. 10. 2000, Deutschland/Kommission, C-288/96, Slg. S. I8237, Rn. 101. 105 Vgl. oben § 1 A. IV. 2. (bei Fn. 57). 106 Middeke, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 7, Rn. 96; Krück, in: G/T/E, Art. 173, Rn. 77; ebenso Booß, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 230 EGV, Rn. 103. 107 EuGH, Urt. v. 6. 7. 1983, Geist/Kommission, 117/81, Slg. S. 2191, Rn. 7; auch EuG, Urt. v. 18. 12. 1992, Díaz García/Parlament, T-43/90, Slg. S. II-2619, Rn. 54, sowie EuG, Urt. v. 20. 9. 2000, Orthmann/Kommission, T-261/97, Slg. ÖD S. I-A-181 und S. II-829, Rn. 33 und 35. Der Hinweis auf die rechtliche Alternativlosigkeit der Sachentscheidung ist insofern nicht tragend wie das Beispiel EuGH, Urt. v. 23. 2. 1988, Vereinigtes Königreich/Rat, Rs. 68/86, Slg. S. 855, Rn. 29 und 30, zeigt, wo es um eine Richtlinie – also nicht um eine „gebundene Entscheidung“ – ging (die Tatsache, daß in deren Begründung die erforderliche Bezugnahme auf eine andere Richtlinie fehlt, wurde für unbeachtlich erklärt, da sich der Zusammenhang mit dieser aus dem operativen Text ergab). 101
§ 1 Grundlagen
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ren um Mängel bei der Bekanntgabe einer Entscheidung109. Deutlich liegt dieser Rechtsprechungslinie das – positive – fehlerakzessorische Tatbestandsmerkmal der „abstrakten Ergebnisrelevanz“ zugrunde, ohne daß dieses allerdings ausdrücklich als solches benannt wird. Von allgemeinem Interesse im Zusammenhang mit den oben110 angestellten verfahrensökonomischen Überlegungen ist hinsichtlich von Begründungsmängeln auch der umgekehrte Fall, in dem es an einer Darlegung der essentialia des Rechtsanwendungsprozesses – und insbesondere an der Nennung der Rechtsgrundlage der Ausgangsentscheidung – fehlt111. Hier weist die Aufhebung der Ausgangsentscheidung deshalb einen positiven Nutzensaldo auf, weil nur der Erlaß einer neuen Sachentscheidung die – eventuelle – Anwendung des Sanktionskriteriums der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses ermöglicht112. II. Rechtsmittelverfahren nach Art. 225 Abs. 1 EGV i.V. m. Art. 56 ff. EuGH-Satzung Der EuGH sanktioniert ein erstinstanzliches Urteil des EuG nur dann, wenn dessen Gründe einen Rechtsfehler erkennen lassen und sich der Urteilstenor nicht aus anderen Rechtsgründen als richtig darstellt113. Positive Tatbestandsmerkmale des materiell-rechtlichen Sanktionskriteriums des Rechtsmittelverfahrens vor dem EuGH sind somit die Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses und – als fehlerakzessorisches Tatbestandsmerkmal – eine Rüge des Rechtsmittelführers. Negatives Tatbestandsmerkmal ist die handlungsbezogene Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung – in Gestalt des vorinstanzlichen Urteils – als solcher. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man richtigerweise die in Art. 61 Absatz 1 S. 2 der EuGH-Satzung vorgesehene Möglichkeit für den EuGH, den Rechtsstreit „selbst endgültig [. . .] entscheiden“, auf diejenigen
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Dazu sogleich im Text (bei u. nach Fn. 110). EuGH, Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 48/69, ICI/Kommission, Slg. S. 619, Rn. 39; EuG, Urt. v. 28. 5. 1998, T-78/96 u. T-170/96, W/Kommission, SlgÖD S. II-745, Rn. 183. 110 Unter IV. 2. 111 Sofern sich diese nicht aus anderen in dem Rechtsakt selbst enthalten Anhaltspunkten ergibt. 112 Vgl. oben 1. a). 113 Jung, in G/S, Art. 224 bis 225 A. EG, Rn. 179, 181; Bölhoff, Rechtsmittelverfahren, S. 128; EuGH, Urt. v. 30. 9. 2003, Biret/Rat, C-93/02 P, Slg. S. I-10497, Rn. 60: „Rechtsfehler, die dem Gericht [. . .] unterlaufen sind“, können „nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen, wenn der Tenor dieses Urteils [. . .] aus anderen Rechtsgründen fundiert erscheinen“; grundlegend EuGH, Urt. v. 9. 6. 1991, Lestelle/Kommission, C-30/91 P, Slg. S. I-3755, Rn. 28. 109
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
Fälle beschränkt, in denen der Gerichtshof das Urteil des EuG durch ein Urteil mit einem anderen Tenor ersetzt114.
§ 2 Sanktionskriterium des Beschwerdeverfahrens nach Art. 57 ff. GMV A. Materiell-rechtliches Sanktionskriterium I. Grundsatz: Regelungsbezogene Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher Die GMV normiert keinen ausdrücklichen Tatbestand, aus dem sich das für die Beschwerdeentscheidung maßgebliche materiell-rechtliche Sanktionskriterium unmittelbar erschließen läßt; Art. 62 Abs. 1 GMV spricht lediglich von der „Prüfung, ob die Beschwerde begründet ist“. Gleichwohl hat das EuG insofern eindeutig Stellung bezogen: Die erstinstanzliche Entscheidung ist nur dann zu sanktionieren – also aufzuheben oder abzuändern –115, wenn eine Entscheidung mit gleichem Tenor wie diese im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht in materiell rechtmäßiger Weise erlassen werden kann116. Es gilt somit das Sanktionskriterium der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung117. Das EuG hat die Maßgeblichkeit dieses Sanktionskriteriums zum einen aus Art. 62 Abs. 1 S. 2 GMV abgeleitet118. Zwar enthält diese Bestimmung zunächst und vor allem eine Regelung des zulässigen Rechtsschutzinhalts119. Doch aufgrund des Zusammenhangs, der – unter dem Aspekt des reformatorischen Charakters des Rechtsschutzverfahrens – zwischen diesem Strukturelement und dem Substanzelement des Sanktionskriteriums besteht120, kann ihr 114 So richtig Jung, in G/S, Art. 224 bis 225 A. EG, Rn. 181; anders aber nicht selten die Praxis des EuGH, vgl. etwa Urt. v. 30. 6. 2005, Allessandrini u. a./Kommission, C-295/03 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 59 ff. 115 Vgl. oben 3. Teil F. I. 3. 116 EuG, Urt. v. 23. 9. 2003, Henkel/HABM, T-308/01, Slg. S. II-3253, Rn. 26; Urt. v. 3. 12. 2003, Audi/HABM, T-16/02, Slg. S. II-5167, Rn. 81; unzutreffend daher die Darstellung bei v. Kapff, in: Ekey/Klippel (Hg.): Markenrecht, Art. 62 GMV, Rn. 14, wonach die erstinstanzliche Entscheidung bereits dann aufgehoben werden könne, wenn „die Begründung die Entscheidung nicht trägt“. 117 Vgl. oben A. III. 118 Nach dieser Vorschrift wird die Beschwerdekammer entweder im Rahmen der Zuständigkeit der „Dienststelle, [. . .] die die angefochtene Entscheidung erlassen hat“ – d. h. der erstinstanzlichen Stelle – tätig oder verweist die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an diese zurück. 119 Vgl. oben 3. Teil F. I. 120 Vgl. oben § 1 A. IV. 1. (vor Fn. 37).
§ 2 Sanktionskriterium des Beschwerdeverfahrens nach Art. 57 ff. GMV
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darüber hinaus auch ein Hinweis dahingehend entnommen werden, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber in der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als das für das Beschwerdeverfahren maßgebliche Sanktionskriterium normieren wollte. Zum anderen hat sich das EuG darauf berufen, daß auch im Rahmen des Beibringungsgrundsatzes die tatsächliche Entscheidungsgrundlage der Beschwerdeentscheidung nicht auf diejenigen Tatsachen beschränkt ist, die die belastete Partei im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragen hat sondern gegenüber derjenigen dieses Verfahrens erweitert werden kann121. In diesem Sinne hat die Rechtsprechung eine „funktionelle Kontinuität“ zwischen der erstinstanzlichen Stelle und der Beschwerdekammer postuliert und damit das Beschwerdeverfahren in ganz ähnlicher Weise charakterisiert, wie dies die deutsche Rechtsdogmatik in bezug auf das Widerspuchsverfahren der VwGO („Fortsetzung des Ausgangsverfahrens“) tut122. Zwar liegen die Frage der maßgeblichen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage der Rechtsschutzentscheidung einerseits und des maßgeblichen Sanktionskriteriums andererseits auf verschiedenen Ebenen. Im Sinne rechtspolitischer und systematischer Plausibilität gibt es aber durchaus Verbindungslinien zwischen diesen beiden Fragen. Wenn das maßgebliche Sanktionskriterium in der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung besteht, dann ist es normativ nicht sinnvoll, die tatsächliche Entscheidungsgrundlage der Rechtsschutzentscheidung auf diejenigen Tatsachen zu beschränken, die wirksam in das Verfahren vor der Ausgangsinstanz eingeführt worden sind. Denn wenn nach Erlaß der Ausgangsentscheidung neu entstandene Tatsachen per definitionem Berücksichtigung finden123, muß gleiches im Sinne einer normativ konsistenten Verfahrensgestaltung auch für solche Tatsachen gelten, die zwar im Zeitpunk des Erlasses der Ausgangsentscheidung bereits vorlagen, aber lediglich nicht wirksam in das Ausgangsverfahren eingeführt worden sind. Umgekehrt ist es dann jedenfalls hinreichend plausibel, von der „funktionellen Kontinuität“ in der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage von Ausgangs- und Rechts-
121 EuG, Urteil vom 8. 7. 1999, Procter&Gamble/HABM (Baby-Dry), T-163/98, Slg. S. II-2383, Rn. 36–45; in dem diesem Urteil zugrundeliegenden Fall berief sich der Beschwerdeführer erstmals im Beschwerdeverfahren auf die „Verkehrsdurchsetzung“ der angemeldeten Marke nach Art. 7 Abs. 3 GMV (nach dieser Vorschrift können bestimmte „absolute Eintragungshindernisse“ überwunden werden, „wenn die Marke für die Waren oder Dienstleistungen, für die die Eintragung beantragt wird, infolge ihrer Benutzung Unterscheidungskraft erlangt hat“). Die Beschwerdekammer betrachtete diese Einrede (sowie den darauf bezogenen Tatsachenvortrag) als präkludiert, da sie nicht im Verfahren vor dem Prüfer erhoben worden war. Das EuG hielt die Beschwerdekammer dagegen für verpflichtet, den Vortrag zu berücksichtigen. 122 Eyermann/Rennert, Verwaltungsgerichtsordnung, § 68, Rn. 1. 123 s. sogleich unten II. 1.
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
schutzentscheidung auf die Maßgeblichkeit des Sanktionskriteriums der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung zu schließen. II. Folgerungen 1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage Aus dem Sanktionskriterium der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung folgt unmittelbar, daß die Sach- und Rechtslage nach dem Zeitpunkt des Erlasses der Beschwerdeentscheidung zu beurteilen ist124. Die erstinstanzliche Entscheidung ist somit auch dann zu sanktionieren, wenn zwar im Zeitpunkt ihres Erlasses hinreichende positive materielle Rechtmäßigkeitsbedingungen hierfür vorlagen, jedoch aufgrund einer zwischenzeitlichen Änderung der Sach- oder Rechtslage eine Entscheidung mit gleichem Tenor im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr in materiell rechtmäßiger Weise erlassen werden kann. In diesem Zusammenhang ist allerdings für den Bereich der ex parte Verfahren darauf hinzuweisen, daß nach der Rechtsprechung125 die Markenanmeldung bereits dann zurückzuweisen ist, wenn ein absolutes Eintragungshindernis entweder im Zeitpunkt der Einreichung der Markenanmeldung oder im Zeitpunkt der das Prüfungsverfahren beendenden Entscheidung – also der Zurückzuweisung der Markenanmeldung126 – vorliegt. Dies bedeutet, daß Raum für die Berücksichtigung geänderter Umstände nur in der wohl relativ seltenen Situation besteht, in der lediglich im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung jedoch weder im Zeitpunkt der Einreichung der Markenanmeldung noch im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ein absolutes Eintragungshindernis vorliegt. Ist also durch eine zwischenzeitliche Änderung der Sach- oder Rechtslage die ursprüngliche handlungsbezogene Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung „überholt“ worden, so ist deren Sanktionierung nicht geboten. Das für den Beschwerdeführer insofern bestehende Risiko einer „nachträglichen“ Sanktionslosigkeit ist lediglich die Kehrseite der Chance, daß eine zwischenzeitliche Änderung der Sach- oder Rechtslage im gegenteiligen Sinne dazu führt, daß eine Entscheidung mit gleichem Tenor wie die – handlungsbezogen nicht fehlerhafte – Ausgangsentscheidung im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr in materiell rechtmäßiger Weise erlassen werden kann und die Ausgangsentscheidung daher sanktioniert wird.
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I. E. ebenso v. Mühlendahl/Ohlgart, Die Gemeinschaftsmarke, § 21, Rn. 27. EuG, Urteil vom 12.12.2002, eCopy/HABM (ECopy), T-247/01, Slg. II-5301, Rn. 36–42. 126 D. h. im Zeitpunkt der Entscheidung des Prüfers bzw. – im Falle einer hiergegen eingelegten Beschwerde – im Zeitpunkt der Entscheidung der Beschwerdekammer. 125
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Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Prinzip der Maßgeblichkeit der im Zeitpunkt des Erlasses der Beschwerdeentscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage – und damit das Sanktionskriterium der regelungsbezogenen Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung überhaupt – auch in inter partes Verfahren uneingeschränkt gilt. Für das deutsche Verwaltungsprozeßrecht vertreten nämlich Rechtsprechung und h. M. die Auffassung, daß bei einem Drittwiderspruch gegen einen begünstigenden Verwaltungsakt ausnahmsweise auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der Ausgangsbehörde abzustellen ist127. Eine strukturell vergleichbare Situation ergibt sich im Gemeinschaftsmarkenrecht beispielsweise dann, wenn der widerspruchsführende Dritte gegen die Zurückweisung seines Widerspruchs durch die Widerspruchsabteilung Beschwerde einlegt und sich zwischenzeitlich die Sach- oder Rechtslage zuungunsten des Markenanmelders ändert. Auch in einer derartigen Konstellation sollte es allerdings dabei bleiben, daß es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ankommt. Denn tragender Grund für die zum deutschen Verwaltungsprozeßrecht referierte Auffassung ist die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Adressaten eines begünstigenden Verwaltungsakts darauf, daß die gewährte Begünstigung rechtsbeständig ist128. Öffentlich-rechtlicher Vertrauensschutz erfordert jedoch stets eine von einem Träger öffentlicher Gewalt geschaffene Vertrauenslage. Die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen hieran sind hoch: Erforderlich ist ein Verhalten eines Gemeinschaftsorgans, das unmittelbar eine gesicherte Rechtsposition einräumt oder an das Erwartungen geknüpft werden, die sich in Dispositionen wirtschaftlicher oder tatsächlicher Art konkretisiert haben129. Durch eine noch nicht bestandskräftige Entscheidung wird aber gerade keine gesicherte Rechtsposition eingeräumt130. Überdies besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen einem klassischen begünstigenden Verwaltungsakt mit Drittwirkung einerseits und den inter partes ergangenen Entscheidungen der erstinstanzlichen Stellen des HABM andererseits. Im ersten Fall kann eine relevante Vertrauenslage eher angenommen werden, da bei Erlaß des Verwaltungsakts auch die rechtserheblichen privaten Belange Dritter von Amts wegen ermittelt und berücksichtigt werden. Dagegen entscheidet das HABM in den inter partes Verfahren nach Art eines Zivilgerichts über einen „Prätendentenstreit“ aufgrund der von den Beteiligten gestellten Anträge und der von ihnen vorgebrachten Einreden, Tatsachen und Beweismittel131. In einer derartigen Entscheidung kann aber bereits nach deutschen – 127 BVerwG DÖV 1970, S. 135, BVerwG, DVBl. 1978, S. 614; Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 684. 128 BVerwG NJW 1970, S. 263 f.; BVerwG NJW 1979, S. 995 f. 129 Borchardt, in: Lenz, Art. 220 EGV, Rn. 65. 130 Aus diesem Grund plädiert Hufen, Verwaltungsprozeßrecht, § 7, Rn. 12, auch in Drittschutzfällen für die Maßgeblichkeit der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung. 131 Vgl. oben 3. Teil, § 2 A. III. 1. und B. I. 1.
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
und erst recht nach den strengeren gemeinschaftsrechtlichen – Maßstäben kein relevanter Vertrauenstatbestand gesehen werden132. 2. Keine Rügelast des Beschwerdeführers Eine weitere Folge des maßgeblichen materiell-rechtlichen Sanktionskriteriums ist, daß dem Beschwerdeführer keine Rügelast obliegt133. Eine – notwendig auf einen bestimmten Rechtsanwendungsfehler bezogene – Rügelast hat nämlich als fehlerakzessorisches Tatbestandsmerkmal nur dann einen eigenen normativen Sinn, wenn der sanktionsbegründende Rechtsfehler in der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses besteht134. Ergänzend kann auf Art. 48 lit. c DV verwiesen werden, wonach zum notwendigen Inhalt der Beschwerdeschrift lediglich gehört, daß die erstinstanzliche Entscheidung identifiziert und daß angegeben wird, in welchem Umfang die Änderung oder Aufhebung dieser Entscheidung begehrt wird. Die Erhebung einer Rüge wird nicht gefordert, anders als dies etwa in Art. 38 Abs. 1 lit. c VfOEuGH bzw. in Art. 44 Abs. 1 lit. c VfO-EuG in bezug auf die bei den Gemeinschaftsgerichten eingereichten Klageschriften der Fall ist. Zwar regeln alle diese Bestimmungen lediglich die Zulässigkeit des jeweiligen Rechtsbehelfs, sagen also unmittelbar nichts aus über die gebotene Reichweite der rechtlichen Überprüfung der angefochtenen Ausgangsentscheidung. Gleichwohl ist im Falle des Verfahrens vor den Gemeinschaftsgerichten anerkannt, daß die gebotene Reichweite dieser rechtlichen Überprüfung jedenfalls grundsätzlich durch die vom Kläger erhobenen Rügen – „Klagegründe“ – determiniert wird135. Demnach existiert für das gerichtliche Rechtsschutzverfahren eine Kongruenz zwischen dem für die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs maßgeblichen Mindestinhalt des verfahrenseinleitenden Schriftsatzes einerseits und dem maßgeblichen Sanktionskriterium andererseits. Überträgt man den Gedanken einer solchen Kongruenz auf das Beschwerdeverfahren, so ergibt sich aus Art. 48 lit. c) DV e contrario das Fehlen einer Rügelast. Dies erscheint schließlich auch im Hinblick darauf angemessen, daß nach Art. 88 Abs. 1 GMV die Parteien in den Verfahren vor dem HABM – einschließlich dem Beschwerdeverfahren – grundsätzlich nicht anwaltlich oder in sonstiger Weise fachkundig vertreten sein müssen136. 132 Auch im Zivil- und Verwaltungsprozeß stellt ein erstinstanzliches Gerichtsurteil für die obsiegende Partei keinen Vertrauenstatbestand dar, der einer dieser Partei ungünstigen Aufhebung oder Abänderung des Urteils aufgrund geänderter Sach- und/ oder Rechtslage in der Berufungsinstanz entgegenstünde. 133 EuG, Urt. v. 23. 9. 2003, Henkel/HABM, T-308/01, Slg. S. II-3253, Rn. 29–34. 134 Vgl. oben § 1 A. II 1. 135 Vgl. oben § 1 B. I. 1. a). 136 Nach Art. 88 Abs. 2 GMV besteht ein Vertretungszwang nur für natürliche oder juristische Personen ohne Wohnsitz bzw. Sitz oder Niederlassung in der Gemeinschaft.
§ 2 Sanktionskriterium des Beschwerdeverfahrens nach Art. 57 ff. GMV
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B. Verfahrensrechtliches Sanktionskriterium I. Regelfall: Sanktionslosigkeit Wie bereits dargelegt, gilt für das Beschwerdeverfahren das materiell-rechtliche Sanktionskriterium des regelungsbezogenen Fehlers der Ausgangsentscheidung137. Nach dem oben138 Gesagten wird also selbst ein Verfahrensfehler, der dazu geführt hat, daß die potentielle tatsächliche Entscheidungsgrundlage der Entscheidung der erstinstanzlichen Stelle des HABM nur unvollständig ausgeschöpft worden ist, durch das Beschwerdeverfahren neutralisiert. Denn die Frage, ob die materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen für den Erlaß einer neuen Entscheidung mit dem gleichen Tenor wie die erstinstanzliche Entscheidung im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung vorliegen, ist von der Beschwerdekammer eigenständig aufgrund derselben maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Entscheidungsgrundlage zu beantworten, wie sie auch für die erstinstanzliche Entscheidung selbst galt. Im Anwendungsbereich des Beibringungsgrundsatzes ist das Vorbringen neuer Haupt- oder Beweistatsachen im Beschwerdeverfahren jedenfalls dann nicht präkludiert, wenn diese im erstinstanzlichen Verfahren infolge eines Verfahrensfehlers nicht vorgebracht werden konnten. Richtigerweise hat das EuG daher einen Anhörungsmangel im erstinstanzlichen Verfahren – also einen Verfahrensfehler, von dem nicht ausgeschlossen werden kann, daß er zu einer unvollständigen Ausschöpfung der potentiellen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage der erstinstanzlichen Entscheidung geführt hat – für unbeachtlich erklärt139. Allerdings kann es sich im Einzelfall für die Beschwerdekammer aus Gründen der Verfahrensstraffung empfehlen, die erstinstanzliche Entscheidung allein aufgrund eines abstrakt ergebnisrelevanten Verfahrensfehlers aufzuheben, ohne zu prüfen, ob die materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen für den Erlaß einer neuen Entscheidung mit dem gleichen Tenor wie die erstinstanzliche Entscheidung im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung vorliegen. Dies betrifft insbesondere Situationen, in denen aufgrund des Verfahrensfehlers eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist140.
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Vgl. oben A. I. Unter § 1 A. IV. 2. 139 EuG, Urt. v. 3. 12. 2003, Audi/HABM, T-16/02, Slg. S. II-5167, Rn. 82. 140 Vgl. zur parallelen Situation im zivilprozessualen Berufungsverfahren § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. 138
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
II. Ausnahmen Geht die erstinstanzliche Entscheidung über den das erstinstanzliche Verfahren initiierenden Antrag hinaus oder liegt ein entsprechender Antrag überhaupt nicht vor, so leidet eine derartige ultra petita oder gar sine petitis ergangene Entscheidung an einem Verfahrensfehler141. Trotz der fehlenden abstrakten Ergebnisrelevanz des Verfahrensfehlers erscheint in diesen Fällen eine – vollständige oder partielle – Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung geboten. Der positive Nutzensaldo einer derartigen Rechtsschutzentscheidung resultiert hier daraus, daß nur hierdurch die pozedurale Autonomie des von der Entscheidung – selbst günstig – Betroffenen gewahrt wird: Auch ein rechtlicher Vorteil soll dem Einzelnen nicht durch hoheitliche Entscheidung aufgedrängt werden. Auch bei Verletzungen der Normen über die – sachliche – Zuständigkeit – also dann, wenn eine andere als die hierfür zuständige Entscheidungsinstanz des HABM gehandelt hat – sollte die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben werden. Hierfür läßt sich zum einen die generell strenge Behandlung von Zuständigkeitsfehlern im Gemeinschaftsrecht anführen142, und zum anderen der Rechtsgedanke von § 46 VwVfG, der lediglich Verletzungen der örtlichen Zuständigkeit – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen dieser Vorschrift – für unbeachtlich erklärt. III. Exkurs: Sekundäre Verfahrenssanktionen – Kostenlast Auch wenn sie im Regelfall nicht zu einer Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung führen, so bleiben doch Fehler des erstinstanzlichen Verfahrens nicht gänzlich ohne Rechtsfolgen. Nach Regel 51 DV wird dem Beschwerdeführer die von diesem vorab zu entrichtende Beschwerdegebühr zurückerstattet, wenn der Beschwerde stattgegeben wird und „die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers der Billigkeit entspricht“. Diese Kostenfolge läßt sich als eine „sekundäre Verfahrenssanktion“143 begreifen. Es stellt sich somit die Frage, was in diesem Zusammenhang unter einem „wesentlichen Ver141 Denn nach der Dispositionsmaxime muß der Inhalt der verfahrensbeendenden Entscheidung mit demjenigen des verfahrensinitiierenden Antrags übereinstimmen oder zumindest darin enthalten sein; allgemein zur Dispositionsmaxime vgl. oben 1. Teil, § 2 A. (bei Fn. 54), speziell zum Widerspruchs- bzw. Nichtigkeitsverfahren vgl. oben 3. Teil, § 2 A. III. 2. und B. II.; als Beispiel aus der Rechtsprechung siehe EuG, v. 14. 10. 2003, Phillips-van Heusen/HABM, T-292/01, Slg. S. II-4335, Rn. 23–25 (zu der Konstellation einer über den Widerspruch hinausgehenden Zurückweisung der Markenanmeldung). 142 So zählen sie im Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten zu den „von Amts wegen zu berücksichtigenden Klagegründen“; vgl. oben § 1 B. I. 2. (bei Fn. 93). 143 Zu diesem Begriff Schmidt-Aßmann/Krämer, EuZÖR-Sonderheft 1993, S. 99 ff. (S. 106, 128 ff.).
§ 3 Sanktionskriterium des Klageverfahrens nach Art. 63 GMV
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fahrensfehler“ zu verstehen ist. Eine Anknüpfung an die „konkrete Ergebnisrelevanz“ des Verfahrensfehlers erscheint nicht sinnvoll, da dem Interesse an der materialen Richtigkeit der Sachentscheidung bereits durch das Sanktionskriterium des regelungsbezogenen Fehlers der Ausgangsentscheidung Rechnung getragen wird. Es bietet sich daher eher eine Fallgruppenbildung an, die entweder auf den Verstoß gegen bestimmte besonders wichtige Verfahrensvorschriften als „absolute Fehler“ abstellt oder aber auf den Grad, in dem von einer Verfahrensvorschrift abgewichen wird, also auf die „konkrete Schwere“ des Verfahrensfehlers144. Nach dem Wortlaut von Regel 51 DV erfolgt die Rückzahlung der Beschwerdegebühr allerdings nur, wenn der Beschwerde stattgegeben, die Ausgangsentscheidung also sanktioniert wird. Der Zweck dieser Vorschrift liegt offensichtlich darin, den materiellen „Veranlasser“ des Beschwerdeverfahrens, also im Falle eines „wesentlichen Verfahrensfehlers“ das HABM, im Ergebnis mit der Beschwerdegebühr zu belasten. Im Hinblick auf diese ratio legis macht es aber keinen Unterschied, ob die Ausgangsentscheidung sanktioniert wird oder nicht. Es erscheint daher vorzugswürdig, Regel 51 DV analog anzuwenden auf die Fälle, in denen die Ausgangsentscheidung nicht sanktioniert wird, um auch in dieser Konstellation zu einer Rückzahlung der Beschwerdegebühr zu gelangen145.
§ 3 Sanktionskriterium des Klageverfahrens nach Art. 63 GMV A. Materiell-rechtliches Sanktionskriterium I. Grundsatz: Doppelt modifizierte Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses Der in Art. 63 Abs. 2 GMV normierte materiell-rechtliche „Anfechtungsgrund“ – umschrieben als Verletzung des Vertrags, der GMV oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm – entspricht der Sache nach demjenigen in Art. 230 Abs. 4 i.V. m. Abs. 2 EGV146. Die Gemeinschaftsgerichte haben indes diesen Tatbestand in einer Weise ausgelegt und angewendet, die sich von der allgemeinen Nichtigkeitsklage unterscheidet: Eine Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung unterbleibt nämlich, wenn das Urteil der Beschwerdekammer, eine bestimmte, für diese Entscheidung erhebliche materielle Rechtmäßigkeitsbedingung liege vor, im Ergebnis zutrifft147. Damit läßt sich 144
Vgl. Schmidt-Aßmann/Krämer, EuZÖR-Sonderheft 1993, S. 99 ff. (S. 108 f.). I. E. ebenso v. Kapff, in: Ekey/Kippel (Hg.): Markenrecht, Art. 81 GMV, Rn. 19. 146 H. M. vgl. nur Hackspiel, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 2002, S. 532 ff. (538). 145
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
das maßgebliche materiell-rechtliche Sanktionskriterium folgendermaßen rekonstruieren: Positive Tatbestandsmerkmale sind die Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses und – als fehlerakzessorisches Tatbestandsmerkmal – eine hierauf bezogene Rüge des Klägers148, negatives Tatbestandsmerkmal ist die Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses des Rechtsanwendungsprozesses. Das materiell-rechtliche Sanktionskriterium des Klageverfahrens nach Art. 63 GMV nimmt damit eine Mittelstellung ein zwischen den Sanktionskriterien der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV einerseits und des Rechtsmittelverfahren nach Art. 225 Abs. 1 EGV i.V. m. Art. 56 ff. EuGH-Satzung andererseits. Dies bestätigt übrigens den Befund, daß das Klageverfahren nach Art. 63 GMV – trotz seines grundsätzlichen Charakters als Parteiverfahren – gewisse Züge eines instantiellen Verfahrens149 aufweist. Rechtfertigen läßt sich diese – echte – jurisprudentielle Ausdifferenzierung des Sanktionskriteriums damit, daß der gerichtlichen Rechtsschutzentscheidung bereits ein zweifacher – jeweils in den entsprechenden Entscheidungsgründen dargelegter – Rechtsanwendungsprozeß durch verschiedene Entscheidungsinstanzen – nämlich: die erstinstanzliche Stelle des HABM und die Beschwerdekammer – vorausgegangen ist. Aufgrund dieser „Vorstrukturierung“ des Verfahrensstoffes führt die Tatsache, daß der sanktionsbegründende Rechtsfehler im Rahmen des Klageverfahrens nach Art. 63 GMV voraussetzungsreicher ist als im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV, nicht zu einer nennenswerten Beeinträchtigung des Prinzips der Verfahrensstraffung. Daß die Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses für die Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung als positives Tatbestandsmerkmal maßgeblich 147 Die Maßgeblichkeit dieses Sanktionskriteriums wird besonders deutlich in EuG, Urt. v. 3. 12. 2003, Audi/HABM, T-16/02, Slg. S. II-5167: Das EuG hat einerseits in Rn. 90–94 festgestellt, daß die Beschwerdekammer in den Gründen der Beschwerdeentscheidung nicht hinreichend dargelegt habe, auf welche Weise sie zu dem Ergebnis gelangt sei, daß eine bestimmte entscheidungserhebliche materielle Rechtmäßigkeitsbedingung (in casu: der Erwerb von Unterscheidungskraft der angemeldeten Marke aufgrund ihrer Benutzung in den anderen Mitgliedstaaten als Deutschland) vorliege; andererseits hat das EuG in Rn. 55–68 selbst geprüft, ob diese materielle Rechtmäßigkeitsbedingung vorlag und ist in diesem Rahmen zu dem Schluß gekommen, daß das diesbezügliche Urteil der Beschwerdekammer im Ergebnis zutrifft. Vgl. im selben Sinne auch EuG, Urt. v. 19. 9. 2001, Henkel/HABM, T-337/99, Slg. S. II-2597, Rn. 10 (einerseits) u. 45–57 (andererseits); Urt. v. 2. 7. 2002, SAT. 1/HABM, T-323/00, Slg. S. II-2839, Rn. 42 f., 54; Urt. v. 5. 12. 2002, BioID/HABM, T-91/01, Slg. S. II-5159, Rn. 35–40; siehe zur Abgrenzung zum Sanktionskriterium der Fehlerhaftigkeit der Ausgangsentscheidung als solcher EuG, Urt. v. 12. 1. 2005, Deutsche Post/HABM, T334/03, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 45. 148 Nach Art. 134 Abs. 2, 2. UA VfO-EuG wird die Beschwerdeentscheidung auch auf solche Fehler des Rechtsanwendungsprozesses hin überprüft, die nicht vom Kläger sondern von einem privilegierten Streithelfer (dazu oben 3. Teil, § 3 E. II. 2. a)) gerügt worden sind. 149 Dazu oben 1. Teil, § 2 B. I. 5.
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ist, hat unmittelbar zur Folge, daß für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt des Erlasses der Beschwerdeentscheidung ist150. Hat die Beschwerdekammer eine bestimmte Rechtsnorm nicht zum Bestandteil der effektiven rechtlichen Entscheidungsgrundlage ihrer Entscheidung gemacht, so kann die Frage ihrer richtigen Auslegung und Anwendung im Rahmen des maßgeblichen Kriteriums der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses nicht gerichtlich überprüft werden. Gleichwohl führt die Beschränkung auf eine „begründungsimmanente“ Rechtskontrolle auch hier nicht zu einer Verkürzung des Rechtsschutzes: Im einzelnen ist zwischen verschiedenen Konstellationen zu unterscheiden: – Hat ein insoweit einredebelasteter Verfahrensbeteiligter die betreffende Rechtsnorm nicht in das Ausgangs- bzw. Beschwerdeverfahren eingeführt, so ist die Beschwerdeentscheidung bereits nicht rechtswidrig. Denn ihre effektive und ihre maßgebliche rechtliche Entscheidungsgrundlage sind in diesem Falle kongruent. Daher können vor den Gemeinschaftsgerichten weder Widerspruchs- bzw. relative Nichtigkeitsgründe noch umgekehrt die Einrede der Nichtbenutzung der vorbestehenden Marke erstmals erhoben werden. Ebensowenig kann der Kläger im Prozeß erstmals die Eintragungsfähigkeit der Marke aufgrund einer Verkehrsdurchsetzung nach Art. 7 Abs. 3 GMV geltend machen. Die Rüge der Verletzung einer in das Verfahren vor den Entscheidungsinstanzen des HABM nicht eingeführten Einredenorm ist daher im Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten „unbehelflich“151. – Hat die Beschwerdekammer in Verkennung einer Bestimmungsnorm hinsichtlich der Auswahl der maßgeblichen rechtlichen Entscheidungsgrundlage der Beschwerdeentscheidung eine bestimmte materielle Rechtsnorm nicht in deren effektive rechtlichen Entscheidungsgrundlage einbezogen, etwa weil sie rechtsirrig angenommen hat, deren einredeweise Geltendmachung sei präkludiert152, so ist der Rechtsanwendungsprozeß fehlerhaft und die Beschwerdeentscheidung daher aus diesem Grunde zu sanktionieren. 150 Vgl. EuG, Urt. vom 12. 12. 2002, eCopy/HABM, T-247/017, Slg. II-5301, Rn. 46; die Situation bei einer Klage nach Art. 63 GMV unterscheidet sich damit nicht von derjenigen bei einer Klage nach Art. 230 EGV, vgl. nur EuG, Urt. vom 6. 10. 1999, Salomon SA/Kommission, T-123/97, Slg. II-2925, Rn. 48 und Urt. vom 14. 5. 2002, Graphischer Maschinenbau/Kommission, T-126/99, Slg. II-2427, Rn. 33. 151 In seinem Urteil v. 22. 10. 2003, Les Éditions Albert René/HABM, T-311/01, Slg. S. II-4625, Rn. 69 ff., qualifiziert das EuG allerdings unzutreffenderweise eine derartige Rüge als „unzulässig“, unter – allerdings hilfsweisem – Hinweis auf Art. 135 Abs. 4 VfO-EuG, auf den im vorliegenden Zusammenhang richtigerweise nicht zurückzugreifen ist. 152 Zu dieser Situation vgl. EuG, Urt. v. 8. 7. 1999, Procter&Gamble/HABM (BabyDry), T-163/98, Slg. S. II-2383, Rn. 46–51. In dieser Rechtssache hatte die Beschwerdekammer die erst im Beschwerdeverfahren erfolgte einredeweise Geltendmachung der Bestimmung über die Eintragungsfähigkeit einer Marke aufgrund erfolgter Ver-
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
– Schließlich ist auch denkbar, daß es die Beschwerdekammer aus begründungsökonomischen Erwägungen unterläßt, eine bestimmte materielle Rechtsnorm A in die effektive rechtliche Entscheidungsgrundlage der Beschwerdeentscheidung einzubeziehen, weil sie – aufgrund der Auslegung bzw. Anwendung einer anderen Rechtsnorm B – die Entscheidungserheblichkeit der Norm A verneint153. Trifft diese Beurteilung nicht zu, so ist der Rechtsanwendungsprozeß – in Gestalt der Identifizierung der entscheidungserheblichen Rechtsnormen – fehlerhaft. II. Erweiterungen 1. Nichtanwendung rechtswidriger Sekundärrechtsnormen nach Art. 241 EGV Wie bereits dargelegt154, ermöglicht es Art. 241 EGV den Gemeinschaftsgerichten, eine mit höherrangigem Recht unvereinbare entscheidungserhebliche Rechtsnorm des Gemeinschaftsrechts im Rahmen einer Direktklage nicht anzuwenden. Da die GMV keine entsprechende Vorschrift in bezug auf Klagen nach Art. 63 GMV enthält, fragt sich, ob gleichwohl auch in diesem Rahmen eine inzidente Normenkontrolle möglich ist. Das EuG hat diese Frage bejaht und dies damit begründet, daß Art. 241 EGV die Konkretisierung eines allgemeinen Grundsatzes darstelle, der jeder Partei das Recht gewährleiste, zum Zweck der Nichtigerklärung einer sie unmittelbar und individuell betreffenden Entscheidung die Gültigkeit derjenigen früheren Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane zu bestreiten, die die Rechtsgrundlage für die angegriffene Entscheidung bilden, falls die Partei nicht das Recht hatte, gemäß Artikel 230 EGV unmittelbar gegen diese Rechtshandlungen zu klagen. Daher ist der Kläger im Rahmen einer Klage nach Art. 63 GMV nicht
kehrsdurchsetzung (Art. 7 Abs. 3 GMV) zu Unrecht als präkludiert betrachtet. Das EuG unterließ es entgegen dem Begehren der Klägerin, die Beschwerdeentscheidung am Maßstab von Art. 7 Abs. 3 GMV zu überprüfen (in Rn. 51 des Urteils wird dies so ausgedrückt, daß es dem Gericht nicht zustehe, über einen „Antrag auf Anwendung von Artikel 7 Absatz 3 der Verordnung Nr. 40/94 zu entscheiden, den das Amt nicht in der Sache geprüft hat“). Anders als das EuG meint (Rn. 49 f.), ergibt sich dies jedoch nicht aus einer Einschränkung der Befugnis des EuG zur Abänderung der Beschwerdeentscheidung – also einer Einschränkung des zulässigen Inhalts der Sanktionsentscheidung –, sondern aus einer Einschränkung des Sanktionskriteriums. 153 Am Beispiel: Die Beschwerdekammer verneint die ernsthafte Benutzung der Widerspruchsmarke (Art. 43 Abs. 2 GMV) und läßt daraufhin die Verwechslungsgefahr (Art. 8 Abs. 1 lit. b) bzw. c) GMV) ungeprüft, vgl. den Sachverhalt in EuG, Urt. v. 8. 7. 2004, Marienfelde GmbH/HABM, T-334/01, Slg. S. II-2787, Rn. 5–16. 154 Vgl. oben § 1 B. I. 1. b) aa).
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dadurch an der Erhebung einer Einrede der Rechtswidrigkeit gehindert, daß die GMV diese Einrede nicht ausdrücklich als inzidenten Rechtsbehelf erwähnt155. Dasselbe Ergebnis läßt sich im übrigen auch daraus herleiten, daß Art. 241 EGV bereits seinem Wortlaut nach ganz allgemein „in einem Rechtstreit“ anwendbar ist und dieses Tatbestandsmerkmal zwanglos auch auf sekundärrechtlich geregelte gerichtliche Rechtsschutzverfahren bezogen werden kann. 2. „Ermessensmißbrauch“ Das Sanktionskriterium des „Ermessensmißbrauchs“ läuft im Rahmen einer Klage nach Art. 63 GMV strukturell leer, da es voraussetzt, daß eine Ermessens- oder Beurteilungsermächtigung zu den materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen der betreffenden Ausgangsentscheidung zählt156. Dies ist jedoch in bezug auf die Entscheidungen der Beschwerdekammern des HABM nicht der Fall157. Es handelt sich somit um den typischen Fall einer „unechten“ jurisprudentiellen Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes.
B. Verfahrensrechtliches Sanktionskriterium I. Grundsatz: Sanktionierung bei abstrakt ergebnisrelevanten Verfahrensfehlern Die GMV enthält keine spezielle Regelung über die Folgen von Verfahrensfehlern der Beschwerdeentscheidung. Da jedoch das positive Tatbestandsmerkmal des maßgeblichen materiell-rechtlichen Sanktionskriteriums in der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses besteht158, wird ein Verfahrensfehler, der dazu geführt hat, daß die potentielle tatsächliche Entscheidungsgrundlage der Beschwerdeentscheidung nur unvollständig ausgeschöpft worden ist, durch das Klageverfahren nicht neutralisiert159. Daß die Beschwerdeentscheidungen rechtlich gebunden sind160, ändert daran nichts. Denn die vollständige materiell-rechtliche Determination einer Ausgangsentscheidung ist nur eine von mehreren notwendigen normativen Rahmenbedingungen, die deren Sanktionslosigkeit im Falle eines Verfahrensfehlers rechtfertigen161. Die Rechtsprechung hat 155 EuG, Urt. v. 12. 7. 2001, Kik/HABM, T-120/99, Slg. S. II-2235, Rn. 21, unter Berufung auf EuGH, Urt. v. 6. 3. 1979, Simmenthal/Kommission, Rs. 92/78, Slg. S. 777, Rn. 39. 156 Vgl. oben § 1 B. I. 1. b) bb). 157 Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. b). 158 Vgl. oben A. I. 159 Vgl. oben § 1 A. IV. 2. 160 Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. a) (a. E.).
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4. Teil: Substantielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes
demnach konsequenterweise nur bei nicht abstrakt relevanten Verfahrensfehlern von einer Sanktionierung der Beschwerdeentscheidung abgesehen, so etwa bei Begründungsmängeln162 – und bei Mängeln bei der Bekanntgabe einer Entscheidung163. Dagegen wird die Beschwerdeentscheidung bei Vorliegen eines abstrakt relevanten Verfahrensfehlers – wie insbesondere eines Anhörungsmangels – sanktioniert164. Wie bereits im Rahmen von Art. 230 EGV165 wird allerdings die „abstrakte Ergebnisrelevanz“ nicht ausdrücklich als – positives – fehlerakzessorisches Tatbestandsmerkmal benannt. Hinsichtlich von Begründungsmängeln dürfte allerdings eine Randkorrektur insofern anzubringen sein, als eine Sanktionslosigkeit nur dann in Betracht kommt, wenn die essentialia des Rechtsanwendungsprozesses dargelegt worden sind und insbesondere die rechtliche Entscheidungsgrundlage mindestens implizit genannt worden ist166. Auch eine Beschwerdeentscheidung, die über den das Beschwerdeverfahren initiierenden Antrag hinausgeht oder gar ohne einen derartigen Antrag ergeht, leidet an einem Verfahrensfehler. Denn nach der das Beschwerdeverfahren beherrschenden Dispositionsmaxime167 soll eine Beschwerdeentscheidung nicht ohne den Willen eines Beschwerdebefugten ergehen. Ist eine Beschwerdeentscheidung ultra petita ergangen – wie dies z. B. bei einer unzulässigen reformatio in peius168 der Fall ist –, so sollte ein derartiger Verfahrensfehler aus denselben Gründen, wie sie oben169 in bezug auf die Sanktionierung einer erstinstanzlichen Entscheidung dargelegt worden sind, auch hier beachtlich sein. II. Sekundäre Verfahrenssanktionen: Kostenlast Gelegentlich erlegt die Rechtsprechung dem HABM im Falle eines Verfahrensfehlers der Beschwerdeentscheidung trotz Klagabweisung einen Teil der Kosten des Rechtsstreits auf170. Im Kontext der allgemeinen Lehre von den 161
Vgl. oben § 1 A. IV. 2. (bei Fn. 62). EuG, Urt. v. 3. 12. 2003, Audi/HABM, T-16/02, Slg. S. II-5167, Rn. 97. 163 EuG, Urt. v. 27. 2. 2002, Streamserve/HABM, T-106/00, Slg. S. II-723, Rn. 66, Urt. v. 2. 7. 2002, SAT. 1/HABM, T-323/00, Slg. S. II-2839, Rn. 12. 164 EuG, Urt. v. 16. 2. 2000, Procter&Gamble/HABM, T-122/99, Slg. S. II-265, Rn. 40–47; Urt. v. 27. 2. 2002, REWE-Zentral/HABM, T-79/00, Slg. S. II-705, Rn. 13– 15. 165 Vgl. oben § 1 B. I. 2. 166 Zur Parallele mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV vgl. oben § 1 I. 2. (a. E.). 167 Vgl. oben 3. Teil, § 3 F. I. 3. c). 168 Vgl. oben 3. Teil, § 3 F. I. 3. c). 169 Unter § 2 B. II. 170 EuG, Urt. v. 3. 12. 2003, Audi/HABM, T-16/02, Slg. S. II-5167, Rn. 103. 162
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Verfahrensfehlerfolgen ist diese sekundäre Verfahrenssanktion171 geeignet, die Verwaltung zur Beachtung verfahrensrechtlicher Normen anzuhalten und damit deren weitgehender Relativierung vorzubeugen172. Gegenüber anderen sekundären Verfahrenssanktionen wie haftungs- und disziplinarrechtlichen Konsequenzen besteht der verfahrenökonomische Vorteil darin, daß sie in einem eigentlich auf eine Sanktionierung der Ausgangsentscheidung abzielenden Rechtsschutzverfahren gleichsam incidenter ausgesprochen werden kann.
171 Hierzu allgemein Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 13, im Anschluß an Schmidt-Aßmann/Krämer EuZÖRSonderheft 1993, S. 99 ff. (129). 172 Das – mit der unterbleibenden Aufhebung des Verwaltungsakts verbundene – Fehlen eines derartigen „edukatorischen Effekts“ bildete bezeichnenderweise einen der Kernpunkte der älteren Kritik in der deutschen Rechtslehre an der Unbeachtlichkeitsregel des § 46 VwVfG, vgl. Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im deutschen und französischen Verwaltungsrecht, S. 247 f.
5. Teil
Schlußbetrachtung § 1 Rechtssystematische Erkenntnisse zur Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes Fragt man in rechtssystematischer Perspektive nach der ratio legis von Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzregimes im EG-Eigenverwaltungsrecht, so läßt sich allgemein feststellen, daß diese auf einem Zusammenwirken von mehreren genau identifizierbaren Faktoren beruhen. Dabei handelt es sich einerseits um – normstrukturelle oder rein faktische – Sachgründe und andererseits um bestimmte normative Aspekte, nämlich erstens um diejenigen materialen Prinzipien, die den Gesetzgeber bzw. Richter als regulative Ideen bzw. Optimierungsgebote bei der Ausgestaltung eines Rechtsschutzregimes zu leiten haben, und zweitens um zwingende Vorgaben des Primärrechts. Die genannten materialen Prinzipien reichen in ihren Anforderungen über diejenigen hinaus, die sich bereits aus dem gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzprinzip ergeben1. Im einzelnen handelt es sich um die bereits an früherer Stelle angesprochenen Prinzipien der Verfahrensökonomie2 und der materialen Richtigkeitsgewähr3. Hinzu tritt das Prinzip der Verfahrensbeschleunigung4. Zum Verhältnis zwischen dem letzteren und dem Prinzip der Verfahrensstraffung – als Element der Verfahrensökonomie – ist eine Klarstellung angebracht: Das Prinzip der Verfahrensstraffung – das fordert, die verfahrensbeendende Entscheidung unter Entfaltung des geringstmöglichen verfahrensmäßigen Aufwands zu erlassen – ist durch eine verfahrensinterne Mikroperspektive gekennzeichnet; Bezugspunkt ist hier der potentielle Ausgang eines einzelnen anhängigen Verfahrens5. Das Prinzip der Verfahrensbeschleunigung nimmt dagegen die Ge1
Vgl. oben 2. Teil, § 1 A. III. 1. a). Vgl. oben 3. Teil, § 3 F. II. 3. b) aa). 3 Vgl. oben 4. Teil, § 1 A. IV. 2. (bei Fn. 54 f.). 4 Da das „Recht auf Entscheidung in angemessener Zeit“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK ausdrücklich normiert ist (dazu Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Einl., Rn. 141), ist es für die Gemeinschaftsgerichte sowie für den deren Verfahrensrecht regelnden Gesetzgeber maßgeblich; vgl. EuGH, Urt. v. 17. 12. 1998, Baustahlgewebe/Kommission, C-185/95 P, Slg. S. I-8417, Rn. 28–48; vgl. zum Ganzen Bölhoff, Rechtsmittelverfahren, S. 214 ff. sowie Hackspiel, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 21 Rn. 14. 2
§ 1 Erkenntnisse zur Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes
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samtdauer – der u. U. mehreren sukzessiv gestaffelten Rechtsschutzverfahren – bis zur Unanfechtbarkeit entweder der Ausgangsentscheidung oder aber der diese sanktionierenden Rechtsschutzentscheidung in den Blick6. Es dient damit im Kern der Rechtssicherheit. Geht man von den einzelnen normstrukturellen Sachgründen aus, so läßt sich folgendes feststellen: – Einen ersten Sachgrund bilden die Rechtswirkungen der betreffenden Verwaltungsentscheidung und zwar insbesondere eine von dieser ausgehende quasinormative Breitenwirkung, der eine besondere Form der Publizität korrespondiert7. In bezug auf derartige Verwaltungsentscheidungen – sowie auf deren actus contrarius – liegt es im Interesse der Rechtssicherheit, daß Wirksamkeit und Bestandskraft zusammenfallen8. Potentielle Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzregimes ergeben sich hieraus zum einen hinsichtlich des Rechtsschutzgegenstandes; dieser besteht nicht in der betreffenden Verwaltungsentscheidung A selbst sondern in derjenigen Entscheidung B, durch die ein dem Erlaß der Entscheidung A vor- oder nachgeschaltetes administratives Einwendungsverfahren beendet wird. Zum anderen liegt es in bezug auf derartige Verwaltungsentscheidungen nahe, eine aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen – auch von Klagen vor den Gemeinschaftsgerichten – vorzusehen. – Die für die Verwaltungsentscheidung maßgeblichen materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen bilden einen weiteren Sachgrund. Dies gilt zum einen für deren Struktur: Nur in bezug auf Verwaltungsentscheidungen, die keine Ermessensentscheidungen darstellen, ist eine Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte mit Art. 229 EGV vereinbar9; zugleich läuft – als unechte jurisprudentielle Ausdifferenzierung der Substanz des Rechtsschutzregimes – das Sanktionskriterium des „Ermessensmißbrauchs“ leer. Auch der Inhalt der materiellen Rechtmäßigkeitsbedingungen ist von Bedeutung, und zwar für Ausdifferenzierungen in bezug auf die Rechtsschutzinstanz. Denn der hierfür 5 Also entweder der Erlaß der beantragten Rechtsschutzentscheidung oder die Abweisung des Rechtsschutzantrags. 6 Ein weiterer struktureller Unterschied zwischen beiden Prinzipien besteht darin, daß das Prinzip der Verfahrensstraffung auf den verfahrensmäßigen Aufwand als solchen abstellt, dasjenige der Verfahrensbeschleunigung dagegen auf die zeitliche Dauer des Rechtsschutzverfahrens bzw. ggf. der mehreren sukzessiv gestaffelten Rechtsschutzverfahren. Diese zeitliche Dauer wird aber nicht nur durch den Umfang des in jedem einzelnen Verfahren normativ induzierten verfahrensmäßigen Aufwands bestimmt sondern auch durch die vorhandenen Personal- und Sachkapazitäten sowie durch die Zahl der sukzessiv gestaffelten Rechtsschutzverfahren. 7 Wie dies in Gestalt der Registereintragung bei der Begründung einer Gemeinschaftsmarke der Fall ist. 8 Vgl. oben 3. Teil, § 2 B. II. 9 Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. a).
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5. Teil: Schlußbetrachtung
unter dem Gesichtpunkt der materialen Richtigkeitsgewähr unmittelbar einleuchtende Sachgrund der besonderen fachlichen Spezialisierung bedeutet normativ, daß zumindest einige der den Rechtsanwendungsprozeß konstituierenden Erkenntnis- bzw. Wertungsakte der Entscheidungsinstanz besondere Fachkenntnisse oder zumindest eine länger währende Vertrautheit mit der betreffenden Materie erfordern. Das Ergebnis des Rechtsanwendungsprozesses besteht aber gerade in einem Urteil der Entscheidungsinstanz über das Vorliegen einer bestimmten entscheidungserheblichen materiellen Rechtmäßigkeitsbedingung10. – Von Bedeutung ist weiterhin die Konstellation der durch den Erlaß der Verwaltungsentscheidung berührten öffentlichen und privaten Interessen: Wiederum unter dem Gesichtpunkt der materialen Richtigkeitsgewähr rechtfertigt die Tatsache, daß die Verwaltungsentscheidung in besonderem Maße die Interessen Privater berührt, daß diesen eine Parteirolle zuerkannt wird, die mit prozessualen Befugnissen verbunden ist, die über diejenigen eines einfachen Streithelfers nach Art. 40 Abs. 4 EuGH-Satzung hinausgehen. Dies gilt vor allem – aber nicht allein – in Fällen der Interessendissoziierung, also dann, wenn die Bestands- oder Veränderungsinteressen des Privaten nicht mit bestimmten öffentlichen Interessen inhaltsgleich sind. – Auch der Inhalt des maßgeblichen Verwaltungsverfahrensrechts mag einen Sachgrund für Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzregimes darstellen. So etwa, wenn – in Form einer „unechten“ jurisprudentiellen Ausdifferenzierung – die theoretisch vorhandene Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung des Sofortvollzugs einer Verwaltungsentscheidung A leerläuft, da die erlassende Behörde nicht zur amtwegigen Aufhebung einer von deren Bestand rechtlich abhängigen Verwaltungsentscheidung B befugt ist. – Schließlich bilden bestimmte Ausdifferenzierungen der Struktur des Rechtsschutzverfahrens ihrerseits einen relevanten Sachgrund für weitere Ausdifferenzierungen der Struktur oder auch der Substanz des Rechtsschutzregimes: Ist ein Rechtsschutzverfahren vor einer außerhalb der Gemeinschaftsgerichte errichteten Rechtsschutzinstanz sekundärrechtlich vorgesehen, so liegt es im Interesse der Verfahrensbeschleunigung, eine Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte vorzusehen; auch das materiell-rechtliche Sanktionskriterium mag sich hier von demjenigen der Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses zu demjenigen der Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses des Rechtsanwendungsprozesses verschieben. Ein wesentlicher rein faktischer Sachgrund ist das quantitative Entscheidungsvolumen. Dies gilt zum einen für die Bestimmung der Rechtsschutzinstanz. So bedarf das EuG unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensvermeidung 10
Vgl. oben 4. Teil, § 1 A. II. 2.
§ 2 Bewertung des Rechtsschutzregimes im Gemeinschaftsmarkenrecht
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– i. S. der abgestuften skalaren Wertigkeit der verschiedenen potentiellen Rechtsschutzinstanzen – einer gewissen „Abschirmung“, was dadurch erreicht wird, daß die Rechtsschutzgewährung zunächst anderen Instanzen als dem EuG11 obliegt. Zum anderen spielt das quantitative Entscheidungsvolumen aber auch für die Ausgestaltung des Rechtsschutzverfahrens eine Rolle: Je größer dieses Volumen ist, desto mehr liegt es im Interesse der Verfahrensbeschleunigung, die Verfahrensnormen so auszugestalten, daß der normativ induzierte verfahrensmäßige Aufwand minimiert wird12. Hinsichtlich der normativen Form von Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes läßt sich feststellen, daß strukturelle Ausdifferenzierungen in der Regel legislativer Natur sind und lediglich in gewissen Fällen einer jurisprudentiellen Randkorrektur unterliegen13. Substantielle Ausdifferenzierungen – insbesondere solche in bezug auf das maßgebliche Sanktionskriterium – sind dagegen regelmäßig bereits im Ausgangspunkt jurisprudentieller Natur.
§ 2 Rechtspolitische Bewertung des Rechtsschutzregimes im Gemeinschaftsmarkenrecht Die Kriterien, anhand derer ein bestimmtes Rechtsschutzregime rechtspolitisch sinnvollerweise zu bewerten ist, bestehen in genau denjenigen materialen Prinzipien, die den Gesetzgeber als regulative Ideen bzw. Optimierungsgebote bei dessen Ausgestaltung zu leiten haben, also in den Prinzipien der Verfahrensökonomie, der materialen Richtigkeitsgewähr und der Verfahrensbeschleunigung14. Bewertet man das Rechtsschutzregime des Gemeinschaftsmarkenrechts auf dieser Grundlage, so ergibt sich ein insgesamt ambivalentes Bild: Dem Prinzip der Verfahrensvermeidung wird in hohem Maße Rechnung getragen: Die Vorschaltung des Beschwerdeverfahrens vor das Rechtsschutzverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten bewirkt eine „Herabzonung“ des Rechtsschutzes: Die Beschwerdekammern als zunächst berufene Rechtsschutzinstanzen weisen eine niedrigere „skalare Wertigkeit“ auf als die Gemeinschaftsgerichte; die knappe Ressource der gerichtlichen Entscheidungskapazität 11 Und zwar entweder sekundärrechtlich errichteten Rechtsschutzinstanzen oder aber gerichtlichen Kammern nach Art. 225a EGV; vgl. hierzu unten § 3 B. 12 Also etwa: Rein schriftliches Verfahren statt zusätzlicher mündlicher Verhandlung, Beschränkung der Zahl der Schriftsätze (vgl. zum Gemeinschaftsmarkenrecht Art. 135 Abs. 2 Vf-O EuG). 13 Ein Beispiel bildet das Erfordernis der Entscheidungsreife im Rahmen der Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte nach Art. 63 Abs. 3 GMV; vgl. oben 3. Teil, § 3 F. II. 3. c) bb). 14 Vgl. oben § 1.
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5. Teil: Schlußbetrachtung
wird durch die klägerbezogene Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses „abgeschirmt“15. Die Sinnhaftigkeit dieser Regelungen ergibt sich bereits aus einem Blick auf die Entscheidungsstatistiken: So wurden 2004 1208 Beschwerden vor den Beschwerdekammern erhoben, diese erließen 1036 Beschwerdeentscheidungen; dagegen wurden im gleichen Zeitraum lediglich 110 Klagen vor dem EuG anhängig gemacht, woraus sich eine gerichtliche „Anfechtungsquote“ von knapp über 10 % ergibt16. Weiterhin bewirkt die – auf der Ebene des Beschwerde- wie auch des gerichtlichen Klageverfahrens bestehende – Abänderungsbefugnis der Rechtsschutzinstanz, daß eine Fortsetzung des bereits beendeten Verfahrens vor der jeweiligen Ausgangsinstanz entfällt. Durch die Einschränkung der Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte in Gestalt des Erfordernisses der Entscheidungsreife17 wird zugleich das Prinzip der Verfahrensstraffung in hinreichender Weise berücksichtigt. Auch den Anforderungen des Prinzips der materialen Richtigkeitsgewähr trägt das Rechtsschutzregime des Gemeinschaftsmarkenrechts in hohem Maße Rechnung. Zu nennen sind hier im wesentlichen folgende vier Faktoren: – Die Organwalter der Rechtsschutzinstanz weisen eine hohe Qualifikation auf: Die Mitglieder der Beschwerdekammern sind juristisch und – auf dem Gebiet des Markenrechts auch – fachlich spezialisiert, wozu nicht zuletzt das Benennungsverfahren beiträgt18; die geringere fachliche Spezialisierung der Mitglieder des Gerichts erster Instanz wird durch größere thematische Breite ihrer richterlichen Erfahrung kompensiert sowie durch die Tatsache, daß der gerichtlichen Rechtsschutzentscheidung bereits ein zweifacher – jeweils in den entsprechenden Entscheidungsgründen dargelegter – Rechtsanwendungsprozeß durch zwei verschiedene Entscheidungsinstanzen19 vorausgegangen ist. – Die Existenz zweier sukzessiv gestaffelter Rechtsschutzverfahren – vor der Beschwerdekammer und Gemeinschaftsgerichten – erhöht per se die materiale Richtigkeitsgewähr. Dies gilt umso mehr, als die maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage des gerichtlichen Rechtsschutzverfahrens nicht durch entsprechende Präklusionsregelungen auf die effektive tatsächliche Entscheidungsgrundlage der Beschwerdeentscheidung beschränkt ist: Beide Rechtsschutzinstanzen werden als „volle Tatsacheninstanzen“ tätig.
15
Vgl. oben 3. Teil, § 4 A. II. 2. Die entsprechenden Zahlen für 2003 lauten: 719 Beschwerden, 1114 Beschwerdeentscheidungen sowie 100 Klagen vor dem EuG [Quelle: HABM (http.oami.eu.int/ de/office/stats.htm) bzw. EuGH, Jahresbericht 2004, S. 202]. 17 Vgl. oben 3. Teil, § 3 F. II. 3. b) bb) und c) bb). 18 Vgl. oben 3. Teil, § 3 A. I. (bei Fn. 113). 19 Nämlich: die erstinstanzliche Stelle des HABM und die Beschwerdekammer. 16
§ 2 Bewertung des Rechtsschutzregimes im Gemeinschaftsmarkenrecht
255
– Die funktionelle Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit der Rechtsschutzinstanz ist sowohl für die Beschwerdekammern20 als auch – selbstverständlich – für die Gemeinschaftsgerichte gewährleistet. – Durch die Regelung, wonach die sonstigen Beteiligten des jeweiligen Ausgangsverfahrens an dem Rechtsschutzverfahren – neben dem Initiator – obligatorisch beteiligt sind21, wird eine breite maßgebliche tatsächliche Entscheidungsgrundlage normiert, was ebenfalls dem Prinzip der materialen Richtigkeitsgewähr dient. Ergänzt wird dies durch eine Ausgestaltung der verfahrensrechtlichen Sanktionskriterien, die dazu führt, daß abstrakt ergbnisrelevante Verfahrensfehler nur dann sanktionslos bleiben, wenn die unvollständige Ausschöpfung der potentiellen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage der jeweiligen Ausgangsentscheidung durch das Rechtsschutzverfahren neutralisiert wird22. Dagegen weist das Rechtsschutzregime des Gemeinschaftsmarkenrechts in bezug auf das Prinzip der Verfahrensbeschleunigung Defizite auf. Zwar fehlen verläßliche Zahlen über die durchschnittliche Dauer des Beschwerdeverfahrens, jedoch läßt sich vorsichtig schätzen, daß diese bei mindestens 15 Monaten liegen dürfte23. Die durchschnittliche Dauer des gerichtlichen Klageverfahrens lag 2004 bei 17,8 Monaten24. Insgesamt ergibt sich somit eine durchschnittliche Gesamtdauer des Beschwerde- und des gerichtlichen Klageverfahrens von knapp drei Jahren mit steigender Tendenz. Dies beruht sicherlich auch darauf, daß Beschwerdekammern und Gemeinschaftsgerichte als „volle Tatsacheninstanzen“ tätig werden25. Dieser Befund ist vor allem bedenklich in bezug auf den Rechtssschutz gegen inter partes ergangene Entscheidungen des HABM im Vorfeld der Markeneintragung – also gegen die das Widerspruchsverfahren beendenden Entscheidungen. Allgemein besteht im Bereich des Rechtsschutzes gegen adressatenbegünstigende Verwaltungsentscheidungen mit einer Belastungswirkung für einen privaten Dritten eine strukturelle Asymmetrie dergestalt, daß die Länge der Verfahrensdauer den Adressaten als Träger des Veränderungsinteresses stärker belastet 20
Vgl. oben 3. Teil, § 3 A. I. (bei Fn. 113). Vgl. oben 3. Teil, § 3 E. I. und II. 2. a). 22 Vgl. oben 4. Teil, § 2 B. und § 3 B. I. 23 Erschlossen werden kann sie stichprobenartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit aus den Angaben in den Tatbeständen der Urteile des EuG, vgl. etwa EuG, Urt. v. 3. 12. 2003, Audi/HABM, T-16/02, Slg. S. II-5167, Rn. 8/9: ca. 17 Monate; Urt. v. 8. 7. 2004, MFE Marienfelde/HABM, T-334/01, Slg. S. II-2787, Rn. 13/16: ca. 16 Monate; Urt. v. 10. 11. 2004, Storck/HABM, T-402/02, Slg. S. II-3849, Rn. 8/9: ca. 19 Monate. 24 2003 lag sie bei 15,8 Monaten, vgl. EuGH, Jahresbericht 2004, S. 206. 25 Vgl. oben nach Fn. 19. 21
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5. Teil: Schlußbetrachtung
als den Dritten als Träger des Bestandsinteresses. Dies gilt insbesondere dann, wenn den Rechtsbehelfen des Dritten ex lege eine aufschiebende Wirkung zukommt, ohne daß die Möglichkeit einer Anordnung des Sofortvollzugs besteht26. Denn hier ist der Adressat daran gehindert, die durch die Verwaltungsentscheidung gewährte Begünstigung auszunutzen, auch wenn diese ohnehin nur einen prekären Charakter aufweist, solange über den von dem Dritten eingelegten Rechtsbehelf noch nicht abschließend entschieden worden ist27. In bezug auf die Markeneintragung ist der Markenanmelder Träger des Veränderungsinteresses. Die Ausgestaltung des Beschwerde- und des gerichtlichen Klageverfahrens als „volle Tatsacheninstanzen“ ist hier unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensdauer umso problematischer, als sich eine strukturelle Verzögerung bereits daraus ergibt, daß der Markeneintragung das Widerspruchsverfahren als administratives Einwendungsverfahren – innerhalb des gestuften Eintragungsverfahrens – vorgeschaltet ist und der prozeduralisierte bzw. mediatisierte Rechtsschutz privater Dritter erst die das Widerspruchsverfahren beendende Entscheidung zum Gegenstand hat28. Außerdem kommt sowohl der Beschwerde als auch der Klage des Widerspruchsführers ex lege eine aufschiebende Wirkung zu29, ohne daß der Sofortvollzug einer dem Markenanmelder günstigen Beschwerde- oder Widerspruchsentscheidung gerichtlich angeordnet werden kann30.
§ 3 Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes in rechtspolitischer Perspektive A. Inhalte sektorieller Ausdifferenzierungen Ein rechtspolitisch wichtiger Aspekt der – legislativen oder jurisprudentiellen – sektoriellen Ausdifferenzierung bestimmter Struktur- oder auch Substanzelemente des Rechtsschutzregimes besteht darin, daß eine derartige Ausdifferenzie26 Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung, § 80a, Rn. 24, formuliert treffend, in einer derartigen Konstellation werde „das Aufschubinteresse des Dritten [. . .] einseitig bevorzugt, und das Verwirklichungsinteresse des Begünstigten [. . .] mißachtet“. 27 Hinzu kommt, daß der Adressat – anders als im Bereich des Rechtsschutzes gegen den unterlassenen Erlaß einer ihn begünstigenden Verwaltungsentscheidung ohne drittbelastende Wirkung – insofern keinen Einfluß auf die Verfahrensdauer hat, als der private Dritte ggf. befugt ist, ein weiteres von mehreren sukzessiv gestaffelten Rechtsschutzverfahren zu initiieren. 28 Vgl. oben 3. Teil, § 2 A. I. sowie C.; aus diesem Grund ist im deutschen Markenrecht seit 1995 das Widerspruchsverfahren der Markeneintragung nachgeschaltet, vgl. Berlitt, Das neue Markenrecht, Rn. 380 ff. 29 Vgl. oben 3. Teil, § 3 D. I. sowie II. 30 Vgl. oben 3. Teil, § 4 A. IV.
§ 3 Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes in rechtspolitischer Perspektive 257
rung eine Vorbildwirkung entfalten kann für den Rechtsschutz in anderen Sachbereichen oder sogar für den Rechtsschutz im EG-Eigenverwaltungsrecht insgesamt. Im Bereich der Struktur des Rechtsschutzregimes kommt eine Vorbildwirkung des Rechtsschutzregimes im Gemeinschaftsmarkenrecht beispielsweise für die Ausgestaltung der Verfahrensbeteiligung privater Dritter neben dem Kläger in Betracht. So sollte erwogen werden, dem Adressaten einer begünstigenden Entscheidung im Rahmen der allgemeinen Nichtigkeitsklage die Stellung eines „privilegierten Streithelfers“ mit den damit verbundenen spezifischen prozessualen Befugnissen – wie insbesondere derjenigen zu einem eigenständigen Sachantrag auf Klagabweisung – einzuräumen31. Zwar ist dessen privates Interesse am Erlaß der angefochtenen Entscheidung im Regelfall – anders als im Gemeinschaftsmarkenrecht – mit bestimmten öffentlichen Interessen inhaltsgleich, von denen erwartet werden kann, daß sie von dem beklagten Gemeinschaftsorgan im gerichtlichen Verfahren hinreichend artikuliert werden. Gleichwohl können Defizite in den Möglichkeiten der Rechtsverteidigung des Adressaten bestehen, so insbesondere dann, wenn der Beklagte es unterläßt, die Zulässigkeit der Klage zu rügen32. Unter Anlehnung an das markenrechtliche Rechtsschutzregime könnte weiterhin in bestimmten Fällen eine Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte in bezug auf die angefochtene Ausgangsentscheidung vorgesehen werden. Aufgrund des Vorrangs von Art. 229 EGV ist diese Möglichkeit allerdings zwingend auf Konstellationen zu begrenzen, in denen die Ausgangsentscheidung keine Ermessensentscheidung darstellt33. Außerdem empfiehlt es sich im Interesse der Verfahrensstraffung, eine derartige Abänderungsbefugnis nur in bezug auf solche Ausgangsentscheidungen vorzusehen, durch die ein sekundärrechtlich vorgesehenes Rechtsschutzverfahren beendet wird. Gerade in dieser Konstellation kann somit das Problem der mit der Einführung eines derartigen Rechtsschutzverfahrens verbundenen Verlängerung der Verfahrensdauer wirksam abgemildert werden. Aufgrund dieser Kautelen erscheint eine abstrakte Normierung einer Abänderungsbefugnis der Gemeinschaftsgerichte im allgemeinen Gemeinschaftsprozeßrecht34 allerdings nicht möglich; vielmehr wird insofern weiterhin der Weg einer sektorspezifischen sekundärrechtlichen Regelung auf der Grundlage von Art. 308 EGV35 gewählt werden müssen.
31
Vgl. oben 3. Teil, § 3 E. II. 2. a) cc). Dazu Nissen, Die Intervention Dritter in Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 228 ff. 33 Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. a) (bei u. nach Fn. 156). 34 D. h. in den Art. 220 ff. EGV oder in der EuGH-Satzung. 35 Vgl. oben 2. Teil, § 2 B. I. 32
258
5. Teil: Schlußbetrachtung
Aus Gründen der fachlichen Spezialisierung36 und/oder des quantitativen Entscheidungsvolumens mag es ferner geboten erscheinen, die Rechtsschutzaufgaben im EG-Eigenverwaltungsrecht sektorspezifisch auf verschiedene Rechtsschutzinstanzen aufzuteilen. Für eine derartige Ausgestaltung der „Architektur“ des Rechtsschutzregimes – also der sukzessiven Staffelung von Rechtsschutzverfahren vor verschiedenen Entscheidungsinstanzen – bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten: – Zum einen kann der Sekundärrechtsgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 308 EGV oder einer materienspezifischen Rechtsgrundlage sektorspezifische Rechtsschutzverfahren vor anderen Rechtsschutzinstanzen als den Gemeinschaftsgerichten vorzusehen; dabei kann er entweder diese Rechtsschutzinstanzen eigens errichten oder aber ein primärrechtlich vorgesehenes Gemeinschaftsorgan mit den Aufgaben einer Rechtsschutzinstanz betrauen37. – Zum anderen kann er die Gemeinschaftsgerichte selbst in der Eingangsinstanz sektorspezifisch auszudifferenzieren. Die Grundlage hierfür bietet der durch den Vertrag von Nizza eingefügte Art. 225a EGV, der den Rat ermächtigt, „gerichtliche Kammern [zu] bilden, die für Entscheidungen im ersten Rechtszug über bestimmte Kategorien von Klagen zuständig sind, die in besonderen Sachgebieten erhoben werden“38. Obwohl diese gerichtlichen Kammern nach Art. 220 Abs. 2 EGV dem Gericht erster Instanz „beigeordnet“ sind, handelt es sich um eigenständige Gerichte – mit erstinstanzlicher Zuständigkeit – und nicht etwa lediglich um besondere Spruchkörper des Gerichts erster Instanz39. Was die Wahl zwischen diesen beiden Optionen betrifft, so ist die Tatsache von entscheidender Bedeutung, daß jede Entscheidung i. S. v. Art. 230 EGV einen tauglichen Gegenstand der Nichtigkeitsklage vor den Gemeinschaftsgerichten darstellt, sofern es sich nicht um eine in Ausübung seiner Rechtsprechungsbefugnisse erlassene Entscheidung des Gemeinschaftsorgans „Gerichtshof“ handelt40. Dies gilt auch für solche Entscheidungen, durch die ein sekundärrechtlich vorgesehenes Rechtsschutzverfahren beendet wird, und zwar auch 36
Zu diesem Aspekt Sydow, GRUR 2001, S. 689 ff. (695). Vgl. oben 2. Teil, § 1 B. (bei u. nach Fn. 79). 38 Der Rat handelt hier entweder „auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Gerichtshofs“, was einer üblichen Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahrens der Anhörung zumindest weitgehend entspricht. Alternativ kann der Rat aber auch „auf Antrag des Gerichtshofs und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission“ handeln. Kritisch zu dieser legislativen Zuständigkeit des EuGH Sack, EuZW 2001, S. 77 ff. (79), dagegen zu Recht Middeke, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 3 Rn. 7. 39 Jung, in: G/S, Art. 224 bis 225a EGV, Rn. 63; eingehend zu den gerichtlichen Kammern auch Azizi, EuR, Beiheft 2003, S. 87 ff. (99 ff.). 40 D. h. der Gemeinschaftsgerichte – unter Einschluß der gerichtlichen Kammern – als gerichtlicher Rechtsschutzinstanzen. 37
§ 3 Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes in rechtspolitischer Perspektive 259
dann, wenn eine sekundärrechtlich errichtete Rechtsschutzinstanz gehandelt hat, die nach den gemeinschaftsrechtlich maßgeblichen Kriterien als Gericht zu qualifizieren ist. Denn einer derartigen Rechtsschutzinstanz darf zwar die Befugnis zum Erlaß von Rechtsschutzentscheidungen in bezug auf den erfolgten oder unterlassenen Erlaß von (Ausgangs)- Entscheidungen eingeräumt werden, nicht aber die Befugnis zum Erlaß abschließender Rechtsschutzentscheidungen41. Ein sekundärrechtlich vorgesehenes Rechtsschutzverfahren vor einer nicht zu den Gemeinschaftsgerichten gehörenden Rechtsschutzinstanz ist dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren also notwendigerweise vorgeschaltet. Die erste Option ist unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung daher nur dann sinnvoll, wenn aufgrund des induzierten verfahrensmäßigen Aufwands und der vorhandenen Personal- und Sachkapazitäten42 zu erwarten ist, daß ein solches Rechtsschutzverfahren innerhalb einer kurzen Dauer beendet wird. Ein gesetzgeberisches Gestaltungsmittel kann hier die Normierung einer ex lege eintretenden Verfahrensbeendigung sein in Gestalt der Fiktion einer negativen Entscheidung nach einer bestimmten – kurz bemessenen – Frist; dieser Weg ist etwa im Bereich des Zugangs zu Dokumenten in Art. 8 der VO 1049/01 beschritten worden43. Wo eine relativ kurze Verfahrensdauer indes nicht gewährleistet werden kann – etwa aufgrund typischerweise schwierig zu beurteilender Tatsachen- und/oder Rechtsfragen44 oder einer mehrpoligen Interessenkonstellation mit einer Mehrheit von Verfahrensbeteiligten –, sollte eher die zweite Option gewählt werden. Für die erstinstanzliche Bescheidung von Nichtigkeitsklagen in dem betreffenden Sachgebiet wäre dann eine gerichtliche Kammer zuständig; durch eine solche „Herabzonung“ wird zugleich dem Prinzip der Verfahrensvermeidung Rechnung getragen. Insbesondere für das Gemeinschaftsmarkenrecht würde sich daher dieser Weg empfehlen; die Beschwerdekammern des HABM würden damit als eigenständige Rechtsschutzinstanz entfallen45. Ein Hinweis darauf, daß diese Möglichkeit von den Verfassern des Vertrags von Nizza ins Auge gefaßt wurde, findet sich in einer von der Regierungskonferenz zur Kenntnis genommenen Erklärung Luxemburgs46. Die erste dieser gerichtlichen Kammern ist Ende
41
Vgl. oben 2. Teil, § 2 C. III. 2. c) (nach Fn. 170). Vgl. oben § 1 (Fn. 6). 43 Vgl. oben 2. Teil, § 3 B. (nach Fn. 208). 44 Yataganas, European Law Journal 2001, S. 242 ff. (278), stellt ab auf „very technical cases, which [. . .] promise to create a rather heavy workload“ und nennt als Beispiele Entscheidungen der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs oder der Europäischen Agentur für Flugsicherheit. 45 In diesem Sinne auch van Raepenbusch, Gazette du Palais v. 20./21. 6. 2001, S. 6 ff. (11, Fn. 28); Bender, MarkenR 2002, S. 37 ff. (38); Jung, in: G/S, Art. 224 bis 225a, Rn. 65; Sydow, GRUR 2001, S. 689 ff. (690); Azizi, EuR, Beiheft 2003, S. 87 ff. (107). 42
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5. Teil: Schlußbetrachtung
2004 unter der Bezeichnung „Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union“ für den Bereich des Dienstrechts errichtet worden47. Gegen die verfahrensbeendende Entscheidung einer gerichtlichen Kammer ist ein Rechtsmittel zum Gericht erster Instanz gegeben. Dieses ist nach Art. 225a Abs. 3 EGV auf Rechtsfragen beschränkt, sofern der Rat nicht in dem Errichtungsbeschluß der gerichtlichen Kammer ausdrücklich festlegt, daß es sich – im Sinne einer Berufung – auch auf Tatfragen48 erstrecken soll49. Im allgemeinen wird es sich im Interesse der Verfahrensbeschleunigung empfehlen, es bei der Beschränkung auf Rechtsfragen zu belassen50. Sollte gleichwohl für einen bestimmten Sachbereich ein anderer Weg gewählt werden, so mag immerhin die elaborierte Dogmatik zum Verhältnis zwischen erstinstanzlichen Stellen und Beschwerdekammern des HABM der für das Gemeinschaftsprozeßrecht neuen Ausgestaltung eines gerichtlichen Berufungsverfahrens als Modell dienen. Dies gilt beispielsweise für den Rechtsschutzinhalt – Abänderungsbefugnis –51 ebenso wie für das maßgebliche Sanktionskriterium52. Zu erwähnen ist allerdings, daß nach Artikel 225 Abs. 2 EGV die Rechtsmittelentscheidungen des Gerichts „nach Maßgabe der Bedingungen und innerhalb der Grenzen, die in der Satzung vorgesehen sind, in Ausnahmefällen vom Gerichtshof überprüft werden [können], wenn die ernste Gefahr besteht, dass die Einheit oder die Ko46 Die Erklärung hat folgenden Wortlaut: „Unbeschadet des Beschlusses vom 8. April 1965 und der darin enthaltenen Bestimmungen und Möglichkeiten bezüglich des Sitzes künftiger Organe, Einrichtungen und Dienststellen sagt die luxemburgische Regierung zu, den Sitz der Beschwerdekammern des Harmonisierungsamtes für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle), die in Alicante bleiben, auch dann nicht zu fordern, wenn diese gerichtliche Kammern im Sinne des Artikels 220 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft werden sollten.“ 47 Beschluß des Rates 2004/752/EG, Euratom vom 2. November 2004 zur Errichtung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union, ABl. 2004 Nr. L 333 S. 7. Die Regierungskonferenz hatte in der von ihr angenommenen Erklärung Nr. 15 „den Gerichtshof und die Kommission“ ersucht, „so bald wie möglich den Entwurf eines Beschlusses über die Bildung einer gerichtlichen Kammer auszuarbeiten, die im ersten Rechtszug für Streitigkeiten zwischen der Gemeinschaft und ihren Bediensteten zuständig ist“. Formal bilden die Bestimmungen über das „Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union“ keine gesonderte regelungstechnische Einheit sondern einen Anhang zur EuGH-Satzung. Zum Ganzen siehe auch Vuitton, AJFP 2004, S. 284 ff.; ders., AJFP 2005, S. 4 ff. 48 Der deutsche Vertragstext verwendet den terminologisch unglücklichen Begriff „Sachfragen“. 49 Zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage im Rechtsmittelverfahren nach Art. 225 Abs. 1 EGV i.V. m. Art. 56 ff. EuGH-Satzung Bölhoff, Rechtsmittelverfahren, S. 131 ff. 50 Das Rechtsmittel zum EuG gegen verfahrensbeendende Entscheidungen des „Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union“ ist nach Art. 11 von Anhang I der EuGH-Satzung auf Rechtsfragen beschränkt. 51 Vgl. oben 3. Teil, § 3 F. I. 3. c). 52 Vgl. oben 4. Teil, § 2.
§ 3 Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes in rechtspolitischer Perspektive 261
härenz des Gemeinschaftsrechts berührt wird“53. Nach Artikel 62 der durch den Vertrag von Nizza neugefaßten EuGH-Satzung kann – nur – der Erste Generalanwalt vorschlagen, die Entscheidung des Gerichts zu überprüfen, wenn er der Auffassung ist, daß diese Voraussetzung erfüllt ist. Bei diesem Überprüfungsverfahren handelt es sich zwar um ein Sanktionsverfahren, jedoch – aufgund der fehlenden Initiativberechtigung der Parteien des Verfahrens vor dem EuG – nicht um ein Rechtsschutzverfahren54. Dem Problem einer hierdurch bedingten Verlängerung der Verfahrensdauer wird zum einen dadurch Rechnung getragen, daß der Vorschlag des Ersten Generalanwalts innerhalb eines Monats nach Verkündung der Entscheidung des Gerichts erfolgen muß; der Gerichtshof muß sodann innerhalb eines Monats nach Vorlage des Vorschlags entscheiden, ob eine Überprüfung zu erfolgen hat. Bereits hierdurch wird der Ausnahmecharakter eines derartiges Sanktionsverfahrens unterstrichen55. Zum anderen ist der Aspekt der Verfahrensdauer bei der näheren Ausgestaltung des Überprüfungsverfahrens in der EuGH-Satzung berücksichtigt worden56. Die mit der Errichtung von gerichtlichen Kammern verbundene Ausdifferenzierung der gerichtlichen Rechtsschutzinstanzen bedeutet jedoch keine Ausdifferenzierung in verschiedene „Fachgerichtsbarkeiten“57. Denn auch die sektorspe53 Hierzu allgemein Johnston, Common Market Law Review 2002, S. 499 ff. (514 f.). 54 Vgl. oben 1. Teil, § 2 A. (bei u. nach Fn. 53); ebenso i. E. Jung, in: G/S, Art. 224 bis 225a EGV, Rn. 70. Azizi, EuR, Beiheft 2003, S. 87 ff. (101) spricht plastisch von einer „Amtsbeschwerde zur Wahrung des objektiven Rechts“. 55 Zu diesem Aspekt insbesondere Andriantsimbazovina, Revue des affaires européennes 2000, S. 410 ff. (420). 56 Der Rat hat auf Vorschlag des Gerichtshofs die EuGH-Satzung um Bestimmungen über die Rolle der Parteien in dem Verfahren vor dem Gerichtshof im Hinblick auf die Wahrung ihrer Rechte sowie über die Wirkung des Überprüfungsverfahrens auf die Vollstreckbarkeit der Entscheidung des Gerichts erster Instanz ergänzt (Beschluß vom 3. 10. 2005, ABl. L 266 v. 11. 10. 2005, S. 60). Er ist damit dem Regelungsauftrag in der von der Regierungskonferenz verabschiedeten Erklärung Nr. 13 zu Artikel 225 Abs. 2 und 3 EGV nachgekommen. Nach dem neuen Art. 62c, 1. UA, S. 1 hat die Überprüfung keine aufschiebende Wirkung. Zur Gewährung rechtlichen Gehörs – und im Interesse einer gleichwohl nicht zu langen Gesamtverfahrensdauer – sieht Art. 62a, 2. UA vor, daß im Verfahren der Überprüfung einer Rechtsmittelentscheidung des Gerichts erster Instanz die Parteien des Rechtsstreits vor dem Gericht schriftliche Erklärungen abgeben können. Hinsichtlich der Wirkung der das Überprüfungsverfahren beendenden Entscheidung des Gerichtshofs auf die Streitigkeit zwischen den Parteien ist in Art. 62c, 1. UA, S. 2 als Regel vorgesehen, daß der Gerichtshof, wenn er den Antrag des Ersten Generalanwalts für begründet erachtet, die Rechtssache an das Gericht zurückverweist, das an die rechtliche Beurteilung durch den Gerichtshof gebunden ist. Ergibt sich jedoch der Ausgang des Rechtsstreits unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Überprüfung aus den Tatsachenfeststellungen, auf denen die Entscheidung des Gerichts beruht, so entscheidet der Gerichtshof endgültig (Art. 62c, 1. UA, S. 3). 57 So aber Sydow, GRUR 2001, S. 689 ff. (694 ff.); Middeke, in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 3 Rn. 7.
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5. Teil: Schlußbetrachtung
zifisch zuständigen gerichtlichen Kammern bleiben durch das Rechtsmittelverfahren zum EuG sowie das Überprüfungsverfahren zum EuGH in einer einheitlichen Gemeinschaftsgerichtsbarkeit verklammert. Auch bei den Substanzelementen des Rechtsschutzregimes sind Vorbildwirkungen des Rechtsschutzregimes im Gemeinschaftsmarkenrecht möglich. So könnte die Rechtsprechung sich etwa dazu verstehen, zum materiell-rechtlichen Sanktionskriterium der Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses des Rechtsanwendungsprozesses überzugehen. Allerdings ist dieser sanktionsbegründende Rechtsfehler voraussetzungsreicher als der bisher im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV maßgebliche – nämlich: die Fehlerhaftigkeit des Rechtsanwendungsprozesses. Daher gebiet es das Prinzip der Verfahrensstraffung, einen solchen Schritt nur dort zu erwägen, wo der Verfahrensstoff bereits dadurch „vorstrukturiert“ worden ist, daß der Rechtsanwendungsprozeß in den Entscheidungsgründen der Ausgangsentscheidung hinreichend dargelegt worden ist. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn diese bereits ihrerseits eine Rechtsschutzentscheidung darstellt, u. U. darüberhinaus aber auch dann, wenn das Ausgangsverfahren stärker rechtsförmlich ausgestaltet ist.
B. Normative Formen legislativer Ausdifferenzierungen – Kohärenz des Rechtsschutzsystems insgesamt Ausdifferenzierungen der Architektur des Rechtsschutzregimes, die Rechtsschutzverfahren von vor einer nicht zu den Gemeinschaftsgerichten gehörenden Rechtsschutzinstanz normieren, sind in einer – i. d R. auf Art. 308 EGV gestützten – Verordnung zu regeln. Bestehen sie dagegen in der Errichtung gerichtlicher Kammern, so ist ein Ratsbeschluß auf der Grundlage von Art. 225a EGV der richtige Regelungsort. Stehen dagegen andere sektorspezifische Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes vor den Gemeinschaftsgerichten in Rede, wie etwa die Verfahrensbeteiligung anderer Entitäten – insbesondere privater Dritter – neben dem Initiator des Rechtsschutzverfahren oder dessen Ausgestaltung i. e S.58, so stellt die Satzung des EuGH den geeigneten Regelungsort dar59. Zwar bildet diese grundsätzlich eine Rechtsquelle mit Primärrechtsrang60. Allerdings hat der Vertrag von Nizza hier insofern eine erhebliche Flexibilisierung gebracht, als Art. 245 58 Also die für die Rechtsschutzentscheidungen der Gemeinschaftsgerichte maßgeblichen Verfahrensnormen. 59 Allerdings hat der EuGH in seinem Beschl. v. 17. 3. 2005, C-318/04, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, eine Beteiligung des Europäischen Datenschutzbeauftragten als Streithelfer – auf Seiten des Europäischen Parlaments – auf der alleinigen Grundlage von Art. 47 Abs. 1 sub i) der VO (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12. 1. 2001 (ABl. 2001, L 8, S. 1) zugelassen. 60 Vgl. oben 2. Teil, § 1 A. I.
§ 3 Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes in rechtspolitischer Perspektive 263
2. UA EGV nunmehr vorsieht, daß die EuGH-Satzung – mit Ausnahme der im 1. Titel zusammengefaßten Regelungen über die Rechtsstellung der Mitglieder des EuGH – durch einstimmigen Ratsbeschluß geändert werden kann61. Lediglich eventuelle sektorspezifische Ausdifferenzierungen im Bereich der Initiativberechtigung oder des Inhalts der ersten gerichtlichen Rechtsschutzentscheidung in bezug auf die angefochtene administrative Ausgangsentscheidung – wie etwa die Begründung einer gerichtlichen Abänderungsbefugnis – sind weiterhin außerhalb der EuGH-Satzung zu regeln und zwar regelmäßig in einer Verordnung auf der Grundlage von Art. 308 EGV. Zwar regeln die Art. 220 ff. EGV als „verwaltungsprozessuale[r] Mikrokosmos“ diese Strukturelemente des Rechtsschutzes auf der Ebene des Primärrechts62. Sekundärrechtliche Erweiterungen der Initiativberechtigung oder des Inhalts einer gerichtlichen Rechtsschutzentscheidung würden den Vorrang des Primärrechts jedoch nur unter der Voraussetzung verletzen, daß die Art. 220 ff. EGV den Erlaß einer Rechtsschutzentscheidung dann – implizit – verbieten, wenn diese entweder primärrechtlich ihrem Inhalt nach überhaupt nicht vorgesehen ist oder wenn jedenfalls die primärrechtlich normierten Rechtmäßigkeitsbedingungen für ihren Erlaß im konkreten Fall nicht vorliegen. Diese für jede einzelne sekundärrechtliche Regelung gesondert zu prüfende Frage dürfte jedoch nach dem oben63 Gesagten jedenfalls in zahlreichen Fällen zu verneinen sein64. Unter Berücksichtigung des zu den Inhalten sektorieller Ausdifferenzierungen Gesagten65 spricht demnach insgesamt viel dafür, die legislative Ausdifferenzierung des Rechtsschutzes im EG-Eigenverwaltungsrecht schwerpunktmäßig innerhalb der institutionalisierten Gemeinschaftsgerichtsbarkeit abzuarbeiten, also durch die Errichtung gerichtlicher Kammern und/oder durch Änderungen der EuGH-Satzung. Die entsprechenden Rechtsgrundlagen – Art. 225a bzw. Art. 245 2. UA EGV – sind durch eine intensive Einbindung des Gerichtshofs selbst in das Rechtsetzungsverfahren gekennzeichnet66. Hierin liegt eine institu61 Dazu Hackspiel, in: G/S, Art. 245 EGV, Rn. 3 f. Wie bereits bei der Errichtung gerichtlicher Kammern nach Art. 225a EGV handelt der Rat hier entweder „auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Gerichtshofs“, was der üblichen Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahrens der Anhörung zumindest weitgehend entspricht. Alternativ kann der Rat aber auch „auf Antrag des Gerichtshofs und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission“ handeln. 62 Schmidt-Aßmann, FS f. Bernhardt, S. 1283 ff. (1296). 63 2. Teil, § 2 C. III. 64 Aus diesem Grunde relativiert sich auch die an dieser normativen Situation im Zusammenhang mit der restriktiven Festschreibung der Klagebefugnis in Art. 230 EGV geübte Kritik von Röhl, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff. (364 f). Allerdings ist zu konzedieren, daß sektorspezifisch ausdifferenzierte Regelungen zur Klagebefugnis dem Postulat der Kohärenz des Rechtsschutzsystems insgesamt widersprechen würden. 65 Vgl. oben A. (nach Fn. 39). 66 Vgl. oben Fn. 38 und 59.
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5. Teil: Schlußbetrachtung
tionelle Sicherung, die ein hohes Maß an Konsistenz derartiger legislativer Ausdifferenzierungen und deren Rückbindung an das „allgemeine“ Rechtsschutzregime gewährleistet. Somit besteht die Chance, daß die sachlich bis zu einem gewissen Grade erforderlichen Ausdifferenzierungen des Rechtsschutzes nicht zu einer Ausfaserung in ein Bündel von Sonderverfahrensrechten „praeter codificationem“67 und damit zu einer Gefährdung der Kohärenz des Rechtsschutzsystems im EG-Eigenverwaltungsrecht insgesamt führen.
67
Vgl. oben 1. Teil, § 1 (bei und in Fn. 2).
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Stichwortverzeichnis Abänderung (einer Entscheidung) 73, 77, 80, 84 f., 87 f., 94 f., 108 (Fn. 25), 130, 138 (Fn. 173), 139, 151, 156, 160, 164–167, 172 f., 175–177, 179, 182–186, 195 f., 199, 221, 240, 251 f., 254, 257, 260, 263 Agenturen 21–25, 66, 69, 71 f., 74, 103, 146, 259 (Fn. 44) amicus curiae 147–150 Amtsermittlungsgrundsatz 44, 119, 157, 214, 227 Aufhebung (einer Entscheidung) 36 f., 54, 58 f., 68, 72 f., 84, 88, 90, 95–98, 121, 130, 139, 145, 151, 156, 160 f., 164–167, 173–175, 179, 182, 184, 186, 188 f., 194–196, 209, 221, 224, 227 f., 235, 240, 252 aufschiebende Wirkung (bzw. Suspensiveffekt) 71, 89 f., 142–145, 173, 196 f., 200, 251, 256 Aufsichtsmodell 21 f., 70, 77 Befolgungspflicht (nach Aufhebung einer Entscheidung) 37, 161, 174 f., 202 Begründung, Begründungsmängel 68 (Fn. 72), 86 f., 161–164, 171, 174 f., 216, 229 f., 233–235, 245, 248 Behauptungslast 112, 214 Beibringungsgrundsatz 111, 214 f., 237, 241 Beihilfen, staatliche 49 Beiladung (notwendige) 154, 158 f. Beschwer 70, 131–133, 135–141, 148, 154, 156 f., 162, 164, 175, 185, 189, 192, 195, 198 Beschwerde; Beschwerdeantrag (aufgrund von Gemeinschaftsrechtsakten) 71, 100, 102, 108, 114, 124, 126, 128– 131, 137, 143–145, 154, 156, 162,
165, 167, 172 f., 180–182, 184, 189, 192 f., 195 f., 198, 200–202, 206 f., 236, 239, 243, 254, 256 Beschwerdebefugnis 131, 133, 136 f. Beschwerdeentscheidung 70, 72, 102, 130, 135–140, 144 f., 148–154, 156– 159, 161–165, 167, 169, 171 f., 174– 176, 179–186, 192, 194–199, 202, 206 f., 236–239, 241, 243–248, 254, 256 Beschwerdefrist 194 Beschwerdegebühr 131, 242 f. Beschwerdekammer 66, 69–72, 77, 84 f., 88–93, 95, 104 f., 108, 114, 125–127, 129–131, 134, 136, 144, 146–149, 152, 156, 160–162, 164–166, 168–170, 172–176, 180–182, 184 f., 187, 189, 191–193, 195, 198, 200– 203, 206 f., 237, 241, 243–247, 253– 255, 259 f. Beschwerdeverfahren 70, 161, 163, 166, 168, 172–176, 179 f., 183, 185, 189, 191–195, 197 f., 211, 236 f., 240 f., 243, 245, 248, 253–256 Bestimmungsnormen 37, 80, 106, 110, 118, 119, 157, 214 f., 217–219, 228, 245 Beweistatsachen (Beweismittel) 157, 214–217, 241 Bindungswirkung (der aufhebenden Entscheidung) 161 f., 164, 175 f., 181 Deutsches Patent- und Markenamt 36, 104 Dienstrecht (EG) 20, 44, 100–102, 260 Dispositionsmaxime 27, 113, 120, 167– 169, 172, 174, 185, 201, 203, 248 Dokumente (Zugang) 24, 99, 259 Durchgriffsabänderung 159, 176, 184, 199
Stichwortverzeichnis effet utile 68, 96 Eigenverwaltung; Eigenverwaltungsrecht (EG) 20 f., 38–42, 44, 47, 49, 52, 102, 104, 113, 122, 126, 142, 205, 250, 257 f., 263 f. Einredenormen; Einredelast 107, 110 f., 118 f., 214, 245 Eintragungshindernisse 173 – absolute 50, 106–108, 110, 115 f., 118 f., 165, 238 – relative 50, 106, 109 f., 118, 162 Eintragungsverfahren 40, 106, 113, 117, 191, 256 EMRK 30, 62, 92 Entscheidungsgrundlage – rechtliche 80, 106 f., 109 f., 116, 118 f., 161–163, 175, 211, 213, 215, 217, 232, 245 f., 248 – tatsächliche 37, 97, 106 f., 109–111, 116, 118 f., 161–163, 175, 192 f., 211, 213, 215–217, 226–229, 237, 241, 247, 254 f. Entscheidungsreife 180, 182–185, 254 Ergebnisrelevanz (eines Verfahrensfehlers) 225, 227, 234 f., 242 f., 248 Erledigung (eines Verfahrens, einer Entscheidung) 113, 139 f. Ermessen; Ermessenentscheidung 20, 85–88, 160, 186, 190, 212, 225, 229, 233, 247, 251, 257 Ermessensmißbrauch (Anfechtungsgrund) 233, 247, 251 Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln 22, 66 Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs 22 Europäische Agentur für Flugsicherheit 23, 69, 71 f., 103, 146 Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz 22 Europäische Agentur für Wiederaufbau 22 Europäische Agentur für Zusammenarbeit 22
273
Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit 22 Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht 22, 23 Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit 22 f. Europäische Stiftung für Berufsbildung 21 Europäische Stiftung zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen 22 Europäischer Datenschutzbeauftragter 22 Europäischer Fonds für Währungspolitische Zusammenarbeit 21 Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung 21 Fusionskontrolle 44, 49 Gerichtliche Kammern 54, 258–263 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) 36, 113, 131, 135, 142, 159 Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM) 40, 43 f., 47, 52, 66, 69–73, 78, 84 f., 88–92, 95, 103–105, 113, 115, 117, 120, 125 f., 129, 134– 136, 146–150, 152, 154, 157, 161, 165 f., 168, 173, 182, 190, 192, 196 f., 199, 201 f., 239–245, 247 f., 255, 259 f. Immaterialgüterrecht 39, 41–43, 45, 117 individuelle Betroffenheit 22, 54–57, 72, 189–191, 194 f., 202, 207–209, 246 infra petita Entscheidung 166, 181, 202, 207 instantielle Verfahren 34 f., 102, 131 f., 135, 146 f., 175 f., 211, 244 institutionelles Gleichgewicht 64, 74, 76, 79, 93 f. Interessen, kollidierende 44, 48–50, 52, 110, 114, 148
274
Stichwortverzeichnis
Klagebefugnis 20, 32–34, 54–56, 58, 63, 70–72, 115, 134–141, 146, 148, 151, 175, 195, 209 Klageschrift 156, 231, 240 Kommission (EU) 22, 24, 40, 43, 64, 66, 70, 77, 93, 104, 127, 186 Lizenz 109, 112, 118, 120, 209 materiale Richtigkeitsgewähr (Prinzip) 52, 226, 229, 250, 252–255 Neuentscheidung 85, 87 f., 161–169, 174–176, 179 f., 185–187 Nichtbescheidung (eines Antrags) 193, 205
25,
Nichtigkeitsklage 22, 25, 27 (Fn. 55), 55, 60 f., 66–69, 95–100, 140, 142, 145, 163, 171, 174, 179, 188–195, 201, 206 f., 209 f., 229–231, 233, 243 f., 257–259, 262 Nichtigkeitsverfahren 116, 121 f., 124, 133, 200 – absolutes 117–120, 122 f. – relatives 117–120, 122 f., 142, 152, 188, 190 f., 210 Normenkontrolle (inzidente) 246 Parteifähigkeit 32 f., 54, 63, 133 f., 140 Parteiverfahren 34 f., 114, 135 f., 147, 176, 244 Patentrecht; Patenterteilung 92 f., 104
36,
43,
Persönlichkeitsrechte 45, 47, 117, 209 Privatrecht, absolutes 39 f., 42 f., 45– 47, 50, 109, 112, 117–121, 123 f., 141 f., 154, 188, 190 f., 208–210 privatrechtsgestaltende (-pflegende, -begründende) Verwaltungsentscheidung 41–43, 88 Prüfungsverfahren 118 f., 238
106 f.,
114–116,
Rat (EU) 64, 76, 104, 258 Rechtsmittel; Rechtsmittelverfahren 33, 35, 131, 138, 150, 156, 161, 168, 172, 175, 186, 211, 223, 235, 244, 260, 262 Rechtsschutzbedürfnis 32–34, 54, 56– 61, 97–101, 128–130, 136, 139–142, 178, 188, 191, 194–196, 198, 202– 204, 254 Rechtsschutzprinzip (gemeinschaftsrechtliches) 62 f., 250 reformatio in peius 165, 167–169, 171 f., 185–187, 248 Rüge; Rügelast 220, 229–232, 234, 240, 244 Sachantrag 113, 116, 156 f., 257 Sanktionskriterium 26, 37, 52, 59, 87 f., 95, 97, 99, 119, 163, 181, 184, 188 f., 192 f., 200, 207, 211 f., 216, 219–224, 228–230, 232 f., 235–241, 243–247, 251–253, 255, 260, 262 Satzung (EuGH) 20, 53–55, 73, 132, 135, 151 f., 155, 159, 161, 175, 199, 230, 235, 244, 252, 260–263 Sofortvollzug (Anordnung) 196–200, 252, 256 Sortenamt 23, 24 (Fn. 39), 69–72, 78, 84, 88, 103, 136, 146 Streithilfe; Streithelfer 146 f., 149–160, 197 f., 252, 257 Suspensiveffekt siehe aufschiebende Wirkung ultra petita Entscheidung 130, 181, 206, 242, 248 unmittelbare Betroffenheit 22, 54–56, 59 f., 72, 189 f., 194 f., 202, 209, 246 Untätigkeitsklage 25 (Fn. 44), 54, 129, 133 f., 193, 197, 201–206 Unzweckmäßigkeit 26, 37, 87 f., 211 Urteilsergänzung 206 Verfahrensantrag 156 f. Verfahrensbeschleunigung (Prinzip) 19, 52, 226, 250, 252 f., 255, 259 f.
Stichwortverzeichnis Verfahrensbeteiligung; Verfahrensbeteiligte 34, 53, 71, 110 f., 113 f., 118, 128, 132, 142, 146–149, 152, 155, 159, 162, 178, 214, 216, 220, 245, 257, 259, 262 Verfahrensfehler; Verfahrensfehlerfolgen 37, 207, 212, 216, 219 f., 224–230, 233 f., 241–243, 247–249, 255 Verfahrensnormen (i. e. S.) 37, 226 f., 234, 253 Verfahrensökonomie (Prinzip) 42 (Fn. 113), 52, 96, 100, 128, 160 f., 177–179, 183, 185, 192, 206, 220, 222, 225 f., 250, 253 Verfahrensordnung (EuGH; EuG) 38, 155 Verfahrensstraffung 177–180, 183, 185, 221, 241, 244, 250, 254, 257, 262
275
Verfahrensvermeidung 177–182, 185, 192, 205 f., 221, 252 f., 259 Verfassungsvertrag (Entwurf) 25, 68 f., 73 Vertrauensschutz 121–123, 148 f., 239 Verwaltungsrat (HABM) 104 f., 125 f. Vorrang des Primärrechts 74, 80, 82, 84, 88 f., 96, 153, 257, 263 Wettbewerbsrecht; Wettbewerbsaufsicht 40, 44, 49 f., 51, 85, 142 Widerspruch; Widerspruchsentscheidung; Widerspruchsverfahren (nach der GMV) 104, 106, 109–114, 117 f., 120 f., 124, 128, 139, 141–145, 152, 154, 160, 162, 172, 176, 189–191, 195, 199, 209, 223, 239, 245, 255 f.