Verständigung als Fremdkörper im deutschen Strafprozess?: Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des »fair-trial«-Grundsatzes [1 ed.] 9783428582822, 9783428182824

Die Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, ob die Verständigung einen Fremdkörper im deutschen Strafprozess darste

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Verständigung als Fremdkörper im deutschen Strafprozess?: Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des »fair-trial«-Grundsatzes [1 ed.]
 9783428582822, 9783428182824

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 298

Verständigung als Fremdkörper im deutschen Strafprozess? Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des „fair-trial“-Grundsatzes

Von

Tanja Feichtlbauer

Duncker & Humblot · Berlin

TANJA FEICHTLBAUER

Verständigung als Fremdkörper im deutschen Strafprozess?

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 298

Verständigung als Fremdkörper im deutschen Strafprozess? Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des „fair-trial“-Grundsatzes

Von

Tanja Feichtlbauer

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Prof. Dr. Andreas Hoyer, Kiel Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 30 Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-18282-4 (Print) ISBN 978-3-428-58282-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Moritz

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2020 an der GoetheUniversität Frankfurt am Main von der juristischen Fakultät als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis Mai 2020 berücksichtigt werden. Größter Dank gebührt an erster Stelle meinen Betreuern Herrn Professor Dr. Matthias Jahn und Herrn Professor Dr. Jan Bockemühl für die Unterstützung bei der Anfertigung dieser Dissertation und die herausragende Betreuung dieser Arbeit. Die bilaterale Betreuung und auch die Mitarbeit am Lehrstuhl von Herrn Professor Dr. Jahn als wissenschaftliche Hilfskraft haben diese Arbeit in besonderem Maße geprägt. Darüber hinaus danke ich Herrn Professor Dr. Matthias Jahn für die Erstellung des Erstgutachtens und Herrn Professor Dr. Jan Bockemühl für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Danken möchte ich zudem der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Förderung dieses Forschungsvorhabens und der VG Wort für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Zu guter Letzt möchte ich meinem Lebensgefährten Moritz Litterst für sein Verständnis und seine Unterstützung nicht nur in dieser Zeit danken. Ihm ist diese Arbeit gewidmet. Regensburg, im Januar 2021

Tanja Feichtlbauer

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Grundlagen der Verständigung

17

A. Praktische Relevanz von Verständigung und „fair-trial“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I. Abgrenzung zu verfahrensfördernden Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätserwägungen . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Fehlendes öffentliches Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Beseitigung des öffentlichen Interesses durch Auflagen und Weisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3. Vergleich mit der Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 III. Abgrenzung zu Erörterungen zwischen den Verfahrensbeteiligten . . . . . . . . 28 IV. Abgrenzung zum Strafbefehlsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 V. Abgrenzung zum beschleunigten Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 VI. Abgrenzung zum Privatklageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 VII. Abgrenzung zur Nebenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 VIII. Eingrenzung des Forschungsgegenstandes auf die Verständigung . . . . . . . . 38 C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. Geschichte der Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 II. Entwicklung der Rechtsprechung zur Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Die Rechtsprechung vor der Grundsatzentscheidung im Jahr 1997 . . . 40 2. Die Grundsatzentscheidung BGHSt 43, 195 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Die Grenze richterlicher Rechtsfortbildung BGHSt 50, 40 . . . . . . . . . 46 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 a) Grundzüge richterlicher Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Verständigung und richterliche Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . 50 aa) Die Regeln zur Verständigung als Rechtsfortbildung intra legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 bb) Die Regeln der Verständigung als Rechtsfortbildung praeter legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 (1) Gesetzgebungsnotstand wegen Gefährdung der „Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 (2) Gesetzgebungsnotstand aus Gründen des Opferschutzes 54 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 III. Kodifikation der Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

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Inhaltsverzeichnis IV. Das Verständigungsurteil des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Darstellung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Bindungswirkung des Urteils und Prüfungsmaßstab des BVerfG . . . . 63 a) Bindungswirkung bei einfachrechtlicher Auslegung durch das BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Einordnung der Bindungswirkung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . 66 c) Eigene Einschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 D. Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

2. Kapitel Verständigung – ein Fremdkörper im deutschen Strafprozess?

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§ 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 I. Geschichte des deutschen Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Die Constitutio Criminalis Carolina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2. Die Einflüsse der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3. Die Entwicklung zum modernen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4. Aktuelle Entwicklungen im deutschen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . 80 II. Zwecke des deutschen Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Dienende Funktion des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Dominanz des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3. Gleichrangigkeit von materiellem Strafrecht und Strafverfahren . . . . . 87 a) Rechtsfrieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 aa) Theorie von Krack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 bb) Theorie von Rieß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 cc) Theorie von Murmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Kombinationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 B. Spannungsverhältnis Verständigung und deutscher Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . 95 I. Gründe für eine Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 II. Spannungsverhältnis mit den Zielen des Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . 96 III. Spannungsverhältnis Konsens und inquisitorisches Modell . . . . . . . . . . . . . . 97

Inhaltsverzeichnis

11

§ 2 Vereinbarkeit der Verständigung mit verfassungsrechtlichen und verfahrensrechtlichen Grundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 I. Richtervorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 1. Konflikt mit dem Richtervorbehalt aufgrund der „Mitbestimmung“ im Rahmen der Verständigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 II. Gebot des gesetzlichen Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1. Nichtteilnahme der Laienrichter an den verständigungsbezogenen Erörterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Formelle Komponente des Rechts auf den gesetzlichen Richter 115 b) Verstoß gegen sachliche Unabhängigkeit der Schöffen . . . . . . . 116 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 III. Gewährung rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Nichtteilnahme des Beschuldigten an verständigungsbezogenen Erörterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 IV. Verstoß gegen das Schuldprinzip und die Unschuldsvermutung . . . . . 130 1. Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Schuldunangemessene Strafen im Rahmen der Verständigung? 133 b) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 a) Umkehrung zur Schuldvermutung durch Verständigungsinitiative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 b) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 V. Gleichbehandlungsgebot Art. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Gleichheitsrechtliche Probleme der Verständigung . . . . . . . . . . . . . 154 a) Zugang zur Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Gewichtung des verständigungsbasierten Geständnisses . . . . . . 156 aa) Gleicher Strafnachlass wie bei einem Geständnis im Normalverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 bb) Höherer Strafnachlass als bei einem Geständnis im Normalverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

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Inhaltsverzeichnis 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Verfassungswidrigkeit des Verständigungsgesetzes . . . . . . . . . . 158 aa) Zugang zur Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 bb) Keine Differenzierung zwischen verteidigtem und unverteidigtem Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 cc) Gewährung einer Strafmilderung für ein prozesstaktisches Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b) Verstoß gegen den Gleichheitssatz aufgrund der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 a) Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes . . . . . . . . . . 164 aa) Zugang zur Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 bb) Keine Differenzierung zwischen verteidigtem und unverteidigtem Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Rechtsanwendungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I. Legalitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1. Teileinstellungen als Verständigungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 II. Amtsermittlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Mangelnde Sachverhaltsaufklärung im Rahmen der Verständigung? 173 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Grundsätzliche Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Auslegung des § 244 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 aa) Begriff der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (1) Philosophische Wahrheitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (2) Übertragbarkeit der Wahrheitsbegriffe auf den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (3) Streitentscheid bezüglich der Wahrheit im Strafprozess 183 bb) Notwendigkeit weiterer Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . 184 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 III. Prinzip freier richterlicher Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung und Einschränkung durch Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 IV. Öffentlichkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Inhaltsverzeichnis

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2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 V. Nemo tenetur se ipsum accusare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Verständigungsimmanente Anreizsituation und unzulässiger Druck durch Verständigungsinitiative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 a) Verhältnis der verbotenen Vernehmungsmethoden zur Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 b) Verstöße gegen die verbotenen Vernehmungsmethoden . . . . . . 210 aa) Kein Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . 210 bb) Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . . 210 (1) Unzulässige Drohung und gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (2) Gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil durch In-Aussicht-Stellen einer Strafmilderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (3) Unzulässige Drohung durch Verständigungssituation

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(4) Nennung einer Alternativstrafe für das streitige Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 VI. Richterliche Befangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Besorgnis der Befangenheit aufgrund der Initiative zur Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 VII. Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte der Beteiligten . . . . . . . . . . . . 219 VIII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Der historische Ursprung des Fairnessgrundsatzes im anglo-amerikanischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 II. Herleitung des Fairnessgrundsatzes in Deutschland und Europa . . . . . 223 1. Nationale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Europäische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Vergleich mit dem deutschen Fairnessprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 III. Rechtsnatur des Fairnessprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 1. Rechtsnatur auf nationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2. Nationale Bedeutung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 IV. Materieller Gehalt des Fairnessprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 1. Systematische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

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Inhaltsverzeichnis 2. Definition des Fairnessgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a) Umschreibung des Fairnessgrundsatzes anhand von Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Abstrakte Definition des Fairnessgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . 236 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 V. Rechtsschutz des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Strafmilderungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2. Annahme eines Verfahrenshindernisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 3. Beweisverwertungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4. Beweiswürdigungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 5. Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 I. Vielzahl an Konflikten zwischen Verständigung und Fairnessgrundsatz 243 II. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Meinungsstand vor Einführung des Verständigungsgesetzes . . . . . . 244 2. Meinungsstand nach Einführung des Verständigungsgesetzes . . . . . 245 3. Kritik an den Literaturstimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 III. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1. Verstoß aufgrund mangelhafter Wahrheitsermittlung . . . . . . . . . . . . 251 2. Verstoß durch die gelockerte Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3. Zeitpunkt der Belehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 4. Teilnahme des Beschuldigten an Vorgesprächen . . . . . . . . . . . . . . . 257 5. Notwendige Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 b) Aufgezwungene Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 c) Schutzlücke im Rahmen der Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . 264 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

§ 4 Zwischenergebnis: Vereinbarkeit der Verständigung mit dem deutschen Strafprozess 267 A. Vereinbarkeit der Verständigung mit den Zielen des deutschen Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 B. Vereinbarkeit mit den Grundrechten und Prozessmaximen . . . . . . . . . . . . . . 269 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 A. Vorschriften über die Erörterung des Verfahrensstands . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 B. Richterliche Befangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 C. Verständigungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 I. „Punktstrafe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

Inhaltsverzeichnis

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II. Teileinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1. Teileinstellung im selben Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Zusage zur Teileinstellung in einem anderen Verfahren . . . . . . . . . 276 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 III. Sonstige Einzelentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 D. Verstöße im Bereich des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 E. Problematik der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 I. Reichweite der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 II. Entfallen der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 III. Reichweite des Beweisverwertungsverbots bei entfallener Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 F. Amtsaufklärungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 G. Verstöße im Bezug auf den Fairnessgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 I. Verletzung der Belehrungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 II. Verletzung des Vertrauens durch unterlassen des Hinweises auf Bewährungsauflagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 III. Notwendigkeit der Verteidigung im Verständigungsverfahren . . . . . . . 294 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 H. Vorschriften zur Gewährleistung der Transparenz des Verfahrens . . . . . . . . 296 I. Mitteilungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 1. Überblick über die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 II. Protokollierungs- und Begründungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 1. Darstellung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 a) Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 b) Eigene Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 I. Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 J. Weitergehende Probleme im Bereich informeller Absprachen . . . . . . . . . . . 314 I. Beweisproblem im Bereich informeller Absprachen . . . . . . . . . . . . . . 315 II. Bewusste Umgehung der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 III. Vertrauensschutz im Bereich informeller Absprachen . . . . . . . . . . . . . 319 IV. Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 K. Ergebnis Rechtsprechungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 § 6 Ausblick und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

1. Kapitel

Grundlagen der Verständigung A. Praktische Relevanz von Verständigung und „fair-trial“ Die in Art. 6 Abs. 1 EMRK und in Art. 6 Abs. 3 EMRK enthaltenen Rechte bilden ein einheitliches Menschenrecht auf ein faires Verfahren.1 Dabei werden in Art. 6 Abs. 3 EMRK Kriterien aufgestellt, die einen gerechten Ablauf in dem gesamten Strafverfahren gewährleisten sollen.2 Dieser Katalog ist keinesfalls abschließend, die Rechtsprechung hat aus dem Fairnessgebot weitere Rechte abgeleitet.3 Das Recht auf Waffengleichheit ist als Teil des fairen Verfahrens zwar auch in Deutschland allgemein anerkannt,4 passt aber in der anglo-amerikanischen Ausgestaltung als solches nicht in das deutsche Prozessrecht.5 Als Strukturprinzip begründet es keine originären Verfahrensbefugnisse, hat aber Bedeutung für die Auslegung des Umfangs bestehender Befugnisse und für die Frage, ob ein Verfahren insgesamt fair war.6 Es enthält vor allem die Realisierung der Idee der Chancengleichheit.7 Die Waffengleichheit „(…) verbietet jeglichen Mißbrauch der staatlichen Macht im Prozess und soll dem Angeklagten8 möglichst Chancengleichheit gegenüber der ihm an Mitteln, Kenntnissen und Einfluss überlegenen Anklagebehörde sichern.“9 Sie wird bestimmt durch die „Pflicht des Staates, in fairer Weise auf die Zwangslage des Beschuldigten 1 Gaede, S. 290; Steiner, S. 33; Ambos, ZStW 2003, 583, 597; Widmaier/Eschelbach, MAH Strafverteidigung, § 31 Rn. 136, 142. 2 MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 6 Rn. 140; KK/Lohse/Jakobs, Art. 6 MRK Rn. 3; Schneider, S. 44. 3 KK/Lohse/Jakobs, Art. 6 MRK Rn. 80; vgl. Gaede, S. 327; Ambos, ZStW 2003, 583, 597. 4 Müller, NJW 1976, 1062, 1063 ff.; Tettinger, S. 20; Dörr, S. 128; Safferling, NStZ 2004, 181, 183 f.; Ambos, ZStW 2003, 583, 614 ff. 5 Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 7 Rn. 42; vgl. Ambos, ZStW 2003, 583, 616. 6 Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Art. 6 EMRK Rn. 203; vgl. BGHSt 38, 372 – 376; BVerfG StV 2002, 578 – 581; Rzepka, S. 347; a. A. Tettinger, S. 33 zur Rechtsgeltung im Prozess. 7 Sommer/Brüssow u. a., Strafverteidigung, § 17 Rn. 95; Müller, NJW 1976, 1062, 1066. 8 Sofern die Terminologie des Beschuldigten verwendet wird, ist der Beschuldigte im weiteren Sinne gemeint. Im Übrigen werden die Begriffe gewöhnlich verwendet, also der Begriff des Angeschuldigten nach Erhebung der öffentlichen Klage durch die Staatsanwaltschaft (§ 157 Hs. 1 StPO) und der Begriff des Angeklagten nach dem Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 157 Hs. 2 StPO). 9 LG Mönchengladbach, StV 1987, 333.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

Rücksicht zu nehmen.“10 Dabei wird deutlich, dass sich eine besonders schwierige Situation ergibt, wenn der Staat im Rahmen der Verständigung das eigene Interesse an der Durchsetzung des Strafanspruchs verfolgt und gleichzeitig ausreichend auf die Interessen des Beschuldigten Rücksicht nehmen muss. Die Verständigung als Konfliktfeld ist daher gewissermaßen ein „Dauerbrenner“11 in Literatur und Rechtsprechung. Spätestens seit der erstmaligen Benennung des „Deals im Strafprozess“ im Jahr 198212 ist das Thema der Verständigung im Strafprozess nicht mehr zur Ruhe gekommen. Daran änderte weder die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs13 noch die Kodifizierung der Verständigung im Strafprozess durch das Verständigungsgesetz etwas. Das Thema ist seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 201314 wieder brisant geworden. Das Gericht hat die Verfassungsmäßigkeit der Verständigung grundsätzlich anerkannt, aber Bedenken gegen die praktische Handhabung der Verständigung in der deutschen Strafprozesswirklichkeit geäußert. Der „Deal“ im Strafprozess steht daher mehr denn je „unter Bewährung“.15 Die durch das Bundesverfassungsgericht angemahnte Evaluierung der Handhabung der Verständigung wurde am 17. 12. 2017 in Auftrag gegeben. Sie wird in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz durchgeführt, die Ergebnisse werden im Frühjahr 2020 erwartet.16 Wie relevant dieses Thema in der Praxis ist, zeigt auch eine Studie aus dem Jahr 2012, die die „Absprachepraxis“ der Verfahrensbeteiligten untersucht hat. Dabei gaben 80 % der befragten Richter an, schon mindestens einmal ein Hauptverfahren durch Verständigung zum Abschluss gebracht zu haben.17 Auffällig ist, dass 26,7 % 10

KG, NStZ 1995, 146, 147. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662. 12 Deal, StV 1982, 545 – 552. 13 BGHSt 32, 44 – 48; BGHSt 37, 10–14; BGHSt 43, 195 – 212; BGHSt 50, 40 – 64. 14 BVerfGE 133, 168 – 240. 15 Vgl. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662; einzig korrekte Terminologie im Bezug auf die „Absprachen“ im Rahmen des § 257c StPO ist der Begriff Verständigung. Die informellen „Verständigungen“ verdienen diese Bezeichnung nicht und werden als „informelle Absprachen“ bezeichnet. Als informelle Absprachen werden daher sämtliche rechtswidrige Verständigungen im Sinne des § 257c StPO bezeichnet (dabei handelt es sich insbesondere um solche Verständigungen die aufgrund eines Rechtsfehlers beispielsweise bei den Protokollierungs- und Mitteilungspflichten rechtswidrig sind), als auch die informellen Absprachen, welche die Regelungen zur Verständigung bewusst umgehen; so auch BVerfGE 133, 168, 212. Eine Differenzierung wird im Folgenden mit BVerfGE 133, 168, 212 bewusst nicht beibehalten, um keine „Klassifizierung“ der Verstöße vorzunehmen. Wenn es sowohl um die formelle Verständigung, als auch um die informellen Absprachen geht, kann der Oberbegriff nicht „Verständigung“ sein sondern lautet „Absprache“; vgl. Schmitt-Leonardy, KrimJ 2019, 213, 216. 16 Ohne Autor, https://www.verstaendigung-in-strafverfahren.de/index.php/forschungspro jekt/, abgerufen am 18. 12. 2019. 17 Altenhain/Dietmeier/May, S. 28. 11

A. Praktische Relevanz von Verständigung und „fair-trial“

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der Richter angaben, ausschließlich informelle Absprachen zu treffen und bislang in keinem Verfahren eine Absprache im Rahmen des § 257c StPO getroffen zu haben.18 Weitere 32,2 % der Richter gaben an, mehr als die Hälfte ihrer „Absprachen“ informell durchzuführen. Daraus ergibt sich die Bilanz, dass 58,9 % der Richter angaben, mindestens die Hälfte ihrer Absprachen informell durchzuführen.19 Dieses Ergebnis ist bedenklich, weil spätestens seit dem Urteil des BVerfG feststeht, dass informelle Absprachen immer unzulässig sind.20 Informelle Absprachen sind aber nicht nur unzulässig. Wegen der Protokollierung des Negativattests nach § 273 Abs. 1a S. 3 StPO machen sich die Beteiligten sogar nach § 348 StGB strafbar.21 Dieses Negativattest stellt eine Ausnahme zu § 274 StPO dar, der dem Protokoll auch eine negative Beweiskraft verleiht und sollte informelle Absprachen mit größtmöglicher Sicherheit ausschließen.22 Außerdem ist eine Verständigung über den Ausgang des Verfahrens im inquisitorischen Prozess fragwürdig. Es ist nur schwerlich vereinbar, dass das Gericht einerseits eine Verständigung trifft, um das Verfahren abzukürzen und andererseits seiner Pflicht zur Wahrheitsermittlung gemäß § 244 Abs. 1 S. 2 StPO nachkommt. Ebenso umstritten ist ein „Strafrabatt“ aufgrund der prozessverkürzenden Wirkung der Verständigung. Der „Inquisitor“ wird durch die Verständigung zu einem Schiedsrichter. Trotz zahlreicher Regelungsvorschläge aus der Literatur hat der Gesetzgeber den Widerspruch „in Gesetzesform gegossen“23 und die Rechtsprechung weitgehend übernommen. Dies führte gerade nicht zu einer Auflösung dieses Widerspruchs. Die Verständigung ist daher auch nach der Einführung des Verständigungsgesetzes noch ein hoch brisantes Thema. Die schon rechtstheoretisch umstrittene Verständigung steht auch in der Praxis vor großen Herausforderungen. Nach der Normierung des Verständigungsgesetzes bewegen sich viele Richter durch Praktizierung informeller Absprachen eindeutig im Bereich der Illegalität. Außerdem gaben 80 % der befragten Richter an, dass die Einführung des Verständigungsgesetzes nichts an der Häufigkeit der Absprachen geändert hat.24 Dies könnte ein Indiz dafür darstellen, dass das Verständigungsgesetz bis zu diesem Zeitpunkt wenig Einfluss auf die Praxis hatte.25 Die Einhaltung des Verständigungsgesetzes müsste daher in erster Linie prozessual, notfalls auch materiell-rechtlich durchgesetzt werden.26 Dazu hat das BVerfG den Staat auch aus18

Altenhain/Dietmeier/May, S. 36. Altenhain/Dietmeier/May, S. 37. 20 BVerfGE 133, 168, 204. 21 Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 671. 22 Luef-Kölbl, S. 158; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 273 Rn. 12c. 23 Murmann, FS-Roxin, S. 1385; vgl. Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 326, 329; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 3. 24 Altenhain/Dietmeier/May, S. 40. 25 Vgl. Altenhain/Dietmeier/May, S. 40. 26 Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 673. 19

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

drücklich aufgerufen, um zu verhindern, dass die Praxis das Recht bestimmt.27 Das Verständigungsgesetz sollte dafür sorgen, dass das Recht wieder die Praxis bestimmt, ob dies bis heute gelungen ist, wird eine Rechtsprechungsanalyse zeigen. Noch problematischer wird dieses Thema, wenn es anhand der Prozessmaximen und insbesondere dem „fair-trial“-Grundsatz analysiert wird. Sowohl im Rahmen der Verständigung als auch in Bezug auf den „fair-trial“-Grundsatz sind die Entwicklung und Ausgestaltung noch nicht abgeschlossen. Auch für die Gerichte ist der Ausgangspunkt für die Prüfung der Zulässigkeit einer Absprache immer das aus dem Rechtsstaatprinzip abgeleitete faire Verfahren.28 Grund hierfür ist, dass die richterliche Rechtsfortbildung sich in Ermangelung einer konkreten Norm stets an diesem Grundsatz orientiert hat.29 Mit dieser Arbeit soll daher einen Beitrag zur weiteren Ausgestaltung der Verständigung im deutschen Strafprozess geleistet werden und hoffentlich zur Anpassung der konsensualen Verständigung an das inquisitorische System beigetragen werden, soweit dies überhaupt möglich ist.

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten In der vorliegenden Arbeit wird lediglich die Verständigung in der Hauptverhandlung im Sinne des § 257c StPO behandelt. Daher muss diese zunächst von den anderen in der deutschen Strafprozessordnung existierenden konsensualen Elementen abgegrenzt werden. Sinn und Zweck dieser Abgrenzung ist es, der Ansicht30 entgegenzutreten, die die Existenz von konsensualen Mitteln im deutschen Strafprozess für ihre Argumentation nutzt, um daraus die Zulässigkeit der Verständigung oder deren grundsätzliche Vereinbarkeit mit dem System des deutschen Strafprozesses zu folgern. Zum einen sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Verfahren so gravierend, dass von der Zulässigkeit einer der folgenden Verfahrensarten nicht auf die Zulässigkeit der Verständigung geschlossen werden kann. Zum anderen sind diese Verfahrensarten zwar positives Recht, ob diese aber tatsächlich mit dem Strafprozess und seinen Maximen in Einklang stehen, ist damit nicht gesagt. Schon 1987 entwickelte Baumann Kriterien zur Abgrenzung zwischen den verschiedenen konsensualen Elementen in einem Strafverfahren.31 Eine Abgrenzung erfolgte demnach nach dem Gegenstand der Vereinbarung, wobei eine Vereinbarung über eine bloße Verfahrensvereinfachung, über den Prozessgegenstand sowie über 27

BVerfGE 133, 168, 236; vgl. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 663. BGHSt 32, 44, 45; BVerfG, NJW 1987, 2662 – 2663; BGHSt 36, 210, 211; BGHSt 37, 10, 11; BGHSt 42, 46, 47 f.; BGHSt 43, 195, 203 f. 29 Vgl. Meyer, HRRS 2005, 235, 238; ob dies zulässig ist, sei zu diesem Zeitpunkt dahingestellt. 30 BT-Drucks. 16/12310, S. 8; BGHSt 43, 195, 203; Sebastian, S. 15, 17 f.; Müller, S. 23; Ioakimidis, S. 37; vgl. Trüg, S. 110. 31 Baumann, NStZ 1987, 157 – 162. 28

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

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die Rechtsfolgen getroffen werden konnte.32 Weiter differenziert Baumann nach dem Zeitpunkt einer solchen Vereinbarung und deren Verbindlichkeit.33 Diese Kriterien können zumindest zur Orientierung dienen und dadurch eine systematische Abgrenzung der Verständigung im Sinne des § 257c StPO von sonstigen normierten und nicht normierten konsensualen Elementen im Strafprozess ermöglichen. I. Abgrenzung zu verfahrensfördernden Absprachen Bei verfahrensfördernden Absprachen handelt es sich um Vereinbarungen über den organisatorischen oder technischen Ablauf des Verfahrens.34 Im Gegensatz zur Verständigung nach § 257c StPO beziehen sich diese Absprachen nicht auf Prozesshandlungen. Prozesshandlungen sind sämtliche prozessual relevante Betätigungen der Verfahrensbeteiligten.35 Das Verhalten muss also eine Rechtsfolge auslösen. Während bei der Verständigung im Sinne des § 257c StPO das weitere Prozessverhalten sowie die Rechtsfolgen besprochen werden, geht es bei verfahrensfördernden Absprachen beispielsweise um die Terminierung der Hauptverhandlung, die Absprache von Pausen oder die Reihenfolge der Zeugenladungen.36 Diese „Absprachen“ sind zwar verfahrensfördernd und dienen dem reibungslosen Ablauf des Verfahrens sowie dem respektvollen Umgang der Prozessbeteiligten untereinander,37 es werden aber keine Rechtsfolgen ausgelöst. Es handelt sich um verfahrensvereinfachende Absprachen, die jederzeit getroffen werden können und meist ohne Rechtsverbindlichkeit sind.38 Die verfahrensfördernden Absprachen kommen mit den Prozessmaximen daher nicht in Berührung und sind nach allgemeiner Auffassung zulässig.39 Sie sind deshalb auch nicht Gegenstand der Betrachtung. Da es sich bei der verfahrensfördernden Absprache noch nichtmal um eine verfahrensbeendende Absprache handelt, kann von deren Zulässigkeit nicht auf die Zulässigkeit der Verständigung geschlossen werden.

32 Baumann, NStZ 1987, 157, 158; Altenhain, in: Barton/Lindemann, Ermittlungsverfahren, S. 220 differenziert nach dem Ziel der Vereinbarung. 33 Baumann, NStZ 1987, 157, 159. 34 Müller, S. 15; Eschelbach, JA 1999, 694; Rönnau, S. 26; vgl. Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 352. 35 SSW-StPO/Beulke, Einl. Rn. 216; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 95; BGHSt 26, 384, 386; a. A. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 22 Rn. 1 kritisieren die h. M. als zu weit und sehen Prozesshandlungen als Erklärungen, die eine Rechtsfolge im Prozess willensgemäß auslösen. 36 Braun, S. 7; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 352; Rönnau, S. 26; Caspari, DRiZ 2013, 6, 7 f. 37 Braun, S. 7; Müller, S. 16. 38 Vgl. Baumann, NStZ 1987, 157, 160. 39 Müller, S. 16; Braun, S. 7; Eschelbach, JA 1999, 694; Rönnau, S. 26; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 352 m. w. N.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

II. Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätserwägungen Ein weiteres konsensuales Element im deutschen Strafprozess ist die Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgrundsätzen nach den §§ 153 ff. StPO.40 Die §§ 153 – 154e StPO stellen Ausnahmen vom Legalitätsprinzip dar.41 Es handelt sich dabei um ein vereinfachtes Erledigungsverfahren, vor allem im Bereich der kleinen und mittleren Kriminalität, hinter dem in erster Linie verfahrensökonomische Erwägungen stehen.42 Die Tat muss nicht vollends aufgeklärt sein, es muss aber eine Schuldprognose bestehen, andernfalls würde im Ermittlungsverfahren § 170 Abs. 2 StPO greifen, in der Hauptverhandlung wäre der Angeklagte freizusprechen.43 Der Staatsanwaltschaft obliegt nach § 152 Abs. 1 StPO das Anklagemonopol44 und sie ist die „Herrin des Ermittlungsverfahrens“. Die Staatsanwaltschaft ist daher verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten zu ermitteln, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Daraus folgt nach dem im § 152 Abs. 2 StPO verankerten Legalitätsprinzip auch ein Verfolgungszwang gegenüber jedem Ver-

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Ausführlich zur Einführung der verschiedenen Erledigungsmöglichkeiten: Schroeder, FS-Fezer, S. 544 – 550. 41 SSW-StPO/Schnabl, § 152 Rn. 4; Baumann, NStZ 1987, 157 und Schmidt-Hieber, Rn. 41 bezeichnen die §§ 153 ff. StPO als „Durchlöcherung des Legalitätsprinzips“; auch Duttge, in Heun/Schorkopf, Wendepunkte, S. 232 sieht durch die vereinfachten Erledigungsmethoden viele Prozessmaximen als durchlöchert an; Müller, S. 16 sieht die §§ 153 ff. StPO als „Mittelweg“ zwischen § 170 Abs. 1 StPO und § 170 Abs. 2 StPO, diese Ansicht verkennt, dass die §§ 153 ff. StPO unabhängig vom Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts Ausnahmen vom Legalitätsprinzip machen, sofern die Schuld des Täters gering wäre und damit kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht vgl. KK/Diemer, § 153 Rn. 1; KMR/Kulhanek, § 153 Rn. 1 (Stand: Februar 2019). Es handelt sich daher zumindest nicht um einen „Mittelweg“, sondern schlicht um eine Ausnahme vom Grundsatz des Verfolgungszwangs vgl. Eckl, ZRP 1973, 139; Zipf, FS-Peters, S. 488; Schwarz, FS-OLG Düsseldorf, S. 361; MüKoStPO/Peters, Bd. 2 § 153 Rn. 2, 6; KK/Diemer, § 153 Rn. 1; Kerner, FS-Miyazawa, S. 574 f.; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, 129, 131. Rieß, NStZ 1981, 2, 4 spricht davon, dass Ausnahmen gerade nicht als „systemfremde Durchbrechungen“ verstanden werden dürfen. Der überwiegende Teil der Literatur verwendet den Begriff „Durchbrechung“, was in diesem Fall als Synonym zur „Ausnahme“ zu verstehen ist; Rieß, FS-Dünnebier, S. 150; Pommer, Jura 2007, 662, 664; Kelker, ZStW 2006, 389, 402; Hildebrandt, S. 136; Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 24; Ioakimidis, S. 34; Baumann, ZRP 1973, 273, 275. Werden „Ausnahmen“ von der Einhaltung einer Prozessmaxime gemacht, so kann man diese mit dem großen Teil der Literatur durchaus als durchlöchert ansehen; Schroeder, FS-Peters, S. 425 spricht davon, dass das Legalitätsprinzip seine materielle Funktion verloren habe und zu einer reinen Zuständigkeitsfrage entmaterialisiert wurde. 42 Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 371; Pommer, Jura 2007, 662, 664; Eckl, ZRP 1973, 139; Ioakimidis, S. 33; Schwarz, FS-OLG Düsseldorf, S. 349. 43 Kühne, Strafprozessrecht, § 35 Rn. 586; MüKoStPO/Kölbel, Bd. 2 § 170 Rn. 27; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 Rn. 3; Ioakimidis, S. 33. 44 KMR/Kulhanek, § 152 Rn. 2 (Stand: Februar 2019); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 152 Rn. 1; Kelker, ZStW 2006, 389, 394.

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

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dächtigen.45 Die Staatsanwaltschaft wird daher ermitteln und anschließend bei vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 1 StPO öffentliche Klage erheben, andernfalls das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einstellen.46 Eine dritte Möglichkeit hat die Staatsanwaltschaft mit der Einstellung nach den §§ 153 ff. StPO. In der Praxis stehen die §§ 153, 153a StPO sowie die §§ 154, 154a StPO im Vordergrund, weshalb sich die folgende Darstellung auf diese beschränkt. Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO, sowie die Einstellung gegen Auflagen nach § 153a StPO. Dabei handelt es sich um Fälle, in denen die Schuld des Täters so gering wäre, dass entweder kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht (§ 153 StPO) oder sich dieses durch Erfüllung von Auflagen beseitigen lässt (§ 153a StPO). 1. Fehlendes öffentliches Interesse In den Fällen des § 153 Abs. 1 S. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren das Verfahren mit Zustimmung des Gerichts einstellen, wenn das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand hat, bei dem die Schuld des Täters gering wäre und deshalb kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht.47 Der Angeschuldigte hat vor Erhebung der öffentlichen Klage keinen Anspruch auf Entscheidung in der Sache, sodass seine Zustimmung nicht erforderlich ist.48 Die Schuld wäre gering, wenn sie unter dem Durchschnitt anderer, vergleichbarer Fälle läge.49 Eine Zustimmung des Gerichts entfällt gemäß § 153 Abs. 1 S. 2 StPO in bestimmten Bagatellfällen. Bei der Prüfung des öffentlichen Interesses sind sowohl spezial-, als auch generalpräventive Aspekte ausschlaggebend, wobei in erster Linie entscheidend ist, ob die Allgemeinheit trotz geringer Schuld des Täters ein berechtigtes Interesse an der Bestrafung hat.50

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Zipf, FS-Peters, S. 488; Pommer, Jura 2007, 662; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 152 Rn. 2; SSW-StPO/Schnabl, § 152 Rn. 1; vgl. KMR/Kulhanek, § 152 Rn. 3 (Stand: Februar 2019). 46 Müller, S. 16; SSW-StPO/Sing/Andrä, § 170 Rn. 1; KMR/Plöd, § 170 Rn. 1 (Stand: Februar 2006). 47 Der Wortlaut „gering wäre“ setzt gerade keine vollständige Aufklärung der Tat voraus KMR/Kulhanek, § 153 Rn. 9 (Stand: Februar 2019); Schmidt-Hieber, Rn. 43. Allerdings ist zumindest eine gewisse Verurteilungswarscheinlichkeit erforderlich MüKoStPO/Kölbel, Bd. 2 § 170 Rn. 27; Kühne, Strafprozessrecht, § 35 Rn. 586; KMR/Kulhanek, § 153 Rn. 9 (Stand: Februar 2019); siehe oben. 48 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 Rn. 13; MüKoStPO/Peters, Bd. 2 § 153 Rn. 38; KMR/Kulhanek, § 153 Rn. 14 (Stand: Februar 2019). 49 KMR/Kulhanek, § 153 Rn. 10 (Stand: Februar 2019); SSW-StPO/Schnabl, § 153 Rn. 9; Schmidt-Hieber, Rn. 47. 50 SSW-StPO/Schnabl, § 153 Rn. 10; Schmidt-Hieber, Rn. 48; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 153 Rn. 7; KMR/Kulhanek, § 153 Rn. 11 (Stand: Februar 2019).

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

Sobald die öffentliche Klage erhoben wurde, geht die Zuständigkeit für die Einstellung des Verfahrens auf das Gericht über.51 Der § 153 Abs. 2 S. 1 StPO bestimmt, dass das Gericht das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten in jeder Lage des Verfahrens einstellen kann.52 Zwischen den Verfahrensbeteiligten53 muss also ein Konsens erzielt werden.54 Dies setzt Gespräche, also „Absprachen“ zwischen den Beteiligten voraus.55 Im Gegensatz zu § 153 Abs. 1 StPO hat der Angeklagte ab Erhebung der öffentlichen Klage einen Anspruch auf Entscheidung, weshalb seine Zustimmung erforderlich ist.56 Der Angeklagte „verzichtet“ hier auf ein Verfahren, das in einen Freispruch enden könnte, während der Staat als Gegenleistung auf die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs verzichtet.57 Allerdings handelt es sich selbst bei § 153 Abs. 2 StPO nicht um eine mit der Verständigung vergleichbare, konsensuale Erledigungsform, weil es jedenfalls nicht darum geht, eine für den Angeschuldigten belastende Rechtsfolge durch Zustimmung zu legitimieren.58 Es können aus diesem Grund keine Rückschlüsse auf die Verständigung gezogen werden. 2. Beseitigung des öffentlichen Interesses durch Auflagen und Weisungen In BGHSt 43, 195 ff. wird die Argumentation, das deutsche Strafprozessrecht sei nicht grundsätzlich vergleichsfeindlich ausgestaltet, auf § 153a StPO gestützt.59 Die Zulässigkeit der Verständigung lässt sich aber nicht aus der Existenz dieser Norm folgern. Zum einen ist die Verfassungsmäßigkeit des § 153a StPO fragwürdig, zum anderen bestehen trotz der angenommenen Gemeinsamkeiten erhebliche Unterschiede, die eine solche Schlussfolgerung verbieten. Der § 153a StPO greift in den Fällen, in denen eine völlige Straflosigkeit und Sanktionslosigkeit nach § 153 StPO wegen bestehenden öffentlichen Interesses

51 MüKoStPO/Peters, Bd. 2 § 153 Rn. 46; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 Rn. 21; Sebastian, S. 15. 52 Vgl. MüKoStPO/Peters, Bd. 2 § 153 Rn. 47; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 Rn. 25. 53 Der Konsens muss bei § 153 Abs. 1 StPO allein zwischen dem Gericht und der zur Anklage berufenen Staatsanwaltschaft bestehen, während bei § 153 Abs. 2 auch der Angeklagte zustimmen muss Gössel, GS-Blomeyer, S. 760; Wagner, GS-Eckert, S. 941. 54 Vgl. Ioakimidis, S. 34; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 Rn. 26. 55 Schmidt-Hieber, Rn. 43; Ioakimidis, S. 34. 56 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 153 Rn. 27; MüKoStPO/Peters, Bd. 2 § 153 Rn. 49; vgl. Pommer, Jura 2007, 662, 665. 57 Ioakimidis, S. 34; die Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO hängt allerdings nicht von der Zustimmung des Beschuldigten ab, sondern erfordert lediglich einen Konsens zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht Gössel, GS-Blomeyer, S. 760. 58 Weßlau, S. 39. 59 BGHSt 43, 195, 203.

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

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unverantwortlich erscheint.60 Auch im Rahmen des § 153a StPO ist eine Kooperation der Beteiligten erforderlich. Während der Beschuldigte die Erfüllung von Aufgaben oder Weisungen zusichert, sieht die Staatsanwaltschaft von der Erhebung der öffentlichen Klage ab oder das Gericht stellt das Verfahren vorläufig61 ein.62 Eine explizite Zustimmung des Beschuldigten ist im Gegensatz zu der Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO auch vor Erhebung der öffentlichen Klage erforderlich.63 Doppeltes Ziel des § 153a StPO sind die Beschleunigung des Strafverfahrens, sowie die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten.64 Am häufigsten handelt es sich bei der zu erbringenden Gegenleistung des Beschuldigten um eine Geldauflage,65 deshalb wird diese Verfahrensweise auch als „Handel mit der Gerechtigkeit“66 oder „Straffreikauf“67 beschrieben. Es liegt auf der Hand, dass wohlhabende Beschuldigte hier möglicherweise einen gleichheitswidrigen Vorteil haben.68 Die Erfüllung der Geldauflage stelle grundsätzlich eine „freiwillige“ Leistung des Beschuldigten dar.69 Folgt man dieser Ansicht, dient die Erfüllung der Auflagen damit weder dem Aufklärungsinteresse, noch dem Sanktionsinteresse und wäre somit mit den Zielen des Strafverfahrens inkonnex.70 Eine freiwillige Leistung ist in einer solchen Drucksituation allerdings zumindest zweifelhaft. Der Beschuldigte kann zwischen dem Übel der weiteren Strafverfolgung und dem der Geldzahlung auswählen. Freiwillig wäre eine solche Zahlung daher nur, wenn der Beschuldigte nach bedingungsloser Einstellung des Verfahrens einen Geldbetrag zahlt.71 60 MüKoStPO/Peters, Bd. 2 § 153 Rn. 47; vgl. KK/Diemer, § 153a Rn. 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 153a Rn. 2; Kelker, ZStW 2006, 389, 403. 61 Es erfolgt eine vorläufige Einstellung bis zur Erfüllung der Weisungen oder Auflagen. Bei deren fristgerechter Erfüllung wird das Verfahren endgültig eingestellt, wobei der Beschluss nur feststellenden Charakter hat und ab Erfüllung ein Verfahrenshindernis vorliegt KMR/Kulhanek, § 153a Rn. 61, 65 (Stand: März 2019); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 153a Rn. 3; SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3 § 153a Rn. 68 ff. 62 Ioakimidis, S. 36; Sauer, Rn. 133. 63 Sauer, Rn. 131; Altenhain, in: Barton/Lindemann, Ermittlungsverfahren, S. 219; Gössel, GS-Blomeyer, S. 761; MüKoStPO/Peters, Bd. 2 § 153a Rn. 22; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 153a Rn. 10. 64 BT-Drucks. VI/3478, S. 47; vgl. Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 371; Brüning, ZIS 2015, 586, 587; Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 23; Löwe-Rosenberg/Beulke, Bd. 5 § 153a Rn. 3. 65 Brüning, ZIS 2015, 586; Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 25. 66 Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 23; Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 384. 67 Sollberger, S. 109; vgl. schon Schmidhäuser, JZ 1973, 529; Weßlau, S. 42; Kelker, ZStW 2006, 389, 403 „Freikauf vom Verfolgungsrisiko“. 68 Vgl. Rönnau, S. 118; Ioakimidis, S. 35; Gössel, GS-Blomeyer, S. 772. 69 Brüning, ZIS 2015, 586, 588; Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 378; Pommer, Jura 2007, 662, 666. 70 Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 375. 71 Schmidhäuser, JZ 1973, 529, 534; Deiters, ZStW 2018, 491, 510; Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 5.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

Die absolut herrschende Meinung in der Literatur sieht darin trotzdem Sanktionen ohne Strafcharakter.72 Dies ist auch die einzige dogmatische Begründung, die zur Vereinbarkeit insbesondere mit dem Richtervorbehalt und mit der Unschuldsvermutung führt. Allerdings ist nicht nachvollziehbar, wie einer aus Furcht vor dem Strafverfahren getätigten Zahlung der Sanktionscharakter abgesprochen werden kann.73 Daher könnte es sich im Ergebnis doch um eine repressive Reaktion handeln, die das Interesse an Sanktionierung befriedigen soll.74 Es würde sich im Ergebnis um besondere Sanktionen nichtstrafrechtlicher Natur handeln.75 Bei § 153a StPO liegt allerdings regelmäßig nur der Verdacht einer Straftat vor, sodass eine „reine Verdachtsstrafe“ verhängt würde.76 Selbst wenn allein der Verdacht einer Straftat eine Rechtsfriedensstörung darstellt, könnte diese jedenfalls nur durch eine schuldangemessene Strafe kompensiert werden.77 Das Verhängen einer Verdachtsstrafe wäre allein Ausdruck von Macht und Willkür und zur Herstellung von Rechtsfrieden nicht geeignet.78 Überdies wird die Einstellung nach § 153a StPO aus Sicht der Bevölkerung meist als unverdiente Milde wahrgenommen.79 Dadurch wird das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung erschüttert.80 Die Kritik in der Literatur ist bis heute nicht abgerissen.81 Stuckenberg bezeichnet die Vorschrift sogar als „verfassungswidrige Fehlkonstruktion“82. Aus einer Norm, die selbst so umstritten wie frag72 Löwe-Rosenberg/Beulke, Bd. 5 § 153a Rn. 8 f.; SSW-StPO/Schnabl, § 153a Rn. 12; Pommer, Jura 2007, 662, 666; Weigend, GS-Weßlau, S. 422; SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3 § 153a Rn. 8. 73 Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 5. 74 Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 375; Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 5; Wagner, GS-Eckert, S. 942; Brüning, ZIS 2015, 586, 588; die Freiwilligkeit ablehnend: Schmidhäuser, JZ 1973, 529, 534; Deiters, ZStW 2018, 491, 510; a. A. Löwe-Rosenberg/Beulke, Bd. 5 § 153a Rn. 8 f.; SSW-StPO/Schnabl, § 153a Rn. 12; Pommer, Jura 2007, 662, 666; vgl. SK-StPO/Weßlau/ Deiters, Bd. 3 § 153a Rn. 8; Sebastian, S. 16. 75 Peters, S. 59; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 153a Rn. 12; a. A. Wagner, GSEckert, S. 942; Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 5; Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 375; sehen die Geldauflage als Strafe. 76 Brüning, ZIS 2015, 586, 589; Sollberger, S. 109; Kühne, Strafprozessrecht, § 35 Rn. 590; vgl. Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 5. 77 Brüning, ZIS 2015, 586, 589. 78 Brüning, ZIS 2015, 586, 589; a. A. Dahs, NJW 1996, 1192. 79 Deiters, ZStW 2018, 491, 510; Gössel, GS-Blomeyer, S. 772 f. 80 Vgl. Gössel, GS-Blomeyer, S. 766 f. 81 Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 369 – 389; Weigend, GS-Weßlau, S. 413 – 425; Saliger/ Sinner, ZIS 2007, 476, 482; SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3 § 153a Rn. 5 ff.; Gössel, GSBlomeyer, S. 771 – 773; Altenhain, in: Barton/Lindemann, Ermittlungsverfahren, S. 245; Schmidhäuser, JZ 1973, 529; Rönnau, S. 118 – 121; Hildebrandt, S. 134 – 137; a. A.: Beulke, in: Murmann, Recht, S. 57 f.; Dahs, NJW 1996, 1192, 1193 sehen § 153a StPO als unverzichtbaren „prozessualen Notausgang“. 82 Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 388; auch der Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 7 plädierte neuerdings für die Abschaffung dieser Vorschrift.

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

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würdig ist, lässt sich die Zulässigkeit eines anderen umstrittenen Instituts nicht folgern.83 3. Vergleich mit der Verständigung An diesen Beispielen wird deutlich, dass die Einstellung nach den §§ 153 ff. StPO insbesondere in der Hauptverhandlung Parallelen zur Verständigung aufweist. Diese Absprachen betreffen die Rechtsfolgen der gerichtlichen Entscheidung entweder direkt oder indirekt über den Umfang des Prozessgegenstandes.84 In beiden Fällen ist somit ein Konsens zwischen Leistung und Gegenleistung erforderlich.85 Sowohl der Zeitpunkt der Absprache als auch der Verhandlungsgegenstand, namentlich die Rechtsfolgen, stimmen überein. Allerdings wird im Rahmen des § 153 StPO die Ausnahme vom Legalitätsprinzip sowie vom Aufklärungsgrundsatz durch ein mangelndes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung wegen der geringen Schuld gerechtfertigt. Im Rahmen des § 153a StPO steht die Schwere der Schuld jedenfalls nicht entgegen und das öffentliche Interesse wird durch Auferlegung von Auflagen oder Weisungen beseitigt. Dadurch ergeht kein Urteil, sondern lediglich ein Einstellungsbeschluss. Die Verständigung nach § 257c StPO dagegen kann in allen Bereichen des StGB Anwendung finden, beispielsweise auch bei schweren Verbrechen. Gerade hier besteht aber ein öffentliches Interesse an einer schuldangemessenen Bestrafung. Dies hat der Gesetzgeber auch erkannt und in § 257c Abs. 1 S. 2 StPO die Regelung getroffen, dass der Aufklärungsgrundsatz nach § 244 Abs. 2 StPO unangetastet bleibt. Während also bei den §§ 153 ff. StPO versucht wird, einen Eingriff in in den Legalitäts- sowie den Aufklärungsgrundsatz zu rechtfertigen, wird eine Einschränkung dieser Prozessmaximen im Rahmen der Verständigung geleugnet. Ein weiterer Unterschied ist, dass im Rahmen der Verständigung ein Urteil ergeht, welches auch mit Rechtsmitteln angreifbar ist, während der Einstellungsbeschluss unanfechtbar ist. Im Gegensatz zu § 153 StPO muss im Rahmen der Verständigung ein Geständnis als Gegenleistung abgegeben werden. Bei § 153a StPO wird zwar eine „Sanktion“86 auferlegt, im Gegensatz zu § 257c StPO liegt darin aber keine Anerkennung des Schuldvorwurfs.87 Das ist der wohl größte Unterschied zwischen § 153a StPO und § 257c StPO. Es kann daher dahinstehen, ob die nach § 153a StPO verhängten Weisungen und Auflagen nun letztendlich Sanktionscharakter haben oder nicht. Im Rahmen des § 153a StPO wurde weitgehend auf eine Formalisierung verzichtet, sodass die Praxis sowohl materiell als auch prozedural 83

Vgl. Steinberg, DRiZ 2012, 19. Müller, S. 19. 85 Vgl. Ioakimidis, S. 36. 86 Ob die Auflagen nun Sanktionscharakter haben oder nicht, wird in dieser Untersuchung bewusst offen gelassen, da dies für das Ergebnis dieser Untersuchung keine Rolle spielt. Unabhängig vom Sanktionscharakter ist der § 153a StPO erheblich umstritten. 87 Deiters, ZStW 2018, 491, 509; Sauer, Rn. 136; Brünig, ZIS 2015, 586, 588; Weßlau, S. 42. 84

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

einen großen Spielraum hat, während die Verständigung nach ihrer Kodifikation ein streng formalisiertes Verfahren darstellt.88 Es sollte daher zumindest im Fall des § 153a Abs. 2 StPO über eine formale Angleichung nachgedacht werden, da sonst eine Flucht in den § 153a StPO nicht auszuschließen ist.89 Auch die §§ 153 ff. StPO und insbesondere der § 153a StPO sind im Hinblick auf die Verfahrensgrundsätze problematisch. Unabhängig von deren Vereinbarkeit mit dem System des deutschen Strafverfahrensrechts können aus den §§ 153 ff. StPO keine Schlüsse für die Zulässigkeit von Verständigungen gezogen werden.90 Von der Existenz eines möglicherweise verfassungswidrigen Elements im Strafverfahrensrecht kann nicht auf die Zulässigkeit eines anderen geschlossen werden, das wäre reiner Positivismus. Sollten diese mit dem Strafverfahrensrecht vereinbar sein, so sind sie jedenfalls dogmatisch nicht mit der Verständigung vergleichbar.91 Außerdem sind die §§ 153 ff. StPO prozesstheoretisch selbst Ausnahmen vom Verfolgungszwang, sodass auch aus diesem Grund keine Schlüsse für die Zulässigkeit der Verständigung gezogen werden können.92 Bei den §§ 154, 154a StPO ist im Gegensatz zu den §§ 153, 153a StPO nur eine Übereinstimmung zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Gericht notwendig. Es handelt sich daher nicht um eine konsensuale Art der Erledigung in diesem Sinne.93 In der Praxis sind sie zwar häufig Gegenstand von Absprachen,94 lassen aber keine Schlüsse auf die Zulässigkeit der Verständigung als solche zu. Sie sollen in dieser Arbeit daher nur am Rande behandelt werden, wenn sie im Rahmen einer Verständigung einen Teil der Vereinbarung darstellen. Ansonsten bleiben die §§ 153 ff. StPO im Folgenden außer Betracht. III. Abgrenzung zu Erörterungen zwischen den Verfahrensbeteiligten Die Regelungen, die Erörterungen der Verfahrensbeteiligten in jeder Lage des Verfahrens zulassen, wurden ebenfalls im Rahmen des Verständigungsgesetzes eingeführt.95 Dabei handelt es sich um „kommunikative“ Elemente, die der Transparenz und Verfahrensförderung dienen sollen.96 Sie sind gerade nicht auf Erledigung des Verfahrens im Rahmen einer Verständigung gerichtet, können eine solche 88

Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 25; Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 384; Kudlich, ZRP 2015, 10, 12; Brüning, ZIS 2015, 586, 588; a. A. Wagner, GS-Eckert, S. 948 der die Verfahren als vergleichbar ansieht. 89 Kudlich, ZRP 2015, 10, 13. 90 So auch Meyer-Goßner, ZRP 2004, 187. 91 Vgl. Meyer-Goßner, ZRP 2004, 187; a. A. Wagner, GS-Eckert, S. 948. 92 Steinberg, DRiZ 2010, 19. 93 Sauer, Rn. 143. 94 Sauer, Rn. 143; Eckstein, NStZ 2017, 609. 95 BT-Drucks. 16/12310, S. 2, 12; vgl. Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257b Rn. 1. 96 BT-Drucks. 16/12310, S. 2; vgl. Nahrwold, S. 40; Kühne, Strafprozessrecht, § 47 Rn. 749.1.

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

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Verständigung aber vorbereiten.97 § 160b StPO regelt die Möglichkeit einer Erörterung mit der Staatsanwaltschaft bereits für das Ermittlungsverfahren.98 § 202a StPO gibt dem Gericht im Zwischenverfahren die Möglichkeit einer Erörterung des Verfahrensstandes.99 Während § 212 StPO eine Erörterung nach Eröffnung des Hauptverfahrens und zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen gestattet,100 regelt § 257b StPO diese Möglichkeit während der Hauptverhandlung.101 Die „Verfahrensbeteiligten“ können demnach den Stand des Verfahrens erörtern. Wer Verfahrensbeteiligter ist muss für jeden Abschnitt des Verfahrens gesondert bestimmt werden.102 Dem Begriff liegt eine funktionale Betrachtungsweise zugrunde, sodass jedenfalls die Personen Verfahrensbeteiligte sind, die eine Prozessrolle ausüben.103 Verfahrensbeteiligte sind in jedem Abschnitt des Verfahrens der Beschuldigte, sowie seine Verteidigung104 und beginnend mit dem Ermittlungsverfahren auch die Staatsanwaltschaft.105 Die §§ 202a, 212, 257b StPO bestimmen, dass das Gericht mit den Verfahrensbeteiligten den Verfahrensstand erörtern kann. Auch der Begriff des Gerichtes ist nach den allgemeinen Regeln für jeden Verfahrensstand gesondert zu bestimmen.106 Der „Stand des Verfahrens“ ist dabei weit zu verstehen und umfasst sowohl materiell-rechtliche, als auch prozessuale Fragen.107 Der Gesetzgeber wollte hierdurch die Möglichkeit schaffen, schon frühzeitig mit den Verfahrensbeteiligten zweckmäßige, zeit- und ressourcensparende Vorgehensweisen zu besprechen und 97 Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 160b Rn. 6; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 202a Rn. 2, § 257b Rn. 2. 98 KK/Griesbaum, § 160b Rn. 1 f.; MüKoStPO/Jahn, Bd. 2 § 160b Rn. 5; SSW-StPO/ Ignor/Wegner, § 160b Rn. 3. 99 SSW-StPO/Rosenau, § 202a Rn. 3; MüKoStPO/Jahn, Bd. 2 § 160b Rn. 5; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 202a Rn. 1. 100 KMR/Seidl, § 212 Rn. 2 (Stand: Grundwerk); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 212 Rn. 1. 101 KK/Wenske, § 257b Rn. 9; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257b Rn. 1 (Stand: November 2009); MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 257b Rn. 4; vgl. Beier, S. 41. 102 Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627; BT-Drucks. 16/12310, S. 9. 103 BT-Drucks. 16/12310, S. 9; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 71; SSWStPO/Ignor/Wegner, § 160b Rn. 4; KK/Griesbaum, § 160b Rn. 3. 104 BT-Drucks. 16/12310, S. 9; vgl. KMR/Noltensmeier-von Osten, § 160b Rn. 4 (Stand: Juli 2019). 105 Die Staatsanwaltschaft ist in § 160b StPO „Herrin der Erörterungen“; MüKoStPO/Jahn, Bd. 2 § 160b Rn. 8. Sobald sie beim Gericht öffentliche Klage nach § 170 Abs. 1 StPO erhoben hat und die Zuständigkeit für die Verfahrensleitung auf das Gericht übergeht, zählt die Staatsanwaltschaft bei den Erörterungsvorschriften zu den Verfahrensbeteiligten in diesem Sinne vgl. MüKoStPO/Jahn, Bd. 2 § 202a Rn. 6 (§§ 202a, 212, 257b StPO). 106 Im Rahmen der §§ 202a, 212 StPO besteht das Gericht daher nur aus den Berufsrichtern ohne die Schöffen BT-Drucks. 16/12310, S. 12; SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 212 Rn. 4; Jahn/ Müller, NJW 2009, 2625, 2627. 107 Nahrwold, S. 40; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257b Rn. 9.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

einen offenen Verhandlungsstil fördern.108 Die Vorschriften über die Erörterung des Verfahrens sind daher von der formellen Verständigung abgrenzbar, dienen sie doch deren Vorbereitung. Außerdem sind diese Erörterungen im Gegensatz zu § 257c StPO nicht bindend.109 Überdies sind die §§ 160b, 202a, 212 StPO in einem anderen Verfahrensstadium anwendbar als § 257c StPO. Einzig bei § 257b StPO, der wie § 257c StPO in der Hauptverhandlung anwendbar ist, könnte sich ein Abgrenzungsproblem ergeben. Es handelt sich bei den soeben behandelten Vorschriften um solche, die die Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten fördern sollen. Der Anwendungsbereich des § 257b StPO könnte daher in einem allgemein offenen Verfahrensstil liegen, während § 257c StPO die verständigungsbezogene Kommunikation regelt.110 Altenhain/Haimerl bezeichnen eine solche Aufspaltung als „systematisch unschlüssig“, weil der § 257b StPO so aus dem Kontext der anderen Vorschriften herausgerissen würde und sehen § 257b StPO als Grundlage zur Vorbereitung einer Verständigung.111 Dieser Argumentation ist zu folgen. Es ist nicht einzusehen, dass der Gesetzgeber mit § 257b StPO etwas anderes regeln wollte als mit den §§ 160b, 202a, 212 StPO. Ziel war vielmehr die gesamtheitliche Förderung der offenen Kommunikation in jedem Verfahrensstadium, wobei die Vorschriften ohnehin nur deklaratorischer Natur sind.112 Die Vorschriften sollen insbesondere gewährleisten, dass das Gericht eine Verständigung initiieren kann, ohne allein deshalb die Besorgnis der Befangenheit zu rechtfertigen.113 Eine Abgrenzung von § 257b StPO als Vorbereitung einer Verständigung ist damit ebenfalls möglich. Problematisch ist zudem ob der § 257b StPO auch in Verhandlungspausen am Hauptverhandlungstag anwendbar ist oder nur „in der Hauptverhandlung“ selbst. Für eine Anwendbarkeit nur innerhalb der öffentlichen Hautpverhandlung im Sitzungssaal spricht zunächst das Wortlautargument. Die Hauptverhandlung beginnt gemäß § 243 Abs. 1 S. 1 StPO mit Aufruf der Sache im Sitzungssaal und endet mit der Urteilsverkündung gemäß § 260 Abs. 1 StPO. Dabei muss eine Unterbrechung nach §§ 228 f. StPO angeordnet werden, wenn die Hauptverhandlung vertagt wird.114

108

Beier, S. 41; BT-Drucks. 16/12310, S. 11. Nahrwold, S. 41. 110 Vgl. Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 334; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627; LöweRosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257b Rn. 10. 111 Vgl. Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 334; so auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257b Rn. 2; kritisch: Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257b Rn. 10. 112 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 160b Rn. 3; Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 160b Rn. 1; KMR/Noltensmeier-von Osten, § 160b Rn. 3 (Stand: Juli 2019). 113 Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627. 114 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 228 Rn. 9. 109

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

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Auch bei Pausen, wie beispielsweise der Mittagspause muss eine Unterbrechung angeordnet werden.115 Für Gespräche zwischen einzelnen Hauptverhandlungstagen, also während einer Unterbrechung, ist aber nahezu unstrittig § 212 StPO anwendbar,116 der eine entsprechende Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 S. 2 StPO nach sich zieht. Es besteht hier kein sinnvoller Grund, eine Pause am Hauptverhandlungstag und die „Pausen“ zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen unterschiedlich zu behandeln.117 In beiden Fällen handelt es sich um Unterbrechungen der Hauptverhandlung im Sinne der §§ 228, 229 StPO. Daher sind Gespräche zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen und Gespräche in Verhandlungspausen beide als außerhalb der Hauptverhandlung stattfindende Gespräche zu behandeln.118 Zudem ist in § 243 Abs. 4 S. 1, 2 StPO eine Mitteilungspflicht nur für Gespräche nach den §§ 202a, 212 StPO geregelt. Wäre § 257b StPO auch in Verhandlungspausen anwendbar, so hätte dies zur Konsequenz, dass derartige Gespräche in der Hauptverhandlung überhaupt keine Erwähnung finden. Der Gesetzgeber geht daher davon aus, dass Gespräche im Sinne des § 257b StPO in öffentlicher Hauptverhandlung stattfinden müssen und eine Mitteilung demnach überflüssig ist.119 Außerdem sind Erörterungen nach § 257b StPO gemäß § 273 Abs. 1 S. 2 StPO ins Protokoll aufzunehmen. Während im Rahmen der Gespräche nach den §§ 202a, 212 StPO die Mitteilung über derartige Gespräche ins Protokoll aufzunehmen ist § 273 Abs. 1a S. 2 StPO, ist im Rahmen der §§ 273 Abs. 1 S. 2, 257b StPO Ablauf und Inhalt der Gespräche selbst zu protokollieren. Dies setzt voraus, dass die Gespräche in der Hauptverhandlung stattfinden.120 Dasselbe ergibt sich auch, wenn man § 273 Abs. 1 S. 2 StPO in den Kontext des § 273 Abs. 1 S. 1 StPO stellt. Die Formulierung aus § 273 Abs. 1 S. 2 StPO ist darüberhinaus vergleichbar mit der Formulierung des § 273 Abs. 1a S. 1 StPO, der dasselbe für eine Verständigung nach § 257c StPO regelt. Eine Verständigung nach § 257c StPO darf aber unstrittig nicht während einer Unterbrechung stattfinden, sondern nur in öffentlicher Hauptverhandlung. Der § 257b StPO ist daher in der Hauptverhandlung selbst anwendbar und gerade nicht auf Gespräche, die vor der Haupthandlung oder außerhalb dieser selbst am

115

Rn. 9.

MüKoStPO/Arnoldi, Bd. 2 § 228 Rn. 11; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 228

116 Ritscher, in: BeckOK StPO, § 212 Rn. 1; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10; KK/Wenske, § 257b Rn. 1; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257b Rn. 4; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 334; a. A. Seppi, S. 137. 117 Vgl. Ritscher, in: BeckOK StPO, § 212 Rn. 1. 118 Vgl. Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10; Ritscher, in: BeckOK StPO, § 212 Rn. 1. 119 So auch Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10. 120 Ebenso: Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 13.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

Hauptverhandlungstag stattgefunden haben.121 Die gilt insbesondere für die „Flurgespräche“ am Hauptverhandlungstag.122 Dafür spricht auch der Gesetzeszweck, der einen transparenten Verhandlungsstil fördern will.123 Dem würde es wiedersprechen, wenn mit § 257b StPO eine legale Form der „heimlichen Erörterung“, die überhaupt nicht in das Hauptverfahren eingeführt werden muss, Gesetz geworden wäre. Daher ist in der öffentlichen Hauptverhandlung im Sitzungssaal § 257b StPO lex specialis, im Übrigen greift bei verständigungsbezogenen Gesprächen ab Eröffnung des Hauptverfahrens de lege lata § 212 StPO.124 Diese Vorschriften lassen sich von § 257c StPO zeitlich abgrenzen und sind außerdem nur deklaratorischer Natur, weil derartige Erörterungen schon vor der Kodifikation vom BVerfG anerkannt waren.125 Allerdings handelt es sich im Anwendungsbereich dieser Normen faktisch häufig um Gespräche, in denen der gesamte Inhalt der Verständigung besprochen wird. Der Inhalt der Gespräche wird zwar später in die Hauptverhandlung eingeführt, das Ergebnis steht teilweise schon fest. Während bei Gesprächen in der Hauptverhandlung der § 257b StPO die Beteiligung der Schöffen fordert, ist dies bei § 202a, 212 StPO gerade nicht notwendig. Auch der Beschuldigte ist bei Gesprächen nach den §§ 202a, 212 StPO häufig nicht anwesend, sodass sich hier Probleme im Hinblick auf das Recht auf den gesetzlichen Richter, sowie im Hinblick auf das Recht auf richterliches Gehör ergeben können.126 Diese Vorschriften gehören dem ganzheitlichen Konzept des Verständigungsgesetzes an und werden deshalb später auch weiter betrachtet.

121 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 273 Rn. 8; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10; KK/Wenske, § 257b Rn. 1; sinngemäß Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 334; LöweRosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257b Rn. 1, 7; MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 257b Rn. 4; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627; a. A. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257b Rn. 2, der dies dadurch deutlich macht, dass er die Anwesenheit des Angeklagten als nicht zwingend ansieht. 122 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 273 Rn. 8; vgl. Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10. 123 BT-Drucks. 16/12310, S. 12. 124 MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 212 Rn. 3; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10; KK/Wenske, § 257b Rn. 1; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 334; der § 212 StPO ist daher auf die „Flurgespräche“ am Hauptverhandlungstag anwendbar. A. A. Seppi, S. 137 der Gespräche nach § 212 StPO ab dem ersten Hauptverhandlungstag generell ausschließt; sowie bezüglich der Verhandlungspausen Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257b Rn. 2. Dabei handelt es sich um eine Umgehungsmöglichkeit des § 257b StPO; vgl. dazu ausführlich 2. Kapitel § 2 A. II. 3. b); III. 3. 125 BVerfG, NJW 1987, 2662, 2663; vgl. Kühne, Strafprozessrecht, § 47 Rn. 749.1. 126 Siehe unten unter 2. Kapitel § 2 A. II., III.; Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 81 sieht überdies Probleme mit dem nemo-tenetur-Grundsatz.

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

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IV. Abgrenzung zum Strafbefehlsverfahren Ein weiteres „konsensuales“ Element127 ist das Strafbefehlsverfahren nach den §§ 407 ff. StPO. Gemäß § 407 Abs. 1 S. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft im Verfahren vor dem Amtsgericht einen Strafbefehl beantragen, wenn sie eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich hält, also ein hinreichender Tatverdacht besteht sowie eine klare Beweislage vorliegt und somit keine Bedenken bestehen ohne Hauptverhandlung zu entscheiden.128 Dabei handelt es sich um ein summarisches schriftliches Verfahren im Bereich leichter und mittlerer Kriminalität.129 Gemäß § 408 Abs. 3 S. 1 StPO entspricht der Richter dem Antrag, wenn diesem keine Bedenken entgegenstehen.130 Der Angeschuldigte hat dann gemäß § 410 Abs. 1 S. 1 StPO die Möglichkeit, innerhalb von zwei Wochen Einspruch einzulegen. Wird kein Einspruch eingelegt, hat der Strafbefehl gemäß § 410 Abs. 3 StPO dieselben Wirkungen wie ein rechtskräftiges Urteil. In der Praxis geht dieses Verfahren zwar häufig mit einem expliziten Schuldeingeständnis einher, setzt dieses aber nicht als notwendig voraus.131 Es ist ausreichend, wenn der Sachverhalt „anderweitig geklärt ist“.132 Es handelt sich daher um ein Verfahren, bei dem im Falle eines fehlenden Geständnisses die Anerkennung des Vorwurfes durch Unterwerfung ersetzt wird.133 Der „Konsens“ könnte daher in der Hinnahme des Strafbefehls, also im Verstreichenlassen der Frist für den Einspruch, bestehen.134 Der Beschuldigte befindet sich aber auch im Falle des Strafbefehlsverfahrens in einer Drucksituation, wenn ihm etwas daran liegt, die Hauptverhandlung zu vermeiden.135 Von „Freiwilligkeit“ kann daher auch hier kaum die Rede sein, daher ist es auch schwierig, von einem Konsens zu sprechen. In Nr. 175 Abs. 3 RiStBV steht aber, dass ein Strafbefehl nicht beantragt werden soll, wenn ein Einspruch zu erwarten ist. Daher geht der Gesetzgeber offensichtlich stillschweigend von einer vorherigen „Absprache“ zwischen Verteidiger und Staatsanwalt aus und damit von einem konsensualen Element.136 Eine solche Absprache ist sowohl bezüglich des „ob“ eines Strafbefehls 127

So die überwiegende Meinung in der Literatur: Ioakimidis, S. 41; Trüg, S. 110; Weigend, JZ 1990, 774. 128 Deiters, ZStW 2018, 491, 506; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 407 Rn. 9. 129 Gilliéron, in: Barton u. a., Wahrheit, S. 61; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 33 Rn. 1; Müller, S. 27. 130 Im Rahmen des § 408 Abs. 3 handelt es sich dabei um den Fall, dass trotz Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts Bedenken gegen eine Aburteilung im Strafbefehlsverfahren bestehen; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 408 Rn. 12. 131 Deiters, ZStW 2018, 491, 506; vgl. Sauer, Rn. 156. 132 Deiters, ZStW 2018, 491, 506; vgl. Sauer, Rn. 156. 133 SK-StPO/Weßlau, Bd. 7 Vor §§ 407 ff. Rn. 19; Deiters, ZStW 2018, 491, 506. 134 MüKoStPO/Eckstein, Bd. 3/1 § 407 Rn. 5. 135 Deiters, ZStW 2018, 491, 507; vgl. Gutterer, S. 5. 136 BT-Drucks. 10/1313, S. 13; Schmidt-Hieber, Rn. 74; Ioakimidis, S. 40; Tscherwinka, S. 55; vgl. Gutterer, S. 5; MüKoStPO/Eckstein, Bd. 3/1 § 407 Rn. 5 sieht die Einspruchsmöglichkeit als konsensuales Element an.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

als auch bezüglich der genaueren Ausgestaltung denkbar.137 Die Zulässigkeit des Strafbefehlsverfahrens steht im Gegensatz zu der der Verständigung nicht ernsthaft zur Debatte.138 Das heißt allerdings nicht, dass es sich im Hinblick auf die Verfahrensgrundsätze nicht um ein bedenkliches Rechtsinstitut handelt.139 Allerdings bestehen zwischen beiden Verfahren so gewichtige Unterschiede, dass daraus nicht auf die Zulässigkeit der Verständigung geschlossen werden kann. Während das Strafbefehlsverfahren zur Anwendung kommt, wenn die Beweislage klar ist und somit der tatsächliche Sachverhalt feststeht, wird sich im Rahmen der Verständigung häufig auch über den Sachverhalt „geeinigt“. Während das Strafbefehlsverfahren im Hinblick auf den Aufklärungsgrundsatz unbedenklich ist,140 ergeben sich hier im Rahmen der Verständigung gewichtige Bedenken. Überdies kommt das Strafbefehlsverfahren durch Beschränkung auf Vergehen nur im Bereich der kleinen und mittleren Kriminalität zur Anwendung, während die Verständigung in sämtlichen Bereichen anwendbar ist. V. Abgrenzung zum beschleunigten Verfahren Ioakimidis zieht das beschleunigte Verfahren heran, um aufzuzeigen, dass Erleichterungen in der Hauptverhandlung de lege lata auch außerhalb der Verständigung existieren.141 Auch das beschleunigte Verfahren nach den §§ 417 ff. StPO weise konsensuale Elemente auf.142 Der Vollständigkeit halber werden daher die Unterschiede zwischen Verständigung und beschleunigtem Verfahren kurz dargestellt. Es ist offensichtlich, dass beschleunigtes Verfahren und Verständigung wenig gemeinsam haben und daher Vergleiche mit dem beschleunigten Verfahren kaum hilfreich sind. Bei dem beschleunigten Verfahren handelt es sich um eine besondere Verfahrensart, die in geeigneten Fällen eine schnelle Erledigung des Verfahrens ermöglicht, ohne sich über die Rechtsfolgen abzusprechen.143 In Betracht kommen nur Verfahren vor dem Amtsrichter oder dem Schöffengericht.144 Voraussetzung ist gemäß § 417 StPO ein Antrag der Staatsanwaltschaft sowie ein klarer Sachverhalt mit einfacher 137

Schmidt-Hieber, Rn. 74 – 76, 85; Müller, S. 28. BVerfGE 3, 248, 253; BVerfGE 25, 158, 164; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 407 Rn. 2; SSW-StPO/Momsen, § 407 Rn. 2; Tscherwinka, S. 54 m. w. N. 139 Näher dazu: Ioakimidis, S. 40; Müller, S. 28 sieht darin eine zulässige Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgrundsatz, sowie vom Mündlichkeitsgrundsatz; Ambos, Jura 1998, 281, 287 sieht darin ein „wesensfremdes Verfahren“ bei dem die rechtsstaatlichen Bedenken auf der Hand liegen. 140 Zumindest bei Einhalten der gesetzlichen Regelung. 141 Ioakimidis, S. 41. 142 Ioakimidis, S. 41; Ambos Jura 1998, 281, 293. 143 Ioakimidis, S. 41. 144 Dahs, NJW 1995, 553, 556; Volk/Engländer, StPO, § 33 Rn. 11. 138

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

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Beweislage.145 Außerdem darf gemäß § 419 Abs. 1 S. 2 StPO aufgrund der beschränkten Rechtsfolgenkompetenz keine höhere Strafe als ein Jahr Freiheitsstrafe verhängt werden.146 Das Gericht muss gemäß § 419 Abs. 1 S. 1 StPO dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechen, wenn sich die Sache zur Verhandlung im beschleunigten Verfahren eignet, andernfalls die Entscheidung im beschleunigten Verfahren nach § 419 Abs. 2 S. 2 StPO ablehnen.147 Gemäß § 418 Abs. 1 S. 1 StPO entfällt das Zwischenverfahren.148 Die Anklage kann in Abweichung zum Normalverfahren gemäß § 418 Abs. 3 S. 2 StPO auch mündlich erhoben werden, muss aber den Voraussetzungen des § 200 Abs. 1 StPO genügen.149 Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren ist lediglich am Amtsermittlungsgrundsatz ausgerichtet und weicht insoweit von der Beweisaufnahme im „normalen“ Verfahren ab.150 Es wird im Rahmen einer verkürzten Beweisaufnahme die Vernehmung von Zeugen durch die Verlesung von Urkunden ersetzt und so eine Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgrundsatz gemacht.151 Voraussetzung ist gemäß § 420 Abs. 3 StPO die Zustimmung des Beschuldigten zu jeder einzelnen Verlesung.152 Daher enthält auch das beschleunigte Verfahren vereinzelt konsensuale Elemente. Der Anwendungsbereich ist dem des Strafbefehlsverfahrens sehr ähnlich. In beiden Fällen muss jedenfalls ein hinreichender Tatverdacht bestehen. Außerdem handelt es sich um den Bereich geringer und mittlerer Kriminalität in möglichst einfach gelagerten Fällen. Während das Strafbefehlsverfahren aber auf eine öffentliche Hauptverhandlung verzichtet, soll das beschleunigte Verfahren eingreifen, wenn eine öffentliche Hauptverhandlung aus generalpräventiven Gründen notwendig ist.153 Auch das beschleunigte Verfahren war bereits bei seiner Einführung umstritten,154 wobei die Kritik bis heute nicht abgerissen ist.155 Jedenfalls sind auch 145 Widmaier/Nobis, MAH Strafverteidigung, § 10 Rn. 149; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 61 Rn. 3; MüKoStPO/Putzke/Scheinfeld, Bd. 3/1 § 417 Rn. 11; der Gesetzeswortlaut fordert zwar nur eine Voraussetzung, es eignet sich aber weder ein einfacher Sachverhalt mit schwieriger Beweislage, noch ein schwieriger Sachverhalt mit einfacher Beweislage für ein beschleunigtes Verfahren, sodass in der Praxis in der Regel beide Voraussetzungen vorliegen müssen Widmaier/Nobis, MAH Strafverteidigung, § 10 Rn. 150. 146 Ambos, Jura 1998, 281, 290; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 61 Rn. 3. 147 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 61 Rn. 4. 148 Widmaier/Nobis, MAH Strafverteidigung, § 10 Rn. 155; Müller, S. 24; Sprenger, NStZ 1997, 574. 149 Widmaier/Nobis, MAH Strafverteidigung, § 10 Rn. 172; Ambos, Jura 1998, 281, 290; Dahs, NJW 1995, 553, 556. 150 Widmaier/Nobis, MAH Strafverteidigung, § 10 Rn. 174; Dahs, NJW 1995, 553, 556. 151 Ioakimidis, S. 41; Sprenger, NStZ 1997, 574. 152 MüKoStPO/Putzke/Scheinfeld, Bd. 3/1 § 420 Rn. 18. 153 Ranft, Jura 2003, 382; SSW-StPO/Rosenau, § 417 Rn. 2. 154 Scheffler, NJW 1994, 2191, 2195; Ambos, Jura 1998, 281, 291 kritisiert, dass der „rechtsstaatlich unbedenkliche Anwendungsbereich“ so gering ist, dass es schon deswegen an der Existenzberechtigung dieses Verfahrens fehlt. 155 MüKoStPO/Putzke/Scheinfeld, Bd. 3/1 Vor § 417 Rn. 25 – 29; Ranft, Jura 2003, 382, 383; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 417 Rn. 3, 7.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

hier die Unterschiede zur Verständigung so offensichtlich, dass das beschleunigte Verfahren nicht zur Legitimation der Verständigung herangezogen werden kann. Es bleibt daher im Folgenden außer Betracht. VI. Abgrenzung zum Privatklageverfahren Eine weitere, zumindest teilweise konsensuale Erledigungsform stellt das Privatklageverfahren nach den §§ 374 ff. StPO dar,156 das Ausnahmen von dem Legalitäts- und Offizialprinzip macht.157 Auch dieses Verfahren unterscheidet sich wesentlich von der Verständigung, sodass ein Vergleich offensichtlich wenig hilfreich ist und nur der Vollständigkeit halber erfolgt, weil dieser von vereinzelten Literaturstimmen gezogen wird.158 Ioakimidis und Müller sehen darin eine Ausnahme vom Legalitätsprinzip und ziehen den Vergleich mit der Verständigung.159 Bei den sogenannten „Privatklagedelikten“160, die in § 374 Abs. 1 StPO aufgezählt sind, kann der Verletzte unabhängig von der Staatsanwaltschaft die strafrechtliche Verfolgung anstoßen.161 Die Staatsanwaltschaft ist gemäß § 377 Abs. 1 StPO zu keiner Mitwirkung verpflichtet, kann aber gemäß § 377 Abs. 2 StPO bis zur Rechtskraft des Urteils die Verfolgung übernehmen.162 Voraussetzung für die zulässige Erhebung einer Privatklage ist bei bestimmten Delikten allerdings ein erfolgloser Sühneversuch im Sinne des § 380 StPO.163 Kommt im Rahmen des Sühneversuchs ein „Vergleich“ zwischen den Verfahrensbeteiligten zustande, stellt er ein Prozesshindernis dar.164 Der Vergleichsschluss stellt zugleich die Beendigung des Verfahrens dar.165 Weiterhin kann der Privatkläger gemäß § 391 StPO die Klage jederzeit zurücknehmen, sodass das betrachtete Verfahren einem Parteiprozess ähnelt.166 In der Praxis wird der überwiegende Teil der Verfahren in einem Vergleich erledigt und endet mit der Klagerücknahme und Entschuldigung oder Schadensersatz.167 Das hier zu behandelnde Thema der Verständigung und der „Vergleich“ im Privatklageverfahren ähneln sich aber nur im Zustandekommen – einem einver156

Vgl. Ioakimidis, S. 37. Müller, S. 21. 158 Ioakimidis, S. 37; Müller, S. 21. 159 Ioakimidis, S. 37; Müller, S. 21; vgl. auch Siolek, S. 84 f. 160 Beispielsweise Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), Beleidigung (§§ 185 ff. StGB), Verletzung des Briefgeheimnisses (§ 202 StGB). 161 Müller, S. 21; Kühne, Strafprozessrecht, § 11 Rn. 251. 162 Müller, S. 21; Volk/Engländer, StPO, § 39 Rn. 8. 163 Widmaier/Pollähne, MAH Strafverteidigung, § 56 Rn. 14; Gössel, GS-Blomeyer, S. 762; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 32 Rn. 592. 164 Gössel, GS-Blomeyer, S. 762; Rönnau, S. 28. 165 Ioakimidis, S. 37; Rönnau, S. 29; Schmidt-Hieber, Rn. 204. 166 Tscherwinka, S. 61; Ioakimidis, S. 37 sieht das Privatklageverfahren sogar als echtes Parteiverfahren; a. A. Volk/Engländer, StPO, § 39 Rn. 4. 167 Kühne, Strafprozessrecht, § 11 Rn. 253; Schmidt-Hieber, Rn. 204. 157

B. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

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ständlichen Zusammenwirken.168 Im Übrigen sind die Verfahren strukturell so unterschiedlich, dass das Privatklageverfahren bei der weiteren Analyse vernachlässigt werden kann. Auch hieraus lassen sich keine Schlüsse für die Zulässigkeit der Verständigung ziehen. VII. Abgrenzung zur Nebenklage Das letzte „konsensuale“ Verfahren, das häufig ins Feld geführt wird, ist die Nebenklage, geregelt in den §§ 395 ff. StPO.169 Dabei kann sich der Verletzte einer von der Staatsanwaltschaft erhobenen öffentlichen Klage anschließen.170 Die Nebenklage stellt daher eine Mitwirkung des Opfers am Offizialverfahren dar und ermöglicht es ihm, Rechte im Verfahren wahrzunehmen.171 Anders als der Privatkläger kann der Nebenkläger das Verfahren nicht selbst in Gang bringen.172 Der Privatkläger kann zum Nebenkläger werden, wenn sich die Staatsanwaltschaft gemäß § 377 Abs. 2 StPO dem Verfahren anschließt.173 Die Anschlussbefugnis des Nebenklägers ist in § 395 StPO geregelt und weiter gezogen als bei der Privatklage.174 Die Verfahren sind sich daher sehr ähnlich, wobei sich die Anwendungsbereiche zum Teil überschneiden und ein fließender Übergang stattfinden kann. Die wichtigsten Rechte sind das Anwesenheitsrecht in der gesamten Hauptverhandlung gemäß § 397 Abs. 1 S. 1 StPO sowie das Akteneinsichtsrecht gemäß § 406e StPO durch den Rechtsanwalt.175 Außerdem kann der Nebenkläger gemäß § 401 Abs. 1 S. 1 StPO unabhängig von der Staatsanwaltschaft Rechtsmittel einlegen.176 Für die Nebenklage ist anerkannt, dass sich der Nebenkläger und der Angeschuldigte über den Verzicht auf die Anschlusserklärung oder die Rücknahme des Strafantrags einigen können, wobei die Gegenleistung häufig Regelungen zur Schadenswiedergutmachung enthält.177 Ioakimidis sieht die grundsätzliche Unvereinbarkeit des Strafverfahrens mit einverständlichen Lösungen durch die Existenz der Nebenklage als widerlegt an. Rönnau dagegen erkennt die gravierenden Unterschiede innerhalb der Verfahren und 168

Rönnau, S. 29; so auch Siolek, S. 85. Abgrenzungen bei Ioakimidis, S. 38; Rönnau, S. 28 f.; Müller, S. 21 – 23; Tscherwinka, S. 61 f.; Siolek, S. 85. 170 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 64 Rn. 1; Kühne, Strafprozessrecht, § 11 Rn. 255; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 32 Rn. 593. 171 Kühne, Strafprozessrecht, § 11 Rn. 255. 172 Volk/Engländer, StPO, § 39 Rn. 4. 173 Volk/Engländer, StPO, § 39 Rn. 8. 174 Volk/Engländer, StPO, § 39 Rn. 19. 175 Huber, JuS 2018, 1044, 1045; Widmaier/Pollähne, MAH Strafverteidigung, § 56 Rn. 17; zu den weiteren Rechten vgl. Kühne, Strafprozessrecht, § 11 Rn. 255. 176 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 64 Rn. 3; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 32 Rn. 596. 177 Ioakimidis, S. 38; Schmidt-Hieber, Rn. 207. 169

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

deren besondere Struktur. Einzige Gemeinsamkeit ist demnach die Art des Zustandekommens – ein einverständliches Zusammenwirken.178 Dieser Ansicht ist zu folgen. Es handelt sich schon um unterschiedliche Prozessbeteiligte, die sich „einigen“. Insbesondere wird im Bereich der Offizialdelikte das Verfahren weiterbetrieben, während der „Vergleich“ bei der Verständigung in jedem Fall verfahrensbeendende Wirkung hat. Eine Abgrenzung zur Nebenklage erfolgt daher nur der Vollständigkeit halber, weil Verständigung und Nebenklage bis auf ihre konsensuale Ausrichtung keinerlei Gemeinsamkeiten haben. VIII. Eingrenzung des Forschungsgegenstandes auf die Verständigung Die Abgrenzung der Verständigung von anderen Rechtsinstituten hat gezeigt, dass im deutschen Strafprozessrecht schon andere konsensuale Elemente existieren. Das ändert allerdings nichts daran, dass das deutsche Strafverfahrensrecht grundsätzlich vergleichsfeindlich ausgestaltet ist. Die oben betrachteten Institute stellen fast ausnahmlos selbst Abweichungen vom Normalverfahren dar und sind damit Ausnahmevorschriften. Von einer Ausnahme lässt sich aber weder die Ausrichtung des deutschen Strafverfahrens ableiten – im Gegenteil, dadurch, dass es sich nur um Ausnahmen handelt, wird belegt, dass das deutsche Strafverfahren im Grundsatz eben doch konsensfeindlich ist179 –, noch lässt sich von einer Ausnahmenorm auf die Zulässigkeit eines anderen Rechtsinstituts schließen. Der Strafprozess, der unbestritten vergleichsfeindlich war, wurde Schritt für Schritt durch Einführung praxistauglicher und „praktischer“ Institute unterlaufen.180 Wie oben gesehen sind die einzelnen Rechtsinstitute wegen ihres Ausnahmecharakters und der Berührung von Grundsätzen allesamt weder unbedenklich noch unumstritten.181 Die Verständigung selbst ist auch eine Ausnahme, die sich in den grundsätzlich vergleichsfeindlichen Strafprozess nicht ohne weiteres integrieren lässt. Außerdem sind die Regelungen, wie oben gezeigt, nicht mit der Verständigung vergleichbar,182 zumindest aber nicht so ähnlich, dass auf die Zulässigkeit der Verständigung geschlossen werden könnte. Es ist daher der falsche Ansatz, aus den bereits existierenden Regelungen die Zulässigkeit der Verständigung zu folgern. Das deutsche Strafprozessrecht steht dem Konsens grundsätzlich feindlich gegenüber,183 sodass jede Ausnahme für sich kri178

Rönnau, S. 29; so auch Siolek, S. 85. Duttge, in Heun/Schorkopf, Wendepunkte, S. 232 spricht von einer Durchlöcherung der Prozessmaximen durch die vereinfachten Erledigungsformen. 180 Duttge, in Heun/Schorkopf, Wendepunkte, S. 244 spricht von einem notdürftig reformierten Inquisitionsprozess, in den die unter B. genannten Elemente sich nicht einfügen können. 181 Sowohl die Einstellung aus Opportunitätsgrundsätzen als auch das Strafbefehlsverfahren werden zum Teil als mit dem Rechtsstaat unvereinbar angesehen und es wird für ihre Abschaffung plädiert Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 7; Stuckenberg, GS-Weßlau, S. 388. 182 A. a. Wagner, GS-Eckert, S. 948. 183 Siehe zur Entwicklung des Strafprozesses 2. Kapitel § 1 A. I. 179

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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tisch beleuchtet und im Hinblick auf die Maximen des Strafprozesses hinterfragt werden muss. Es wird daher im Hauptteil der Arbeit versucht, die Verständigung für sich zu legitimieren und sie auf deren Vereinbarkeit mit dem deutschen Strafprozess und seinen Maximen zu überprüfen. Sollte sich herausstellen, dass die Verständigung mit dem deutschen Strafprozess nicht vereinbar ist, wird auch die Bezugnahme auf andere Elemente als „letzter Rettungsanker“ nicht helfen.

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht Die Verständigung hat im Zuge ihrer Entwicklung im Wesentlichen drei Phasen durchlaufen. In der ersten Phase waren die Absprachen noch unter strengster Geheimhaltung, sodass der Allgemeinheit nicht bewusst war, dass diese in deutschen Gerichtssälen praktiziert werden. Die zweite Phase war geprägt durch richterliche Rechtsfortbildung. Nachdem die Verfassungsmäßigkeit 1987 erstmals anerkannt wurde,184 haben die Gerichte nach und nach Grundsätze für eine Verständigung aufgestellt. Als die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung erreicht waren, hat der Gesetzgeber in der dritten Phase im Jahr 2009 das Verständigungsgesetz erlassen. Dabei wurden die zahlreichen Gesetzesvorschläge nicht berücksichtigt und die bisherige Rechtsprechung weitgehend übernommen. Aufgrund der anhaltenden Kritik in der Literatur ist die dritte Phase allerdings noch nicht abgeschlossen. I. Geschichte der Verständigung Bereits in den 1970er Jahren waren die sogenannten „Deals“ Bestandteil des Strafverfahrens in deutschen Gerichtssälen.185 Es handelte sich damals um ein heimliches Verfahren außerhalb des Gerichtssaales, ohne jede Kontrolle durch die breite Öffentlichkeit und unter Vereinbarung einer strengen Geheimhaltung.186 Deals galten daher noch Ende der 1970er Jahre als praktisch nicht existent.187 Das System des deutschen Strafprozesses wurde daher noch 1979 idealisiert und als frei von jeglicher Form von Absprachen hervorgehoben.188 Die „Deals“ waren bis zur Aufdeckung durch Weider alias Detlev Deal aus Mauschelhausen im Jahr 1982 ein „Tabu-Thema“.189 „Fast jeder kennt es, fast jeder praktiziert es, nur keiner spricht

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BVerfG, NJW 1987, 2662 – 2663. Hertel, ZIS 2010, 198, 202; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt61, Einl. Rn. 119b; Hildebrandt, S. 19. 186 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt61, Einl. Rn. 119c; Deal, StV 1982, 545. 187 Hertel, ZIS 2010, 198, 202; vgl. Langbein, Michigan Law Rev. 1979, 204, 205. 188 Langbein, Michigan Law Rev. 1979, 204, 205 ff. 189 Deal, StV 1982, 545. 185

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

darüber.“190 Dass diese Absprachen, die dem amerikanischen Plea Bargaining ähnelten,191 mit fast allen Grundsätzen des deutschen Strafprozesses kollidierten, dürfte kaum verwundern. Zwar war Schmidt-Hieber der Auffassung, dass Absprachen grundsätzlich zulässig seien, solange die Prozessmaximen und insbesondere der Öffentlichkeits- sowie der Aufklärungsgrundsatz nicht verletzt werden.192 Inhalt dieses außerhalb der Hauptverhandlung geschlossenen „gentlemens agreement“ ohne Bindungswirkung war allerdings in der Regel ein Geständnis des Angeklagten sowie ein Verzicht auf eine weitere Beweisaufnahme, um im Gegenzug eine Strafmilderung aufgrund der Verfahrensverkürzung zu erhalten.193 In der damals praktizierten Form wurde also die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit ausgehebelt und der wahre Sachverhalt nicht näher ermittelt, sodass jedenfalls diese von SchmidtHieber genannten Grundsätze regelmäßig nicht beachtet wurden.194 II. Entwicklung der Rechtsprechung zur Verständigung Die Rahmenbedingungen der Verständigung wurden zwischen dem ersten Anerkenntnis durch das BVerfG im Jahr 1987195 und der Normierung des Verständigungsgesetzes im Jahr 2009 im Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt. 1. Die Rechtsprechung vor der Grundsatzentscheidung im Jahr 1997 Der BGH hatte sich bereits vor der Entscheidung des BVerfG im Jahr 1987 mit Einzelfragen zu befassen. In der ersten Entscheidung über die Problematik der Absprachen hatte der 2. Strafsenat des BGH über die Befangenheit des Gerichts zu entscheiden.196 Gegenstand des Urteils war keine typische Absprache – Geständnis gegen Strafmilderung – sondern vielmehr eine Abrede des Gerichts mit der Staatsanwaltschaft. Das Gericht informierte die Staatsanwaltschaft über die beabsichtigte Ablehnung eines Beweisantrags des Angeklagten sowie das beabsichtigte Strafmaß. Außerdem legte das Gericht der Staatsanwaltschaft nahe, den eigenen Beweisantrag zurückzunehmen.197 Bereits in dieser Entscheidung stellte der 2. Strafsenat des BGH fest, dass einem Richter die Kontaktaufnahme zum Zwecke

190

Deal, StV 1982, 545. Deal, StV 1982, 545; Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017. 192 Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017, 1018. 193 BVerfGE 133, 168, 171; Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017. 194 Vgl. zur Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes für außerhalb der Hauptverhandlung getroffene Absprachen: BGHSt 43, 195, 205. 195 BVerfG, NJW 1987, 2662 – 2663. 196 BGH, StV 1984, 449 – 450. 197 BGH, StV 1984, 449. 191

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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verfahrensfördernder Abreden mit den Prozessbeteiligten auch außerhalb der Hauptverhandlung nicht verwehrt sei.198 In einer weiteren Entscheidung des 2. Strafsenates des BGH199 ging es um die Nichteinhaltung einer dem Angeklagten zugesagten Wahrunterstellung, die Grund für die Ablehnung eines Beweisantrags war. Hier liege sogar ein „doppelter Verfahrensfehler“ vor, eine Verletzung des § 244 Abs. 3 StPO sowie ein Verstoß gegen das faire Verfahren.200 Im Bezug auf das faire Verfahren werde hierbei das Vertrauen des Angeklagten enttäuscht, das Gericht werde seine Zusage einhalten. Dies gelte allerdings nicht, wenn das Gericht rechtzeitig durch einen Hinweis klarmacht, dass es die Wahrunterstellung nicht aufrecht erhält.201 Trotz der bis dahin rechtsstaatswidrigen Praxis hat das BVerfG202 1987 erstmals die Verfassungsmäßigkeit von Absprachen anerkannt, sofern rechtsstaatliche Mindestgrundsätze gewahrt sind und die StPO unter Beachtung des Fairnessgrundsatzes und des Willkürverbots ausgelegt wird.203 Allerdings dürfe es sich bei Absprachen nicht um einen „Handel mit der Gerechtigkeit“ handeln. Die richterliche Aufklärungspflicht sowie die Grundsätze der Strafzumessung dürfen daher nicht zur freien Disposition des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten gestellt werden.204 Damit hat das BVerfG erstmals anerkannt, dass Absprachen unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens nicht schlichtweg unzulässig sind, sofern gewisse rechtsstaatliche Standards eingehalten werden.205 Außerdem dürfe sich das Gericht nicht allein mit einem Geständnis begnügen, das in Erwartung einer Strafmilderung abgegeben wurde, obwohl eine weitere Beweiserhebung im Hinblick auf das Finden der materiellen Wahrheit notwendig gewesen wäre.206 Zuletzt dürfe der Angeklagte mit dem Rechtsgedanken des § 136a StPO nicht im Hinblick auf das Versprechen eines Vorteils zu einem Geständnis gebracht werden.207 Gallandi208 wies ausdrücklich darauf hin, dass es nicht die Absicht des BVerfG war, die komplexe Gesamtproblematik in einer Grundsatzentscheidung herauszuarbeiten. Überdies handelte es sich in dem konkreten Fall nicht um den Fall einer typischen Absprache, weil diese erst stattfand, als die Beweisaufnahme kurz vor dem Abschluss stand.209 198

BGH, StV 1984, 449, 450. BGHSt 32, 44 – 48. 200 BGHSt 32, 44, 45. 201 BGHSt 32, 44, 45. 202 BVerfG, NJW 1987, 2662 – 2663. 203 BVerfG, NJW 1987, 2662, 2663. 204 BVerfG, NJW 1987, 2662, 2663. 205 So Löffler, S. 57. 206 BVerfG, NJW 1987, 2662, 2663. 207 BVerfG, NJW 1987, 2662, 2663. 208 Gallandi, NStZ 1987, 420. 209 BVerfG, NJW 1987, 2662; typisch und besonders problematisch sind vielmehr die Absprachen zu Beginn der Beweisaufnahme, da diese zwar im Hinblick auf den Beschleuni199

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

Auch im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1987 folgten Urteile, welche die Wahrung der rechtsstaatlichen Mindestgrundsätze bei der Verständigung weiter konkretisieren sollten und zu Einzelfragen Stellung nahmen. Die Frage nach der Zulässigkeit von derartigen Absprachen wurde zum Teil weiterhin ausdrücklich offen gelassen,210 zum Teil wurde zwischen den Zeilen eine Tendenz deutlich, ohne dass eine fundamentale Stellungnahme abgegeben wurde.211 In einem Urteil aus dem Jahr 1989 hat der 2. Strafsenat des BGH festgestellt, dass aus der Erklärung, das Gericht werde nicht über das von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafmaß hinausgehen, ein Vertrauenstatbestand erwachse.212 Im vorliegenden Fall hatten die Verteidiger der Angeklagten im Anschluss auf eine derartige „Zusicherung“ auf das Stellen weiterer Beweisanträge verzichtet.213 Trotzdem ist das Gericht über das von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafmaß hinausgegangen. Um das Gebot des fairen Verfahrens zu wahren, hätte das Gericht vorher auf die Möglichkeit der Überschreitung des Strafmaßes hinweisen müssen.214 Ein weiterer Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens könne in diesem Zusammenhang die Nichteinhaltung einer Zusage durch die Staatsanwaltschaft sein, eine Straftat nicht zu verfolgen, wenn der Beschuldigte sein Rechtsmittel in einer anderen Sache zurücknimmt.215 Ob ein solcher Verstoß im konkreten Fall vorlag wurde nicht abschließend entschieden. Wird dies allerdings bejaht, liege kein Verfahrenshindernis vor, sondern lediglich ein Strafmilderungsgrund.216 In einer weiteren Entscheidung217 ging es wieder um die Befangenheit des Richters. Dieser hatte Gespräche mit mehreren Mitangeklagten über das zu erwartende Strafmaß im Falle eines Geständnisses geführt und dabei einen anderen Mitangeklagten nicht in die Gespräche mit einbezogen.218 Das Führen von Gesprächen außerhalb der Hauptverhandlung sei zwar auch bei Weigerung eines der Mitangeklagten grundsätzlich möglich,219 allerdings müsse der Richter die gebotene Zurückhaltung wahren, um den Anschein der Parteilichkeit zu vermeiden.220 Auf die

gungsgrundsatz den größten Mehrwehrt haben, im Hinblick auf den Amtsermittlungsgrundsatz aber vermeintlich die größte Einschränkung darstellen. 210 BGHSt 36, 210 – 217; BGH, StV 1997, 572, 573. 211 Dafür: BGHSt 38, 102 – 105; BGHSt 42, 46, 47 f.; dagegen: BGHSt 37, 298 – 305; BGHSt 42, 191, 193. 212 BGHSt 36, 210, 212. 213 BGHSt 36, 210, 211 f. 214 BGHSt 36, 210. 215 BGHSt 37, 10, 11. 216 BGHSt 37, 10, 12. 217 BGHSt 37, 99 – 106. 218 BGHSt 37, 99, 100. 219 BGHSt 37, 99, 103. 220 BGHSt 37, 298, 305.

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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Interessen eines nicht an der Hauptverhandlung beteiligten Mitangeklagten sei demnach aber in besonderem Maße Rücksicht zu nehmen.221 Im Jahr 1991 sorgte eine Entscheidung des 3. Strafsenats des BGH für Kritik.222 Grund hierfür war nicht die erneute Entscheidung über die Befangenheit eines Richters bei Zusage eines bestimmten Strafmaßes, sondern die Feststellung des Senats, dass es „kein rechtsstaatliches Verfahren bei Absprachen über das Prozessergebnis“ gäbe.223 Ganz nebenbei wurde deutlich gemacht, dass die Befangenheit des Richters kaum deutlicher werden könne als durch ein die Öffentlichkeit scheuendes „offenes Wort vor der Verhandlung“.224 Hierin hätte eine Abkehr von der Praxis der Absprachen gesehen werden können, wäre nicht im selben Jahr eine Entscheidung des 2. Strafsenats des BGH ergangen, der den Absprachen wesentlich offener gegenüberstand.225 Im vorliegenden Fall hat eine Absprache zwischen Verteidiger und Tatgericht über das Strafmaß stattgefunden, von der die Staatsanwaltschaft erst bei Urteilsverkündung erfuhr.226 Kritisiert wurde lediglich die fehlende Anhörung der Staatsanwaltschaft, nicht aber die Verständigungsgespräche an sich.227 Diese seien nach Ansicht des Senats sogar „unter Umständen zweckmäßig oder gar notwendig“.228 Im Jahr 1996 hatte der 5. Strafsenat erneut über ein außerhalb der Hauptverhandlung stattgefundenes Gespräch ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft zu entscheiden.229 Statt sich auf das Urteil des 2. Senats230 zu besinnen und einen Verfahrensfehler festzustellen, wurde das Ergebnis über den Begriff des „Rechtsgesprächs“ korrigiert, um so das Urteil aufrecht zu erhalten.231 Zwar erkennt der Senat die vorangegangenen Entscheidungen an,232 hält die Mitteilungspflichten aber nur bei Verständigungsgesprächen für notwendig, die einen Vertrauenstatbestand begründen.233 Rechtsgespräche können in vielfältiger Weise prozessfördernd sein und sogar konkrete Fragen der Strafzumessung zum Gegenstand haben.234 Sie begründen im Gegensatz zu mitteilungspflichtigen Gesprächen keinen Vertrauenstat221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234

BGHSt 37, 99, 103 f. BGHSt 37, 298 – 305. BGHSt 37, 298, 305. BGHSt 37, 298, 303. BGHSt 38, 102 – 105. BGHSt 38, 102 f. BGHSt 38, 102, 104. BGHSt 38, 102, 104. BGHSt 42, 46 – 51. BGHSt 38, 102 – 105. BGHSt 42, 46, 48 f. BGHSt 37, 99 – 106; BGHSt 37, 298 – 305. BGHSt 42, 46, 49. BGHSt 42, 46, 48.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

bestand.235 In weiteren Entscheidungen wurde festgestellt, dass eine fehlgeschlagene Verständigung nicht zwingend einen Strafmilderungsgrund darstelle, sofern die Geständnisse nicht verwertet würden.236 Außerdem werde ein abgesprochener Rechtsmittelverzicht nicht durch eine unzulässige Absprache237 oder ein falsches Geständnis238 berührt. Die Urteile behandelten größtenteils Ablehnungen wegen Befangenheit oder Absprachen über Strafmaßfragen. Teilweise wurden Bedenken gegen die Zulässigkeit von Absprachen geäußert239 oder sich für die Zulässigkeit ausgesprochen.240 Eine Klärung der Zulässigkeitsfrage blieben allerdings alle Senate schuldig. 2. Die Grundsatzentscheidung BGHSt 43, 195 Im Jahr 1997 wurde der 4. Strafsenat des BGH erstmals mit der klassischen Absprache konfrontiert und war so gezwungen, endlich allgemeine Ausführungen zur Zulässigkeit der Absprache aufzustellen.241 Diese Entscheidung wurde später als „Institutionalisierung“ der Verständigung im deutschen Strafprozess verstanden.242 Die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen finde demnach ihre Grenzen in dem Recht auf ein faires Verfahren und im Schuldprinzip.243 Das Rechtsstaatsprinzip sowie das Recht auf ein faires Verfahren schließen eine Vereinbarung über den Schuldspruch aus.244 Das Gericht muss dem Gebot der Wahrheitsfindung nachkommen. Grundlage für ein Urteil dürfe nur der tatsächliche Sachverhalt sein, dieser sei nicht disponibel. Das Gericht müsse daher die Glaubhaftigkeit des Geständnisses überprüfen und gegebenenfalls weitere Beweiserhebungen durchführen.245 Der 4. Strafsenat des BGH stellt außerdem klar, dass die Freiheit der Willensentschließung nicht durch Drohung mit einer höheren Strafe beeinflusst werden darf.246 Diese Klarstellung ist eigentlich überflüssig, da sich dies schon aus dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 136a StPO ergibt. Allerdings dürfe das Gericht 235

E contrario BGHSt 42, 46, 49. BGHSt 42, 191, 195. 237 BGH, StV 1997, 572, 573. 238 BGH, NStZ-RR 1997, 173. 239 BGHSt 37, 298 – 305; BGHSt 42, 191, 193. 240 BGHSt 38, 102 – 105; BGHSt 42, 46, 47 f . 241 BGHSt 43, 195 – 212; ausführliche Darstellung bei Murmann, ZIS 2009, 526, 527; Löffler, S. 58. 242 BGHSt 50, 40, 47. 243 BGHSt 43, 195, 204 f. 244 BGHSt 43, 195, 203 f. 245 BGHSt 43, 195, 204 spricht hier unzutreffend von Glaubwürdigkeit. 246 BGHSt 43, 195, 204. 236

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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im Falle einer Verständigung einen milderen Strafrahmen in Aussicht stellen.247 Weiterhin hat der 4. Strafsenat des BGH einen Rechtsmittelverzicht als Teil einer Verständigung ausdrücklich für unzulässig erklärt.248 Zum einen handle es sich bei dem Verzicht auf Rechtsmittel nicht um einen relevanten Faktor im Rahmen der Strafzumessung, zum anderen könne erst nach Urteilsverkündung wirksam auf Rechtsmittel verzichtet werden.249 Außerdem stellt der 4. Strafsenat des BGH klar, dass zwar Vorgespräche außerhalb der Hauptverhandlung stattfinden dürfen,250 die Verständigung selbst müsse aber in der Hauptverhandlung stattfinden, um die Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu gewährleisten.251 Dabei müssen alle am Verfahren beteiligten Personen teilnehmen, insbesondere auch der Angeklagte und die Schöffenrichter.252 Um die Kontrolle durch ein Rechtsmittelgericht zu ermöglichen, wurde durch den BGH außerdem eine Protokollierungspflicht aufgestellt. Bei dem Ergebnis einer Absprache handelt es sich um einen „wesentlichen Verfahrensvorgang“ der deshalb der Protokollierungspflicht unterliegt.253 Die §§ 260 Abs. 1, 261 StPO verbieten die verbindliche Zusage einer sogenannten „Punktstrafe“ im Rahmen der Absprache.254 Die Angabe einer Strafobergrenze hält der BGH aber im Hinblick auf die aus dem Geständnis resultierenden Einschränkungen der Verteidigungsmöglichkeiten für „unbedenklich“.255 Das Gericht dürfe auch im Rahmen einer Verständigung keine Strafe verhängen, die das Maß der Schuldangemessenheit unterschreitet. Es darf also „den Boden schuldangemessenen Strafens“ nicht verlassen.256 Dem Geständnis dürfe allerdings selbst dann strafmildernde Wirkung zugemessen werden, wenn es nicht aus Reue, sondern rein aus taktischen Gründen abgegeben wurde.257 Der 4. Strafsenat begründet das damit, dass Reue etwas subjektives, objektiv schwer messbares sei, das auch bei einer Absprache vorliegen könne und der Angeklagte außerdem durch sein Geständnis den Rechtsfrieden fördere.258 Zuletzt hat der 4. Strafsenat des BGH im Hinblick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens eine Bindungswirkung der Verständigung statuiert. Das Gericht könne 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258

BGHSt 43, 195, 204. BGHSt 43, 195, 204. BGHSt 43, 195, 204 f. BGHSt 43, 195, 206. BGHSt 43, 195, 205. BGHSt 43, 195, 206. BGHSt 43, 195, 206. BGHSt 43, 195, 206 f. BGHSt 43, 195, 207. BGHSt 43, 195, 208 f. BGHSt 43, 195, 209. BGHSt 43, 195, 209.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

sich also nicht ohne weiteres von der Verständigung distanzieren. Eine Ausnahme soll gelten, wenn sich im Anschluss an die Absprache neue schwerwiegende Umstände ergeben haben, die für das Urteil relevant sind, dem Gericht aber vorher unbekannt waren.259 Mit dieser Entscheidung wurde die Absprache endgültig „salontauglich“ gemacht. Trotzdem hat die Entscheidung einige Schwächen. Ein Geständnis als Nachtatverhalten kann das Bedürfnis der Allgemeinheit, mit Strafe zu reagieren, nur mildern, wenn der Täter selbst eine „anrechnungsfähige Leistung“ zur Normbekräftigung erbracht hat.260 Wenn das Geständnis aber rein aus prozesstaktischen Gründen erfolgt, wird die Norm nicht durch ihn anerkannt, sondern ihm geht es nur um seinen eigenen Vorteil. Es ist also nicht nachvollziehbar, warum der 4. Strafsenat jedem Geständnis eine strafmildernde Wirkung zuerkennen will. 3. Die Grenze richterlicher Rechtsfortbildung BGHSt 50, 40 In einer späteren Entscheidung hatte sich der Große Senat für Strafsachen des BGH261 mit der Absprache über einen Rechtsmittelverzicht auseinanderzusetzen. Grund hierfür waren die Divergenzen im Rahmen des Rechtsmittelverzichts bei Absprachen zwischen den einzelnen Senaten.262 Daraufhin hat der 3. Senat des BGH die Sache wegen beabsichtigter Abweichung gemäß §§ 132 Abs. 2, 4 GVG zur Entscheidung vorgelegt. Der Große Senat für Strafsachen des BGH nutzte daraufhin die Gelegenheit und machte allgemeine Ausführungen zur Zulässigkeit von Urteilsabsprachen.263 Dabei verwies er insbesondere auf das oben angeführte Grundsatzurteil und konkretisierte dieses.264 Das Urteil stellt in Weiterentwicklung des BGHSt 43, 195 klar, dass die Bindungswirkung der Verständigung bezüglich einer verbindlich zugesagten Strafobergrenze nicht nur entfällt, wenn sich in der Hauptverhandlung neue schwerwiegende Umstände zulasten des Angeklagten ergeben,265 sondern auch, wenn diese bei der Absprache bereits vorlagen und vom Gericht lediglich übersehen wurden.266 Die Bindungswirkung wurde also weiter gelockert, weil es unvertretbar sei, das Gericht allein aufgrund eines Vertrauenstatbestands entgegen § 261 StPO an einen Irrtum zu binden.267 259 260 261 262 263 264 265 266 267

BGHSt 43, 195, 210. Frisch, FS-Streng, S. 696. BGHSt 50, 40 – 64. BGHSt 50, 40, 44 f.; vgl. Krause, S. 14. Vgl. BGHSt 50, 40, 48. BGHSt 43, 195 – 212. BGHSt 43, 195; vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt61, § 257c Rn. 26. BGHSt 50, 40, 50. BGHSt 50, 40, 50.

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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Ein „abgesprochener Rechtsmittelverzicht“268 sei unwirksam.269 Im Hinblick auf das faire Verfahren sowie zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten soll jeder Rechtsmittelverzicht, der im Anschluss an eine Verständigung erfolgt, grundsätzlich unwirksam sein. In dem zweiten Fall soll die Unwirksamkeit aber nicht absolut gelten.270 Ausgenommen sind Verfahren, in denen neben der einfachen Rechtsmittelbelehrung gemäß § 35a S. 1 StPO eine qualifizierte Belehrung erfolgt ist.271 In Weiterentwicklung der oben genannten Grundsatzentscheidung272 solle im Hinblick auf die Pflicht des Gerichts zur lückenlosen Sachverhaltsaufklärung273 ein reines „Formalgeständnis“ nicht ausreichend sein.274 Abschließend wurde festgestellt, dass sich die Praxis der Urteilsabsprachen zunehmend weg von einem offenen Verhandlungsstil und hin zu einer quasivertraglichen Bindung bewegt.275 Eine Integration von eigentlich systemfremden nicht kodifizierten Instrumentarien in das bestehende System könne allein durch Rechtsfortbildung nach Ansicht des BGH nicht gelingen. Daher müsse der Gesetzgeber sowohl die Zulässigkeit der Absprache und, sollte diese zulässig sein, auch die genauen Modalitäten gesetzlich regeln.276 Die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung seien erreicht, sodass sich der Gesetzgeber nun mit der Thematik befassen muss.277 4. Stellungnahme An dieser Stelle soll geklärt werden, ob sich die Entwicklung der Verständigung tatsächlich innerhalb der Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung bewegte oder ob diese Grenzen überschritten wurden. Während der BGH in seiner Grundsatzentscheidung davon ausging, sich „knapp“ noch innerhalb dieser Grenzen zu bewegen,278 ist dies in der Literatur nicht unumstritten.279 268 Gemeint ist damit ein Rechtsmittelverzicht, der als Leistung des Beschuldigten innerhalb einer Verständigung vereinbart wurde; dies gilt sowohl bei Erklärung des Rechtsmittelverzichts unmittelbar nach der Hauptverhandlung, als auch wenn die Erklärung später erfolgt BGHSt 50, 40, 60. 269 BGHSt 50, 40, 60. 270 BGHSt 50, 40, 60. 271 Vgl. zu den Anforderungen an die qualifizierte Belehrung: BT-Drucks. 16/11736, S. 8. 272 BGHSt 43, 195 – 212. 273 BGHSt 43, 195, 204. 274 BGHSt 50, 40, 49. 275 BGHSt 50, 40, 63. 276 BGHSt 50, 40, 64. 277 BGHSt 50, 40, 64. 278 BGHSt 50, 40, 50 – 55. 279 Rechtsfortbildung außerhalb der Zulässigkeitsgrenze: Duttge/Schoop, StV 2005, 420, 423; Siolek, S. 87; Löffler, S. 70; Rieß, StraFo 2006, 4, 13; Müller, S. 273; Meyer, HRRS 2005,

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Zur Klärung dieser Frage ist daher zunächst abstrakt auf das Institut der richterlichen Rechtsfortbildung einzugehen, um anschließend zu klären, ob sich die Rechtsprechung innerhalb der Grenzen dieses Rechtsinstituts bewegt hat. a) Grundzüge richterlicher Rechtsfortbildung Die Rechtsprechung als dritte Gewalt gilt als der „Stabilisator des demokratischen Gemeinwesens“.280 Aufgabe der Rechtsprechung sind die Rechtsanwendung im engeren Sinne sowie deren Ergänzung durch Rechtsfortbildung.281 Die richterliche Rechtsfortbildung stellt daher lediglich eine Fortsetzung der Auslegung einer Norm dar und kein gesetzgebungsähnliches Verfahren.282 Sie ist subsidiär und kommt erst dort zur Anwendung, wo die Auslegung einer Norm eine Lücke hinterlässt.283 Diese Lücke gilt es dann im Rahmen der Rechtsfortbildung zu schließen.284 Die Befugnis des Richters zur Rechtsfortbildung ist allgemein anerkannt und ergibt sich aus der Bindung an Gesetz und Recht gem. Art. 20 Abs. 3 GG.285 Dabei erscheint es zielführend, als „Gesetz“ das positive Recht anzusehen und das „Recht“ als die überpositiven Prinzipien der Rechtsordnung.286 Der Richter muss sich daher bei seinen Entscheidungen nicht nur an das geschriebene Recht halten, sondern wenn die Wertvorstellungen der Verfassung in den geschriebenen Gesetzen nicht ausreichend Ausdruck gefunden haben, auch überpositive Prinzipien miteinfließen lassen.287 So kann eine Rechtsfortbildung im konkreten Fall sogar notwendig sein.288 Im Rahmen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung (intra legem) ist eine Anknüpfung an bestehende Regeln zwingend. Dabei handelt es sich um die unproblematische Art der Rechtsfortbildung, deren Aufgabe es meist ist, nichterfasste Fälle bestehender Regelungen zu bewerten.289 235, 239; Schünemann, ZRP 2006, 63 f.; Schünemann, FS-Rieß, S. 536; a. A. Noak, StV 2002, 445, 446. 280 Wiedemann, NJW 2014, 2407. 281 Wiedemann, NJW 2014, 2407. 282 Larenz, Methodenlehre, S. 366; vgl. Langenbucher, S. 27 f.; Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 393; Drechsler, ZJS 2015, 344. 283 Gruber, S. 288; Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 393; vgl. Rüthers, NJW 2011, 1856, 1857; Zippelius, Methodenlehre, S. 52. 284 Vgl. Geserich, DStR-Beih. 2011, 59; Larenz, Methodenlehre, S. 370. 285 Larenz, Methodenlehre, S. 370; Zippelius, Methodenlehre, S. 68; ihn trifft im Hinblick auf die erstrebte materielle Gerechtigkeit sogar eine Pflicht zur Rechtsfortbildung BVerfGE 34, 269, 291 f.; Zippelius, Methodenlehre, S. 39; Ausführliche Darstellung anderer möglicher verfassungsrechtlicher Grundlagen bei Drechsler, ZJS 2015, 344, 346 ff. 286 So auch BVerfGE 34, 269, 286 f.; BGHZ 3, 308, 315 f.; BGHZ 17, 266, 276; Drechsler, ZJS 2015, 344, 346; vgl. Wank, S. 88 f. 287 BVerfGE 34, 269, 287; BGHZ 17, 266, 276; Wank, S. 88 f. 288 Vgl. BGHZ 17, 266, 276. 289 Zippelius, Methodenlehre, S. 55; vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 426.

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Eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung (praeter legem) geht über den Plan des Gesetzgebers hinaus290 und ist daher im Hinblick auf die Gewaltenteilung problematisch.291 Deshalb ist diese gegenüber der einfachen Gesetzesauslegung und der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung subsidiär.292 Aus dem Grundsatz des „Vorbehalts des Gesetzes“ ergibt sich außerdem, dass die Rechtsprechung eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung nur betreiben darf, wenn sie deren Erforderlichkeit für die Gesamtrechtsordnung mit spezifisch juristischen Argumenten begründen kann.293 Denkbar wäre ein echter Gesetzgebungsnotstand aufgrund eines dauernden Versagens des parlamentarisch legitimierten Gesetzgebers.294 Es muss sich dabei um eine offene Rechtsfrage handeln, deren Beantwortung so dringend ist, dass auf ein Eingreifen des Gesetzgebers nicht gewartet werden kann.295 Mangels demokratischer Legitimation darf die Judikative keine rechtspolitischen Erwägungen anstellen.296 Der Grundsatz der Gewaltenteilung zeigt daher eine Grenze richterlicher Rechtsfortbildung auf. Das Verhältnis zwischen Judikative und Legislative hat das BVerfG durch Entwicklung der Wesentlichkeitstheorie bestimmt, wonach alle für das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden.297 Außerdem muss die Rechtsfortbildung innerhalb dieser Grenzen intra iuris erfolgen. Eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung, die sich gegen die Wertungen der bestehenden Rechtsordnung stellt (contra legem) ist grundsätzlich unzulässig.298 Sie soll allenfalls im Falle eines echten Gesetzgebungsnotstands möglich sein, ist aber kaum denkbar.299 Im Regelfall stellt die richterliche Rechtsfortbildung daher nur eine Fortführung der Auslegung dar, bei der es darum geht, die Lücken des abstrakten Gesetzestextes zu schließen.300 Im materiellen Strafrecht gilt außerdem nach Art. 103 Abs. 2 GG, dass eine Rechtsfortbildung zu Lasten des Täters immer ausgeschlossen ist. Dies gilt nicht nur für Analogien, sondern für alle Arten der Rechtsfortbildung.301 Diese ist 290

Gruber, S. 313. Dazu ausführlich Wank, S. 87 ff. 292 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245; Larenz, Methodenlehre, S. 426; Gruber, S. 313. 293 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 247. 294 Larenz, Methodenlehre, S. 427; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 251; Löffler, S. 68. 295 Larenz, Methodenlehre, S. 427; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 251. 296 Langenbucher, S. 23; BVerfGE 128, 193, 210; vgl. BVerfGE 82, 6, 12. 297 BVerfGE 33, 125; 158 f.; BVerfGE 34, 165; 192 f.; BVerfGE 40, 237, 249 f.; BVerfGE 41, 251, 259 f.; BVerfGE 45, 400, 417 f.; BVerfGE 47, 46, 55; BVerfGE 49, 89, 126; vgl. Langenbucher, S. 23. 298 Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 394. 299 Larenz, Methodenlehre, S. 427; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 251. 300 Drechsler, ZJS 2015, 344. 301 Meier/Jocham, JuS 2016, 392, 397; vgl. Remmert, in: Maunz/Dürig GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 46 (Stand: Juni 2017). 291

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also nur zu dessen Gunsten zulässig. Trotz der hohen Grundrechtsrelevanz gilt das Analogieverbot im Strafprozessrecht nicht, sodass auch eine in die Rechte des Beschuldigten einschneidende Rechtsfortbildung möglich ist.302 b) Verständigung und richterliche Rechtsfortbildung Müller interpretiert das Tätigwerden des Großen Senats für Strafsachen des BGH dogmatisch als gesetzesimmanente Rechtsfortbildung und kritisiert dies aufgrund des oben gezeigten fehlenden Anknüpfungspunktes sowie einer fehlerhaften Argumentation.303 Laut Müller hat der Große Senat erkannt, dass es keine Norm gebe, an die angeknüpft werden könnte und trotzdem den Weg der gesetzesimmanenten Auslegung gewählt.304 Meyer betrachtet sowohl die Entscheidung BGHSt 43, 195, als auch die Entscheidung des Großen Senats BGHSt 50, 40 und differenziert weiter nach Ausführungen zur generellen Zulässigkeit der Absprachen, sowie Ausführungen zu einzelnen Konfliktpunkten. Auch Meyer sieht das Vorgehen in BGHSt 43, 195 sowie BGHSt 50, 40 dogmatisch als gesetzesimmanente Rechtsfortbildung an, wobei der BGH laut Meyer anstelle einer Norm an den „fair-trial“-Grundsatz anknüpft.305 Allerdings könne in diesem Fall nicht mehr von „Lückenfüllung“ gesprochen werden, wenn das prozessuale System selbst verändert werde.306 Die richterliche Rechtsfortbildung durch BGHSt 43, 195, sowie BGHSt 50, 40 stoße daher dort an ihre Grenzen, wo es um die generelle Zulässigkeit der Absprachen ginge.307 Bei der Entwicklung dogmatisch tragfähiger Lösungen zu einzelnen Fragen, wie beispielsweise im Rahmen des Rechtsmittelverzichts handele es sich allerdings um zulässige, gestetzesimmanente Rechtsfortbildung.308 Löffler interpretiert das Tätigwerden des Großen Senats als gesetzesüberschreitende Rechtsfortbildung und kritisiert dies, da es an den Voraussetzungen für eine solche Rechtsfortbildung fehle.309 Alle sind damit im Ergebnis der Ansicht, dass sich die Rechtsfortbildung außerhalb der zulässigen Grenzen bewegt.310 Dass jeder von ihnen in dem Vorgehen des BGH allerdings einen anderen Ansatz sieht, zeigt, wie wenig sich der BGH bei der Klärung der Frage, ob die Rechtsfortbildung im konkreten Fall 302 BVerfGE 112, 304, 315; BVerfGE 113, 273, 308; Remmert, in: Maunz/Dürig GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 75 (Stand: Juni 2017). 303 Müller, S. 272 f.; fehlerhaft ist laut Müller insbesondere die Bezugnahme des Senats auf BVerfGE 34, 269 bei dem es sich um einen Fall der Rechtsfortbildung im Zivilrecht handelte; wegen der höheren Grundrechtsintensität seien diese Grundsätze aber gerade nicht ohne weiteres auf die StPO übertragbar, was der Große Senat verkannt habe. 304 Müller, S. 272 f. 305 Meyer, HRRS 2005, 235, 239. 306 Meyer, HRRS 2005, 235, 239. 307 Meyer, HRRS 2005, 235, 239. 308 Meyer, HRRS 2005, 235, 239. 309 Löffler, S. 68. 310 Zur weiteren Kritik in der Literatur: Duttge/Schoop, StV 2005, 420, 423; Siolek, S. 87; Rieß, StraFo 2006, 4, 13; Schünemann, ZRP 2006, 63 f.; Schünemann, FS-Rieß, S. 536.

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korrekt war, um dogmatische Klarheit bemüht hat. Meiner Meinung nach handelt es sich bei der Entwicklung der Verständigung mangels gesetzlicher Regelung um gesetzesüberschreitende Rechtsfortbildung. Auch der BGH scheint in BGHSt 50, 40 von einer solchen auszugehen, bemüht er sich doch zu rechtfertigen, dass deren Voraussetzungen auch vorlagen.311 Die Rechtsfortbildung bewegt sich auf jeden Fall außerhalb des Zulässigen, wenn beide Varianten der Rechtsfortbildung hier scheitern würden. aa) Die Regeln zur Verständigung als Rechtsfortbildung intra legem Nach dem bereits Gesagten kommt eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung nur in Betracht, wenn an eine bereits bestehende Norm angeknüpft wird. Es wäre allenfalls denkbar, die Entscheidung so zu interpretieren, dass der BGH davon ausgeht, dass im gesamten Normgefüge der Strafprozessordnung eine solche Regelung fehlt, die durch gesetzesimmanente Auslegung geschlossen werden kann.312 Dies würde die strengeren Regeln der gesetzesüberschreitenden Auslegung ad absurdum führen. Hier war gerade das Problem, dass die Verständigung nicht gesetzlich geregelt ist. Eine Möglichkeit wäre es, im Rahmen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung an andere konsensuale Elemente anzuknüpfen. Man müsste also davon ausgehen, dass der Gesetzgeber konsensuale Elemente im Strafprozess wollte und die Lücke gerade darin besteht, dass er „vergessen“ hat, ein verfahrensbeendendes Institut für die Hauptverhandlung zu regeln. Das Schweigen des Gesetzesgebers kann allerdings nicht automatisch als „gesetzgeberisches Versehen“ ausgelegt werden. Das Schweigen kann vielmehr eine Entscheidung des Gesetzgebers darstellen und planmäßig sein.313 Überdies ist nach der Abgrenzung oben unter B. klar, dass wegen der Verschiedenartigkeit der Verfahren nicht an eines der anderen Verfahren angeknüpft werden kann, erst recht nicht im Rahmen gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung. Hier wurden klare Regelungen getroffen, die so deutlich von der Verständigung abgrenzbar sind, dass eine derartige Lücke undenkbar ist.314 Auch ein Abstellen auf das Gesamtgefüge der konsensualen Elemente ist im Rahmen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung nicht zielführend. Zum einen fehlt es erneut an der konkreten Norm, zum anderen ist nicht schlüssig, warum der Gesetzgeber bewusst konsensuale Ausnahmenormen eingeführt hat und ausgerechnet die Verständigung „vergessen“ hat. Eine letzte Möglichkeit wäre es, den „fair-trial“Grundsatz als „Norm“ heranzuziehen. Dieser ist aber selbst im deutschen Recht nicht ausdrücklich geregelt. Außerdem handelt es sich um ein uferlos weites Institut. Einzige Konsequenz einer solchen Folgerung wäre das Aushebeln der strikten Trennung zwischen gesetzesimmanenter und gesetzesüberschreitender Rechtsfortbildung. Auch der „fair-trial“-Grundsatz kann den fehlenden Anknüpfungspunkt 311 312 313 314

BGHSt 50, 40, 53 ff. Vgl. BGHSt 50, 40, 53. Löffler, S. 67. So auch Löffler, S. 68.

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„Norm“ daher nicht substituieren. Die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung scheitert daher schlicht am Vorliegen einer Norm, an der sich eine Lücke festmachen lässt. Eine richterliche Rechtsfortbildung war daher allenfalls als gesetzesüberschreitende Rechtsfortbildung möglich. bb) Die Regeln der Verständigung als Rechtsfortbildung praeter legem Voraussetzung wäre die Erforderlichkeit einer solchen Rechtsfortbildung.315 Der BGH sieht sogar einen Gesetzgebungsnotstand als gegeben an und begründet dies mit der Notwendigkeit der Urteilsabsprachen für das Funktionieren der Strafrechtspflege316 und mit Gründen des Opfer- und Zeugenschutzes.317 Im Bezug auf das Funktionieren der Strafrechtspflege stellt der BGH vor allem darauf ab, dass die Durchsetzung des Strafanspruchs sichergestellt werden müsse.318 Aufgrund der knappen Ressourcen in der Justiz wäre die Menge an Verfahren anderweitig nicht zu bewältigen.319 Die Urteilsabsprachen ermöglichen daher, soweit sie den Mindestanforderungen entsprechen, den „gegenläufigen Anforderungen für ein ordnungsgemäßes Funktionieren der Strafjustiz in ihrer Gesamtheit Rechnung zu tragen“.320 Demnach kann die gebotene Aufklärungspflicht im Einzelfall durch die Grundsätze der Beschleunigung und der Prozessökonomie bestimmt werden.321 (1) Gesetzgebungsnotstand wegen Gefährdung der „Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege“ Ungeklärt bleibt dabei, was konkret mit dem Begriff „Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege“ gemeint ist.322 Rönnau323 interpretiert den Begriff als einen Balanceakt zwischen der Findung der materiellen Wahrheit und einer daraus folgenden gerechten Entscheidung,324 der Aufklärung insbesondere schwerer Straftaten325 sowie den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung.326 315

Siehe oben unter 1. Kapitel C. II. 4. a). BGHSt 50, 40, 53 f. 317 BGHSt 50, 40, 55. 318 BGHSt 50, 40, 53. 319 BGHSt 50, 40, 54. 320 BGHSt 50, 40, 54. 321 BGHSt 50, 40, 54. 322 Ausführliche Darstellung bei Rabe, S. 80 – 106; siehe etwa bei BVerfGE 33, 367, 383; BVerfGE 34, 238, 248 f.; BVerfGE 38, 105, 118; BVerfGE 38, 312, 321; BVerfGE 39, 156, 163; BVerfGE 41, 246, 250; BVerfGE 44, 353, 374; BVerfGE 46, 214, 222; BVerfGE 51, 324, 343 f.; BVerfGE 53, 152, 160; BVerfGE 57, 250, 287; BVerfGE 113, 29, 54; BVerfGE 122, 248, 272; BVerfGE 130, 1, 26; BVerfGE 133, 168, 199; teilweise wird auch von einer „wirksamen Strafverfolgung“ gesprochen, wobei die Begriffe synonym gebraucht werden. 323 Rönnau, S. 212 f.; ähnlich: Rabe, S. 81 sieht den Topos als Folge des aus dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Anspruch des Staates auf Strafdurchsetzung, deren Anwendung zwangsläufig zu einer Beschneidung der Beschuldigtenrechte führt. 324 BVerfGE 33, 367, 383. 316

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Teile der Literatur nehmen an, dass der Begriff erst im Jahre 1977 durch die Rechtsprechung erfunden wurde.327 Hassemer dagegen nimmt an, dass es sich dabei nur um die neue Formulierung des Topos der „Bedürfnisse einer wirksamen Verbrechensbekämpfung“ handele.328 Dies begründet er mit einer Entscheidung, in der der Senat auf die Bedürfnisse einer effektiven Verbrechensbekämpfung verweist, um dann weiter auszuführen, dass das Interesse des Rechtsstaats an der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege besonderes Gewicht habe.329 Daran ist zu kritisieren, dass der Begriff in seinem exakten Wortlaut tatsächlich neu ist. Viel wichtiger ist aber, dass der Begriff erstmals auf Verfassungsrang gehoben wird.330 Die Rechtsprechung hat in dieser Entscheidung versucht, zu verschleiern, dass hier „etwas Neues“ entwickelt wurde. Der Verfassungsrang eines schon länger in ähnlicher Weise existierenden Prinzips wurde quasi durch die „Hintertür“ eingeführt. Kritische Stimmen in der Literatur bemerkten schon früh, dass dieser Topos immer dann von den Gerichten eingesetzt wird, wenn es um die Einschränkung der Beschuldigtenrechte im Interesse einer „effektiven Strafrechtspflege“ geht.331 Hassemer führt weiter aus, dass es sich dabei immer um Fälle handele, die Geduld, Geld und Zeit fordern, wobei niemand aber davon ausgeht, dass die Strafrechtspflege wirklich bedroht sei. Die Gerichte sollen den Begriff „solange in der Schublade verschwinden lassen, bis sie ihn wirklich brauchen“.332 Andere Stimmen in der Literatur sprechen von einer inflationären Verwendung des Begriffs.333 Krack nimmt sogar an, dass es sich dabei um den Gegenbegriff zur Justizförmigkeit des Verfahrens handelt.334 Auch die Absprache ist ein Institut, das der Vereinfachung des Strafprozesses dient und auf Kosten der Beschuldigtenrechte Ressourcen schonen soll.335 Von einer wirklichen Gefährdung der funktionalen Strafrechtspflege kann hier keinesfalls gesprochen werden. Auch in diesem Fall funktioniert der Topos als Argument der Rechtfertigung für die Einschränkung der Rechte des Beschuldigten und sogar für 325 326 327 328 329 330 331

S. 83. 332

BVerfGE 44, 353, 374. Vgl. BVerfGE 38, 105, 118. Vgl. Riehle, KJ 1980, 316 ff.; Grünwald, JZ 1976, 776, 772. Hassemer, StV 1982, 275, 276. Hassemer, StV 1982, 275, 276; BVerfGE 53, 152, 160. Grünwald, JZ 1976, 776, 772. Hassemer, StV 1982, 275, 279 f.; so auch Müller-Dietz, ZStW 1981, 1177, 1186; Rabe,

Hassemer, StV 1982, 275, 280. Riehle, KJ 1980, 316, 322; zu den weiteren kritischen Stimmen in der Literatur: Krack, S. 45 f.; Grünwald, JZ 1976, 776, 772; Grünwald, StV 1987, 453, 457; Ebert, JR 1978, 136, 139; Müller-Dietz, ZStW 1981, 1177, 1186; Hassemer, StV 1982, 275, 280; Niemöller/ Schuppert, AöR 1982, 387, 400 f.; Tettinger, S. 65 f.; Rönnau, S. 215; i. A. Löffler, S. 69. 334 Krack, S. 45. 335 Vgl. BGHSt 50, 40, 53 f. bezieht sich darauf, dass der Strafanspruch vor allem wegen Ressourcenknappheit nicht mehr durchgesetzt werden könnte. 333

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

die Einschränkung der Prozessmaximen. Das Gericht hätte also auf Hassemer hören und den Begriff in der Schublade verschwinden lassen sollen.336 Hinzu kommt, dass es unabhängig vom Vorliegen einer Gefährdung der funktionalen Strafrechtspflege schon fragwürdig ist, ob gerade die Verständigung geeignet ist, dieses Problem zu lösen.337 (2) Gesetzgebungsnotstand aus Gründen des Opferschutzes Weiter stützt der BGH den Gesetzgebungsnotstand auf Gründe des Opferschutzes.338 Nach dem BGH ergibt sich aus dem „fair-trial“-Grundsatz, dass auch der Opfer-Zeuge davor geschützt werden müsse, zum bloßen Objekt des Verfahrens zu werden. Es sei daher nach Auffassung des Gesetzgebers auch Aufgabe eines rechtsstaatlichen Verfahrens, neben der Feststellung der Schuld der Beteiligten auch die Belange des Opfers zu wahren.339 Grund hierfür sei, dass nach dem Geständnis häufig auf eine Vernehmung des Opfers verzichtet werden könne. Allerdings hat der Gesetzgeber ausreichende Regelungen zum Schutz des Opfers im Strafprozess erlassen.340 Zudem verschafft die Nebenklage dem Opfer eine umfassende Beteiligungsbefugnis341 und somit auch eine Rechtsmittelberechtigung.342 Der Nebenkläger hat gemäß § 400 Abs. 1 StPO keine Rechtsmittelbefugnis gegen das Strafmaß,343 sodass für ihn die Urteilsabsprachen mangels Freispruch meist nicht angreifbar sind.344 Außerdem ist der Nebenkläger kein notwendiger Verfahrensbeteiligter im Sinne der Urteilsabsprache345 und soll zumindest nicht in die Verhandlungen über verfahrensverkürzende Absprachen mit einbezogen.346 Der Nebenkläger wird daher jeglicher Mitwirkung beraubt und kann die Absprache nicht verhindern.347

336

Hassemer, StV 1982, 275, 280. Vgl. Rönnau, S. 216; Löffler, S. 69; zu den Konflikten mit den Prozessmaximen und damit den Grundpfeilern des deutschen Strafverfahrens siehe unter 2. Kapitel. 338 BGHSt 50, 40, 55. 339 BGHSt 50, 40, 55. 340 Löffler, S. 70; vgl. zu den Neuerungen im Hinblick auf den Opferschutz Hetger, DRiZ 2016, 260 – 263; Schroth, NJW 2009, 2916 – 2919; GemBek v. 27. 07. 1982, JMBl. 1982, 209; Herrmann, ZJS 2010, 236 – 245. 341 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 395 Rn. 1. 342 Volk/Engländer, StPO, § 34 Rn. 9; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 296 Rn. 8. 343 KMR/Kulhanek, § 400 Rn. 2 (Stand: November 2018); SSW-StPO/Schöch, § 400 Rn. 2; MüKoStPO/Valerius, Bd. 3/1 § 400 Rn. 4. 344 Niemz, S. 298. 345 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 78. 346 Niemz, S. 298; Müller-Piepenkötter, DRiZ 2013, 163; dass der Nebenkläger in der Praxis häufig trotzdem miteinbezogen wird ändert zumindest nichts daran, dass die richterliche Rechtsfortbildung im Kontext der Verständigung nicht mit dem Opferschutz legitimiert werden kann. 347 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 78; Müller-Piepenkötter, DRiZ 2013, 163. 337

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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Niemz erachtet eine Verständigung bei minderjährigen oder stark traumatisierten Opfern als sinnvoll, um ihnen eine Vernehmung zu ersparen. Sie erkennt aber auch, dass in großer Zahl Opfer auch bei einer nachfolgenden Verständigung vernommen werden, was die Aspekte des Opferschutzes komplett aufhebt.348 Müller-Piepenkötter sieht es keineswegs immer als Entlastung an, wenn dem Opfer zwar die Aussage erspart bleibt, eine Mitwirkung an der Verständigung aber ebenso verwehrt wird.349 Es gehe im Strafverfahren nicht allein um Mitleid und Fürsorge gegenüber einem hilflosen Opfer, sondern um die Wahrung der staatsbürgerlichen Rechte des Opfers. Das Opfer handele demnach nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch im Interesse der Rechtsordnung.350 Insgesamt bleibt sehr zweifelhaft, ob die Verständigung dem Opferschutz überhaupt dient. Dies kann allenfalls in Einzelfällen angenommen werden.351 Der Opferschutz eignet sich jedenfalls nicht für die Legitimation der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung, wie sie im Rahmen der Verständigung stattfand. Im Gegenteil, nach dem Gesagten stellt eine vorausgehende Verständigung eher eine Schwäche im ausgereiften System des Opferschutzes dar.352 (3) Ergebnis Weder der Erhalt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege noch Gründe des Opferschutzes stellen in diesem Fall einen legitimierenden Grund für die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung dar. Die Gerichte haben daher außerhalb der Grenzen einer zulässigen richterlichen Rechtsfortbildung gehandelt und nicht, wie der Große Senat für Strafsachen des BGH sagt, an deren Grenze353.354 Außerdem muss auch eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung intra iuris sein.355 Hier wurde ein völlig neues Instrument in ein bestehendes System eingefügt. Problematisch ist, dass sich das Instrument sogar in Widerspruch zu dem bestehenden System setzt und die Rechtsfortbildung deshalb möglicherweise sogar contra legem erfolgt ist.356

348

Niemz, S. 298. Müller-Piepenkötter, DRiZ 2013, 163. 350 Müller-Piepenkötter, DRiZ 2013, 163. 351 Ausführliche Darstellung des Verhältnisses von Opferschutz im Verständigungsverfahren in Niemz, S. 292 – 304. 352 Vgl. Herrmann, ZJS 2010, 236, 245. 353 BGHSt 50, 40, 52. 354 Wohlers, NJW 2010, 2470, 2475; nach Meyer, HRRS 2005, 235, 239 gilt dies zumindest für die Erklärung einer grundsätzlichen Zulässigkeit der Absprachen, nicht aber für die Rechtsfortbildung in Einzelfragen wie beispielsweise dem Rechtsmittelverzicht. 355 Larenz, S. 414; vgl. Löffler, S. 70. 356 Siehe dazu 2. Kapitel. 349

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

III. Kodifikation der Verständigung Daraufhin wurde 2009 das Verständigungsgesetz eingeführt. Trotz zahlreicher Gesetzesvorschläge, die von der Einführung eines Konsensprinzips in das Strafverfahren bis hin zur Einführung eines abgetrennten Verfahrens im Strafprozess reichten,357 hat sich der Gesetzgeber weitestgehend damit zufrieden gegeben, den „Widerspruch in Gesetzesform“ zu gießen.358 Das Gesetz knüpft an die ausgeführte Rechtsprechung an und hat alle wesentlichen Eckpunkte übernommen, wobei die erwarteten Konfliktlösungen im Hinblick auf die Prozessmaximen ausgeblieben sind.359 Das zur Absprache führende Verfahren ist in § 257c Abs. 1 – 3 StPO geregelt.360 Entgegen seiner systematischen Stellung im Gesetz bei den Schlussvorträgen ist eine vollzogene Beweisaufnahme nicht Voraussetzung für eine Verständigung.361 Der § 257c Abs. 1 S. 1 StPO begrenzt den Anwendungsbereich der Verständigung auf geeignete Fälle.362 Der § 257c Abs. 1 S. 2 StPO wird zum Teil als „Herzstück der Regelung“363, zum Teil als „bloßes Lippenbekenntnis“364 oder „Angstklausel“365 bezeichnet. Geregelt wird lediglich, dass die Aufklärungspflicht im Rahmen der Verständigung unangetastet bleibt und somit wird eine klare Absage an die Konsensmaxime erteilt.366 Der Gesetzgeber hat also einen von Inkonsequenz geprägten Versuch unternommen, ein konsensuales Verfahren in die bestehende Strafprozessordnung zu integrieren und die bestehenden Widersprüche aufzulösen.367 Der § 257c Abs. 1 S. 2 StPO hat daher nur klarstellende Wirkung.368 357 Vgl. die Darstellungen hierzu in: Krause, S. 15 – 25; Saal, S. 73 – 97; Huttenlochner, S. 14 – 24; Murmann, ZIS 2009, 526, 529. 358 Murmann, FS-Roxin, S. 1385; weitere kritische Stimmen in der Literatur: Altenhain/ Haimerl, JZ 2010, 326, 329; Bittmann, wistra 2009, 414 – 417; Fezer, NStZ 2010, 177, 181 f.; Meyer-Goßner, ZRP 2009, 107 – 109; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 3; a. A. Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2630; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 72. 359 Murmann, FS-Roxin, S. 1385; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 326, 329; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 3. 360 Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2628. 361 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 16; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 1; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 6. 362 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 17; welche Fälle geeignet sind, ist anhand der konkreten Umstände des Falles zu bestimmen BT-Drucks 16/12310, S. 13; Kritik: LöweRosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 26 bezeichnet dieses Erfordernis als völlig inhaltsleer und die Erläuterung als nichtssagend. 363 Ceffinato, JA 2013, 873, 875. 364 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 3; Murmann, ZIS 2009, 526, 534. 365 Hettinger, JZ 2011, 292, 299. 366 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 39 f.; SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 23; vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 8. 367 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 40; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631.

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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§ 257c Abs. 2 StPO regelt, was Gegenstand einer Verständigung sein kann. In Frage kommen nur Rechtsfolgen, die Inhalt eines Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können sowie verfahrensbezogene Maßnahmen im Erkenntnisverfahren und das Prozessverhalten der Beteiligten.369 Dabei handelt es sich um diejenigen Entscheidungen, bei denen dem Gericht ein Beurteilungsspielraum zusteht.370 Gemäß § 257c Abs. 2 S. 2 StPO soll Gegenstand der Verständigung ein Geständnis sein, dieses ist aber nicht zwingende Voraussetzung.371 In § 257c Abs. 2 S. 3 StPO werden Vereinbarungen über den Schuldspruch ausdrücklich ausgeschlossen. Dies war auch schon vor Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes unzulässig und stellt somit keine echte Neuerung dar.372 Aus Sicht des Gesetzgebers hat grundsätzlich das Gericht für das Verständigungsverfahren ein Initiativrecht inne § 257c Abs. 1 S. 1 StPO,373 was aber nicht ausschließt, dass die Initiative von der Staatsanwaltschaft, dem Verteidiger oder dem Angeschuldigten selbst ausgehen kann.374 Der § 257c Abs. 3 S. 1 StPO regelt die Bekanntgabe des möglichen Inhalts einer Verständigung durch das Gericht, was einen Beschluss des Gerichts voraussetzt.375 Weiterhin sind in § 257c Abs. 3 S. 3 und S. 4 weitere Modalitäten bezogen auf den Ablauf der Verständigung normiert. Der § 257c Abs. 3 S. 2 StPO regelt das Verbot der „Punktstrafe“ und erlaubt lediglich die Angabe eines Strafrahmens im Falle einer Verständigung.376 Der § 257c Abs. 4 S. 1 StPO regelt in welchen Fällen das Gericht nicht mehr an die Verständigung gebunden ist. Im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung ist dem Gericht das Abweichen vom Verständigungsvorschlag sogar erleichtert worden.377 Vorher war es Voraussetzung, dass sich im „nachhinein schwerwiegende Umstände ergeben“378, die ein Festhalten an der Verständigung unzumutbar erscheinen lassen,379 gleich ob diese bei Abschluss der Verständigung schon vorlagen. 368

MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 39. Peters, S. 58; KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 14; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 257c Rn. 8 – 15b. 370 KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 15; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 13. 371 Polomski, DRiZ 2011, 315. 372 BGHSt 43, 195, 204; BGHSt 50, 40, 50; vgl. SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 56. 373 KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 23; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 23a; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 137. 374 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 65; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 137. 375 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 64. 376 KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 20 f. 377 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 147; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt61, § 257c Rn. 26; Murmann, ZIS 2009, 526, 538. 378 Es war ausreichend, wenn das Gericht erst nach Abschluss der Verständigung Kenntnis von den Umständen erlangte BGHSt 50, 40, 50. 379 BGHSt 43, 195; BGHSt 50, 40, 50. 369

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

Nach der neuen Rechtslage kann sich das Gericht gemäß § 257c Abs. 4 S. 1 StPO von der Verständigung lösen, wenn Umstände übersehen wurden, die dazu führen, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr angemessen hinsichtlich Tat und Schuld ist. Der Hintergrund dieser Vorschrift ist, dass das Ergebnis eines Prozesses stets ein richtiges und gerechtes Urteil sein muss.380 Murmann spricht davon, dass jede „Schludrigkeit“ des Gerichts bei der Aktenlektüre eine Abweichung rechtfertigt.381 Faktisch ist die gesetzlich statuierte Bindung daher „fast nichts wert“, da das Gericht sich theoretisch jederzeit lösen kann und nur solange gebunden ist, wie es das will.382 Ein vorher abgegebenes Geständnis ist dann mangels „Geschäftsgrundlage“ gemäß § 257c Abs. 4 S. 3 StPO nicht verwertbar.383 Das Gericht trifft insoweit gemäß § 257c Abs. 4 S. 4 StPO eine Mitteilungspflicht. Das Berufungsgericht ist an eine erstinstanzliche Verständigung nicht gebunden, kann das Geständnis jedoch verwerten, wenn es sich entsprechend dem Gedanken des fairen Verfahrens und des Vertrauensschutzes selbst an die Bedingungen der Verständigung bindet.384 Problematisch ist die Vorbeeinflussung des Gerichts aufgrund des Geständnisses im Sinne der Ergebnisoffenheit. Dieser kann allenfalls durch eine neue Hauptverhandlung mit neuen Richtern und Schöffen begegnet werden.385 Informelle oder unzulässige Absprachen widersprechen der Strafprozessordnung und fallen daher nicht in den Anwendungsbereich des § 257c StPO.386 Interessant ist, dass der BGH im Fall unzulässiger Absprachen grundsätzlich kein Verwertungsverbot für das Geständnis annimmt.387 Dies gilt auch, wenn der Fehler der Sphäre des Gerichtes entstammt.388 Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Gericht sich von der Absprache lösen will389 oder das Geständnis aufgrund verbotener Vernehmungsmethoden gemäß § 136a entstanden ist.390 Dies erscheint im Hinblick auf ein faires Verfahren fragwürdig, denn der Angeklagte kann seinen Teil der Abmachung nicht einfordern, das Gericht darf das Geständnis aber verwerten. Dies ist besorgniserregend im Hinblick auf die bereits angesprochene weitestgehend informelle Verständigungspraxis.

380

BT-Drucks. 16/11736, S. 12. Murmann, ZIS 2009, 526, 538; Murmann, FS-Roxin, S. 1395. 382 Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 61; Murmann, ZIS 2009, 526, 538. 383 Vgl. FA Strafrecht/Satzger/Ruhs, 8. Teil 29. Kap. Rn. 52. 384 OLG Nürnberg, StV 2012, 590, 591; OLG Karlsruhe, NStZ 2014, 294, 294 f. 385 Weßlau, StV 2006, 357, 359. 386 Vgl. BGH, StV 2010, 673, 674; BVerfGE 133, 168, 169; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 257c Rn. 4. 387 BGH, StV 2012, 134; BGH, StV 2012, 649, 652. 388 Velten, StV 2012, 172, 173. 389 BGH, StV 2012, 134, 135. 390 Velten, StV 2012, 172, 173 f. 381

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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Wie vorher vom BGH entschieden,391 darf ein Rechtsmittelverzicht nicht Verständigungsgegenstand sein.392 Die Unzulässigkeit von Rechtsmitteln als Verständigungsgegenstand ergibt sich aus § 302 Abs. 1 S. 2 StPO. Der Angeklagte muss nach § 35a S. 3 StPO im Verständigungsfall darüber belehrt werden, dass es ihm frei steht, Rechtsmittel einzulegen. Während der BGH in seiner Rechtsprechung einen Rechtsmittelverzicht auch bei einem verständigungsbasierten Urteil anerkannte, sofern der Angeklagte qualifiziert belehrt wurde, hat der Gesetzgeber hier einen anderen Weg eingeschlagen. Nach dem Verständigungsgesetz ist ein Rechtsmittelverzicht im Falle einer vorangegangenen Verständigung ausgeschlossen, was sich ebenfalls aus § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ergibt.393 Zum Zwecke der Transparenz wurden außerdem umfassende Dokumentations- und Mitteilungspflichten im Verständigungsfall geregelt.394 Nur an diesen beiden Stellen ist der Gesetzgeber über die von der Rechtsprechung aufgestellten Richtlinien hinausgegangen.395 IV. Das Verständigungsurteil des Bundesverfassungsgerichts Im Anschluss an den Erlass des Verständigungsgesetzes wurde dieses zum Teil defizitär umgesetzt, zum Teil sogar bewusst ignoriert.396 Daher hatte sich das BVerfG im Jahr 2013 mit der Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes zu befassen.397 Anlass zu dieser Überprüfung gaben drei Urteilsverfassungsbeschwerden.398 In der Literatur hat das Urteil viele negative Reaktionen hervorgerufen, allerdings auch vereinzelt 391

BGHSt 43, 195, 204; BGHSt 50, 40, 60. BT-Drucks. 16/11736, S. 2. 393 Vgl. Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2630; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 326, 333; Peters, S. 58; vgl. zur „Nackschen-Lösung“ nach der ein Rechtsmittel nur eingelegt wird um dieses im Anschluss zurückzunehmen und die Rechtskraft des Urteils herbeizuführen unten ausführlich 2. Kapitel § 5 I.; sowie Staudinger, HRRS 2010, 347, 348 f.; Bockemühl, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV u. a., 2. Dreiländerforum, S. 200. 394 Vgl. KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 9 (Stand: November 2009). 395 Sturm, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung S. 49. 396 Altenhain/Dietmeier/May, S. 181 – 184. 397 BVerfGE 133, 168 – 240; vgl. für eine ausführliche Analyse dieses Urteils: Rabe, S. 37 ff.; weitere Stimmen in der Literatur zu diesem Urteil: Altenhain, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung, S. 63 – 70; Altvater, StraFo 2014, 221 – 228; Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662 – 673; Bockemühl, BRAK 2013, 13; Brocke, StraFo 2013, 441 – 453; Ceffinato, JA 2013, 873 – 882; Fezer, HRRS 2013, 117 – 119; Fischer, FS-Kühne, S. 203 – 212; Globke, JR 2013, 9 – 25; Hauer, NJ 2013, 393 – 396; Jahn, JuS 2013, 659 – 661; Knauer, NStZ 2013, 433 – 436; König/ Harrendorf, Anwbl. 2013, 321 – 324; Kudlich, NStZ 2013, 379 – 382; Kudlich, ZRP 2013, 162 – 166; Landau, NStZ 2014, 425 – 431; Leitner, DRiZ 2013, 162; Löffelmann, JR 2013, 333 – 336; Meyer, NJW 2013, 1850 – 1854; Mosbacher, NZWiSt 2013, 201 – 206; Neumann, NJ 2013, 240 – 245; Niemöller, StV 2013, 420 – 424; Rothe/Szalai, NJOZ 2013, 1801 – 1807; Sander, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung, S. 53 – 61; Scheinfeld, ZJS 2013, 296 – 303; Schneider, NStZ 2013, 192 – 202; Stuckenberg, ZIS 2013, 212 – 219; Sturm, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung, S. 49 – 52; Weigend, StV 2013, 424 – 427. 398 BVerfGE 133, 168, 171. 392

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

Zuspruch gefunden.399 Wegen der Relevanz des Urteils für die weitere Arbeit soll zumindest eine kurze Darstellung der für diese Arbeit wesentlichen Punkte erfolgen, obwohl die Analyse dieses Urteils keinen Schwerpunkt der Arbeit darstellt. An dieser Stelle sind die Ansätze des BVerfG zur Auslegung des einfachen Rechts interessant.400 Bedeutsam ist hier vor allem, ob die Auslegung des BVerfG für die Fachgerichte bindend ist. Ist dies der Fall, so darf später im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem deutschen System nur diese Auslegungsvariante auf ihre Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht geprüft werden. 1. Darstellung des Urteils Das BVerfG beginnt in seinem Urteil mit der Auflistung der tragenden Prinzipien des Strafverfahrens.401 Wesentlich im Strafprozess sei der Schuldgrundsatz, für dessen Verwirklichung die materielle Gerechtigkeit Voraussetzung sei.402 Aufgabe des Strafprozesses sei die Durchsetzung des Strafanspruchs in einem justizförmigen Verfahren, also unter Wahrung der Beschuldigtenrechte.403 Dies setze die Ermittlung des wahren Sachverhalts voraus. Außerdem führt das BVerfG den verfassungsrechtlich verankerten Topos der „funktionsfähigen Strafrechtspflege“ ins Feld.404 Weiter geht das BVerfG auf das Recht auf ein faires Verfahren, den nemo-teneturGrundsatz sowie die Unschuldsvermutung ein.405 Das Verständigungsgesetz werde diesen Maßstäben gerecht, wenn eine präzisierende Auslegung erfolgt.406 Bei der Auslegung gebe es mehrere Auslegungsmethoden, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Relevant ist hier vor allem die Auslegung nach dem Wortlaut, dem Sinn und Zweck der Norm, sowie dem syste-

399 Eher kritisch: Altenhain, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung, S. 63 f.; Altvater, StraFo 2014, 221, 227 f.; Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 49 – 52; Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662 – 673; Bockemühl, BRAK 2013, 13; Ceffinato, JA 2013, 873, 881 f.; Fezer, HRRS 2013, 117, 118 f.; Fischer, FS-Kühne, S. 203 ff.; Hauer, NJ 2013, 393, 395 f.; Knauer, NStZ 2013, 433, 435 f.; König/Harrendorf, Anwbl. 2013, 321, 324; Kudlich, ZRP 2013, 162, 166; Löffelmann, JR 2013, 333, 336; Meyer, NJW 2013, 1850, 1852; Neumann, NJ 2013, 240, 241; Niemöller, StV 2013, 420, 424; Rabe, S. 37 ff., 519 ff.; Stuckenberg, ZIS 2013, 212, 218 f.; Weigend, StV 2013, 424, 427; eher befürwortend: Brocke, StraFo 2013, 441, 452; Globke, JR 2013, 9, 24 f.; Jahn, JuS 2013, 659 – 661; Leitner, DRiZ 2013, 162; Mosbacher, NZWiSt 2013, 201, 206; Rothe/Szalai, NJOZ 2013, 1801, 1807; Sander, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung, S. 60; Scheinfeld, ZJS 2013, 296, 302 f.; Sturm, in: Jahn/Nack, Rechtsprechung, S. 52. 400 BVerfGE 133, 168, 207 ff. 401 BVerfGE 133, 168, 197 – 203. 402 BVerfGE 133, 168, 197 f. 403 BVerfGE 133, 168, 199. 404 BVerfGE 133, 168, 200 f.; siehe zu diesem Begriff oben unter 1. Kapitel C. II. 4. b) bb) (1). 405 BVerfGE 133, 168, 201 f. 406 BVerfGE 133, 168, 203 f.

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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matischen Kontext.407 Indem der Gesetzgeber den § 257c StPO in das bestehende System integriert hat, habe er kein neues konsensuales Verfahren geschaffen, sondern wollte an den tragenden Prinzipien des deutschen Strafverfahrens festhalten. Daher müsse die Auslegung der Regeln des Verständigungsgesetzes sich stets an dem Grundgedanken des Gesetzgebers orientieren.408 Der § 257c Abs. 1 S. 2 StPO sei Ausdruck des gesetzgeberischen Willens, die Verständigung in die Hauptverhandlung zu integrieren.409 Er stelle klar, dass der Aufklärungsgrundsatz im Sinne des § 244 Abs. 2 StPO auch im Falle einer Verständigung unberührt bleibe. Daraus ergebe sich, dass jede Disposition über den Verfahrensgegenstand ausgeschlossen sei.410 Die Verständigung als solche sei niemals alleinige Urteilsgrundlage.411 Dem Gesetzgeber war die „Fehleranfälligkeit“ von Geständnissen aufgrund des Anreizes einer Strafmilderung bewusst.412 Deshalb bleibe die Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO auch im Rahmen eines Geständnisses innerhalb einer Verständigung bestehen. An die Überprüfung dieses Geständnisses seien daher dieselben Anforderungen zu stellen, wie an die Überprüfung eines Geständnisses im Normalverfahren.413 Allerdings werden im Vergleich zum Normalverfahren auch keine zusätzlichen Anforderungen an die Überprüfung des Geständnisses gestellt.414 Vor dem Hintergrund des gesetzlichen Regelungsziels kann § 257c Abs. 1 S. 2 StPO außerdem nur so verstanden werden, dass jedes Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit überprüft werden muss. Dabei sei ein inhaltsleeres Formalgeständnis auch in Kombination mit einem Abgleich der Aktenlage nicht ausreichend.415 Der § 257c Abs. 4 S. 1 StPO baue auf die Amtsaufklärungspflicht auf und bestätigt dieses Bekenntnis des Gesetzgebers.416 Auch der § 257c Abs. 1 S. 1 StPO, der die Verständigung auf geeignete Fälle beschränkt, sei so zu lesen, dass die Gerichte im Hinblick auf den Amtsaufklärungsgrundsatz nicht vorschnell auf eine Verständigung ausweichen dürfen, sondern die Anklage vorher pflichtgemäß prüfen müssen.417 Das BVerfG erkennt selbst, dass der Anwendungsbereich der Verständigung durch die obige Auslegung stark eingeschränkt wird. Auch im Hinblick auf die Verfahrensabkürzung wird der Nutzen einer Verständigung bei Anwendung dieser

407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417

BVerfGE 133, 168, 205. BVerfGE 133, 168, 206. BVerfGE 133, 168, 207. BVerfGE 133, 168, 207. BVerfGE 133, 168, 208. BVerfGE 133, 168, 208. BVerfGE 133, 168, 208. BVerfGE 133, 168, 209. BVerfGE 133, 168, 209. BVerfGE 133, 168, 208. BVerfGE 133, 168, 208.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

Grundsätze deutlich eingeschränkt.418 Dies sei aber kein Ausdruck der inneren Widersprüchlichkeit des Gesetzes, sondern entspreche dem Willen des Gesetzgebers, die Verständigung mit den wesentlichen Verfahrensgrundsätzen und insbesondere dem Aufklärungsgrundsatz in Einklang zu bringen.419 In § 257c Abs. 2 S. 1 StPO ist geregelt, dass Gegenstand der Vereinbarung nur die Rechtsfolgen sein dürfen, gemäß § 257c Abs. 2 S. 3 StPO nicht aber der Schuldspruch. Das BVerfG stellt klar, dass wegen der Nähe zu den Qualifikationstatbeständen auch Strafrahmenverschiebungen kein tauglicher Verständigungsgegenstand sein können. Es handele sich dabei, wie auch im Fall der Qualifikation, um eine Differenzierung auf Ebene der Strafrahmenwahl. Aufgrund des Regelungszweckes könne davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber diese Differenzierung beibehalten wollte.420 Anders sei die Sachlage nur, wenn sich aus dem Geständnis selbst ein minderschwerer Fall ergebe. Das BVerfG hat ausdrücklich betont, dass Gesamtlösungen unzulässig seien und kein schutzwürdiges Vertrauen begründen. Eine Teileinstellung im Sinne des § 154 Abs. 1 StPO dürfe daher nicht Teil der Vereinbarung sein.421 Außerdem stellt das BVerfG erneut klar, dass gemäß § 257c Abs. 1 S. 1 StPO eine Verständigung nur „nach Maßgabe der folgenden Absätze“ zulässig sei. Der Gesetzgeber wollte mit dem Verständigungsgesetz eine abschließende Regelung treffen.422 Daraus ergebe sich, dass sämtliche Vereinbarungen außerhalb der gesetzlichen Regelung, gleich in welcher Form, unzulässig seien. Das gelte insbesondere auch für informelle Absprachen. Ohne diese klare Trennlinie könnten die Transparenz- und Dokumentationsvorschriften ihren Schutzzweck von vornherein nicht erfüllen.423 Ein Rechtsmittelverzicht solle aber auch im Falle einer informellen Absprache ausgeschlossen sein, da in diesem Fall erst recht eine Nachprüfung durch die Rechtsmittelinstanz erforderlich sei. Dieser Nachprüfung dürfen Urteile, die im Wege informeller Absprachen entstanden sind, nicht entzogen werden.424 Ein wichtiger Bestandteil dieser Regelung seien die Transparenz- und Dokumentationspflichten. Diese sollen sicherstellen, dass die gesetzlichen Regelungen eingehalten werden.425 Zumindest sollen sie aber dafür sorgen, dass die verständigungsbasierten Urteile für die Rechtsmittelinstanz nachprüfbar sind und das jeweilige Urteil im Falle einer Nichteinhaltung aufgehoben werden kann.426 Das 418 419 420 421 422 423 424 425 426

BVerfGE 133, 168, 210. BVerfGE 133, 168, 210. BVerfGE 133, 168, 210 – 212. BVerfGE 133, 168, 214. BVerfGE 133, 168, 212. BVerfGE 133, 168, 212 f. BVerfGE 133, 168, 213 f. BVerfGE 133, 168, 214. BVerfGE 133, 168, 221.

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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BVerfG sieht diese Regeln nicht als bloße Ordnungsvorschriften an, sodass die Verständigung bei Nichteinhaltung rechtswidrig ist.427 Bei einem Verstoß gegen die Transparenz- und Dokumentationspflichten solle in der Regel ein Beruhen des Urteils im Sinne des § 337 StPO vorliegen. Ein Beruhen des Urteils auf diesem Fehler könne jedenfalls nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden.428 Der § 257c Abs. 4 StPO sichere außerdem den Grundsatz der freien richterlichen Überzeugungsbildung.429 Mit § 257c Abs. 5 StPO werde die freie Willensbildung des Angeschuldigten geschützt.430 Das Grundgesetz schließe demnach Verständigungen im Strafprozess nicht grundsätzlich aus. Bei der vorgenommenen präzisierenden Auslegung sei die Verständigung daher im deutschen Strafprozess zulässig.431 Die Verständigung solle also kein alternatives Verfahren darstellen, sondern einen alternativen Weg in der Beweisaufnahme. Kernaussage des Urteils ist die Ermahnung an die Praxis, sie möge sich an das geltende Recht halten. Im Rechtsstaat bestimme das Recht die Praxis und nicht umgekehrt.432 Das BVerfG erkannte das erhebliche Vollzugsdefizit in der Praxis. Es sah aber kein Regelungsdefizit als gegeben an.433 Die gesetzlichen Regelungen seien ausreichend, werden derzeit aber nicht ausreichend umgesetzt. Dies führe aber laut BVerfG zumindest derzeit noch nicht zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes.434 Das Verständigungsgesetz stehe seither „unter Beobachtung“.435 Im Anschluss macht das BVerfG noch Ausführungen zu dem konkreten Fall. Hier führt das BVerfG aus, dass § 257c Abs. 5 StPO sicherstellen soll, dass ein Beschuldigter vor Eingehen der Verständigung ausführlich über deren Risiken belehrt wird, insbesondere die beschränkte Bindungswirkung gemäß § 257c Abs. 4 S. 3 StPO. Nur so sei eine autonome Entscheidung gewährleistet.436 Außerdem dürfen § 257c Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 244 Abs. 2 StPO nicht so ausgelegt werden, dass ein reines Formalgeständnis den Anforderungen genügt.437 2. Bindungswirkung des Urteils und Prüfungsmaßstab des BVerfG Allerdings ist im Hinblick auf das Urteil problematisch, ob das BVerfG innerhalb seiner Kompetenz gehandelt hat und inwieweit die Fachgerichte durch eine Ent427 428 429 430 431 432 433 434 435 436 437

BVerfGE 133, 168, 222. BVerfGE 133, 168, 223. BVerfGE 133, 168, 224. BVerfGE 133, 168, 224 f. BVerfGE 133, 168, 225. BVerfGE 133, 168, 235. BVerfGE 133, 168, 225, 233 f. BVerfGE 133, 168, 235 f. BVerfGE 133, 168, 236. BVerfGE 133, 168, 237. BVerfGE 133, 168, 239 f.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

scheidung des BVerfG gebunden werden können.438 Anknüpfungspunkt ist für beide Fragen die Auslegung des Verständigungsgesetzes durch das BVerfG. a) Bindungswirkung bei einfachrechtlicher Auslegung durch das BVerfG Bei Betrachtung der Bindungswirkung geht es nicht um die formelle oder materielle Rechtskraft. Vor allem die materielle Rechtskraft umfasst nur den Tenor und wirkt nur inter partes.439 Im Tenor wurde allerdings keine Aussage zur Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes getroffen.440 Für die Bindung der Gerichte ist allein § 31 BVerfGG relevant. § 31 Abs. 2 BVerfGG regelt die Gesetzeskraft441 eines Urteils. Grund dafür ist, dass ein Urteil, das ein Gesetz für nichtig erklärt, zumindest in der Theorie denselben Rang haben muss wie ein Gesetz.442 Besonderheit gegenüber § 31 Abs. 1 BVerfGG, der eine Bindungswirkung gegenüber Staatsorganen statuiert, ist die inter omnes Wirkung.443 Eine solche Erklärung muss aber im Tenor enthalten sein,444 was im Rahmen des Verständigungsurteils nicht der Fall war. Daher ist im Bezug auf die Verfassungsgemäßheit des Verständigungsgesetzes keine Gesetzeskraft eingetreten. Der § 31 Abs. 1 BVerfGG ordnet die Bindung der Verfassungsorgane an,445 wobei sowohl im Bezug auf den Umfang der Bindungswirkung, als auch bezüglich deren Herleitung Uneinigkeit besteht.446 Nach der Rechtsprechung des BVerfG bezieht sich die Bindungswirkung jedenfalls nicht nur auf den Tenor, sondern auch auf die tragenden Gründe.447 Dies stößt in der Literatur vor allem deswegen auf Kritik,448 weil 438

Ausführliche Darstellung Rabe, S. 61 – 79. BVerfGE 78, 320, 328; Wischermann, S. 26; Stricker, DÖV 1995, 978, 979. 440 BVerfGE 133, 168; vgl. Rabe, S. 57. 441 Die Formulierung erweist sich heute als „leeres Wort“. Das BVerfG stellt die ipso iure eingetretene Gesetzeskraft nur fest Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 496; vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 98; a. A. Gusy, S. 249 sieht das Gesetz als durch den Ausspruch im Tenor „kassiert“ an. Der Tenor des Urteils sei „actus contrarius“ zum Normerlass. 442 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 496; es muss allerdings nicht zwingend die Nichtigkeit des Gesetzes festgestellt werden, auch die Entscheidung über die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung kann in Gesetzeskraft erwachsen Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 495. 443 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, § 40 Rn. 1439; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 496; Stricker, DÖV 1995, 978, 979; kritisch: Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 94 Abs. 2 Rn. 31, 33. 444 Wischermann, S. 80; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, § 40 Rn. 1437; Stricker, DÖV 1995, 978, 979. 445 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, § 40 Rn. 1444; Stricker, DÖV 1995, 978. 446 Ausführlich: Wischermann, S. 40 – 50, 57, 121 f.; Stricker, DÖV 1995, 978, 979 – 985. 447 Ständige Rechtsprechung: BVerfGE 1, 14, 37; BVerfGE 19, 377; 391 f.; BVerfGE 20, 56, 87; BVerfGE 24, 289, 297; BVerfGE 40, 88, 93 f.; BVerfGE 79, 256, 264; BVerfGE 112, 1, 40; a. A. Austermann, DÖV 2011, 267, 272. 448 Gusy, S. 236 f.; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 485 ff.; Wischermann, S. 42 ff., 51 ff.; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 94 Abs. 2 Rn. 32; Stricker, DÖV 1995, 439

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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schwer feststellbar ist, was die tragenden Gründe sind449 und weil die Gefahr einer „Kanonisierung der Entscheidungsgründe“450 besteht. Allerdings ist eine Ermittlung der tragenden Gründe im Einzelfall durchaus möglich. Tragende Gründe sind die argumentativen Stützen des Urteils.451 Außerdem haben auch nur solche Gründe Bindungswirkung, die Aussagen zur Auslegung der Verfassung enthalten. Interpretationen einfachen Rechts sind nur insoweit bindend, als es um die Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grenzen geht.452 Dies ist zum einen bei einer verfassungskonformen Auslegung (1.) der Fall, zum anderen, wenn es um die verbindliche Festlegung der verfassungsrechtlichen Grenzen bei der Auslegung (2.) geht und zuletzt, wenn von mehreren Auslegungsmethoden eine herausgefiltert wird, die im Zusammenhang mit einer einzelfallbezogenen Betrachtungsweise in Konflikt mit einem Verfassungsprinzip gerät (3.).453 Bei der verfassungskonformen Auslegung ist von mehreren Deutungsvarianten einer Norm mindestens eine verfassungswidrig.454 Die Norm ist dann an sich verfassungsgemäß, muss aber verfassungskonform ausgelegt werden.455 Es handelt sich dabei um eine teilweise Nichtigerklärung ohne Normtextreduzierung und somit eine mildere Variante als die Nichtigerklärung der ganzen Norm.456 Bei der verfassungsorientierten Auslegung geht es nicht darum, die Norm an der Verfassung zu messen und möglicherweise für nichtig zu erklären. Es geht vielmehr darum, den Grundrechten bei Normen mit Interpretationsspielraum zur optimalen Geltung zu verhelfen.457 An eine einfachgesetzliche Auslegung des BVerfG kann die Legislative nicht gebunden sein, diese könnte den Gesetzeswortlaut jederzeit und ohne weiteres ändern.458 Wenn die Legislative nicht gebunden sein kann, so muss das aber auch für andere Staatsorgane gelten.459 Eine einfachgesetzliche Auslegung ist daher nicht bindend im Sinne des § 31 Abs. 1 BVerfGG. 978, 984 f.; Kleuker, S. 99; Austermann, DÖV 2011, 267, 272 legt § 31 Abs. 1 BVerfGG sogar so aus, dass sich die Bindungswirkung nicht auf die tragenden Entscheidungsgründe bezieht; ebenso Wischermann, S. 121 f. 449 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 94 Abs. 2 Rn. 32; Schlaich/ Korioth, BVerfG, Rn. 488; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 91; Kleuker, S. 99; Gusy, S. 236 f.; Stricker, DÖV 1995, 978, 984 f. 450 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 487. 451 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, § 40 Rn. 1452; Gusy, S. 254 sieht die Gründe als tragend an, die zu dem Urteil „hinführen“. 452 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, § 40 Rn. 1453; Rabe, S. 60; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, § 1 Rn. 13. 453 Rabe, S. 60. 454 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 440; Gusy, S. 249; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, § 39 Rn. 1411. 455 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 440; Benda/Klein Verfassungsprozessrecht, § 39 Rn. 1411. 456 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 446; Gusy S. 249. 457 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 448. 458 BVerfGE 40, 88, 94; Sturm, JA 2018, 682, 687; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 94 Abs. 2 Rn. 33; Kleuker, S. 99. 459 Vgl. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 94 Abs. 2 Rn. 32 f.

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

b) Einordnung der Bindungswirkung in der Literatur Obwohl das BVerfG sich hier klar gegen eine verfassungskonforme Auslegung ausspricht, ist die dogmatische Einordnung der Vorgehensweise in der Literatur umstritten. Ein Teil der Literatur nimmt entgegen der ausdrücklichen Entscheidungsgründe an, dass das BVerfG insgeheim eine verfassungskonforme Auslegung praktiziert habe.460 Auch im Bezug auf die Bindungswirkung besteht in der Literatur Uneinigkeit. Eine Ansicht in der Literatur spricht sich für die Bindungswirkung des Urteils aus und begründet dies mit der verfassungskonformen Auslegung.461 Eine andere Ansicht sieht ebenfalls eine Bindungswirkung als gegeben, nimmt aber nicht an, dass es sich um eine verfassungskonforme Auslegung gehandelt hat.462 Eine dritte Ansicht nimmt an, dass hier lediglich eine einfachgesetzliche Auslegung stattgefunden habe und deshalb auch keine Bindungswirkung eingetreten sei.463 Einige Stimmen in der Literatur äußern sich auch lediglich zu der gewählten Auslegungsmethode und lassen den kritischen Punkt der Bindungswirkung offen.464 Rabe vertritt einen differenzierenden Ansatz und unterscheidet zwischen dem aufgestellten, verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab, der einfachrechtlichen „Subsumtion“ unter diesen Prüfungsmaßstab und den Einzelfallentscheidungen im Bezug auf die Urteile.465 Dabei ist nach dem oben466 Aufgeführten maßgeblich, ob die jeweiligen Entscheidungsgründe tragend sind. Dies nimmt Rabe jedenfalls im Bezug auf den vorgegebenen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab467 an.468 Dieser sei tragend 460 Fischer, FS-Kühne, S. 205; Globke, JR 2013, 9, 12 f.; a. A.: Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 663 f.; Ceffinato, JA, 873, 881 f.; Jahn, JuS 2013, 659, 661; Knauer, NStZ 2013, 433, 435; Kudlich, ZRP 2013, 162, 164; Niemöller, StV 2013, 420, 424; Rabe, S. 74. 461 Fischer, FS-Kühne, S. 205; Globke, JR 2013, 9, 12 f. interpretiert das Vorgehen des Gerichts ebenfalls als verfassungskonforme Auslegung unter Zugrundelegung des Schuldgrundsatzes. 462 Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 663 f. sehen in dem Vorgehen eine „verfassungsorientierte Auslegung“ des einfachen Rechts, die zwar bindend ist, aber den Anwendungsbereich von § 79 Abs. 1 BVerfGG nicht eröffnet; Brocke, StraFo 2014, 221, 228 spricht von „strikten“ Vorgaben und meint damit wohl, dass die Auslegung bindend ist. 463 Altvater, StraFo 2014, 221; Jahn, JuS 2013, 659, 661; Niemöller, StV 2013, 420, 424 merkt an, dass zwar möglicherweise keine Bindungswirkung im Sinne des § 31 Abs. 1 BVerfGG eingetreten ist, zumindest aber die „Autoritätswirkung“. 464 Ceffinato, JA 2013, 873, 881 f. spricht von einer einfachrechtlichen Auslegung und kritisiert gleichzeitig, dass den Instanzgerichten vorgegeben wurde, wie sie die Regelung anzuwenden haben; ebenso Knauer, NStZ 2013, 433, 435; Kudlich, ZRP 2013, 162, 164 spricht von einer „verfassungsorientierten“ Auslegung; Leitner, DRiZ 2013, 162 stellt fest, dass das BVerfG gerade nicht verfassungskonform, sondern „verfassungsgemäß“ auslegen wollte; gemeint ist damit wohl die „verfassungsorientierte“ Auslegung. 465 Rabe, S. 67 – 72. 466 S. oben unter S. 47 f. 467 BVerfGE 133, 168, 197 ff. 468 Rabe, S. 67 f.

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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für den Tenor und damit auch bindend im Sinne des § 31 Abs. 1 BVerfGG. Die einfachrechtliche Auslegung, die das BVerfG vornimmt,469 sei für den Urteilstenor ebenfalls nicht hinwegzudenken. Der Beweis der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes fällt schwer, ohne wenigstens einen verfassungskonformen Auslegungsweg darzustellen. Trotzdem sind die einfachrechtlichen Auslegungen nach Rabe nicht bindend. Es handelt sich nicht um die Festlegung der Gebotenheit im Rahmen des Verfassungsrechtlichen, es wird gerade nur eine mögliche Auslegungsvariante aufgezeigt.470 Die Ausführungen zu den Urteilsverfassungsbeschwerden471 sind nach Rabe ebenfalls tragend und wegen der verfassungsrechtlichen Einschränkungen im Einzelfall der dritten Fallgruppe zuzuordnen. Auch diese sind somit bindend.472 Handeln die Behörden entgegen der einfachgesetzlichen Bindungswirkung, stellt dies einen Verstoß gegen die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung oder die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG dar.473 Weiterhin wird in der Literatur zum Teil angenommen, das BVerfG habe seinen Prüffungsmaßstab und damit seine Kompetenzen durch die einfachrechtliche Auslegung überschritten.474 Dafür sprechen die ausufernden Ausführungen zu der Auslegung des einfachen Rechts, die im Rahmen der Verfassungsbeschwerden nur partiell eine Rolle spielen. Im Rahmen dieser Arbeit spielt dies keine Rolle, da im Bezug auf die einfachrechtlichen Ausführungen ohnehin keine Bindung eingetreten ist und diesbezüglich allenfalls eine Kompetenzüberschreitung in Frage käme. c) Eigene Einschätzung Das BVerfG spricht selbst von einer „präzisierenden Auslegung“475 des Verständigungsgesetzes und gerade nicht von einer verfassungskonformen Auslegung.476 Dieser Terminus wird sonst angewandt, wenn es um die mangelnde Bestimmtheit eines Gesetzes im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG geht. Der Terminus wurde hier also zweckentfremdend gebraucht.477 Das BVerfG „subsumiert“ die vorher dargestellten verfassungsrechtlichen Grundsätze unter das Verständigungsgesetz.478 Es handelte sich in der Sache allenfalls um eine „verfassungsorientierte

469

BVerfGE 133, 168, 203 ff. Rabe, S. 68 f. 471 BVerfGE 133, 168, 236 ff. 472 Rabe, S. 70 f. 473 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, § 1 Rn. 13 ein solcher Verstoß kann mit einer Verfassungsbeschwerde gestützt auf Art. 2 Abs. 1 GG geltend gemacht werden. 474 Ceffinato, JA, 873, 881 f.; Knauer, NStZ 2013, 433, 435; Niemöller, StV 2013, 420, 424. 475 BVerfGE 133, 168, 206. 476 BVerfGE 133, 168, 236. 477 Rabe, S. 61. 478 Rabe, S. 62; BVerfGE 133, 168, 203 f. 470

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

Auslegung“, jedenfalls aber nicht um eine verfassungskonforme Auslegung.479 Das Verständigungsgesetz sei mit der Verfassung vereinbar und eine Eingrenzung durch verfassungskonforme Auslegung nicht notwendig.480 Auch der Anwendungsbereich des § 79 BVerfGG sei nicht eröffnet.481 Der Auffassung von Rabe ist zu folgen. Soweit das BVerfG Ausführungen zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen macht, handelt es sich um eine bindende Konkretisierung im Sinne des § 31 Abs. 1 BVerfGG. Auch die Feststellung eines Verstoßes gegen die Verfassung im Einzelfall stellt einen tragenden Entscheidungsgrund dar. Außerdem handelt es sich dabei um Verstöße gegen Verfassungsprinzipien im Einzelfall, sodass diese Ausführungen zum einfachen Recht bindend sind. Etwas anderes gilt nur im Bezug auf die sonstige einfachrechtliche Auslegung. Das BVerfG hat eine verfassungsorientierte Auslegung vorgenommen. Dadurch wurde aufgezeigt, dass es wenigstens eine Auslegungsvariante gibt, die mit der Verfassung vereinbar ist. Diese Auslegung ist daher ebenfalls tragend, da ohne sie die Feststellung der Verfassungsgemäßheit des Gesetzes nicht möglich wäre. Allerdings ist die Auslegungsvariante trotzdem nicht bindend. Es ging bei der Auslegung nicht um die verfassungsrechtlich gebotenen Grenzen. Es ist auch nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, jede einzelne mögliche Auslegungsvariante im Rahmen des einfachen Rechts vorzugeben. Dies ist vielmehr Aufgabe der Fachgerichte. Diese Auslegung ist daher keiner der oben genannten Fallgruppen zuzuordnen. Die Fachgerichte sind mangels verfassungskonformer Auslegung oder anderweitig bindender Auslegung weiterhin frei in ihrer Auslegung, und nicht an die einfachrechtliche Auslegung482 gebunden. Allerdings hat die Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht (normalerweise) eine autoritäre Wirkung, die in der Praxis relevanter ist als die formelle Bindung im Sinne des § 31 Abs. 1 BVerfGG.483 3. Stellungnahme Welche Vorteile das Verständigungsverfahren unter Berücksichtigung der obigen Leitlinien noch bringen soll, beantwortet das BVerfG nicht. Grund für die Einführung der Verständigung im Strafprozess waren stets die fehlenden Ressourcen in der Justiz. Diese sollten durch Einführung eines Verfahrens zur schnellen Prozessbe479 Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 663 f.; Knauer, NStZ 2013, 433, 435; Kudlich, ZRP 2013, 162, 164; Ceffinato, JA, 873, 881 f.; Niemöller, StV 2013, 420, 424. 480 BVerfGE 133, 168, 236. 481 BVerfGE 133, 168, 236; diese Feststellung sollte in den Entscheidungsgründen nochmal untermauern, dass es sich bei der vorgenommenen Auslegung nicht um eine verfassungskonforme Auslegung handelt und deshalb der § 79 BVerfGG nicht anwendbar ist. Dabei wird verkannt, dass der § 79 BVerfGG ohnehin nur auf Normen des materiellen Strafrechts anwendbar ist und die Verständigung als verfahrensrechtliche Norm nicht in dessen Anwendungsbereich fällt Rabe, S. 75 f. 482 BVerfGE 133, 168, 203 – 236. 483 Niemöller, StV 2013, 420, 424; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, § 40 Rn. 1417.

C. Einführung der Verständigung in das deutsche Verfahrensrecht

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endigung geschont werden. Das BVerfG gestattet aber keinerlei Erleichterungen im Hinblick auf das Prinzip der materiellen Wahrheit. Daher nimmt Brocke sogar an, dass die Verständigung nicht mehr zu einer Verfahrensabkürzung führt und die Anzahl der Verständigungen wegen mangelndem Nutzen zurückgehen wird.484 Allerdings ist auch denkbar, dass die offizielle Anzahl an Verständigungen zurückgehen wird und die „Dunkelziffer“ weiter ansteigt.485 Das eigentliche Problem, die fehlenden Ressourcen in der Justiz, hat das BVerfG mit seinem Urteil nämlich nicht gelöst.486 In dem Urteil sind deutliche Versuche erkennbar, das Problem der informellen Absprachen zu beheben. Ein Ansatz ist die mahnende Aufforderung an die Fachgerichte, sich an das Gesetz zu halten. Ein weiterer Ansatz ist die präzisierende Auslegung der Regelungen des Verständigungsgesetzes. Diese wird den Fachgerichten möglicherweise vorweggenommen.487 Das Problem an einer präzisierenden Auslegung ist aber, dass sie dort an ihre Grenzen stößt, wo die jeweilige gesetzliche Regelung nicht angewandt wird. Genau hier liegt das Problem in der Rechtswirklichkeit. Es ist nicht anzunehmen, dass die präzisierende Auslegung sich in diesem Bereich auswirkt, selbst wenn sie für die Fachgerichte bindend ist. V. Zusammenfassung Die Verständigung hatte bis zu ihrer gesetzlichen Normierung einen weiten Weg hinter sich zu bringen und ist, wie oben dargestellt, ein „Kind der Praxis“. Obwohl die Verständigung gesetzlich normiert ist, wurde sie bis auf wenige Abweichungen von der Judikative ausgestaltet. Dies ist im Hinblick auf die Gewaltenteilung problematisch. Der BGH hat sich in seiner Grundsatzentscheidung BGHSt 50, 40 eine gesetzliche Lösung für die Konflikte mit den Maximen des Strafprozesses gewünscht.488 Die Regelung ist hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Der Gesetzgeber hat weitgehend die Ergebnisse der Rechtsprechung übernommen, ohne die drängenden Fragen zu klären. Es wurde eine klare Absage an das Konsensprinzip erteilt und so wurden die drängenden Fragen im Hinblick auf den Amtsaufklärungsgrundsatz offen gelassen. Seit dem Urteil des BVerfG steht das Verständigungsgesetz allerdings wieder strenger unter Beobachtung. Grund dafür sind vor allem die erschreckenden Ergebnisse einer Studie,489 die zeigte, dass die Kodifizierung der Verständigung in der Praxis keinerlei Auswirkungen hatte. Insbesondere 484

Brocke, StraFo 2013, 441, 452; so auch König/Harrendorf, AnwBl. 2013, 321, 324. So auch Ceffinato, JA 2013, 873, 882 der aufgrund der bewussten Nichtbeachtung der gesetzlichen Regelung sogar ein Strukturdefizit nicht ausschließt. 486 So auch Meyer, NJW 2013, 1850, 1852. 487 Zumindest im Hinblick auf die autoritäre Wirkung, die eine Entscheidung des BVerfG auslöst. Eine Bindungswirkung im Sinne des § 31 Abs. 2 BVerfGG ist nur zum Teil eingetreten. 488 BGHSt 50, 40, 60. 489 Altenhain/Dietmeier/May, S. 181 – 184. 485

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1. Kap.: Grundlagen der Verständigung

die Anzahl der informellen Absprachen war erstaunlich hoch.490 Aktuell hat das Bundesministerium der Justiz eine neue Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse im Frühjahr 2020 erwartet werden.491 Es erscheint daher nicht ausgeschlossen, dass der Staat entweder in Form der Legislative oder in Form der Judikative erneut handeln muss. Dies könnte zum einen durch eine Gesetzesänderung oder Abschaffung des Gesetzes geschehen, zum anderen könnte das Verständigungsgesetz für verfassungswidrig erklärt werden. Letzteres wurde auch im Verständigungsurteil des BVerfG angedeutet, welches das Verständigungsgesetz nur vorerst492 für verfassungsgemäß erklärte und unter Beobachtung stellte.493 Der Arbeitskreis AE hat erst im Jahre 2019 wieder für eine völlige Reformation der konsensualen Elemente im Strafverfahren plädiert. Unter anderem auch dafür, die Verständigung im Sinne des § 257c StPO komplett abzuschaffen und durch eine neue Form der Verfahrenserledigung zu ersetzen.494 Jedenfalls handelt es sich bei der Verständigung im Strafprozess nach wie vor um ein sehr aktuelles Thema.

D. Gang der Arbeit Die Arbeit soll die Lage der Verständigung untersuchen. In einer rechtstheoretischen Betrachtung wird umfassend untersucht, ob sich die Verständigung in das System des deutschen Strafverfahrensrechts einfügt. Dabei werden zunächst die Geschichte des deutschen Strafprozesses und der Zweck des Strafprozesses dargestellt. Die Entwicklung des deutschen Strafprozesses soll zeigen, um welchen Prozesstyp es sich grundsätzlich gehandelt hat und wie sich dieser entwickelt hat. Dadurch soll am Ende des rechtstheoretischen Teils die Frage beantwortet werden, ob sich die Verständigung in das System einfügen lässt und ob sie den Zielen des Strafprozesses dient. Anschließend wird umfassend die Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht untersucht. Dabei wird zunächst die Vereinbarkeit mit der Verfassung geprüft. Anschließend soll die Vereinbarkeit auch im Hinblick auf einfachgesetzliche Regelungen und die Prozessmaximen untersucht werden. Aufgrund der besonderen Brisanz des Verhältnisses zwischen dem „fair-trial“Grundsatz und der Verständigung wird diesem Grundsatz im Rahmen dieser Arbeit besondere Beachtung geschenkt. Um hier ein aussagekräftiges Ergebnis zu erzielen, muss der Fairnessgrundsatz genau betrachtet werden. Dabei wird auch versucht, eine 490 Altenhain/Dietmeier/May, S. 36 – 41; 26,7 % der Richter gaben an, ausschließlich informelle Absprachen zu treffen, 58,9 % führen ihre Absprachen meistens informell durch und nur 23,3 % gehen ausschließlich nach § 257c StPO vor. 491 Ohne Autor, https://www.verstaendigung-in-strafverfahren.de/index.php/forschungspro jekt/; zuletzt abgerufen am 24. 5. 2020. 492 BVerfGE 133, 168, 203, 233 f. 493 BVerfGE 133, 168, 236. 494 Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 80.

D. Gang der Arbeit

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Definition aufzustellen oder zumindest die Entscheidung für eine bereits existierende Definition getroffen. Der Fairnessgrundsatz ist besonders interessant, weil er einerseits recht „neu“ ist und andererseits bei nahezu jeder Entscheidung zur Verständigung als Rechtmäßigkeitsmaßstab zitiert wurde.495 Wie genau eine Verständigung unter Berücksichtigung des Fairnessgrundsatzes auszusehen hat wurde aber bisher immer nur für den Einzelfall entschieden. Diese theoretischen Vorarbeiten werden zeigen, ob eine „Absprache“ im deutschen Strafprozess auch dann ein Problem darstellt, wenn sie regelkonform ausgeführt wird. Anschließend werden Urteile, die seit der Entscheidung des BVerfG im Jahre 2013 ergangen sind, analysiert. Dabei soll herausgefunden werden, wo die Vollzugsdefizite im Rahmen des Verständigungsgesetzes liegen und ob seit dieser Grundsatzentscheidung eine Verbesserung eingetreten ist. Am Ende wird die Beantwortung der Frage stehen, ob eine Verständigung, gleich in welcher Form, mit dem deutschen Strafprozess überhaupt vereinbar ist oder ob sie einen Fremdkörper im bestehenden System darstellt.

495 BGHSt 32, 44, 45; BVerfG, NJW 1987, 2662 – 2663; BGHSt 36, 210, 211; BGHSt 37, 10, 11; BGHSt 42, 46, 47 f.; BGHSt 43, 195, 203 f.

2. Kapitel

Verständigung – ein Fremdkörper im deutschen Strafprozess? Die zentrale Frage dieser Arbeit lautet: Ist die Verständigung ein Fremdkörper im deutschen Strafprozess? Ein Fremdkörper ist eine Sache, die in ihre Umgebung nicht hineinpasst oder noch treffender: Etwas, das von außen in einen Organismus eingedrungen ist. Der Organismus ist in diesem Fall der deutsche inquisitorische Strafprozess, der grundsätzlich vergleichsfeindlich ausgestaltet ist. Der Fremdkörper ist die konsensuale Verfahrenserledigung durch Verständigung. Dabei wird systematisch aufgearbeitet, inwieweit die Verständigung mit einzelnen verfassungsrechtlichen, verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Grundsätzen in Einklang steht oder in Einklang zu bringen ist. Am Ende dieses Teils wird daher beantwortet, ob die Verständigung einen Fremdkörper in dem bestehenden System darstellt oder ob sie erfolgreich in den deutschen Strafprozess integriert werden konnte.

§ 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren Zunächst wird versucht, die Verständigung in das deutsche Strafverfahren einzuordnen. In einem ersten Schritt werden daher die Grundlagen und Zielsetzungen des deutschen Strafprozesses dargestellt. Nur so kann verstanden werden, warum die Verständigung im deutschen System ein so großes Problem darstellt, obwohl sie auch in anderen Ländern existiert. Anschließend werden die existierenden Spannungsverhältnisse aufgezeigt.1

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess Um am Ende die Forschungsfrage zu beantworten, ob die Verständigung ein Fremdkörper im deutschen Strafprozess ist, ist es wichtig zu wissen, was den deutschen Strafprozess überhaupt ausmacht. Daher wird in einer rechtshistorischen 1 Der Versuch der Auflösung dieser Spannungsverhältnisse unter Berücksichtigung der Gründe, die für eine Verständigung sprechen, erfolgt unten unter § 4.

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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Betrachtung aufgezeigt, wie sich der Strafprozess in Deutschland entwickelt hat. Anschließend wird versucht, die Ziele des Strafprozesses mithilfe des Meinungsstandes in der Literatur zu definieren. Diese Vorarbeiten werden helfen, am Ende dieser Arbeit die Frage zu beantworten, ob sich die Verständigung in das geltende Recht einfügt oder ob sie ein Fremdkörper ist. I. Geschichte des deutschen Strafprozesses Der Strafprozess befindet sich stets im Wandel und hat im Laufe der Zeit verschiedene Tendenzen erfahren. Früher war alleiniger Zweck die Durchsetzung des Strafanspruchs aus dem materiellen Recht.2 Beschuldigtenrechte, so wie sie heute bestehen, spielten zur damaligen Zeit noch keine Rolle. Den Verfahrensbeteiligten war jedes Mittel recht den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen. Schmidt vermutet daher, dass die Folter zur Erlangung eines Geständnisses bis ins 12. Jahrhundert zurückgehen dürfte und so alt sei, wie der Inquisitionsprozess selbst.3 1. Die Constitutio Criminalis Carolina Die Constitutio Criminalis Carolina4 im Jahr 1532 stellte erstmals eine Systematisierung des materiellen Strafrechts5 sowie des Strafverfahrensrechts6 dar und sollte einer Rechtszersplitterung in Deutschland entgegenwirken.7 Die Carolina

2 Duttge, in Heun/Schorkopf, Wendepunkte, S. 233; Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 511; Ignor, S. 60 f.; Geppert, Jura 2015, 143, 151; Bechtel, ZJS 2018, 20, 24; in der Literatur wird meist davon gesprochen, dass im Rahmen der Carolina oberstes Ziel des Strafprozesses die Ermittlung der Wahrheit war; so auch: Ambos, Jura 2008, 586, 589; Weigend, ZStW 2001, 272; Eisenhardt, Rechtsgeschichte, § 10 Rn. 470; allerdings wurde bei Vorliegen eines Indizes gegen den Beschuldigten Folter angewandt, obwohl man sich auch damals schon bewusst war, dass jedermann unter Folter alles mögliche gesteht. Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 17; im Ergebnis war das Hauptziel des Strafverfahrens daher die Durchsetzung des Strafanspruchs; so auch Schmidt, Lehrkommentar StPO, Bd. 1 Nr. 24. 3 Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 91; vgl. Eisenhardt, Rechtsgeschichte, § 10 Rn. 475. 4 Nachfolgend bezeichnet als Carolina (abgekürzt: CCC); siehe zu den einzelnen Bestimmungen Schroeder, Carolina; zu dem historischen Hintergrund der Carolina und deren Anlehnung an die Bambergenesis: kurze Darstellung: Bechtel, ZJS 2017, 641, 644 f.; ausführlich: Ignor, S. 44 ff.; zur Entstehungsgeschichte der Carolina: Geppert, Jura 2015, 143, 144 f. 5 Art. 104 – 180 CCC (Schroeder, Carolina, S. 70 – 108). 6 Art. 6 – 103 CCC (Schroeder, Carolina, S. 26 – 69). 7 Schmidt, ZRG GA 1933, 1, 6; Bechtel, ZJS 2018, 20, 28; a. A.: Weber, ZRG GA, 1960, 288, 296 ff. es gab zwar auch im 16. Jahrhundert bereits Bestrebungen, der Rechtszersplitterung entgegenzuwirken, in der Carolina war eine Überwindung der Rechtszersplitterung aber nicht vorgesehen.

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

brachte Deutschland erstmals ein gesamtdeutsches Straf- sowie Strafprozessrecht.8 Die Carolina kannte zwei Verfahrensarten, das private Akkusationsverfahren sowie den amtlichen Inquisitionsprozess, wobei letzterer in der Praxis dominierte.9 Außerdem war die Geständniserlangung durch Folter auch in der Carolina vorgesehen.10 Diese durfte nur bei Vorliegen bestimmter Indizien11 angewandt werden, um ein „ehrliches Geständnis“ zu erhalten.12 Bezeichnend für den Inquisitionsprozess der Carolina waren außerdem die Einheit von Ankläger und Richter 13 sowie das Fehlen jeglicher Initiativrechte des Beschuldigten.14 Der Prozess der Carolina war allein zugeschnitten auf die Erlangung eines Geständnisses als die „Königin der Beweise“.15 Für eine Verurteilung war ein Beweis erforderlich, der sich von den für eine Folter notwendigen Indizien unterscheidet.16 Art. 20 CCC17 statuiert im Zusammenhang mit Art. 67 CCC18 eine Beweisregel für die Verurteilung eines Beschul-

8 Schroeder, Carolina, S. 205; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 53 Rn. 394; die Carolina galt allerdings nur in den reichsunmittelbaren Gebieten direkt und subsidiär dort, wo es keine Ordnungen oder Einzelregelungen gab Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 16; vgl. Schmidt, ZRG GA 1933, 1, 9 f.; in den nicht reichsunmittelbaren Territorien stand sie in der Reihenfolge des anzuwendenden Strafrechts an letzter Stelle hinter den partikulären Rechten sowie den örtlichen Gewohnheiten Ignor, S. 83. 9 Ambos, Jura 2008, 586, 590; v. Hippel, Strafprozess, S. 36; Hirte/Hübsch, JA 2009, 606, 610; Rüping/Jerouschek, Strafrechtsgeschichte, Rn. 104; vgl. Ignor, S. 60. 10 Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 67; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 53 Rn. 391 f.; Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 29 bezeichnet die Folter als einen zentralen Punkt des Inquisitionsprozesses der Carolina; Rüping/Jerouschek, Strafrechtsgeschichte, Rn. 106 kritisiert es als Mangel, dass Art und Umfang der Folter ins Ermessen des Richters gestellt wurden vgl. Schmidt, ZStW 1973, 857, 858; Folter war auch vor Einführung der Carolina geradezu üblich, sie wurde in der Carolina erstmals reglementiert. 11 Art. 20 CCC (Schroeder, Carolina S. 33) enthält für den Fall einer nicht angezeigten Folter ein Beweisverwertungsverbot für das Geständnis; die möglichen Indizien sind in Art. 25 – 44 CCC geregelt (Schroeder, Carolina, S. 35 – 45); in der Regel müssen zwei Indizien vorliegen Art. 27 CCC (Ausnahmen: Art. 29 – 32 CCC), die durch Augenzeugen bewiesen werden müssen Art. 23 CCC (Schroeder, Carolina, S. 34); vgl. Schroeder, Carolina, S. 209; Überblick zur Indizienlehre: Bechtel, ZJS 2018, 20, 25; ausführlich: Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 127 – 130. 12 Schroeder, Carolina, S. 209; Hirte/Hübsch, JA 2009, 606, 610; Geppert, Jura 2015, 141, 152. 13 Schünemann, FS-Katoh, S. 52; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 54 Rn. 392; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 16 f.; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 68. 14 Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 54 Rn. 392; Rüping/Jerouschek, Strafrechtsgeschichte, Rn. 105 sehen das Beweisrecht als Angelpunkt der Carolina. 15 Rüping/Jerouschek, Strafrechtsgeschichte, Rn. 106; Schünemann, FS-Katoh, S. 52; Schütz, Jura 1998, 516, 523. 16 Bechtel, ZJS 2018, 20, 25 f.; Ignor, S. 62; Schmidt, ZRG GA 1933, 1, 29 f.; Schütz, Jura 1998, 516, 523; Hirte/Hübsch, JA 2009, 606, 610; v. Hippel, Strafprozess, S. 33. 17 Schroeder, Carolina, S. 33; vgl. auch Bockemühl, in: Strafverteidigervereinigungen, 23. Strafverteidigertag S. 162. 18 Schroeder, Carolina, S. 54.

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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digten.19 Als Beweis waren entweder zwei Berichte von Augenzeugen20 oder ein Geständnis erforderlich,21 sodass meist durch Folter auf ein Geständnis „hingearbeitet“ wurde.22 Das Verfahren war schriftlich und geheim.23 Der „endliche Rechtstag“24 stellte eine Art öffentliche Hauptverhandlung dar, die auf Antrag des Beschuldigten oder des Geschädigten einberufen werden konnte.25 Er glich allerdings mehr einem Schauspiel, weil das im Rechtstag verlesene Urteil stets schon vorher feststand.26 Außerdem waren materielles Recht und Prozessrecht, wenn auch nur fragmentarisch, in der Carolina einheitlich kodifiziert.27 Sie enthielt sowohl Beschreibungen des strafrechtlich relevanten Verhaltens als auch Anweisungen zur Durchführung des Strafprozesses.28 Eine selbstständige Strafprozessordnung, wie sie heute existiert, ist eine eher jüngere Erscheinung.29 Bereits die Carolina enthielt ein Beschleunigungsgebot,30 das in jüngster Zeit im Strafverfahren wieder an Relevanz gewonnen hat.31 Die Carolina war eine großartige Leistung und prägte sowohl die Entwicklung des modernen Strafrechts und Strafprozessrechts in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern nachhaltig.32 Sie erlangte außerdem große Bedeutung für die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft in der Zeit zwischen 1550 und 1650 und beherrschte bis in das 18. Jahrhundert die rechtswissenschaftliche Diskussion sowie 19

Ignor, S 62; Hirte/Hübsch, JA 2009, 606, 610; vgl. Schütz, Jura 1998, 516, 523. Art. 67 CCC (Schroeder, Carolina, S. 54). 21 Art. 60 CCC (Schroeder, Carolina, S. 52); vgl. Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 127; Hirte/Hübsch, JA 2009, 606, 610. 22 Ignor, S. 62; Geppert, Jura 2015, 141, 153 f.; Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 29; Ambos, Jura 2008, 586, 589; Hirte/Hübsch, JA 2009, 606, 610. 23 Geppert, Jura 2015, 141, 153 f.; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 53 Rn. 393; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 16; v. Hippel, Strafprozess, S. 33, 39 f.; vgl. zur „peinlich genauen“ Protokollierung zu Zeiten der Carolina: Bockemühl, in: Strafverteidigervereinigungen, Strafe, S. 101 – 103; Bockemühl, FS-Heintschel-Heinegg, S. 54 f. 24 Art. 82 – 102 CCC (Schroeder, Carolina, S. 61 – 69). 25 Ignor, S. 61; Bechtel, ZJS 2018, 20, 27; laut Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 53 Rn. 393 wurde ein solcher Rechtstag auch dann einberufen, wenn der Beschuldigte ein Geständnis unter Folter abgegeben hatte und dieses später widerrief. 26 Ignor, S. 61; Bechtel, ZJS 2018, 20, 27; vgl Hirte/Hübsch, JA 2009, 606, 610. 27 Ignor, S. 42; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 15; Hirte/Hübsch, JA 2009, 606, 610. 28 Schroeder, Carolina, S. 206; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 15; Bechtel, ZJS 2018, 20, 24. 29 Kleinheyer, S. 3, erstmals in der Josephinischen Gesetzgebung 1787; vgl. Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 15; Eisenhardt, Rechtsgeschichte, § 10 Rn. 445. 30 Art. 77 CCC (Schroeder, Carolina, S. 59). 31 Schroeder, Carolina, S. 210; vgl. Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 32; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 160; Volk/Engländer, StPO, § 17 Rn. 11 – 14; siehe auch Art. 6 Abs. 1 EMRK. 32 Ignor, S. 83; Rüping/Jerouschek, Strafrechtsgeschichte, Rn. 111; vgl. Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 139; Weber, 1960, 288, 303. 20

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

die Gerichtspraxis.33 Nur die politischen Verhältnisse und die territoriale Aufspaltung verhinderten wohl, dass die Carolina eine einheitliche Grundlage für die deutsche Strafrechtspflege abgab und Rechtseinheit schaffte.34 2. Die Einflüsse der Aufklärung In der Zeit zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert stellten die verschiedenen Territorien zunächst wieder eigene Strafrechtsordnungen auf.35 Ein einheitliches Straf-, sowie Strafprozessrecht konnte sich zu dieser Zeit in Deutschland noch nicht durchsetzen. Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung der deutschen Rechtsordnung war die Abschaffung der Folter im Zuge der Aufklärung. Obwohl bereits früher Forderungen nach der Abschaffung der Folter gestellt wurden und die Folter in Preußen bereits 1740 abgeschafft wurde, unterzeichnete der Kurfürst von Gotha erst im Jahr 1828 eine entsprechende Erklärung.36 Trotzdem waren die Mängel des gemeinen Strafprozesses mit der Abschaffung der Folter noch nicht vollends beseitigt, vor allem, weil gleichzeitig „Ungehorsamsstrafen“ für das Leugnen einer Tat eingeführt wurden.37 Die Abschaffung der Folter im Zuge der Aufklärung stürzte den Strafprozess in eine Krise.38 Die damals durch Folter beschafften Geständnisse mussten nun durch geschickte „Verhörstechniken“ beschafft werden, die allerdings mit den heutigen Vernehmungsmethoden nicht viel gemeinsam hatten.39 Trotzdem waren im Zuge der Aufklärung weitere deutliche Tendenzen zur Stärkung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren erkennbar. Möhl formulierte treffend, das Ziel der Reformbestrebungen sei die Herstellung des richtigen Verhältnisses zwischen inquisitorischem und akkusatorischem Prinzip. Weiter führt er aus, dass in dem inquisitorischen Vorverfahren Heimlichkeit und Schriftlichkeit ebenso unentbehrlich seien, wie im Hauptverfahren Mündlichkeit und Öffentlichkeit.40 Die drei Hauptanliegen sind also die Einführung einer von dem Gericht un33

Eisenhardt, Rechtsgeschichte, § 10 Rn. 453; vgl. Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 144. 34 Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 139. 35 Ignor, S. 129 – 138; vgl. Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 142 f.; Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 70 – 77. 36 Hirschberg, S. 66; Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 269, 281. 37 Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 53 Rn. 396; dazu zählte auch die Prügelstrafe, es handelte sich also mehr um eine erste Abschwächung der Folter, als um deren gänzliche Abschaffung. 38 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 19. 39 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 19; zu den probaten Mitteln zählten beispielsweise Zwang, Täuschung und Ermüdung, „Methoden“, die heute alle unter § 136a StPO fallen Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 5 – 14, wobei bezüglich der Täuschung heute zur „kriminalistischen List“ abgegrenzt wird; vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 15. 40 Möhl, Zs. f. dt. Strafverf. 1842, 277, 280.

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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abhängigen Anklagebehörde, namentlich der Staatsanwaltschaft,41 sowie Mündlichkeit und Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung.42 Es sollten also Elemente des Akkusationsprozesses in den reinen Inquisitionsprozess eingeführt werden.43 Dies wurde zuerst in der badischen Strafprozessordnung 1845 und in den preußischen Gesetzen 1846 umgesetzt, die deshalb auch als Reformgesetze bezeichnet werden.44 Auch wenn die Prinzipien zunächst zögerlich umgesetzt wurden,45 stellen die Reformen eine deutliche Tendenz zur Sicherung der Rechte des Beschuldigten in einem rechtsstaatlichen Strafprozess dar. 3. Die Entwicklung zum modernen Strafprozess Eine endgültige Vereinheitlichung des deutschen Strafrechts und Strafprozessrechts erfolgte im Jahr 1871 mit der Einführung des RStGB46, sowie der RStPO47 im Jahr 1877, wobei letztere am 1. Oktober 1879 in Kraft trat.48 Die RStPO wurde später in die StPO überführt. Deren Grundstruktur gilt noch heute und hat bisher keine Gesamtreform erfahren, es wurden allerdings zahlreiche Gesetzesänderungen vorgenommen.49 Im Strafprozess existieren oberflächlich betrachtet zwei Grundstrukturen, der inquisitorische und der adversatorische Strafprozess. Während Feuerbach allein zwischen der Art der Verfahrenseinleitung unterschied, ist die Unterscheidung heute wesentlich ausdifferenzierter. Laut Feuerbach zeichnete sich der Anklageprozess dadurch aus, dass ein Bürger vor Gericht im Namen des Staates seine Rechte verfolge. Beim Inquisitionsprozess verfolge der Richter selbst die Rechte des Staates gegen den Übertreter.50 Es ist umstritten, wie der moderne Strafprozess in Deutschland einzuordnen ist. Die eine Ansicht bezeichnet den Strafprozess nach wie vor als inquisitorischen 41 Ignor, S. 244 – 248; Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 327; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 69; vgl. Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 87. 42 Bockemühl, FS-Heintschel-Heinegg, S. 55 ff.; Ignor, S. 237 – 243; Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 327; Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 94 – 97; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 69. 43 Es handele sich bei diesen Elementen um Fremdkörper, was zu Abstoßungsreaktionen führte, Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S 109. 44 Ignor, S. 280; Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 329. 45 Dazu näher Ignor, S. 280; Schmidt, Geschichte Strafrechtspflege, S. 329. 46 Reichsstrafgesetzbuch. 47 Reichsstrafprozessordnung. 48 Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 71; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 23; Rieß, FS-Schäfer, S. 155. 49 Rieß, FS-Schäfer, S. 156 sprach schon im Jahr 1982 von 82 Änderungsgesetzen, was heute (mehr als 30 Jahre später), bei weitem nicht mehr ausreichen dürfte; vgl. auch Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 23; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 71; Hirschberg, S. 64. 50 Feuerbach, Lehrbuch, § 520 S. 794 f.

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

Strafprozess,51 während die andere Ansicht den deutschen Strafprozess als Anklageprozess bezeichnet.52 Eine vermittelnde Ansicht sieht im deutschen Strafprozess eine Mischform aus Akkusationsprozess und Inquisitionsprozess, wobei hier wiederum verschiedene Ausprägungen dieses Verhältnisses vertreten werden.53 Eine weitere Ansicht bezeichnet den deutschen Strafprozess schlicht als reformierten Strafprozess.54 Kennzeichnend für das inquisitorische Modell ist, dass die Verantwortung für die Erhebung der wesentlichen Beweise beim Gericht liegt.55 Das Gericht hat von Amts wegen die notwendigen Beweise zu ermitteln.56 Mit Erhebung der öffentlichen Klage geht die Verfahrenszuständigkeit für sämtliche Beweiserhebungen auf das Gericht über.57 Das Gericht verfügt ab diesem Zeitpunkt über umfassende Aktenkenntnis.58 51 Trüg, S. 27 bezeichnet den deutschen Strafprozess als einen inquisitorischen, relativiert dies aber selbst wieder, weil er nur aussagen will, dass die Entscheidungskompetenz in der Hauptverhandlung allein beim Richter liegt. Im Ergebnis geht er gerade nicht von einem inqusitorischen Verfahren aus siehe Fn. 515, 517; Ambos, Jura 2008, 586, 593 nimmt eine eindeutige Zuordnung Deutschlands zum „instruktorischen“ Verfahrenstyp vor, obwohl er vorher Ambos, Jura 2008, 586 von einem inquisitorischen Akkusationsverfahren spricht; Krause, S. 31 nennt den deutschen Strafprozess „inquisitorisches Verfahren“, wobei sie auf Einzelheiten nicht eingeht; Duttge, in Heun/Schorkopf, Wendepunkte, S. 244 sieht den deutschen Strafprozess als „notdürftig reformierten inquisitorischen Prozess“ an; Müller, S. 81 sieht den Strafprozess als „reformierten inquisitorischen kontinentaleuropäischen Strafprozess“ an. 52 Hirschberg, S. 69 spricht von einem Anklageprozess, der aus dem Inquisitionsprozess „hervorgegangen“ ist und verkennt dabei, dass es sich um zwei gegensätzliche Prozesstypen handelt; Trüg, S. 26 sieht in der Reichsstrafprozeßordnung einen reformierten Strafprozess, der dem Anklageprinzip folgt. 53 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 6; Heller, S. 4; bezeichnen den deutschen Strafprozess als Akkusationsprozess mit inquisitorischer Hauptverhandlung; Ignor, S. 16 spricht zunächst von einem „reformierten Inquisitionsprozess“, der keinen neuen Prozesstyp darstellt; später S. 231 ff. spricht er vom Einfügen akkusatorischer Prinzipien in den inquisitorischen Prozess, sodass er am Ende wohl doch von einer „Mischform“ ausgeht; Schünemann, FS-Fezer, S. 556 spricht von einem Kompromiss zwischen inquisitorischen Verfahren und Parteiprozess; Schünemann, FS-Katoh, S. 51 f. spricht von einer isolierten Übernahme einiger Elemente aus dem adversatorischen Prozess in den Inquisitionsprozess. 54 Rüping/Jerouschek, Strafrechtsgeschichte, Rn. 243 der reformierte Strafprozess soll das „Gegenstück“ zum Inquisitionsprozess darstellen; meint damit wohl einen komplett neuen Verfahrenstyp und wendet sich von den altbekannten Typen ab Ignor, S. 16; auch Schünemann, FS-Fezer, S. 555 f. spricht von einem reformierten Strafprozess, wobei er in dem neuen Prozesstyp einen „Kompromiss“ aus Parteiprozess und inquisitorischen Verfahren sieht; Trüg, S. 29 spricht ebenfalls von einem reformierten Strafprozess, der dem Anklageprinzip folgt; Müller, S. 81 spricht von einem reformierten Strafprozess. 55 Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 13; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 5; Stock, FS-Mezger, S. 443; Schünemann, FS-Fezer, S. 557. 56 Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 13; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 5; Stock, FS-Mezger, S. 443; Schünemann, FS-Fezer, S. 557. 57 Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 13; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 5. 58 Stock, FS-Mezger, S. 444; Schünemann, FS-Fezer, S. 557; vgl. Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, § 22 Rn. 159.

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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Die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts wirkt sich auch in der Art und Weise der Beweisaufnahme aus. Im Gegensatz zum adversatorischen Prozess existiert hier keine Unterscheidung nach Be- und Entlastungszeugen sowie keine getrennte Beweisaufnahme.59 Vielmehr leitet das Gericht die Befragung sämtlicher Zeugen und gibt den sonstigen Verfahrensbeteiligten lediglich die Gelegenheit, selbst ergänzende Fragen an die Zeugen zu stellen.60 Anklage und Aburteilung liegen in der Ursprungsform des inquisitorischen Modells in einer Hand.61 Für den adversatorischen62 Verfahrenstypus ist kennzeichnend, dass sich zwei Parteien gegenüberstehen, die für das Vorbringen ihrer Beweise selbst verantwortlich sind,63 es handelt sich also um einen Parteiprozess.64 Dem Gericht selbst kommt währenddessen nur verfahrensleitende Funktion zu, die Aufklärung der Sache obliegt allein den Parteien.65 Strafverfolgung und Urteilstätigkeit sind auf voneinander unabhängige Behörden verteilt.66 Außerdem hängt die gerichtliche Untersuchung allein von der Erhebung einer Klage ab.67 Auch die Art der Beweisaufnahme unterscheidet sich von dem inquisitorischen Modell. Hier werden die Beweismittel durch Anklage und Verteidigung benannt, die zunächst ihre eigenen Zeugen befragen dürfen. Anschließend werden die Zeugen einem Kreuzverhör durch die jeweils andere Partei unterzogen.68 Das Gericht urteilt lediglich über die Zulässigkeit und Beweiskraft von Beweismitteln, insbesondere über die Glaubwürdigkeit von Zeugen und verhält sich wie ein neutraler Schiedsrichter.69 Außerdem hat das Gericht, gleich ob Berufs- oder Laienrichter, keine Kenntnis über den vorher von den Parteien ermittelten Verfahrensstoff in Form der Ermittlungsakten.70 Die Parteien können selbst über den Verfahrensgegenstand disponieren, sodass das Vorgehen mit der Privatautonomie im deutschen Zivilrecht vergleichbar ist.71 Es handelt sich daher um einen 59

Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 13. Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 13; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 754; Stock, FS-Mezger, S. 443; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 44 Rn. 19 f. 61 Ambos, Jura 2008, 586, 591; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 3; Ignor, S. 61. 62 Synonym verwendet werden die Begriffe kontradiktorisch und akkusatorisch Trüg, S. 26. 63 Schünemann, FS-Fezer, S. 557; Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 12; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 4; Trüg, S. 26. 64 Trüg, S. 25; Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 12; vgl. Schünemann, FS-Fezer, S. 557; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 4; Müller, S. 331. 65 Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 12; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 4; Trüg, S. 26; vgl. Müller, S. 332; Krause, S. 171. 66 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 5. 67 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 5. 68 Schünemann, FS-Fezer, S. 558; Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 12; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 4. 69 Schünemann, FS-Fezer, S. 558; Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 12; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 4. 70 Eser, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 12; Schünemann, FS-Fezer, S. 558. 71 Schünemann, FS-Fezer, S. 560. 60

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

reinen Akkusationsprozess, weil nur die von der Anklage beigebrachten Tatsachen und Beweise zu einer Verurteilung führen können.72 Trotzdem hat in der Praxis beinahe jedes Land eine Strafprozessordnung, die sich von der der anderer Länder unterscheidet. Dies liegt vor allem daran, dass die Strukturen selten in Reinform existieren und viele Länder „Mischformen“ aus den beiden Typen praktizieren. Der inquisitorische Strafprozess ist das Gegenstück zum adversatorischen Strafprozess,73 sodass sich ohne eine grundlegende Reform aus einem inquisitorischen Prozess kein adversatorischer Prozess entwickeln kann. Es handelte sich, wie oben dargestellt, aber um eine fließende Entwicklung und nicht um eine Grundsatzreform. Am zutreffendsten dürfte wohl sein, dass es sich beim deutschen Strafprozess um einen Strafprozess mit inquisitorischen und akkusatorischen Elementen handelt. Der deutsche Strafprozess war ursprünglich ein reiner Inquisitionsprozess, in den akkusatorische Elemente eingeführt wurden.74 Allerdings wurden nicht sämtliche inquisitorische Elemente aufgegeben, wie beispielweise der Amtsermittlungsgrundsatz sowie die Rolle des Richters in der Hauptverhandlung. Es dürfte sich daher um eine Mischform aus inquisitorischen und akkusatorischen Elementen handeln, also ein inquisitorisches Grundmodell, in dem aber ein Akkusationsprinzip gilt. Wie oben bereits dargestellt, sind akkusatorische Elemente aber Fremdkörper im Inquisitionsprozess, sodass einige Mängel des deutschen Strafprozesses historisch begründbar sind.75 4. Aktuelle Entwicklungen im deutschen Strafprozess Auch über die Funktion und die Ziele des Strafverfahrens wird in der Literatur gestritten.76 Selbst wenn der Strafprozess lediglich eine dienende Funktion hätte, ist die Durchsetzung des materiellen Rechts in einem Rechtsstaat aber nicht uneingeschränkt möglich. Daher wurden dem Beschuldigten im Laufe der Entwicklung immer mehr Rechte eingeräumt, um ein den rechtsstaatlichen Prinzipien genügendes Verfahren zu erreichen.77 Die Beschuldigtenrechte stehen allerdings oft den Eingriffsbefugnissen des Staates gegenüber, sodass die Ermittlungen und die Abwicklung des Verfahrens dadurch zeitintensiver werden. Daher ist eine neue Tendenz erkennbar, dass die Beschuldigtenrechte unter dem Deckmantel der Funktions-

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Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 4. Trüg, S. 27. 74 Vgl. Schünemann, FS-Katoh, S. 51 f. 75 Vgl. Hirschberg, S. 69. 76 Siehe unten unter 2. Kapitel § 1 A. II. 77 Schünemann, ZStW 2002, 1, 22; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 69; Brodag, Strafverfahrensrecht, Rn. 3; vgl. Rüping/Jerouschek, Strafrechtsgeschichte, Rn. 325. 73

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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tüchtigkeit der Strafrechtspflege wieder eingeschränkt werden.78 Wie bereits dargestellt, dient dies allein der Schonung von Ressourcen und der Effizienz des Strafprozesses, nicht aber der wirklichen Aufrechterhaltung der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“.79 Bei dem deutschen Strafprozess handelte es sich ursprünglich um ein inquisitorisches Strafverfahren, dem jeder Konsens fremd war.80 Trotzdem wurde dieser aus Effektivitätsgründen mit konsensualen Erledigungsvarianten durchlöchert.81 Ein weiteres Beispiel, bei dem Beschuldigtenrechte erst geschaffen und später wieder teilweise relativiert wurden, ist die Vernehmung des Beschuldigten. Im Mittelalter wurde auf Folter zurückgegriffen, um ein Geständnis zu erhalten. Nach der Abschaffung der Folter wurden jedenfalls noch fragwürdige Vernehmungsmethoden angewandt, die heute unter § 136a StPO fallen.82 Dieser Paragraph soll den Beschuldigten umfassend vor unlauteren Vernehmungsmethoden schützen und dessen Subjektstellung im Verfahren sichern.83 Allerdings wird dieser Paragraph von der Rechtsprechung aufgrund praktischer Bedürfnisse und aufgrund eines historisch begründeten Fehlverständnisses über die Abgabe von falschen Geständnissen sehr restriktiv ausgelegt.84 Dies wird vor allem durch die restriktive Auslegung des An-

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Siehe oben unter 1. Kapitel C. II. 4. b) bb) (1); Schünemann, ZStW 2002, 1, 22; vgl. BVerfGE 33, 367, 383; BVerfGE 34, 238, 248 f.; BVerfGE 38, 105, 118; BVerfGE 38, 312, 320 f.; BVerfGE 39, 156, 163; BVerfGE 41, 246, 249 f.; BVerfGE 44, 353, 373 f.; BVerfGE 46, 214, 222 f.; BVerfGE 51, 324, 343 f.; BVerfGE 53, 152, 160 f.; BVerfGE 113, 29, 47, 54; Weigend, ZStW 2001, 271, 272 f. spricht davon, dass man in Deutschland glaube, sich den auf Wahrheitsermittlung gerichteten Strafprozess aufgrund der Überlastung der Gerichte nicht mehr leisten zu können und daher den Ausweg in der schnellen „Erledigung“ der Verfahren außerhalb einer Hauptverhandlung sieht. 79 Siehe oben unter 1. Kapitel C. II. 4. b) bb) (1); Schünemann, ZStW 2002, 1, 22; Hassemer, StV 1982, 275, 279 f.; Müller-Dietz, ZStW 1981, 1177, 1186; Rabe, S. 83. 80 Vgl. oben unter 2. Kapitel § 1 A. I. 1. 81 Siehe oben unter 1. Kapitel B.; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 81; vgl. SSWStPO/Schnabl, § 152 Rn. 4; Baumann, NStZ 1987, 157 und Schmidt-Hieber, Rn. 41. 82 Vgl. Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 19; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 5 – 14. 83 Vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 1; MüKoStPO/Schuhr, Bd. 1 § 136a Rn. 1; SSW-StPO/Eschelbach, § 136a Rn. 4 – 7. 84 Vor allem im Rahmen der Täuschung nimmt die Rechtsprechung eine sehr restriktive Auslegung vor: BGHSt 42, 139, 149 spricht wegen der Weite des Begriffs „Täuschung“ von der Erforderlichkeit einer einschränkenden Auslegung dieses Merkmals; vgl. zur Ermüdung BGH, NJW 1992, 2903, 2903 f. der BGH hat eine Ermüdung im Sinne des § 136a StPO bei einem Beschuldigten, der glaubhaft machte, bei der Vernehmung 30 Stunden ohne Schlaf gewesen zu sein, abgelehnt; vgl. zu „unzulässigem Druck“ BGH, NJW 1992, 2903, 2905 in der einer geistig eingeschränkten Beschuldigten die Verteidigerkonsultation verwehrt und sie angeschrien wurde, dies aber nicht als ausreichend für ein Verwertungsverbot angesehen wurde; SSW-StPO/ Eschelbach, § 136a Rn. 35 bezweifelt, dass der verbleibende Anwendungsbereich bei derart restriktiver Auslegung zur Sicherung der Subjektstellung des Beschuldigten ausreicht.

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

wendungsbereichs der Täuschung85 sowie bei einer Erfindung der Rechtsprechung, der kriminalistischen List,86 deutlich. Die kriminalistische List ist im Prinzip nichts anderes als eine besonders geschickte „Täuschung“, die von der Rechtsprechung geduldet wird.87 Dadurch wird der mit § 136a StPO geschaffene Schutz des Beschuldigten zumindest teilweise wieder relativiert. Diese Fehlbewertung, niemand werde ohne körperlich empfundenen Zwang zu Unrecht ein falsches Geständnis ablegen, ist in der deutschen Strafrechtsgeschichte begründet, namentlich in der Überwindung des Inquisitionsprozesses sowie der Geständniserpressung durch Folter. Zumindest nach dem Normzweck wäre nämlich eine weite Auslegung des Täuschungsbegriffs sowie eine striktere Anwendung des gesamten § 136a StPO erforderlich.88 II. Zwecke des deutschen Strafprozesses Zum besseren Verständnis muss zunächst dargestellt werden, welchen Zwecken der deutsche Strafprozess dient und welche Ziele verfolgt werden. Dabei muss vorab eine Begriffsklärung vorgenommen werden, da viele Begriffe synonym verwendet werden. Beispielhaft wird der Zweck89 des Strafprozesses durch Ziele,90 Zwischenziele,91 Aufgaben,92 Garantien,93 Qualitäten,94 Mittel,95 Funktionen96 sowie der 85 Vgl. BGHSt 42, 139, 149; Täuschungen, die nicht in den Anwendungsbereich des § 136a StPO fallen: Unbeabsichtigte Irreführungen: BGHSt 31, 395, 400; BGHSt 35, 328, 329 ff.; Unterlassen einer Aufklärung durch die Auskunftsperson: BGH, StV 1988, 419, 421; Irreführung durch den Verteidiger: BGHSt 14, 189, 192 f.; Täuschung über die Art der „Vernehmung“ und dadurch indirekt Versagen des Verteidigerkonsultationsrechts: BGH, NJW 1992, 2903, 2904 f. 86 Puppe, GA 1978, 289 – 306; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 15; Rechtsprechung zur Abgrenzung von kriminalistischer List und Täuschung: BGH, NJW 1953, 1114, 1114 f.; BGHSt 35, 328, 329 ff.; BGHSt 37, 48, 52 f.; BGH, NJW 1992, 2903, 2904; BGH, StV 2017, 507, 509 es darf es sich nur um „Fangfragen“, doppeldeutige Bemerkungen und „geringfügige Verdrehungen“ der Wahrheit handeln Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 15; SSW-StPO/Eschelbach, § 136a Rn. 38. 87 So auch SSW-StPO/Eschelbach, § 136a Rn. 35. 88 SSW-StPO/Eschelbach, § 136a Rn. 33, 35; für die Verteidigung des Rechts des Beschuldigten zur eigenverantwortlichen Entscheidung über eine mögliche Aussage müssten sämtliche zurechenbar durch Organe des Staates verursachte Irrtümer zu einem Verwertungsverbot nach § 136a StPO führen. 89 Murmann, GA 2004, 65; Weigend, S. 173; Krack, S. 30; Niese, S. 110; Volk, S. 187; Kühl, S. 73. 90 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 3; Weigend, S. 174; Paeffgen, S. 16; Niese, S. 16, 110; Schlüchter, in: Wolter, Rudolphi Symposium, S. 214; Schmidhäuser, FSSchmidt, S. 511. 91 Volk, S. 195. 92 Jescheck, JZ 1970, 201, 204; Volk, S. 185; Paeffgen, S. 13; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 84; Rieß, JR 2006, 269, 271. 93 Tiedemann, S. 25. 94 Neumann, ZStW 1989, 52, 61; Sternberg-Lieben, ZStW 1996, 721, 726 Fn. 31.

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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vornehmsten Pflicht des Strafrichters97 substituiert. In der folgenden Darstellung soll der Zweck abgrenzend von der Funktion verstanden werden. Während Funktion alle tatsächlichen Folgen umfasst, umfasst der Zweck nur diejenigen, die erwünscht sind.98 Wenn von Aufgaben und Zielen die Rede ist, so sind diese hier synonym zum Zweck des Strafprozesses zu verstehen. Außerdem ist zu beachten, dass zwischen Mittel und Zweck des Verfahrens ein Stufenverhältnis besteht.99 Mittel werden eingesetzt, um einen Zweck zu erreichen, wobei dieser wiederum Mittel für einen höherrangigen Zweck sein kann. Diese Zwecke sind Zwischenziele.100 Voraussetzung für die Klärung dieser Frage ist insbesondere, in welchem Verhältnis materielles Strafrecht und Strafverfahren zueinander stehen. Ausgehend von diesem Verhältnis wurden die verschiedenen Theorien zum Ziel des Strafverfahrens entwickelt. Was Zweck des Strafprozesses ist, ist in der Literatur bis heute umstritten.101 Dabei wurde teilweise nur auf die spezifischen Ziele des Strafverfahrens abgestellt, teilweise wurde auch auf die Ziele des Gesamtstrafrechts, also materielles Recht und Strafverfahren abgestellt. Bevor die Ziele des Strafprozesses näher beleuchtet werden muss daher geklärt werden, in welchem Verhältnis das Strafprozessrecht zum materiellen Strafrecht steht. Es gibt vier Möglichkeiten wie Strafrecht und Strafverfahrensrecht theoretisch zueinander stehen können. Das Strafrechtverfahrensrecht könnte dem materiellen Strafrecht dienen, mit diesem auf einer Ebene stehen oder gegenüber dem materiellen Strafrecht sogar dominant sein.102 Eine vollständige Vermengung von Strafrecht und Strafprozessrecht wäre theoretisch ebenfalls denkbar, wird in der Wissenschaft aber zu Recht nicht vertreten.103 1. Dienende Funktion des Strafverfahrens Eine tradierte Auffassung misst dem Strafprozess eine gegenüber dem materiellen Recht rein dienende Funktion bei,104 insbesondere in Form der Durchsetzung des materiellen Strafrechts.105 95

Günther, JR 1978, 89, 93; Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 515. Vgl. Murmann, GA 2004, 65, 67; Volk, S. 185. 97 Günther, JR 1978, 89. 98 Krack, S. 31. 99 Krack, S. 31. 100 Vgl. Krack, S. 33; Volk, S. 195. 101 Vgl. zu Darstellungen des Meinungsstandes: Volk, S. 169 – 203; Paeffgen, S. 13 – 39; Weigend, S. 173 – 219; Krack, S. 30 – 46; Murmann, GA 2004, 65 – 70; Schlüchter, in: Wolter, Rudolphi Symposium, S. 210 – 215; Sternberg-Lieben, ZStW 1996, 721, 725 – 728; Rieß, FSSchäfer, S. 168, 171 – 175; Rüping, Theorie, S. 27 f. 102 Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 1 Einl. M Rn. 5 ff. 103 Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 1 Einl. M Rn. 6. 104 Beling, Reichsstrafprozeßrecht, S. 5; Rosenfeld, Reichs-Strafprozeß, S. 30; Hellmer, AcP 1956, 527, 531; v. Hippel, Strafprozess, S. 3; Grunsky, Verfahrensrecht, S. 11; Hassemer, 96

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

Stimmt man dem zu, so liegt es nahe, als Ziel des Strafverfahrens die Herbeiführung einer materiell richtigen Entscheidung zu sehen. Dies setzt zum einen voraus, dass die richtige Tatsachengrundlage gefunden wird, zum anderen, dass das Recht richtig angewandt wird.106 Diese beiden Ziele werden oft als übergeordnetes Prozessziel der Wahrheitsermittlung zusammengefasst.107 Demnach sei die Hauptaufgabe des Strafprozesses die Wahrheitsfindung, um aufgrund dessen ein Urteil zu fällen, das dem materiellen Recht zur Geltung verhilft.108 Teilweise wird auch vertreten, dass Aufgabe des Strafverfahrens die Herstellung von Wahrheit und Gerechtigkeit sei.109 Die Ansichten, die dem Strafprozess eine rein dienende Funktion beimessen und daher meist die Ermittlung der Wahrheit in den Vordergrund rücken, sind veraltet und passen am besten zum historischen Inquisitionsprozess. Hier ging es allein um die Ermittlung der Wahrheit und die Durchsetzung des Strafanspruchs um jeden Preis.110 Dies wird dem heutigen reformierten Strafprozess allerdings nicht mehr gerecht. Das heutige Strafprozessrecht hat wahrheitsfördernde, aber auch wahrheitshemmende Züge.111 Die Ansichten, die eine rein dienende Funktion des Strafverfahrens annehmen, verkennen, dass das ausschließlich an der Wahrheit ausgerichtete Strafverfahren zum Selbstzweck würde.112 Außerdem ist allein die Durchsetzung der Wahrheit ohne Achtung der Beschuldigtenrechte eines Rechtsstaates nicht würdig. Daher wird heute geradezu trivial festgestellt, dass die Wahrheit zwar ein Zwi-

Grundlagen Strafrecht, S. 110; Kühne, Strafprozeßlehre, S. 14; Niese, S. 31 (Durchsetzung der materiellen Rechtsordnung); Stock, FS-Mezger, S. 429 (Bewährung des Rechts im konkreten Einzelfall); Kühne, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 1 (Vorbedingung und Instrument der Umsetzung des Geltungsanspruchs des materiellen Strafrechts); Tiedemann, FS-Peters Wahrheit, S. 140 („Bewährung“ der materiell-strafrechtlichen Ordnung); Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 17 (Verwirklichung des materiellen Strafrechts); Schmidt, Lehrkommentar StPO, Bd. 1 Nr. 24 (Verwirklichung des materiellen Rechts); Zipf, Kriminalpolitik, S. 144 (Realisierung des materiellen Rechts); m. w. N. Weigend, S. 191 Fn. 62. 105 Vgl. Beling, Reichsstrafprozeßrecht, S. 5; Rosenfeld, Reichs-Strafprozeß, S. 30; Hellmer, AcP 1956, 527, 531; v. Hippel, Strafprozess, S. 3; Grunsky, Verfahrensrecht, S. 11; Hassemer, Grundlagen Strafrecht, S. 110; Kühne, Strafprozeßlehre, S. 14; Niese, S. 31. 106 Murmann, GA 2004, 65; vgl. Beling, Reichsstrafprozeßrecht, S. 268 Fn. 4; Stock, FSMezger, S. 433; Jescheck, JZ 1970, 201, 204; Limbach, S. 39 ff. 107 Rüping, Theorie, S. 27; Niese, S. 16; vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 3; Schmidt, Lehrkommentar StPO, Bd. 1 Nr. 20, Fn. 44 m. w. N. 108 Sauer, Prozeßlehre, S. 61; Schmidt, Lehrkommentar StPO, Bd. 1 Nr. 20, 107, 470 f.; Schünemann, FS-Fezer, S. 559 (Auffinden der materiellen Wahrheit als Primärziel); häufig allerdings nicht einziges Ziel vgl. Niese, S. 16; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 3; Jescheck, JZ 1970, 201, 204. 109 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 84; Peters, Strafprozeß, S. 80; vgl. Niese, S. 16, 110 f. 110 Siehe oben unter 2. Kapitel § 1 A. I. 1. 111 Sowada, S. 110. 112 Murmann, GA 2004, 65, 66; vgl. Krack, S. 41.

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schenziel, niemals aber Endziel des Prozesses sein kann.113 Deshalb ist an dieser Stelle eine abschließende Klärung wohl irrelevant, welcher Wahrheitsbegriff zugrunde gelegt wird. Abgestellt auf den idealen Strafprozess ist es wohl sinnvoll, einen absoluten Wahrheitsbegriff zugrunde zu legen.114 Dieser beschreibt das tatsächlich Geschehene, also die Wirklichkeit, von menschlicher Erkenntnis unabhängige Realität.115 Es gibt zahlreiche Prozesssituationen, in denen anderweitige Interessen der Wahrheitsermittlung entgegen stehen und daher auf diese verzichtet wird, wie beispielsweise Beweisverbote oder der Tod des Beschuldigten.116 So wurde auch im Fall Honecker entschieden, dass der Verfahrenszweck nicht erreicht werden könne, wenn der Angeklagte die Urteilsfällung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr erlebt.117 Dem liegt laut Murmann wohl zugrunde, dass die zwar zum Rechtsfrieden beitragende Verdachtsklärung zur Legitimation des Strafverfahrens nicht ausreicht, wenn keine Aussicht auf eine das Recht verwirklichende Entscheidung besteht.118 Fehlen die geforderten Verfahrensvoraussetzungen oder die richterliche Überzeugung, so steht fest, dass der Verfahrenszweck nicht erreichbar ist.119 Auch die Klärung der Unschuld im Strafprozess ist nicht vorgesehen und legitimiert keine hoheitlichen Eingriffe.120 Daher hat der Strafprozess weder eine rein dienende Funktion121 noch dient er allein der Wahrheitsermittlung. 2. Dominanz des Strafverfahrens Eine deutliche Aufwertung weg von der rein dienenden Funktion hat das Strafprozessrecht erstmals in den Theorien von Goldschmidt und Luhmann erfahren.122 Der Prozess erscheint nach der Theorie von Goldschmidt „als die übergeordnete 113 Krause, FS-Peters Einheit, S. 325 f.; Spendel, JuS 1964, 465, 466 f.; Volk, S. 193 Fn. 115; Krack, S. 41; Weigend, S. 178; Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 512; Rieß, FS-Schäfer, S. 170; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 50; Becker, FS-Fischer, S. 604; Krauß, FS-Schaffstein, S. 427. 114 Vgl. v. Hippel, Strafprozess, S. 6; Tiedemann, FS-Peters Wahrheit, S. 140; Krauß, FSSchaffstein, S. 411; wobei der absoute Wahrheitsbegriff ein Synonym für die materielle Wahrheit darstellt. 115 Volk, S. 193; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 44. 116 Krack, S. 41; vgl. Sowada, S. 110, der von wahrheitsfördernden und wahrheitshemmenden Zügen des Verfahrensrechts spricht. 117 BerlVerfGH, NJW 1993, 515. 118 Murmann, GA 2004, 65, 77; vgl. Krack, S. 41. 119 Murmann, GA 2004, 65, 77. 120 Murmann, GA 2004, 65, 77. 121 Sowada, S. 110; Theile S. 23; Schwabenbauer, S. 93; Rieß, FS-Schäfer, S. 171 meint, dass prinzipiell an der dienenden Funktion des Strafrechts festgehalten werden muss, allerdings nur im Sinne einer Grundorientierung am materiellen Strafrecht. 122 Vgl. Theile, S. 56 ff.; Börner, S. 30 ff.; Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 1 Einl. M Rn. 10.

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Macht (…), die nicht dem Rechte, sondern der das Recht unterworfen ist“.123 Luhmann hat die Ansätze von Goldschmidt in seiner Arbeit grundsätzlich übernommen, aber versucht, dies zu verschleiern.124 Die Anerkennung eines Urteils sei laut Luhmann nicht die Folge der sachlichen Richtigkeit dessen, sondern allein Folge des Verfahrens.125 Hierfür sei lediglich eine allgemeine Akzeptanz in der Bevölkerung nötig. Diese müsse sich darauf gründen, dass die Bevölkerung davon überzeugt ist, dass bei Gericht alles mit rechten Dingen zugehe und dass in „ernsthafter Bemühung Wahrheit und Recht“ ermittelt werde.126 Die normativen Entscheidungen des materiellen Rechts treten nach dieser Ansicht gegenüber den im Verfahren getroffenen Entscheidungen zurück.127 Die Autonomie des Verfahrens gegenüber einer richtigen und gerechten Entscheidung wäre allerdings nur damit zu erklären, dass dieses Ziel nicht mehr existiert.128 Darauf aufbauend wird häufig die Rechtssicherheit als Zweck des Verfahrens angesehen.129 Hierbei wird teilweise die Rechtskraft als Teil der Rechtssicherheit besonders betont.130 Die Gerichte müssen demnach Rechtskraft um jeden Preis anstreben und dürfen sich nicht von Ungewissheit über die Entscheidung hindern lassen.131 Radbruch begründet dies damit, dass Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit zwar ebenfalls Bestandteil der Rechtsidee seien. Es sei aber wichtiger, dass dem Streit zweier Rechtansichten ein Ende gesetzt wird, als dass ihm ein gerechtes und zweckmäßiges Ende gesetzt wird.132 Das Dasein einer Rechtsordnung sei demnach wichtiger, als ihre Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit und die obersten Ziele seien Ordnung und Frieden.133 Folgt man der Ansicht, dass oberstes Prozessziel das Erreichen von Rechtssicherheit ist, so würde dies in den meisten Verfahren nicht erreicht. Rechtssicherheit wird oft mit Rechtskraft gleichgesetzt.134 Es wäre alleiniges Ziel des Strafprozesses,

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Goldschmidt, S. 246. Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 1 Einl. M Rn. 30. 125 Luhmann, S. 123. 126 Luhmann, S. 123. 127 Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 1 Einl. M Rn. 10. 128 Neumann, ZStW 1989, 52, 72. 129 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 168 – 173; Lampe, GA 1968, 33, 48; Goldschmidt, S. 151. 130 Lampe, GA 1968, 33, 48 sieht die Rechtskraft als einziges aus der Prozessordnung begründbares Ziel Schmidt, Lehrkommentar StPO, Bd. 1 Nr. 283 nimmt jedenfalls an, dass die Rechtskraft der Rechtssicherheit dient. 131 Lampe, GA 1968, 33, 48; a. A. Niese, S. 111, 123 f. sieht einen klaren Vorrang der Gerechtigkeit vor Rechtssicherheit und Rechtskraft, er setzt Rechtsfrieden und Rechtskraft gewissermaßen gleich vgl. Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 517. 132 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 168 f.; a. A. Niese, S. 111, 123 f. 133 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 169. 134 Vgl. Lampe, GA 1968, 33, 48. 124

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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ein bestandskräftiges, also in Rechtskraft erwachsenes Urteil zu erreichen.135 Unzählige Verfahren enden in einer Einstellung nach §§ 153 ff. StPO oder § 170 Abs. 2 StPO und nicht mit einem in Rechtskraft erwachsenen Urteil. Dass die Rechtskraft der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden dient, kann aber nur für von der Allgemeinheit als „richtig“ empfunden Urteile gelten. Zutreffend ist, dass die Rechtskraft mit der Rechtssicherheit eng verbunden ist und diese ihrerseits Voraussetzung für den Rechtsfrieden ist.136 Wenn man unter „Rechtssicherheit“ versteht, dass auch ein ungerechtes Urteil als verbindlich hingenommen werden muss, wäre „Unrechtssicherheit“ wohl der passendere Ausdruck.137 Sieht man die Rechtssicherheit als oberstes oder sogar einziges Prozessziel, so würden auch ungerechte Urteile oder sogar klassische „Unrechtsurteile“ beispielsweise in der DDR von diesem umfasst und wären anhand dessen erklärbar. Die Spannung zwischen materieller Richtigkeit und prozessualer Realisierung ist letztlich nicht auflösbar.138 Ziel des Gesamtstrafrechts kann nicht allein die Rechtssicherheit sein. Diese kann daher allenfalls einer unter mehreren Aspekten sein, deren Verhältnis zu den sonstigen Komponenten im Einzelfall bestimmt werden muss. 3. Gleichrangigkeit von materiellem Strafrecht und Strafverfahren Die Theorie zur Gleichrangigkeit von Strafrecht und Strafprozessrecht geht davon aus, dass es sich beim Strafprozessrecht und Strafrecht um zwei verschiedene Materien handele, die gleichrangig nebeneinander stehen.139 Strafrecht und Strafverfahren dienen einem einheitlichen Zweck, der sich nur durch das Zusammenspiel beider Materien erreichen lasse.140 Normsetzung und Sanktionsandrohung auf der einen Seite und Durchführung des Verfahrens auf der anderen Seite müssen ineinandergreifen, um das übergeordnete Ziel des Gesamtstrafrechts zu erreichen.141 Diese Ansicht ist überzeugend. Nur diese Ansicht ist geeignet, die Wechselwirkungen zwischen Strafrecht und Strafprozessrecht zu erklären.142 Auch im Hinblick auf das Ziel des Strafprozesses erscheint es sinnvoll, hier ein Gesamtziel von Strafrecht und Strafverfahrensrecht zu definieren, anstatt anzunehmen, dass beide Materien eigene Ziele verfolgen. Ausgehend von der Gleichwertigkeit von Strafrecht und Strafverfahren wurden verschiedene Theorien entwickelt. 135

Goldschmidt, S. 151; vgl. v. Hippel, ZZP 1952, 424, 436 f. Krack, S. 43; Stock, FS-Mezger, S. 452 Fn. 1; Schmidt, Lehrkommentar StPO, Bd. 1 Nr. 283. 137 Stock, FS-Mezger, S. 451 Fn. 1; Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 515. 138 Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 1 Einl. M Rn. 30. 139 Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 1 Einl. M Rn. 8; Lüderssen, ZStW 1973, 282, 319; Sowada, S. 109 f.; vgl. Jung, ZStR 2012, 39, 43 f.; Neumann, ZStW 1989, 52, 73 bezeichnet die Verzahnung von materiellem Recht und Verfahrensrecht als „eleganteste Lösung“. 140 Krack, S. 32; Volk, S. 48, 170; Schwabenbauer, S. 93 f.; vgl. Walter, S. 163. 141 Krack, S. 32; Volk, S. 170. 142 Vgl. Sowada, S. 110. 136

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

a) Rechtsfrieden Eine im Vordringen befindliche Ansicht143 sieht als oberstes Ziel des Strafverfahrens, teilweise in Einheit mit dem materiellen Strafrecht,144 die Herstellung von Rechtsfrieden an.Dabei wird häufig ausgeführt, dass der Rechtsfrieden zwar oberstes Prozessziel sei, allerdings auch Mittel oder Zwischenziele existieren.145 Dabei bezeichnet Krack den Rechtsgüterschutz als übergeordnetes Zwischenziel zur Erreichung des Rechtsfriedens,146 wobei auch noch weitere untergeordnete Zwischenziele existieren. Rechtsfrieden stellt nach dieser Ansicht einen normativen Begriff dar und meint einen Zustand, bei dem sich die Rechtsgemeinschaft vernünftigerweise beruhigen kann.147 Dabei wird abstrakt auf die Maßstäbe und Werte der jeweiligen Gesellschaft abgestellt, nicht aber auf die tatsächliche Herstellung von Rechtsfrieden.148 Diese Maßstäbe seien wandelbar und hängen von der Werteordnung der jeweiligen Gesellschaft ab.149 Die Erhaltung des Rechtsfriedens sei Aufgabe der gesamten Rechtsordnung und muss damit auch Ziel des Strafverfahrens sein.150 Allerdings muss der Herstellung von Rechtsfrieden zumindest zeitlich eine Verdachtsklärung vorausgehen.151 aa) Theorie von Krack Krack führt weiter aus, dass unterhalb der Ebene des Rechtsgüterschutzes vor allem die Präventionsinstrumente im Zusammenhang mit den Lehren zu den Strafzwecken eine Rolle spielen.152 Das Strafrecht wolle durch ein erziehendes (positive Generalprävention) und ein abschreckendes Moment (negative Generalprävention) eine möglichst lückenlose Normbefolgung erzielen.153 Der Beitrag des Strafrechts liege ausschließlich in der Abschreckung durch Androhung der Strafe.154 Der Strafprozess habe sowohl einen abschreckenden Effekt, sofern er in einer 143

Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 516 ff.; Kühl, S. 74; Rieß, JR 2006, 269, 270 f.; Krack, S. 46; Weigend, S. 215 – 219; Volk, S. 200 – 203; Sowada, S. 111. 144 Murmann, GA 2004, 65, 71; Krack, S. 32, 46; Volk, S. 183, 201; Rieß, JR 2006, 269, 271; vgl. Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 521; Krauß, FS-Schaffstein, S. 423 sieht den Zweck des Strafrechts sowie des Strafprozessrechts als identisch an; a. A. Weigend, S. 215. 145 Volk, S. 195; Krack, S. 35 f., 46; vgl. Weigend, S. 184, 217; Rieß, JR 2006, 269, 271; Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 523. 146 Krack, S. 35 – 37. 147 Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 521; Rieß, JR 2006, 269, 271; Volk, S. 201; Kühl, S. 74; Krack, S. 33, 46 definiert Rechtsfrieden als Fehlen der Beunruhigung, der Rechtsfrieden kann damit nur durch Erwartung des Ausbleibens von Rechtsgutsverletzungen erreicht werden. 148 Rieß, JR 2006, 269, 271. 149 Rieß, JR 2006, 269, 271; Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 521; vgl. Volk, S. 201. 150 Rieß, JR 2006, 269, 271; Weigend, S. 217; vgl. Murmann, GA 2004, 65, 77. 151 Rieß, JR 2006, 269, 271; Weigend, S. 217; vgl. Murmann, GA 2004, 65, 77. 152 Krack, S. 37. 153 Krack, S. 38. 154 Krack, S. 38.

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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Verurteilung endet, als auch einen erzieherischen Effekt. Wenn der Prozess in einer Verurteilung endet, so werde durch die Verhängung der Strafe die Geltung der Norm bestärkt.155 Für den erzieherischen Effekt sei allerdings nicht nur der Verfahrensausgang entscheidend, sondern auch der Ablauf des Verfahrens.156 Die Normakzeptanz könne demnach nur hergestellt werden, wenn der Verfahrensablauf ordnungsgemäß war. Voraussetzungen, seien das Finden der Wahrheit, Gerechtigkeit sowie ein fairer Prozess und die Einhaltung der Rechte des Beschuldigten.157 bb) Theorie von Rieß Auch Rieß sieht die Herstellung von Rechtsfrieden als oberstes Ziel des Strafverfahrens an.158 Die Herstellung von Rechtsfrieden sei laut Rieß das Ziel der gesamten Rechtsordnung. Bedingung für die Herstellung von Rechtsfrieden sei aber eine an den Gerechtigkeitsvorstellungen orientierte Wahrheitsfindung, den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechende Realisierung des materiellen Strafrechts.159 Dabei müsse die Verteidigung des Beschuldigten ausreichend gewährleistet und die Schutzbedürftigkeit weiterer Prozessteilnehmer bedacht werden.160 Dabei erkennt Rieß dass Konflikte zwischen den einzelnen Verfahrenszielen nicht vermeidbar seien und im Wege praktischer Konkordanz im Einzelfall aufgelöst werden müssen. Eine stringente Lösung von Einzelfragen könne eine Verfahrenszielbestimmung demnach nicht leisten.161 Zum Rechtsfrieden gehört nach Rieß auch die Rechtssicherheit, diese erschöpft sich aber nicht darin.162 cc) Theorie von Murmann Nach Murmann seien entscheidende Ziele des Strafprozesses Gerechtigkeit und Rechtsfrieden.163 Unter Gerechtigkeit dürfe aber nicht allein die Durchsetzung des materiellen Strafrechts verstanden werden.164 Problematisch sei, dass das Verfahren trotz Zurückweisung der dienenden Funktion nicht Selbstzweck sein dürfe. Die Verfolgung im Strafprozess sei demnach in der Rechtsperson selbst begründet.165 Zur Begründung greift Murmann auf die Straftheorie Köhlers’ zurück.166 Köhler sieht das 155

Krack, S. 38. Krack, S. 38 f. 157 Krack, S. 40 – 46; Kühl, S. 74; Rieß, JR 2006, 269, 271; Rieß, FS-Schäfer, S. 170; vgl. Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 523; Volk, S. 195; Krauß, FS-Schaffstein, S. 423. 158 Rieß, JR 2006, 269, 270; Rieß, FS-Schäfer, S. 170. 159 Rieß, JR 2006, 269, 271. 160 Rieß, JR 2006, 269, 271; Rieß, FS-Schäfer, S. 171. 161 Rieß, JR 2006, 269, 271. 162 Rieß, JR 2006, 269, 271. 163 Murmann, GA 2004, 65, 68 f. 164 Murmann, GA 2004, 65, 68 f. 165 Murmann, GA 2004, 65, 70. 166 Murmann, GA 2004, 65, 70 f. 156

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

Recht als gegenseitiges Anerkennungsverhältnis zwischen zwei Vernunftspersonen.167 Die Verletzlichkeit des Rechts erkläre sich daraus, dass der Einzelne für das Recht konstitutiv sei. Der Einzelne bestätige die Rechtsgeltung in seinem Umgang mit anderen. Der Täter negiere sich als Subjekt des von ihm mitkonstituierten Rechtsverhältnisses und damit negiere er das Rechtsverhältnis selbst.168 Dem Strafrecht in seiner Gesamtheit, also materiellem Strafrecht sowie Strafverfahrensrecht komme laut Murmann die Aufgabe zu, das verletzte Recht durch Negation des abweichenden Geltungsanspruchs wiederherzustellen.169 Der Geltungsanspruch, mit dem die Unrechtsmaxime des Täters auftritt, werde durch Bestrafung aufgehoben.170 Durch die Charakterisierung des Strafrechts als Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses werde deutlich, dass nicht allein die Verfahrenszwecke Gerechtigkeit und Rechtssicherheit die spezifischen Leistungen des Strafrechts darstellen.171 Trotzdem müsse laut Murmann zwischen den spezifischen Zwecken von Strafrecht und Strafverfahrensrecht unterschieden werden.172 Der Strafprozess müsse notwendigerweise in Ergänzung zum materiellen Strafrecht stehen, wobei beide auf den Zweck der Rechtsverwirklichung hin geordnet seien.173 Das materielle Strafrecht lege unter allen denkbaren Rechtsverletzungen diejenigen fest, die einer Reaktion bedürfen. Die Reaktionen auf derartige Verletzungen werden anschließend verbindlich festgelegt.174 Die Legitimität dieser Leistung werde dabei durch die Straftheorien bestimmt.175 Diese Strafen seien aber nur auf wirklich begangene rechtswidrige und schuldhafte Taten bezogen. Eine Unsicherheit darüber, ob die Tat wirklich begangen wurde, sei im materiellen Strafrecht nicht vorgesehen.176 Das materielle Strafrecht enthalte keine Instrumentarien über die Rekonstruktion des Geschehens.177 Auch im Bereich des anzuwendenden Rechts bleibe trotz weitreichender Vorgaben Unsicherheit. Das materielle Strafrecht könne durch das Festlegen von Tatbestand und Rechtsfolge nur eine Vielfalt konkretisierungsbedürftiger normativer Vorgaben treffen, die im Einzelfall auslegungsbedürftig bleiben.178 Die Leistung des Strafverfahrens liege daher laut Murmann darin, auf der Basis von Unsicherheit eine verbindliche Entscheidung über einen möglichen

167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178

Köhler, Strafrecht AT, S. 48. Köhler, Strafrecht AT, S. 48. Murmann, GA 2004, 65, 71; vgl. Köhler, Strafrecht AT, S. 49. Murmann, GA 2004, 65, 71. Murmann, GA 2004, 65, 71. Murmann, GA 2004, 65, 71. Murmann, GA 2004, 65, 71. Murmann, GA 2004, 65, 72. Vgl. zu den Straftheorien Jahn/Schmitt-Leonardy, FS-Kreuzer, S. 265 ff. Murmann, GA 2004, 65, 72. Murmann, GA 2004, 65, 72. Murmann, GA 2004, 65, 72 f.

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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Rechtsbruch zu treffen.179 Hier komme die Einsicht zur Geltung, dass die Wiederherstellung des Rechtsverhältnisses nicht allein durch gedanklichen Zusammenhang von Rechtsverletzung und staatlicher Reaktion geleistet werden kann, sondern nur durch den Schuldspruch als verbindliche Maßnahme.180 b) Kombinationstheorien Daneben existieren die sogenannten Kombinationstheorien, die mehrere Ziele gleichwertig nebeneinander stellen.181 Dabei wird erkannt, dass die Ziele in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und sich einige der Ziele sogar gegenseitig ausschließen. Die Auflösung dieses Spannungsverhältnisses müsse im Wege einer, der praktischen Konkordanz gleichenden, Abwägung erfolgen. Jescheck sieht als oberste Prozessziele die Justizgewährungspflicht des Staates, sowie die Wahrheit und die Gerechtigkeit an. Als weitere Ziele nennt er Rechtssicherheit, den Schutz des Beschuldigten und seine bestmögliche Resozialisierung.182 Roxin nennt als Ziele des Strafprozesses eine „materiell richtige (1), prozessordnungsgemäß zustande kommende (2), Rechtsfrieden schaffende (3) Entscheidung“.183 Heger/Pohlreich stellen ebenfalls verschiedene Verfahrensziele nebeneinander. Formal solle das Strafverfahren der Durchsetzung des materiellen Strafrechts dienen.184 Das Strafverfahren sei demnach Instrument zur Lösung eines Rechtskonflikts, der in der Straftat seinen Ausgang genommen habe.185 Auf materieller Ebene diene der Strafprozess der Durchsetzung von drei Zielen. Dabei werden die Herstellung von Gerechtigkeit durch Schuldausgleich (1),186 die Feststellung der Wahrheit (2)187 und die Rechtsbeständigkeit (3)188 genannt. Diese Punkte stehen in einem Zielkonflikt, den das Strafverfahrensrecht auflösen müsse. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers diese Ziele in Konkordanz zu bringen.189 Volk/Engländer nennen als die drei Ziele des Strafprozesses Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden.190 Dabei erkennen sie, dass die drei Elemente des Straf179

Murmann, GA 2004, 65, 75. Murmann, GA 2004, 65, 76. 181 Jescheck, JZ 1970, 201, 204; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 3; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 14; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 3 – 7; Volk/Engländer, StPO, § 3 Rn. 1; Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 29 – 33. 182 Jescheck, JZ 1970, 201, 204. 183 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 3. 184 Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 14. 185 Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 16. 186 Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 17 f. 187 Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 19 ff. 188 Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 22 f. 189 Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 24. 190 Volk/Engländer, StPO, § 3 Rn. 1. 180

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

verfahrens nicht immer in Einklang zu bringen sind, zwei Elemente von Gewicht genügen demnach aber, um das Urteil zu halten.191 Diese drei Interessen müssen in einem „justizförmigen“ Verfahren ausbalanciert werden. Dies bremse zwar häufig die Strafverfolgung, dürfe sie aber nicht blockieren, da auch die Effektivität der Strafrechtspflege aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet werde.192 Auch Beulke stellt mehrere Ziele im Strafverfahren nebeneinander, die im Einzelfall sogar unvereinbar sein können und gegeneinander abzuwägen seien. Eine Hauptaufgabe des Strafverfahrens sieht Beulke in der Feststellung und Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Voraussetzung hierfür sei eine materiell-richtige und gerechte Entscheidung, sodass Wahrheit und Gerechtigkeit Leitprinzipien des Strafverfahrens seien.193 Zweite Aufgabe sei die Gewährung eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Das prozessordnungsgemäße Zustandekommen der Entscheidung steht dabei laut Beulke gleichwertig neben der effektiven Strafverfolgung.194 Die letzte Aufgabe sei die Schaffung von Rechtsfrieden, insbesondere durch Rechtskraft.195 4. Stellungnahme Aufgrund der Schwerpunktsetzung dieser Arbeit, soll hier keine abschließende Entscheidung über den Zweck des Strafprozesses getroffen werden. Allerdings muss zur Klärung der Frage, ob die Verständigung ein Fremdkörper im deutschen Strafprozess ist, jedenfalls eine Theorie zugrunde gelegt werden. Die Theorien, die den Rechtsfrieden als Ziel des Gesamtstrafrechts ansehen, enthalten gute Ansätze. Natürlich gibt es zusätzlich spezifische Ziele sowohl des Strafverfahrens, als auch des materiellen Strafrechts. Diese sind allerdings Voraussetzung zur Erreichung des Rechtsfriedens durch das Gesamtstrafrecht. Zum einen ist das gesamte Recht auf die Herstellung von Rechtsfrieden ausgerichtet.196 So erscheint es naheliegend, dass auch das Gesamtstrafrecht und der Strafprozess diesem übergeordneten Zweck dienen. Außerdem müssen zur Herstellung des Rechtsfriedens bestimmte Anforderungen an den Strafprozess gestellt werden, sodass auch die sonstigen Komponenten wie Wahrheit und Gerechtigkeit Berücksichtigung finden.197 Eine besonders gute Balance finden die Theorien von Krack und Murmann. Krack hebt als oberstes Zwischenziel zur Erreichung des Rechtsfriedens den Rechtsgü191

Volk/Engländer, StPO, § 3 Rn. 1. Volk/Engländer, StPO, § 3 Rn. 5. 193 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 3. 194 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 5. 195 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 6 f. 196 Rieß, JR 2006, 269, 271; Krack, S. 46 sieht darin jedenfalls den Endzweck des gesamten Kriminalrechts. 197 Krack, S. 46; Weigend, S. 217; Rieß, JR 2006, 269, 271; Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 523. 192

A. Grundlagen und Zielsetzungen im deutschen Strafprozess

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terschutz hervor.198 Nur wenn die Bürger Vertrauen in den Schutz und die Unversehrtheit ihrer Rechtsgüter haben, kann Rechtsfrieden eintreten. Außerdem formuliert Krack weitere untergeordnete Zwischenziele, die zur Erreichung des übergeordneten Zwischenziels, sowie des Endziels erforderlich sind.199 Die Zwischenziele müssen, ähnlich einer praktischen Konkordanz, miteinander abgewogen werden, wobei eindeutig eine Orientierung am übergeordneten Ziel des Rechtsfriedens notwendig ist. Die Verknüpfung mit dem Strafrecht erfolgt zum einen aus dem allgemeinen Kontext, indem die gesamte Rechtsordnung dem Rechtsfrieden dient und mithin auch das materielle Strafrecht. Zum anderen wird auf die Strafzwecktheorien der positiven und negativen Generalprävention Bezug genommen, die einheitlich durch das materielle Strafrecht sowie das Prozessrecht verwirklicht werden sollen.200 Auch Murmann sieht Strafrecht und Strafprozessrecht als einander ergänzend an. Ausgehend von Köhlers Verbrechensbegriff dienen Strafrecht und Strafprozessrecht gemeinschaftlich der Wiederherstellung des verletzten Rechtsverhältnisses.201 Das Strafverfahren hat dabei konkret die Aufgabe, die Unsicherheit durch die verbindliche Festlegung einer Rechtsfolge zu beseitigen.202 Er entwickelt seine Theorie ausgehend von Köhlers’ Strafzwecktheorie und damit ebenfalls im Zusammenhang mit dem materiellen Strafrecht.203 Beide Theorien unterscheiden sich im Wesentlichen anhand der Definition des Hauptziels. Während es sich bei Murmann um die Beseitigung der Unsicherheit handelt,204 stellt das Hauptziel bei Krack der Rechtsfrieden dar.205 Bei Murmann stellt der Rechtsfrieden allerdings ein untergeordnetes Ziel dar.206 Außerdem sind beide Theorien eng mit dem materiellen Strafrecht verwoben, ohne dem Strafprozessrecht eine dienende Funktion zuzumessen. Allerdings nimmt Krack eine Ergänzung von Erziehungs- und Abschreckungsfunktion an,207 während Murmann ausgerichtet an Köhlers Strafzwecktheorie allein von der positiven Generalprävention ausgeht.208 Auch hier bleibt, ähnlich wie bei den Kombinationstheorien, viel Abwägungsspielraum und damit Unsicherheit. Entscheidender Unterschied ist aber, dass bei den 198

Krack, S. 35 – 37. Krack, S. 40 – 46; ebenso: Kühl, S. 74; Rieß, JR 2006, 269, 271; Rieß, FS-Schäfer, S. 170; Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 523; vgl. Volk, S. 195. 200 Vgl. Krack, S. 38. 201 Murmann, GA 2004, 65, 71. 202 Murmann, GA 2004, 65, 75. 203 Vgl. Murmann, GA 2004, 65, 70 f. 204 Murmann, GA 2004, 65, 75. 205 Krack, S. 46. 206 Murmann, GA 2004, 65, 78. 207 Krack, S. 38. 208 Vgl. Köhler, Strafrecht AT, S. 48. 199

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

Kombinationstheorien in der Regel mehrere gleichwertige Ziele existieren,209 was zu erheblichen Unsicherheiten im Rahmen der Auslegung führt, während im Rahmen von Kracks und Murmanns Theorien alle Ziele an einem Hauptziel ausgerichtet werden müssen.210 Daher ist den Theorien, die den Rechtsfrieden in den Vordergrund rücken gegenüber den Kombinationstheorien der Vorzug zu gewähren. Am überzeugendsten sind nach den vorausgehenden Darstellungen die Theorien von Krack und Murmann. Beide Theorien definieren ein übergeordnetes Ziel des Gesamtstrafrechts, an dem sich die untergeordneten Ziele auszurichten haben. Außerdem stellen beide Theorien sowohl eine Verbindung zum materiellen Strafrecht als auch zu den Strafzwecktheorien her. Beide Theorien geben zutreffend dem materiellen Strafrecht sowie dem Strafprozessrecht ein einheitliches Ziel. Dies ist auch im Hinblick auf die historische Entwicklung gut vertretbar, weil materielles Strafrecht und Strafprozessrecht früher einheitlich kodifiziert waren.211 Die Herstellung von Rechtsfrieden hat den Nachteil, dass die Anforderungen an den jeweiligen Prozess wandelbar sind und von den jeweiligen Wertvorstellungen in der Gesellschaft abhängen.212 Allerdings hat die Theorie von Krack der Theorie von Murmann voraus, dass sie sich besser in das Gesamtgefüge des Rechts einfügt, das in seiner Gesamtheit die Herstellung von Rechtsfrieden gewährleisten soll.213 Überdies handelt es sich bei der Ansicht von Krack, die den Rechtsfrieden in den Vordergrund rückt, in Teilen um eine Ansicht, die ähnlich in der modernen Literatur von zahlreichen Autoren214 vertreten wird. Bei Murmann handelt es sich zudem um einen der schärfsten Kritiker der Absprachen im Strafprozess.215 Einem Abgleich mit der Theorie Murmanns könnte daher der Vorwurf gemacht werden, dass die Betrachtung der Vereinbarkeit von Verständigung und den Zielen des Strafprozesses von vornherein nicht neutral war. In dieser Arbeit wird deshalb mit Krack davon ausgegangen, dass das oberste Ziel des Gesamtstrafrechts der Rechtsfrieden ist.

209 Jescheck, JZ 1970, 201, 204; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 3; Heger/Pohlreich, Strafprozessrecht, Rn. 14; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 3 – 7; Volk/Engländer, StPO, § 3 Rn. 1; Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 29 – 33. 210 Vgl. Krack, S. 46; Murmann, GA 2004, 65, 78. 211 Vgl. Ignor, S. 42; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 15; Hirte/Hübsch, JA 2009, 606, 610. 212 Rieß, JR 2006, 269, 271; Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 521 f.; vgl. Volk, S. 201. 213 Rieß, JR 2006, 269, 271. 214 Schmidhäuser, FS-Schmidt, S. 516 ff.; Kühl, S. 74; Rieß, JR 2006, 269, 270 f.; Krack, S. 46; Weigend, S. 215 – 219; Volk, S. 200 – 203. 215 Murmann, ZIS 2009, 526, 538; Murmann, FS-Roxin, S. 1401; Murmann, in: Strafverteidigervereinigungen, Wahrheitssuche, S. 81 f., 91.

B. Spannungsverhältnis Verständigung und deutscher Strafprozess

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B. Spannungsverhältnis Verständigung und deutscher Strafprozess Zum Einstieg in die Materie wird aufgeführt, inwiefern die Gründe, die für eine Verständigung sprechen, in einem Spannungsverhältnis zum System des deutschen Strafprozesses stehen. I. Gründe für eine Verständigung Bei den Zielen des Strafprozesses wird zwischen prozessinternen und prozessexternen Zielen unterschieden. Prozessinterne Ziele meint dabei den soeben beschriebenen Zweck des Strafprozesses.216 Die Absprachen verfolgen prozessexterne, also sonstige Ziele. Die Verständigung soll eine funktionstüchtige Strafrechtspflege gewährleisten, die aufgrund der hohen Arbeitsbelastung gefährdet scheint.217 Außerdem dient die Verständigung dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Beschleunigungsgebot aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG, sowie Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK.218 Weiterhin fördert die Verständigung die Prozessökonomie sowie die Konzentrationsmaxime,219 wobei beide Aspekte eng mit dem Beschleunigungsgrundsatz verbunden sind.220 Der Topos der funktionstüchtigen Strafrechtspflege wurde oben221 bereits aufgegriffen. Nach dem oben Gesagten verwundert es nicht, dass dieser Topos, der seit jeher für die Aufweichung der Beschuldigtenrechte genutzt wird, auch für die „Rechtfertigung“ der Verständigung eine Rolle spielt. Als weitere Vorteile für die Justiz führt Schünemann eine „äußere Arbeitsentlastung“ durch geringere Leistungsanforderungen, eine „innere Arbeitsentlastung“ durch die Befreiung vom Druck einer streitigen Entscheidung sowie eine „kontrollbezogene Arbeitserleichterung“ durch den standardmäßig vereinbarten

216

Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 29. BT-Drucks. 16/12310, S. 7; so auch Göttgen, S. 34 f.; Tscherwinka, S. 21; Krause, S. 30; vgl. für die Überlastung der Justiz, die wohl der Hauptgrund für die Entstehung der Praxis informeller Verständigung war Nahrwold, S. 25; Hildebrandt, S. 43; Engländer, in: Paal/ Poelzig, Effizienz, S. 29; Arenhövel, DRiZ 2012, 370; Laliashvili, S. 22 f. führt die Überlastung der Justiz als Hauptgrund für die Verständigungspraxis an; Müller, S. 48 führt auf Seiten der Gerichte ebenfalls die Überlastung an, die aus Personalmangel und der Gefahr überlanger Verfahren resultiert; Bogner, S. 4 spricht von einer „notstandsähnlichen Überlastung“ der Gerichte; ähnlich Rönnau, S. 42; Gerlach, S. 21; Siolek, S. 56. 218 Göttgen, S. 35; Tscherwinka, S. 23 ff.; Krause, S. 31; Engländer, in: Paal/Poelzig, Effizienz, S. 33; Cramer, FS-Rebmann, S. 145; vgl. Schmidt-Hieber, Rn. 14 f.; Siolek, S. 62 f. 219 Göttgen, S. 36 f.; Rönnau, S. 42. 220 Göttgen, S. 36 f.; vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 7 der die größte Motivation der Verfahrensbeteiligten auf Seiten der Justiz in der schnellen Verfahrensbeendigung sieht. 221 Siehe oben unter 1. Kapitel C. II. 4. b) bb) (1). 217

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2. Kap. § 1 Einordnung der Verständigung in das deutsche Strafverfahren

Rechtsmittelverzicht, an.222 Für den Angeklagten bestehe das größte Interesse in einer Strafmilderung.223 Allerdings darf der Strafrabatt im Rahmen der Verständigung nicht höher sein, als der bei einem normalen Geständnis,224 weil gemäß § 257c Abs. 3 StPO die allgemeinen Strafzumessungsregeln anzuwenden sind. Es erscheint deshalb sinnvoller, den Vorteil für den Angeklagten in der Gewissheit über das Urteil zu erblicken.225 II. Spannungsverhältnis mit den Zielen des Strafprozesses Gleicht man dies mit den Zwecken des Strafprozesses, sowie den beeinträchtigten Prozessmaximen ab, so ist offensichtlich, dass hier ein Spannungsverhältnis besteht. Dieses Spannungsverhältnis ist im Wege einer praktischen Konkordanz aufzulösen.226 Weder mit der Klärung des Tatverdachtes noch mit der Herstellung des Rechtsfriedens sind die Absprachen ohne weiteres in Einklang zu bringen.227 Die Verständigung dient gerade nicht den prozessinternen Zielen. Um eine funktionierende Strafrechtspflege weiter zu gewährleisten, wird auf eine umfassende Sachverhaltsaufklärung verzichtet. Dies soll das Verfahren beschleunigen und so zur Entlastung der Justiz beitragen. Allerdings ist Voraussetzung für die Herstellung von Rechtsfrieden auch eine umfassende Sachverhaltsaufklärung. Dies fordert insbesondere der Aspekt der positiven Generalprävention. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung kann nur durch ein gerechtes Urteil bestärkt werden, wobei dafür wiederum die Wahrheitsfindung eine Voraussetzung ist. Eine abschließende Klärung, ob der Zweck eines Strafverfahrens mit den Absprachen vereinbar ist, kann erst am Ende dieses Kapitels erfolgen. Insbesondere ist zu klären, ob die beeinträchtigten Prozessmaximen im Wege einer praktischen Konkordanz mit der Verständigung in 222 Schünemann, Gutachten, S. 32; vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 7; Laliashvili, S. 32; Tscherwinka, S. 26, wobei der vereinbarte Rechtsmittelverzicht nach neuer Rechtslage stets unzulässig ist § 302 Abs. 1 S. 2 StPO; Bockemühl, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV u. a., 2. Dreiländerforum, S. 203 f. führt auch für den Verteidiger die Arbeitsentlastung im Rahmen einer Verständigung als Grund an und sieht dies im Hinblick auf die Wahrung der Beschuldigtenrechte zutreffend kritisch. 223 Nahrwold, S. 27; Laliashvili, S. 33; Tscherwinka, S. 33 f.; vgl. Murmann, FS-Roxin, S. 1386. 224 Vgl. Krause, S. 86; Cramer, FS-Rebmann, S. 148, der eine strafmildernde Berücksichtigung des Geständnisses annimmt, egal aus welchen Beweggründen es abgegeben wird; a. A. KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 40 (Stand: November 2009), der die allgemeinen Strafzumessungserwägungen für nicht anwendbar auf die Verständigung hält, da diese immer Gegenstand einer Verständigung sind. 225 Bockemühl, in: Strafverteidigervereinigungen, Rechtsstaat, S. 56. 226 Göttgen, S. 37 ff. 227 Kritisch: Siolek, S. 64 f.; vgl. für die Annahme einer rechtsfriedensstiftenden bzw. Geimeinschaftsfrieden stiftenden Funktion der Absprache: Cramer, FS-Rebmann, S. 148; Widmaier, StV 1986, 357, 359; Weigend, JZ 1990, 774, 780; Tscherwinka, S. 28; Bogner, S. 6.

B. Spannungsverhältnis Verständigung und deutscher Strafprozess

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Einklang gebracht werden können. Bei einem objektiven Betrachter könnte nach dem oben Gesagten aber schon jetzt der Eindruck entstehen, dass im Strafprozess die wirklich wesentlichen Punkte aus den Augen verloren wurden. III. Spannungsverhältnis Konsens und inquisitorisches Modell Ein wesentliches Element der Verständigung ist das „Entgegenkommen“. Der Beschuldigte kommt dem Richter entgegen, indem er ein Geständnis ablegt und so zur Verfahrensabkürzung beiträgt. Der Richter kommt dem Beschuldigten entgegen, indem er ihm zum einen Gewissheit über den Strafrahmen verschafft und zum anderen die Strafe mildert. Ein solches Entgegenkommen ist in dem ursprünglichen inquisitorischen Modell nicht vorgesehen. Zwar wurde dieses inquisitorische Modell schon durch konsensuale Erledigungsvarianten „durchlöchert“, die ebenfalls teilweise auf die Wahrheitsfindung oder sogar auf die Strafverfolgung verzichten. Wie oben228 bereits geklärt, lässt das aber nicht auf die Zulässigkeit der Verständigung schließen. Das inquisitorische Modell ist allein auf die Findung der Wahrheit ausgerichtet, während im Rahmen der Verständigung zumindest teilweise auf die Wahrheitsfindung verzichtet wird, um dem Beschleunigungsgrundsatz den Vorrang einzuräumen. Ob dies vertretbar ist, muss für jedes Rechtsinstitut einzeln bestimmt werden.

228

Siehe 1. Kapitel B.

§ 2 Vereinbarkeit der Verständigung mit verfassungsrechtlichen und verfahrensrechtlichen Grundsätzen Die Verständigung im Strafverfahren ist zumindest im Rahmen des § 257c StPO als zulässig anerkannt und in den Gerichtssälen „üblich“. Daher könnte eine Untersuchung der Rechtmäßigkeit dieses Gesetzes überflüssig sein. Allerdings hat schon Paeffgen betont, dass „die allgemeine Üblichkeit nicht von der Pflicht entbindet, deren Ursachen nachzugehen“.1 Daher wird zunächst zu den verfassungsrechtlichen Bedenken Stellung bezogen und anschließend zu der Vereinbarkeit mit den Prinzipien der Strafprozessordnung. Dabei kann eine Differenzierung zwischen der Normebene und der Anwendungsebene notwendig sein, wenn sich diesbezüglich Unterschiede ergeben.

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen Zunächst werden entlang der Normenhierarchie die verfassungsrechtlichen Bedenken beleuchtet. Problematisch sind in diesem Kontext vor allem die Justizgrundrechte, also die Gewährung richterlichen Gehörs und der Richtervorbehalt, verbunden mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter. Bei diesen grundrechtsgleichen Rechten handelt es sich um spezielle Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips.2 Zudem können sich im Rahmen der Verständigung Probleme hinsichtlich des Schuldprinzips sowie gleichheitsrechtliche Probleme ergeben. I. Richtervorbehalt Art 92 Hs. 1 GG besagt, dass die rechtsprechende Gewalt3 den Richtern anvertraut ist. Dabei handelt es sich nach seinem objektiven Regelungsgehalt um eine Kon1

Paeffgen, S. 13. Sachs, in: Sachs GG, Art. 20 Rn. 77; auch der „fair-trial“-Grundsatz ist eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, wird aber aufgrund seiner Subsidiarität sowie der Schwerpunktsetzung in dieser Arbeit unter 2. Kapitel § 3 behandelt. 3 Es ist in diesem Fall gleichgültig, welchen Begriff für die rechtsprechende Gewalt man anlegt (formal, materiell, funktionell), da es sich bei dem Strafrecht bzw. Strafprozessrecht unstrittig um einen Kernbereich der Rechtsprechung handelt, sodass hierauf nicht weiter eingegangen werden muss; vgl. zu den verschiedenen Begriffen Hillgruber, in: Maunz/Dürig GG, Art. 92 Rn. 31 – 38 (Stand: Dezember 2007). 2

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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kretisierung der Gewaltenteilung aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG.4 Diese Zuweisung begründet ein Rechtsprechungsmonopol der Gerichte.5 Außerdem wird die Rechtsprechung exklusiv staatlichen Richtern zugewiesen und die bundesstaatliche Verteilung der Justizhoheit in Art. 92 Hs. 2 GG geregelt.6 Zum zentralen Bestand dieses Rechtsprechungsmonopols gehört die Rechtsprechung in Strafsachen, sodass die Verhängung von Kriminalstrafen ausschließlich den Richtern obliegt.7 Zweifelhaft ist, ob der Art. 92 GG dem Bürger ein subjektiv-öffentliches Recht darauf zuspricht, das ihm gegenüber, gemäß dem objektiven Verfahrensgebot, nur durch den Richter praktiziert wird. Eine Ansicht sieht dieses Recht des Bürgers in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG begründet, dem eine vorgelagerte richterliche Entscheidung immanent ist.8 Eine andere Ansicht begründet ein subjektives Recht des Bürgers aus dem Rechtsstaatsprinzip Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 92 GG, der dem Bürger das Recht gibt, dass dem Richter nicht die Zuständigkeit für die ihm zugewiesene Streitentscheidung entzogen wird.9 Unabhängig davon, ob der Bürger ein subjektives Recht aus Art. 92 GG hat und darauf eine Verfassungsbeschwerde stützen kann, reicht die Verletzung des objektiv-rechtlichen Regelungsgehalts für diese Untersuchung aus. Kernthema ist nicht die Verletzung der Rechte des Bürgers durch die Verständigung, sondern das Einfügen der Verständigung in das geltende Rechtssystem. Ob der Bürger ein subjektives Recht aus Art. 92 GG hat, kann daher dahinstehen. Kernaussage des Art. 92 GG ist, dass die Rechtsprechung den Richtern überlassen ist und diese nicht auf die Verwaltung oder sonstige Exekutivorgane übertragen werden darf.10

4

BVerfGE 22, 49, 76; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG, Bd. 3 Art. 92 Rn. 17; Hillgruber, in: Maunz/Dürig GG, Art. 92 Rn. 13 (Stand: Dezember 2007). 5 Detterbeck, in: Sachs GG, Art. 92 Rn. 28; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke GG, Art. 92 Rn. 25. 6 Hillgruber, in: Maunz/Dürig GG, Art. 92 Rn. 14 f. (Stand: Dezember 2007); Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke GG, Art. 92 Rn. 1. 7 BVerfGE 8, 197, 207; BVerfGE 12, 264, 274; BVerfGE 22, 49, 73; BVerfGE 22, 125, 132 f.; BVerfGE 22, 311, 317. 8 BVerfGE 64, 261, 278; Hillgruber, in: Maunz/Dürig GG, Art. 92 Rn. 17 (Stand: Dezember 2007); Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 92 Rn. 5; Pieroth, in: Jarass/Pieroth15 GG, Art. 92 Rn. 1; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG, Bd. 3 Art. 92 Rn. 18; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke GG, Art. 92 Rn. 6. 9 Wassermann/AK-GG, Bd. 3 Art. 92 Rn. 40; BVerfGE 64, 261, 285, 294 (Sondervotum Mahrenholz). 10 BVerfGE 22, 49, 73; vgl. BVerfGE 20, 365, 369 f.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

1. Konflikt mit dem Richtervorbehalt aufgrund der „Mitbestimmung“ im Rahmen der Verständigung? Problematisch könnte in diesem Kontext vor allem sein, dass das Urteil nicht mehr allein das Ergebnis richterlicher Entscheidungsfindung ist,11 sondern anhand eines „Mitbestimmungsmodells“ zustande kommt.12 Der Richter gebe bei der Urteilsabsprache formal das „Zepter aus der Hand“.13 Der Staatsanwaltschaft sowie dem Angeklagten komme ein „Vetorecht“ zu.14 In diesem Kontext steht vor allem § 257c Abs. 3 S. 4 StPO in der Kritik, der die Zustimmung von Staatsanwaltschaft und Angeklagtem fordert. Außerdem wird der § 257c Abs. 4 StPO kritisiert, der nach seinem Wortlaut das Entfallen der Bindungswirkung der Verständigung regelt. Dadurch wird e contrario die Bindungswirkung der Verständigung in den sonstigen Fällen statuiert.15 Hauptkritikpunkte sind daher, dass das Gericht nicht mehr alleine entscheiden kann, weil Staatsanwaltschaft und Verteidigung durch ihr „Vetorecht“ das Zustandekommen einer Verständigung verhindern können. Außerdem wirken die Verfahrensbeteiligten gemeinsam auf eine Verständigung hin, sodass diese nicht alleine dem Richter obliegt. Zuletzt unterliegt das Gericht nach Abschluss der Verhandlungen der Bindungswirkung und kann daher nicht mehr frei über das Urteil entscheiden. 2. Meinungsstand Eine Mindermeinung sieht die Verständigung als mit dem Richtervorbehalt unvereinbar an.16 Sie stützt sich dabei vor allem darauf, dass den Verfahrensbeteiligten „Vetorechte“ zustünden, mit denen sie das Zustandekommen einer Verständigung verhindern können und das Urteil anhand eines „Mitbestimmungsmodells“ zustande

11 Viele Literaturstimmen zur Vereinbarkeit der „Absprachen“ mit dem Richtervorbehalt stammen aus der Zeit vor Einführung des Verständigungsgesetzes. In dieser Arbeit wird zwar die Vereinbarkeit der Rechtslage de lege lata mit verfassungs- und verfahrensrechtlichen Grundsätzen geprüft, allerdings hat sich im Hinblick auf das in diesem Kontext vorliegende Problem nichts geändert. Sowohl vor als auch nach Einführung des Verständigungsgesetzes ist die am Ende vorliegende „Verständigung“ ein „Gemeinschaftsprodukt“ der Verfahrensbeteiligten und könnte somit den Richtervorbehalt tangieren. Daher ergeben sich auch keine Unterschiede zwischen der Normebene und der Rechtsanwendungsebene. 12 Siolek, DRiZ 1989, 321, 326; Tscherwinka, S. 121; Müller, S. 87; Braun, S. 46; Gerlach, S. 95; Siolek, S. 167; vgl. Dencker/Hamm, S. 52. 13 Huttenlocher, Rn. 72; Heller, S. 25. 14 Dencker/Hamm, S. 52 f.; Siolek, S. 166; Huttenlocher, Rn. 72; Braun, S. 46; Müller, S. 87; Rönnau, S. 203; Gerlach, S. 95; Janke, S. 128. 15 BT-Drucks. 16/12310, S. 14; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 332. 16 Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 15; Dencker/Hamm, S. 52 f.; KMR/ v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 76 (Stand: November 2009); Siolek, S. 176; Siolek, DRiZ 1989, 321, 326; Heller, S. 25.

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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komme.17 Dies verstoße gegen den Grundsatz, dass der Richter allein über das Urteil entscheide.18 Außerdem schränke auch die Bindungswirkung den Richter unzulässig in seiner Entscheidungsfindung ein.19 Die herrschende Meinung in der Literatur sieht den Richtervorbehalt als mit der Verständigung vereinbar an.20 Das Gericht sei frei in seiner Entscheidung, ob es überhaupt Verständigungsgespräche aufnehmen will. Der Richter könne auch nach Abschluss der Verhandlungen über eine Verständigung frei entscheiden.21 Außerdem können weder Staatsanwaltschaft noch Verteidigung das Gericht in letzter Konsequenz daran hindern, auf Grund der Hauptverhandlung sowie der dort durchgeführten Beweisaufnahme ein Urteil zu fällen.22 Das Argument mit dem „Vetorecht“ schlage daher nicht durch. Das Zustimmungserfordernis der Staatsanwaltschaft ergebe sich vielmehr aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz und solle die Rechtmäßigkeit der Verständigung sicherstellen.23 Selbst wenn Absprachen Zusagen mit absolut bindender Wirkung beinhalten würden, wäre keine Abtretung von Rechtsprechungsbefugnissen erkennbar.24 Überdies sei die Bindungswirkung der Verständigung nicht absolut, das Gericht könne sich unter bestimmten Voraussetzungen von der Bindungswirkung lösen.25 Außerdem müsse auch ein Abspracheergebnis, welches in Form des „Mitbestimmungsmodells“ gefunden wurde, vom Richter in Form eines Urteils verkündet und auch begründet werden.26 Art. 92 GG sei auch auf das Zivilrecht anwendbar,27 wo das Verfahrensergebnis häufig durch einen Konsens in Form eines Vergleichs bestimmt werde.28 Der Konsens werde durch Art. 92 GG daher nicht ausgeschlossen. 17 Siolek, DRiZ 1989, 321, 326; vgl. Heller, S. 25; Dencker/Hamm, S. 52; KMR/ v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 76 (Stand: November 2009). 18 Dencker/Hamm, S. 52; vgl. Heller, S. 25. 19 Vgl. Heller, S. 25. 20 Schünemann, Gutachten, S. 146; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 332; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631; Jahn, StV 2011, 497, 499; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 357 f.; Tscherwinka, S. 121 f.; Hildebrandt, S. 56; Müller, S. 88; Seppi, S. 178; Nahrwold, S. 254 f.; Rönnau, S. 205; Gerlach, S. 96; Krause, S. 57; Janke, S. 128 f.; Braun, S. 46 f. differenziert zwischen Absprachen unter Beteiligung des Gerichts und Absprachen, an denen das Gericht nicht beteiligt ist. Verständigungen unter Beteiligung des Gerichts, wie sie bei § 257c StPO immer stattfinden, seien demnach unproblematisch zulässig. 21 Nahrwold, S. 254; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 357; Hildebrandt, S. 56; vgl. Müller, S. 87; Braun, S. 46. 22 Nahrwold, S. 255; Seppi, S. 178. 23 Jahn, StV 2011, 497, 499; Krause, S. 57. 24 Tscherwinka, S. 121; Krause, S. 57. 25 Krause, S. 57; Nahrwold, S. 255. 26 Tscherwinka, S. 121; Rönnau, S. 205; vgl. Jahn, StV 2011, 497, 500; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 357. 27 Tscherwinka, S. 121. 28 Vgl. § 278 ZPO.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Zudem sei auch im Normalverfahren die richterliche Urteilsfindung kein exklusiver Vorgang und durch die Interaktion der Beteiligten geprägt. Die richterliche Entscheidungsfindung sei ein dynamischer Vorgang, auf den die Verfahrensbeteiligten auch in der regulären Beweisaufnahme Einfluss nehmen können.29 Die aktive Mitwirkung der anderen Verfahrensbeteiligten im Rahmen der Verständigung sei daher für den Richtervorbehalt ebenfalls nicht schädlich. 3. Stellungnahme Ein Verstoß gegen den Richtervorbehalt aus Art. 92 GG durch das Verständigungsgesetz kann nicht angenommen werden. Der zweiten und herrschenden Ansicht ist daher zu folgen. Die Annahme, dass der Richter im Rahmen einer „normalen“ Beweisaufnahme alleine entscheidet und durch die Verfahrensbeteiligten nicht beeinflusst wird, ist nicht zutreffend. Sie passt eher zum Inquisitionsprozess der Carolina, in dem allein der Richter aufgrund der Beweislage entschied und die Beteiligten keinen Einfluss nehmen konnten. Im modernen Strafprozess haben die Beschuldigten bestimmte Mitwirkungsrechte, wie beispielsweise den Beweisantrag, sodass auch im Normalverfahren die Entscheidungsfindung durch die Verfahrensbeteiligten beeinflusst wird. Allein die „Mitwirkung“ oder „Mitbestimmung“ im Rahmen der Verständigungsgespräche ist daher für Art. 92 GG unschädlich, solange der Richter später autonom sein Urteil verkündet. Auch die Bindungswirkung einer Verständigung führt nicht zu einer Verletzung des Richtervorbehalts. Im Bezug auf die Bindungswirkung hat der Gesetzgeber mit § 257c Abs. 4 StPO ausreichende Vorkehrungen getroffen. Die Bindungswirkung wurde im Vergleich zur vorangegangenen Rechtsprechung sogar noch abgeschwächt.30 Der Richter kann sich quasi jederzeit von der Bindungswirkung lösen. Im Rahmen eines Verständigungsgesprächs gibt der Richter außerdem nur einen Strafrahmen an. Innerhalb dieses Strafrahmens kann der Richter frei entscheiden, sodass die Entscheidung weiterhin bei ihm liegt. Selbst wenn die Bindungswirkung im konkreten Fall besteht, so kann der Richter innerhalb des angegebenen Strafrahmens frei entscheiden. Das Richtermonopol ist daher nicht verletzt. 29

Müller, S. 88; Krause, S. 57. Siehe bei 1. Kapitel C. II. 2. Während nach BGHSt 43, 195, 210 das Gericht an die Verständigung gebunden blieb, sofern in der späteren Hauptverhandlung nicht neue, schwerwiegende Umstände zu Lasten des Angeklagten zu Tage treten, wurde dies bereits in BGHSt 50, 40, 50 insoweit erweitert, dass ein Abweichen von der Strafobergrenze schon bei einem Übersehen von relevanten tatsächlichen oder rechtlichen Aspekten erlaubt ist. Diese Formulierung wurde in § 257c Abs. 4 StPO übernommen und dadurch verschärft, dass die vereinbarte Strafe deshalb nicht mehr tat- und schuldangemessen sein darf; vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt61, § 257c Rn. 26; Murmann, ZIS 2009, 526, 538 kritisiert daher, dass jede Schludrigkeit des Gerichts bei der Aktenlektüre die Bindungswirkung entfallen ließe; dem Richtervorbehalt wird daher mit § 257c Abs. 4 StPO auf Kosten des Angeklagten zu optimaler Geltung verholfen. 30

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

103

Zuletzt spricht für diese Ansicht auch die Anwendbarkeit des Richtervorbehalts im Zivilrecht. Der Richtervorbehalt ist auch im Zivilrecht unstreitig anwendbar.31 Im Zivilrecht ist der Richter sogar angewiesen, auf eine gütliche Einigung hinzuwirken. Der Vergleich von Seiten des Richters beschränkt sich auf eine beschlussförmige Feststellung von Zustandekommen und Inhalt (§ 278 Abs. 1 S. 2 ZPO), weshalb der Vergleich keinen Entscheidungscharakter hat und nicht in den Anwendungsbereich von Art. 92 GG fällt.32 Der zivilrechtliche Vergleich ist daher als Argumentationslinie ungeeignet. Allerdings gilt im Zivilrecht der Beibringungsgrundsatz, während im Strafrecht der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Im Zivilrecht hängt das Urteil daher maßgeblich von den von den Parteien vorgebrachten Beweisen ab. Wenn selbst bei einer so deutlichen „Mitbestimmung“ kein Verstoß gegen Art. 92 GG vorliegt, so muss das erst recht im Rahmen einer Verständigung gelten. Nach dem oben Gesagten hat der Gesetzgeber im Hinblick auf den Richtervorbehalt ausreichende Vorkehrungen getroffen. Da die Spruchhoheit beim Gericht verbleibt, überzeugen die verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf Art. 92 GG nicht. II. Gebot des gesetzlichen Richters Das Prinzip des gesetzlichen Richters ergibt sich verfassungsrechtlich aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und ist in § 16 GVG einfachgesetzlich verankert. Daraus ergibt sich, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Das Recht auf den gesetzlichen Richter enthält eine formell-rechtliche, sowie eine materiell-rechtliche Komponente.33 Als gesetzlicher Richter gilt formell diejenige Gerichtsbesetzung, in der das erkennende Gericht nach den gesetzlichen Bestimmungen und dem Geschäftsverteilungsplan in der Sache zu verhandeln und zu entscheiden hat.34 Darunter fallen auch die Schöffen, sofern ihre Beteiligung gesetzlich vorgeschrieben ist.35 Es müssen daher objektiv-generelle Regelungen im Bezug auf die Zuständigkeit aufgestellt

31 BVerfGE 14, 56, 66; BVerfGE 22, 49, 78; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke GG, Art. 92 Rn. 16; Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 92 Rn. 6; vgl. auch BVerfGE 64, 175, 180; Hillgruber, in: Maunz/Dürig GG, Art. 92 Rn. 55 f. (Stand: Dezember 2007) mit dem Beispiel der Ehescheidung. 32 Hillgruber, in: Maunz/Dürig GG, Art. 92 Rn. 56 (Stand: Dezember 2007). 33 Degenhart, in: Sachs GG, Art. 101 Rn. 2; Morgenthaler, in: BeckOK GG, Art. 101 Rn. 3, 5. 34 KK/Gericke, § 338 Rn. 18; Bogner, S. 31; vgl. Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 1222. 35 Rönnau, FS-Schlothauer, S. 366; Rönnau, GS-Weßlau, S. 295; vgl. BVerfGE 48, 246, 253 ff.; BVerfGE 48, 300, 317.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

werden.36 Der im Einzelfall zuständige Richter soll sich möglichst eindeutig und im Voraus aus einer allgemeinen Norm ergeben, um Manipulationen bei der Gerichtsverteilung auszuschließen.37 Die abstrakt-generelle Regelung muss so genau wie möglich durch ein parlamentarisches Gesetz erfolgen, da Art. 101 Abs. 2 GG einen formellen Gesetzesvorbehalt enthält.38 Allerdings stoßen die abstrakt-generellen Normen des GVG hier an ihre Grenzen und müssen ihrerseits durch abstraktgenerelle Geschäftsverteilungspläne konkretisiert werden.39 Bei dem Recht auf den gesetzlichen Richter handelt es sich sowohl um ein grundrechtsgleiches Recht, als auch um eine objektiv-rechtliche Verfahrensgarantie.40 Das Verbot der Entziehung des gesetzlichen Richters stellt einen der Eckpfeiler des rechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens dar.41 Der Wesensgehalt des Verfassungsrechts muss grundsätzlich unabhängig von den einfachgesetzlichen Einzelregelungen bestimmt werden, weil der Gesetzgeber selbst an die Verfassungsnorm gebunden ist.42 Es wäre daher verfehlt, in der Formulierung, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, eine pauschale Verweisung auf das GVG anzunehmen.43 Die Beteiligung der Laienrichter richtet sich mangels Bestimmung im Grundgesetz nach dem „traditionellen Rahmen“, wie er im GVG vorgeschrieben ist.44 Die GVG stellt daher

36

BVerfGE 95, 322, 328 f.; Morgenthaler, in: BeckOK GG, Art. 101 Rn. 15, 17; MüllerTerpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke GG, Art. 101 Rn. 11; Kment, in: Jarass/ Pieroth GG, Art. 101 Rn. 13. 37 BVerfGE 6, 45, 50 f.; BVerfGE 9, 223, 226; BVerfGE 19, 52, 59 f.; BVerfGE 20, 336, 344; BVerfGE 22, 254, 258; BVerfGE 30, 149, 152 f.; BVerfGE 95, 322, 328; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG, Bd. 3 Art. 101 Rn. 18 f., 43; Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 101 Abs. 1 Rn. 18; Morgenthaler, in: BeckOK GG, Art. 101 Rn. 15, 17. 38 Kment, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 101 Rn. 11; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG, Bd. 3 Art. 101 Rn. 20; Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 101 Abs. 1 Rn. 18; Jachmann-Michel, in: Maunz/Dürig GG, Art. 101 Rn. 47 f. (Stand: August 2018). 39 Schulze-Fielitz, in: Dreier GG, Bd. 3 Art. 101 Rn. 22; Jachmann-Michel, in: Maunz/ Dürig GG, Art. 101 Rn. 50 (Stand: August 2018); ausführlich über die drei Regelungsebenen: Jachmann-Michel, in: Maunz/Dürig GG, Art. 101 Rn. 46 (Stand: August 2018) durch eine abstrakte Norm muss die sachliche sowie örtliche Zuständigkeit eines Gerichts festgelegt werden. Innerhalb des Gerichts bestimmen Geschäftsverteilungspläne die zuständige Kammer, innerhalb der Kammer werden die zuständigen Richter durch „Mitwirkungspläne“ festgelegt. 40 BVerfGE 40, 356, 360 f.; BVerfGE 61, 82, 104; BVerfGE 82, 159, 194; BVerfGE 138, 64, 86; Kment, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 101 Rn. 1; Morgenthaler, in: BeckOK GG, Art. 101 Rn. 4, 6; Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 101 Abs. 1 Rn. 7; MüllerTerpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke GG, Art. 101 Rn. 2; vgl. zu dem Streit über die Rechtsnatur Jachmann-Michel, in: Maunz/Dürig GG, Art. 101 Rn. 13 – 16 (Stand: August 2018) mit a. A. 41 BVerfGE 40, 356, 360 f.; BVerfGE 82, 159, 194; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG, Bd. 3 Art. 101 Rn. 4, 16; Kunig, in: v. Münch/Künig, GGK II, Art. 101 Rn. 1. 42 Sowada, S. 4 f.; BVerfGE 9, 223, 226; BVerfGE 10, 200, 213; BVerfGE 22, 49, 73. 43 Sowada, S. 4 f. 44 Kunig, in: v. Münch/Künig, GGK II, Art. 101 Rn. 17; BVerfGE 27, 312, 319 f.

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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eine einfachgesetzliche Konkretisierung des Rechts auf den gesetzlichen Richter dar.45 Die Schöffen sind nach einfachem Recht gemäß § 30 Abs. 2 GVG nicht an außerhalb der Hauptverhandlung stattfindenden Gesprächen zu beteiligen. Nach dem historischen Verständnis bezeichnete der Begriff „außerhalb der Hauptverhandlung“ nur den Zeitraum vor dem ersten und nach dem letzten Hauptverhandlungstag.46 Die Unterbrechungen zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen waren nicht als außerhalb der Hauptverhandlung im Sinne des § 30 GVG anzusehen.47 Nach neuerer Auffassung ist „außerhalb der Hauptverhandlung“ im Sinne des § 30 GVG alles, was außerhalb der Hauptverhandlung selbst liegt. Auch Unterbrechungen der Hauptverhandlung sind außerhalb der Hauptverhandlung im Sinne dieser Vorschrift.48 An den Gesprächen zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen werden die Schöffen also nicht beteiligt. Etwas anderes könnte sich für der Verständigung vorgelagerte Gespräche aber daraus ergeben, dass die Schöffen gemäß § 30 Abs. 1 GVG im Rahmen ihrer richterlichen Mitwirkung an der Entscheidungsfindung bei der Ermittlung aller tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Folgerungen unmittelbar zu beteiligen sind.49 Damit werden sie mit Berufsrichtern gleichgestellt.50 Für die Abstimmung über das Urteil gilt § 263 Abs. 1 StPO.51 An der Entscheidung über das Urteil müssen grundsätzlich alle Mitglieder des Gerichts, also auch die Beisitzer und die Laienrichter, beteiligt werden.52 Da gemäß § 263 Abs. 1 StPO für jede nachteilige Ent45 Auch Sowada, S. 5 gibt zu, dass das verfassungsrechtliche Recht des gesetzlichen Richters jedenfalls durch die einfachgesetzlichen Regelungen ausgefüllt werden muss; Rönnau, GS-Weßlau, S. 296 spricht von einer einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch das GVG. 46 MüKoStPO/Schuster, Bd. 3/2 GVG, § 30 Rn. 10. 47 MüKoStPO/Schuster, Bd. 3/2 GVG, § 30 Rn. 10. 48 SSW-StPO/Güntge, GVG, § 30 Rn. 3; MüKoStPO/Schuster, Bd. 3/2 GVG, § 30 Rn. 11; KK/Barthe, § 30 GVG Rn. 5; Grund für die notwendig gewordene Änderung dieser Norminterpretation war die Verlängerung der Unterbrechungszeiträume von vier Tagen (§ 228 StPO a. F.) auf drei Wochen § 229 Abs. 1 StPO bzw. einen Monat § 229 Abs. 2 StPO. Eine zeitnahe Befassung der Schöffen mit eiligen Entscheidungen war aufgrund der kurzen Unterbrechungszeiträume gewährleistet, während dies nach neuer Rechtslage nicht mehr der Fall wäre; vgl. MüKoStPO/Schuster, Bd. 3/2 GVG, § 30 Rn. 10. 49 Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke GG, Art. 101 Rn. 8; MüKoStPO/Schuster, Bd. 3/2 GVG, § 30 Rn. 3; vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, GVG, § 30 Rn. 1. 50 SSW-StPO/Güntge, GVG, § 30 Rn. 1; KK/Barthe, GVG, § 30 Rn. 4; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, GVG, § 30 Rn. 1; Rönnau, FS-Schlothauer, S. 365; lange Zeit war umstritten, ob die Schöffen ein Akteneinsichtsrecht haben sollen; die heute herrschende Meinung bejaht dies jedenfalls eingeschränkt mit dem Kernargument des Gleichstellungsgebots aus § 30 Abs. 1 GVG vgl. dazu die Darstellung bei: Rönnau, GS-Weßlau, S. 299 – 301. 51 MüKoStPO/Schuster, Bd. 3/2 GVG, § 30 Rn. 3; SSW-StPO/Güntge, GVG, § 30 Rn. 4; KK/Barthe, GVG, § 30 Rn. 4; Rönnau, FS-Schlothauer, S. 366. 52 Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 358; vgl. §§ 30 Abs. 1, 76 Abs. 1 S. 1 GVG.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

scheidung über die Schuldfrage und die Rechtsfolgen eine zwei Drittel Mehrheit vorgesehen ist, können die beiden Laienrichter im Schöffengericht den Berufsrichter überstimmen und haben bei der Großen Strafkammer jedenfalls eine Sperrminorität.53 Materiell ist das Gericht „gesetzlicher Richter“ im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, wenn es in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht.54 Dazu gehören insbesondere die sachliche Unabhängigkeit des Richters Art. 97 Abs. 1 GG und die persönliche Unabhängigkeit des Richters Art. 92 Abs. 2, 97 GG.55 Im Kontext der Art. 92, 97 GG, die eng mit dem Recht aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zusammenhängen, kommt dem Recht auf den gesetzlichen Richter insofern eine überragende Bedeutung zu, als die Art. 92, 97 GG nur über Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG geltend gemacht werden können.56 Im Gegensatz zu den Art. 92, 97 GG gewährt dieser ein subjektives Recht.57 Das Recht auf den gesetzlichen Richter existiert also in verschiedenen Dimensionen. Die formell-rechtliche Ausprägung garantiert allein, dass der im Gesetz vorgesehene Richter entscheidet. Der im Gesetz vorgesehene Richter muss aber auch materiell den Anforderungen des Grundgesetzes genügen. Die materiell-rechtliche Dimension garantiert deshalb zum einen die persönliche und sachliche Unabhängigkeit des Gerichts und zum anderen dessen Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand. Das Recht auf den gesetzlichen Richter wird zudem durch § 338 Nr. 1 StPO im Strafprozess einfachgesetzlich gesichert. Dabei liegt ein Verstoß nur dann vor, wenn die vorschriftswidrige Besetzung auf unsachgemäßen Erwägungen, also Willkür, beruht.58 1. Nichtteilnahme der Laienrichter an den verständigungsbezogenen Erörterungen Vor der Einführung des Verständigungsgesetzes wurden die Laienrichter an Verständigungsgesprächen außerhalb der Hauptverhandlung oft nicht beteiligt. Damals fehlte es an einer Normierung des Instituts. In einer Studie aus dem Jahr 2007 wurde die Beteiligung der Laienrichter an Verständigungsgesprächen untersucht. Bei 53

Rönnau, FS-Schlothauer, S. 366. BVerfGE 10, 200, 213; Morgenthaler, in: BeckOK GG, Art. 101 Rn. 14; vgl. JachmannMichel, in: Maunz/Dürig GG, Art. 101 Rn. 20 (Stand: August 2018). 55 Morgenthaler, in: BeckOK GG, Art. 101 Rn. 14; Degenhart, in: Sachs GG, Art. 101 Rn. 9; Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 101 Abs. 1 Rn. 6; Pieroth, in: Jarass/Pieroth15 GG, Art. 101 Rn. 6; kritisch: Sowada, S. 181 f. 56 Jachmann-Michel, in: Maunz/Dürig GG, Art. 101 Rn. 20 f. (Stand: August 2018). 57 Jachmann-Michel, in: Maunz/Dürig GG, Art. 101 Rn. 21 (Stand: August 2018). 58 SSW-StPO/Momsen/Momsen-Pflanz, § 338 Rn. 5; KMR/Momsen, § 338 Rn. 6, 10 (Stand: Mai 2009); KK/Gericke, § 338 Rn. 19. 54

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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der Befragung gaben nur 56 % der Befragten an, dass Schöffen schon einmal an derartigen Gesprächen teilgenommen hätten. Nur etwa ein Fünftel der Befragten gab an, dass die Schöffen typischerweise an derartigen Gesprächen teilnehmen.59 Hauptgrund für die mangelnde Teilnahme der Schöffen waren meist deren körperliche Abwesenheit sowie die mangelnden juristischen Kenntnisse.60 Während also bei der Nichtteilnahme des Angeklagten vor allem das fehlende Vertrauensverhältnis sowie der Wunsch nach offener Kommunikation im Vordergrund stehen, wird die Teilnahme der Schöffen meist als schlicht nicht notwendig angesehen.61 Anschließend wurden Staatsanwälte und Verteidiger befragt, wie intensiv Schöffen nach ihrer Ansicht informiert würden. Hier gaben 64,6 % der Befragten an, dass die Schöffen typischerweise umfassend informiert würden.62 In einer anderen Studie aus dem Jahr 2013 gaben 64,4 % der Vorsitzenden an, dass sie vor der Aufnahme von ergebnisbezogenen Gesprächen63 immer Rücksprache mit den anderen Berufsrichtern hielten.64 Als die Beteiligten, die angaben, keine Rücksprache gehalten zu haben, nach den Gründen für die fehlende Rücksprache gefragt wurden, gab aber niemand an, dass sie dies nicht als erforderlich ansähen. Vielmehr spielten Praktikabilitätserwägungen eine Rolle, sodass von einer nachträglichen Information wohl auszugehen ist.65 Es kann deshalb angenommen werden, dass die Vorsitzenden ihre Beisitzer fast ausnahmslos umfassend über die vorbereitenden Gespräche unterrichten. Nach dem oben Gesagten könnte es im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Recht auf den gesetzlichen Richter problematisch sein, wenn nicht „alle“ gesetzlichen Richter an den Verständigungsgesprächen oder den einer Verständigung vorgelagerten Gesprächen teilnehmen. Erforderlich könnte die Teilnahme des Gerichts in seiner gesamten Besetzung sein. Die Besetzung des „Gerichts“ ist in jedem Verfahrensstadium gesondert nach den allgemeinen Regeln zu bestimmen.66 In den §§ 257b, 257c StPO, die beide schon nach ihrer systematischen Stellung nur für die Hauptverhandlung gelten, besteht das Gericht aus sämtlichen Berufsrichtern und den 59 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 89; befragt wurden hier sowohl Berufsrichter als auch Staatsanwälte und Verteidiger. 60 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 103. 61 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 101 f. 62 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 115. 63 Da diese Studie im Jahr 2013 und damit nach Einführung des Verständigungsgesetzes veröffentlicht wurde, ging es hier wohl um Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung, die eine Verständigung vorbereiten und keine Bindungswirkung entfalten. Gespräche, die Bindungswirkung entfalten, müssen gemäß § 257c StPO stets in der Hauptverhandlung unter Anwesenheit aller Beteiligten stattfinden. Es handelte sich daher wohl um Gespräche im Anwendungsbereich des § 212 StPO. 64 Altenhain/Dietmeier/May, S. 75. 65 Altenhain/Dietmeier/May, S. 76. 66 BT-Drucks. 16/12310, S. 12; SSW-StPO/Rosenau, § 202a Rn. 4; KMR/Seidl, § 202a Rn. 14 (Stand: Mai 2012).

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Schöffen.67 Bei den verständigungsbezogenen Erörterungen in der Hauptverhandlung und den Verständigungsgesprächen ist die Anwesenheit des gesamten Gerichts daher zwingend vorgeschrieben. Da sich hier schon aus dem Gesetz die Anwesenheitspflichten für sämtliche Berufsrichter und Schöffen ergeben, sind diese Normen im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters unproblematisch. Heikel könnte aber sein, dass Vorgespräche häufig außerhalb der Hauptverhandlung stattfinden. Gespräche nach Eröffnung des Hauptverfahrens, aber vor der eigentlichen Hauptverhandlung, sowie Gespräche zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen liegen im Anwendungsbereich des § 212 StPO.68 Gericht im Sinne von § 212 StPO sind nach den allgemeinen Regeln nur die Berufsrichter und gerade nicht die Laienrichter,69 wobei auch die Teilnahme sämtlicher Berufsrichter nicht zwingend notwendig ist.70 Eine Teilnahme der Schöffen ist nicht erforderlich, da diese gemäß §§ 30 Abs. 1, 77 Abs. 1 GVG nur während der Hauptverhandlung das Richteramt ausüben.71 Problematisch ist daher, ob der § 212 StPO, als Hauptanwendungsfall für die der Verständigung vorgelagerten Gespräche, dem Recht auf den gesetzlichen Richter genügt. Zwar ist die Hinzuziehung der Schöffen sowie sämtlicher Berufsrichter weiterhin möglich.72 Da sich im Bezug auf eine Teilnahmepflicht die Gesetzeslage aber nicht geändert hat, ist nicht davon auszugehen, dass die Laienrichter, die schon nicht an den Verständigungsgesprächen beteiligt wurden, in Zukunft häufiger an den Vorgesprächen beteiligt werden. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass in Zukunft immer sämtliche Berufsrichter an den Gesprächen teilnehmen werden. Problematisch ist daher, dass sowohl die Beisitzer als auch die Laienrichter häufig nicht persönlich bei Vorgesprächen anwesend sind. Dadurch könnte gegen die formelle Ausprägung des Rechts auf den gesetzlichen Richter verstoßen werden. Zudem ist fraglich, ob eine nachträgliche Information durch den Vorsitzenden ausreicht oder ob hier gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters in seiner materiellen Dimension verstoßen wird. Dabei wird vor allem die Verfassungsmäßigkeit von § 212 StPO auf den Prüfstand gestellt. Da schon der § 212 StPO die Anwesenheit der Laien- und Berufsrichter nicht vorschreibt, kommen auf Rechtsanwendungsebene keine weiteren Probleme hinzu. Es könnte allenfalls im Rahmen der Informationspflichten zu 67 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257b Rn. 7; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257b Rn. 3 (November 2009); MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 257b Rn. 5; Rönnau, FS-Schlothauer, S. 369; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627. 68 KK/Schneider, § 212 Rn. 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 212 Rn. 1; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10; Ritscher, in: BeckOK StPO, § 212 Rn. 1; KMR/Seidl, § 212 Rn. 2 (Stand: Grundwerk). 69 BT-Drucks. 16/12310, S. 12; SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 212 Rn. 4; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 212 Rn. 7. 70 BGH, StV 2011, 202, 203; SSW-StPO/Rosenau, § 202a Rn. 5; KK/Schneider, § 202a Rn. 7; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 212 Rn. 7. 71 BT-Drucks. 16/12310, S. 12; MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 202a Rn. 6; KK/Schneider, § 202a Rn. 7. 72 Vgl. BGH, StV 2016, 81, 82; KK/Schneider, § 212 Rn. 2.

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einem Problem auf Rechtsanwendungsebene kommen. Das ist der Fall, wenn die gesetzlich vorgeschriebenen Informationspflichten ausreichend sind, aber nicht eingehalten werden und die Schöffen deshalb keine Chance zur gleichwertigen Mitwirkung mehr haben. Zudem könnte die Voreingenommenheit des Gerichts, von dem ein Verständigungsvorschlag ausgeht, problematisch sein, denn mit einer Verständigung geht ein Schuldspruch einher. 2. Meinungsstand Vor Einführung des Verständigungsgesetzes stellte eine überwiegende Meinung in der Literatur einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter fest, sofern nicht sämtliche Berufsrichter und Schöffen an den Verständigungsgesprächen beteiligt waren.73 Grund hierfür war, dass die zur Verständigung führenden Gespräche meist außerhalb der Hauptverhandlung stattfanden.74 Hintergrund ist, dass das gesamte Gericht inklusive der Schöffen zwingend zu beteiligen ist, sofern von den Gesprächen Bindungswirkung im Hinblick auf das spätere Urteil ausgeht.75 Die Verständigungsgespräche, die zu einer rechtlichen Bindungswirkung führen, sind nach dem Gesetz allerdings zwingend in der Hauptverhandlung zu führen. Die Beteiligung des gesamten Gerichts ist nach neuer Rechtslage also ohnehin nach den §§ 257b, 257c StPO erforderlich.76 Dieses Problem wurde daher durch die Einführung des Verständigungsgesetzes gelöst. Die Teilnahme der Schöffen ist im Rahmen der §§ 202a, 212 StPO aber auch weiterhin nicht vorgeschrieben. Die eine Ansicht sieht dies zum Teil als unproblematisch an,77 zum Teil setzt sie sich intensiv mit diesem Thema auseinander.78 Krause nimmt an, dass sich das Problem der Nichtteilnahme der Schöffen an den Verständigungsgesprächen mit Einführung des § 257b StPO erledigt habe.79 Im Rahmen des § 257b StPO gehören zum Gericht eben auch die Schöffen, sodass diese 73 Schünemann, StV 1993, 657, 658; Dencker/Hamm, S. 52; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 358; Hildebrandt, S. 55; Braun, S. 48; Löffler, S. 24; Bogner, S. 32; Schünemann, Gutachten, S. 89 f.; vgl. Siolek, S. 191. 74 Vgl. Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 221. 75 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 202a Rn. 4; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 358. 76 KK/Wenske, § 257b Rn. 10a; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257b Rn. 3 (Stand: November 2009); SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257b Rn. 7. 77 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 13; Janke, S. 130; Krause, S. 55; Eschelbach, JA 1999, 694, 697 f.; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 212 Rn. 7; KMR/Seidl, § 202a Rn. 14 (Stand: Mai 2012); SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 212 Rn. 5; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 212 Rn. 7; MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 212 Rn. 6; KK/Schneider, § 212 Rn. 2; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 202a Rn. 4. 78 Rönnau, FS-Schlothauer, S. 365 – 377. 79 Krause, S. 55.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

zwingend an Gesprächen zu beteiligen seien.80 Das mag für die Verständigungsgespräche selbst zutreffend sein. Auf das Problem des § 212 StPO, der die Schöffen nicht miteinschließt, geht Krause nicht ein. Eschelbach nimmt nur einen Verstoß an, sofern die Gespräche ohne Beteiligung der Schöffen bereits Bindungswirkung entfalten. Sofern dies nicht der Fall ist und die Absprache verbindlich erst in Abstimmung mit den Schöffen in der Hauptverhandlung getroffen wird, liege kein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter vor.81 Diese These stammt zwar aus der Zeit vor Einführung des Verständigungsgesetzes, lässt sich allerdings problemlos auf die heutige Rechtslage übertragen. Gespräche nach § 212 StPO lösen keine rechtliche Bindungswirkung aus, sodass diese nach Eschelbach ohne Beteiligung der Schöffen stattfinden können.82 Auch Janke merkt an, dass die von der Teilnahme an vorausgehenden Gesprächen ausgeschlossenen Schöffen an der Hauptverhandlung teilnehmen und so die gerichtliche Entscheidung formal mittragen.83 Auch diese Ansicht stammt aus der Zeit vor 2009, spricht aber für die Verfassungsmäßigkeit des § 212 StPO. Der Inhalt solcher Gespräche muss in der Hauptverhandlung nach §§ 257b, 257c StPO erneut und bindend ausgehandelt werden, sodass das Urteil formal von sämtlichen Berufsund Laienrichtern mitgetragen wird. Schlothauer fordert auch nach Eröffnung des Hauptverfahrens in Gesprächen außerhalb der Hauptverhandlung nicht die Beteiligung sämtlicher Berufsrichter und Schöffen. Allerdings treffe das an der Verständigung mitwirkende Mitglied des Gerichts die Pflicht, den Inhalt der Gespräche aktenkundig zu machen.84 Dem schließt sich die überwiegende Meinung der Literatur an.85 Der § 212 StPO stelle keinen Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters dar und eine Beteiligung der Laienrichter sei daher auch bei Gesprächen, die eine Verständigung vorbereiten nicht notwendig.86 Der Begriff Gericht meine zwar das Gericht als Ganzes, jedoch nur in seiner außerhalb der Hauptverhandlung geltenden Besetzung, 80

Krause, S. 55. Eschelbach, JA 1999, 694, 697 f. 82 Trotzdem sieht Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10 die Anwendbarkeit des § 212 StPO ab Beginn der Hauptverhandlung zutreffend kritisch im Hinblick auf die Transparenz. 83 Janke, S. 130. 84 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 212 Rn. 7. 85 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 212 Rn. 7; ebenso: SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 212 Rn. 4, 6; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627; MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 212 Rn. 6 f.; KK/ Schneider, § 212 Rn. 1 f.; KMR/Seidl, § 202a Rn. 14 – 16 (Stand: Mai 2012); Nahrwold, S. 259 f. 86 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 212 Rn. 4; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627; Niemöller/ Schlothauer/Weider, § 212 Rn. 7; MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 212 Rn. 6; KK/Schneider, § 212 Rn. 2; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 202a Rn. 4; KMR/Seidl, § 202a Rn. 14 (Stand: Mai 2012). 81

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also ohne die Schöffen.87 Dies wird überwiegend damit begründet, dass die Vorgespräche keine Bindungswirkung entfalten und die Verständigung selbst in der Hauptverhandlung bestätigt werden muss.88 Im Rahmen dieser Bestätigung komme es zu einer Abstimmung innerhalb des Gerichts bei der Beschlussfassung des § 257c Abs. 3 S. 1 StPO, bei der auch die Schöffen zwingend zu beteiligen sind.89 Es sei auch nicht erforderlich, dass sämtliche Berufsrichter an den Erörterungen teilnehmen.90 Außerdem wurden zahlreiche Mitteilungs- und Dokumentationspflichten eingeführt, um Transparenz im Verständigungsverfahren zu gewährleisten.91 Ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter liegt nach dieser Ansicht nicht vor.92 Rönnau befasst sich kritisch mit der Vereinbarkeit der §§ 202a, 212 StPO mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter. Er merkt an, dass die Möglichkeit besteht, dass der Inhalt der Verständigung bereits im Zwischenverfahren oder im Rahmen des Hauptverfahrens außerhalb der Hauptverhandlung unverbindlich festgelegt und in der Hauptverhandlung nur noch vollzogen werde.93 Dadurch komme es zu einem massiven Bedeutungsverlust der Laienrichter, die in eine absolute Nebenrolle gedrängt werden. Es könne daher angedacht werden, dass ein uninformierter Richter im 87 KMR/Seidl, § 202a Rn. 14 (Stand: Mai 2012); SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 212 Rn. 4; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 212 Rn. 7; MüKoStPO/ Kudlich, Bd. 2 § 212 Rn. 6; KK/Schneider, § 212 Rn. 2; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 202a Rn. 4. 88 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 202a Rn. 17; KK/Schneider, § 212 Rn. 2; vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 202a Rn. 4; SSW-StPO/Rosenau, § 202a Rn. 17. 89 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 64; vgl. Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 15; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 23a. 90 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 202a Rn. 15; MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 202a Rn. 6; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 202a Rn. 4; KK/Schneider, § 202a Rn. 7; BGH, StV 2011, 202, 203; kritisch KMR/Seidl, § 202a Rn. 14 (Stand: Mai 2012) mit Verweis auf BTDrucks. 16/11736, S. 10, der die Möglichkeit der Übertragung auf nur einen Berufsrichter nicht vorsieht. 91 KMR/Seidl, § 202a Rn. 16 (Stand: Mai 2012); vgl. SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 212 Rn. 3; BVerfGE 133, 168, 178, 214. 92 Es finden sich noch vereinzelte Stimmen in der Literatur, die das Recht auf den gesetzlichen Richter im Hinblick auf die möglicherweise abweichende Strafe problematisieren Tscherwinka, S. 115 ff.; Krause, S. 55 f. Die sachliche Zuständigkeit bestimmt sich gemäß den §§ 24, 25, 74, 76 GVG aufgrund der Straferwartung. Früher war die „bewegliche Zuständigkeitsregelung“ im Hinblick auf das Recht auf den gesetzlichen Richter problematisch. Das BVerfG hat aber in der Entscheidung BVerfGE 9, 223 – 231 unter verfassungskonformer Auslegung die Verfassungsmäßigkeit der §§ 24 – 26 GVG bejaht und darauf verwiesen, dass es sich nicht um eine Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft handelt, sondern um die Subsumption unter einen unbestimmten Rechtsbegriff; BVerfGE 9, 223, 229. Die Staatsanwaltschaft darf somit keine Absprache an die Stelle ihrer Beurteilung setzen vgl. Tscherwinka, S. 117. Wenn aufgrund der Verständigung eine geringere Strafe verhängt wird, könnte dies gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter verstoßen. Allerdings handelt es sich dabei eher um eine allgemeine Fragestellung, die nicht zwingend mit der Verständigung zusammenhängt. Eine niedrigere Strafe kann jedes Gericht verhängen; Krause, S. 55 f. Ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter liegt hier unproblematisch nicht vor. 93 Rönnau, FS-Schlothauer, S. 372.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Sinne des Art. 97 GG, zu denen auch die Schöffen zählen, seine Unabhängigkeit einbüße und somit nicht mehr gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sei. Allerdings sieht Rönnau schon einen Eingriff in Art. 97 GG in diesem Sinne als problematisch an, da dieser nur vor Eingriffen von außen schützen solle, während es hier nur um die Machtverteilung im Innenverhältnis geht.Außerdem zweifelt Rönnau auch daran, dass ein so hohes Maß an Uninformiertheit vorliege, dass es einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter begründen könnte.94 Zudem wurde der Rechtsschutz im Bezug auf die Transparenz- und Mitteilungspflichten durch die Einführung „quasi-absoluter Revisionsgründe“ im Vergleich zu der vorausgehenden Rechtsprechung deutlich ausgebaut.95 Rönnau nimmt letztlich an, dass die §§ 202a, 212 StPO mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter vereinbar seien.96 Es gibt allerdings auch gute Argumente und zum Teil namhafte Vertreter für die andere Ansicht.97 Fischer kritisiert, dass der Einfluss der Laienrichter nahezu komplett zurückgedrängt werde, weil deren Teilnahme an Vorgesprächen außerhalb der Hauptverhandlung nach § 212 StPO nicht zwingend ist.98 Die Laienrichter hätten keine Aktenkenntnis und nähmen in aller Regel nicht an den Verständigungsgesprächen teil. Sie seien daher vollkommen auf die ihnen von den Berufsrichtern mitgeteilten Beobachtungen angewiesen und werden sich einer bereits ausgehandelten Verständigung in kaum einem Fall widersetzen.99 Somit würden den Laienrichtern fertig ausgehandelte „Verfahrens-Drehbücher“ präsentiert und ihnen werde faktisch die Möglichkeit genommen, deren Grundlagen selbst zu überprüfen.100 Ob die Schöffen in diesem Fall noch gesetzliche Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 StPO sind, hält Fischer für zweifelhaft.101 Besonders kritisch sind nach Fischer Vorgespräche, die vor Terminierung der Hauptverhandlung stattfinden. Die Schöffen treten demnach in einen „fertig ausgehandelten Fall“ ein und bekommen vom Richter lediglich die Beweislage des Falles sowie das beabsichtigte Ergebnis mitgeteilt.102

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Rönnau, FS-Schlothauer, S. 373. Rönnau, FS-Schlothauer, S. 369. 96 Rönnau, FS-Schlothauer, S. 373. 97 Fischer, StraFo 2009, 177, 183; Fischer, StGB, § 46 Rn. 112; AnwK-StPO/Püschel, § 257b Rn. 5; Dippel, FS-Widmaier, S. 122; Braun, S. 47 f.; Seppi, S. 137 f.; Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 75; SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 31a; SK-StPO/ Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 19. 98 Fischer, StraFo 2009, 177, 183; Fischer, StGB, § 46 Rn. 112. 99 Fischer, StraFo 2009, 177, 183; Fischer, StGB, § 46 Rn. 112. 100 Fischer, StGB, § 46 Rn. 112; vgl. AnwK-StPO/Püschel, § 257b Rn. 5. 101 Fischer, StraFo 2009, 177, 183; Fischer, StGB, § 46 Rn. 112; ebenso AnwK-StPO/ Püschel, § 257b Rn. 5; Dippel, FS-Widmaier, S. 122. 102 Fischer, StraFo 2009, 177, 183. 95

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Auch Braun sieht einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter gegeben, wenn nicht alle Berufs- und Laienrichter an den Verständigungsgesprächen teilnehmen.103 Er kritisiert, dass Absprachen oft gezielt außerhalb der Hauptverhandlung getroffen werden, weil § 30 Abs. 2 GVG die Anwesenheit der Laienrichter nicht ausdrücklich vorschreibe. Gespräche über eine Verständigung seien aber mit den sonst in § 30 Abs. 2 GVG bezeichneten Fällen nicht vergleichbar, weil dieser sich ausdrücklich auf Entscheidungen bezieht, die ohne mündliche Verhandlungen erlassen werden können. Dabei handele es sich beispielsweise um Entscheidungen über die Anordnung einer Beschlagnahme oder Durchsuchung, um Entscheidungen über die Fortdauer der Untersuchungshaft. Jedenfalls haben alle diese Entscheidungen nichts mit der verfahrensbeendenden Entscheidung zu tun, sodass die Verständigung diesen Bereichen nicht zuzuordnen ist, selbst wenn es sich um Gespräche handelte, die der bindenden Verständigung vorausgehen. Auch eine spätere Information der Schöffen über den Inhalt der Gespräche könne eine unmittelbare Teilnahme nicht ersetzen, weil die Mitwirkungsrechte der Schöffen sonst ausgehöhlt würden. Zudem bestehen laut Braun Bedenken im Bezug auf die sachliche Unabhängigkeit der Laienrichter im Sinne des Art. 97 GG, wenn diese erst informiert werden, nachdem die Gespräche bereits stattgefunden haben. Wenn bereits alles „abgesprochen“ wurde, dürfte das Widerspruchsrecht der Schöffen nahezu wirkungslos sein.104 Diese Ansicht stammt zwar aus der Zeit vor Einführung des Verständigungsgesetzes und dürfte sich daher vor allem auf die Verständigungsgespräche im engeren Sinne beziehen. Sie ist allerdings mit gleicher Argumentation auf die der Verständigung vorgelagerten Gespräche übertragbar. Seppi nimmt an, dass ab dem Beginn der Hauptverhandlung eine Mitwirkung der Schöffen an der Erörterung des Sachstandes immer erfolgen müsse. Nach § 212 StPO wären nach der wohl überwiegenden Meinung in der Literatur bei Erörterungen im Hauptverfahren, die außerhalb der Hauptverhandlung stattfinden, die Laienrichter nicht zwingend zu beteiligen. Er nimmt daher eine restriktive Auslegung des § 212 StPO vor, sodass dieser auf Gespräche nach dem ersten Hauptverhandlungstag, in denen Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung stattfinden, nicht anwendbar ist. Nach der ratio des § 257b StPO dürfen auch Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung nur noch unter Beteiligung der Laienrichter stattfinden. Andernfalls liege ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter vor, weil die Schöffen ihrer Mitwirkungsrechte beraubt werden.105 Im Gegensatz zu Rönnau kritisieren Altenhain/Hagemeier/Haimerl, dass der § 212 StPO hinter der Rechtsprechung des BGH zurückbleibe, wenn die Schöffen bei

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Braun, S. 47 f. Braun, S. 48. Seppi, S. 137 f.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

ergebnisorientierten Vorgesprächen nicht beteiligt werden.106 Da die zwingende Beteiligung der Schöffen nicht angeordnet werde, werden diese auch bei Gesprächen zwischen den Hauptverhandlungstagen nicht beteiligt. Dadurch laufe das Laienrichteramt leer.107 Auch Paeffgen spricht von einer „erbärmlichen Rolle der Laienrichter“, denen nun endgültig die Funktion des „dekorativen aber marginalisierbaren Gerichtsbeischläfers“ zukomme.108 Das Urteil werde demnach ohne Beteiligung der Laienrichter vorbereitet, sodass die Entscheidungsgrundlagen ohne die Laienrichter „festgeklopft“ werden. Dies gelte sowohl während der Hauptverhandlung, also im Anwendungsbereich des § 212 StPO, als auch im Zwischenverfahren, demnach im Anwendungsbereich des § 202a StPO, wo eigentlich überhaupt keine verbindlichen Vereinbarungen getroffen werden dürfen. Wird in der Hauptverhandlung dann nur noch ein „Urteilstorso“, ein „Potemkinsches Dorf“109 eingeführt, können die formal ebenbürtigen Richter nur noch über diesen befinden. Darin liege ein Unterlaufen des Rechts auf den gesetzlichen Richter.110 Denkt man diese Ansicht zu Ende, so muss man von der Verfassungswidrigkeit der §§ 202a, 212 StPO wegen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ausgehen. Velten nimmt zumindest dann einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 i. V. m. Art 97 Abs. 1 GG an, wenn die Schöffen nicht an den Vorgesprächen nach den §§ 202a, 212 StPO beteiligt waren und in Folge dessen allein auf die Auskunft durch die Berichterstatter angewiesen wären. In diesen Fällen sei die Aktenkenntnis der Schöffen zwingende Voraussetzung, um sich im Rahmen der Erörterung sinnvoll einzubringen.111 3. Stellungnahme Eine Teilnahme der Schöffen an den Verständigungsgesprächen fand nach Auswertung der oben benannten Studien nach alter Rechtslage oft nicht statt. Deren Teilnahme an den Verständigungsgesprächen selbst ist gemäß §§ 257b, 257c StPO nach neuer Rechtslage zwingend. Im Bezug auf die Verständigungsgespräche im engeren Sinne ist Krause damit recht zu geben, dass dieses Problem gelöst wurde.

106 Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 74 f.; vgl. BGHSt 43, 195, 206 wobei diese Interpretation fragwürdig ist und in den Entscheidungsgründen wohl eher von den Verständigungsgesprächen mit Bindungswirkung gesprochen wird. 107 Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 75. 108 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 31a. 109 Der Begriff „Potemkin’sches Dorf“ wird metaphorisch für das Vorspiegeln falscher Tatsachen verwendet. 110 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 19. 111 SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 19.

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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a) Formelle Komponente des Rechts auf den gesetzlichen Richter Allerdings ist eine Teilnahme der Schöffen an Vorgesprächen im Sinne der §§ 202a, 212 StPO nicht vorgeschrieben, sodass mit deren Teilnahme hier auch weiterhin nicht zu rechnen ist. Viele Gespräche, die eine Verständigung vorbereiten, finden nicht in der Hauptverhandlung statt, sondern bereits im Zwischenverfahren oder im Hauptverfahren vor dem ersten Verhandlungstag oder zwischen den Verhandlungstagen. Zu klären ist daher, ob im Hinblick auf das Recht auf den gesetzlichen Richter die Teilnahme der Schöffen an Gesprächen im Anwendungsbereich der §§ 202a, 212 StPO notwendig wäre. Bei der Betrachtung der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften im Hinblick auf das Recht auf den gesetzlichen Richter muss zwischen der formellen und der materiellen Komponente dieses Rechts unterschieden werden. Zum einen könnte schon formell ein Verstoß vorliegen, wenn nicht der im Geschäftsverteilungsplan vorgesehene gesetzliche Richter die Entscheidung trifft. Die mangelnde Anwesenheit der Schöffen im Anwendungsbereich der §§ 202a, 212 StPO ist jedenfalls vor ihrer Benennung, sowie nach Ende der Hauptverhandlung nicht zu beanstanden. Wenn die Schöffen noch nicht ernannt oder bereits wieder entlassen sind, wäre deren Einbeziehung in der Praxis nicht möglich. Etwas anderes könnte aber für die Zeiträume im Hauptverfahren zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen, sowie in den Verhandlungspausen gelten. Auch nach Ernennung der Schöffen, aber vor dem ersten Hauptverhandlungstag, wäre deren Einbeziehung im Rahmen des § 212 StPO theoretisch möglich. Problematisiert wird letztlich allein die Verfassungsmäßigkeit des § 212 StPO. Obwohl rechtlich keine Bindungswirkung besteht, stellen die Ergebnisse derartiger Erörterungen jedenfalls die Verhandlungsgrundlage für spätere Gespräche im Sinne der §§ 257b, 257c StPO dar. Im schlimmsten Fall werden die Ergebnisse der Erörterungen nach § 212 StPO in der Hauptverhandlung sogar lediglich wiederholt um eine bindende Absprache nach § 257c StPO zu erzielen. Die Einführung in die Hauptverhandlung hat in diesen Fällen rein formale Gründe, um Inhaltliches kann es dann nicht mehr gehen. Eine tatsächliche Einflussnahme ist in diesem Stadium faktisch kaum mehr möglich. In einer Entscheidung führt das BVerfG in einem anderen Kontext außerdem aus, dass nicht vereitelt werden darf, das „ehrenamtliche Richter bei der Entscheidung jener Fragen mitwirken, bei denen der Gesetzgeber ihre Entscheidung sichergestellt haben wollte“.112 Der Gesetzgeber wollte die Laienrichter als gleichwertige Richter in der Hauptverhandlung neben die Berufsrichter stellen. Die Laienrichter sollen bei der Urteilsfindung gleichwertig neben den Berufsrichtern stehen und gemäß § 263 StPO an den Abstimmungen teilnehmen. Dabei kommt ihnen vor allem beim Schöffengericht eine große Bedeutung zu, da sie den Berufsrichter überstimmen können. Bei der großen Strafkammer können sie immerhin Entscheidungen sperren 112

BVerfGE 48, 246, 263.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

und haben jedenfalls faktisch ein „Vetorecht“ gegenüber den Berufsrichtern. Die Laienrichter sollen die Urteilsgrundlage auf Plausibilität überprüfen, was ihnen verwehrt bleibt, wenn sie nicht persönlich an den Gesprächen beteiligt werden.113 Zudem sollen die Laienrichter das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtsprechung stärken.114 Dies würde bei Nichtteilnahme der Laienrichter an Erörterungen im Sinne des § 212 StPO möglicherweise vereitelt. Ist eine Teilnahme der Schöffen in diesem Fall nicht gewollt, so sollte allgemein über die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Laienrichtern nachgedacht werden.115 Solange diese aber noch an Strafverfahren mitwirken, wäre es zweckmäßig, diese jedenfalls nach Eröffnung der Hauptverhandlung und zwischen den Terminen zu beteiligen. Indem die Laienrichter zwar offiziell mitwirken sollen, aber dann doch wieder von den Vorgesprächen ausgeschlossen werden, wird nämlich genau das Gegenteil erreicht, namentlich eine weitere Erschütterung des Rechtsvertrauens der Bevölkerung. Trotzdem wird ein Verstoß gegen die formelle Komponente des Rechts auf den gesetzlichen Richter letztlich abzulehnen sein. Im Zeitpunkt der formellen Entscheidung ist gemäß § 257c Abs. 3 StPO ein Gerichtsbeschluss erforderlich, bei dem auch die Schöffen zwingend mitwirken müssen. Die formelle Beteiligung liegt daher in ausreichendem Maße vor. b) Verstoß gegen sachliche Unabhängigkeit der Schöffen Zum anderen könnte aber aufgrund des Informationsdefizits der Schöffen, das aus deren Nichtteilnahme bei Gesprächen nach §§ 202a, 212 StPO resultiert, die materielle Komponente des gesetzlichen Richters betroffen sein. Aufgrund der fehlenden Informationen könnte die richterliche Unabhängigkeit aus Art. 97 GG nicht mehr gewährleistet sein. Dadurch könnten die Schöffen die materiellen Anforderungen an den gesetzlichen Richter nicht mehr erfüllen, sodass der Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt wäre. Aufgrund der mangelnden Teilnahme an den Vorgesprächen nach §§ 202a, 212 StPO wirkt das Informationsdefizit in der Hautpverhandlung fort. Selbst wenn in der Hauptverhandlung erneut inhaltlich über die Absprache gesprochen wird, ist eine gleichwertige Beteiligung der Schöffen wohl schwer denkbar. Zudem ist die Information durch die Berufsrichter eher subjektiv, wenn nicht sogar ergebnisorientiert, sodass die sachliche Unabhängigkeit der Schöffen im Sinne des Art. 97 GG gefährdet ist. Auch wenn die Schöffen umfassend und möglichst neutral über die wesentlichen Punkte informiert werden, so verbleibt bei den Berufsrichtern ein Informationsvorsprung wegen der persönlichen Teilnahme. Rönnau lehnt einen Verstoß gegen die materielle Ausprägung des Rechts auf den gesetzlichen Richter vor allem deshalb ab, weil der Art. 97 GG nur vor Eingriffen von 113 114 115

Rönnau, GS-Weßlau, S. 304. Rönnau, GS-Weßlau, S. 304 f. So auch Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 75.

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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außen schütze und nicht im Innenverhältnis einer Gerichtskammer gelte.116 Dies ist aber nicht zutreffend. Die Garantie der sachlichen Unabhängigkeit der Berufs- und Laienrichter gilt auch im Innenverhältnis einer Gerichtskammer.117 Dies soll im Wesentlichen gewährleisten, dass auch innerhalb der Gerichtskammer keine Weisungen erfolgen dürfen.118 Der Begriff der Weisungen ist dabei weit auszulegen und umfasst nicht nur die klassischen Weisungen, sondern jede vermeidbare Form der Einflussnahme.119 Vermeidbar in diesem Sinne soll jede Beeinflussung des Richters sein, die zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Rechtsprechungsorganisation nicht zwingend nötig ist.120 Auf die konkrete Rechtsprechungstätigkeit darf daher auch keinerlei sonstige Einflussnahme erfolgen, wie beispielsweise Ersuchen, Bitten, Empfehlungen und Anregungen.121 In Rechtsprechung und Literatur wird zwischen dem Kernbereich richterlicher Tätigkeit und dem Bereich der äußerlichen Ordnung differenziert.122 Zum Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit gehört die eigentliche Rechtsfindung, wobei „im Interesse eines wirksamen Schutzes der richterlichen Unabhängigkeit eine großzügige Grenzziehung geboten“ ist.123 Das hieße, dass „alle der Rechtsfindung auch nur mittelbar dienenden – sie vorbereitenden und ihr nachfolgenden – Sach- und Verfahrensentscheidungen in den Schutzbereich der richterlichen Unabhängigkeit“ einzubeziehen sind.124 Der Kernbereich ist jeder Beeinflussung entzogen. Allerdings ergibt es sich schon aus dem Wesen eines Kollegialgerichts, dass es jedenfalls erlaubt sein muss, bei der Beratung über ein Urteil für die eigene Meinung einzustehen und Überzeugungsarbeit zu leisten.125 116

Rönnau, FS-Schlothauer, S. 373. Schilken, JZ 2006, 860, 862; Detterbeck, in: Sachs GG, Art. 97 Rn. 16; Morgenthaler, in: BeckOK GG, Art. 97 Rn. 11; BVerfG, NJW 1996, 2149, 2150; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG, Bd. 3 Art. 97 Rn. 43; Papier, NJW 2001, 1089, 1090; Meyer, in: v. Münch/Künig, GGK II, Art. 97 Rn. 5. 118 BVerfG, NJW 1996, 2149, 2150; Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke GG, Art. 97 Rn. 6. 119 BVerfGE 12, 81, 88; BVerfGE 26, 79, 93; BVerfGE 38, 1, 21; BVerfGE 55, 372, 389; Schilken, JZ 2006, 860, 863; Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke GG, Art. 97 Rn. 6; vgl. Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 97 Abs. 1 Rn. 17. 120 BVerfGE 26, 79, 94; Meyer, in: v. Münch/Künig, GGK II, Art. 97 Rn. 6; Schilken, JZ 2006, 860, 863 f. 121 Schilken, JZ 2006, 860, 863. 122 BGHZ 42, 163, 169 f.; BGHZ 47, 275, 287; BGHZ 67, 184, 187; BGHZ 70, 1, 4; BGHZ 76, 288, 291; BGHZ 90, 41, 45; BGHZ 93, 238, 243 f.; OLG Frankfurt, NJW 1987, 1208; Papier, NJW 1990, 8, 10. 123 BGHZ 90, 41, 45; Papier, NJW 1990, 8, 10. 124 BGHZ 42, 163, 169; BGHZ 47, 275, 287; BGHZ 70, 1, 4 f.; BGHZ 90, 41, 45; BGHZ 93, 238, 243; OLG Frankfurt, NJW 1987, 1208; wobei die Urteile alle Maßnahmen der Dienstaufsicht zum Gegenstand haben und keine Weisungen innerhalb des Spruchkörpers vgl. Papier, NJW 1990, 8, 10. 125 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 97 Abs. 1 Rn. 17. 117

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Auch die Erörterungen im Sinne des § 212 StPO bereiten die Entscheidung jedenfalls mittelbar vor, sodass eine Beteiligung der Schöffen eigentlich zwingend wäre. Das aus der Nichtteilnahme resultierende Informationsdefizit, das in der Norm auch so angelegt ist, könnte dazu führen, dass die Schöffen aufgrund ihrer Uninformiertheit die Anforderungen des Art. 97 GG nicht mehr erfüllen. Entscheidend wird daher zum einen sein, ob die persönliche Teilnahme der Laienrichter an den Gesprächen überhaupt verzichtbar ist. Sollte dies der Fall sein, muss zum anderen geprüft werden, ob die Mitteilungs- und Dokumentationspflichten ausreichen, um die sachliche Unabhängigkeit der Laienrichter im Sinne des Art. 97 GG zu gewährleisten oder ob dies nur durch eine persönliche Teilnahme an den Gesprächen erreicht werden kann. Der Art. 97 GG schreibt vor, dass es auch innerhalb des Spruchkörpers keine Weisungen geben darf. Die sachliche Unabhängigkeit schützt den Richter jedenfalls vor solchen internen Eingriffen, für die es an einer Ermächtigung zur Wahrnehmung richterlicher Funktionen nach jedem rechtlichen Gesichtspunkt fehlt.126 Dies soll dem Richter ermöglichen, seine eigene Rechtsauffassung zu vertreten.127 Bei den Mitteilungen über den Inhalt der Verständigungsgespräche handelt es sich jedenfalls nicht um Weisungen. Innerdienstliche Weisungen haben Regelungswirkung und beziehen sich auf die Art der Aufgabenerfüllung.128 Dazu gehört auch das Vertreten bestimmter Standpunkte bei Verhandlungen mit Dritten.129 Die Richter, die an den Verständigungsgesprächen beteiligt waren, sollen den sonstigen Richtern aber nur den wesentlichen Inhalt der Verständigungsgespräche mitteilen; §§ 212, 202a S. 2, 243 Abs. 4 StPO. Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass der Richter im Einzelfall eine einseitige Darstellung vornimmt, um die Laienrichter zu beeinflussen. Dies entspricht allerdings nicht dem gesetzlichen Richterbild, das eine besondere Neutralität und Unvoreingenommenheit vorsieht.130 Es wäre verfehlt, die Verfassungswidrigkeit der Norm anzunehmen und dies damit zu begründen, dass die Richter den Sachverhalt und die Ergebnisse der Gespräche einseitig darstellen werden. Ausgehend von dem verfassungsrechtlichen Richterbild ist die Norm daher nicht zu beanstanden. Sollte sich auf Rechtsanwendungsebene ein anderes Bild ergeben und zwar ein solches, dass die Laienrichter regelmäßig falsch oder einseitig informiert werden, dann führt die fehlerhafte Rechtsanwendung jedenfalls nicht zur Verfassungswidrigkeit der Norm. Der Gesetzgeber kann nur von dem Idealbild des Richters ausgehen. Daher kann nicht angenommen werden, dass die fehlerhafte Rechtsanwendung in der Norm selbst begründet ist. 126

BVerfG, NJW 1996, 2149, 2150. Detterbeck, in: Sachs GG, Art. 97 Rn. 15. 128 Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. 25; Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 18 Rn. 732. 129 Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 18 Rn. 734. 130 Heussen, NJW 2015, 1927. 127

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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Der Gesetzgeber hat sich in § 212 StPO dafür entschieden, dass weder die körperliche Anwesenheit aller Berufsrichter noch die der Schöffen erforderlich ist. Er hatte die Möglichkeit, deren Teilnahme zumindest bei ergebnisorientierten Gesprächen zwingend vorzuschreiben. Stattdessen hat er sich in diesem Zusammenhang für umfassende Mitteilungs- und Protokollierungspflichten entschieden. Diese sollen die spätere Mitwirkung innerhalb der Hauptverhandlung sichern. Zudem hat sich der Gesetzgeber in §§ 257b, 257c StPO für die zwingende Mitwirkung aller Richter und Schöffen entschieden. Bei einem Verstoß gegen die Transparenz- und Dokumentationspflichten ist außerdem regelmäßig ein „Beruhen“ im Sinne des § 337 StPO anzunehmen.131 Sollten die Ergebnisse derartiger Gespräche also nicht ausreichend protokolliert sein oder die Mitteilung an die Verfahrensbeteiligten oder die Schöffen unterbleiben, so liegt gleichzeitig ein Revisionsgrund vor und das Urteil ist aufzuheben. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetzgeber das Problem der körperlichen Anwesenheit im Hinblick auf den gesetzlichen Richter gesehen hat und zur Sicherung dieses Grundsatzes auch gewisse Schutzmechanismen eingeführt hat. Im Hinblick auf die Vorkehrungen zum Schutz eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts obliegt dem parlamentarischen Gesetzgeber eine gewisse Entscheidungsprärogative.132 Der Gesetzgeber hat sowohl bei Festlegung seiner Regelungsziele als auch bei der Wahl der geeigneten und erforderlichen Mittel zur Erreichung dieser Ziele einen weiten Prognose- und Handlungsspielraum.133 Es ist daher anzunehmen, dass der § 212 StPO das Recht auf den gesetzlichen Richter aufgrund ausreichender Vorkehrungen wahrt. Dafür sprechen auch praktische Erwägungen. Gespräche nach § 212 StPO würden bei Anwesenheitspflicht der Schöffen erheblich erschwert.134 Die körperliche Anwesenheit der Laienrichter ist daher aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zwingend erforderlich. Zu klären ist daher, ob die konkrete Ausgestaltung der Mitteilungs- und Protokollierungspflichten die sachliche Unabhängigkeit der Laienrichter in ausreichender Weise gewährleistet. Den Richter trifft im Fall von Gesprächen nach §§ 202a, 212 StPO zum einen die Pflicht, den wesentlichen Inhalt der Erörterungen gemäß § 202a S. 2 StPO aktenkundig zu machen. Außerdem unterliegt er gemäß § 243 Abs. 4 StPO einer Mitteilungspflicht. Diese umfasst laut BVerfG die Information, welcher Standpunkt 131

BVerfGE 133, 168, 223. Vgl. Bickenbach, S. 5; Meßerschmidt, S. 713 ff.; BVerfGE 110, 141, 158 sieht das gesetzgeberische Ermessen erst dann als überschritten an, wenn die gesetzgeberischen Erwägungen so fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für derartige Maßnahmen darstellen können. 133 BVerfGE 110, 141, 157. 134 Dies gilt insbesindere, wenn diese vor dem ersten Hauptverhandlungstag stattfinden. Weitere Probleme ergäben sich bei Krankheit oder sonstiger Verhinderung eines Schöffen vgl. §§ 48 f. GVG. 132

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

durch welchen Gesprächsteilnehmer vertreten wurde, von welcher Seite die Frage der Verständigung aufgeworfen wurde und ob sie bei beiden Gesprächspartnern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist.135 Durch die umfassenden Mitteilungsund Protokollierungspflichten wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass die Öffentlichkeit sowie die Verfahrensbeteiligten über den wesentlichen Inhalt der Gespräche informiert werden.136 Dadurch muss sichergestellt werden, dass die Schöffen sowie die nicht an Vorgesprächen beteiligten Berufsrichter ausreichend informiert in Gespräche nach §§ 257b, 257c StPO eintreten können. Auch hier muss vom Ideal des gesetzlichen Richters ausgegangen werden. Insbesondere musste der Gesetzgeber davon ausgehen, dass die Schöffen im Rahmen des § 243 Abs. 4 StPO ausreichend informiert werden. Außerdem muss der wesentliche Inhalt gemäß § 202a S. 2 StPO aktenkundig gemacht werden. Auf Gesetzesebene wird für die ausreichende Information der Laienrichter gesorgt. Hier liegt daher kein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter vor. Werden die Dokumentations- und Mitteilungspflichten eingehalten, so liegt auch auf Rechtsanwendungsebene kein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter vor. Die Berufs- sowie Laienrichter haben bei richtiger Information noch die vollwertige Möglichkeit im Rahmen der §§ 257b, 257c StPO Einfluss zu nehmen und an den Abstimmungen im Sinne des § 263 StPO mitzuwirken. Werden allerdings nicht sämtliche Berufs- und Laienrichter an Gesprächen gemäß §§ 257b, 257c StPO beteiligt, so liegt gleichzeitig ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter vor. Dasselbe gilt auf Rechtsanwendungsebne, wenn insbesondere die Laienrichter über Vorgespräche nicht ausreichend informiert werden. Obwohl die Regelungen der Verfassung genügen, ist die Vorgehensweise im Rahmen des § 212 StPO bei Gesprächen zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen oder in Verhandlungspausen fragwürdig hinsichtlich der Funktionalität des Instituts der Schöffen. Zwar haben die Schöffen dank der §§ 257b, 257c StPO noch Einwirkungsmöglichkeiten, hier sind sie aber vollends von der Information durch die Berufsrichter abhängig.137 Werden die Transparenzvorschriften gewahrt, so ist deren Beteiligung zwar theoretisch noch möglich, trotzdem können im Rahmen von Erörterungen nach § 212 StPO in der Praxis schon sehr konkrete Vereinbarungen getroffen werden. Die Schöffen können diese hinnehmen oder ablehnen, was wohl auch davon abhängig sein dürfte, wie ihnen das Ergebnis „verkauft“ wird. Eine 135

BVerfGE 133, 168, 217. Eine Ansicht nimmt dabei an, die Vorschrift diene in erster Linie der Information der Öffentlichkeit BVerfGE 133, 168, 217 f.; BVerfG, NJW 2015, 1235, 1237; MüKoStPO/Arnoldi, Bd. 2 § 243 Rn. 40; SSW-StPO/Franke, § 243 Rn. 14; die andere Ansicht nimmt an, die Vorschrift diene in erster Linie der Information der Verfahrensbeteiligten, insbesondere des Angeklagten: BGHSt 58, 310, 314 Rn. 13; BGH, StV 2013, 740; BGH, StV 2014, 651; BGH, StV 2014, 67; BGH, StV 2014, 653, 654; BGH, NStZ 2015, 178; Niemöller/Schlothauer/ Weider, § 243 Abs. 4 Rn. 6; Henckel, S. 27. 137 So auch Bogner, S. 32. 136

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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komplett neue Verhandlung wird in der Hauptverhandlung aber nicht mehr stattfinden. Die Missbrauchsgefahr liegt auf der Hand. Daher wäre es de lege ferenda wünschenswert, den § 212 StPO jedenfalls ab Beginn des ersten Hauptverhandlungstages ausdrücklich für unanwendbar zu erklären oder zumindest teleologisch zu reduzieren.138 So könnte eine Umgehung insbesondere des § 257b StPO verhindert werden. Vor allem in Verhandlungspausen gibt es keinen Grund, die körperlich ohnehin anwesenden Schöffen nicht an den Verständigungsgesprächen zu beteiligen. Die Beteiligung der Laienrichter trägt dazu bei, die Rechtsprechung in einem demokratisch organisierten Gemeinwesen zu legitimieren sowie das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtsprechung zu stärken.139 Finden die Gespräche vor dem ersten Hauptverhandlungstag und ohne Beteiligung der Schöffen statt, so ist diesen zumindest ein Akteneinsichtsrecht zwingend zu gewähren.140 Ansonsten hätten die Berufsrichter gegenüber den Laienrichtern einen Informationsvorsprung. Möglicherweise würde die umfassende Stärkung der Stellung der Laienrichter im Verständigungsverfahren das Vertrauen der Öffentlichkeit auch in Urteile, die durch eine Verständigung zustande gekommen sind, fördern. Das Institut der Laienrichter sollte daher nicht gänzlich abgeschafft, sondern gestärkt und geschützt werden. c) Ergebnis Nach dem oben Gesagten liegt kein Verstoß der Verständigungsvorschriften gegen das Gebot des gesetzlichen Richters vor. III. Gewährung rechtlichen Gehörs Art. 103 Abs. 1 GG statuiert das Recht auf rechtliches Gehör und stellt einen Eckpfeiler des fairen gerichtlichen Verfahrens dar.141 Bei Art. 103 Abs. 1 GG handelt es sich um ein prozessuales „Urrecht“ sowie um ein objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein gerichtliches Verfahren nach dem Grundgesetz konstitutiv und unabdingbar ist.142 Der Art. 103 Abs. 1 GG hat daher gewissermaßen eine „Doppelnatur“, zum einen als Grundrecht oder Leistungsrecht und zum anderen als 138

Ähnlich Seppi, S. 137 f. mit einer „restriktiven Auslegung“; jedenfalls kritisch Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10. 139 So auch Rönnau, GS-Weßlau, S. 307 f. 140 Vgl. SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 19. 141 Siolek, S. 192; vgl. Remmert, in: Maunz/Dürig GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 1 (Stand: September 2016). 142 BVerfGE 55, 1, 6; BVerfGE 107, 395, 408; Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 103 Abs. 1 Rn. 1; Radtke, in: BeckOK GG, Art. 103 Rn. 2; vgl. Kment, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 103 Rn. 1; es handelt sich dabei um ein sogenanntes „Verfahrensgrundrecht“ Zuck, FS-Krämer, S. 85.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

objektives Prozessrecht.143 Dieses Recht ist zudem sinngemäß in Art. 6 EMRK verankert.144 Das objektiv-rechtliche Element sichert die Aufgabenerfüllung der Gerichte in Gestalt von „gesetzesrichtigen und gerechten Entscheidungen“.145 Eine Voraussetzung ist daher eine möglichst umfassende Sachverhaltsaufklärung.146 Das Grundrecht wurzelt in der Würde der Person, die nicht zum Objekt des Verfahrens gemacht werden darf, und im Rechtsstaatsprinzip.147 Aus dem Grundrecht ergeben sich für das Gericht bestimmte Handlungspflichten. Jeder muss vor Gericht die Gelegenheit haben, sich zu den gegen ihn erhobenen Anklagepunkten zu äußern und Anträge zu stellen.148 Das Gericht muss die Äußerungen zur Kenntnis nehmen und bei der Urteilsfindung ernsthaft in Erwägung ziehen.149 Das Gericht darf nur solche Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten.150 Art. 103 Abs. 1 GG soll also die Subjektstellung des Einzelnen gewährleisten, indem er diesem ermöglicht, vor Entscheidungen, die seine Rechte betreffen, zu Wort zu kommen.151 Dem Beschuldigten und den sonstigen Beteiligten soll die Gelegenheit gegeben werden, auf das Verfahren Einfluss zu nehmen.152 Dies setzt außerdem eine umfassende Kenntnis des Verfahrensstandes voraus, sodass Art. 103 Abs. 1 GG neben dem oben genannten Äußerungsrecht und der spiegelbildlichen Berücksichtigungspflicht ein Informationsrecht enthält.153 Auch die Anwesenheit des Beschuldigten ist im Strafrecht Voraussetzung für die Wahrnehmung des richterlichen

143 Remmert, in: Maunz/Dürig GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 1 (Stand: September 2016); Radtke, in: BeckOK GG, Art. 103 Rn. 2. 144 Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 103 Abs. 1 Rn. 14, 87; Remmert, in: Maunz/Dürig GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 18 f. (Stand: September 2016); Degenhart, in: Sachs GG, Art. 103 Rn. 6; Rüping, S. 106 f. 145 Radtke, in: BeckOK GG, Art. 103 Rn. 2. 146 Rüping, S. 134; Radtke, in: BeckOK GG, Art. 103 Rn. 2. 147 BVerfGE 9, 89, 95; BVerfGE 107, 395, 409; Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 103 Abs. 1 Rn. 85; ausführlich: Rüping, S. 122 – 135. 148 BVerfGE 1, 418, 429; BVerfGE 6, 12, 14; BVerfGE 6, 19, 20; BVerfGE 15, 303, 307; BVerfGE 22, 267, 273; BVerfGE 36, 85, 87; BVerfGE 42, 364, 367 f.; BVerfGE 60, 175, 210; BVerfGE 64, 135, 143; BVerfGE 81, 123, 126; BVerfGE 89, 28, 35; BVerfGE 101, 106, 129. 149 BVerfGE 11, 218, 220; BVerfGE 14, 320, 323; BVerfGE 21, 102, 103 f.; BVerfGE 22, 267, 273; BVerfGE 42, 364, 367 f.; BVerfGE 60, 250, 252; BVerfGE 64, 135, 144; BVerfGE 65, 305, 307. 150 BVerfGE 6, 12, 14; BVerfGE 12, 110, 113; BVerfGE 24, 56, 61; BVerfGE 54, 140, 142; BVerfGE 57, 250, 274; BVerfGE 64, 135, 144; Degenhart, in: Sachs GG, Art. 103 Rn. 11. 151 BVerfGE 89, 28, 35; BVerfGE 107, 395, 409; Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 103 Abs. 1 Rn. 4. 152 BVerfGE 89, 28, 35; BVerfGE 101, 106, 129; BVerfGE 107, 395, 409; Radtke, in: BeckOK GG, Art. 103 Rn. 1; Rüping, S. 135. 153 BVerfGE 107, 395, 409; Kment, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 103 Rn. 13; Radtke, in: BeckOK GG, Art. 103 Rn. 7.

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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Gehörs und folgerichtig in § 230 Abs. 1 StPO einfachgesetzlich verankert.154 Das Recht auf rechtliches Gehör ist allerdings nicht höchstpersönlich, sondern kann grundsätzlich auch durch den Anwalt wahrgenommen werden.155 Die konkrete Ausgestaltung ist den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen.156 Das Grundrecht gilt unmittelbar in der StPO, sofern diese keine einfachrechtlichen Konkretisierungen enthält.157 1. Nichtteilnahme des Beschuldigten an verständigungsbezogenen Erörterungen Im Hinblick auf das rechtliche Gehör ist insbesondere problematisch, wenn die „Verständigungsgespräche“ in einer „Dreierkonstellation“ ohne den Beschuldigten stattfinden. Dabei durften schon nach der Entscheidung BGHSt 43, 195 nur Vorgespräche außerhalb der Hauptverhandlung geführt werden, nicht die unmittelbar zur bindenden Verständigung führenden Gespräche.158 Die Verständigungsgespräche mit Bindungswirkung mussten schon vor Einführung des Verständigungsgesetzes in der Hauptverhandlung unter Beteiligung der Schöffen und des Angeklagten stattfinden.159 Nach neuer Rechtslage müssen an den Vorgesprächen im Sinne der §§ 160b, 202a, 212 StPO nicht sämtliche Verfahrensbeteiligte teilnehmen.160 Eine QuasiTeilnahmepflicht für die Verständigungsgespräche ergibt sich daraus, dass Erörterungen nach § 257b StPO161 und Verständigungsgespräche im Sinne des § 257c StPO nur in der Hauptverhandlung stattfinden dürfen und damit die einfachgesetzlichen Anwesenheitspflichten gelten.162 Die Teilnahme des Beschuldigten ist daher nur in den §§ 257b, 257c StPO vorgeschrieben. Die Teilnahme des Beschuldigten an Vorgesprächen im Sinne der §§ 160b, 202a, 212 StPO ist nicht zwingend. 154

Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 3 Art. 103 Abs. 1 Rn. 35. Radtke, in: BeckOK GG, Art. 103 Rn. 7; vgl. Kment, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 103 Rn. 48. 156 Kment, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 103 Rn. 21 f.; Degenhart, in: Sachs GG, Art. 103 Rn. 12. 157 Degenhart, in: Sachs GG, Art. 103 Rn. 12; vgl. Remmert, in: Maunz/Dürig GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 25 (Stand: September 2016); im Strafverfahrensrecht wird das Recht auf rechtliches Gehör allerdings durch eine Vielzahl von Spezialvorschriften gewährleistet, beispielsweise in der Hauptverhandlung durch § 243 Abs. 2, 4 StPO sowie §§ 257, 258 StPO Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 18 Rn. 8 f.; daneben ist das Grundrecht auch anwendbar, wenn die Anwendung des einfachen Rechts durch das Instanzgericht willkürlich oder offensichtlich falsch ist Zuck, FS-Krämer, S. 87. 158 BGHSt 43, 195, 206. 159 Vgl. BGHSt 43, 195, 206. 160 BT-Drucks. 16/12310, S. 12. 161 Dazu ausführlich oben unter 1. Kapitel B. III. 162 Für den Angeklagten regeln dies die §§ 230 ff. StPO. 155

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

In der Praxis sind an den Vorgesprächen typischerweise der Verteidiger, der Staatsanwalt und das Gericht beteiligt.163 Die Teilnahme des Beschuldigten an den außerhalb der Hauptverhandlung stattfindenden Gesprächen ist die absolute Ausnahme.164 Nur 0,2 % der befragten Richter gaben im Jahr 2013 an, dass der Angeklagte typischerweise beteiligt werde.165 Als Hauptgrund führen die Richter an, der Beschuldigte werde durch seinen Verteidiger ausreichend vertreten (40,5 %).166 Außerdem besitze er nicht die erforderliche Rechtskenntnis für eine sinnvolle Teilnahme an den Gesprächen (28,8 %).167 Besonders bedenklich ist dabei die Angabe der Richter, dass vor allem die Verteidigung eine Teilnahme des Angeklagten ablehne,168 weil ein Gespräch ohne den Angeklagten eine „offenere Atmosphäre“ ermögliche.169 Es bestehe nur zum Verteidiger, nicht aber zum Angeklagten ein Vertrauensverhältnis.170 Bei einer Befragung im Jahr 2007171 war der mit Abstand häufigste Grund für den Ausschluss des Angeklagten interessanterweise die größere Offenheit des Gesprächs (31,0 %). Die ausreichende Vertretung durch die Verteidigung wurde nur in 9,7 % der Fälle als Hauptgrund angegeben.172 Der Angeklagte hat daher in aller Regel nicht die Möglichkeit, auf das Ergebnis der Absprache direkten Einfluss zu nehmen. Zudem ist fragwürdig inwieweit der Beschuldigte über den Inhalt der Verständigungs- oder Vorgespräche informiert wird. In einer empirischen Untersuchung Schünemanns aus dem Jahr 1989 gaben nur 40 % der Anwälte an, ihren Mandanten in vollem Umfang zu informieren.173 51 % der Anwälte gaben an, ihrem Mandanten nur von dem Ergebnis zu berichten und die restlichen 9 % wahrten ihrem Mandanten 163

Altenhain/Dietmeier/May, S. 71 f. Altenhain/Dietmeier/May, S. 71 f.; in einer Studie aus dem Jahr 2008 gaben nur 22,4 % der Befragten an, dass der Beschuldigte schon einmal an den Absprachen beteiligt gewesen sei. Dass der Beschuldigte „typischerweise“ beteiligt sei, gaben nur 2,4 % der Befragten an (interessanterweise ausschließlich Staatsanwälte) Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 88. 165 Altenhain/Dietmeier/May, S. 71 f.; bei den Befragten Staatsanwälten und Verteidigern lag der Wert mit 4 % zwar höher, trotzdem ist die typischerweise Beteiligung des Angeklagten an den Verständigungsgesprächen die Ausnahme; im Jahr 2008 gaben 0 % der Richter an, dass der Angeklagte typischerweise beteiligt sei Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 88. 166 Altenhain/Dietmeier/May, S. 73 f.; dies gaben auch Staatsanwälte sowie Verteidiger mehrheitlich als Hauptgrund für die Nichtbeteiligung des Angeklagten an Altenhain/Dietmeier/ May, S. 74. 167 Altenhain/Dietmeier/May, S. 73. 168 Altenhain/Dietmeier/May, S. 73 f. dies gaben übereinstimmend sowohl die Richter als auch die Verteidiger und Staatsanwälte mit großer Mehrheit an. 169 Altenhain/Dietmeier/May, S. 73. 170 Altenhain/Dietmeier/May, S. 73. 171 Diese Studie fand vor Einführung des Verständigungsgesetzes statt, sodass davon auszugehen ist, dass Gegenstand dieser Befragung noch die Verständigungsgespräche im engeren Sinne (also mit Bindungswirkung) waren. 172 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 95. 173 Schünemann, NJW 1989, 1895, 1901. 164

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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gegenüber sogar strikte Vertraulichkeit über die stattgefundenen Gespräche.174 Ein Grund dafür sei die Vertraulichkeit des Gesprächs zwischen den Verfahrensbeteiligten.175 Dem widerspricht eine Studie von Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen aus dem Jahr 2007. Hier gaben 92,7 % aller Richter und Staatsanwälte an, der Angeklagte werde typischerweise umfassend durch seinen Verteidiger über den Inhalt der Gespräche informiert.176 Dies erklären sich die Verfasser der Studie durch die in der Zwischenzeit erfolgte Leitentscheidung des BGH. Ein weiterer Grund könnte die Beschränkung dieser Studie auf Wirtschaftsstrafverfahren sein, die zeitlich und qualitativ aufwendiger seien als Verfahren vor dem Amtsgericht mit Pflichtverteidigung.177 Außerdem handele es sich meist um Mandanten in Führungspositionen, die es gewohnt sind, Entscheidungen selbst zu treffen oder zumindest umfassend darüber informiert zu sein.178 In einer Studie von Altenhain/Dietmeier/May aus dem Jahr 2013 wurden die Verteidiger erneut befragt, ob sie ihre Mandanten immer über den Inhalt der Verständigungsgespräche informieren. Dabei gaben ausnahmslos alle Verteidiger an, ihre Mandanten immer über den Inhalt der Gespräche zu informieren. Eine Aussage darüber wie umfangreich die Mandanten informiert werden und ob diese Informationen richtig sind, konnte allerdings nicht getroffen werden.179 Problematisiert wird daher vor allem, ob die §§ 202a, 212 StPO180 verfassungsgemäß sind oder ob durch die nicht vorgeschriebene Anwesenheit des Angeklagten sein Recht auf rechtliches Gehör verletzt wird. Sofern die Anwesenheit des Angeklagten im Rahmen der Gespräche §§ 202a, 212 StPO verfassungsrechtlich nicht notwendig ist, so müsste er zumindest ausreichend informiert werden. Daher sind auch die Informations- und Mitteilungspflichten auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. 2. Meinungsstand Die überwiegende Meinung in der Literatur bejaht die Vereinbarkeit von „Absprachen“181 mit dem Recht auf rechtliches Gehör182 und sieht diese teilweise sogar 174

Schünemann, NJW 1989, 1895, 1901. Schünemann, NJW 1989, 1895, 1901. 176 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 110. 177 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 111. 178 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 111 f. 179 Altenhain/Dietmeier/May, S. 74 f. 180 Der § 160b StPO ist weit weniger problematisch, weil das Gericht das letztlich über eine Verständigung entscheidet nicht beteiligt ist. Bei Gesprächem im Sinne des § 257b StPO stellt sich dieses Problem nicht, weil die Anwesenheit des Angeklagten ohnehin vorgeschrieben ist. 181 Ein überwiegender AnTeil der Literatur hat sich mit der Vereinbarkeit der Absprachen mit dem Recht auf rechtliches Gehör schon vor Erlass des Verständigungsgesetzes beschäftigt. 175

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

als völlig unproblematisch an.183 Diese Ansicht argumentiert, dass es kein höchstpersönliches Recht auf richterliches Gehör gebe.184 Dieses Recht könne vielmehr auch von dem Verteidiger des Beschuldigten stellvertretend wahrgenommen werden.185 Außerdem gebe es ebenfalls kein Recht darauf, dass richterliches Gehör nur in der Hauptverhandlung gewährt werde.186 Wenn der Verteidiger den Beschuldigten nicht ausreichend über die Gespräche unterrichtet, stelle dies ein Problem im Innenverhältnis dar, führe aber nicht zu einem Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs.187 Es komme daher nicht darauf an, ob das Grundrecht disponibel sei.188 Außerdem habe das Verständigungsgesetz durch §§ 257c Abs. 3 S. 3, S. 4 StPO Regelungen eingeführt, die dem Angeklagten Gelegenheit zur Stellungnahme geben, beziehungsweise seine Zustimmung zur Voraussetzung für das Zustandekommen einer Verständigung machen. Diese Regelungen werden durch Protokollierungs- und Mitteilungspflichten aus §§ 202a S. 2, 243 Abs. 4, 267 Abs. 3 S. 4, 273 Abs. 1 S. 2, Abs. 1a StPO ergänzt. Dadurch habe der Gesetzgeber ausreichende Vorkehrungen zur Gewährung rechtlichen Gehörs getroffen.189 Die Gegenansicht sieht die Verständigung im Hinblick auf das rechtliches Gehör kritisch190 oder lehnt die Vereinbarkeit mit diesem Grundsatz sogar gänzlich ab.191 Eine extreme Ansicht nimmt einen Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs bereits dann ohne Einschränkung an, wenn der Angeklagte bei den Verhandlungen über die Absprache nicht körperlich anwesend war.192 Auch Rönnau und Siolek problematisieren, dass bei Abwesenheit des Angeklagten seine Äußerungs- und Mitwirkungsrechte beschnitten werden, nehmen einen Verstoß gegen den Art. 103 Abs. 1 GG aber nicht uneingeschränkt an. Wesentliche Voraussetzung des Rechts auf rechtliches Gehör sei das Anwesenheitsrecht des Diese Arbeit beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Vereinbarkeit des Verständigungsgesetzes mit den verfassungs- und verfahrensrechtlichen Grundsätzen. Trotzdem können diese Literaturstimmen im Folgenden zum Teil auf die Rechtslage de lege lata übertragen werden. 182 Henckel, S. 76 f.; Braun, S. 54; Schünemann, Gutachten, S. 147; Krause, S. 55; Saal, S. 17; Nahrwold, S. 262; Göttgen, S. 34; Huttenlocher, Rn. 61; Tscherwinka, S. 112; Gerlach, S. 98 f. 183 Braun, S. 54; Saal, S. 17; Schünemann, Gutachten, S. 147; sinngemäß Huttenlocher, Rn. 61. 184 Braun, S. 53 f.; Huttenlocher, Rn. 61. 185 Schünemann, Gutachten, S. 147; Braun, S. 54; Huttenlocher, Rn. 60; Saal, S. 17; vgl. Gerlach, S. 97. 186 Braun, S. 53; Huttenlocher, Rn. 60; Saal, S. 17. 187 Braun, S. 54; Huttenlocher, Rn. 60 f.; Saal, S. 17; vgl. Gerlach, S. 98. 188 Tscherwinka, S. 112. 189 Vgl. Krause, S. 54; Nahrwold, S. 261 f.; Göttgen, S. 34. 190 Müller, S. 85 f.; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 358. 191 Rönnau, S. 202 f.; Siolek, S. 194 f.; Kempf, StV 2009, 269, 274; Heller, S. 26; Hildebrandt, S. 56 f.; Dencker/Hamm, S. 50; Löffler, S. 48. 192 Heller, S. 26; Löffler, S. 48.

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Beschuldigten.193 Das Anwesenheitsrecht hat im Bezug auf den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt eine Kontrollfunktion.194 Eine Beeinflussung der gerichtlichen Überzeugungsbildung sei daher oftmals nicht mehr möglich. Nach Rönnau werde der Träger des Gehörrechts in eine „Statistenrolle“ verbannt und so zum bloßen „Informationsempfänger“ seitens des Verteidigers.195 Nach Rönnau stelle es auch einen gravierenden Unterschied dar, ob der Beschuldigte neben seinem Verteidiger an der Hauptverhandlung teilnimmt und notfalls selbst eingreifen kann oder ob nur der Verteidiger teilnimmt und der Beschuldigte lediglich Informationen erhält.196 Auch Müller197 merkt an, dass die Beteiligungsfunktion unterlaufen würde, wenn eine Vertretung des Angeklagten ausreichend wäre.198 Eine Verletzung sei dann nicht anzunehmen, wenn der Verteidiger Rücksprache mit seinem Mandanten nimmt, ihm die Vorschläge seitens des Gerichts darlegt und die Anliegen des Mandanten wiederum an das Gericht übermittelt.199 Dies dürfte aber in den seltensten Fällen so ablaufen. Das Recht des Art. 103 Abs. 1 GG sei außerdem unverzichtbar, sodass der Richter im Zweifel für eine ausreichende Information des Angeklagten sorgen müsse, wenn er eine Verletzung des Grundsatzes nicht riskieren will.200 Hildebrandt knüpft ebenfalls an die mangelnde Information des Angeklagten über derartige Gespräche an. Indem der Beschuldigte nur unzureichend über ein derartiges Gespräch informiert wird, werden ihm die notwendigen umfassenden Infor193

Rönnau, S. 201; Siolek, S. 194. Rönnau, S. 201; Siolek, S. 195 sieht das Anwesenheitsrecht als Ausprägung des Gebots zur Erforschung der objektiven Wahrheit an, welches deshalb unverzichtbar sei. 195 Rönnau, S. 201. 196 Rönnau, S. 201 f.; Siolek, S. 194. 197 Müller, problematisiert in diesem Kontext außerdem die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG durch die mangelnde Beteiligung des Beschuldigten bei den eine Verständigung betreffenden „Verhandlungen“. Er könne dadurch zum bloßen Objekt des staatlichen Verfahrens werden; vgl. Müller, S. 89 – 91. Müller, stellt zutreffend fest, dass eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts allenfalls dann denkbar wäre, wenn dieser dauerhaft von sämtlichen Gesprächen ausgeschlossen wäre, von seinem Verteidiger nicht aufgeklärt wird und in der Hauptverhandlung vor vollendete Tatsachen gestellt wird; vgl. Müller, S. 90 f.; i. A.: Weigend, JZ 1990, 774, 780; Schmitt, GA 2001, 411, 412; Weichbrodt, S. 133; Heller, S. 22 problematisiert die einfachgesetzlichen Anwesenheitsrechte. Es muss bedacht werden, dass der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts so weit ist, dass er von jedem Strafverfahren zumindest berührt wird. Ein im Vergleich zum Normalverfahren weitergehender Einschnitt in das allgemeine Persönlichkeitsrechtsrecht ist allerdings nicht ersichtlich. Im Gegenteil, im Rahmen der Verständigung wird das Zustandekommen de lege lata sogar von der Zustimmung des Angeklagten abhängig gemacht (§ 257c Abs. 3 S. 4 StPO), sodass dieser sogar weitergehende Mitwirkungsrechte hat als im Normalverfahren. Er wird keinesfalls zum „Objekt des Verfahrens“ vgl. bei Müller, S. 90. Daher wurde diese Diskussion hier so kurz wie möglich gehalten. 198 Müller, S. 86. 199 Müller, S. 86; Rönnau, S. 202; Siolek, S. 195. 200 Rönnau, S. 202; Siolek, S. 195; ebenso zur Einwilligungsfähigkeit der Justizgrundrechte: Amelung, StV 1985, 257, 258. 194

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

mationen über den Prozessstoff vorenthalten.201 Auch wenn der Verteidiger nur eine Pflicht aus dem Innenverhältnis verletzte, so müsse das Gericht sicherstellen, dass der Angeklagte ausreichend über die Gespräche informiert werde. Andernfalls liege ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor. Küpper/Bode kommen zu dem Ergebnis, dass ein Verstoß nur vermieden werden könne, wenn dem Angeklagten die Verständigung erläutert wird und er sich in der Hauptverhandlung dazu äußern kann.202 Janke sieht nur dann einen Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs gegeben, wenn der Verteidiger als „vollmachtloser Vertreter“ in Verständigungsgesprächen auftrete.203 Paeffgen nimmt an, dass in vielen Fällen ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör vorliege. Dies begründet er damit, dass der Beschuldigte Folgen und Ausweichmöglichkeiten wohl oft nicht realistisch einschätzen kann und der Verteidiger aufgrund seiner eigenen Interessen die Aufklärung vernachlässigt.204 3. Stellungnahme Nach den oben aufgeführten Studien ist unstreitig, dass der Beschuldigte im Regelfall nicht bei den Vorgesprächen anwesend ist. Er kann keinen Einfluss auf das Ergebnis des Gesprächs nehmen und übt sein Äußerungsrecht, das in dem Grundrecht auf richterliches Gehör enthalten ist, jedenfalls nicht selbst aus. Eine Einflussnahme durch den Beschuldigten selbst wäre insbesondere im Bezug auf den im Rahmen der Verständigung zugrunde gelegten Sachverhalt wünschenswert. Der § 212 StPO ist im Bezug auf die Anwesenheit des Beschuldigten besonders problematisch, weil die Anwesenheitspflicht des Beschuldigten bei Gesprächen, die eigentlich im Anwendungsbereich des § 257b StPO lägen, durch Verlagerung der Gespräche in die Verhandlungspause einfach umgangen werden kann.205 Dieses Problem hätte sich mit der im Rahmen des Rechts auf den gesetzlichen Richter vorgeschlagenen teleologischen Reduktion allerdings ab dem Zeitpunkt des Beginns des ersten Hauptverhandlungstages gelöst.206 Wird ab dem ersten Hauptverhandlungstag der § 212 StPO für unanwendbar erklärt oder teleologisch reduziert, so müssen ab diesem Zeitpunkt die Vorgespräche ohnehin gemäß § 257b StPO und damit in der öffentlichen Hauptverhandlung unter Beteiligung des Angeklagten stattfinden.207 Das Problem stellt sich dann nur noch für den Zeitraum vor Beginn des ersten Hauptverhandlungstages. Die folgende Diskussion bezieht sich daher unter Einbeziehung des obigen Vorschlags nur noch auf den Zeitraum vor dem ersten Hauptverhandlungstag. 201

Hildebrandt, S. 57. Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 358. 203 Janke, S. 136. 204 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 20. 205 Kritisch: Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 10. 206 Vgl. oben bei 2. Kapitel § 2 A. II. 3. 207 Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257b Rn. 3; KK/Wenske, § 257b Rn. 12; a. A. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257b Rn. 2. 202

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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Das Recht auf rechtliches Gehör kann nach allen Auffassungen auch durch den Anwalt stellvertretend ausgeübt werden und somit kann auch auch das darin enthaltene Äußerungsrecht von ihm wahrgenommen werden.208 In seiner Ausprägung als Grundrecht kann der Beschuldigte daher auf dessen persönliche Ausübung verzichten. Problematisch könnte die objektivrechtliche Komponente als Prozessrecht sein. Sofern die Anwesenheit des Beschuldigten der Wahrheitsfindung und damit indirekt dem rechtsstaatlichen Verfahren dient, kann der Beschuldigte hierauf nicht verzichten.209 Trotzdem kann keine höchstpersönliche Anwesenheit des Beschuldigten gefordert werden, weil der Verteidiger stellvertretend für den Beschuldigten an der Wahrheitsfindung mitwirkt. Es handelt sich daher faktisch nicht um einen Verzicht auf das Grundrecht. Allein die körperliche Abwesenheit bei den der Verständigung vorgelagerten Gesprächen ist deshalb für das Recht auf rechtliches Gehör unschädlich. Auch die Regelungen zur Erörterung des Verfahrensstands aus §§ 160b, 202a, 212, 257b StPO fördern die Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten210 und dienen somit auch dem rechtlichen Gehör. Die Regelungen des § 257c Abs. 3 S. 3, 4 StPO dienen explizit dem Äußerungsrecht des Angeklagten als Ausprägung rechtlichen Gehörs. Die Stimmen in der Literatur, die das Recht auf rechtliches Gehör als verletzt ansehen, stützen dies vorwiegend auf eine Verletzung des Informationsrechts.211 Hier hat der Gesetzgeber durch die Protokollierungspflichten aus §§ 267 Abs. 3 S. 4, 273 Abs. 1 S. 2, Abs. 1a StPO und vor allem die Mitteilungspflichten aus §§ 202a S. 2, 243 Abs. 4 StPO Sicherungen des Informationsrechts als Ausprägung des Rechts auf richterliches Gehör vorgenommen. Aus den aktuellen Studien ist auch nicht ersichtlich, dass die Beschuldigten durch ihre Verteidiger nicht ausreichend informiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. In den aktuellen Studien wird fast ausnahmslos angegeben, dass der Beschuldigte immer umfassend über den Inhalt der Verständigungsgespräche unterrichtet wird.212 Dies spricht dafür, dass er in seinem Informationsrecht nicht verletzt ist. Hier muss daher davon ausgegangen werden, dass jedenfalls in den meisten Fällen eine ausreichende Information stattfindet. Daher verstößt das Verständigungsgesetz nicht gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör. Auch wenn die Verständigung nicht grundsätzlich gegen das Recht auf rechtliches Gehör verstößt, kann ein solcher Verstoß im Einzelfall vorliegen. Das Gericht darf sich nicht darauf verlassen, dass der Beschuldigte von seinem Verteidiger in jedem 208

Dies wird von Heller, S. 26; Löffler, S. 48 verkannt. Vgl. Amelung, StV 1985, 257, 258. 210 BT-Drucks. 16/12210, S. 2; vgl. auch: SSW-StPO/Rosenau, § 202a Rn. 3; Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 160b Rn. 1; MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 § 257b Rn. 1. 211 Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 358; Siolek, S. 194 f.; Hildebrandt, S. 56 f.; Müller, S. 85 f. 212 Vgl. Altenhain/Dietmeier/May, S. 74 f.; Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 110. 209

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Fall ausreichend informiert werde. Es kann im Einzelfall eine Fürsorgepflicht für das Gericht bestehen, auf die ausreichende Information des Beschuldigten hinzuwirken. Das Gericht ist Adressat des Grundrechts auf rechtliches Gehör. Zumindest dann, wenn für das Gericht offensichtlich ist, dass der Angeklagte nicht oder nur im Ansatz über die stattgefundenen Vorgespräche informiert ist und nicht einschreitet, liegt im Einzelfall ein Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör vor. Im Bezug auf die Anwesenheit und die Beteiligung des Beschuldigten hat das Verständigungsgesetz aus verfassungsrechtlicher Sicht ausreichende Vorkehrungen getroffen. Der Beschuldigte muss bei Vorgesprächen nicht zwingend anwesend sein, seine Anwesenheit bei den Verständigungsgesprächen nach § 257c StPO sowie verständigungsbezogenen Erörterungen nach § 257b StPO in der Hauptverhandlung ist dagegen zwingend. Seine Beteiligung wird dafür durch Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten gesichert, die allerdings noch umfassender sein dürften. Um eine Umgehung des § 257b StPO zu verhindern muss der § 212 StPO ab Beginn des ersten Hauptverhandlungstages teleologisch reduziert werden. IV. Verstoß gegen das Schuldprinzip und die Unschuldsvermutung Die Verständigung könnte auch in einem Konflikt mit dem Schuldprinzip und der eng damit zusammenhängenden Unschuldsvermutung stehen. 1. Schuldprinzip Obwohl das Schuldprinzip in engem Zusammenhang mit der Menschenwürde sowie dem Menschenbild des Grundgesetzes steht, wird es in diesem nicht ausdrücklich erwähnt.213 Zunächst wurde das Schuldprinzip allein aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet.214 Einige Jahre später begannen die Gerichte mit der Heranziehung von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG.215 Seitdem wird stets auf die verfassungsrechtliche Verankerung des Schuldgrundsatzes verwiesen, wobei allerdings unterschiedliche Begründungen herangezogen werden.216 Zum Teil wird das Schuldprinzip auch heute noch mit dem Rechtsstaatsprinzip begründet.217 Andere Urteile bedienen sich zur Herleitung des Schuldgrundsatzes allein der Menschen-

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Adam/Schmidt/Schumacher, NStZ 2017, 7; Landau, NStZ 2015, 665, 666 f. BVerfGE 20, 323, 331 wobei bei einem Verstoß gegen das Schuldprinzip zugleich eine Verletzung des Verurteilten in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs 1 GG angenommen wird. 215 BVerfGE 25, 269, 285. 216 Vgl. Hörnle, in: Schumann, Gesetz im Rechtsstaat, S. 107; Hörnle, FS-Tiedemann, S. 327; Rabe, S. 128. 217 BVerfGE 58, 159, 163; BVerfGE 80, 109, 120 stellt zusätzlich einen Bezug zu Art. 2 Abs. 1 GG her. 214

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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würde218 oder beziehen sich allein auf das Rechtsstaatsprinzip und Art. 1 Abs. 1 GG, ohne einen Bezug zu Art. 2 Abs. 1 GG herzustellen.219 Die überwiegende Meinung in Literatur und Rechtsprechung leitet das Schuldprinzip heute folgerichtig aus der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1, 2 Abs. 1 GG) sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip ab.220 Aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt sich das Erfordernis materieller Gerechtigkeit und dass die Strafe als „Vorwurf“, die Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld des Täters, voraussetzt.221 Daraus folgt, dass die Strafe im Hinblick auf Art. 20 GG gerecht und im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG dem Individuum vorwerfbar sein muss.222 Das Schuldprinzip besagt, dass die Schuld Voraussetzung jeder Strafe ist.223 Es beinhaltet eine Forderung nach materieller Gerechtigkeit, die Strafe muss in einem angemessenen Verhältnis zur Schuld des Täters stehen.224 Der Schuldgrundsatz ist daher eng mit dem Amtsermittlungsgrundsatz verbunden.225 Eine einfachgesetzliche Ausprägung des Schuldprinzips findet sich in § 46 StGB, wonach das Gericht alle relevanten Tatsachen berücksichtigen und die Schuld des Täters die Grundlage der Strafzumessung bilden muss.226 Nach der vom BGH entwickelten Spielraumtheorie verbleibt dem Gericht ein gewisser „Strafmaßspielraum“ in welchem die schuldangemessene Strafe bestimmt werden kann.227 Solange eine Strafe innerhalb dieses Strafmaßspielraums liegt ist sie daher schuldangemessen. Wenn im Folgenden von einer nicht schuldangemessenen Strafe gesprochen wird, so liegt diese außerhalb des Strafmaßspielraums und damit außerhalb des richterlichen Ermessens.

218

BVerfGE 45, 187, 228; BVerfGE 90, 145, 173; BVerfGE 123, 267, 413. BVerfGE 50, 125, 133; BVerfGE 50, 205, 214; BVerfGE 80, 244, 255; so auch Heller, S. 27; Huttenlocher, Rn. 140 ohne eingehende Begründung. 220 Hörnle, in: Schumann, Gesetz im Rechtsstaat, S. 109; Hörnle, FS-Tiedemann, S. 339; Adam/Schmidt/Schumacher, NStZ 2017, 7, 7 f.; Krause, S. 40; Göttgen, S. 24; vgl. BVerfGE, 45, 187, 259 f.; BVerfGE 50, 5, 12; BVerfGE 54, 100, 108; BVerfGE 86, 288, 313; BVerfGE 91, 1, 27; BVerfGE 95, 96, 140; BVerfGE 110, 1, 13; BVerfGE 133, 168, 197; vgl. zur Entwicklung des Schuldgrundsatzes in der Rechtsprechung Hörnle, FS-Tiedemann, S. 326 f.; Hörnle, in: Schumann, Gesetz im Rechtsstaat, S. 107 f. 221 Hörnle, in: Schumann, Gesetz im Rechtsstaat, S. 109. 222 Vgl. zur Begründung der Herleitung des Schuldprinzips die ausführliche Darstellung bei Hörnle, FS-Tiedemann, S. 328 – 339. 223 BVerfGE 20, 323, 331; BVerfGE 57, 250, 275; BVerfGE 58, 159, 163; BVerfGE 80, 244, 255; BVerfGE 95, 96, 140; BVerfGE 133, 168, 198; Frisch, FS-Streng, S. 685. 224 BVerfGE 20, 323, 331; BVerfGE 45, 187, 228; BVerfGE 50, 5, 12; BVerfGE 50, 205, 215; BVerfGE 73, 206, 253; BVerfGE 80, 244, 255; BVerfGE 86, 288, 313; BVerfGE 95, 96, 140; BVerfGE 96, 245, 249; BVerfGE 109, 133, 171; BVerfGE 110, 1, 13; BVerfGE 120, 224, 254; BVerfGE 133, 168, 198; vgl. Landau, NStZ 2011, 537, 538; Göttgen, S. 24. 225 BVerfG, NJW 1981, 1719, 1722; BVerfGE 133, 168, 226; Göttgen, S. 25; Murmann, FSRoxin, S. 1389. 226 Nahrwold, S. 323. 227 BGHSt 7, 28, 32; BGHSt 20, 264, 266 f.; BGHSt 29, 319, 320. 219

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Unproblematisch von den Grenzen des Schuldgrundsatzes umfasst ist das Verbot der Schuldüberschreitung. Die Strafe darf das Maß der Schuld nicht überschreiten.228 Umstritten ist, ob das verfassungsrechtliche Gebot schuldangemessenen Strafens auch ein Schuldunterschreitungsverbot enthält, also ob auch eine zu milde Strafe gegen das verfassungsrechtliche Gebot schuldangemessenen Strafens verstößt.229 Hörnle nimmt an, dass es aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht bedenklich sei, eine Strafe zu verhängen, die geringfügig unter dem Spektrum der schuldangemessenen liege. Ein deutliches Abweichen von der schuldangemessenen Strafe würde den Schuldgrundsatz allerdings entwerten.230 Auch Stree hält die Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe aus spezialpräventiven Gründen für zulässig.231 Frisch stellt fest, dass auch das Schuldunterschreitungsverbot Teil des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips sei. Er merkt aber auch an, dass dieser Grundsatz eine andere Wurzel habe als die Grundsätze „keine Strafe ohne Schuld“ und das Schuldüberschreitungsverbot.232 Gegen die Überschreitung der Schuldstrafe ist der Täter über das Rechtsstaatsprinzip und speziell den Schuldgrundsatz verfassungsrechtlich geschützt, sodass eine Überschreitung einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in seine Rechte darstellt.233 Eine zu milde Strafe stelle aber jedenfalls keinen Eingriff in die Rechte des Angeklagten dar.234 Die Strafe sei daher nur insofern ungerecht, als sie hinter der Idee der Strafgerechtigkeit zurückbleibt.235 Dies könne nur dann als verfassungswidrig bezeichnet werden, wenn auch die Durchsetzung der verdienten und gerechten Strafe von der Verfassung gefordert ist.236 Auch mit einer Menschenwürdeverletzung könne das Verbot der Schuldunterschreitung nicht begründet werden.237 Frisch sucht die Begründung daher in der Aufgabe des Staates, die Freiheiten, Rechte und Güter seiner Bürger zu schützen.238 Dem dienen das materielle Strafrecht, das Strafprozessrecht sowie die Strafrechtspflege.239

228 BVerfGE 34, 261, 267; BVerfGE 50, 205, 215; BVerfGE 73, 206, 253; BVerfGE 86, 288, 313; BVerfGE 90, 145, 203; BVerfGE 95, 96, 140; BVerfGE 110, 1, 13; Frisch, in: Frisch, Strafzumessung, S. 22 f. 229 Vgl. dazu Hörnle, S. 336 ff. 230 Hörnle in: Schumann, Gesetz im Rechtsstaat, S. 127. 231 Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, § 46 Rn. 5. 232 Frisch, FS-Streng, S. 699; Frisch, NStZ 2013, 249, 250; Frisch, in: Frisch, Strafzumessung, S. 23 ff. 233 Frisch, FS-Streng, S. 699; vgl. Frisch, in: Frisch, Strafzumessung, S. 22 f. 234 Frisch, FS-Streng, S. 699. 235 Frisch, FS-Streng, S. 699. 236 Frisch, FS-Streng, S. 699 f. 237 Frisch, FS-Streng, S. 700. 238 Frisch, NStZ 2013, 249, 250; Frisch, FS-Streng, S. 700. 239 Frisch, FS-Streng, S. 700.

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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Während das materielle Strafrecht besonders wichtige Güter vor bestimmten Beeinträchtigungen und Gefährdungen durch strafbewehrte Verbote schütze,240 ermögliche das Strafprozessrecht die Umsetzung dieses Schutzprogramms, indem es die Basis für die Verwirklichung des materiellen Rechts schafft.241 Die Strafrechtspflege habe dem zu realer Geltung zu verhelfen, indem sie dem materiellen Recht entsprechende Inhalte auf der Basis des Prozessrechts im Einzelfall konkretisierend verwirkliche. Nur wenn sie das tue, sei sie funktionsgerecht und verschaffe dem Strafrecht jene Wirksamkeit, die unentbehrlich ist, um einen Schutz der wichtigsten Freiheiten, Rechte und Güter zu gewährleisten.242 Aus diesen Vorüberlegungen zum verfassungsrechtlichen Auftrag des Strafrechts ergibt sich laut Frisch das Verbot der Schuldunterschreitung.243 Für einen wirksamen Schutz der Strafrechtspflege müssen die Strafen verhängt werden, die nach materiellem Recht vorgesehen sind.244 Auch die Rechtsprechung der obersten Gerichte nimmt an, dass die Strafe die Schuld nicht unterschreiten darf.245 Das verfassungsrechtliche Schuldprinzip umfasst daher das Gebot, dass die Schuld Voraussetzung der Strafe ist. Außerdem enthält es ein Schuldüberschreitungs- sowie ein Schuldunterschreitungsverbot. Im Rahmen der Verständigung könnte insbesondere das Verbot der Schuldunterschreitung relevant sein.246 a) Schuldunangemessene Strafen im Rahmen der Verständigung? Ein Konflikt mit dem Schuldprinzip könnte sich im Rahmen der Verständigung aus drei Gründen ergeben. Zum ersten ist fraglich, ob Geständnisse, die allein aus prozesstaktischen Gründen abgegeben werden, die Strafe überhaupt mildern können. Wenn dies der Fall ist, so muss weiter geklärt werden, ob zum zweiten die Strafmilderung höher sein darf als bei einem Geständnis im streitigen Verfahren. Durchschnittlich liegt der gewährte Strafnachlass im Gegensatz zu streitigen Normalverfahren zwischen 25 % und 33 %.247 Die Gründe für die Honorierung des Geständnisses waren dabei zum einen, dass jedes Geständnis nach dem richter-

240

Frisch, FS-Streng, S. 700. Frisch, FS-Streng, S. 700; Murmann, GA 2004, 65, 70 ff. 242 Frisch, FS-Streng, S. 700. 243 Frisch, NStZ 2013, 249, 250; Frisch, FS-Streng, S. 700; ausdrücklich speziell für die Situation der Verständigung BVerfGE 133, 168, 207; BGHSt 50, 40, 49; ebenso BVerfGE 20, 45, 49; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 44; Huttenlocher, Rn. 141. 244 Frisch, NStZ 2013, 249, 250; Frisch, FS-Streng, S. 700. 245 BVerfGE 46, 214, 222 f.; BVerfGE 110, 1, 13; BVerfGE 122, 248, 272 f.; BVerfGE 133, 168, 199, 207; BGHSt 7, 28, 32; BGHSt 24, 132, 134; BGHSt 29, 319, 321; BGHSt 43, 195, 209 f.; BGHSt 50, 40, 49. 246 Vgl. BVerfGE 133, 168, 207. 247 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 161; Altenhain/Dietmeier/May, S. 116. 241

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

rechtlichen Gewohnheitssatz strafmildernde Wirkung hat, und zum anderen verfahrensökonomische Gesichtspunkte.248 Zum dritten könnte sich ein Konflikt mit dem Schuldgrundsatz auch daraus ergeben, dass die Straftat nicht ausreichend aufgeklärt wurde. Die lückenlose Aufklärung ist aber Voraussetzung für eine schuldangemessene Strafe. § 257c Abs. 1 S. 2 StPO verweist allerdings darauf, dass der Amtsaufklärungsgrundsatz aus § 244 Abs. 2 StPO unberührt bleibt. Zu klären ist daher, ob der Amtsaufklärungsgrundsatz eingehalten wird. Wenn dies nicht der Fall ist, so kann zugleich auch ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz angenommen werden. Auf dieses Problem wird daher bei der Prüfung der Vereinbarkeit der Verständigung mit dem Amtsermittlungsgrundsatz zurückzukommen sein.249 Im Rahmen der Verständigung könnte daher speziell im Hinblick auf den Schuldgrundsatz problematisch sein, dass prozesstaktische Geständnisse nach allgemeinen Strafzumessungserwägungen keinen Strafmilderungsgrund darstellen und deshalb die schuldangemessene Strafe unterschritten wird. Falls auch prozesstaktische Geständnisse strafmildernd berücksichtigt werden dürfen, stellt sich aber die Folgefrage, ob diese zu einer höheren Strafmilderung führen dürfen als Geständnisse im Normalverfahren.250 b) Meinungsstand In der Literatur stellt die Vereinbarkeit der Verständigung mit dem Schuldgrundsatz eines der am kontroversesten diskutierten Probleme auf diesem Gebiet dar. 248

Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 162. Siehe unten unter 2. Kapitel § 2 B. II. 250 Weitere mögliche Konflikte mit dem Schuldgrundsatz könnten sich ergeben, wenn eine Verständigung eine „Schuldspruchabrede“ beinhaltet, das Gericht eine Punktstrafe nennt oder eine Verständigung über einen Sonderstrafrahmen erzielt wird. Das BVerfGE 133, 168, 229 führt aus, dass Verständigungen über den Schuldspruch nicht getroffen werden dürfen. Dem ist mit § 257c Abs. 2 S. 1 StPO und auch im Hinblick auf den Schuldgrundsatz zuzustimmen. Daraus, dass ein „Handel mit der Gerechtigkeit untersagt sei“ folgert das BVerfGE 133, 168, 227 f. das Verbot der Nennung einer Punktstrafe. Dabei würde sich das Gericht durch eine „vertragsähnliche Vereinbarung“ von dem Gebot schuldangemessenen Strafens lösen. Zudem geht das BVerfGE 133, 168, 211 f. davon aus, dass der Begriff der „Rechtsfolge“ in § 257c Abs. 2 S. 1 StPO nicht erfasst ist. Bei Sonderstrafrahmen handle es sich um den Ausdruck des Unwert- und Schuldgehalts, den der Gesetzgeber einem bestimmten Verhalten beigemessen hat. Hier halte der Gesetzgeber schon auf der Ebene der Strafrahmenwahl eine Differenzierung für notwendig, sodass unter Berücksichtigung des zugrundeliegenden Regelungskonzepts nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Gesetzgeber diese Differenzierung im Rahmen des Verständigungsgesetzes aufgeben und die Sonderstrafrahmen unter den Begriff der Rechtsfolgen des § 257c Abs. 2 S. 1 StPO subsumieren wollte. Diese Probleme im Hinblick auf den Schuldgrundsatz sieht die Verfasserin mit dem Urteil BVerfGE 133, 168 – 240 als entschieden an und folgt insoweit der Ansicht des BVerfG. Daher unterbleibt an diesem Punkt eine ausgehende Analyse. Soweit diese Leitlinien eingehalten werden, liegt kein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz vor. Kritisch und mit teils a. A. Rabe, S. 142 – 184. 249

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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Während eine Mindermeinung in der Literatur den Schuldgrundsatz als nicht tangiert ansieht,251 lehnt die überwiegende Meinung in der Literatur die Vereinbarkeit von Verständigung und Schuldgrundsatz ab.252 Ein großer Streitpunkt ist dabei die strafmildernde Berücksichtigung eines allein aus prozesstaktischen Gründen abgegebenen Geständnisses. Gemäß § 46 Abs. 1 S. 1 StGB ist die Schuld des Täters die Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Strafe ist im Einzelfall auf der Grundlage der individuellen Schuld des Täters und unter Berücksichtigung der Strafzwecke zu bestimmen.253 Gemäß § 46 Abs. 2 StGB kann allerdings auch das Nachtatverhalten bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. Dabei hat das Geständnis allerdings für sich keine Strafzumessungsrelevanz.254 Es wirkt aufgrund der „doppelspurigen Indiztheorie“ letztlich aber häufig doch strafmildernd. Diese besagt, dass ein Geständnis einen Indizcharakter für die Bedeutung der Tat hat sowie Rückschlüsse auf die Täterpersönlichkeit zulässt.255 Daher muss das Geständnis aber auch Beweisanzeichen für eine innere Umkehr oder Reue enthalten, um eine Strafmilderung herbeizuführen.256 Eine Ansicht nimmt an, dass ein abgegebenes Geständnis unabhängig von Reue und Einsicht aufgrund der Verfahrensabkürzung in jedem Fall strafmildernd berücksichtigt werden könne.257 Dies solle schon deshalb gelten, weil der Angeklagte durch sein kooperatives Prozessverhalten zur Abkürzung des Verfahrens beitrage.258 Wird das Geständnis allerdings allein aus prozesstaktischen Gründen abgegeben, so könne die strafmindernde Wirkung geringer sein, als bei einem aus Reue abgegebenen Geständnis.259 Niemöller führt weiter aus, es sei nicht einzusehen, warum 251

BVerfGE 133, 168, 207; SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 12; Cramer, FS-Rebmann, S. 148; Göttgen, S. 26 f.; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 101; Schmidt-Hieber, Rn. 168 ff.; Rabe, S. 166 ff.; Huttenlocher, Rn. 141 im Hinblick auf die einfachgesetzliche Strafzumessung: Müller, S. 107; Braun, S. 80; Saal, S. 38 f.; Gutterer, S. 118. 252 Frisch, StraFo 2009, 177, 181 f.; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 40 (Stand: November 2009); Meyer-Goßner, ZRP 2009, 107, 108; Murmann, FS-Roxin, S. 1390; Murmann, in: Strafverteidigervereinigungen, Wahrheitssuche, S. 81; Murmann, ZIS 2009, 526, 534 f.; Rönnau, ZIS 2018, 167, 173 f.; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 12; jedenfalls als Verstoß gegen die einfachrechtlichen Strafzumessungsgrundsätze: Streng, FSSchwind, S. 449 f.; nach Weigend, FS-Maiwald, S. 840 ist die Strafmilderung aufgrund der Prozessabkürzung unzulässig. Dem könne aber de lege ferenda durch Aufnahme eines weiteren Strafmilderungsgrundes in § 46 Abs. 2 StGB abgeholfen werden. 253 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 310. 254 Zipf, Strafzumessung, S. 74. 255 BGHSt 1, 105, 106; BGHSt 14, 189; 189 f.; i. A. BGH StV 1981, 235. 256 Meier, GA 2015, 443, 450; Hsu, S. 78. 257 BGHSt 43, 195, 208 f.; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 101; Cramer, FSRebmann, S. 148; Müller, S. 107; Saal, S. 38 f. 258 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 101; Cramer, FS-Rebmann, S. 148; vgl. BGHSt 43, 195, 208 f. 259 BGH, NStZ-RR, 2006, 337; BGH, NStZ-RR, 2007, 232; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 384.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

einem Angeklagten, der durch den Verzicht auf prozessuale Rechte an der Verfahrensverkürzung mitwirkt nicht im Gegenzug eine Strafmilderung eingeräumt werden soll.260 Cramer ist der Ansicht, die Justiz sei ein Zweckinstrument zur Aufrechterhaltung des Gemeinschaftsfriedens und „schnelleres Recht sei häufig besseres Recht“.261 Göttgen nimmt zudem an, der Gesetzgeber habe mit dem Ausschluss des Rechtsmittelverzichts bei Verständigungen § 302 Abs. 1 S. 2 StPO einen Schutzmechanismus eingebaut, um das Gebot schuldangemessenen Strafens zu sichern.262 An die Überprüfung eines Geständnisses im Falle einer Verständigung dürfen auch keine strengeren Anforderungen gestellt werden als an ein Geständnis im Normalverfahren.263 Rabe ist der Auffassung, dass eine Strafe, die das Maß der Schuld unterschreitet, im Rahmen des Schuldgrundsatzes zulässig ist.264 Das Geständnis habe seine strafmildernde Wirkung zum einen aufgrund von Reue, zum anderen auch aufgrund seiner Normbestätigung. Bei komplexen Verfahren steige demnach das Gewicht des Geständnisses als Aufklärungshilfe und deshalb auch der Grad der Normbestätigung. Es sei deshalb auch nicht zu bemängeln, dass der gewissenhaft planende Täter in den Genuss einer höheren Strafmilderung komme.265 Schäfer/Sander/van Gemmeren nehmen an, dass auch ein prozesstaktisches Geständnis geeignet sei, den Rechtsfrieden zu fördern, Genugtuungswirkung für die Allgemeinheit und das Opfer zu entfalten sowie das Verfahren abzukürzen und somit strafmildernd berücksichtigt werden dürfe.266 Schmidt-Hieber kommt zur Strafmilderung durch ein prozesstaktisches Geständnis, indem er dieses als „verschuldete Auswirkung der Tat“ unter § 46 Abs. 2 S. 2 StGB subsumiert.267 § 46 Abs. 2 StGB meine nicht nur strafschärfende Auswirkungen der Tat, sodass sich außertatbestandsmäßige Folgen durchaus auch zugunsten der des Täters auswirken können.268 Das Geständnis könne daher ohne Berücksichtigung der Motive des Beschuldigten strafzumessungsrelevant sein, wenn es die Auswirkungen der Tat beeinflusst. Dies ergebe sich vor allem aus der erleichterten Ermittlung des Sachverhalts.269 Ein anderer Ansatz, der zu einer strafmildernden Berücksichtigung von prozesstaktischen Geständnissen führt, ist die Anwendung des Grundsatzes in dubio pro 260

Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 101. Cramer, FS-Rebmann, S. 148. 262 Göttgen, S. 27; ebenso BVerfGE 133, 168, 207. 263 Göttgen, S. 26. 264 Rabe, S. 166; ebenso: Hörnle, in: Schumann, Gesetz im Rechtsstaat, S. 127; Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 38 ff. Rn. 21. 265 Rabe, S. 168. 266 Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 383. 267 Schmidt-Hieber, Rn. 168 ff. 268 Schmidt-Hieber, Rn. 171. 269 Schmidt-Hieber, Rn. 172. 261

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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reo. Im Zweifel sei demnach davon auszugehen, dass das Geständnis jedenfalls auch aus Reue abgegeben wurde, sodass es zu einer Strafmilderung kommt.270 Die Gegenansicht lehnt es ab, prozesstaktische Geständnisse strafmildernd zu berücksichtigen.271 Fischer merkt an, dass sich das Maß der Schuld in keinem Fall wesentlich nach Maßgabe des nachträglichen Prozessverhaltens eines Täters bestimmen könne. Faktoren wie der Verfahrens-Aufwand, die Länge der Hauptverhandlung oder die Inanspruchnahme von Justizressourcen seien nicht geeignet, die Schuld des Täters zu bestimmen.272 Das glaubhafte und von Einsicht getragene Geständnis sowie der Versuch der Wiedergutmachung des Schadens können allerdings im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden.273 Fischer nimmt daher einen eklatanten Verstoß gegen das Schuldprinzip an. Es sei nicht erklärbar, warum ein Geständnis, welches zur Entlastung der Justiz beigetragen hat, die Strafe „halbieren“ sollte. Da die Strafe immer Gegenstand der Absprache sei, sei die Festlegung, dass die Grundsätze der Strafzumessung unberührt blieben eine leere Floskel.274 Murmann nimmt ebenfalls einen Verstoß gegen das Schuldprinzip an.275 Es gäbe keinen Grund, diejenigen Beschuldigten zu privilegieren und deren Strafe zu mindern, deren Verfahren besonders komplex zu werden drohen.276 Außerdem verfehlen die „Urteilsabsprachen“ das Ziel der Wahrheitsfindung so nachhaltig, dass sie das Schuldurteil nicht zu tragen vermögen.277 Die Tatschuld könne durch ein Geständnis nicht verändert werden, dies wäre allenfalls durch Schaffung neuer Strafzumessungstatsachen möglich.278 Der Schluss von einem Geständnis auf die geringere kriminelle Energie des Täters, wie sie die doppelte Indizkonstruktion vornimmt,

270

BGHSt 43, 195, 208 f.; ebenso Eschelbach, JA 1999, 694, 700; Saal, S. 38 f.; Gutterer, S. 118. 271 Fischer, StraFo 2009, 177, 181 f.; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 40 (Stand: November 2009); Hauer, S. 116 ff.; Meyer-Goßner, ZRP 2009, 107, 108; Murmann, FS-Roxin, S. 1390; Murmann, in Strafverteidigervereinigungen, Wahrheitssuche, S. 81; Murmann, ZIS 2009, 526, 534 f.; Rönnau, ZIS 2018, 167, 173 f.; Meier, GA 2015, 443, 449 f.; Streng, FSSchwind, S. 449 f.; Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072, 1078; Weigend, JZ 1990, 774, 779; Weigend, FS-Maiwald, S. 840; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 15; ausführlich Hauer, S. 108 ff. 272 Fischer, StraFo 2009, 177, 181. 273 Fischer, StraFo 2009, 177, 181 f. 274 Fischer, StraFo 2009, 177, 182. 275 Murmann, in Strafverteidigervereinigungen, Wahrheitssuche, S. 81; Murmann, ZIS 2009, 526, 534 f. 276 Murmann, ZIS 2009, 526, 534 f. 277 Murmann, FS-Roxin, S. 1390; ebenso Beck-OK/Eschelbach StPO, § 257c Rn. 8 ff. 278 Murmann, FS-Roxin, S. 1391; vgl. Weigend, JZ 1990, 774, 779.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

könne im Rahmen einer Verständigung nicht ohne weiteres gezogen werden.279 Auch die Ansicht, welche die strafmildernde Wirkung eines verständigungsbasierten Geständnisses im Schutz von Opferzeugen und in der Abkürzung des Verfahrens sieht, hält Murmann für mit dem Schuldgrundsatz unvereinbar. Durch die Annahme der Verfahrensverkürzung als Strafzumessungsfaktor werden sowohl das Strafverfahren als auch die Strafzumessung pervertiert.280 Auch Rönnau nimmt an, dass ein Verstoß gegen das Schuldprinzip vorliegt. Zum einen habe ein rein prozesstaktisches Geständnis keine strafmildernde Wirkung. Darüber könne auch der Zweifelssatz in dubio pro reo nicht hinweghelfen.281 Allein der Beitrag des Beschuldigten zur Sachaufklärung und Verfahrensabkürzung könne ebenfalls nicht zu einer Strafmilderung führen. Dem Geständnis eine generell strafmildernde Wirkung zuzumessen, verstoße daher gegen geltendes Recht.282 Stuckenberg spricht sogar davon, dass der berechnende Einsatz eines Geständnisses eher für eine Strafschärfung spreche und Reue nicht nahe liege.283 Weiter könnte es problematisch sein, wenn im Rahmen einer Verständigung eine höhere Strafmilderung gewährt wird als im Normalverfahren.284 Da § 257c Abs. 3 S. 2 StPO auf die allgemeinen Regeln der Strafzumessung verweist und somit keine darüber hinausgehende Strafmilderung gestattet, würde dies allerdings ein Problem der Rechtsanwendungspraxis darstellen. c) Stellungnahme Zu klären ist daher, ob einem prozesstaktischen Geständnis auch ohne Reue und Einsicht eine strafmildernde Wirkung zukommt. Die Ansicht, die eine Strafmilderung aufgrund der Verfahrensabkürzung annimmt, muss zurückgewiesen werden. Der Verzicht auf prozessuale Rechte, sowie die Dauer des Prozesses sind de lege lata keine strafzumessungsrelevanten Tatsachen im Sinne des § 46 Abs. 1, 2 StGB. Der Ansatz von Schmidt-Hieber ist schwer nachvollziehbar und im Hinblick auf das Verständigungsgesetz veraltet. Während er im Hinblick auf ein Geständnis im Rahmen einer Verständigung von den allgemeinen Strafzumessungsvorschriften abweicht, will das Verständigungsgesetz an diesen festhalten. Auch dieser Ansatz erklärt daher nicht, wie sich ein prozesstaktisches Geständnis strafmildernd auswirkt. 279 Murmann, FS-Roxin, S. 1392 auch eine Strafmilderung aus spezialpräventiven Gründen oder im Hinblick auf die Wiederherstellung des Rechts lehnt Murmann, ab; ebenso Weigend, JZ 1990, 774, 779. 280 Murmann, FS-Roxin, S. 1393. 281 Rönnau, ZIS 2018, 167, 173 f. 282 Rönnau, ZIS 2018, 167, 174. 283 Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 15. 284 Vgl. i. A. Moldenhauer, S. 169.

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Eine Strafmilderung könnte sich weiter daraus ergeben, dass der Angeklagte dem Verletzten eine Aussage erspart. Dagegen kann allerdings angeführt werden, dass nicht pauschalisiert werden kann, dass der Verletzte nicht vor Gericht aussagen will. Wird dem Verletzten etwas erspart, was diesem wichtig war, würde die rechtsstiftende Funktion des Strafverfahrens verfehlt.285 Auch der Ansicht, die aufgrund der Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo Reue als Beweggrund für ein Geständnis nicht gänzlich ausschließt und die deshalb eine Minderungswirkung des Geständnisses annimmt, ist nicht zu folgen. Der Grundsatz in dubio pro reo besagt, dass sich nicht behebbare Zweifel an einer für die Entscheidung erheblichen Tatsache zugunsten des Angeklagten auswirken müssen.286 Wird im Rahmen der Verständigung aber bei jedem Geständnis angenommen, dass dieses jedenfalls auch aus Reue abgegeben wurde, wird der Grundsatz in dubio pro reo überdehnt. Der Grundsatz in dubio pro reo wird nur angewendet, wenn nach Ausschöpfung aller Aufklärungsmöglichkeiten Restzweifel bleiben, dass eine Tatsachenannahme wahr ist.287 Die bloß abstrakte Möglichkeit, dass einer der Beweggründe für das Geständnis Reue war, liegt im Falle der Verständigung weder nahe noch kann sie eine Strafmilderung rechtfertigen.288 Einzige Möglichkeit wäre, dass durch das Geständnis des Täters eine Art Normbestätigung eintritt und so die Herstellung des Rechtsfriedens gefördert wird. Das Geständnis indiziere eine geringere kriminelle Energie und sei daher für den Tatzeitpunkt indiziell.289 Dabei handelt es sich um einen Aspekt der positiven Generalprävention. Allerdings spielen bei einem aus Reue abgegebenen Geständnis sowohl spezialpräventive als auch generalpräventive Aspekte für die Strafmilderung eine Rolle. Bei einem prozesstaktischen Geständnis können aber keine positiven Rückschlüsse auf die Täterpersönlichkeit gezogen werden. Zudem spielt vor allem die Reue des Täters sowie seine innere Umkehr für die Herabsenkung der Generalprävention eine Rolle.290 Bei der Strafmilderung, die für ein Geständnis gewährt wird, kommt es allein auf die dahinterstehende Motivation an.291

285

Meier, GA 2015, 443, 451; SSW-StGB/Eschelbach, § 46 Rn. 128. BVerfG, MDR 1975, 468, 469; KK/Ott, § 261 Rn. 63. 287 BGH, NStZ-RR 2009, 90, 91; BGH, NStZ 2012, 171, 172; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 116; KK/Ott, § 261 Rn. 63; Rönnau, ZIS 2018, 167, 173 f. 288 Rönnau, ZIS 2018, 167, 173 f.; SSW-StGB/Eschelbach, § 46 Rn. 129; sehr zweifelhaft ist die Entscheidung BGHSt 43, 193 209, in der der BGH Geständnissen generell strafmildernde Wirkung zuerkennt, es sei denn, sie beruhen ersichtlich nicht auf Reue, sondern allein auf einer erdrückenden Beweislage. 289 BGHSt 1, 105, 106; BGHSt 43, 195, 209; BGH, NStZ-RR 2017, 105, 106; vgl. SSWStGB/Eschelbach, § 46 Rn. 129. 290 Zipf, Strafzumessung, S. 74. 291 Zipf, Strafzumessung, S. 74. 286

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Zusammenfassend gibt es de lege lata keine Gründe, ein Geständnis, welches allein aus prozesstaktischen Gründen abgegeben wird, strafmildernd zu berücksichtigen.292 Damit entfällt aber der Hauptgrund der Verständigung für den Angeklagten. Wird ein Geständnis allein aus Reue und innerer Umkehr abgegeben, so wird in der Regel keine Verständigung durchgeführt. Eine Verständigung wird in erster Linie prozesstaktische Gründe haben. Daher macht auch der Hinweis auf die allgemeinen Strafzumessungserwägungen wenig Sinn. Ein Geständnis, das aufgrund einer Absprache abgegeben wird, darf sich ohnehin nicht strafmildernd auswirken. So bliebe als Gegenleistung für das Geständnis seitens des Gerichts nur noch die Gewissheit der Straferwartung. Darauf würde sich aber wohl kaum ein Angeklagter einlassen. Zwar ist hier das Gesetz nicht verfassungswidrig, da es auf Einhaltung der allgemeinen Strafzumessungserwägungen verweist und keine Ausnahme vom Schuldgrundsatz machen will. Allerdings ist davon auszugehen, dass in der Rechtsanwendungspraxis auch rein prozesstaktische Geständnisse strafmildernd berücksichtigt werden und dass diese Berücksichtigung in manchen Fällen sogar höher ausfällt als im Normalverfahren.293 Damit eine verfassungswidrige Rechtsanwendungspraxis zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führt, ist notwendig, dass die verfassungswidrige Rechtsanwendungspraxis ihren Grund im Gesetz selbst hat.294 Erforderlich ist hierfür ein „strukturbedingt zu dieser Praxis führendes normatives Regelungsdefizit“.295 Hier ist die Strafmilderung gegen Abgabe eines Geständnisses vorgesehen, obwohl Geständnisse im Rahmen der Verständigung regelmäßig nicht aus Reue abgegeben werden. Dies wurde bei der Gesetzgebung auch nicht berücksichtigt. Es wurde zwar auf die allgemeinen Strafzumessungserwägungen verwiesen, allerdings gibt es keinen Leitfaden, wie diese anzuwenden sind. Wenn die allgemeinen Strafzumessungserwägungen angewendet werden, darf in der Regel kein Strafnachlass gewährt werden.296 Wird aber kein Strafnachlass gewährt, so ergibt die gesetzliche Regelung keinen Sinn mehr.297 Die verfassungswidrige Rechtsanwen292 Meier, GA 2015, 443, 449; Zipf, Strafzumessung, S. 74; Murmann, FS-Roxin, S. 1392; SSW-StGB/Eschelbach, § 46 Rn. 129; früher war teilweise ein Rechtsmittelverzicht Teil der „Vereinbarung“; seit Einführung des Verständigungsgesetzes darf allerdings nach einer durchgeführten Verständigung nicht mehr auf Rechtsmittel verzichtet werden § 302 Abs. 1 S. 2 StPO und ein Rechtsmittelverzicht darf e contrario erst recht nicht Teil der Verständigung sein, sodass sich hier im Hinblick auf den Schuldgrundsatz keine Probleme mehr ergeben. 293 Vgl. Altenhain/Dietmeier/May, S. 115 ff. 294 BVerfGE 133, 168, 233. 295 BVerfGE 133, 168, 233. 296 Murmann, FS-Roxin, S. 1391; Fischer, StraFo 2009, 177, 181 f.; Rönnau, ZIS 2018, 167, 173 f.; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 40 (Stand: November 2009); Hauer, S. 116 ff.; Murmann, ZIS 2009, 526, 534 f.; Meier, GA 2015, 443, 449 f.; Streng, FS-Schwind, S. 449 f. 297 Trüg, S. 114 die Motivation des Angeklagten liegt in der Erwartung eines milderen Urteils.

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dung ist daher im Gesetz selbst begründet und das Gesetz selbst ist insofern verfassungswidrig. Eine weitere Lösung, die teilweise vorgeschlagen wird, ist die Ergänzung des § 46 StGB insofern, dass Geständnisse unabhängig von den dahinter stehenden Beweggründen wegen der Verfahrensbeschleunigung eine strafmildernde Wirkung haben sollen.298 Der Arbeitskreis AE schlägt vor, eine Regelstrafmilderung um ein Drittel für jedes Geständnis einzuführen, das der Täter spätestens vor Beginn der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ablegt, sofern er sich zugleich von der Tat distanziert.299 Demnach genügt ein „schuldanerkennendes“ Geständnis den Anforderungen einer Bestrafung zur Normbestätigung, zur Genugtuung für den Verletzten und der Rechtsgemeinschaft.300 Zudem wird auch die Notwendigkeit der Einwirkung auf den Täter reduziert, da das schuldanerkennende Geständnis zeigt, dass der Täter an seiner negativen Einstellung zur Norm nicht festhält.301 Vor allem die pauschale Strafmilderung um ein Drittel ist im Hinblick auf den Schuldgrundsatz sowie den Gleichheitsgrundsatz höchst erfreulich.302 Allerdings löst auch diese Regelung das Problem nicht, dass eine Strafmilderung für rein prozesstaktische Geständnisse gewährt wird. Es wird vielmehr allgemein festgelegt, dass ein schuldanerkennendes Geständnis zu einer pauschalen Strafmilderung um ein Drittel führt. Dem könnte allenfalls begegnet werden, wenn im Rahmen der Verständigung nicht nur ein Geständnis Teil der Abrede ist, sondern auch eine Schadenswiedergutmachung im Sinne des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB oder sogar ein Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46a StGB).303 Ein Teil des Nachtatverhaltens, das strafmildernd berücksichtigt werden kann, ist das Bemühen um Schadenswiedergutmachung.304 Die Schadenswiedergutmachung muss freiwillig vorgenommen werden, darüber hinaus sind aber keine Motive, wie beispielsweise Reue, notwendig.305 Grund hierfür ist, dass der Erfolgsunwert der Tat allein durch die Schadenswiedergutmachung gemindert wird.306 Während die Schadenswiedergutmachung nur einen von vielen Strafzumessungsfaktoren darstellt, handelt es sich beim Täter-Opfer-Ausgleich um

298

Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 9 f.; Weigend, FS-Maiwald, S. 840; Hsu, S. 113 f. Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 9 f. 300 Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 9 f. 301 Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 9 f. 302 Vgl. zum Problem Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 89. 303 Dem kommt im Schrifttum nach Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 138 bereits eine erhebliche Bedeutung zu; vgl. Braun, S. 6; Schmidt-Hieber, NJW 1982, 1017; Gatzweiler, NJW 1989, 1903; Janke, S. 49; Tscherwinka, S. 38; Niemöller, StV 1990, 34, 36 merkt an, dass dies in der Praxis aber eher eine geringe Rolle spielt. 304 Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, § 46 Rn. 40; Meier, GA 2015, 443, 449; Zipf, Strafzumessung, S. 72. 305 Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, § 46 Rn. 40; dasselbe gilt für den Täter-OpferAusgleich vgl. BeckOK, StGB/von Heintschel-Heinegg, StGB, § 46a Rn. 20. 306 BGH, StV 2005, 426; BeckOK, StGB/von Heintschel-Heinegg, StGB, § 46 Rn. 60. 299

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

einen Strafmilderungsgrund im Sinne des § 49 StGB.307 Erforderlich ist aber richtigerweise die Konnexität zwischen den Wiedergutmachungsbemühungen und dem Gegenstand des Strafverfahrens.308 Wird im Zuge der Verständigung von Seiten des Angeklagten ein Geständnis abgelegt und die Schadenswiedergutmachung angestrebt, so ist es als Gegenleistung im Hinblick auf den Schuldgrundsatz angemessen, dem Täter eine Strafmilderung in Aussicht zu stellen. Weitere Gegenleistung seitens des Gerichts ist die Gewissheit im Hinblick auf die Straferwartung. Dies könnte sowohl durch eine ausdrückliche Gesetzesänderung erreicht werden als auch durch richterliche Rechtsfortbildung. Eine Gesetzesänderung des § 257c Abs. 2 S. 2 StPO könnte lauten: Bestandteil jeder Verständigung soll ein Geständnis sein sowie das Bemühen zur Schadenswiedergutmachung (§§ 46 Abs. 2 S. 2, 46a Nr. 2 StGB) oder ein TäterOpfer-Ausgleich (§ 46a Nr. 1 StGB).309 Im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung könnte an die allgemeinen Strafzumessungserwägungen im Sinne des § 257c Abs. 3 S. 2 StPO angeknüpft werden. Im Rahmen der allgemeinen Strafzumessungserwägungen kann die Strafe aber nur gemildert werden, wenn im Rahmen des § 46 Abs. 2 StPO Umstände für den Täter sprechen oder wenn ein Strafmilderungsgrund im Sinne des § 49 StGB vorliegt. Im Rahmen der Verständigung müsste daher eine Schadenswiedergutmachung vorgenommen werden, die ohne weiteres in Beziehung zur Tatschuld steht.310 Wenn die Strafmilderung höher ist, als dies bei einem von Reue getragenen Geständnis im Normalverfahren zulässig wäre, ist dies nicht im Gesetz selbst begründet.311 Dieses verweist ausdrücklich auf die allgemeinen Strafzumessungserwägungen und will daher grundsätzlich keine höhere Strafmilderung zulassen, als bei 307

Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, § 46a Rn. 5. Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 139. 309 Die Ergänzungen zum geltenden Recht sind kursiv gedruckt. Durch die Formulierung „soll“ wird sichergestellt, dass eine Verständigung auch dann weiter möglich bleibt, wenn eine Schadenswiedergutmachung oder ein Täter-Opfer-Ausgleich nicht durchführbar sind. Allerdings darf in diesen Fällen nur das Geständnis strafmildernd berücksichtigt werden. Eine darüberhinausgehende Strafmilderung darf nicht erfolgen. 310 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 139; die Schadenswiedergutmachung ist nicht selten Teil einer Absprache, hat sich aber auch nicht als typisches Element einer Absprache durchgesetzt, wie beispielsweise das Geständnis, und wäre daher eine gute Ergänzung, um einem Verstoß gegen den Schuldgrundsatz vorzubeugen; vgl. hierzu die Statistik Altenhain/ Hagemeier/Haimerl/Stammen, S. 140. 311 Es gibt bislang keine empirischen Erhebungen, inwieweit der „Strafrabatt“ innerhalb der Verständigung von der Strafmilderung für ein Geständnis im Normalverfahren abweicht. Eine solche empirische Erhebung soll aber nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Hier soll es nur darum gehen, wie es rechtstheoretisch zu bewerten ist, wenn davon ausgegangen wird, dass das Geständnis auch im Rahmen der Verständigung strafmildernde Wirkung hat, das Gericht allerdings eine höhere Strafmilderung vornimmt, als dies bei einem Geständnis im Normalverfahren üblich wäre. 308

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einem Geständnis im Normalverfahren. Daher ist in diesem Fall nur die Rechtsanwendungspraxis verfassungswidrig, nicht aber das Gesetz selbst. Dem könnte begegnet werden, indem eine genaue Aufschlüsselung des Zustandekommens der Strafe in den Urteilsgründen gefordert wird oder wie im Vorschlag des Arbeitskreises AE eine pauschale Strafmilderung gewährt wird.312 Bei einer genauen Aufschlüsselung in den Urteilsgründen könnte zumindest eine Strafmilderung um die Hälfte im Revisionsverfahren korrigiert werden, obwohl die Strafzumessung aufgrund des Ermessens nur eingeschränkt überprüfbar ist. Hier reicht das Verbot des Rechtsmittelverzichts allein nicht aus, um die effektive Kontrolle durch das Rechtmittelgericht zu gewährleisten. Allerdings handelt es sich bei der Strafzumessung um eine echte Ermessensentscheidung,313 sodass sich das Problem der übermäßigen Strafrabatte in der Rechtsanwendung kaum lösen lassen wird. Dieses Problem ist allerdings ein allgemeines Problem der Strafzumessung und kein spezielles Problem der Verständigung.314 Wirkungsvoller erscheint daher die Lösung des Arbeitskreises AE, der eine pauschale Strafmilderung um ein Drittel fordert.315 Dieser Ansicht ist zu folgen, da es zwar einen Eingriff in das richterliche Ermessen darstellt, aber nur so die Einhaltung des Schuldgrundsatzes gewährleistet werden kann.316 § 46 StGB n. F. muss daher lauten: (1) – (3) [unverändert] „(4) 1Hat der Täter vor Beginn der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung oder vor der Verurteilung ohne Hauptverhandlung ein Geständnis abgelegt, mit dem er die Verantwortung für die begangene Tat übernommen und sich zugleich von dieser distanziert hat (schuldanerkennendes Geständnis), so ist eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe in der Regel um ein Drittel der ansonsten verhängten Strafe zu mildern. 2 Anstelle einer lebenslangen Freiheitsstrafe kann in den Fällen des Satzes 1 eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren verhängt werden. 3 Über die in Satz 1 und 2 genannte Milderung hinaus darf die Strafe aufgrund eines Geständnisses nicht gemildert werden.“317

Die Kombination der beiden vorgetragenen Neuerungen würde dazu führen, dass die Verständigung für den Beschuldigten reizvoller wird. Wird eine Verständigung eingegangen, wäre die Milderung aufgrund der Schadenswiedergutmachung sowie dem schuldanerkennenden Geständnis jedenfalls höher, als wenn nur ein schuldanerkennendes Geständnis im Normalverfahren abgelegt wird. Dies wäre aber 312

Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 9. Braun, S. 80. 314 Ausführlich zu weiteren Problemen im Hinblick auf den Schuldgrundsatz Rabe, S. 127 – 184, insbesondere das Verbot der Schuldspruchabrede, das Verbot der Punktstrafe und die Verständigung über Sonderstrafrahmen. 315 Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 9. 316 Auch im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz 2. Kapitel § 2 A. V. wäre eine pauschale Strafminderung wünschenswert. 317 Arbeitskreis AE, GA 2019, 1, 14. 313

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

aufgrund der Anwendung allgemeiner Strafzumessungserwägungen im Hinblick auf den Schuldgrundsatz nicht zu beanstanden und würde damit allen Beteiligten dienen. Das Opfer erhält eine Schadenswiedergutmachung, der Täter erhält eine nicht unerhebliche Strafmilderung und das Gericht kann seine Arbeitsbelastung reduzieren. Sofern der Täter im Normalverfahren ein Geständnis ablegt und sich um Schadenswiedergutmachung bemüht, so muss er nach den allgemeinen Strafzumessungserwägungen dieselbe Strafmilderung erhalten. 2. Unschuldsvermutung Gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK gilt jede Person, die einer Straftat angeklagt wird, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Im nationalen Recht fehlt es an einer ausdrücklichen Regelung. Wie das Schuldprinzip beruht auch die Unschuldsvermutung auf dem Rechtsstaatsprinzip und genießt somit Verfassungsrang,318 teilweise wird zusätzlich die Menschenwürde zur Herleitung herangezogen.319 Über Art. 6 Abs. 2 EMRK, der als ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag gemäß Art. 59 Abs. 2 GG im Rang eines Bundesgesetzes steht, findet die Unschuldsvermutung auch auf nationaler Ebene Eingang in das positive Recht.320 Art. 6 Abs. 2 EMRK sowie die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR stellen aufgrund der Völkerrechtssfreundlichkeit des GG und der Pflicht zur konventionskonformen Auslegung eine Auslegungshilfe für die Verfassung dar.321 Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren.322 Die Unschuldsvermutung besagt zum einen, dass ohne den konkreten Schuldnachweis keine Strafe gegen den Beschuldigten verhängt werden darf. Zum anderen besagt sie, dass bei jedem Beschuldigten so lange von dessen Unschuld ausgegangen werden muss, bis dessen Schuld gesetzesmäßig festgestellt ist.323 Gaede nimmt 318 BVerfGE 74, 358, 371; BVerfGE 82, 106, 115; BVerfGE 133, 168, 202; ebenso Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 1; Beukelmann, NJW-Spezial 2016, 696; KK/ Lohse/Jakobs, EMRK Art. 6 Rn. 68; zu diversen Konzeptionen Stuckenberg, S. 48 ff. m. w. N. 319 Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Menschenwürde: Löwe-Rosenberg/ Esser, Bd. 11 EMRK Art. 6 Rn. 448; Stuckenberg, S. 578; Eser, FS-Paeffgen, S. 508 f.; SKStPO/Meyer, Bd. 10 EMRK Art. 6 Rn. 307; knappe Darstellung: Stuckenberg, ZStW 1999, 422, 423 f. 320 BVerfGE 82, 106, 114; MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 1 Rn. 6; SK-StPO/ Meyer, Bd. 10 Einl. Rn. 108 ff., 122 ff.; Kühl, S. 10; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 1; ausführlich Stuckenberg, ZStW 1999, 422, 423; ausführlich zur Rechtsstellung der EMRK im nationalen Recht 2. Kapitel § 3 A. III. 2. 321 MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 1 Rn. 7; KK/Lohse/Jakobs, EMRK Art. 6 Rn. 5. 322 Eser, FS-Paeffgen, S. 510; Rzepka, S. 25; MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 6 Rn. 99, 127; Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 EMRK Art. 6 Rn. 445; SK-StPO/Meyer, Bd. 10 EMRK Art. 6 Rn. 305. 323 BVerfGE 35, 311, 320; Kühl, S. 11; Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 EMRK Art. 6 Rn. 446; Beukelmann, NJW-Spezial 2016, 696.

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weiter an, dass die Unschuldsvermutung es gebietet, den Angeklagten nicht vor Gewährung eines fairen Verfahrens, das den Beweis des Tatvorwurfs erbringt, ausdrücklich oder konkludent der Tat als schuldig zu betrachten.324 Jedenfalls verlangt die Unschuldsvermutung aber von einem Gericht, unbefangen in die Hauptverhandlung zu gehen und für ein Urteil dem Angeklagten die Schuld nachzuweisen.325 Allerdings enthält die Unschuldsvermutung als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips keine konkreten Ge- oder Verbote.326 Die genaue Reichweite der Unschuldsvermutung ist umstritten.327 Ebenfalls aus der Unschuldsvermutung abgeleitet wird der Grundsatz in dubio pro reo,328 wonach jeder verbleibende Zweifel des Gerichts an der Tatschuld zugunsten des Angeklagten gehen muss.329 a) Umkehrung zur Schuldvermutung durch Verständigungsinitiative? Es könnte systembedingt angenommen werden, dass das Gericht, das einen Verständigungsvorschlag unterbreitet, bereits vor Abschluss der Beweisaufnahme von der Schuld des Angeklagten ausgeht oder zumindest eine Schuldhypothese verfolgt.330 Teilweise wird in diesem Kontext sogar von der Umkehrung der Unschuldsvermutung in eine Schuldvermutung im Rahmen der Verständigung gesprochen.331 Dencker/Hamm führen dazu aus, dass ohne die Umkehrung der Unschuldsvermutung in eine Schuldvermutung, die die Basis der Verhandlungen darstellt, jede „Vergleichsverhandlung“ eine sittenwidrige Zumutung wäre.332 Im Rahmen der Verständigung ergeht ein Urteil, welches immer mit einem Schuldspruch verbunden ist.333 Daraus könnte der Beschuldigte schließen, dass das Gericht, 324

MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 6 Rn. 126. KK/Lohse/Jakobs, EMRK Art. 6 Rn. 68; MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 6 Rn. 126. 326 BVerfGE 133, 168, 202; Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 EMRK Art. 6 Rn. 449; Stuckenberg, ZStW 1999, 422, 425. 327 Weitergehende „Verhaltensregel“: Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 EMRK Art. 6 Rn. 489; MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 6 Rn. 126; Siolek, S. 126; Rönnau, S. 176; rein objektives Gebot: Bogner, S. 59; vgl. auch Stuckenberg, S. 579 f. 328 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 1; Frister, GS-Weßlau, S. 150; Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 EMRK Art. 6 Rn. 496; Ioakimidis, S. 91. 329 Frister, GS-Weßlau, S. 152 – 154; KK/Ott, § 261 Rn. 63; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 261 Rn. 26. 330 Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 5; Heller, S. 24; Krause, S. 41; Löffler, S. 43. 331 Dencker/Hamm, S. 53; Terhorst, GA 2002, 600, 610; vgl. Rönnau, S. 174. 332 Dencker/Hamm, S. 53. 333 Ein weiteres Problem im Hinblick auf die Unschuldsvermutung könnte aufgrund mangelnder Aufklärung das Urteil selbst sein. Dieses Problem wird allerdings im Rahmen des Aufklärungsgrundsatzes 2. Kapitel § 2 B. II. behandelt. 325

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

insbesondere bei einer frühen Initiative zur Verständigung, schon allein aufgrund der Aktenlage nicht mehr von seiner Unschuld ausgeht. Dieses Problem hängt eng mit dem Problem der Befangenheit des Gerichts zusammen.334 Sobald der Richter zu erkennen gibt, dass er nicht mehr von der Unschuld des Angeklagten ausgeht, obwohl der Schuldnachweis noch nicht zweifelsfrei geführt ist, kann er wegen Befangenheit abgelehnt werden.335 Sofern die Unschuldsvermutung verletzt wird, ist meist gleichzeitig die richterliche Neutralität nicht mehr gewahrt, sodass in beiden Fällen ein Befangenheitsantrag im Sinne des § 24 StPO begründet wäre. b) Meinungsstand Die überwiegende Ansicht in der Literatur nimmt an, dass die Verständigung und die Unschuldsvermutung unvereinbar seien.336 Die Verständigung beruhe demnach sogar auf einer strukturellen Verletzung der Unschuldsvermutung.337 Die Unschuldsvermutung werde ins Gegenteil verkehrt, weil bei der Strafmaßprognose die Schuld vorausgesetzt werde.338 Ohne die Schuldvermutung habe das Gericht kein Interesse, dem Angeklagten einen Absprachevorschlag zu unterbreiten.339 Problematisch sei demnach vor allem die Rollenverteilung, weil die Initiative der Verständigung vom Gericht ausgehe und sich dieses zu diesem Zeitpunkt im Hinblick auf das Strafmaß bereits innerlich festgelegt habe.340 Im Gegensatz zur Eröffnung der Hauptverhandlung nach § 203 StPO, die lediglich einen hinreichenden Tatverdacht erfordert, werde im Rahmen der Verständigung vor Schuldspruchreife eine Vorverurteilung vorgenommen.341 334

2. Kapitel § 2 B. VI. Hildebrandt, S. 64; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 Rn. 8. 336 Rönnau, ZIS 2018, 167, 172; Rönnau, JuS 2018, 114, 115, 117; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 5; Nahrwold, S. 266 f.; Weigend, JZ 1990, 774, 777; Schünemann, NJW 1989, 1895, 1898; Löffler, S. 43; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 14; mit Einschränkungen Braun, S. 59 ff.; Saal, S. 26; Hassemer, JuS 1989, 890, 892; Huttenlocher, Rn. 65; Siolek, S. 131; kritisch Hildebrandt, S. 64 f. 337 Rönnau, ZIS 2018, 167, 172; Rönnau, JuS 2018, 114, 115, 117; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257b Rn. 5; vgl. Weigend, JZ 1990, 774, 780. 338 Rönnau, ZIS 2018, 167, 172; Rönnau, JuS 2018, 114, 115, 117; Hassemer, JuS 1989, 890, 892; Schünemann, NJW 1989, 1895, 1898; Weigend, JZ 1990, 774, 777; Rönnau, S. 177 lehnt einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung nur dann ab, wenn die Verfahrensbeteiligten sich ausnahmsweise und ohne vorgefasste Meinung zu einem klärenden Gespräch zusammenfinden; im Übrigen handele es sich bereits um einen Verstoß, wenn der Richter aufgrund der Aktenlage und mit seiner vorgefassten Meinung dem Angeklagten in Verständigungsabsicht gegenüber trete Rönnau, S. 176 f.; ein weiterer Verstoß gegen die Unschuldsvermutung liege in dem Zweck der Verständigung, der Verfahrensabkürzung, wodurch dem Grundsatz in dubio pro reo der Boden entzogen werde Rönnau, S. 177. 339 Nahrwold, S. 265. 340 Nahrwold, S. 266; vgl. Siolek, S. 126; Rönnau, S. 176. 341 Siolek, S. 126. 335

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Es stelle bereits einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung dar, wenn der Richter innerlich voreingenommen ist und dies nach außen hin kund tut.342 Die Verständigung habe immer eine Verurteilung und niemals einen Freispruch zum Gegenstand.343 Daran ändere auch das Verständigungsgesetz nichts.344 Auch das Zustimmungserfordernis des Angeklagten nach § 257c Abs. 3 S. 4 StPO sowie der Schutzmechanismus aus § 257c Abs. 4 StPO können die Verletzung der Unschuldsvermutung nicht heilen.345 Das Gericht werde sich im Anschluss an die erfolgreiche Verständigung weder rechtlich noch tatsächlich mit dem Sachverhalt auseinandersetzen.346 Die andere Ansicht sieht die Verständigung als mit der Unschuldsvermutung vereinbar an.347 Die Begründungsansätze gehen allerdings auseinander. Krause begründet dies mit anderen Vorschriften in der Strafprozessordnung, die jedenfalls scheinbar ausnahmsweise von der Unschuldsvermutung abweichen und nennt dabei beispielsweise die §§ 153 ff. StPO, insbesondere § 153a StPO, die §§ 407 ff. StPO sowie den Haftbefehl gemäß § 112 StPO.348 Unabhängig davon, ob die Verständigung der Unschuldsvermutung genügt, kann dem Begründungsansatz von Krause nicht uneingeschränkt gefolgt werden. Wie bereits bei der Abgrenzung zu anderen Verfahrensarten abgehandelt wurde, kann von der scheinbaren Verfassungsmäßigkeit anderer Institute nicht auf die Verfassungsmäßigkeit der Verständigung geschlossen werden.349 Dies gilt auch für die Vereinbarkeit anderer Verfahrensinstitute mit einzelnen verfassungs- und verfahrensrechtlichen Grundsätzen. Überdies lassen die §§ 153 ff. StPO, ebenso wie speziell § 153a StPO, die Schuldfrage im Gegensatz zur Verständigung offen und lassen einen hinreichenden Tatverdacht ausreichen, sodass auch aus diesem Grund keine Vergleichbarkeit im Hinblick auf die Unschuldsvermutung besteht.350 Hinzu kommt, dass § 153a StPO selbst so umstritten ist, dass die Argumentation über die Zulässigkeit dieses Instituts für die Zulässigkeit eines anderen Rechtsinstituts ein schwaches Argument darstellt. Es handelt sich dabei um eine rein positivistische

342

Siolek, S. 126; Rönnau, S. 176. Nahrwold, S. 266. 344 Nahrwold, S. 266. 345 Nahrwold, S. 266. 346 Nahrwold, S. 266; Murmann, FS-Roxin, S. 1401. 347 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 50; SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 15; Krause, S. 43; Tscherwinka, S. 105 ff.; Göttgen, S. 31; Ioakimidis, S. 95; Gerlach, S. 63 ff.; Bogner, S. 59; Weichbrodt, S. 164; BGHSt 43, 195, 207 f. 348 Krause, S. 43. 349 1. Kapitel B.; ebenso Siolek, S. 122 f. 350 Siolek, S. 122; Tscherwinka, S. 105; Frister, GS-Weßlau, S. 159 nimmt dagegen einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung an. Jedenfalls kann daraus geschlossen werden, dass in keinem Fall positive Schlüsse auf die Verständigung gezogen werden können. 343

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Argumentation, die sich allein an die Normierung klammert und diese nicht hinterfragt.351 Der Vergleich mit dem Erlass eines Haftbefehls wird in der Literatur allerdings öfter diskutiert und ist näher zu betrachten.352 Krause begründet die Vereinbarkeit der Verständigung mit der Unschuldsvermutung damit, dass im Rahmen des Erlasses eines Haftbefehls gemäß § 112 Abs. 1 StPO ein dringender Tatverdacht vorliegen müsse.353 Das Gericht gehe bei dem Erlass des Haftbefehls davon aus, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist, ohne die Schuld vorher festgestellt zu haben.354 Weiter argumentiert Krause mit dem Haftgrund des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, wobei bei einer besonders hohen Straferwartung nur geprüft werden muss, ob Umstände vorliegen, die die hieraus herzuleitende Fluchtgefahr ausräumen.355 Hier werde ebenfalls durch das Gericht in einer Art „Momentaufnahme“ eingeschätzt, ob der Beschuldigte die Tat begangen habe.356 Während Krause aus der Zulässigkeit des Haftgrunds der Fluchtgefahr wegen der zu erwartenden hohen Strafe auf die Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung schließt, nimmt Tscherwinka hier einen „krassen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung“ an.357 Allerdings führt Tscherwinka weiter aus, dass es sich um einen Hinweis handele, dass Strafzumessungsgespräche im Strafprozess bereits in frühen Stadien üblich seien.358 Noch drastischer sieht Tscherwinka den Haftgrund der besonders hohen Straferwartung im Sinne des § 112 Abs. 3 StPO, zieht daraus aber ebenfalls den Schluss, dass Strafzumessungserwägungen keine von der Rechtsprechung abgelehnte Praxis sind und sich die Verständigung in die bestehende Praxis einfüge.359 Hildebrandt befasst sich ebenfalls mit den Haftgründen der §§ 112 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 StPO. Er kritisiert, dass die Beweislastverteilung bei hoher Straferwartung zu einer Verletzung der Unschuldsvermutung führe.360 Der Beschuldigte müsse bei hoher Straferwartung die Fluchtgefahr widerlegen. Diese Praxis sei mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar.361 Er erkennt allerdings an, 351

Vgl. 1. Kapitel B. II. 2. Vgl. bei Tscherwinka, S. 104 f.; Hildebrandt, S. 63. 353 Krause, S. 43. 354 Krause, S. 43; Krause verkennt dabei, dass der dringende Tatverdacht gerade keine Schuldfeststellung beinhaltet. Voraussetzung ist lediglich, dass das Gericht die Warscheinlichkeit für groß hält, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist; siehe nur Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 5. 355 Krause, S. 43. 356 Krause, S. 43 f. 357 Tscherwinka, S. 104. 358 Tscherwinka, S. 104 f. 359 Tscherwinka, S. 105. 360 Hildebrandt, S. 63; SK-StPO/Paeffgen, Bd. 2 § 112 Rn. 18a; ähnlich Frister, GSWeßlau, S. 157. 361 Hildebrandt, S. 63; ebenso Frister, GS-Weßlau, S. 157; der Staat trägt die Darlegungsund Beweislast für die Schuld, andernfalls ist (wie in diesem Fall) die Unschuldsvermutung 352

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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dass die Prognosestellung des Gerichts im Hinblick auf das Strafmaß nicht schlechthin gegen die Unschuldsvermutung verstoße und damit zulässig sei.362 Obwohl Hildebrandt die Verständigung im Hinblick auf die Unschuldsvermutung scharf kritisiert, kommt auch er über den Vergleich mit § 112 StPO zu dem Ergebnis, dass Prognosestellungen im Hinblick auf das Strafmaß nicht schlechthin unzulässig seien. Dies müsse auch für die Verständigung gelten. Ioakimidis führt an, dass dem Strafprozess Zwischenentscheidungen nicht fremd seien und ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung nicht vorliege.363 Angeführt werden kann hier beispielsweise der § 203 StPO.364 Das Gericht eröffnet die Hauptverhandlung nur bei hinreichendem Tatverdacht, also bei einer überwiegenden Verurteilungsprognose.365 Die Unschuldsvermutung dürfe nicht als absolutes Prinzip, sondern als Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes verstanden werden.366 Die Reichweite werde daher daran gemessen, was einem Unschuldigen zuzumuten ist, denn was ein tatsächlich Unschuldiger nicht ertragen muss, darf auch einem Verdächtigen nicht auferlegt werden.367 Das Strafprozessrecht dürfe die Beschuldigtenrechte nur soweit einschränken, wie es unbedingt notwendig ist.368 Die Schuld werde erst am Ende des dreistufigen Verfahrens mit Erlass des Urteils festgestellt, wenn das Gericht von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist.369 Die Unschuldsvermutung ende erst mit der Überzeugung von der Schuld und mit der rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten.370 Diese Ausführungen zeigten, dass es der Strafprozessordnung nicht fremd sei, sich vorbehaltlich des weiteren Verfahrens eine Meinung über das mögliche Verfahrensergebnis zu bilden.371 Die Zusage des Gerichts, ein bestimmtes Strafmaß nicht zu überschreiten, beseitige daher nicht dessen Unvoreingenommenheit und verstoße deshalb nicht gegen die Unschuldsvermutung.372 Jahn/Kudlich halten das Verständigungsgesetz für mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Auch im Fall der Initiierung der Verständigung dürfe das Gericht nicht verletzt KK/Lohse/Jakobs, EMRK Art. 6 Rn. 68, 496; zögerlich zur Verfassungsmäßigkeit von § 112 Abs. 4 StPO BVerfGE 19, 342, 350. 362 Hildebrandt, S. 63 f. 363 Ioakimidis, S. 91; i. A. BGHSt 43, 195, 207 f. 364 Ioakimidis, S. 91; ebenso Tscherwinka, S. 104; a. A. im Hinblick auf die Vergleichbarkeit Siolek, S. 126. 365 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 203 Rn. 2; MüKoStPO/Wenske, Bd. 2 § 203 Rn. 10. 366 Tscherwinka, S. 103 f.; Ioakimidis, S. 91; vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 3; dabei handelt es sich wohl um eine m. M. vgl. Stuckenberg, ZStW 1999, 422, 423 f. 367 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 11 Rn. 3; Ioakimidis, S. 91. 368 Ioakimidis, S. 91. 369 Ioakimidis, S. 91. 370 Ioakimidis, S. 91; MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 6 Rn. 139. 371 Ioakimidis, S. 91, 95. 372 Ioakimidis, S. 95; BGHSt 43, 195, 207 f.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

automatisch von der Schuld des Angeklagten ausgehen. Durch den Eröffnungsbeschluss habe das Gericht zwar schon deutlich gemacht, dass es eine Verurteilung für wahrscheinlicher halte als einen Freispruch und verstärkt diesen Eindruck durch den Verständigungsvorschlag. Allerdings müsse das Gericht wie im streitigen Verfahren am Ende von der Schuld überzeugt sein. Der § 257c Abs. 4 S. 3 StPO flankiere zudem die Unschuldsvermutung.373 Bogner merkt weiter an, dass viele Kritiker der Absprachen die Unschuldsvermutung an dieser Stelle überdehnen. Es handele sich um eine formalisierte Rechtsposition, die bis zum rechtskräftigen Beweis des Gegenteils bestehe.374 Nicht die innere Einstellung des Gerichts sei maßgeblich, sondern eine objektive Sichtweise. Der Beschuldigte sei bis zu seiner Verurteilung unschuldig, woran auch die Einleitung der Absprache nichts ändere.375 Die Gegenauffassung,376 die die Unschuldsvermutung als Verhaltensregel ansehe, gehe demnach zu weit.377 Solange der Wahrheitsfindungsprozess nicht abgeschlossen sei, wirke die Unschuldsvermutung somit uneingeschränkt, ohne dass es auf vorher entstandene Gewissheiten oder Zweifel ankommt.378 c) Stellungnahme Die vorhergehenden Ausführungen haben gezeigt, dass sowohl frühe Strafmaßprognosen, wie im Bereich der Untersuchungshaft, als auch Zwischenentscheidungen, deren Voraussetzung ein dringender beziehungsweise hinreichender Tatverdacht ist, mit der Unschuldsvermutung vereinbar sind. Im Hinblick auf die Reichweite der Unschuldsvermutung ist Bogner nicht Recht zu geben. Es handelt sich wie Esser379 zutreffend feststellt um eine „Verhaltensregel“, sodass auch die innere Einstellung des Richters eine Rolle spielt. Dies ändert aber nichts am Ergebnis der Vereinbarkeit der Unschuldsvermutung mit der Urteilsabsprache. Im Strafprozess ist es unerlässlich, dass der Richter bereits vor Urteilsverkündung Zwischenentscheidungen fällt. Dabei handelt es sich aber nur um Prognoseentscheidungen, sodass die Unschuldsvermutung bis zum endgültigen Abschluss des Strafverfahrens weiter gilt. Die Unschuldsvermutung ist auch nicht verletzt, weil es sich nur um Zwischenentscheidungen handelt und der Richter sich, auch innerlich, nicht auf die Schuld festlegt. Im Rahmen der Verfassungsmäßigkeitsprüfung muss

373

MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 50. Bogner, S. 59; ebenso Weigend, JZ 1990, 774, 777. 375 Bogner, S. 59. 376 Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 EMRK Art. 6 Rn. 489; MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 6 Rn. 126; Siolek, S. 126; Rönnau, S. 176. 377 Bogner, S. 59. 378 Bogner, S. 58 f. 379 Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 EMRK Art. 6 Rn. 489. 374

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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hier vom Idealbild des Richters ausgegangen werden und nicht von dem Ausnahmefall, in dem der Richter bereits vorher innerlich festgelegt ist. Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung durch das Verständigungsgesetz kann daher nicht pauschal angenommen werden. Zwar sieht der § 257c Abs. 1 S. 1 StPO ein Initiativrecht des Gerichts vor, allerdings ist nicht auszuschließen, dass vorher Erörterungen im Sinne der §§ 212, 257b StPO stattgefunden haben. Regt das Gericht zunächst unverbindliche Erörterungen an und macht anschließend einen Verständigungsvorschlag im Sinne des § 257c Abs. 1 S. 1 StPO, so ist dies im Hinblick auf die Unschuldsvermutung unbedenklich. Es ist deshalb nicht notwendig, das Gericht von dem Initiativrecht zur Verständigung auszuschließen. Freilich kann es, ähnlich wie bei der richterlichen Befangenheit, im Einzelfall zu einem Verstoß gegen die Unschuldsvermutung kommen.380 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Gericht direkt zu Beginn der Beweisaufnahme einen Verständigungsvorschlag macht und eine Strafobergrenze nennt.381 Um sämtlichen Bedenken zu begegnen und die Kritiker in der Literatur zu besänftigen, wäre es denkbar, zwingend eine vorausgehende Erörterung im Sinne der §§ 212, 257b StPO vorzuschreiben.382 Dabei wäre eine Erörterung im Sinne des § 257b StPO aufgrund der höheren Transparenz zweckmäßiger. Voraussetzung ist natürlich auch hier, dass sich das Gericht nicht direkt zu Beginn des Gesprächs zu einer Strafmaßzusage hinreißen lässt. Die Verständigung ist verfassungsrechtlich im Hinblick auf die Unschuldsvermutung nicht zu beanstanden. Im Einzelfall kann aber ein Befangenheitsantrag gestellt werden.383 Auch der Grundsatz in dubio pro reo wird durch das Verständigungsgesetz nicht verletzt. Der § 257c Abs. 2 S. 2 StPO besagt, dass Bestandteil jeder Verständigung ein Geständnis sein soll. Außerdem bleibt gemäß § 257c Abs. 1 S. 2 StPO nach dem Gesetz der Aufklärungsgrundsatz unberührt.384 Das Gericht darf den Angeklagten auch im Rahmen der Verständigung nur verurteilen, wenn es aufgrund seines Geständnisses und möglicher weiterer Beweise von dessen Schuld überzeugt ist. V. Gleichbehandlungsgebot Art. 3 GG Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz ist in Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankert.385 Er besagt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Wesentlich Gleiches darf nicht ungleich behandelt werden.386 Teilweise wird 380

Vgl. Huttenlocher, Rn. 64 f. Ähnlich Huttenlocher, Rn. 64. 382 Ähnlich Braun, S. 61; Rönnau, S. 177. 383 Huttenlocher, Rn. 65; vgl. auch 2. Kapitel § 2 B. VI. 3. 384 Vgl. dazu unten 2. Kapitel § 2 B. II. 385 BVerfGE 6, 84, 91; BVerfGE 55, 72, 88. 386 BVerfGE 4, 143, 155; BVerfGE 27, 364, 371; BVerfGE 42, 64, 72; BVerfGE 46, 55, 62; BVerfGE 110, 141, 167; BVerfGE 112, 74, 86; BVerfGE 127, 263, 280; BVerfGE 134, 1, 20; 381

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

angenommen, dass die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem keinen Teil des Gleichbehandlungsgrundsatzes darstelle, sondern allein gegen das allgemeine Willkürverbot verstoße.387 Dies ist allerdings nicht zutreffend. Auch bei der Gleichbehandlung von Ungleichem liegt eine Verletzung des Gleichheitssatzes vor.388 Daher darf wesentlich Gleiches nicht ungleich und wesentlich Ungleiches nicht gleich behandelt werden.389 Eine rechtlich relevante Ungleichbehandlung liegt nur dann vor, wenn sie durch den gleichen Hoheitsträger in seinem eigenen Kompetenzbereich erfolgt.390 Der Gleichheitssatz bindet die Judikative, die Exekutive und die Legislative, wobei jeweils spezifische Bedingungen für dessen Anwendung gelten.391 Eine Ungleichbehandlung ist allerdings nach der Willkürformel möglich, wenn ein vernünftiger, sich aus der Sache ergebender oder sonst einleuchtender Grund für die Ungleichbehandlung besteht.392 Willkür liegt dagegen nicht schon dann vor, wenn der Gesetzgeber von mehreren Entscheidungen nicht die „zweckmäßigste“ oder „gerechteste“ Variante gewählt hat.393 Willkür liegt nur dann vor, wenn sich ein sachlicher Grund für die Gesetzgebungsvariante nicht finden lässt.394 Nach der „neuen Formel“ ist der Gleichheitsgrundsatz bereits dann verletzt, „wenn der Staat eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.395 BVerfGE 138, 136, 180; Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 1 Art. 3 Abs. 1 Rn. 40. 387 Sachs/Jasper, JuS 2016, 769, 775; vgl. Kempny, JZ 2015, 1086, 1091 der aber davon spricht, dass alle Fälle der Gleichbehandlung in eine Ungleichbehandlung umformuliert werden können. 388 BVerfGE 46, 55, 62; BVerfGE 49, 148, 165; BVerfGE 78, 104, 121; BVerfGE 93, 319, 348; BVerfGE 110, 141, 167; BVerfGE 127, 263, 280; BVerfGE 132, 72, 81; BVerfGE 134, 1, 20; BVerfGE 138, 136, 180; Albers, JuS 2008, 945; Manssen, Staatsrecht II, Rn. 855. 389 BVerfGE 27, 364, 371; BVerfGE 42, 64, 72; BVerfGE 46, 55, 62; BVerfGE 49, 148, 165; BVerfGE 78, 104, 121; BVerfGE 93, 319, 348; BVerfGE 110, 141, 167; BVerfGE 127, 263, 280; BVerfGE 132, 72, 81; BVerfGE 134, 1, 20; BVerfGE 138, 136, 180; Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 1 Art. 3 Abs. 1 Rn. 40. 390 BVerfGE 21, 54, 68; BVerfGE 42, 20, 27; BVerfGE 76, 1, 73; BVerfGE 79, 127, 158; Nußberger, in: Sachs GG, Art. 3 Rn. 81; Epping, Grundrechte, Rn. 793; Hufen, Staatsrecht II, § 39 Rn. 6; Scherzberg/Meyer, JA 2004, 137, 138. 391 Albers, JuS 2008, 945; Manssen, Staatsrecht II, Rn. 855; ausführlich Gusy, NJW 1988, 2505, 2507 ff. 392 BVerfGE, 6, 84, 91; BVerfGE, 110, 141, 167; Wollenschläger, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck GG, Bd. 1 Art. 3 Abs. 1 Rn. 40; Jarass, NJW 1997, 2545, 2546; Hufen, Staatsrecht II, § 39 Rn. 5; Scherzberg/Meyer, JA 2004, 137, 138; Brüning, JZ 2001, 669. 393 BVerfGE 4, 143, 155; BVerfGE 27, 364, 371. 394 BVerfGE 3, 162, 182; BVerfGE 4, 143, 155; BVerfGE 27, 364, 371. 395 BVerfGE 55, 72, 88; BVerfGE 82, 60, 86; BVerfGE 112, 74, 86; BVerfGE 131, 239, 256.

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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Das BVerfG hat die „neue Formel“ zunächst für personenbezogene Ungleichbehandlungen eingeführt.396 Inzwischen verwischt diese Differenzierung, wobei die Rechtsprechung sowohl zwischen den Senaten als auch innerhalb der Senate uneinheitlich und zum Teil nur schwer nachvollziehbar ist.397 Auch heute ist grundsätzlich noch die Willkürformel Ausgangspunkt der Prüfung, es sei denn, es liegt ein Fall vor, in dem strengere Anforderungen gelten müssen.398 Die Prüfstrenge bemisst sich nach der Ansicht des Ersten Senates richtigerweise an drei Kriterien.Zum ersten ist relevant, ob sich die Merkmale der Differenzierung an Art. 3 Abs. 3 GG annähern, zum zweiten, inwiefern die Ungleichbehandlung die Freiheitsrechte betrifft und zum Dritten, inwieweit die Verwirklichung der Merkmale für den Betroffenen beeinflussbar ist.399 Die Differenzierung nach dem Personenbezug ist entbehrlich, weil der Persönlichkeitsschutz durch die Nähe zu Art. 3 Abs. 3 GG seinen Einfluss gefunden hat.400 Zudem kann jedes sachbezogene Merkmal auch als personenbezogenes Merkmal ausgelegt werden und umgekehrt, sodass dieser Maßstab ungeeignet ist.401 Darüber hinaus soll die Willkürformel trotzdem gelten, wenn es sich um eine hochkomplexe Materie handelt und der Gesetzgeber konfligierende Interessen zu berücksichtigen hat und ihm daher ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht.402 Das Strafrecht ist „ultima ratio“ im Staat, sodass hier eine erhebliche Beeinträchtigung der Freiheitsrechte vorliegt. Bezogen auf die Frage der Verständigung kann der Betroffene auch nicht beeinflussen, ob sein Fall für eine Verständigung geeignet ist und ob sich das Gericht auf eine Verständigung einlässt. Zum selben Ergebnis kommt man, wenn man personenbezogene Merkmale annimmt, weil das begünstigende Merkmal nicht oder nur schwer erfüllbar ist.403 Im Ergebnis liegen die beiden Ansichten daher nicht weit voneinander entfernt und greifen nur auf unterschiedliche dogmatische Begründungsansätze zurück.404 Es handelt sich auch nicht um einen Fall, indem der Gesetzgeber konfligierende Interessen zu berücksichtigen hatte, weil das eigene Interesse an der Verfahrensbeschleunigung nicht zählen darf. Daher ist auf das Verständigungsgesetz nach beiden Ansichten die „neue Formel“, nicht bloß die Willkürformel anzuwenden.405

396

BVerfGE 55, 72, 88 f. Ausführlich Britz, NJW 2014, 346, 347 ff. m. w. N. 398 Nußberger, in: Sachs GG, Art. 3 Rn. 25; Scherzberg/Meyer, JA 2004, 137, 139. 399 Britz, NJW 2014, 346, 349; vgl. BVerfGE 110, 141, 167; BVerfGE 138, 136, 180 f. 400 Britz, NJW 2014, 346, 348. 401 Vgl. Nußberger, in: Sachs GG, Art. 3 Rn. 32. 402 Scherzberg/Meyer, JA 2004, 137, 139 f.; Bryde/Kleinknecht, Jura 1999, 36, 37 f. 403 Jarass, NJW 1997, 2545, 2547. 404 Ausführlich Britz, NJW 2014, 346, 349. 405 Brüning, JZ 2001, 669, 673; Nußberger, in: Sachs GG, Art. 3 Rn. 33 plädieren sogar mit guter Begründung dafür, auch auf die Ungleichbehandlungen, die aktuell noch unter die Willkürformel fallen, die neue Formel und damit die Verhältnismäßigkeitprüfung anzuwenden. Aufgrund der hohen Flexibilität der Verhältnismäßigkeitsprüfung können auch diese Sach397

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Im Bezug auf die Rechtsanwendung durch die Justiz ergeben sich einige weitere Besonderheiten. Die Rechtsprechung ist „konstitutionell uneinheitlich“406, sodass nicht gleich jede Ungleichbehandlung einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz darstellt.407 Die bei der Einzelfallanwendung entstehenden Ungleichheiten sind das notwendige Korrelat zur Unbestimmtheit abstrakt genereller Gesetze.408 Auch eine falsche Form der Rechtsanwendung stellt nicht notwendig eine verfassungsrechtliche Ungleichbehandlung dar, dies ist erst dann der Fall, wenn sich nach Ausschöpfung des Sachverhalts keine plausiblen Gründe für die Ungleichbehandlung finden lassen.409 Einzige Grenze ist die Willkür, wobei sich im Strafrecht immer Gründe finden lassen werden, die „irgendwie einleuchtend“ sind.410 Gusy geht aufgrund der Selbstbindung allerdings davon aus, dass ein Gericht sich grundsätzlich an bereits gebildeten Auslegungssätzen orientieren und Abweichungen begründen müsse.411 Häufig wird der allgemeine Gleichheitsgrundsatz in einem Satz mit der „Gerechtigkeit“ genannt oder mit dieser sogar gleichgesetzt. Der Gleichheitsgrundsatz ist die einzige Ausprägung des Gerechtigkeitsprinzips, die eine positivrechtliche Regelung erfahren hat.412 Gleichheit ist außerdem ein zentrales Element der Gerechtigkeit.413 Der Gleichheitsgrundsatz umfasst aber nur verfassungsrechtlich relevante Gerechtigkeitsverletzungen und stellt daher nur einen kleinen Ausschnitt der absoluten Gerechtigkeit dar.414 Im Folgenden soll es nicht um Gerechtigkeit gehen, sondern nur um den enger umgrenzten Bereich des Art. 3 Abs. 1 GG. 1. Gleichheitsrechtliche Probleme der Verständigung Der Gleichheitsgrundsatz ist einer der offensichtlichsten Konfliktpunkte im Bezug auf das Verständigungsgesetz und auch im Bezug auf die Rechtsanwendung. Daher ergeben sich in dieser Konstellation diverse Spannungsfelder. In der Studie von Altenhain/Dietmeier/May finden sich deutliche Indizien dafür, dass bei einer Verständigung ein höherer Strafnachlass im Vergleich zum Normalverfahren geverhalte problemlos gelöst werden. Dem ist zu folgen, wobei sich in diesem Fall die Diskussion erübrigt, da die neue Formel schon aus anderen Gründen anwendbar ist. 406 BVerfGE 78, 123, 126. 407 Epping, Grundrechte, Rn. 792; Meier, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 96. 408 Meier, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 96. 409 BVerfGE 42, 64, 72; Epping, Grundrechte, Rn. 792; Meier, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 96. 410 Meier, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 96; vgl. Nußberger, in: Sachs GG, Art. 3 Rn. 126. 411 Gusy, NJW 1988, 2505, 2511 f.; vgl. auch Nußberger, in: Sachs GG, Art. 3 Rn. 128. 412 Warda, S. 155 f.; Forsthoff, GS-Jellinek, S. 232. 413 Meier, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 95. 414 I. A. BVerfGE 3, 162, 182.

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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währt wird.415 Dies könnte im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG ein Problem ergeben, weil der Zugang zur Verständigung nicht für alle Beschuldigten gleich ist, sondern vom „Belieben“ des Richters abhängt. Daher ist sowohl der ungleiche Zugang zur Verständigung problematisch, als auch die möglicherweise im Vergleich zu einem Geständnis im Normalverfahren höhere Strafmilderung. a) Zugang zur Verständigung Ein Problem ist der ungleiche Zugang zu einer Verständigung auf Gesetzesebene. Der § 257c Abs. 1 S. 1 StPO regelt, dass in „geeigneten Fällen“ eine Verständigung erfolgen „kann“. Was geeignete Fälle sind, wird in dem Gesetz nicht näher beschrieben und die Entscheidung, ob in einem geeigneten Fall eine Verständigung erfolgt, wird ins Ermessen des Gerichts gestellt. Das Gesetz selbst nimmt hier weder eine Einschränkung im Hinblick auf bestimmte Deliktstypen vor noch können Verständigungen nur vor bestimmten Gerichten erfolgen.416 Auch zwischen verteidigten und unverteidigten Beschuldigten differenziert das Gesetz bewusst nicht.417 Die Gesetzesbegründung besagt, dass es von den „konkreten Umständen“ des Einzelfalls abhänge, ob ein Fall verständigungsgeeignet sei.418 Der Zugang zu der möglicherweise günstigeren Verständigung wird damit in zweierlei Hinsicht in das Ermessen des Gerichts gestellt.419 Bei dem Terminus der „geeigneten Fälle“420 415 Vgl. Altenhain/Dietmeier/May, S. 115 ff. wobei der durchschnittliche „Strafrabatt“ zwischen 25 % und 33 % liegt. 416 BT-Drucks. 16/12310, S. 2; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 26; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 82. 417 BT-Drucks. 16/12310, S. 2; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 83 f. 418 BT-Drucks. 16/12310, S. 2; vgl. MüKoStPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 83; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 26. 419 BT-Drucks. 16/12310, S. 13; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 6. 420 Eine mögliche Definition eines geeigneten Falles ist, laut SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 17, dass das Gericht im konkreten Fall auf die Beweiserhebung verzichten kann und allein aufgrund des Akteninhalts in Kombination mit einem Geständnis eine Entscheidung über die Schuld des Angeklagten treffen kann. Diese Definition würde gewährleisten, dass der Amtsermittlungsgrundsatz eingehalten wird und damit der Vorstellung des § 257c Abs. 1 S. 2 StPO entsprechen. Allerdings hätte die Verständigung aus verfahrensökonomischer Sicht wohl kaum einen Nutzen für das Gericht und würde auch kaum zur Entlastung der Justiz beitragen. Im Hinblick auf die oben genannten Gründe der Verständigung werden geeignete Fälle mit Murmann, ZIS 2009, 526, 534 daher vor allem solche sein, in denen die Verständigung Beschleunigungspotential bietet und damit eine Arbeitsentlastung herbeiführt. Wegen der Weite des unbestimmten Rechtsbegriffs lässt der Wortlaut auch diese Auslegungsvariante zu. Auch nach dem Telos der Norm, die Erhaltung der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege durch Verfahrensbeschleunigung, erscheint diese Auslegungsvariante nicht abwegig. Dafür spricht auch die Entwurfsbegründung, in der steht, dass das Gericht dem Angeklagten eine Verständigung versagen darf, wenn seine Kooperation aufgrund der eindeutigen Beweislage wertlos ist BT-Drucks. 16/12310, S. 15; vgl. Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 330.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung den Gerichten obliegt.421 Zudem besteht auch in geeigneten Fällen kein Anspruch auf Durchführung der Verständigung.422 Daher ist zu befürchten, dass Faktoren wie der soziale Status des Beschuldigten, die Art des Delikts, die Qualität der Verteidigung sowie der Zeitpunkt der Ablegung eines Geständnisses beeinflussen, ob eine Verständigung zustande kommt oder nicht. b) Gewichtung des verständigungsbasierten Geständnisses Im Rahmen des Gleichheitsgrundsatzes ergibt sich ein weiteres Problem bei der Gewichtung des Geständnisses. Dabei ist zwischen auf Reue basierenden Geständnissen und prozesstaktisch motivierten Geständnissen zu unterscheiden. Zudem ist zwischen einer Strafmilderung, wie sie bei einem Geständnis im Normalverfahren üblich ist und einer überobligatorischen Strafmilderung zu unterscheiden. Wie bereits ausgeführt enthält die Studie von Altenhain/Dietmeier/May jedenfalls Anhaltspunkte dafür, dass bei einem verständigungsbasierten Geständnis ein höherer Strafnachlass gewährt wird als bei einem Geständnis im Normalverfahren.423 Dies könnte in Verbindung mit dem bereits genannten ungleichen Zugang zur Verständigung ein gleichheitsrechtliches Problem darstellen. Kleinere Abweichungen sind im Rahmen der gesetzlichen Regelung aber zulässig,424 da dem Richter nach der Spielraumtheorie im Rahmen der Strafzumessung ein Ermessen zukommt.425 aa) Gleicher Strafnachlass wie bei einem Geständnis im Normalverfahren Die Untersuchung des Schuldgrundsatzes hat ergeben, dass ein auf Reue basierendes Geständnis, das im Rahmen der Verständigung abgelegt wurde, de lege lata ebenso zu behandeln ist wie ein auf Reue basierendes Geständnis im Normalverfahren. Es könnte aber eine willkürliche Gleichbehandlung von Ungleichem vorliegen, wenn im Rahmen der Verständigung bei einem rein prozesstaktischen Geständnis der gleiche Strafnachlass zugestanden wird wie bei einem aus Reue abgegebenen Geständnis im Normalverfahren. Dies würde wie bereits ausgeführt einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz darstellen, könnte aber zusätzlich aus gleichheitsrechtlicher Sicht problematisch sein.426 Dabei handelt es sich um ein Problem 421 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 81; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 6. 422 Vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 13. 423 Vgl. Altenhain/Dietmeier/May, S. 115 ff. wobei der durchschnittliche „Strafrabatt“ zwischen 25 % und 33 % liegt. 424 Zumindest solange es sich um Strafen handelt, die schuldangemessen sind; dazu mehr unter 2. Kapitel § 2 A. IV. 1. 425 Salditt, FS-Tolksdorf, S. 381. 426 Dieses Problem wurde oben unter 2. Kapitel § 2 A. IV. 1. bereits im Hinblick auf den Schuldgrundsatz diskutiert. Es wird an dieser Stelle aber erneut aus gleichheitsrechtlicher Sicht

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

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der gesetzlichen Regelung, weil das Verständigungsgesetz nicht zwischen einem auf Reue basierenden und einem prozesstaktischen Geständnis differenziert. Bei einem prozesstaktischen Geständnis und einem auf Reue basierenden Geständnis handelt es sich nicht um vergleichbare Konstellationen, sodass ein gleichheitsrechtlich relevanter Sachverhalt vorliegt, sofern diese Konstella-tionen gleich behandelt werden. Im Rahmen der Verständigung könnte das reine Prozessverhalten des Angeklagten zu einem strafmildernden Faktor werden.427 Dies könnte sich daraus ergeben, dass das prozesstaktische Geständnis, das im Rahmen der Verständigung der Regelfall sein wird, grundsätzlich keine strafmildernde Wirkung haben darf. Es darf aber jedenfalls nicht dieselbe strafmildernde Wirkung haben wie ein Geständnis im Normalverfahren.428 bb) Höherer Strafnachlass als bei einem Geständnis im Normalverfahren Zum anderen kann sich ein Gleichheitsverstoß auch aus einer höheren Gewichtung des verständigungsbasierten Geständnisses ergeben. Es handelt sich wegen der eindeutigen gesetzlichen Regelung des § 257c Abs. 3 S. 2 StPO um ein Problem auf Rechtsanwendungsebene. Hier ist wieder die Vorüberlegung nötig, ob ein verständigungsbasiertes Geständnis de lege lata gleich gewürdigt werden darf wie ein auf Reue basierendes Geständnis im Normalverfahren.429 Ein auf Reue basierendes Geständnis, das im Rahmen der Verständigung abgelegt wurde, ist de lege lata ebenso zu behandeln wie ein auf Reue basierendes Geständnis im Normalverfahren. Es handelt sich also um vergleichbare Sachverhalte. Eine Strafmilderung für ein auf Reue basierendes Geständnis im Verständigungsverfahren ist daher gleichheitsrechtlich unbedenklich, weil hier eine Gleichbehandlung von Gleichem vorliegt. Wird allerdings für das rauf Reue basierende, Geständnis im Rahmen einer Verständigung ein höherer Strafnachlass gewährt, als im Normalverfahren üblich, so liegt eine Ungleichbehandlung vor. Bei einem rein prozesstaktischen Geständnis im Verständigungsverfahren liegt schon keine Vergleichbarkeit mit dem von Reue getragenen Geständnis im Normalverfahren vor. Wird dieses Geständnis höher gewichtet als das von Reue getragene Geständnis, so mag dies aus Gerechtigkeitsaspekten höchst fragwürdig sein. Eine Ungleichbehandlung über Art. 3 GG kann aber nicht geltend gemacht werden, weil Ungleiches ungleich behandelt wird. Es bleibt allenfalls eine Verletzung des Willkürverbots.430 relevant, wenn es um den Vergleich der Strafmilderung bei einem rein verständigungsbasierten Geständnis und bei einem auf Reue basierenden Geständnis im Normalverfahren geht. 427 Vgl. Rabe, S. 159. 428 Vgl. Rabe, S. 159. 429 Siehe dazu oben 2. Kapitel § 2 A. IV. 1. 430 Vgl. Sachs/Jasper, JuS 2016, 769, 775.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Daher könnte sowohl das Verständigungsgesetz selbst gegen Art. 3 GG verstoßen als auch die Rechtsanwendungspraxis. 2. Meinungsstand Im Rahmen des Konfliktfeldes der „Absprachen“ mit Art. 3 GG gibt es, wie bereits aufgezeigt, eine Vielzahl von verschiedenen Ansatzpunkten, die in der Literatur problematisiert werden. Dies war schon vor Einführung des Verständigungsgesetzes ein brisantes Thema und ist bis heute umstritten. a) Verfassungswidrigkeit des Verständigungsgesetzes Auf der ersten Stufe könnte bereits das Verständigungsgesetz selbst verfassungswidrig sein. aa) Zugang zur Verständigung Ein Problem wird darin gesehen, dass die Eingehung der Verständigung durch das Gesetz in das Ermessen431 des Gerichts gestellt wird und der Beschuldigte hierauf keinen Anspruch hat.432 Die dadurch ausgelösten Begründungsanforderungen des § 34 StPO sind nur minimal.433 In dem Ermessen des Gerichts ist die Möglichkeit zur Ungleichbehandlung geradezu angelegt. Sollte darin ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz zu sehen sein, wäre das Verständigungsgesetz an dieser Stelle verfassungswidrig. Während im Rahmen des gesetzlichen Richters insbesondere der Neutralitätspflicht sowie im Rahmen der Unschuldsvermutung die Befangenheit des Richters problematisiert wurde, wenn er eine Verständigung initiiert, ist hier das Gegenteil der Fall. Im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG könnte es auch problematisch sein, wenn der Richter willkürlich die Verständigung versagt.434 Die überwiegende Ansicht nimmt daher an, dass es sich um einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG handelt, wenn die Entscheidung über den Zugang zur Absprache im Ermessen des Richters liegt.435 Diese Ansicht existiert in verschiedenen Abstufungen. 431

Im Strafrecht war früher umstritten, wie der Begriff des Ermessens zu bewerten ist. Das freie Ermessen wird heute fast einhellig abgelehnt, sodass überwiegend von einem gebundenen Ermessen ausgegangen wird vgl. Warda, S. 175, 184 („gesetzmäßiges Ermessen“); ähnlich Peters, Strafprozeß, S. 641 f.; ausführlich Drost, S. 43 ff., 59. 432 Rönnau, JuS 2018, 114, 117; so auch die einhellige Meinung in der Literatur SK-StPO/ Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 19; Weßlau, StV 2006, 357, 360; Hildebrandt, S. 61. 433 Weßlau, StV 2006, 357, 360. 434 Vgl. MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 StPO, § 202a Rn. 12. 435 Nehm, StV 2007, 549, 550; Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 72; KMR/ v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 21 (Stand: November 2009); Weßlau, StV 2006, 357, 360;

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Nehm nimmt dies sogar an, wenn es im Rahmen der Verständigung nicht zu einer Strafrahmenverschiebung käme. Das ergibt sich e contrario daraus, dass Sie eine weitere Verschärfung darin sieht, wenn es bei einer Verständigung im Vergleich zum Normalverfahren mit Geständnis zu einer weiteren Strafrahmenverschiebung kommt.436 Bei Nehm liegt ein Gleichheitsverstoß also schon unabhängig von einer Strafrahmenverschiebung vor. Nach dieser Ansicht verstößt § 257c Abs. 1 StPO gegen Art. 3 GG. Altenhain/Hagemeier/Haimerl sehen den gleichen Zugang zu Absprachen im Hinblick auf Art. 3 GG als zwingend an, weil es im Rahmen von Absprachen regelmäßig zu milderen Urteilen komme.437 Auch nach dieser Ansicht liegt in § 257c Abs. 1 StPO ein Verstoß gegen Art. 3 GG, wobei Grund dafür aber die mildere Straferwartung ist.438 Auch Nahrwold kritisiert, dass der Begriff der „geeigneten Fälle“ viel Raum für Entscheidungen lasse, die Gefahr willkürlicher Entscheidungen aber nicht verringere. Dabei sei der Gleichheitsgrundsatz mindestens gefährdet.439 Salditt bezeichnet den Richter daher im Bezug auf die Verständigung als „Gatekeeper“.440 Der Angeklagte erhalte im Rahmen der Verständigung Orientierungssicherheit sowie einen teilweise deutlichen Sanktionsrabatt.441 Ob die Verständigung allerdings eröffnet werde und der Angeklagte sich diese Vorteile sichern kann, liege allerdings im freien, nicht überprüfbaren Ermessen des Gerichts. Zudem müsse gemäß § 257c Abs. 3 S. 4 StPO auch die Staatsanwaltschaft zustimmen.442 Der Angeklagte unterliege deshalb sogar einem „doppelten Belieben“, sodass sich das Belieben nicht mehr von objektiver Willkür unterscheiden lasse. Dies sei auch schon im Rahmen der informellen Absprachen ein Problem gewesen, nun sei die Rolle des Richters als Gatekeeper allerdings Teil einer gesetzlichen Regelung geworden. Es stellt sich daher die Frage, ob der Gesetzgeber ein privilegiertes Verfahren einführen und den Zugang zu diesem in das Belieben des Richters stellen dürfe.443 Salditt schlägt daher vor, das Belieben des Richters auf ein normatives Minimum einzuschränken, indem die Initiative dem Angeklagten und dessen Verteidiger überlassen werde. Bei restriktiver, verfassungskonformer Auslegung der §§ 257b, 257c StPO Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 330; Nahrwold, S. 241; Hildebrandt, S. 61; vgl. Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 90; kritisch: Braun, S. 77; Saal, S. 36; Hettinger, JZ 2011, 292, 299. 436 Nehm, StV 2007, 549, 550. 437 Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 72; ebenso Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 330. 438 Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 72; ähnlich Weßlau, StV 2006, 357, 360; dies ist der entscheidende Unterschied zu der Ansicht von Nehm, StV 2007, 549, 550. 439 Nahrwold, S. 241; ähnlich Duttge, Meijo Law Rev. 2012, 1, 6. 440 Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 80. 441 Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 79 f. 442 Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 80. 443 Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 81.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

müsse der Richter auf einen Verständigungsvorschlag von Amts wegen verzichten. Zudem sollte eine Zurückweisung der prozessualen Initiative des Angeklagten begründet werden müssen. Dadurch würde die Beliebigkeit im Umgang mit der Verständigung eingeschränkt.444 Nach aktueller Rechtslage hänge der Angeklagte insofern vom Belieben des Richters ab,445 was einen Verstoß gegen Art. 3 GG darstellen dürfte. Die andere Ansicht sieht in dem Ermessen des Richters keinen Grund für einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz.446 Knauer stellt fest, dass es keinen Anspruch zum Abschluss einer Verständigung gebe, jedenfalls aber einen Anspruch auf die Ausübung von pflichtgemäßem Ermessen. Eine generelle Verweigerungshaltung der Gerichte und auch der Staatsanwaltschaft sei demnach gleichheitswidrig.447 Bei Einhaltung der gesetzlichen Regelung werden demnach die verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht tangiert.448 Im Bezug auf § 257b StPO, der insoweit vergleichbar ist, erwägt Velten, bei einem „Antrag auf Erörterung“ das Recht auf eine begründete Entscheidung einzuräumen. Dieses Recht ergibt sich aus der Ausgestaltung als Ermessensvorschrift, wobei die Verfahrensbeteiligten wenigstens ein Antragsrecht sowie ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung haben müssen. Die Initiativkompetenz gehe laut Velten vom Gericht aus.449 Im Einzelfall könne sich außerdem aus der Selbstbindung bei hoheitlichem Handeln ein Anspruch auf Durchführung der Verständigung ergeben.450 Auch Theile plädiert dafür, sämtlichen Verfahrensbeteiligten und insbesondere dem Beschuldigten einen Anspruch auf die Aufnahme von Verständigungsgesprächen zu gewähren.451 bb) Keine Differenzierung zwischen verteidigtem und unverteidigtem Beschuldigten Das Verständigungsgesetz differenziert weder zwischen verteidigtem und unverteidigten Beschuldigten noch schreibt es für den Fall, dass sich eine Verständigung anbahnt, eine Verteidigung zwingend vor. Daher wird in der Literatur vielfach kritisiert, dass hier eine Benachteiligung des unverteidigten Beschuldigten vorlie-

444 445 446 447 448 449 450 451

Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 81. Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 90. Murmann, ZIS 2009, 526, 534 ff.; Göttgen, S. 31 – 33. Knauer, FS-Heintschel-Heinegg, S. 255. Knauer, FS-Heintschel-Heinegg, S. 256. SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257b Rn. 5. SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 19; ebenso SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 34. Theile, NStZ 2012, 666, 670.

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ge.452 Teilweise wird auch vorgeschlagen, die Verständigung zu einem Fall notwendiger Verteidigung zu erklären.453 Duttge plädiert dafür, die Verständigung als einen Fall notwendiger Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO aufzufassen. Gerade in Fällen einfach gelagerter Beweislage könne der Beschuldigte oft keine Gegenleistung in Form der Beschleunigung für die Strafmilderung anbieten. Der rechtskundige Verteidiger sei dagegen in der Lage, dem Anklagevorwurf etwas entgegenzusetzen und somit einen Fall der notwendigen Verteidigung zu konstruieren.454 Krause setzt ebenfalls daran an, dass das Verständigungsgespräch nicht zwischen verteidigtem und unverteidigtem Beschuldigten differenziert. Der unverteidigte Beschuldigte wisse ein Angebot des Gerichts kaum richtig einzuschätzen. Zudem ist die Verhandlungsposition geschwächt und dem unverteidigten Beschuldigten wird möglicherweise kein so gutes Angebot gemacht wie dem verteidigten Beschuldigten.455 Nach dieser Ansicht müsste dem Beschuldigten, sobald eine Verständigung im Raum stehe, ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden.456 Krause verlangt diese Verpflichtung zur Pflichtverteidigerbestellung nicht von § 140 Abs. 2 StPO abhängig zu machen, sondern ausdrücklich als Fall der notwendigen Verteidigung in § 140 Abs. 1 StPO zu verankern.457 Auch Murmann ist der Ansicht, dass es einen erheblichen Unterschied mache, ob der Beschuldigte verteidigt ist oder nicht, weil dieser wohl kaum selbst Verständigungsgespräche aufnehmen werde. An der Ungleichbehandlung ändere es daher auch nichts, dass der Beschuldigte vielfach aufgrund der Komplexität des Verfahrens nach § 140 Abs. 2 StPO einen Verteidiger haben werde.458 Daher hält Murmann es zumindest für sinnvoll, dem Beschuldigten im Falle der Verständigungsbereitschaft einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Auch in den Fällen, in denen eine Verteidigung nicht notwendig im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO sei, habe der verteidigte Beschuldigte einen Vorteil gegenüber dem unverteidigten Beschuldigten. Der Vertei452

Duttge, Meijo Law Rev. 2012, 1, 7; Krause, S. 50 f.; Murmann, ZIS 2009, 526, 535; Schünemann, ZRP 2009, 104, 106 f.; SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 21 nimmt eine Gefahr für die Gleichbehandlung an, weil nicht anwaltlich Vertretene nur selten ein Angebot für eine Absprache erhalten; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 83 f. halten eine Verständigung ohne Verteidiger zumindest für problematisch; a. A. BT-Drucks. 16/12310, S. 2; SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 12. 453 Duttge, Meijo Law Rev. 2012, 1, 7; Krause, S. 192 ff.; Murmann, ZIS 2009, 526, 535; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627 halten es für bedauernswert, dass der Gesetzgeber auf die Normierung eines Falls notwendiger Verteidigung verzichtet, sehen aber vor allem bei komplexen Abspracheverfahren die Möglichkeit der Bestellung nach § 140 Abs. 2 S. 1 StPO; Ruhs, NStZ 2016, 706, 709 nimmt an, dass die Verständigung zwar einen Fall der notwendigen Verteidigung begründen kann, dies aber nicht reflexartig geschieht. 454 Duttge, Meijo Law Rev. 2012, 1, 7. 455 Krause, S. 50 f. 456 Krause, S. 50 f. 457 Krause, S. 194. 458 Murmann, ZIS 2009, 526, 535.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

diger habe es in der Hand, einen zunächst einfach gelagerten Fall komplizierter zu gestalten und somit für eine Verständigung geeignet zu machen.459 Auch GraalmannScherer fordert jedenfalls dann, wenn Erörterungen nach §§ 160b, 202a StPO oder Verständigungsgespräche im Raum stehen, einen Fall der notwendigen Verteidigung anzunehmen, sofern dieser nicht schon aus anderen Gründen vorliege. Dies dürfte wohl nur in Fällen kleiner und mittlerer Kriminalität relevant werden, da in den übrigen Fällen meist schon aus anderen Gründen ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegen werde.460 Schmitt nimmt an, dass trotz der fehlenden Differenzierung im Verständigungsgesetz die Verständigung mit dem unverteidigten Angeklagten die Ausnahme sein solle. Es müsse sichergestellt werden, dass der Angeklagte Inhalt, Umfang und Folgen des Verfahrens begreift.461 Gegen einen Gleichheitsverstoß spreche, dass eine Verständigung bei einem unverteidigten Beschuldigten wohl kaum relevant werden wird. Nur bei Verfahren vor dem Strafrichter des Amtsgerichts liege keine notwendige Verteidigung vor.462 Diese Fälle werden für eine Verständigung regelmäßig nicht geeignet sein.463 Zudem differenziert das Verständigungsgesetz bewusst nicht zwischen verteidigten und unverteidigten Beschuldigten. Damit könne der Einwand, das Gesetz unterscheide hier gleichheitswidrig, entkräftet werden.464 cc) Gewährung einer Strafmilderung für ein prozesstaktisches Geständnis Es könnte außerdem ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliegen, weil Ungleiches gleich behandelt wird.465 Das Verständigungsgesetz geht zum einen davon aus, dass ein Geständnis teil der Verständigung sein muss. Zum anderen verweist das Gesetz auf die allgemeinen Strafzumessungserwägungen. Nach den allgemeinen Strafzumessungserwägungen hat ein rein prozesstaktisches Geständnis aber jedenfalls ein geringeres Gewicht bei der Strafzumessung als ein von Reue getragenes Geständnis.466 Dann würde sich die Verständigung aber für den Angeklagten nicht lohnen. Das Gesetz muss also mindestens davon ausgehen, dass im Rahmen der Verständigung derselbe Strafnachlass gewährt wird wie im Normalverfahren. Während ein Geständnis im Normalverfahren aber in der Regel von Reue und innerer Umkehr getragen ist, wird ein Geständnis im Rahmen der Verständigung oft aus reiner Berechnung abgegeben, um im Hinblick auf den Prozessausgang ein güns459

Murmann, ZIS 2009, 526, 535. Graalmann-Scherer, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 34; diese verortet das Problem allerdings nicht beim Gleichheitsgrundsatz, sondern im Rahmen der Waffengleichheit. 461 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 6. 462 Göttgen, S. 31. 463 Göttgen, S. 31 f. 464 BT-Drucks. 16/12310, S. 2; Göttgen, S. 32. 465 Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 357; kritisch Siolek, S. 197 f. 466 Vgl. oben ausführlich 2. Kapitel § 2 A. IV. 1. 460

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tigeres Ergebnis zu erzielen. Es ist daher durchaus nachvollziehbar, warum von einem Geständnis im Normalverfahren aufgrund der doppelten Indizwirkung eine strafmildernde Wirkung ausgeht, während dies für ein Geständnis im Rahmen der Verständigung nicht nachvollziehbar ist. Hier könnte Ungleiches gleich behandelt werden. b) Verstoß gegen den Gleichheitssatz aufgrund der Rechtsanwendung Ein weiteres Problem ist, dass die Urteilsabsprachen in der Praxis in vielen Fällen zu willkürlichen Ergebnissen führen.467 Fehler in der Rechtsanwendung eines Gesetzes führen allerdings nur dann zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, wenn die verfassungswidrige Praxis auf die Vorschrift selbst zurückzuführen ist.468 Erforderlich ist hierfür ein strukturelles Vollzugsdefizit. In der Literatur wird vielfach kritisiert, dass die Praxis der Rechtsanwendung gegen den Grundsatz aus Art. 3 GG verstößt.469 Dabei wird auf die Gefahr der „ZweiKlassen-Justiz“ hingewiesen.470 Häufig wird deshalb für einen Anspruch auf Durchführung der Verständigung plädiert.471 Huttenlocher sieht in seiner Untersuchung zahlreiche Probleme, die in der Rechtsanwendung relevant werden können und möglicherweise zu einer willkürlichen Unterscheidung führen.472 Allerdings nimmt er an, dass diese Gleichheitsverstöße im Einzelfall nicht geeignet sind, die Verständigung als solche in Frage zu stellen.473 3. Stellungnahme Im Rahmen eines Verstoßes der Verständigung gegen den Gleichheitsgrundsatz ist wiederum eine differenzierte Betrachtung zwingend erforderlich. Zum einen kann schon das Gesetz selbst gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen und damit verfassungswidrig sein. Zum anderen könnte das Gesetz selbst zwar verfassungsgemäß sein, aber ein Vollzugsdefizit vorliegen, das im Gesetz selbst begründet ist. Damit wäre auch 467

Hörnle, Rth 2004, 175, 191; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 357. BVerfGE 133, 168, 233. 469 Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 357; Hörnle, Rth 2004, 175, 191; Müller, S. 91 – 95; Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, 71, 72; Nahrwold, S. 244; Rönnau, S. 206 f.; Heller, S. 26; Siolek, S. 198; kritisch: Saal, S. 36 f.; Braun, S. 77. 470 Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 89; Weigend, JZ 1990, 774, 780; ebenfalls im Kontext des Beschuldigten ohne Verteidiger Duttge, Meijo Law Rev. 2012, 1, 7. 471 Braun, S. 77; SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 19; sprechen (faktisch) von der Selbstbindung aus Art. 3 Abs. 1 GG. 472 Er nennt beispielsweise deliktsspezifische oder verfahrensinterne Ungleichbehandlungen, regionale, gerichtsinterne oder kammerinterne Ungleichbehandlungen vgl. Huttenlocher, Rn. 67. 473 Huttenlocher, Rn. 70. 468

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

das Gesetz verfassungswidrig. Wenn auch das verneint wird, kann zumindest noch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG im Einzelfall vorliegen. Sowohl im Bezug auf die Problematik des Verständigungsgesetzes selbst als auch bei der Rechtsanwendung würde ein Anspruch auf Durchführung der Verständigung nahezu alle Bedenken im Hinblick auf Art. 3 GG ausräumen. Ein Anspruch in jedem Fall würde aber eine völlig neue Verfahrensart schaffen und das Normalverfahren faktisch aushebeln.474 Ein Anspruch auf Durchführung einer Verständigung wäre gleichheitsrechtlich aber nur dann zwingend, wenn im Rahmen der Verständigung größere Strafrabatte gewährt werden als im Normalverfahren. Das Gesetz verweist aber auf die allgemeinen Strafzumessungserwägungen, sodass eine größere Strafmilderung grundsätzlich nicht gewährt werden darf und somit auch kein zwingender Grund für die Gewährung eines Anspruchs auf Verständigung besteht. Ein genereller Anspruch auf Durchführung einer Verständigung ist daher nicht die Lösung des Problems. a) Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes Nach dem oben gesagten könnte das Verständigungsgesetz sowohl wegen des ungleichen Zugangs zur Verständigung als auch wegen der fehlenden Differenzierung zwischen verteidigten und unverteidigten Beschuldigten gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Zudem ist die fehlende Differenzierung zwischen prozesstaktischen und auf von Reue getragenen Geständnissen problematisch. aa) Zugang zur Verständigung Die aktuelle Rechtslage im Bezug auf den Zugang zur Verständigung ist im Hinblick auf Art. 3 GG höchst bedenklich, wenn nicht sogar verfassungswidrig. Solange das Gesetz aber auch nur in einer Variante verfassungskonform ausgelegt werden kann, so ist diese vorranging vor der Erklärung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes.475 Hier sind die Ansätze von Salditt,476 Velten477 und Theile478 heranzuziehen. Zwar darf es keinen allgemeinen Anspruch auf Durchführung der Verständigung geben, allerdings sollte die Initiative dem Angeklagten obliegen. Geht von dem Angeklagten die Initiative zur Verständigung aus, so muss jedenfalls ein Anspruch des Angeklagten auf eine begründete Entscheidung bestehen. 474 Duttge, Meijo Law Rev. 2012, 1, 6 bezeichnet das gesetzlich geregelte Normalverfahren schon jetzt als eine Art „Luxus“ und die Verständigung als „wählbaren Normalfall“; vgl. auch Bockemühl, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV u. a., 2. Dreiländerforum, S. 203 der ausführt, dass die kontrovers geführte Verteidigung und damit der klassische Prozess im herkömmlichen Sinne als Konsequenz der „Absprachepraxis“ aussterbe. 475 Vgl. Walter, in: Maunz/Dürig GG, Art. 93 Rn. 112 (Stand: Juni 2017). 476 Salditt, in: Goldstein, Mehr Gerechtigkeit, S. 81. 477 SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 9. 478 Theile, NStZ 2012, 666, 670.

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Zusätzlich kann sich wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG im Einzelfall und einer daraus folgenden Ermessensreduzierung auf null ein Anspruch auf Durchführung der Verständigung ergeben. Der Richter hat dann dem Antrag des Angeklagten zwingend zuzustimmen. Dies soll zum einen der Fall sein, wenn ein Gericht in ständiger Praxis Erörterungen durchführt und dies für einen grundsätzlich geeigneten Fall unterlässt.479 Dabei handelt es sich um einen Fall der Selbstbindung durch die vorgehende Praxis. Eine Ermessensreduktion auf null soll auch dann vorliegen, wenn einer von mehreren Angeklagten mit identischer Gehilfenleistung eine Verständigung zugesagt bekommt und der oder die anderen nicht.480 bb) Keine Differenzierung zwischen verteidigtem und unverteidigtem Beschuldigten Die Verständigung dient, wie oben bereits erwähnt, in erster Linie der Erhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege sowie dem Beschleunigungsgrundsatz. Sofern es sich aber um derart komplexe Verfahren handelt, in denen eine Abkürzung überhaupt lohnenswert ist, wird ohnehin ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 1 StPO notwendig sein.481 Ist dies nicht der Fall, so ist jedenfalls meist nach § 140 Abs. 2 S. 1 StPO ein Pflichtverteidiger anzuordnen,482 sodass diese Schutzlücke faktisch nur selten entscheidend sein wird.483 Ist der Fall so einfach gelagert, dass auch aufgrund der Verständigung die Sachlage sich nicht so weit verkompliziert, dass die Bestellung eines Verteidigers im Sinne des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO notwendig wird, so gibt es jedenfalls aus Gleichheitsgründen keinen Grund für dessen zwingende Beiordnung.484 Dieses Problem wird allerdings im Rahmen des Fairnessgrundsatzes erneut aufgegriffen.485 Eine andere Möglichkeit wäre es, gesetzlich zu regeln, dass nur mit verteidigten Beschuldigten Erörterungen aufgenommen werden dürfen, beziehungsweise nur mit verteidigten Angeklagten Verständigungen durchgeführt werden dürfen. Eine solche gesetzliche Regelung würde aber tatsächlich gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, sodass auch dies keinesfalls eine angebrachte Lösung darstellt. 479

MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 StPO, § 202a Rn. 12. MüKoStPO/Kudlich, Bd. 2 StPO, § 202a Rn. 12. 481 Die Konflikte, die sich hieraus für den Aufklärungsgrundsatz ergeben, werden an dieser Stelle nicht erörtert, sondern erst unter 2. Kapitel § 2 B. II. Eine Verfahrensabkürzung geht nur dann nicht zu Lasten des Aufklärungsgrundsatzes, wenn die Sach- und Rechtslage so einfach gelagert ist, dass die Beweisaufnahme schlicht entbehrlich ist. Dann wird eine Verständigung aber auch kaum reizbar sein, da die Verfahrensabkürzung wohl nur marginal sein wird. 482 SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 32; dies wird in der Rechtsprechung bislang nicht einheitlich beurteilt vgl. 2. Kaptel § 5 G. III. 483 BT-Drucks. 16/12310, S. 2 der Gesetzgeber differenziert außerdem bewusst nicht zwischen verteidigtem und unverteidigtem Beschuldigten; nach der Auffassung des Gesetzgebers läge nämlich genau dann eine Ungleichbehandlung vor. 484 Ebenso Ruhs, NStZ 2016, 706, 709. 485 Siehe unten 2. Kapitel § 3. 480

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Im Bezug auf die fehlende Differenzierung zwischen verteidigtem und unverteidigtem Beschuldigten ist daher kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz ersichtlich. Im Gegenteil: dies ist sogar notwendig, um dem Gleichheitsgrundsatz zu genügen. b) Rechtsanwendungsebene Wird im Rahmen der Verständigung ein wesentlich höherer Strafnachlass gewährt als bei einem von Reue getragenen Geständnis im Normalverfahren dann wird damit gleichzeitig gegen den Schuldgrundsatz verstoßen und ist nicht durch sachliche Gründe zu rechtfertigen. Das Gesetz hält ausdrücklich an den allgemeinen Strafzumessungserwägungen fest, sodass keine Gründe für eine überobligatorische Strafmilderung bestehen. Bei Geständnissen, die von Reue getragen sind liegt bei einer höheren Strafmilderung ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Werden prozesstaktische Geständnisse höher gewichtet als auf Reue basierende Geständnisse im Normalverfahren, so liegt nach aktueller Rechtslage keine Ungleichbehandlung von Gleichem vor. De lege lata dürfen die Geständnisse nicht, jedenfalls nur in geringerem Maße, strafmildernd berücksichtigt werden als Geständnisse, die auf Reue beruhen. Folglich liegt schon gar keine für Art. 3 Abs. 1 GG relevante Ungleichbehandlung vor.486 Sollten de lege ferenda prozesstaktische Geständnisse dieselbe Berücksichtigung finden wie auf Reue basierende Geständnisse, so liegt bei höherer Gewichtung ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Da diese Rechtsanwendungspraxis wegen § 257c Abs. 3 S. 2 StPO definitiv nicht auf das Gesetz zurückzuführen ist, begründet ein mögliches Vollzugsdefizit487 jedenfalls nicht die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Die im Rahmen des Schuldgrundsatzes vorgeschlagene „Regelstrafmilderung“ würde jedenfalls für die von Reue getragenen Geständnisse Klarheit und Rechtssicherheit schaffen. Im Übrigen ist es Sache der Revisionsgerichte, bei offensichtlichen Verstößen einzuschreiten. Bezüglich der Rechtsanwendung ist Huttenlocher488 recht zu geben. Zwar gibt es in der Rechtsanwendung viele mögliche Konfliktpunkte mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz, diese können in ihrer Einzelfallabhängigkeit die Verständigung als solche aber nicht in Frage stellen.

486

Allerdings wird gegen das verfassungsrechtliche Willkürverbot verstoßen. Ob ein solches Vollzugsdefizit in diesem Umfang vorliegt, kann an dieser Stelle nicht bestimmt werden, spielt aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlauts aber keine Rolle. Das Vollzugsdefizit ist jedenfalls nicht im Gesetz angelegt. 488 Huttenlocher, Rn. 70. 487

A. Verfassungsrechtliche Problemstellungen

167

VI. Zwischenergebnis Im Hinblick auf die Prozessgrundrechte ist die Verständigung nach wie vor brisant. Daran hat auch das Verständigungsgesetz nur teilweise etwas geändert. Die Vereinbarkeit der Verständigung mit dem Richtervorbehalt aus Art. 92 GG ist relativ unproblematisch zu bejahen. Die Mitbestimmung im Rahmen der Gespräche sowie die Erforderlichkeit der Zustimmung von Staatsanwaltschaft und Beschuldigten gemäß § 257c Abs. 3 S. 4 StPO führen nicht zu einer Verletzung des Richtervorbehalts. Auch ein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 2 GG liegt de lege lata nicht vor. Die Verständigung muss gemäß § 257c Abs. 3 StPO durch Gerichtsbeschluss unter Mitwirkung der Schöffen beschlossen werden. Dadurch wird die fehlende Mitwirkung bei den vorausgehenden Gesprächen jedenfalls auf Ebene des formellen Rechts geheilt. Materiell ist insbesondere die richterliche Unabhängigkeit im Sinne des Art. 97 GG eine Voraussetzung. Allerdings werden die Schöffen anschließend über den Gesprächsinhalt informiert. Ein Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters liegt deshalb nicht vor. Im Hinblick auf das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sind die §§ 202a, 212 StPO problematisch, die die Anwesenheit des Beschuldigten ebenfalls nicht zwingend vorschreiben. Das Äußerungsrecht kann allerdings auch durch den Verteidiger des Beschuldigten wahrgenommen werden. Zudem hat der Beschuldigte gemäß § 257c Abs. 3 S. 3 StPO vor Eingehen der Verständigung später erneut die Möglichkeit, eine Stellungnahme abzugeben. Die ausreichende Information des Beschuldigten ist Voraussetzung für seine autonome Zustimmung zur Verständigung gemäß § 257c Abs. 3 S. 4 StPO. Es ist davon auszugehen, dass in den meisten Fällen eine ausreichende Information des Beschuldigten durch den Verteidiger stattfindet, sodass er sein Recht auf richterliches Gehör wahrnehmen kann.489 Es liegt ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz vor. Das Gesetz setzt voraus, dass den allein aus prozesstaktischen Gründen abgegebenen Geständnissen eine strafmildernde Wirkung zukommt. Dies ist aber de lege lata nur bei von Reue getragenen Geständnissen der Fall. Nach Intention des Verständigungsgesetzes werden die prozesstaktischen Geständnisse strafmildernd berücksichtigt und dadurch schuldunangemessen niedrige Strafen verhängt. Dabei handelt es sich um einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz.

489

Trotzdem wird eine teleologische Reduktion des § 212 StPO empfohlen. Im Rahmen von Gesprächen nach § 257b StPO müssen nach den allgemeinen Regeln über die Anwesenheit in der Hauptverhandlung auch die Schöffen und der Angeklagte anwesend sein. Diese Vorschrift kann aber de lege lata leicht umgangen werden, indem Gespräche im Sinne des § 212 StPO zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen oder sogar in Verhandlungspausen geführt werden. Um eine Umgehung des § 257b StPO zu vermeiden, ist § 212 StPO ab dem ersten Hauptverhandlungstag teleologisch zu reduzieren. Das Problem der ausreichenden Information des Beschuldigten wird auch im Rahmen des Fairnessgrundsatzes erneut relevant.

168

2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung liegt durch das Verständigungsgesetz jedoch nicht vor. Im deutschen Strafprozess gelten sowohl Entscheidungen über die Untersuchungshaft als auch sonstige Zwischenentscheidungen, die einen dringenden Tatverdacht voraussetzen, als mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Das Initiativrecht aus § 257c Abs. 1 S. 1 StPO verstößt daher ebenfalls nicht per se gegen die Unschuldsvermutung. Die Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz konnte das Verständigungsgesetz bislang nicht ausräumen. § 257c Abs. 1 S. 1 StPO, der die Entscheidung über das ob der Verständigung in das Ermessen des Gerichts stellt, verstößt gegen Art. 3 GG. Allerdings kann das Gesetz durch eine verfassungskonforme Auslegung „gerettet“ werden. Zusammenfassend verstößt das Verständigungsgesetz gegen den Schuldgrundsatz. Die Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgrundsatz kann nur durch eine verfassungskonforme Auslegung hergestellt werden. Die Vereinbarkeit mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter und mit dem Recht auf richterliches Gehört sind jedenfalls nicht unproblematisch.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung Weiterhin könnte die Verständigung mit den Prinzipien und Rechten der Strafprozessordnung kollidieren. Dabei kommen insbesondere Konflikte mit dem Legalitätsprinzip, den Grundsätzen der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit, dem Amtsermittlungsgrundsatz, dem nemo-tenetur-Prinzip, den Anwesenheitsrechten der Beteiligten sowie der freien richterlichen Beweiswürdigung in Betracht. I. Legalitätsprinzip Das Legalitätsprinzip ist in §§ 152 Abs. 2, 160, 170 StPO ausdrücklich positivrechtlich verankert.490 Es besagt, dass ein Verfolgungszwang der Staatsanwaltschaft bei jeder Straftat und daraus folgend auch gegenüber jedem Verdächtigen besteht.491 Darüberhinaus besteht bei hinreichendem Tatverdacht der Zwang zur Angeklageerhebung.492 Das Legalitätsprinzip gilt allerdings heute gemäß § 152 Abs. 2 StPO nur noch, „soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist“. Früher galt das Legali490 Pommer, Jura 2007, 662; Kelker, ZStW 2006, 389, 395; Schulenburg, JuS 2004, 765; Nahrwold, S. 284; Huttenlocher, Rn. 55; Kerner, FS-Miyazawa, S. 573. 491 Zipf, FS-Peters, S. 488; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 152 Rn. 2; Schulenburg, JuS 2004, 765; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, 129, 131; Schroeder, FS-Peters, S. 413; Kleinknecht, FS-Bruns, S. 476; Kelker, ZStW 2006, 389, 395; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 4. 492 BVerfG, NStZ 1982, 430; Schroeder, FS-Peters, S. 411; Schwarz, FS-OLG Düsseldorf, S. 347; MüKoStPO/Peters, Bd. 2 § 152 Rn. 20; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, 129, 131; Kerner, FS-Miyazawa, S. 573; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 4.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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tätsprinzip absolut und wurde im Laufe der Zeit immer mehr durch Ausnahmen eingeschränkt.493 Dies ist mit dem Wandel der Straftheorien zu erklären.494 Die absoluten Straftheorien legten eine gleichmäßige Verfolgung aller Straftaten nahe.495 Mit dem Wandel weg von den absoluten Straftheorien und hin zu Straftheorien, die den Zweck einer Strafe auch in spezial- und generalpräventiven Zwecken sahen, waren die Ausnahmen vom Legalitätsprinzip die logische Folge.496 Weichbrodt spricht sogar davon, dass das Legalitätsprinzip so tief in dem Vergeltungsgedanken verwurzelt ist und deshalb schon seinem Wesen nach „ausnahmefeindlich“ ist, dass über die Aufgabe dieses Prinzips nachgedacht werden sollte.497 Das Legalitätsprinzip dient daher der Wahrung der Gleichheit vor dem Gesetz und der Verwirklichung größtmöglicher Gerechtigkeit498 und stellt nach Ansicht des BVerfG zudem eine „Aktualisierung“ des verfassungsrechtlichen Willkürverbotes dar.499 1. Teileinstellungen als Verständigungsgegenstand Vor Einführung des Verständigungsgesetzes wurden Teileinstellungen, die Teil der Gegenleistung für eine Verständigung waren, kritisch gesehen. Auch nach Einführung des Verständigungsgesetzes dürfen Gegenstand der Verständigung gemäß § 257c Abs. 2 S. 1 StPO Rechtsfolgen sein, „die Inhalt des Urteils und der dazu gehörigen Beschlüsse sein können“.500 Zu den „dazugehörigen Beschlüssen“ gehören auch Verfahrenseinstellungen oder Verfahrensbeschränkungen nach den §§ 153 Abs. 2 S. 1, 154 Abs. 2, 154a Abs. 2 StPO.501 Die betreffenden Taten müssen 493 Zipf, FS-Peters, S. 488; Baumann, NStZ 1987, 157; Weichbrodt, S. 145 f.; Kelker, ZStW 2006, 389, 399; Rieß, NStZ 1981, 2, 4; Hildebrandt, S. 69; Baumann, ZRP 1972, 273 sprach schon früh von einem „Grabgesang“ für das Legalitätsprinzip aufgrund der Einstellungsmöglichkeiten nach den §§ 153 ff. StPO; Schroeder, FS-Peters, S. 425 sieht die materiale Funktion des Gerechtigkeitsprinzips als zu einer Zuständigkeitsfrage entmaterialisiert an. 494 Rieß, NStZ 1981, 2, 4; Rönnau, S. 109 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 2. 495 Rieß, NStZ 1981, 2, 4; Rönnau, S. 109; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 2. 496 Rieß, NStZ 1981, 2, 4; Rönnau, S. 110; Braun, S. 40; Tscherwinka, S. 15; Hildebrandt, S. 69; vgl. oben zu den §§ 153 ff. StPO 1. Kapitel B. II. 497 Weichbrodt, S. 148. 498 BVerfGE 20, 150, 222; Zipf, FS-Peters, S. 487; Eckl, ZRP 1973, 139; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, § 152 Rn. 2; Kelker, ZStW 2006, 389, 395; Pommer, Jura 2007, 662; Kerner, FS-Miyazawa, S. 574; Wölfl, JuS 2001, 478, 482; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, 129, 133; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 2; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 2 Rn. 17. 499 BVerfG, NStZ 1982, 430; vgl. Löwe-Rosenberg/Beulke, Bd. 5 § 257c Rn. 12; Willms, JZ 1957, 465; Schmidt-Jortzig, NJW 1989, 129, 133. 500 Zur aktuellen Rechtsprechung ausführlich 2. Kapitel § 5 C. II. 501 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 69; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 33; a. A. MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 102, die nur die Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 2 StPO nennen; KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 15d nennen zusätzlich die Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO; vgl. BGH, NStZ 2016, 171, 173; BGH,

170

2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

allerdings Gegenstand des durch die Verständigung zu beendenden Verfahrens sein. Als Gegenleistung für ein Geständnis darf das Verfahren dann teilweise eingestellt werden.502 Die Verfahrensbeschränkungen dienen der umfassenden Erledigung des Anklagevorwurfs, auch bezüglich der nicht im Urteil enthaltenen Tatbestände.503 Die §§ 153 Abs. 2 S. 1, 154 Abs. 2, 154a Abs. 2 StPO stellen allerdings Ausnahmen vom Legalitätsprinzip dar.504 Werden diese Teil der Verständigung, so könnte angenommen werden, dass dadurch der generelle Verfolgungszwang umgangen wird, obwohl die Voraussetzungen der Normen streng genommen nicht vorliegen. 2. Meinungsstand Einige Autoren sehen die Verständigung im Konflikt mit dem Legalitätsprinzip, sofern Teileinstellungen im Sinne der §§ 153 ff. StPO Bestandteil der Vereinbarung sind.505 Löffler nimmt eine weitere Differenzierung vor, indem sie einen Verstoß gegen das Legalitätsprinzip nur annimmt, wenn die §§ 153 ff. StPO Teil einer Vereinbarung sind, obwohl deren Voraussetzungen nicht erfüllt sind.506 Die überwiegende Ansicht in der Literatur sieht das Legalitätsprinzip aber nicht als durch die Verständigung tangiert an.507 Nahrwold sieht in der Verständigung keine Verletzung des Legalitätsprinzips sondern eine neue Form der Opportunität.508 Hildebrandt nimmt an, dass der Legalitätsgrundsatz in der Hauptverhandlung nicht gilt, so dass seine Verletzung durch die Verständigung schon deshalb ausscheidet. Die Staatsanwaltschaft sei nicht verpflichtet, in der Hauptverhandlung für eine möglichst effektive Durchsetzung des Strafanspruchs zu sorgen.509 StV 2018, 5; BGH, StV 2018, 8, 9; OLG Nürnberg, NStZ-RR 2017, 350; OLG Frankfurt/M., NStZ-RR 2011, 49; Gesamtlösungen sind allerdings unzulässig vgl. BVerfGE 133, 168, 229 f. 502 KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 15e; BGH, StV 2018, 5; BGH, StV 2018, 8, 9; BGH, NStZ 2016, 171, 173; OLG Frankfurt/M., NStZ-RR 2011, 49; BT-Drucks. 16/12310, S. 13; vgl. ausführlich zu anderen denkbaren Konstellationen KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 15 f, 15 g; die Einstellung anderer, bei der Staatsanwalt anhängiger Verfahren ist dagegen unzulässig (Verbot von „Gesamtlösungen“) Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 453. 503 Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 33. 504 Vgl. oben 1. Kapitel B. II. 505 Bogner, S. 87; Siolek, S. 114; Heller, S. 19 f.; Saal, S. 9. 506 Löffler, S. 47. 507 Müller, S. 127 f.; Huttenlocher, Rn. 58; Hildebrandt, S. 71; Braun, S. 40 ff.; Ioakimidis, S. 56; Nahrwold, S. 288 f.; Löffler, S. 47; kritisch Weichbrodt, S. 145 ff. 508 Nahrwold, S. 288 f. dabei nimmt er allerdings unzutreffend an, die Verständigung weise Ähnlichkeiten mit den §§ 153 ff. StPO im Hinblick auf Opportunitätsgesichtspunkte auf; auch Saal, S. 8 f. führt für die Vereinbarkeit der Verständigung mit dem Legalitätsprinzip die Ähnlichkeit zu den §§ 153 ff. an; vgl. 1. Kapitel B. II.; Krause, S. 60 f. spricht von einer weiteren „Durchbrechung“ des Legalitätsgrundsatzes. 509 Hildebrandt, S. 71

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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Teilweise wird angenommen, dass die Verständigung, soweit sie zur Verfahrensbeschleunigung führt, dem Legalitätsprinzip sogar dient.510 3. Stellungnahme Im Rahmen der Vereinbarkeit der Verständigung mit dem Legalitätsprinzip müssen zwei Konstellationen unterschieden werden. Zum einen muss geklärt werden, ob die Verständigung im Allgemeinen in Konflikt mit dem Legalitätsprinzip steht. Zum anderen muss die Konstellation betrachtet werden, in der eine Einstellung nach den §§ 153 ff. StPO Bestandteil einer Verständigung ist. Eine Verständigung hat im Allgemeinen ein Urteil mitsamt einer Verurteilung zur Folge, weil der Schuldspruch gerade nicht Bestandteil der Vereinbarung sein darf. Hier liegt also keine Ausnahme oder sonstige Beschränkung des Legalitätsprinzips vor. Die Verständigung führt häufig sogar zu einer schnelleren Verurteilung aufgrund der Verfahrensabkürzung, sodass sie dem Legalitätsprinzip sogar zur besseren Geltung verhilft. Ist eine Einstellung Bestandteil der Verständigung, ist die Frage nicht, ob die Verständigung gegen das Legalitätsprinzip verstößt, sondern vielmehr die §§ 153 ff. StPO selbst.511 Ob die §§ 153 ff. StPO mit den Maximen des Strafprozesses vereinbar sind, ist allerdings nicht Bestandteil dieser Arbeit.512 Es spricht allerdings viel für die Ansicht von Hildebrandt,513 dass das Legalitätsprinzip in der Hauptverhandlung nicht gilt. Die Verständigung, deren Anwendungsbereich allein die Hauptverhandlung ist, könnte somit auch nicht gegen den Legalitätsgrundsatz verstoßen. Für diese Ansicht sprechen insbesondere die positivrechtlichen Verankerungen des Legalitätsprinzips in §§ 152 Abs. 2, 160, 170 StPO, die nach ihrer systematischen Stellung im Hauptverfahren nicht gelten.514 Eine entsprechende Regelung findet sich im Stadium des Hauptverfahrens nicht. Willms definiert den Sinn des Legalitätsprinzips darin, dass die Staatsanwaltschaft ebenso wie der Richter an Gesetz und Recht gebunden ist und die Entscheidungen, ob Ermittlungen eingeleitet werden und Anklage erhoben wird, nicht willkürlich getroffen

510

Müller, S. 127 f.; Ioakimidis, S. 56. Vgl. allerdings die Ausführungen im Rahmen der Rechtsprechungsanalyse zu den §§ 153 ff. StPO als tauglicher Verständigungsgegenstand § 5 C. II. 512 Siehe dazu oben 1. Kapitel B. II. 513 Hildebrandt, S. 71 514 Vgl. Kerner, FS-Miyazawa, S. 573, der das Legalitätsprinzip anhand der positivrechtlichen Vorschriften näher beschreibt und davon spricht, dass man am Ende der Ermittlungen einen Beschuldigten vorzeigen kann, der „einer Straftat hinreichend verdächtig“ erscheint § 203 StPO. Eine weitere Auswirkung des Legalitätsprinzips nach Erhebung der öffentlichen Klage im Sinne des § 170 Abs. 1 StPO wird auch hier nicht beschrieben. 511

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

werden darf.515 Auch Willms misst dem Legalitätsprinzip daher keine über den Anklagezwang hinausgehenden Wirkungen zu. Selbst wenn der Legalitätsgrundsatz in der Hauptverhandlung gilt, würden allenfalls die §§ 153 ff. StPO ein Problem in dieser Hinsicht darstellen. Diese stellen allerdings eine gesetzliche Ausnahme im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO dar, sodass auch hier jedenfalls von keiner Verletzung gesprochen werden kann. Die Verständigung stellt somit keinen Verstoß gegen den Legalitätsgrundsatz dar. II. Amtsermittlungsgrundsatz Eines der größten Probleme im Hinblick auf die Verständigung ist die Einhaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes.516 Der Amtsermittlungsgrundsatz hat für die einzelnen Verfahrensstadien in den §§ 155 Abs. 2, 160 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO Niederschlag gefunden,517 wobei für die Verständigung in der Hauptverhandlung nur § 244 Abs. 2 StPO relevant ist.518 Bei dem Amtsermittlungsgrundsatz handelt es sich um eines der wesentlichen Prinzipien des deutschen Strafverfahrens.519 Gleichzeitig hat das Prinzip der Wahrheitsermittlung zudem Verfassungsrang und wird aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet.520 Der Amtsermittlungsgrundsatz begründet für die Prozessbeteiligten einen Anspruch darauf, dass sich die Beweisaufnahme auf alle entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweise erstreckt.521 Dieser Anspruch ist nach allgemeiner Auffassung unverzichtbar und indisponibel.522 Das Gericht hat im Rahmen des Möglichen 515

Willms, JZ 1957, 465. Teilweise werden auch die Begriffe „Untersuchungsgrundsatz“, „Instruktionsmaxime“ und „Aufklärungsgrundsatz“ synonym verwendet; vgl. MüKoStPO/Trüg/Habetha, Bd. 2 § 244 Rn. 48; KK/Fischer, Einl. Rn. 12. 517 Müller, S. 135. 518 Müller, S. 135. 519 „Zentrales Anliegen des Strafprozesses“: BVerfGE 57, 250, 275 f., BVerfGE 63, 45, 60 f.; BVerfGE 133, 168, 199; „beherrschendes Prinzip“ BGHSt 23, 176, 187; „zentrales Ziel“: BGHSt 50, 40, 48; vgl. Schünemann, FS-Fezer, S. 559; Löwe-Rosenberg/Becker, Bd. 6/1 § 244 Rn. 39; Dahs, NStZ 1988, 153, 154; Trüg, StV 2010, 528, 530; KK/Krehl, § 244 Rn. 28; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn. 11; Müller, S. 135; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1; a. A. Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 50, der die Wahrheit nur als ein notwendiges Zwischenziel für ein gerechtes Urteil ansieht; die Erforschung der materiellen Wahrheit sei demnach nur im Falle einer Verurteilung erforderlich; allerdings ist auch für einen Freispruch die Erforschung der Wahrheit erforderlich, sodass es immer Ziel des Strafverfahrens sein muss, den wahren Sachverhalt zu klären, um diesen einem Urteil zugrunde zu legen. 520 BVerfGE 57, 250, 275 f.; BVerfGE 63, 45, 60 f.; BVerfGE 115, 166, 192; BVerfGE 118, 168, 195; Wenner, S. 20. 521 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn. 11; BGHSt, 1, 94, 96. 522 Dahs, NStZ 1988, 153, 154; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn. 11; Weßlau, ZStW 2004, 150, 166; Müller, S. 135; Jahn, ZStW 2006, 427, 442 m. w. N. 516

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

173

und Zulässigen allen Möglichkeiten zur Sachverhaltsklärung nachzugehen.523 Je weniger gesichert das Beweisergebnis ist, desto größer ist der Anlass, weiteren Beweisen nachzugehen.524 Damit ist auch die Erforschung der Wahrheit ein zentrales Anliegen des Strafprozesses und gleichzeitig Voraussetzung für die Einhaltung des materiellen Schuldprinzips.525 1. Mangelnde Sachverhaltsaufklärung im Rahmen der Verständigung? Ein zentrales Anliegen der Verständigung ist die Förderung des Beschleunigungsgrundsatzes. Zwar will das Gesetz gemäß § 257c Abs. 1 S. 2 StPO ausdrücklich am Amtsermittlungsgrundsatz festhalten, wie dies umsetzbar sein soll, ist aber fraglich. Eine Alternative wäre die Einführung einer Konsensmaxime. Der Gesetzgeber hat sich aber ausdrücklich gegen die Einführung eines solchen Prinzips im Strafverfahren entschieden.526 Trotzdem sind einige Stimmen in der Literatur der Ansicht, dass dieses Prinzip durch Einführung des Verständigungsgesetzes faktisch in den deutschen Strafprozess eingeführt wurde.527 Problematisch ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Fall, dass das Gericht sein Urteil allein auf die Verständigung stützt. Dabei würde ein möglicherweise „schlankes“ Geständnis zusammen mit dem Akteninhalt Urteilsgrundlage. Dieses Problem wurde in der Rechtsprechung immer wieder aufgegriffen. Bereits 1987 stellte das BVerfG fest, dass sich das Gericht nicht allein mit einem Geständnis begnügen dürfe, wenn eine weitere Beweiserhebung im Hinblick auf das Finden der materiellen Wahrheit notwendig gewesen wäre.528 In einer späteren Entscheidung führte der BGH aus, Grundlage für ein Urteil dürfe nur der tatsächliche Sachverhalt sein, dieser sei nicht disponibel.529 Das Gericht müsse daher die Glaubwürdigkeit des Geständnisses überprüfen und gegebenenfalls weitere Beweiserhebungen durch-

523 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn. 12; MüKoStPO/Trüg/Habetha, Bd. 2 § 244 Rn. 28; BGHSt 1, 94, 96; BGHSt 10, 116, 118; BGHSt 23, 176, 187 f.; BGHSt 29, 109, 112; BGHSt 34, 209, 210. 524 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn. 12; BGH, StV 1996, 249; BGH, StV 2017, 502. 525 BVerfGE 133, 168, 199; KK/Krehl, § 244 Rn. 28; Rönnau, ZIS 2018, 167, 169; Gössel, FS-Beulke, S. 745; vgl. dazu schon die Auführungen unter 2. Kapitel § 2 A. V. 1. 526 BT-Drucks. 16/12310, S. 13. 527 Jahn, ZStW 2006, 427, 435; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631; MüKoStPO/Jahn/ Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 43; Weßlau, FS-Müller, S. 789; Trüg, S. 116; König, NJW 2012, 1915. 528 BVerfG, NJW 1987, 2662, 2663. 529 BGHSt 43, 195, 204.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

führen.530 In einer späteren Entscheidung führte der BGH aus, dass ein reines „Formalgeständnis“ grundsätzlich nicht ausreichend sein solle.531 Auch im Jahr 2013 betonte das Bundesverfassungsgericht bereits zum wiederholten Mal, dass die Verständigung als solche niemals Urteilsgrundlage sein könne. Urteilsgrundlage sei vielmehr die fundierte Überzeugung des Gerichts. Dem Gesetzgeber sei die Verlockungssituation infolge der Verständigung bewusst gewesen, sodass auch im Rahmen der Verständigung nicht auf notwendige Beweiserhebungen verzichtet werden dürfe. Dementsprechend bleibe das erforderliche Maß an Beweiserhebung stets insoweit unberührt, als ein wirksamer Verzicht auf weitere Beweiserhebungen sich nicht außerhalb dessen bewegen könne, was durch die unverändert geltende Sachaufklärungspflicht des Gerichtes bestimmt sei.532 Aufgrund des klarstellenden Hinweises auf die Amtsaufklärungspflicht bedürfe es allerdings keiner Festlegung von Qualitätsanforderungen an das Geständnis. Ein bloßes inhaltsleeres Formalgeständnis sei nicht ausreichend, besonders wenn die Beantwortung von Fragen zum Sachverhalt verweigert werde. Die schlichte Erklärung, der Anklage nicht entgegenzutreten, sei erst recht keine taugliche Grundlage für die richterliche Überzeugungsbildung. Im Übrigen sei es den Gerichten so möglich, den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung zu tragen.533 Bei Einhaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes müsste das Gericht auch nach erfolgter Verständigung weitere Beweise erheben, sofern hierzu nach den allgemeinen Grundsätzen Anlass besteht. Dann würde allerdings der Aspekt der Verfahrensverkürzung vollständig entfallen, sodass sich die Frage stellt, welchen Nutzen eine Verständigung in diesen Fällen für die Justiz hat.534 In der Verfahrensabkürzung liegt der Sinn und Zweck der Verständigung.535 Die Verständigung könnte daher eine Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes darstellen. 2. Meinungsstand Die eine Ansicht nimmt an, dass der Amtsermittlungsgrundsatz durch § 257c Abs. 1 S. 2 StPO sowie den Ausschluss des Rechtsmittelverzichts gemäß § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ausreichend abgesichert sei.536 Der Amtsaufklärungsgrundsatz 530

BGHSt 43, 195, 204. BGHSt 50, 40, 49. 532 BVerfGE 133, 168, 208. 533 BVerfGE 133, 168, 209. 534 Vgl. Heller, S. 68. 535 Rönnau, ZIS 2018, 167, 170. 536 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 72 ff.; Göttgen, S. 27; Krause, S. 69 f.; sinngemäß SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 34, 36a; König, NJW 2012, 1915, 1917; Huttenlocher, Rn. 132, 135; teilweise wurde auch schon vor Einführung des Verständigungsgesetzes die Vereinbarkeit der „Absprachen“ mit dem Amtsermittlungsgrundsatz unter bestimmten Voraussetzungen bejaht: Müller, S. 143 f.; Siolek, S. 114 ff.; Braun, S. 53; Ioakimidis, S. 63; Gutterer, S. 110; Saal, S. 15 f.; Löffler, S. 35. 531

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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gelte durch den Verweis in § 257c Abs. 1 S. 2 StPO uneingeschränkt auch im Falle einer Verständigung.537 Teilweise wird aber auch auf die Disponibilität des Amtsermittlungsgrundsatzes hingewiesen und gleichzeitig eine zulässige Einschränkung angenommen.538 Greco nimmt an, dass das Spannungsverhältnis zwischen Verständigung und Amtsermittlungsgrundsatz ihren Ursprung in der StPO selbst hat. Dabei sei allerdings nicht die Verständigung das Problem und mit einer Erklärung des § 257c StPO sei wenig gewonnen.539 Das Problem seien nicht die Absprachen, sondern die StPO selbst.540 Die andere Ansicht sieht die Verständigung als mit dem Amtsermittlungsgrundsatz unvereinbar an.541 Dabei wird zum Teil angeführt, dass es dem Grundgedanken der Verständigung immanent sei, gegen den Amtsermittlungsgrundsatz zu verstoßen.542 Dieser sei de lege lata auch nicht disponibel.543 Teilweise wird auch kritisiert, dass die Verständigung in ihrer aktuellen Ausgestaltung keinen Nutzen und damit keinen Anwendungsbereich habe.544 Fischer sieht den Verweis des Gesetzgebers auf die Einhaltung des Aufklärungsgrundsatzes als bloße Worthülse an. Das konsensuale Verfahren stehe offenkundig im Widerspruch zum Amtsaufklärungsgrundsatz. Die Aufklärungspflicht bleibe in der Praxis selbstverständlich nicht unberührt, ihre Beschränkung sei ein

537

36a. 538

Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 76; SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 34,

Müller, S. 144; Krause, S. 63, 67. Greco, GA 2016, 1, 10. 540 Greco, GA 2016, 1, 15. 541 Fischer, StraFo 2009, 177, 181; Gössel, FS-Beulke, S. 745; Murmann, ZIS 2009, 526, 532; Murmann, FS-Roxin, S. 1390; Murmann, in: Strafverteidigervereinigungen, Wahrheitssuche, S. 81; Rönnau, ZIS 2018, 167, 170; Rönnau, JuS 2018, 114, 115, 117; Rönnau, S. 148; Weßlau, ZStW 2004, 150, 166; Wohlers, NJW 2010, 2470, 2474; Trüg, StV 2010, 528, 538; Weigend, FS-Maiwald, S. 833; Fezer, NStZ 2010, 177, 183 f.; Rieß, StraFo 2010, 10, 11; Weßlau, FS-Müller, S. 789; Nahrwold, S. 298; Heller, S. 92; Hsu, S. 137; Weichbrodt, S. 153; SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 12a; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 24 (Stand: November 2009); Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 329; Jahn/Müller, JA 2006, 681, 685 f.; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631; jedenfalls kritisch: Duttge, FS-Schünemann, S. 884; Trüg, S. 127; Landau, NStZ 2011, 537, 541; Kempf, StV 2009, 269, 272 f.; Fezer, HRRS 2013, 117, 118; Becker, FS-Fischer, S. 611. 542 Fischer, StraFo 2009, 177, 181; Gössel, FS-Beulke, S. 745; Duttge, FS-Schünemann, S. 884; Fezer, HRRS 2013, 117, 118; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631; Murmann, ZIS 2009, 526, 532; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 24 (Stand: November 2009); Weigend, FS-Maiwald, S. 833; Nahrwold, S. 298; Heller, S. 92; Hsu, S. 137. 543 Jahn/Müller, JA 2006, 681, 686; Weichbrodt, S. 171 f.; vgl. Trüg, StV, 2010, 528, 530. 544 Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 457; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 12; Wohlers, NJW 2010, 2470, 2474; Gössel, FS-Beulke, S. 745; vgl. auch Altenhain/ Haimerl, JZ 2010, 327, 329. 539

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

wesentlicher Teil jeder Absprache.545 Auch Weichbrodt bezeichnet es als Ziel der Verständigung, die Amtsermittlungspflicht zu umgehen.546 Murmann wirft dem Gesetzgeber vor, dass er den Widerspruch mit dem Amtsaufklärungsgrundsatz lediglich in Gesetzesform gegossen habe, statt ihn aufzulösen.547 Er habe sich nur bemüht, diesen Widerspruch zu vernebeln.548 Nahrwold stellt fest, dass das Verständigungsverfahren nach dem Verständigungsgesetz sich für besonders schwierige Verfahren anbietet,549 obwohl diese in besonderem Maße der Amtsaufklärungspflicht unterliegen. Einfache Fälle, in denen die Aufklärungspflicht beachtet würde, sind dagegen nicht im Fokus der Verständigung.550 Trüg merkt an, dass es naheliege, dass im Rahmen der Verständigung keine Beweisaufnahme stattfinde und sich das Urteil damit im Wesentlichen auf den hinreichenden Tatverdacht stützt.551 Dabei werde bei der Verständigung das Prinzip der materiellen Wahrheitsfindung zugunsten des Beschleunigungsgrundsatzes komplett aufgegeben.552 Die Wahrheitsfindung sei dem Beschleunigungsgrundsatz allerdings übergeordnet, so dass dieser dort seine Grenze finden müsse, wo die Wahrheitsfindung gefährdet ist. Eine Abwägung zwischen Wahrheitsfindung und Beschleunigungsgrundsatz dürfe nicht stattfinden.553 Daher wird auch heute noch gefordert, ein eigenständiges konsensuales Verfahrensmodell in den deutschen Strafprozess zu integrieren.554 Weßlau ist der Ansicht, dass eine Konsensmaxime ohne weiteres in das geltende Verfahrensrecht integrierbar ist. Dies solle keine Aufgabe des Prinzips der Wahrheitsermittlung darstellen, sondern nur die Einsicht enthalten, dass durch kein Verfahren eine Garantie für die Erkenntnis der Wahrheit gegeben werden könne und deshalb im Hinblick auf den für die Wahrheit erforderlichen Aufwand durchaus Dispositionsmöglichkeiten bestehen.555 Hörnle dagegen ist der Ansicht, dass Wahrheit nicht durch einen Konsens ersetzt werden könne.556 545 Fischer, StraFo, 2009, 177, 181; ebenso Gössel, FS-Beulke, S. 745; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 12. 546 Weichbrodt, S. 153. 547 Murmann, FS-Roxin, S. 1385; ähnlich Fezer, HRRS 2013, 117, 118; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 329 „Leugnung des Faktischen“. 548 Murmann, FS-Roxin, S. 1385. 549 Nahrwold, S. 298; ebenso Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 329. 550 Nahrwold, S. 298. 551 Trüg, S. 127. 552 Trüg, StV 2010, 528, 538. 553 Trüg, StV 2010, 528, 530. 554 Weßlau, S. 284; Müller, S. 144; Nahrwold, S. 298; Theile, NStZ 2012, 666, 671; auch Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 337 sieht die Einführung eines konsensualen Verfahrensmodells zwar nicht als wünschenswert, aber unumgänglich an. 555 Weßlau, S. 284.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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Zudem wird vielfach dafür plädiert, ein qualifiziertes Geständnis als Voraussetzung für eine Verständigung zu fordern.557 Der aktuelle Gesetzestext spricht in § 257c Abs. 2 S. 2 StPO nur von einem Geständnis. Das BVerfG hat es in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2013 gerade nicht für nötig befunden, „Qualitätsanforderungen“ für das Geständnis festzulegen.558 3. Stellungnahme Um Stellung beziehen zu können, ob der Amtsermittlungsgrundsatz eingehalten wird, sind weitere Überlegungen notwendig. Hier muss zunächst die Auslegung des § 244 Abs. 2 StPO näher betrachtet werden. a) Grundsätzliche Überlegungen § 244 Abs. 2 StPO besagt, dass das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel erstrecken muss, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. § 257c Abs. 1 S. 2 StPO legt fest, dass der § 244 Abs. 2 StPO unberührt bleibt. Das bedeutet, dass der Amtsermittlungsgrundsatz durch die Verständigungsregelung nicht eingeschränkt wird, sondern dieser uneingeschränkt auch im Verständigungsverfahren gilt.559 Das Verständigungsgesetz will an dieser Stelle ausdrücklich den Amtsaufklärungsgrundsatz unangetastet lassen. Daher müsste man eigentlich annehmen, das Verständigungsgesetz sei mit dem Amtsaufklärungsgrundsatz vereinbar. Allerdings könnte hier ein unauflösbarer Widerspruch zwischen dem Amtsaufklärungsgrundsatz und dem Konzept der Verständigung bestehen. Zum einen soll die Verständigung das Verfahren abkürzen und so die Funktionstüchtigkeit der Justiz aufrechterhalten, zum anderen muss der Sachverhalt aber ebenso wie im Normalverfahren ausermittelt werden. Um die Vereinbarkeit von Verständigung und Amtsermittlungsgrundsatz doch noch zu rechtfertigen, finden sich aber zwei „Einfallstore“ in der Vorschrift, die Raum zur Auslegung lassen. Zum einen muss geklärt werden, von welchem Wahrheitsbegriff der Gesetzgeber in § 244 Abs. 2 StPO ausgeht, zum anderen muss auch geklärt werden, wann eine Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit von Bedeutung ist.

556

Hörnle, Rth 2004, 175, 191. Rönnau, ZIS 2018, 167, 170; Braun, S. 53; Krause, S. 70; Gerlach, S. 61 f.; Saal, S. 15 f.; i. A. Siolek, S. 116; Gutterer, S. 110; vgl. Rönnau, JuS 2018, 114, 115, 117. 558 BVerfGE 133, 168, 209. 559 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 71; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 3. 557

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

b) Auslegung des § 244 Abs. 2 StPO Die Verweisung in § 257c Abs. 1 S. 2 StPO sagt nicht nur aus, dass der Aufklärungsgrundsatz durch die Verständigung nicht eingeschränkt wird. Zweite Aussage dieser Vorschrift ist, dass der Amtsermittlungsgrundsatz sowie die Vorschrift des § 244 Abs. 2 StPO genauso auszulegen sind, wie im Normalverfahren. Der Amtsermittlungsgrundsatz gibt das Ziel der vollständigen Wahrheitsermittlung vor. Wie dieses Ziel erreicht wird, ist aus Sicht des Amtsermittlungsgrundsatzes jedoch unbedeutend, er gibt also keine konkrete Handlung vor, durch die dieses Ziel erreicht werden muss.560 Grundsätzlich kann die Wahrheit also auch im Rahmen einer Verständigung ermittelt werden. Zwar ist der Ansicht, die argumentiert, dass der Aufklärungsgrundsatz de lege lata auch im Normalverfahren nicht uneingeschränkt gelte, recht zu geben.561 Der Amtsaufklärungsgrundsatz wird nach geltendem Recht zugunsten höherrangiger Rechtsgüter eingeschränkt, beispielsweise durch Beweisverwertungsverbote. Im Rahmen des Verständigungsgesetzes sollte eine solche Einschränkung aber nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht erfolgen. Zudem wäre eine Einschränkung dieses Grundsatzes zugunsten der Beschleunigungsmaxime auch nicht möglich,562 weil es sich bei dem Aufklärungsgrundsatz um eine höhere Maxime handelt als bei dem Beschleunigungsgrundsatz.563 Der Beschleunigungsgrundsatz findet dort seine Grenzen, wo durch Beschleunigung Gefahren für das übergeordnete Ziel der Wahrheitsfindung entstehen.564 Der Amtsaufklärungsgrundsatz darf daher durch die Verständigung nicht eingeschränkt werden und jede Einschränkung ist unzulässig. aa) Begriff der Wahrheit Zu klären ist daher zunächst, welcher Wahrheitsbegriff dem Amtsermittlungsgrundsatz zugrunde gelegt wird. Aufgrund der Schwerpunktsetzung dieser Arbeit wird auf die philosophischen Grundlagen der Wahrheitsbegriffe nur eingegangen, soweit es für das weitere Verständnis erforderlich ist. Zudem soll auch kein eigener Wahrheitsbegriff konstruiert werden, sondern lediglich festgestellt werden, welcher dem deutschen Strafprozess und insbesondere § 244 Abs. 2 StPO zugrunde liegt. Gössel stellt hierzu fest, dass die Kompatibilität von Verständigung und Aufklärungsgrundsatz maßgeblich davon abhänge, ob man den formalisierten Wahrheitsbegriff und damit ein deutlich relativiertes, diskursorientiertes Wahrheitskonzept anerkennt.565

560 561 562 563 564 565

Jahn, ZStW 2006, 427, 441; Wenner, S. 23. Krause, S. 64 ff. Auch eine Abwägung mit diesem Grundsatz ist nicht möglich; a. A. Krause, S. 69 f. Trüg, StV 2010, 528, 530; vgl. Weichbrodt, S. 171 f. Trüg, StV 2010, 528, 530. Gössel, FS-Beulke, S. 745.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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(1) Philosophische Wahrheitsbegriffe Die philosophischen Wahrheitstheorien sind für die Auslegung des Rechtsbegriffs „Wahrheit“ im Rahmen der Strafprozessordnung nur begrenzt hilfreich, weil sich der Gesetzgeber bei der Konzeption der Vorschriften am Alltagsverständnis dieses Begriffs orientiert hat.566 Allerdings werden sowohl de lege lata, als auch de lege ferenda Begründungsansätze aus den Theorien übernommen und versucht, diese auf den Strafprozess zu übertragen.567 Daher ist jedenfalls eine knappe Darstellung wichtig, um die Gedankengänge sinnvoll nachzuvollziehen. Im Rahmen der philosophischen Wahrheitsbegriffe haben sich im Wesentlichen drei verschiedene Ansichten herausgebildet. Es stehen sich der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff, der kohärenztheoretische Wahrheitsbegriff sowie der konsensuale Wahrheitsbegriff gegenüber.568 Bei philosophischen Wahrheitstheorien ist zwischen der Definition des Begriffs Wahrheit, also was gemeint ist, wenn davon geredet wird, etwas sei „wahr“, und den Kriterien für die Feststellung von Wahrheit zu unterscheiden.569 Der wohl herrschende570 korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff besagt, dass Wahrheit die Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit im Sinne eines geschichtlichen Vorgangs ist.571 Die Wahrheit einer Aussage und damit die Realität sind daher unabhängig vom menschlichen Erkennen.572 Dabei handelt es sich um eine Alltagstheorie, wie sie im täglichen Leben verwendet wird und die damit wohl auch der deutsche Gesetzgeber zugrunde gelegt hat.573 Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff gibt allerdings nur eine Definition für die Wahrheit und kein Kriterium zur Festellung dieser vor.574 566 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 40; vgl. Becker, FS-Fischer, S. 603 f. 567 Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass eine Übertragung des konsensualen Wahrheitsbegriffes eigentlich wenig Sinn macht, weil dieser mit dem Alltagsverständnis des Begriffes Wahrheit nichts gemeinsam hat. 568 Ausführliche Darstellung statt aller: Stübinger, S. 459 ff.; Überblick: Becker, FS-Fischer, S. 606 ff.; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 39 ff. 569 Rescher, in: Skirbekk, Wahrheitstheorien, S. 337. 570 Volk, Wahrheit, S. 7 f.; Stamp, S. 42 ff., 284; Gössel, S. 13 f.; Gössel, FS-Meyer Goßner, S. 199 ff.; Gössel, FS-Beulke, S. 743; Löwe-Rosenberg/Kühne, Bd. 1 Einl. I Rn. 30; Trüg, ZStW 2008, 331, 334; Trüg, StV 2010, 528, 530; Schünemann, FS-Fezer, S. 559; Lippold, S. 16 ff.; Heller, S. 65 f.; vgl. Neumann, S. 14 ff. 571 Trüg, StV 2010, 528, 530; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 40; vgl. Trüg, ZStW 2008, 331, 334; Gössel, S. 13 f.; Volk, Wahrheit, S. 7 f.; Rescher, in: Skirbekk, Wahrheitstheorien, S. 341; Hempel, in: Skirbekk, Wahrheitstheorien, S. 96. 572 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 40; Gössel, Wahrheit, S. 13 f. 573 Schünemann, FS-Fezer, S. 559; Trüg, ZStW 2008, 331, 334; Stuckenberg, in: Schroeder/ Kudratov, Hauptverhandlung, S. 40; Neumann, S. 14. 574 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 41; sinngemäß Rescher, in: Skirbekk, Wahrheitstheorien, S. 345.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Die Kohärenztheorie geht hier einen Schritt weiter, weil hier Definition und Kriterium zusammen fallen.575 Eine Aussage ist demnach wahr, wenn sie sich widerspruchsfrei in ein System wahrer Aussagen einfügen lässt.576 Wahrheit ist nach dieser Theorie keine erkenntnisunabhängige Realität, sondern eine besonders qualifizierte Form der Erkenntnis.577 Diese versagt allerdings, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass mehrere kohärente Systeme existieren.578 Zwischen verschiedenen kohärenten Systemen kann die Theorie nicht unterscheiden.579 Auch bei singulären Aussagen wie beispielsweise singulären Zeugenaussagen vor Gericht versagt diese Theorie,580 sodass sie sich nicht für eine Übertragung auf den Strafprozess eignet.581 Auf diese Theorie wird daher im Weiteren nicht näher eingegangen. Die Konsenstheorie existiert in mehreren Ausprägungen.582 Rorty nimmt an, Aussagen mit universeller Geltung seien sinnlos.583 Es käme vielmehr darauf an, dass die Aussagen vor einem bestimmten Publikum gerechtfertigt werden können.584 Wenn eine Aussage die Zustimmung eines kompetenten Publikums erhalte, sei es überflüssig nach einer Beziehung zur Realität oder einer Wahrheit zu suchen.585 In diesem Kontext relevanter ist Habermas Diskurstheorie.586 Nach dieser Theorie genüge ein Konsens, der einer idealen Sprechsituation entstamme, einem universellen Wahrheitsanspruch.587 Eine ideale Sprechsituation schließe systematische Verzerrungen aus und garantiere insbesondere die Freizügigkeit zwischen Handlung und Diskurs.588

575 Stübinger, S. 469; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 41; vgl. Toepel, S. 80. 576 Stübinger, S. 469; Toepel, S. 79 ff.; Rescher, in: Skirbekk, Wahrheitstheorien, S. 371; Hempel, in: Skirbekk, Wahrheitstheorien, S. 96; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 41. 577 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 41. 578 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 41; Toepel, S. 80; Jahn/ Schmitt-Leonardy, GS-Hruschka, S. 592. 579 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 41; vgl. Toepel, S. 80 ff. 580 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 41; vgl. Toepel, S. 80. 581 Ebenso Toepel, S. 81; Jahn/Schmitt-Leonardy, GS-Hruschka, S. 592; a. A. Hörnle, Rth 2004, 175, 179, die die Korrespondenztheorie als Wahrheitsdefinition und die Kohärenztheorie als Wahrheitskriterium nutzen will. 582 Vgl. hierzu ausführlich Herrmann, S. 167 ff. m. w. N. 583 Rorty, DZPhil 1994, 975, 983. 584 Rorty, DZPhil 1994, 975, 982 f. 585 Rorty, DZPhil 1994, 975, 982 f. 586 Habermas, in: Habermas, Kommunikatives Handeln, S. 136 ff. 587 Habermas, in: Habermas, Kommunikatives Handeln, S. 180 ff. 588 Habermas, in: Habermas, Kommunikatives Handeln, S. 179.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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Kritisiert wird an dieser Theorie, dass es zum einen schwierig sei, eine ideale Sprechsituation zu definieren,589 zum anderen sei dieses Wahrheitsverständnis auch mit der menschlichen Intuition und der Erkenntnistranszendenz der Welt unvereinbar.590 Die Wahrheit de lege lata, wie sie im Strafprozessrecht erscheint, entspricht daher am ehesten einer schlichten Korrespondenztheorie.591 (2) Übertragbarkeit der Wahrheitsbegriffe auf den Strafprozess Eine Übertragbarkeit ist nur bei der Korrespondenztheorie und bei der Konsenstheorie denkbar. Lüderssen griff in seinem Ansatz die Konsenstheorie Habermas auf.592 Allerdings war ihm klar, dass die übliche Prozesssituation nie den Anforderungen an eine ideale Sprechsituation genügt.593 Dabei scheitere dies inbesondere an der Zwanglosigkeit und Herrschaftsfreiheit.594 Jahn sieht im juristischen Diskurs einen Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses.595 Demnach stelle auch der Strafprozess nur einen Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses dar.596 Den Gegeneinwand der unfreien Interaktion im Strafverfahren, die den Anforderungen an den praktischen Diskurs nicht genügen könnte, versucht Jahn dadurch zu entkräften, dass er die Kommunikationsbeiträge der Beteiligten in Verhältnis zu deren jeweiliger Verfahrensrolle setzt. Niemand erwarte von Staatsanwalt oder Verteidiger unbeschränkte Neutralität.597 Wenn also die Antagonisten Verteidigung und Staatsanwaltschaft zu dem übereinstimmenden Ergebnis kommen, dass eine Beweisfrage für das weitere Verfahren ohne Bedeutung 589 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 42; sogar Habermas selbst sieht darin ein Problem und fragt sich sogar, ob es eine ideale Sprechsituation überhaupt geben kann; Habermas, in: Habermas, Kommunikatives Handeln, S. 179 f. 590 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 42; vgl. Becker, FS-Fischer, S. 610. 591 Gössel, S. 20; Gössel, FS-Meyer-Goßner, S. 199; Becker, FS-Fischer, S. 608; Schünemann, FS-Fezer, S. 559; Trüg, ZStW 2008, 331, 334 f.; Trüg, StV 2010, 528, 530; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 42 f.; MüKoStPO/Trüg/Habetha, Bd. 2 § 244 Rn. 4; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 42; Heller, S. 65 f.; vgl. Wenner, S. 29; Toepel, S. 91. 592 Vgl. Lüderssen, in: Lüderssen/Sack, Abweichendes Verhalten II, S. 19; dazu ausführliche Darstellung bei Stübinger, S. 570. 593 Lüderssen, in: Lüderssen/Sack, Abweichendes Verhalten II, S. 20; kritisch auch Theile, NStZ 2012, 666, 670. 594 Vgl. Lüderssen, in: Lüderssen/Sack, Abweichendes Verhalten II, S. 20. 595 Jahn, ZStW 2006, 427, 455; vgl. Jahn/Schmitt-Leonardy, GS-Hruschka, S. 590 f. dabei handele es sich um eine Kombination aus Habermas Sicht auf das Strafverfahren, ergänzt durch die Sonderfallthese von Alexy. 596 Jahn, ZStW 2006, 427, 455. 597 Jahn, ZStW 2006, 427, 455 f.; vgl. auch Jahn/Schmitt-Leonardy, GS-Hruschka, S. 590 f.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

sei, dann sei die Richtigkeitsgewähr auf Basis des prozeduralen Wahrheitsbegriffes mindestens ebenso hoch wie auf Grundlage des monologisch-richterzentriertenModells.598 Der Konsens könne daher auch im Rahmen des § 244 Abs. 2 StPO Garant für eine richtige Entscheidung sein.599 Jüngst versuchen Jahn/Schmitt-Leonardy den Konsens im Strafverfahren durch den Resozialisierungsgedanken zu rechtfertigen.600 Gössel kritisiert an dieser Ansicht, dass die ideale Sprechsituation wohl kaum jemals erreicht werden könne. Deshalb bleibe die Richtigkeitsgewähr des konsensualen Wahrheitsbegriffs erheblich hinter dem der Korrespondenztheorie zurück.601 Solange nicht auszuschließen sei, dass ein Konsens darüber getroffen werde, dass die Erde eine Scheibe sei, ist die Konsenstheorie demnach abzulehnen.602 Ein überwiegender Teil der Literatur folgt im Wesentlichen der Korrespondenztheorie, indem sie als Ziel des Strafprozesses die materielle Wahrheit definiert.603 Die Strafprozessordnung verstehe damit unter Wahrheit dasjenige Geschehen, das sich in der Realität ereignet hat.604 Damit ist auch im Rahmen des § 244 Abs. 2 StPO die materielle Wahrheit gemeint.605 Zwar wird teilweise angenommen, dass im Rahmen des Strafprozesses immer nur eine Annäherung an die materielle Wahrheit erfolgen kann, das müsse aber in jedem Fall das Ziel der Beweisaufnahme sein.606 Gössel folgt der Korrespondenztheorie und differenziert innerhalb der Wahrheit zwischen der Realität und dem Wahrheitsbild des Richters. Es gibt demnach mehrere Wahrheitsbilder aber nur eine Wahrheit.607 Im Strafprozess werde demnach ein Wahrheitsbild erschaffen, neben diesem Bild sei allerdings die Existenz eines 598

Jahn, ZStW 2006, 427, 456 f. Jahn, ZStW 2006, 427, 457; Kritik Gössel, FS-Beulke, S. 742. 600 Jahn/Schmitt-Leonardy, GS-Hruschka, S. 596 f. 601 Gössel, FS-Beulke, S. 742. 602 Gössel, FS-Beulke, S. 743. 603 Gössel, S. 13 f.; Gössel, FS-Meyer-Goßner, S. 199; Gössel, FS-Beulke, S. 743; Schünemann, FS-Fezer, S. 559; Trüg, ZStW 2008, 331, 334 f.; Trüg, StV 2010, 528, 530; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 42 f.; Stamp, S. 284; Wenner, S. 29; MüKoStPO/Trüg/Habetha, Bd. 2 § 244 Rn. 4; Becker, FS-Fischer, S. 604 f., 608; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2; Löwe-Rosenberg/Kühne, Bd. 1 Einl. I Rn. 30; Schmidt, Lehrkommentar StPO, Bd. 1 Nr. 363 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 104; Müller-Dietz, ZEE 1971, 257, 259 f.; vgl. auch Stübinger, S. 510 f., 552. 604 Gössel, FS-Meyer-Goßner, S. 199; Gössel, FS-Beulke, S. 743; vgl. Gössel, S. 13 f.; Trüg, ZStW 2008, 331, 334. 605 Trüg, ZStW 2008, 331, 334 f.; Trüg, StV 2010, 528, 530; Löwe-Rosenberg/Kühne, Bd. 1 Einl. I Rn. 30; Schmidt, Lehrkommentar StPO, Bd. 1 Nr. 363; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 104; vgl. Gössel, S. 20; Gössel, FS-Meyer-Goßner, S. 202; Schünemann, FS-Fezer, S. 559; Heller, S. 65 f. 606 Vgl. Gössel, S. 20; Gössel, FS-Meyer-Goßner, S. 202; Gössel, FS-Beulke, S. 743; Schünemann, FS-Fezer, S. 559; Heller, S. 65. 607 Gössel, S. 13 f.; Gössel, FS-Meyer-Goßner, S. 200; Gössel, FS-Beulke, S. 743. 599

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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wirklichen Geschehensablaufs anzuerkennen.608 Die Wahrheit könne zwar niemals vollständig erfasst werden, allerdings müsse der Strafprozess trotzdem nach der Wahrheit suchen.609 Wer nur eine prozedurale Gerechtigkeit anerkennt und die Existenz eines wahren Sachverhalts leugnet, habe laut Gössel das Wissen um Wahrheit und Unwahrheit verloren.610 (3) Streitentscheid bezüglich der Wahrheit im Strafprozess Würde allgemein von einem konsensorientierten Wahrheitsbegriff oder im speziellen vom diskurstheoretischen Wahrheitsbegriff ausgegangen, so wäre vom Amtsermittlungsgrundsatz nichts mehr übrig. Der Amtsermittlungsgrundsatz würde in diesem Fall faktisch vom Konsensprinzip abgelöst. Es macht keinen Unterschied, ob von vornherein die Konsensmaxime gilt und das Ergebnis der Verhandlung ein Konsens ist oder ob im Rahmen des § 244 Abs. 2 StPO die Wahrheit durch einen Konsens der Beteiligten ermittelt wird. Geht man im Rahmen des § 244 Abs. 2 StPO von einem konsensorientierten Wahrheitsbegriff aus, so wird die Konsensmaxime quasi „durch die Hintertür“ eingeführt. Die Wahrheit würde durch einen Konsens ersetzt. Da der Gesetzgeber aber ausdrücklich am Aufklärungsgrundsatz festhält, kann dies nicht gewollt sein. Außerdem kann dieser Streit auch nicht unabhängig von den Grundpfeilern und der Geschichte des deutschen Strafprozesses beantwortet werden. Zwar wurde der rein inquisitorische Prozess von adversatorischen Elemente durchzogen, es handelt sich allerdings nach wie vor um einen vom Grundtypen her inquisitorischen Prozess. Der Amtsermittlungsgrundsatz wurde erstmals im Jahr 1935 in die Strafprozessordnung aufgenommen.611 In ihrer jetzigen Gestalt wurde die Vorschrift des § 244 Abs. 2 StPO durch das Vereinheitlichungsgesetz im Jahr 1950 eingeführt.612 Zu dieser Zeit war der Inquisitionsprozess noch nicht durch konsensuale Ausnahmen durchzogen. Auch die Verständigungspraxis wurde erst viele Jahre später bekannt. Zu diesem Zeitpunkt muss daher der Wille des Gesetzgebers auf das Finden der materiellen Wahrheit bezogen gewesen sein. Trotz Einführung konsensualer Elemente in das deutsche Strafverfahren hat der Gesetzgeber außerdem am ursprünglichen Normtext festgehalten. Damit hat der Gesetzgeber eine Wertentscheidung getroffen, dass er zwar konsensuale Elemente zulasse, am materiellen Wahrheitsbegriff aber festhalten will. Zudem geht Stuckenberg zutreffend davon aus, dass der Gesetzgeber sich bei derartigen Begriffen am Alltagsverständnis orientiert.613 Das Alltagsverständnis zielt aber eindeutig auf einen Zusammenhang mit der Realität ab 608

Gössel, S. 19. Gössel, S. 20; Gössel, FS-Meyer-Goßner, S. 199; ebenso: Schünemann, FS-Fezer, S. 559; Heller, S. 65. 610 Gössel, S. 20. 611 RGBl. I, S. 844; vgl. Jahn, ZStW 2006, 427, 451; Krause, S. 63. 612 BT-Drucks. I/530, S. 47 vgl. Wenner, S. 15; ausführlich zur Geschichte der Normierung des Amtsermittlungsgrundsatzes Jahn, ZStW 2006, 427, 445 ff. 613 Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov, Hauptverhandlung, S. 40. 609

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

und somit auf den korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff. Daher muss es sich um die materielle Wahrheit handeln und nicht um eine konsensorientierte Wahrheit. bb) Notwendigkeit weiterer Beweiserhebung Auch Jahn bedient sich indirekt der Diskurstheorie von Habermas sowie der Sonderfallthese von Alexys, indem er bei dem Wort Bedeutung ein Einfallstor für den Konsens sieht.614 Die Notwendigkeit der weiteren Berweiserhebung stehe demnach unter dem Vorbehalt, dass die Tatsachen „für die Entscheidung von Bedeutung sind“.615 Dies werde in der Kommentar- und Lehrbuchliteratur nicht aufgegriffen, sondern nur ausgeführt, dass im Rahmen des § 244 Abs. 2 StPO sowohl die belastenden als auch die entlastenden Umstände ermittelt werden müssen.616 Die Pflicht sei jedenfalls dann verletzt, wenn der Tatrichter Beweise ungenutzt lasse, obwohl der ihm bekannte Sachverhalt zu einer Benutzung gedrängt oder ihm diese zumindest nahegelegt hätte.617 Die Bedeutsamkeit der weiteren Beweiserhebung hängt aber nach Jahn auch davon ab, ob die Verfahrensbeteiligten eine weitere Beweiserhebung für notwendig halten.618 Nach dem Wortlaut des § 244 Abs. 2 StPO könnte man annehmen, dass über die Bedeutsamkeit der weiteren Beweiserhebung allein das Gericht entscheide.619 Innerhalb der Wortlautgrenze bleibe allerdings auch Raum für eine Auslegung, die nur die exklusive gerichtliche Zuständigkeit für die weitere Beweisaufnahme vorsieht, wenn und soweit geklärt ist, in welchem Rahmen diese durchzuführen ist.620 Demnach sei auch den Verfahrensbeteiligten ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, der aber durch das Gericht überprüfbar sei.621 Im Ergebnis vertritt Jahn daher, wie oben bereits ausgeführt, einen konsensualen Wahrheitsbegriff, versucht diesen aber geschickt in die geltende Rechtslage einzubetten. Dies nutzt er vor allem dafür, um an der Vereinbarkeit der Verständigung mit der geltenden Rechtsordnung, insbesondere dem Amtsermittlungsgrundsatz, festzuhalten. Dagegen wendet Niemöller ein, dass allein das Gericht im Rahmen des § 244 Abs. 3 S. 2 StPO über die Bedeutungslosigkeit von Beweisanträgen entscheide. Auch in einem nach Verständigung ergehenden Urteil befinde allein das Gericht, was für seine Entscheidung „von Bedeutung“ sei. Das Bemühen von Jahn, das Gesetz mit

614

Jahn, ZStW 2006, 427, 455. Jahn, ZStW 2006, 427, 440. 616 Jahn, ZStW 2006, 427, 440. 617 Jahn, ZStW 2006, 427, 440. 618 Jahn, ZStW 2006, 427, 442; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631. 619 Jahn, ZStW 2006, 427, 440; vgl. mit neuem Begründungsansatz und Bezug auf das materielle Strafrecht Jahn/Schmitt-Leonardy, GS-Hruschka, S. 594. 620 Jahn, ZStW 2006, 427, 444; vgl. Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631. 621 Jahn, ZStW 2006, 427, 444 f.; i. A. schon Frister, ZStW 1993, 340, 351 f. 615

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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einer Konsensmaxime außer Kraft zu setzen, sei nach der Ansicht von Niemöller ebenso ungerechtfertigt wie aussichtslos.622 Auch Gössel lehnt die Ansicht von Jahn ab. Zum einen übersehe die Ansicht Jahns, dass der § 244 Abs. 2 StPO gegenständlich beschränkt sei und sich ausschließlich an das Gericht wende. Das ergebe sich auch daraus, dass das Tatgericht Beweiserhebungen gemäß § 244 Abs. 3 S. 2 StPO nur aufgrund einer ausschließlich ihm zugewiesenen Entscheidung ablehnen dürfe. Diese Vorschrift betreffe gemäß § 244 Abs. 1 StPO die Beweisaufnahme, über deren Ergebnis nach § 261 StPO das Gericht und nicht der Konsens der Verfahrensbeteiligten entscheide. Dies werde auch in der Vorschrift des § 264 StPO bestätigt, demzufolge sei der Gegenstand des ausschließlich dem Gericht vorenthaltenen Urteilsspruchs „die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt“. Eine Festlegung sei daher nicht konsensualer Festlegung zugänglich.623 In diesem Kontext ist de lege lata Gössel und Niemöller zu folgen. Die Aufklärung von Amts wegen richtet sich allein an das Gericht. Daher muss auch das Gericht entscheiden, welche Beweise für das Urteil von Bedeutung sind. Bei dieser Entscheidung muss das Gericht stets das Ziel der materiellen Wahrheit im Blick haben und nicht die Interessen der Verfahrensbeteiligten. Auch wenn sich die „Gegenspieler“ Verteidigung und Staatsanwaltschaft einigen, ist dies kein Garant für die Wahrheit. Diese wollen vielmehr ihre Interessen wie Verfahrensabkürzung, geringere Straferwartung sowie Arbeitsentlastung durchsetzen. Dass diese Interessen sogar eher hinderlich für das Finden einer materiellen Wahrheit sind, liegt auf der Hand. Zudem macht es im Ergebnis keinen Unterschied, ob man „Wahrheit“ im Sinne des § 244 Abs. 2 StPO als Konsens definiert und die „Bedeutung von Beweiserhebungen“ in das Ermessen der Verfahrensbeteiligten legt oder ob man sich ehrlich die Einschränkung des Aufklärungsgrundsatzes zugunsten einer Konsensmaxime eingesteht. Folglich kann der Ansicht von Jahn zumindest de lege lata nicht gefolgt werden. Sie stellt allerdings einen ehrlichen Versuch dar, das System des deutschen Strafprozesses anzupassen. Eine derartige Auslegung des Amtsermittlungsgrundsatzes wäre denkbar, aber wohl nicht wünschenswert, wenn man die Verständigung aus dem Normalverfahren ausgliedert und als eigenständiges Verfahren neben die Beweisaufnahme stellt. Dann könnte allerdings auch direkt eine Konsensmaxime eingeführt oder der Amtsermittlungsgrundsatz für unanwendbar erklärt werden, sodass auf diesen eher umständlichen und mit Rechtsunsicherheit verbundenen Ansatz nicht mehr zurückgegriffen werden muss. c) Fazit Zwar trifft das Verständigungsgesetz eindeutig eine Wertentscheidung zugunsten der Aufklärungspflicht, trotzdem liegt hier aufgrund des nicht aufgelösten Wider622 623

Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 74. Gössel, FS-Beulke, S. 742.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

spruchs ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz vor. Das Verständigungsgesetz regelt nämlich gerade nicht, wie Verfahrensabkürzung und Aufklärung in Einklang zu bringen sind. Gleichzeitig liegt daher auch ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot schuldangemessenen Strafens vor, weil eine schuldangemessene Strafe nur dann verhängt werden kann, wenn zuvor der Sachverhalt umfassend aufgeklärt wurde. Gössel ist damit recht zu geben: Verständigungsgesetz und Amtsaufklärungsgrundsatz sind zumindest de lege lata nur dann vereinbar, wenn man einen deutlich relativierten Wahrheitsbegriff zugrunde legt.624 Dies würde allerdings die Einführung der Konsensmaxime oder die Beschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes durch die „Hintertür“ darstellen. Auch das Zugrundelegen eines relativierten Wahrheitsbegriffes sowie die Auslegung des § 244 Abs. 2 StPO im Sinne eines Konsens über die Bedeutung weiterer Beweiserhebung würde daher eine Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes darstellen und ist somit unzulässig. Allerdings könnte dem Amtsermittlungsgrundsatz dann genüge getan werden, wenn das Gesetz festlegt, wie der Amtsermittlungsgrundsatz mit der Verständigung in Einklang stehen kann. Die Entscheidung des BVerfG, dass keine generellen Qualitätsanforderungen an das Geständnis zu stellen sind, damit den Gerichten im Einzelfall Spielraum zukommt, ist kritisch zu sehen. Gerade hier liegt einer der größten Spannungspunkte, sodass den Gerichten hier Leitlinien an die Hand zu geben sind. Daher muss an dieser Stelle entweder eine klare Entscheidung für die Einführung eines Konsensprinzips getroffen und gleichzeitig der Amtsaufklärungsgrundsatz eingeschränkt werden oder versucht werden, einen sinnvollen Ausgleich zu finden. Es könnte ein separates Verfahren eingeführt werden, wie es in der Literatur auch häufig vorgeschlagen wird. Die Einführung der Konsensmaxime für das strafrechtliche Normalverfahren wäre mit dem Amtsermittlungsgrundsatz nicht vereinbar. Es müsste ähnlich wie in den USA eine eigene Verfahrensart geschaffen werden, in der die Konsensmaxime gilt und nicht der Amtsermittlungsgrundsatz. Es ist aber nicht Ziel dieser Arbeit und es sollte auch nicht das Ziel der Strafrechtswissenschaft sein, das deutsche System an die Verständigung anzupassen. Dem Konsensprinzip wird daher in dieser Arbeit eine klare Absage erteilt. Wenn sich die Verständigung nicht in das bestehende System einfügen lässt, muss sie entfernt werden. Allerdings könnte der Verstoß gegen Amtsermittlungsgrundsatz noch auf andere Weise beseitigt werden. Durch die Ablegung eines umfassenden Geständnisses könnten Unklarheiten beseitigt werden, sodass weitere Beweiserhebungen unter Umständen nicht mehr notwendig sind. Wird ein qualifiziertes Geständnis abgelegt, so ist wegen § 257c Abs. 1 S. 2 StPO noch dessen Überprüfung auf seine Glaubhaftigkeit erforderlich. Auch eine Überprüfung auf dessen Glaubhaftigkeit hin kann grundsätzlich nur durch weitere Beweiserhebungen erfolgen, während ein einfacher

624

Gössel, FS-Beulke, S. 745.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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Abgleich mit den Akten nicht ausreicht.625 Ein qualifiziertes Geständnis kann aber auch im Hinblick auf den Amtsaufklärungsgrundsatz als Urteilsgrundlage dienen. Bei absolut umfassenden Geständnissen kann daher ein Abgleich mit der Aktenlage ausreichend sein,626 wenn sich der Beschuldigte zusätzlich bereit erklärt auf Nachfragen des Gerichts zu antworten.627 Da der Amtsermittlungsgrundsatz nur das Ziel der Wahrheitsermittlung vorschreibt und keine bestimmten Handlungen vorgibt, ist dies im Hinblick auf den Amtsermittlungsgrundsatz zulässig. Daher wird folgender Vorschlag zur Ergänzung des Gesetzes gemacht: § 257c Abs. 2 S. 2 StPO Bestandteil jeder Verständigung soll ein Geständnis sein, das sämtliche subsumptionsrelevante Tatsachen anschaulich, erschöpfend und intrasystematisch abschließend überprüfbar darlegt und beweist (qualifiziertes Geständnis).

Dagegen könnte argumentiert werden, dass in besonders komplizierten Verfahren die Ablegung eines qualifizierten Geständnisses aufgrund mangelnder Kenntnis sämtlicher Tatsachen wohl kaum möglich sein dürfte und gerade hier Beschleunigungspotential bestehe. Allerdings hat der Gesetzgeber hier klar die Wertentscheidung getroffen, dass der Amtsermittlungsgrundsatz auch durch den Beschleunigungsgrundsatz nicht einschränkbar ist. Fälle, in denen aufgrund der hohen Komplexität ein großes Beschleunigungspotential besteht, eignen sich daher nur dann für eine Verständigung, wenn gleichzeitig der Aufklärungsgrundsatz eingehalten werden kann. Wird ein qualifiziertes Geständnis abgelegt, so wird der Sachverhalt ausreichend aufgeklärt. Dann kann auch nach aktueller Gesetzeslage ausnahmsweise eine Verfahrensabkürzung stattfinden, sodass für die Verständigung ein sinnvoller Anwendungsbereich verbleibt. Die Verständigung stellt mit ihrem konsensualen Hintergrund de lege lata einen Fremdkörper im bestehenden System dar. Noch verwirrender wird dies dadurch, dass der Gesetzgeber zumindest scheinbar an der Amtsaufklärungspflicht festhält, ohne den Gerichten hierzu Vorgaben zu machen. Die Normierung eines qualifizierten Geständnisses wäre aber eine Möglichkeit, an der Aufklärungspflicht festzuhalten und trotzdem eine Verfahrensabkürzung zu erzielen. Die andere Möglichkeit wäre es, 625

Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 457. So auch Krause, S. 70; a. A. MüKoStPO/Trüg/Habetha, Bd. 2 § 244 Rn. 6. 627 I. A. Krause, S. 70; dies stellt auch keinen Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz dar, weil sich der Beschuldigte bewusst für oder gegen eine Verständigung entscheiden kann. Die sogenannte Problematik des „Teil-Schweigens“ spielt auch im Hinblick auf die Beweiswürdigung im Normalverfahren eine Rolle. Sobald der Angeklagte im Prozess sein Schweigen bricht, macht er sich selbst zum Beweismittel, sodass hieraus auch für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden dürfen. Sofern er umfassend von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch macht, darf dies dagegen nicht in die richterliche Beweiswürdigung einfließen vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 16 ff. Im Rahmen der Verständigung kann ein derartiges „Teil-Schweigen“ de lege ferenda dazu führen, dass trotz abgelegtem Geständnis und Verständigung noch weitere Beweise erhoben werden müssen. 626

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

sich einzugestehen, dass die Verständigung den Amtsaufklärungsgrundsatz einschränkt. Auch eine ausdrückliche Beschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes durch die Verständigung ist aber kritisch zu sehen. III. Prinzip freier richterlicher Beweiswürdigung § 261 StPO ist neben § 244 Abs. 2 StPO eine zentrale Norm des strafprozessualen Beweisrechts628 und legt fest, auf welche Beweise das Urteil gestützt werden darf. Zum einen darf die Urteilsgrundlage nur aus dem „Inbegriff der Verhandlung“ gewonnen werden. Dabei wird eine negative Grenze gezogen. Das Gericht darf seine Sachverhaltsfeststellung nur auf das stützen, was zum Inbegriff der Hauptverhandlung gehört.629 Zugleich wird positiv der Gegenstand der Beweiswürdigung bestimmt, das Gericht muss alles miteinbeziehen, was vom Inbegriff der Hauptverhandlung umfasst ist.630 Das Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung aus § 261 StPO ist eine einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf richterliches Gehör und steht in engem Zusammenhang mit dem Unmittelbarkeits- und dem Mündlichkeitsprinzip.631 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz enthält eine formelle und eine materielle Ausprägung.632 Die formelle Komponente folgt aus §§ 226, 261 StPO und verpflichtet das Gericht zur sinnlichen Wahrnehmung in der Hauptverhandlung.633 Dieses Problem hängt eng zusammen mit der freien richterlichen Beweiswürdigung, weil der Unmittelbarkeitsgrundsatz formal ebenfalls besagt, dass das Gericht seine Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft hat. Die materielle Ausprägung folgt aus § 250 S. 1 StPO und regelt den Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis.634 Ein weiterreichender Grundsatz, der besagt, dass immer das tatnächste Beweismittel herangezogen werden muss, lässt sich dagegen nicht entnehmen.635 Die §§ 251 ff. StPO enthalten inzwischen weit-

628 Geppert, Jura 2004, 105; Löwe-Rosenberg/Sander, Bd. 6/2 § 261 Rn. 1; KMR/Stuckenberg, § 261 Rn. 1 (Stand: August 2013); KK/Ott, § 261 Rn. 1. 629 KMR/Stuckenberg, § 261 Rn. 1 (Stand: August 2013); SSW-StPO/Schluckebier, § 261 Rn. 1; Geppert, Jura 2004, 105, 106. 630 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 Rn. 4; KMR/Stuckenberg, § 261 Rn. 1 (Stand: August 2013). 631 Löwe-Rosenberg/Sander, Bd. 6/2 § 261 Rn. 2; SSW-StPO/Schluckebier, § 261 Rn. 1; KK/Ott, § 261 Rn. 1; KMR/Stuckenberg, § 261 Rn. 1 (Stand: August 2013); MüKoStPO/ Miebach, Bd. 2 § 261 Rn. 7. 632 Geppert, S. 122; SSW-StPO/Kudlich/Schuhr, § 250 Rn. 2; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 250 Rn. 2a. 633 Löwe-Rosenberg/Sander/Cirener, Bd. 6/1 § 250 Rn. 1; Bockemühl, FS-HeintschelHeinegg, S. 55; Geppert, S. 122; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 361. 634 Beulke, JA 2008, 758; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 Rn. 2; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 361; vgl. Geppert, S. 127. 635 BGH, NStZ-RR 2014, 152; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 Rn. 3; LöweRosenberg/Sander/Cirener, Bd. 6/1 § 250 Rn. 23; SSW-StPO/Kudlich/Schuhr, § 250 Rn. 4.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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reichende Ausnahmeregelungen zum Unmittelbarkeitsprinzip.636 Die materielle Ausprägung des Unmittelbarkeitsprinzips ist daher nicht absprachespezifisch und wird hier nicht weiter behandelt.637 Die freie Überzeugung des Gerichts beschreibt die Methode der Beweiswürdigung, die „Überzeugung“ das für das Urteil erforderliche Beweismaß.638 Der Richter ist nicht an gesetzliche Beweisregeln gebunden und nur seinem Gewissen verpflichtet.639 1. Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung und Einschränkung durch Bindungswirkung Im Rahmen der Verständigung könnten sich daher zwei Probleme im Hinblick auf die freie richterliche Beweiswürdigung ergeben. Zum einen könnte es problematisch sein, dass „Absprachen“, die außerhalb der Hauptverhandlung getroffen werden und anschließend die Urteilsgrundlage bilden, nicht dem Inbegriff der Hauptverhandlung unterfallen.640 Dies würde auch einen Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz und vor allem den Unmittelbarkeitsgrundsatz darstellen. Zudem muss der Richter nach seiner freien Überzeugung urteilen. Dies könnte unterlaufen werden, indem der Richter möglicherweise an eine Verständigung gebunden ist.641 2. Meinungsstand Zum einen wird vertreten, die Verständigung sei mit dem Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung unvereinbar, wenn diese außerhalb der Hauptverhandlung geschlossen wird und damit nicht dem Inbegriff der Hauptverhandlung entsprungen ist.642 Eine Beweisaufnahme finde in diesen Fällen häufig nicht mehr

636

Beulke, JA 2008, 758; vgl. MüKoStPO/Kreicker, Bd. 2 § 250 Rn. 5. So auch Löffler, S. 48. 638 KMR/Stuckenberg, § 261 Rn. 1 (Stand: August 2013); Geppert, Jura 2004, 105, 109; ausreichend ist für die Überzeugung ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber begründete und nicht bloß theoretische Zweifel nicht mehr aufkommen Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 Rn. 2; Geppert, Jura 2004, 105, 109; vgl. zum Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsgrundsatz bereits 2. Kapitel § 2 B. III., IV. 639 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 Rn. 2a; MüKoStPO/Miebach, Bd. 2 § 261 Rn. 91; Bockemühl, FS-Heintschel-Heinegg, S. 57; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 2 Rn. 22; dabei handelte es sich um eine Abkehr von den Beweisregeln der Carolina Geppert, Jura 2004, 105, 105 f.; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 2 Rn. 22 vgl. 2. Kapitel § 1 A. I. 1.; Grenze ist allerdings die Willkür SSW-StPO/Schluckebier, § 261 Rn. 14. 640 Vgl. Huttenlocher, Rn. 137; Braun, S. 59; Saal, S. 22; Gerlach, S. 102. 641 Vgl. Huttenlocher, Rn. 137; Braun, S. 59; Gerlach, S. 103. 642 MüKoStPO/Miebach, Bd. 2 § 261 Rn. 6; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 13; Bogner, S. 63 nimmt einen Verstoß gegen das Unmittelbarkeitsprinzip an, wobei er im Ergebnis nicht zwischen Unmittelbarkeitsprinzip und freier richterlicher Beweiswürdigung 637

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

statt, sodass die richterliche Überzeugung nicht auf der Hauptverhandlung, sondern allein auf der „Absprache“ beruhe.643 Dagegen konnte aber bereits vor Einführung des Verständigungsgesetzes argumentiert werden, dass der Richter seine Überzeugung nicht bei Abschluss der Absprache, sondern erst dann gewinnt, wenn er den Angeklagten in der Hauptverhandlung vernimmt.644 Eine Ansicht hält die Verständigung auch aufgrund der möglichen Bindungswirkung und dem damit einhergehenden Verlust der freien richterlichen Beweiswürdigung für mit diesem Grundsatz unvereinbar.645 Saal vertritt die Auffassung, dass die Verständigung grundsätzlich nicht mit dem Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung vereinbar sei. Zwar dürfe der Richter auch im Anschluss an die Verständigung die Beweise frei würdigen, es werde allerdings in der Verständigung auf ein feststehendes Ergebnis hingearbeitet. Von einer freien Beweiswürdigung könne daher nicht die Rede sein. Ein Verstoß wäre aber dann zu verneinen, wenn der Richter im Anschluss an eine Verständigung prüft, ob eine weitere Beweisaufnahme erforderlich ist. Die „Absprachepraxis“ sei daher nicht per se unzulässig, solange bestimmte Grundregeln eingehalten werden.646 Die andere Ansicht hält die Verständigung für mit dem Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung vereinbar.647

trennt; vgl. mit selber Argumentation zum Unmittelbarkeitsprinzip Rönnau, S. 155 ff., die sich auf den Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung übertragen lässt. 643 MüKoStPO/Miebach, Bd. 2 § 261 Rn. 6; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 13; ähnlich Löffler, S. 50, 51 f.; Saal, S. 20 f.; Rieß, StraFo 2010, 10, 11; die auch einen Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz darin sehen, dass die Urteilsgrundlage nicht aus dem „Inbegriff der Hauptverhandlung“ geschöpft werde; Bogner, S. 63 f. sieht die „Absprache“ außerhalb der Hauptverhandlung zumindest als mitursächlich an und nimmt ebenfalls einen Verstoß an, wobei sich ein Nachweis dessen in der Revision wohl nur in Ausnahmefällen führen lassen wird; vgl. Rönnau, S. 155 ff. 644 Huttenlocher, Rn. 137; Gerlach, S. 102; Krause, S. 75; vgl. Siolek, S. 162 ff.; Tscherwinka, S. 145 f.; mit selber Argumentation zum Unmittelbarkeitsgrundsatz Küpper/ Bode, Jura 1999, 351, 361 sehen den Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht als verletzt an, wenn die Absprache innerhalb der Hauptverhandlung „wiederholt“ wird. 645 Niemöller, StV 1990, 34, 38; Müller, S. 154; Hsu, S. 60; Bogner, S. 64 f.; Braun, S. 59 spricht von einem faktischen Verstoß, weil der Richter die Beweise auch nach Abschluss einer Absprache an sich noch frei würdigen könne, er sich in der Praxis aber durch die Absprache festlegt; zudem sei der Richter de facto auch nicht mehr frei, wenn beide Seiten von der Absprache profitieren sollen, sodass der formalen Argumentation ebenfalls der Boden entzogen werde; Löffler, S. 50 f. problematisiert dies im Rahmen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und kann einen Verstoß jedenfalls nicht ausschließen; ebenfalls bezogen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz Rönnau, S. 157 ff. 646 Saal, S. 22. 647 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 46; Huttenlocher, Rn. 139; Saal, S. 22; Gerlach, S. 102 ff.; Landau, NStZ 2014, 425, 429 f.

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Gerlach geht davon aus, dass von der „Absprache“ keine Bindungswirkung ausgehe.648 Solange das Gericht sich nur ein vorläufiges Bild von der Schuld- und Straffrage mache und dies auch jederzeit zu erkennen gebe, sei kein Verstoß gegen die freie richterliche Beweiswürdigung erkennbar. Teilweise wird die Verständigung trotz Annahme einer Bindungswirkung als mit dem Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung vereinbar gehalten. Huttenlocher nahm schon vor Einführung des Verständigungsgesetzes an, die Rechtsprechung habe ausreichende Instrumentarien entwickelt, die dem Gericht ein Lösen von der Verständigung ermöglichen.649 Krause merkt außerdem an, dass kein Verstoß gegen § 261 StPO gegeben ist, da sich das Gericht jederzeit nach § 257c Abs. 4 StPO von der Verständigung lösen könne, sofern sich der Sachverhalt anders darstellt.650 Mit der gleichen Begründung wird zum Teil gleichzeitig ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz angenommen651 oder abgelehnt.652 3. Stellungnahme Vor Normierung des Verständigungsgesetzes gab es im Bezug auf die freie richterliche Beweiswürdigung mehrere Unklarheiten. Zum einen war ungeklärt, ob und wenn ja, inwieweit die Verständigung Bindungswirkung entfaltet. Zudem wurden die Absprachen mangels gesetzlicher Regelung oft außerhalb der Hauptverhandlung unter dem Deckmantel der Heimlichkeit geschlossen. Seit Einführung des Verständigungsgesetzes und insbesondere § 257c StPO ist klar, dass die formelle Verständigung innerhalb der Hauptverhandlung erfolgen muss. Daher bleibt kein Raum mehr für die Kritik, der „Deal“ werde außerhalb der Hauptverhandlung geschlossen. Auch im Rahmen der Verständigung entspringt das Urteil daher dem Inbegriff der Hauptverhandlung, sodass diesbezüglich kein Verstoß gegen § 261 StPO vorliegt.653 Wenn im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung angenommen wird, dass der Inhalt des Urteils aus dem Inbegriff der

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Gerlach, S. 103. Huttenlocher, Rn. 138. 650 Krause, S. 77. 651 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 12b; Rönnau, S. 155 ff.; Bogner, S. 63 ff.; Braun, S. 58; Müller, S. 129 f.; Löffler, S. 50 ff.; Schünemann, Gutachten, S. 87; ähnlich Rönnau, ZIS 2018, 167, 171. 652 Ioakimidis, S. 74; Huttenlocher, Rn. 53 f.; Nahrwold, S. 313; Krause, S. 76; Hildebrandt, S. 78; Göttgen, S. 23; Tscherwinka, S. 146 f.; Siolek, S. 162 ff. sieht keinen Verstoß, wenn die Verständigung in der Hauptverhandlung „wiederholt“ wird; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 361 sehen das Unmittelbarkeitsprinzip ebenfalls nur bei geheimen Absprachen als verletzt an. 653 Vgl. dazu auch die Vereinbarkeit mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz 2. Kapitel § 2 B. IV. 649

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Hauptverhandlung gewonnen wurde, so liegt auch im Hinblick auf den formellen Unmittelbarkeitsgrundsatz kein Verstoß vor. Somit ist allein fraglich, ob der Richter aufgrund der Bindungswirkung, die sich jedenfalls e contrario de lege lata aus § 257c Abs. 4 S. 1 StPO ergibt, eingeschränkt ist und somit ein Verstoß gegen § 261 StPO vorliegt. Klar ist, dass die Bindungswirkung nur für die formale Verständigung innerhalb der Hauptverhandlung gilt und von den Vorgesprächen keine Bindungswirkung ausgeht. Huttenlocher nahm schon vor Einführung des Verständigungsgesetzes an, dass die Bindungswirkung nicht stark genug sei, um die freie richterliche Beweiswürdigung auszuschließen.654 Im Vergleich zur Rechtsprechung hat das Verständigungsgesetz das Abweichen von einer Verständigung mit Einführung von § 257c Abs. 4 S. 1 StPO sogar noch erleichtert.655 Das Gericht kann sich einseitig von einer Vereinbarung lösen, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen wurden und der in Aussicht gestellte Strafrahmen deshalb nicht mehr tat- und schuldangemessen ist.656 Das Gericht kann sich daher schon wegen jeder Unachtsamkeit bei der Lektüre der Akten von der Verständigung lösen.657 Zudem ist eine Abstandnahme von der Verständigung auch dann möglich, wenn das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht den Vorstellungen des Gerichts entspricht.658 Liegt ein Grund vor, der es dem Gericht ermöglicht, sich von der Verständigung zu lösen, so muss nur noch eine Mitteilung gemäß § 257c Abs. 4 S. 4 StPO erfolgen. Die faktisch nicht vorhandene Bindungswirkung führt dazu, dass sich das Gericht jederzeit von der Verständigung lösen kann und damit weiterhin frei in seiner Urteilsfindung ist.659 Es liegt auch diesbezüglich kein Verstoß gegen die freie richterliche Beweiswürdigung und den Unmittelbarkeitsgrundsatz vor.660

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Huttenlocher, Rn. 138. MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 147; ausführlich 1. Kapitel C. II., III. 656 Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 60; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 257c Rn. 26. 657 Murmann, ZIS 2009, 526, 538; Murmann, FS-Roxin, S. 1395; ausgeschlossen ist lediglich eine bloße Meinungsänderung des Gerichts Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 60; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 158 mahnen deswegen zur restriktiven Auslegung der Vorschrift. 658 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 159; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/ 2 § 257c Rn. 65; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 27. 659 Die lose Bindung ist allerdings trotz des Verwertungsverbots in § 257c Abs. 4 S. 3 StPO möglicherweise hinsichtlich des „fair-trial“-Grundsatzes problematisch; vgl. § 3 B. III. 2. 660 Ähnlich: Krause, S. 76. 655

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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IV. Öffentlichkeitsgrundsatz Früher diente die Öffentlichkeit des Strafverfahrens vor allem dem Schutz des Angeklagten vor einer Geheimjustiz.661 Der Öffentlichkeitsgrundsatz sowie die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit662 sollen heute vorrangig die Information der Öffentlichkeit gewährleisten und damit das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz stärken.663 Es handelt sich sowohl um eine Rechtsposition des Volkes als auch um eine Verfahrensgarantie zum Schutz der Beteiligten.664 Der Öffentlichkeitsgrundsatz ist in § 169 S. 1 GVG normiert und besagt, dass die gesamte Hauptverhandlung einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse öffentlich sein muss.665 Ein Verstoß gegen das Öffentlichkeitsprinzip stellt einen absoluten Revisionsgrund gemäß § 338 Nr. 6 StPO dar, was deutlich macht, dass auch der Gesetzgeber diesem Grundsatz eine grundlegende Bedeutung beimisst.666 Allerdings gilt dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt. Das Gesetz macht dort Ausnahmen, wo andere Grundsätze überwiegen.667 Der Öffentlichkeitsgrund-

661 Wettstein, S. 26 f.; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 19 Rn. 376; Heger, FS-Beulke, S. 769; Kudlich, JA 2000, 970; BVerfGE 103, 44, 63 f.; BVerfG StV 2015, 269, 270; vgl. Heger/ Pest, ZStW 2014, 446; 463; Gierhake, JZ 2013, 1030, 1031. 662 Eine Abgrenzung dieser beiden Prinzipien ist schwierig und kann wohl kaum trennscharf vorgenommen werden Geppert, S. 123; vgl. zum Unmittelbarkeitsgrundsatz näher 2. Kapitel § 2 B. III. 663 BVerfGE 103, 44, 64; BVerfG, StV 2015, 269, 270; BGHSt 22, 297, 301; BGHSt 27, 13, 15; Heger, FS-Beulke, S. 769; KK/Diemer, § 169 GVG Rn. 1a; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 169 GVG Rn. 1; Kudlich, JA 2000, 970; Gierhake, JZ 2013, 1030, 1031 f.; Heger/ Pest, ZStW 2014, 446, 463; Walther, NStZ 2015, 383, 384; dazu ausführlich Selig, in: Walter, Mündlichkeit, S. 10 ff.; anders noch Wettstein, S. 26 ff. 664 BVerfG, StV 2015, 269, 270; ausführlich Wick, S. 143 ff.; Überblick Gierhake, JZ 2013, 1030, 1031 f. 665 In jüngerer Zeit wird zum Teil auch eine verfassungsrechtliche Verankerung des Öffentlichkeitsgrundsatzes angenommen. Dieser wird überwiegend aus Art. 6 Abs. 1 S. 1, 2 EMRK sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet vgl. Kudlich, JA 2000, 970; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 52; Rabe, S. 107 ff.; ausführlich Wick, S. 130 ff. Dies ist aufgrund der großen Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes für das Strafverfahren und das Rechtsvertrauen der Bevölkerung zu begrüßen. Auch in § 338 Nr. 6 StPO trifft der Gesetzgeber schon die Wertentscheidung, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz besonders wichtig für das Strafverfahren ist und bei Verstößen stets ein Beruhen anzunehmen ist. Wegen des Zusammenspiels mit dem Mündlichkeitsgrundsatz und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz wird diese Problemstellung im Rahmen der Prozessmaximen erörtert, ohne dass der Streit um die Rechtsnatur entschieden wird. Grund für den Wandel von der Prozessmaxime zum Grundrecht war wohl vor allem das Bedürfnis des BVerfG, den Öffentlichkeitsgrundsatz in seinen Prüfungsmaßstab zu integrieren; a. A. Öffentlichkeitsgrundsatz als Prozessmaxime: Heger, FS-Beulke, S. 759; Löwe-Rosenberg/Franke, Bd. 7/2 § 338 Rn. 103; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 169 GVG Rn. 1; Siolek, DRiZ 1989, 321, 328; Müller, S. 131 f.; Huttenlocher, Rn. 47; Gerlach, S. 83; Tscherwinka, S. 153. 666 Gierhake, JZ 2013, 1030, 1031; Rönnau, S. 164 f. 667 Gierhake, JZ 2013, 1030, 1036 f.; vgl. Franke, NJW 2016, 2618.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

satz wird durch die §§ 171 ff. GVG eingeschränkt, wenn schutzwürdige Interessen der Verfahrensbeteiligten dies erfordern.668 Der Mündlichkeitsgrundsatz findet in den §§ 261, 264 StPO Ausdruck669 und gebietet, dass die Erörterung des gesamten Prozessstoffs mündlich zu erfolgen hat.670 Dadurch soll sichergestellt werden, dass Zuschauer der Hauptverhandlung uneingeschränkt folgen können.671 Dies dient zum einen der Öffentlichkeit des Hauptverfahrens, zum anderen handelt es sich um ein „dialektisches Prinzip“ von Rede und Gegenrede und dient der Wahrheitsfindung.672 In diesem Kapitel soll nur das Zusammenspiel mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz näher betrachtet werden. Mündlichkeitsgrundsatz und Unmittelbarkeitsgrundsatz sind eng miteinander verbunden und gleichzeitig Voraussetzung für das Öffentlichkeitsprinzip.673 Während allerdings der Öffentlichkeitsgrundsatz und der Mündlichkeitsgrundsatz die Form der Beweisaufnahme betreffen, handelt es sich beim Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung und beim Unmittelbarkeitsgrundsatz um Beweisgrundsätze. Norouzi beschreibt treffend, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz für sich gesehen kein Nachweis eines rechtsstaatlichen, demokratischen Gemeinwesens sei. Der Rechtsstaat könne nach seinem Selbstverständnis aber auch nicht auf ihn verzichten.674 Vor Erlass des Verständigungsgesetzes war eines der meist diskutierten Probleme im Hinblick auf die Verständigung die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes.675 Grund hierfür waren die informellen Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung. Seit Erlass des Verständigungsgesetzes ist absolut unstrittig, dass informelle Absprachen unzulässig sind.676 Im Rahmen des Verständigungsgesetzes wurde der 668

Kudlich, JA 2000, 970, 971; Rönnau, S. 163 f.; ausführlich Wick, S. 155 ff. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 Rn. 7; vgl. auch Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 361 die zusätzlich § 250 StPO und § 169 GVG anführen. 670 Geppert, S. 139; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 46 Rn. 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 261 Rn. 7; Bungarten, in: Walter, Mündlichkeit, S. 78. 671 Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 361; Rönnau, S. 170; Müller, S. 130. 672 Geppert, S. 141; Bungarten, in: Walter, Mündlichkeit, S. 80; vgl. Selig, in: Walter, Mündlichkeit, S. 13 f. 673 Geppert, S. 139 f.; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 361; vgl. zum Unmittelbarkeitsprinzip 2. Kapitel § 2 B. III. 674 Norouzi, StV 2015, 590, 591; vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 47 Rn. 1; BVerfGE 103, 44, 63; BVerfGE 119, 309, 319 f.; BVerfGE 133, 168, 217 f.; BGHSt 22, 297, 301. 675 Vgl. Cramer, FS-Rebmann, S. 149; Schünemann, Gutachten, S. 88 f.; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 361; Siolek, S. 154 ff.; Müller, S. 131 ff.; Rönnau, S. 161 ff.; Ioakimidis, S. 63 ff.; Braun, S. 63 ff.; Gerlach, S. 83 ff.; Huttenlocher, Rn. 47 ff.; Bömeke, S. 138 ff.; Saal, S. 26 ff.; Tscherwinka, S. 138 ff. 676 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 14; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 4; Landau, NStZ 2014, 425, 428; Niemöller, GA 2014, 179, 181; Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 452; BVerfGE 133, 168, 204. 669

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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formelle Verständigungsakt in die Hauptverhandlung verlagert, dabei stellt der § 257c StPO die zentrale Norm des Verständigungsgesetzes dar.677 Allerdings sollen Erörterungen, die eine Verständigung vorbereiten, weiterhin auch außerhalb der Hauptverhandlung möglich sein.678 Dies regeln die §§ 202a, 212 StPO. Der § 202a S. 2 StPO, der auch für Gespräche im Anwendungsbereich des § 212 StPO gilt, regelt für diese Gespräche eine Protokollierungspflicht. Auch die §§ 243 Abs. 4, 273a Abs. 1a StPO sollen der Transparenz von Verständigungen dienen.679 Inhaltlich regelt der Öffentlichkeitsgrundsatz vor allem den unbeschränkten Zugang zum Gerichtssaal und somit zur Hauptverhandlung.680 Daher wird teilweise vertreten, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz nur für die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung gelte.681 Dann wäre eine Kollision der §§ 202a, 212 StPO sowie informeller Absprachen mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz ausgeschlossen, da dieser im Anwendungsbereich der Vorschriften nicht gelte. Dagegen wird aber jedenfalls vorgebracht, dass der Begriff „Verhandlung“ nicht vom richterlichen Ermessen abhänge.682 Was „Inbegriff der Verhandlung“ sein müsse, hänge davon ab, was die Strafprozessordnung festlegt.683 Der Richter könne daher nicht eigenmächtig Teile der Hauptverhandlung außerhalb der Hauptverhandlung behandeln, da auch dies einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz darstellen würde. 1. Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung Bedenken gegen die Verständigung bestanden insbesondere deshalb, weil die eigentlich konsensstiftende Verständigung vor Erlass des Verständigungsgesetzes regelmäßig außerhalb der Hauptverhandlung stattfand.684 In der Hauptverhandlung wurde dagegen lediglich das Ergebnis im Rahmen einer Inszenierung verkündet.685 De lege lata muss die förmliche Verständigung schon nach der systematischen Stellung des § 257c StPO in der öffentlichen Hauptverhandlung stattfinden. Allerdings sind auch nach neuer Rechtslage Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung zulässig, die die Verständigung vorbereiten. Dabei sei insbesondere auf § 212 StPO 677

BT-Drucks. 16/12310, S. 8 f.; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 1, 13; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 1. 678 Zu den Vorschriften über die Erörterung des Verfahrensstandes ausführlich oben 1. Kapitel B. III. 679 BT-Drucks. 16/12310, S. 1; Niemöller/Schlothauer/Weider, Teil A. Rn. 29. 680 Heger, FS-Beulke, S. 761; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 169 GVG Rn. 3. 681 Cramer, FS-Rebmann, S. 149; Baumann, NStZ 1987, 157, 158. 682 Schünemann, Gutachten, S. 88; Nahrwold, S. 303. 683 Schünemann, Gutachten, S. 89; Nahrwold, S. 303. 684 Schünemann, Gutachten, S. 88; Heger/Pest, ZStW 2014, 446; 463; Müller, S. 131; vgl. Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 361; Ioakimidis, S. 67. 685 Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 463; Schünemann, ZRP 2009, 104, 106.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

hingewiesen, der anders als § 202a StPO eine Erörterung mit dem Gericht der Hauptverhandlung ermöglicht. Daher könnte auch heute noch kritisiert werden, dass die eigentlichen Verständigungsgespräche unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, während in der Hauptverhandlung lediglich der formelle Verständigungsakt vollzogen wird. Im Bezug darauf hängt die Vereinbarkeit mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz auch maßgeblich von den Transparenzvorschriften ab. Während die Transparenzvorschriften die Kontrolle durch die Öffentlichkeit gewährleisten, stellen die Protokollierungsvorschriften den Schutz des Angeklagten sicher. Erst die Protokollierungsvorschriften machen eine effektive Nachprüfung durch die Revisionsgerichte möglich. Allerdings zeigt die Studie von Altenhain/Dietmeier/May, dass die Transparenzund Protokollierungsvorschriften häufig nicht eingehalten werden.686 Zwar gab nur ein Drittel der Richter an, die Vorgespräche außerhalb der Hauptverhandlung schon einmal nicht offen gelegt zu haben.687 Bei der Kontrollgruppe waren es allerdings weit mehr.688 Als Grund gaben die Richter an, dass die Verfahrensbeteiligten ohnehin schon informiert gewesen seien, sodass die Vermutung naheliegt, § 243 Abs. 4 StPO werde von einem Teil der Richter als unnötiger Formalismus angesehen.689 Eine weitere Antwortvariante war, dass die Gespräche nicht offengelegt wurden, da es sich nicht um eine Verständigung im Sinne dieses Gesetzes gehandelt habe.690 Daher ist davon auszugehen, dass auch nach Erlass des Verständigungsgesetzes noch informelle Absprachen praktiziert oder zumindest verständigungsbezogene Erörterungen geführt werden, die nicht offengelegt werden.691 Wird allerdings über die vorangegangenen Erörterungen berichtet, so genügt die Mitteilung in der Regel den Anforderungen des § 243 Abs. 4 StPO.692 Auch die Handhabung der Protokollierung durch die Gerichte divergiert. Ein Drittel der Befragten protokolliert lediglich, dass eine Mitteilung stattgefunden hat.693 Das zweite Drittel protokolliert dagegen nur die wesentlichen Ergebnisse der Absprachen, während das letzte Drittel jedes einzelne Ergebnis protokolliert.694 Allerdings gaben auch einige Richter an, dass sie grundsätzlich nur informelle 686

Altenhain/Dietmeier/May, S. 145 ff. Altenhain/Dietmeier/May, S. 146 f. 688 In der Kontrollgruppe gaben 41,8 % der Staatsanwälte und 74,7 % der Verteidiger an, dass Vorgespräche schon einmal nicht offengelegt wurden, Altenhain/Dietmeier/May, S. 146 f. 689 Altenhain/Dietmeier/May, S. 147. 690 Altenhain/Dietmeier/May, S. 148. 691 Altenhain/Dietmeier/May, S. 148. 692 Altenhain/Dietmeier/May, S. 149; wobei dies in der Rechtsprechungsanalyse erneut beleuchtet wird siehe 2. Kapitel § 5 H. I., J. 693 Altenhain/Dietmeier/May, S. 151. 694 Altenhain/Dietmeier/May, S. 151. 687

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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Absprachen durchführen und sich daher die Frage der Protokollierung von vornherein nicht stelle.695 Wenn eine Protokollierung stattfindet, so wird meist nur das wesentliche Ergebnis protokolliert.696 Das Negativattest aus §§ 243 Abs. 4, 273 Abs. 1a S. 3 StPO wird von einem Großteil der Richter gänzlich abgelehnt.697 Es stellt sich daher zum einen die Frage, ob das Verständigungsgesetz zur Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ausreichend ist. Zum anderen könnte auch die Rechtsanwendungspraxis gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz verstoßen. 2. Meinungsstand Vor Einführung des Verständigungsgesetzes war problematisch, dass die Verständigungen überwiegend außerhalb der Hauptverhandlung abgeschlossen und so der Kontrolle der Öffentlichkeit völlig entzogen wurden.698 Zudem wurden die Absprachen nicht in die Hauptverhandlung eingeführt, sodass auch ein Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz vorlag.699 Eine Meinung in der Literatur kam zu der Ansicht, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz bei informellen Absprachen nicht einschlägig sei, da dieser sich nur auf die Hauptverhandlung beziehe.700 Eine überwiegende Ansicht in der Literatur war dagegen schon vor Einführung des Verständigungsgesetzes der Ansicht, dass der Verständigungsakt selbst in der Hauptverhandlung stattfinden müsse.701 Teile der Literatur nahmen an, dass die Verständigung inklusive aller Vorgespräche zur Wahrung des Öffentlichkeitsprinzips in der Hauptverhandlung stattfinden müsse.702 Andere Autoren hielten Mitteilungen über Vorgespräche in der Hauptverhandlung für ausreichend.703 Einige Stimmen in der Literatur nahmen auch an, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz zwar verletzt sei, dies aber aufgrund der

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Altenhain/Dietmeier/May, S. 151. Altenhain/Dietmeier/May, S. 152. 697 Altenhain/Dietmeier/May, S. 152 f. 698 Schünemann, Gutachten, S. 88 f.; Müller, S. 131. 699 Schünemann, Gutachten, S. 87; vgl. Ioakimidis, S. 71. 700 Cramer, FS-Rebmann, S. 149; Baumann, NStZ 1987, 157, 158. 701 Schünemann, Gutachten, S. 88 f.; Huttenlocher, Rn. 50; Günter, DRiZ 1989, 150, 152; Gerlach, S. 87; Bogner, S. 26; Weichbrodt, S. 156; Schmidt-Hieber, Rn. 194; Hassemer, JuS 1989, 890, 892; Widmaier, StV 1986, 357, 359; Dencker/Hamm, S. 52. 702 Dencker/Hamm, S. 52; Günter, DRiZ 1989, 151, 152; Schünemann, Gutachten, S. 89; Siolek, S. 158 f.; Rönnau, S. 167; so wohl auch Müller, S. 134; Weichbrodt, S. 156. 703 Schäfer, DRiZ 1989, 294; Tscherwinka, S. 156; Bömeke, S. 140; Saal, S. 27 f.; Ioakimidis, S. 71; Huttenlocher, Rn. 50; Bogner, S. 26; Schmidt-Hieber, Rn. 167; Haas, NJW 1988, 1345, 1351; wobei die Reichweite der Mitteilung ebenfalls umstritten war; a. A. Widmaier, StV 1986, 357, 359, der dafür plädiert, über den Inhalt der Vergleichsverhandlung „äußerstes Stillschweigen“ zu bewahren. 696

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Einschränkbarkeit der Öffentlichkeitsmaxime zugunsten höherrangiger Rechtsgüter zu rechtfertigen sei.704 Seit Einführung des Verständigungsgesetzes sind informelle Absprachen unzulässig und die Verständigung selbst muss in der Hauptverhandlung durchgeführt werden.705 Trotzdem nimmt eine Ansicht auch heute an, dass das Verständigungsgesetz zur Wahrung der Öffentlichkeit nicht ausreiche.706 Teilweise wird mit derselben Begründung gleichzeitig ein Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz angenommen.707 Paeffgen ist der Meinung, dass ein Verstoß gegen das Mündlichkeitsprinzip und den Öffentlichkeitsgrundsatz vorliegt, weil die Protokollierungspflichten kein Äquivalent zu einer in der öffentlichen Hauptverhandlung geschlossenen Verständigung darstellen. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf die verständigungsbezogenen Erörterungen außerhalb öffentlicher Hauptverhandlung. Im Rahmen der Mitteilung werden nur die Ergebnisse mitgeteilt, sodass das Kontrollmedium der Öffentlichkeit völlig fehle.708 Rönnau ist der Ansicht, der Öffentlichkeitsgrundsatz sei durch die Absprachepraxis nur dann nicht verletzt, wenn er streng formal interpretiert werde. Es handle sich bei der Verkündung in der Hauptverhandlung um eine „Zeremonie“ ähnlich dem endlichen Rechtstag der Carolina.709 Eine materiell ansetzende Interpretation des Öffentlichkeitsgrundsatzes besage, dass alles, was in der Hauptverhandlung stattfinden muss, auch der Kontrolle der Öffentlichkeit zu unterwerfen sei.710 Es gehöre daher der gesamte Absprachevorgang und nicht nur das Ergebnis in die öffentliche

704 Braun, S. 66; a. A. Weichbrodt, S. 156 f.; Müller, S. 134 die annehmen, dass Einschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes durch „Absprachen“ nicht oder nur schwer zu rechtfertigen seien. 705 Vgl. Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 14; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 257c Rn. 4; Landau, NStZ 2014, 425, 428; Niemöller, GA 2014, 179, 181; Heger/ Pest, ZStW 2014, 446, 452; BVerfGE 133, 168, 204. 706 Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 334 f.; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 72 (Stand: November 2009); Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 13; SK-StPO/ Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 13; Hettinger, JZ 2011, 292, 300; Hildebrandt, S. 89 f.; Gierhake, JZ 2013, 1030, 1037; Schünemann, ZRP 2009, 104, 106; Marxen, GA 1999, 104; kritisch Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 463 ff. 707 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 13; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 72 (Stand: November 2009); Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 13; Hildebrandt, S. 89 f.; Rönnau, ZIS 2018, 167, 171 f. 708 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 13. 709 Rönnau, ZIS 2018, 167, 171; ebenso Marxen, GA 1999, 104; Gierhake, JZ 2013, 1030, 1037 f. 710 Rönnau, ZIS 2018, 167, 171 f.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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Hauptverhandlung.711 Schünemann spricht im selben Zusammenhang von einer zeremoniell vorgeführten Hauptverhandlung.712 Marxen geht davon aus, dass der Versuch, den Öffentlichkeitsgrundsatz im Kontext der Verständigung durch Mitteilungs- und Protokollierungspflichten zu retten, untauglich sei.713 Altenhain/Haimerl nehmen an, dass der Gesetzgeber auch „Erörterungen“ außerhalb der Hauptverhandlung im Rahmen des § 212 StPO zulasse.714 Das Publikum werde daher von allen der Verständigung zugrunde liegenden Erörterungen ausgeschlossen. Es werde lediglich die „Minimalanforderung“ gestellt, dass die Öffentlichkeit über eine Verständigung unterrichtet werden müsse. Der Öffentlichkeitsgrundsatz verkomme daher zu einer „leeren Hülle“.715 Auch Hettinger kritisiert, dass die entscheidenden Vorgespräche gerade nicht im Lichte der Öffentlichkeit stattgefunden haben und das Öffentlichkeitsprinzip dadurch suspendiert ist.716 Heger/Pest sehen zwar, dass das BVerfG durch eine strenge Leseart der Dokumentations- und Transparenzpflichten sowohl die Kontrolle der Öffentlichkeit als auch die Kontrolle durch die Revisionsgerichte gewährleisten will.717 Allerdings werde das Verhalten der Verfahrensbeteiligten in der Verständigungssituation der Kontrolle der Öffentlichkeit entzogen.718 Von einer Aufarbeitung des Verfahrensstoffs in der Hauptverhandlung könne weiterhin nicht die Rede sein.719 Die Aufarbeitung in der Hauptverhandlung wäre aber notwendig, um nicht zu einem heimlichen Verfahren zurückzukehren.720 Gierhake geht von § 243 Abs. 4 StPO aus, der zeige, dass Erörterungen mit dem Ziel einer Verfahrensabsprache auch außerhalb der Hauptverhandlung stattfinden können. Die Verfahrensabsprachen werden als heimliches Verfahren neben der Hauptverhandlung geführt. Die Öffentlichkeit könne nicht mehr dem Prozess selbst folgen, sondern nur einer Zusammenfassung.721 Murmann merkt dazu an, dass das „Gezerre“ um die Strafhöhe wohl kaum geeignet wäre, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz zu stärken. Es liege in der Natur der Absprachen, dass deren Zustandekommen nicht für die Ohren der Öffentlichkeit bestimmt ist. Trotzdem bleibe vom Grundsatz der Öffentlichkeit de lege 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721

Rönnau, ZIS 2018, 167, 172. Schünemann, ZRP 2009, 104, 106. Marxen, GA 1999, 104. Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 334. Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 335. Hettinger, JZ 2011, 292, 300. Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 464. Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 465 f. Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 465. Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 466. Gierhake, JZ 2013, 1030, 1037.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

lata nicht viel übrig. Im Rahmen der Absprachen sei die Rechtsbefolgung durch die Gerichte keine Selbstverständlichkeit mehr. Wenn der gesetzgeberische Spielraum von der Befolgungsbereitschaft abhänge, dann seien Gesetzesvorbehalt und die dahinter stehenden Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung ernsthaft beschädigt.722 Die andere Ansicht in der Literatur sieht seit der Regelung des Verständigungsgesetzes keinen Konflikt mehr mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz.723 Nahrwold nimmt an, dass die Probleme nicht auf Gesetzesebene bestehen, sondern auf Rechtsanwendungsebene. Die Transparenzvorschriften würden zur Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ausreichen, wenn sie eingehalten würden.724 Krause ist der Ansicht, dass informelle Absprachen zwar gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz verstoßen haben, dies aber zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gerechtfertigt war.725 Im Rahmen des Verständigungsgesetzes stellen die Transparenz- und Begleitvorschriften sicher, dass sämtliche außerhalb der Hauptverhandlung geführte Gespräche in die Hauptverhandlung eingeführt werden.726 Absprachen nach den Regeln des Verständigungsgesetzes verstoßen daher nicht gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz und auch nicht gegen den Mündlichkeitsgrundsatz.727 Jahn/Kudlich geben zu, dass mit der Verständigung eine gewisse Einschränkung des Öffentlichkeitgrundsatzes einhergehe. Die Verständigungsgespräche selbst finden meist außerhalb der Saalöffentlichkeit statt. Hauptzweck des Öffentlichkeitsgrundsatzes sei es aber, die Kontrolle durch die Öffentlichkeit als Souverän sicherzustellen. Hier habe der Gesetzgeber allerdings durch die Transparenzpflichten, beispielsweise aus § 243 Abs 4 StPO, Milderung geschaffen. Es sei demnach ausreichend, wenn die Öffentlichkeit die Informationen erhalte, die zur Beurteilung der Angemessenheit der Verständigung notwendig seien. Eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes liege daher nicht vor.728 Der § 243 Abs. 4 StPO schreibe vor, dass der wesentliche Inhalt der Gespräche protokolliert werden müsse. Bei dem „wesentlichen“ Inhalt handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der im Hinblick auf die Bedeutung der Öffentlichkeit für das Verfahren weit auszulegen sei.729

722

Murmann, ZIS 2009, 526, 533. Krause, S. 74 ff.; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 52 f.; Göttgen, S. 23; Wick, S. 177; Nahrwold, S. 305 ff. 724 Nahrwold, S. 305 ff. 725 Krause, S. 74; so schon Braun, S. 66. 726 Krause, S. 76 f. 727 Krause, S. 74, 76. 728 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 52. 729 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 53. 723

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Göttgen sieht den Grundsatz der Öffentlichkeit aufgrund der Transparenzregeln sowie der Regelung des § 257c StPO als vollständig gewahrt an.730 Wick bedenkt, dass die Öffentlichkeit zwar keinen direkten Einblick in die Verständigung hat und die vorgebrachten Argumente nicht im Detail erfahren wird. Allerdings werde sie bei ordnungsgemäßer Durchführung und entsprechender Protokollierung jedenfalls über sämtliche relevante Vorgänge unterrichtet. Ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz liege deshalb nicht vor.731 Das BVerfG führt hierzu aus, dass der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung in der Konzeption des Verständigungsgesetzes eine zentrale Bedeutung zukomme.732 Der Gesetzgeber gewährleiste durch die Verständigungsvorschriften vollständige Transparenz. Dabei komme auch der Kontrollfunktion der Öffentlichkeit eine besondere Bedeutung zu.733 Für alle Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung verlange § 243 Abs. 4 StPO die Mitteilung des wesentlichen Inhalts, die auch gemäß § 273 Abs. 1a S. 1 StPO zu protokollieren ist. Auch der wesentliche Ablauf und Inhalt der Verständigung sind gemäß § 273 Abs. 1a S. 1 StPO zu protokollieren. Diese Protokollierungspflicht gehe über die Protokollierung der nach § 243 Abs. 4 StPO vorgeschriebenen Mitteilung hinaus.734 Eine Folgefrage, die sich stellt, betrifft die Revisibilität von Verstößen gegen die Transparenzvorschriften. Bedeutend ist dabei insbesondere der Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO, der die Information der Öffentlichkeit gewährleisten soll. Im Revisionsrecht ist entscheidend, ob ein Verstoß einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 338 StPO darstellt oder einen relativen Revisionsgrund im Sinne des § 337 StPO. Grundsätzlich stellt ein Verstoß gegen die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 6 StPO dar.735 Allerdings sieht die herrschende Meinung in einem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO keinen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz im Sinne des § 338 Nr. 6 StPO.736 Eine Ansicht nimmt an, eine restriktive Auslegung des Öffentlichkeitsgrundsatzes aus § 243 Abs. 4 StPO entspreche dem Zeitgeist des Strafprozesses.737 Bei Verstößen im Sinne des § 338 Nr. 6 StPO handele es sich um eine faktische Be730

Göttgen, S. 23. Wick, S. 177. 732 BVerfGE 133, 168, 214. 733 BVerfGE 133, 168, 215; die Verständigung müsse sich „im Lichte öffentlicher Hauptverhandlung offenbaren“ BT-Drs. 16/12310, S. 8, 12. 734 BVerfGE 133, 168, 215. 735 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 338 Rn. 46. 736 SSW-StPO/Franke, § 243 Rn. 14; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 338 Rn. 46; Altvater, StraFo 2014, 221, 224; Allgayer, NStZ 2015, 185, 188; Walther, NStZ 2015, 383, 386; BVerfGE 133, 168, 223; BVerfG StV 2015, 269, 271; BGH, StV 2013, 740; BGH, StV 2015, 271, 272 f.; BGH, StV 2015, 274, 276. 737 Walther, NStZ 2015, 383, 386. 731

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

schränkung der Saalöffentlichkeit, während bei § 243 Abs. 4 StPO nur eine potentielle Beschränkung der Kontrollfunktion der Öffentlichkeit durch ein Informationsdefizit vorliege.738 Bei einem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO dürfe es sich daher nicht um einen absoluten Revisionsgrund handeln.739 Das Urteil könne aber auf einem derartigen Verstoß beruhen.740 Das BVerfG will durch eine strenge Auslegung der Transparenzvorschriften die Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes gewährleisten. Es wird zwar kein absoluter Revisionsgrund angenommen, es solle allerdings regelmäßig ein Beruhen vorliegen.741 Es handele sich bei § 243 Abs. 4 nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift.742 Grube findet es dagegen bedenklich, dass § 338 Nr. 6 StPO Verstöße gegen die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO nach herrschender Meinung nicht umfasst.743 Zweck der Mitteilungspflicht sei, die Bekanntmachung der Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung sicherzustellen, um die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit zu gewährleisten.744 Auch ein absoluter Revisionsgrund führe außerdem nicht zur Aufhebung des Urteils, wenn eine Auswirkung auf das Urteil ausgeschlossen sei.745 3. Stellungnahme Um zu klären, ob das Verständigungsgesetz den Öffentlichkeitsgrundsatz verletzt, muss von den wesentlichen Zielsetzungen dieses Prinzips ausgegangen werden. Zum einen muss die Kontrolle der Öffentlichkeit zum Schutz des Angeklagten und zum anderen zur Legitimation der Rechtsprechung in der Bevölkerung gewährleistet werden. Informelle Absprachen sind spätestens seit Einführung des Verständigungsgesetzes rechtswidrig und verstoßen unter anderem gegen das Öffentlichkeitsprinzip. Dabei handelt es sich aber um ein Problem auf Rechtsanwendungsebene. Informelle Absprachen sind nach aktueller Gesetzeslage ausgeschlossen, sodass selbst ein krasses Vollzugsdefizit nicht im Gesetz begründet wäre. Bei Betrachtung des Verständigungsgesetzes ist die Kernfrage, ob es ausreicht, dass lediglich der wesentliche Inhalt der Vorgespräche nach §§ 202a, 212 StPO

738 739 740 741 742 743 744 745

Walther, NStZ 2015, 383, 384. Walther, NStZ 2015, 383, 386; Allgayer, NStZ 2015, 185, 188. Seppi, S. 127; ausführlich zur Beruhensprüfung Allgayer, NStZ 2015, 185, 188 ff. BVerfG, StV 2015, 269, 271; BVerfGE, 133, 168, 223. BVerfG, StV 2015, 269, 271; BVerfGE, 133, 168, 222. Grube, StraFo 2013, 513, 513. Grube, StraFo 2013, 513, 513 f. Grube, StraFo 2013, 513, 514.

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protokolliert746 und der Allgemeinheit mitgeteilt wird.747 Das Gesetz erlaubt de lege lata außerhalb der Hauptverhandlung ohnehin nur Vorgespräche, die eine Verständigung vorbereiten. Die Verständigung selbst muss gemäß § 257c StPO in der Hauptverhandlung durchgeführt werden. Daher ist fraglich, ob auch die die Verständigung vorbereitenden Gespräche in der Hauptverhandlung stattzufinden haben. Zudem ist zu klären, ob die Protokollierungsvorschriften ausreichen, um eine effektive Kontrolle durch die Rechtsmittelinstanz zu gewährleisten. Kritiker wollen sämtliche Gespräche, die eine Verständigung vorbereiten, außerhalb der Hauptverhandlung verbieten. Wie Murmann748 schon vorträgt, ist es fraglich, ob es dem Rechtsvertrauen der Bevölkerung dient, wenn öffentlich um das Prozessergebnis gefeilscht wird. Im Blickpunkt sind daher vor allem die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO, sowie die Protokollierungspflichten aus §§ 202a S. 2, 273 Abs. 1a StPO. Werden Vorgespräche außerhalb der Hauptverhandlung geführt, so liegen diese immer im Anwendungsbereich der §§ 202a, 212 StPO. Dies löst die Protokollierungspflicht des § 202a S. 2 StPO aus. Überdies muss bei Gesprächen nach den §§ 202a, 212 StPO, die vor dem ersten Hauptverhandlungstag stattfinden, zu Beginn der Hauptverhandlung eine Mitteilung nach § 243 Abs. 4 S. 1 StPO erfolgen. Werden Gespräche nach § 212 StPO zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen geführt, so ist eine Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 S. 2 StPO auch später erforderlich. Eine Mitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO muss gemäß § 273 Abs. 1a S. 2 StPO auch protokolliert werden. Die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO umfasst auch eine Negativmitteilung, wenn derartige Gespräche nicht stattgefunden haben.749 Der Gesetzgeber hat durch die Einführung dieser Vorschriften dafür gesorgt, dass Vorgespräche nach den §§ 202a, 212 StPO immer in die Hauptverhandlung eingeführt werden müssen und so ein abschließendes Regelungskonzept geschaffen. Dieses wird durch die Protokollierungspflichten abgerundet, die eine Rechtsmittelkontrolle gewährleisten sollen.

746 Zwar spricht § 273 Abs. 1a S. 1 i. V. m. S. 2 StPO vom „wesentlichen Ablauf und Inhalt“, protokolliert werden kann aber nur das, was auch in öffentlicher Hauptverhandlung mitgeteilt wurde. Da § 243 Abs. 4 S. 1 de lege lata gerade nur vom „wesentlichen Inhalt“ spricht, kann auch die Protokollierung nur den wesentlichen Inhalt der Gespräche enthalten, sofern das Gericht nicht ausnahmsweise eine darüberhinausgehende Mitteilung gemacht hat. 747 Gespräche im Sinne des § 257b StPO müssen ohnehin in öffentlicher Hauptverhandlung stattfinden. Zudem muss die Protokollierung gemäß § 273 Abs. 1 S. 2 StPO deren wesentlichen Ablauf und Inhalt enthalten. Folglich ist in den Fällen des § 257b StPO, die ohnehin schon in der Hauptverhandlung stattfinden, auch die Protokollierung detaillierter als in den Fällen der §§ 202a, 212 StPO. 748 Murmann, ZIS 2009, 526, 533. 749 KMR/Eschelbach, § 243 Rn. 95 (Stand: November 2016); Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 243 Rn. 18b; Löwe-Rosenberg/Becker, Bd. 6/1 § 243 Rn. 52c.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Allerdings ist im Rahmen des § 243 Abs. 4 StPO im Bezug auf den unbestimmten Rechtsbegriff „wesentlicher Inhalt“750 für eine sehr weite Auslegung zu plädieren.751 Allein die Mitteilung der Ergebnisse darf nicht ausreichen.752 Für die Wahrung der Kontrollfunktion der Öffentlichkeit ist es wenigstens auch notwendig, dass der Ablauf der Gespräche in wesentlichen Punkten wiedergegeben wird. Zudem muss mitgeteilt werden, von welcher Seite der Verständigungsvorschlag ausgegangen ist,753 was der konkrete Verständigungsvorschlag beinhaltet hat und ob er bei der anderen Seite auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist.754 Entgegen der aktuellen Rechtsprechung soll auch mitgeteilt werden, von wem die Initiative zur den Gesprächen ausgegangen ist.755 Zwar muss die Argumentation nicht in allen Einzelheiten wiedergegeben werden,756 die jeweiligen Standpunkte und die dazugehörigen Argumente müssen aber auch Bestandteil der Mitteilung sein.757 Werden diese Eckpunkte eingehalten, so wird die Öffentlichkeit insoweit informiert, dass sie die Gespräche jedenfalls grob nachvollziehen und ihre Kontrollfunktion ausüben kann. De lege ferenda wäre daher eine Ergänzung des § 243 Abs. 4 S. 1 StPO: „(…) und wenn ja, deren Gang und wesentlicher Inhalt.“ wünschenswert. Um die Einhaltung dieser Grundsätze zu gewährleisten, ist auch eine entsprechende Protokollierung nach § 273 Abs. 1a S. 2 StPO erforderlich. Diese muss jedenfalls so weit reichen, dass das Revisionsgericht nachvollziehen kann, ob die Mitteilungspflicht im konkreten Fall eingehalten wurde.758 Es ist daher anzunehmen, dass durch die Verständigungsvorschriften jedenfalls ein akzeptables Mindestmaß an Transparenz geschaffen wird. Der Mündlichkeitsgrundsatz regelt, dass nur diejenigen Beweise und Tatsachen in das Urteil einfließen dürfen, die mündlich in der Hauptverhandlung vorgetragen wurden. Wie oben gezeigt, wird der Inhalt der Verständigung mündlich in die Hauptverhandlung eingeführt. Auch die Vernehmung des Angeklagten findet 750

Überblick zur Auslegung durch die Rechtsprechung Deutscher, StRR 2014, 288, 289 ff. Vgl. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 668. 752 MüKoStPO/Arnoldi, Bd. 2 § 243 Rn. 52; vgl. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 668; erst recht nicht die bloße Mitteilung, dass Gespräche stattgefunden haben Deutscher, StRR 2014, 288, 291. 753 BGH, NStZ 2018, 363; vgl. MüKoStPO/Arnoldi, Bd. 2 § 243 Rn. 52; Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 668. 754 BGH, NStZ 2017, 363, 364; BGH, NStZ 2018, 363; MüKoStPO/Arnoldi, Bd. 2 § 243 Rn. 52; Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 668; Deutscher, StRR 2014, 288, 291. 755 Mosbacher, NStZ 2013, 722, 723; Schneider, NStZ 2014, 192, 200; a. A. BGH, NStZ 2015, 416; BGH, NStZ 2016, 357, 361; Deutscher, StRR 2014, 288, 291; zwar gehört die Initiative zu den Gesprächen tatsächlich zum Ablauf und nicht zum Inhalt der Gespräche, der Ablauf der Gespräche gibt aber eine enorme Interpretationshilfe bei der Einschätzung des Inhalts; so auch Mosbacher, NStZ 2013, 722, 723. 756 BGH, NStZ 2015, 416. 757 So auch MüKoStPO/Arnoldi, Bd. 2 § 243 Rn. 52; Deutscher, StRR 2014, 288, 291; BGH, NStZ 2017, 363, 364; BGH, NStZ 2018, 363. 758 Vgl. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 668; MüKoStPO/Arnoldi, Bd. 2 § 243 Rn. 40. 751

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mündlich und in der Hauptverhandlung statt. Der wesentliche Inhalt der Verständigung wird de lege lata gemäß § 243 Abs. 4 StPO mündlich in die Hauptverhandlung eingeführt, sodass auch hier kein Verstoß gegeben ist. Problematisch ist allerdings der Umgang mit den Verstößen gegen die Transparenzvorschriften. Insbesondere der § 243 Abs. 4 StPO ist einer der tragenden Säulen für die Information der Öffentlichkeit im Rahmen des Verständigungsgesetzes. Voraussetzung dafür, dass Verstöße gegen die Transparenzvorschriften überhaupt wirksam überprüft werden können, ist die Einhaltung der Protokollierungsvorschriften. Wenn man annimmt, eine Auswirkung der Verletzung der Mitteilungspflicht auf das Urteil sei ausgeschlossen,759 degradiert man § 243 Abs. 4 StPO zu einer bloßen Ordnungsvorschrift. Einer der Gründe, warum bei einem Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz das Beruhen gemäß § 338 Nr. 6 StPO vermutet wird, ist, dass sich das Beruhen in diesem Fall wohl kaum jemals nachweisen lässt.760 Der zweite Grund für einen absoluten Revisionsgrund ist meist ein Verstoß gegen eine zentrale Institution des Rechtsstaats.761 Beides liegt hier vor. Da der § 243 Abs. 4 StPO eines der wichtigsten Sicherungsinstrumente für die Transparenz der Verständigung darstellt, ist es unverständlich, dass es sich dabei nicht um einen absoluten Revisionsgrund handelt. Der § 243 Abs. 4 StPO sichert den Öffentlichkeitsgrundsatz im Rahmen des Verständigungsverfahrens.762 Ohne die Mitteilung an die Öffentlichkeit liegt ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz vor. Es kann keinen Unterschied machen, ob die Türen des Raumes, in dem die Hauptverhandlung stattfindet, verschlossen sind oder ob die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen außerhalb der Hauptverhandlung stattfinden, ohne dass eine Mitteilung erfolgt. In beiden Fällen wird die Öffentlichkeit nicht ausreichend informiert, sodass sie ihre Kontrollfunktion nicht ausüben kann. Daher wäre es nur folgerichtig, bei Verstößen gegen den § 243 Abs. 4 StPO einen absoluten Revisionsgrund anzunehmen.763 Dies würde auch jene Richter in der Rechtsanwendungspraxis motivieren, sich an die Mitteilungspflicht zu halten, die den § 243 Abs. 4 StPO noch als unnötige Förmlichkeit ansehen.

759 760

Rn. 1. 761

Rn. 1. 762

Grube, StraFo 2013, 513, 514. MüKoStPO/Knauer, Bd. 2 § 338 Rn. 4; SSW-StPO/Momsen/Momsen-Pflanz, § 338 MüKoStPO/Knauer, Bd. 2 § 338 Rn. 4; SSW-StPO/Momsen/Momsen-Pflanz, § 338

Löwe-Rosenberg/Becker, Bd. 6/1 § 243 Rn. 52a. So auch Altenhain/Haimerl, StV 2012, 397, 399; Ruhs, S. 397; Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662, 669 nehmen eine teleologische Reduktion des Beruhenserfordernisses für Verstöße gegen die Transparenz- und Dokumentationsvorschriften an, was wohl am Ende zum selben Ergebnis führt. Die Annahme eines absoluten Revisionsgrundes hätte aber Vorteile im Hinblick auf die Rechtssicherheit. 763

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

V. Nemo tenetur se ipsum accusare Weiterhin könnte der § 136a StPO durch die Verständigung verletzt sein, wenn dem Angeklagten entweder mit einer unzulässigen Maßnahme gedroht wird, namentlich eine höhere Strafe im Fall des streitigen Verfahrens benannt wird (§ 136a Abs. 1 S. 3 1. Alt. StPO) oder ein gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil in Form einer niedrigeren Strafe in Aussicht gestellt wird (§ 136a Abs. 1 S. 3 2. Alt. StPO). Bei den §§ 136, 136a StPO handelt es sich um besonders prägnante einfachgesetzliche Ausprägungen des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit.764 Nach § 136a Abs. 1 S. 1 StPO darf die Willensentschließungsfreiheit des Beschuldigten nicht durch verbotene Vernehmungsmethoden beeinträchtigt werden. Sowohl die Willensentschließung als auch die Willensbetätigung werden geschützt.765 Der § 136a StPO ist auf alle richterlichen Vernehmungen766 innerhalb und außerhalb der Hautpverhandlung anwendbar.767 Zudem besagt § 136a Abs. 1 S. 3 StPO, dass die Willensentschließungsfreiheit des Beschuldigten nicht durch Drohung mit einer verfahrensrechtlich unzulässigen Maßnahme § 136a Abs. 1 S. 3 1. Var StPO oder dem Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils § 136a Abs. 1 S. 3 2. Var. StPO beeinträchtigt werden darf. Eine Drohung im Sinne des § 136a Abs. 1 S. 3 1. Var StPO liegt vor, wenn dem Beschuldigten ein Geschehen in Aussicht gestellt wird, auf das der Vernehmende Einfluss zu haben vorgibt.768 Ob dies tatsächlich der Fall ist, hat dabei keine Bedeutung.769 Mit zulässigen Maßnahmen darf der Vernehmende drohen, wenn er zum Ausdruck bringt, dass er seine Entschließung allein von sachlichen Notwendigkeiten abhängig machen werde.770 Das Versprechen eines 764 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 23 Rn. 467; SK-StPO/Rogall, Bd. 2 § 136a Rn. 3 f.; Müller, S. 146; Moldenhauer, S. 201; der nemo-tenetur-Grundsatz hat Verfassungsrang und ist eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und der Menschenwürde vgl. BVerfGE 56, 37, 43; BVerfGE 110, 1, 31; Nahrwold, S. 274; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 23 Rn. 467; i. A. Löwe-Rosenberg/Gleß, Bd. 4/1 § 136a Rn. 56; KMR/Pauckstadt-Maihold, § 136a Rn. 1 (Stand: Dezember 2012). 765 SSW-StPO/Eschelbach, § 136a Rn. 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 5; KK/Diemer, § 136a Rn. 1, vgl. ausführlich zum Normzweck Jahn, JuS 2005, 1057 – 1062; Krack, NStZ 2002, 120 – 124. 766 Nach dem herrschenden formellen Vernehmungsbegriff liegt eine Vernehmung vor, wenn der Vernehmende dem Beschuldigten in amtlicher Funktion gegenüber tritt BGHSt 40, 211, 213; BGHSt 42, 139, 145; Normadressat ist die Bundesrepublik Deutschland KK/Diemer, § 136a Rn. 3. 767 SK-StPO/Rogall, Bd. 2 § 136a Rn. 6; ausführlich zum Anwendungsbereich der Vorschrift KK/Diemer, § 136a Rn. 2; darüber hinaus ist die Vorschrift über § 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2 StPO beispielsweise auch für polizeiliche und staatsanwaltliche Vernehmungen anwendbar Jahn, JuS 1057, 1058. 768 Löwe-Rosenberg/Gleß, Bd. 4/1 § 136a Rn. 56; KMR/Pauckstadt-Maihold, § 136a Rn. 19 (Stand: Dezember 2012); SSW-StPO/Eschelbach, § 136a Rn. 51; Jahn, JuS 1057, 1061. 769 Löwe-Rosenberg/Gleß, Bd. 4/1 § 136a Rn. 56; Jahn, JuS 1057, 1061. 770 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 22; KMR/Pauckstadt-Maihold, § 136a Rn. 19 (Stand: Dezember 2012); KK/Diemer, § 136a Rn. 30; auch bloße Warnungen sind zulässig Jahn, JuS 1057, 1061.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils setzt dagegen die Abgabe einer bindenden Zusage voraus, auf deren Einhaltung der Versprechensempfänger vertrauen kann.771 Unter einem Vorteil wird ein Zustand verstanden, der vom Versprechensempfänger als günstig empfunden wird.772 Problematisch ist allerdings, was unter einem unzulässigen Vorteil zu verstehen ist. Nach richtiger Auffassung kann es sich dabei nicht um Vorteile handeln, die im konkreten Fall gewährt werden dürfen.773 Darf ein Vorteil gewährt werden, so ist es nicht unzulässig, ihn zu versprechen, selbst wenn dadurch die Willensfreiheit des Beschuldigten beeinträchtigt wird.774 Zudem muss es sich um mehr als nur einen „Bagatellvorteil“ handeln.775 Das Versprechen eines erlaubten Vorteils enthält keine unlautere Beeinflussung und damit nichts, was das Gesetz unlauterer Weise verbieten könnte.776 Während daher der Hinweis auf die durch ein Geständnis eintretenden Strafmilderungsmöglichkeiten zulässig wäre,777 wäre das Inaussichtstellen einer schuldunangemessen niedrigen Strafe778 oder einer unzutreffend günstigen Bewertung der Tat779 unzulässig. Bei der Regelung handelt es sich um eine diesen Bereich vollständig abdeckende lex specialis zum nemo-tenetur-Grundsatz.780 Zwar sind auch unterschiedliche Anwendungsbereiche des § 136a StPO und des nemo-tenetur-Grundsatzes denkbar,

771 BGHSt 14, 189, 191; Löwe-Rosenberg/Gleß, Bd. 4/1 § 136a Rn. 58; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, § 136a Rn. 23; KMR/Pauckstadt-Maihold, § 136a Rn. 20 (Stand: Dezember 2012). 772 Löwe-Rosenberg/Gleß, Bd. 4/1 § 136a Rn. 58; ähnlich: KK/Diemer, § 136a Rn. 32; SKStPO/Rogall, Bd. 2 § 136a Rn. 77 die von der Geeignetheit zur Veränderung des Aussageverhaltens sprechen. 773 Löwe-Rosenberg/Gleß, Bd. 4/1 § 136a Rn. 60; SK-StPO/Rogall, Bd. 2 § 136a Rn. 78; vgl. zu den verschiedenen Ansätzen Schünemann, Gutachten, S. 100 ff.; a. A. Schmidt, Lehrkommentar StPO, Bd. 2 § 136a Rn. 18; vgl. auch KK/Diemer, § 136a Rn. 33; KMR/Pauckstadt-Maihold, § 136a Rn. 20 (Stand: Dezember 2012) die jeden versprochenen Vorteil als unzulässig und somit als Verstoß gegen § 136a StPO ansehen, es sei denn, es handle sich um bloße Bagatellvorteile. 774 Löwe-Rosenberg/Gleß, Bd. 4/1 § 136a Rn. 60; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 23. 775 KMR/Pauckstadt-Maihold, § 136a Rn. 20 (Stand: Dezember 2012); Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, § 136a Rn. 23; nach SK-StPO/Rogall, Bd. 2 § 136a Rn. 77 fehlt es in derartigen Fällen in der Regel an der Eignung zur Beeinflussung des Aussageverhaltens. 776 Löwe-Rosenberg/Gleß, Bd. 4/1 § 136a Rn. 60; vgl. SK-StPO/Rogall, Bd. 2 § 136a Rn. 67. 777 BGHSt 1, 387, 387 f.; BGHSt 14, 189, 191 f.; BGHSt 20, 268; BGH, StV 1990, 305, 306; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 23. 778 BGH, StV 2002, 637; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 23; KMR/ Pauckstadt-Maihold, § 136a Rn. 20 (Stand: Dezember 2012); Göttgen, S. 20. 779 BGH, StV 2007, 453; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 23; KK/Diemer, § 136a Rn. 32. 780 Schünemann, Gutachten, S. 99; Braun, S. 67; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 359; Weichbrodt, S. 158 f.; Heller, S. 23; Moldenhauer, S. 201; vgl. Huttenlocher, Rn. 102.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

der Problembereich der „Absprachen“ fällt aber in deren Deckungsbereich.781 § 136a StPO findet auch im Falle von Verständigungen Anwendung.782 1. Verständigungsimmanente Anreizsituation und unzulässiger Druck durch Verständigungsinitiative? Zum einen ist schon problematisch, in welchem Verhältnis § 136a StPO und § 257c StPO zueinander stehen. § 136a StPO könnte in den Fällen des § 257c StPO schon nicht anwendbar sein. Geht man von der Anwendbarkeit des § 136a StPO aus, so stellen sich im Wesentlichen zwei Fragen. Zum einen könnte es einen Verstoß gegen § 136a Abs. 1 S. 3 Var. 2 StPO darstellen, wenn dem Beschuldigten im Falle eines Geständnisses eine mildere Strafe zugesagt wird. Dabei könnte es sich um einen gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil im Sinne des § 136a Abs. 1 S. 3 Var. 2 StPO handeln. Zum zweiten könnte ein Verstoß gegen § 136a Abs. 1 S. 3 Var. 1 StPO vorliegen, wenn dem Beschuldigten für den Fall einer Verständigung eine Strafe genannt wird und zudem eine wesentlich höhere Strafe für den Fall der alternativen Verfahrenserledigung. Der § 257c Abs. 3 S. 2 StPO regelt nur, dass das Gericht nach den allgemeinen Erwägungen eine Obergrenze und eine Untergrenze angeben kann. Dieses Problem ist insbesondere unter dem Schlagwort der „Sanktionsschere“ bekannt. Die hohe angedrohte Strafe, die für den Fall, dass kein Geständnis abgegeben wird, in Aussicht gestellt wird, könnte eine unzulässige Drohung darstellen. Während ein Drittel der Richter783 angab, sie hätten neben dem Strafmaß im Falle einer Verständigung schon einmal eine zweite Strafe für den Fall einer streitigen Hauptverhandlung genannt, war die Antwort der Kontrollgruppe signifikant höher.784 Die Abweichung betrug in knapp 60 % der Fälle ein Viertel, in 24 % der Fälle ein Drittel.785 Besonders interessant ist auch, dass mehr als 36 % der befragten Richter von der Nennung einer Alternativstrafe absehen, weil sie darin einen Verstoß gegen § 136a StPO sehen.786

781 Schünemann, Gutachten, S. 99; Braun, S. 67; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 359; vgl. Huttenlocher, Rn. 102 f. 782 BGH, StV 2010, 225. 783 Altenhain/Dietmeier/May, S. 123; für immerhin 16 % aller Richter ist die Angabe einer Alternativstrafe sogar typisch Altenhain/Dietmeier/May, S. 135. 784 Altenhain/Dietmeier/May, S. 124 insgesamt gaben 45,5 % der Statsanwälte und beinahe 70 % der Verteidiger an, dass ihnen schon einmal eine zweite Strafe für den Fall streitiger Verhandlung genannt wurde. 785 Altenhain/Dietmeier/May, S. 130; in knapp 15 % der Fälle betrug der Strafnachlass nur ein Achtel, eine durchschnittliche Milderung der Straferwartung auf die Hälte gaben nur knapp 2 % der Beteiligten an. 786 Altenhain/Dietmeier/May, S. 125.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

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2. Meinungsstand Es wird vielfach angenommen, dass ein Verstoß des Verständigungsgesetzes oder der Verständigungspraxis gegen § 136a Abs. 1 S. 3 1. Var StPO oder § 136a Abs. 1 S. 3 2. Var StPO vorliegt. Zudem stellt sich die Frage, ob das Beweisverwertungsverbot aus § 257c Abs. 4 S. 3 StPO das Beweisverwertungsverbot aus § 136a Abs. 3 S. 2 StPO verdrängt. a) Verhältnis der verbotenen Vernehmungsmethoden zur Verständigung Diese Frage beantwortet sich aus dem Verhältnis von § 136a StPO und § 257c StPO. Normalerweise würde ein Verstoß gegen § 136a StPO zu einem Verwertungsverbot des Geständnisses nach § 136a Abs. 3 S. 2 StPO führen. Im Falle einer Verständigung könnte dieses aber wohl durch § 257c Abs. 4 S. 3 StPO verdrängt werden. Velten ist der Ansicht, dass der Gesetzgeber den § 136a StPO nicht durch Erlass des § 257c StPO einschränken wollte. Die Verknüpfung von Strafmilderung und Zusage eines Vorteils sei daher die Zusage eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils und damit eine verbotene Vernehmungsmethode nach § 136a StPO. Das Verwertungsverbot ergebe sich in diesem Fall direkt aus § 136a Abs. 3 S. 2 StPO.787 Nach Rogall begrenze die Norm des § 257c StPO den Anwendungsbereich des § 136a StPO. Soweit ein Vorteil im Sinne des § 257c StPO versprochen werde, könne nicht von einem Verstoß gegen §136a StPO gesprochen werden.788 Nahrwold nimmt an, dass der Anwendungsbereich des § 136a StPO verdrängt wird, soweit ein den Angeklagten begünstigender verständigungsspezifischer Fehler vorliegt. Dies betreffe Fälle der Schuldspruchabrede und des Rechtsmittelverzichts. Nur in diesen Fällen solle das Beweisverwertungsverbot aus § 257c StPO dem aus § 136a StPO vorgehen. Bei verständigungsuntypischen Verfahrensverstößen nach § 136a Abs. 1 S. 1 StPO müsse sehr wohl das Verwertungsverbot aus § 136a Abs. 3 S. 2 StPO gelten.789 Der Anwendungsbereich des § 136a StPO werde also durch § 257c StPO begrenzt. Allerdings bejaht die Rechtsprechung ein Beweisverwertungsverbot nach § 257c Abs. 4 S. 3 StPO nur für die Fälle, in denen sich das Gericht von der Verständigung lösen will.790

787 788 789 790

SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 50. SK-StPO/Rogall, Bd. 2 § 136a Rn. 81. Nahrwold, S. 277. BGH, StV 2012, 134, 134 f.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

b) Verstöße gegen die verbotenen Vernehmungsmethoden Im Rahmen des Verstoßes gegen den nemo-tenetur-Grundsatz findet sich in der Literatur eine Vielzahl von Ansichten mit verschiedenen Ansatzpunkten. aa) Kein Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz Die erste Ansicht sieht den nemo-tenetur-Grundsatz sowie § 136a StPO als durch das Verständigungsgesetz nicht verletzt an.791 Nach dem Verständigungsgesetz dürfe nur eine schuldangemessene Strafe im Austausch für ein Geständnis gewährt werden, was keinen im Gesetz nicht vorgesehenen Vorteil darstelle.792 Sofern die gesetzlichen Regeln eingehalten werden und dem Beschuldigten insbesondere nicht mit einer höheren Strafe im Falle der Verweigerung kooperativen Verhaltens gedroht werde, liege auch nicht per se eine Drohung durch die Initiative des Richters vor.793 bb) Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz Die andere Ansicht sieht auch in gesetzeskonformen Verständigungen einen Verstoß gegen § 136a StPO als spezielle Ausprägung des nemo-tenetur-Grundsatzes.794 Dabei existiert die Kritik in verschiedenen Abstufungen. (1) Unzulässige Drohung und gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil Teilweise wird kritisiert, im Rahmen der Verständigungssituation liege sowohl eine unzulässige Drohung als auch das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils vor. Dencker/Hamm hält die „Belohnung“ von Prozessverhalten für einen gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil.795 Gleichzeitig liege dann auch immer eine Drohung mit gesetzlich nicht vorgesehenen Maßnahmen vor, namentlich die relativen Nachteile bei nicht „kooperativer“ Verhandlung.796

791 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 56; SK-StPO/Rogall, Bd. 2 § 136a Rn. 81; Göttgen, S. 19 f.; gegen einen Verstoß vor Einführung des Verständigungsgesetzes: Gerlach, S. 70 ff.; Ioakimidis, S. 79 ff.; Tscherwinka, S. 133 ff.; Huttenlocher, Rn. 109, 113, 119. 792 Ioakimidis, S. 83 ff.; Tscherwinka, S. 135; Gerlach, S. 78; vgl. Huttenlocher, Rn. 109; Göttgen, S. 19 f. 793 Ioakimidis, S. 82; Huttenlocher, Rn. 119; Göttgen, S. 20; Tscherwinka, S. 140. 794 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 15; Rönnau, ZIS 2018, 167, 172 f.; Rönnau, JuS 2018, 114, 117; jedenfalls kritisch Bockemühl, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV u. a., 2. Dreiländerforum, S. 200 ff.; Heller, S. 114 ff.; für einen Verstoß vor Einführung des Verständigungsgesetzes mit unterschiedlichen Ansatzpunkten: Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 359; Schmidt-Hieber, Rn. 242 ff.; Dencker/Hamm, S. 43 f.; Bogner, S. 76 ff., 85 f.; Braun, S. 72; Saal, S. 32 f.; Hildebrandt, S. 91 ff.; Müller, S. 146 ff.; Siolek, S. 189 f.; Weichbrodt, S. 158 ff.; Rönnau, S. 182 ff. 795 Dencker/Hamm, S. 43. 796 Dencker/Hamm, S. 44.

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Bogner nimmt für den Fall der Initiative des Gerichts eine Drohung im Sinne des § 136a Abs. 1 S. 3 Var. 1 StPO an, weil der Beschuldigte in diesem Fall mit einer höheren Strafe bei unkooperativem Verhalten rechnen müsse.797 Zudem sei die typische Verknüpfung von Prozesshandlung und Geständnis das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils und damit nach § 136a Abs. 1 S. 3 2. Var. StPO unzulässig.798 Obwohl § 46 Abs. 2 StGB die Berücksichtigung von Geständnissen bei der Strafmilderung vorsieht, darf diese wegen § 261 StPO nicht vorher versprochen werden. Folglich wären nach dieser Ansicht allenfalls vorsichtige Hinweise auf die Folgen einer Aussage zulässig.799 Küpper/Bode kritisierten vor Einführung des Verständigungsgesetzes, dass der § 136a StPO für ein anderes Strafverfahren konzipiert wurde als das der „Absprache“. Bei § 136a Abs. 1 S. 3 2. Var. StPO wurde die Konstellation der Absprachen nicht berücksichtigt, die naturgemäß zu Angeboten der Beteiligten führen müsse. Auch können Äußerungen des Gerichts, die im Normalverfahren als Drohung zu werten wären, im Rahmen der Absprachekommunikation noch zulässig sein. Insgesamt seien aber bei einer Vielzahl von Konstellationen Verstöße gegen § 136a StPO denkbar.800 (2) Gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil durch In-Aussicht-Stellen einer Strafmilderung Eine andere Ansicht kritisiert insbesondere das Versprechen einer Strafmilderung im Falle der Abgabe eines Geständnisses. Velten ist der Ansicht, dass eine Strafmilderung für ein prozesstaktisches Geständnis gerade nicht gewährt werden dürfe. Der § 257c StPO stelle keine Einschränkung des § 136a StPO dar, sodass in der Strafmaßzusage gegen ein Geständnis ein gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil liege.801 Siolek merkt an, dass das Versprechen einer Strafmilderung für ein Geständnis auch dann das In-Aussicht-Stellen eines unzulässigen Vorteils darstelle, wenn man die Kopplung von Geständnis und Gegenleistung grundsätzlich zulässt. Grund hierfür sei, dass nicht jedes Geständnis strafmildernde Wirkung entfalte, sondern nur solche, die aus Reue abgegeben wurden. Wird das Geständnis von Seiten des Gerichts als obligatorischer Strafmilderungsgrund dargestellt, so werde der Eindruck erweckt, die richterliche Strafzumessung erschöpfe sich im Wesentlichen in der Würdigung des Aussageverhaltens.802

797 798 799 800 801 802

Bogner, S. 80. Bogner, S. 82 f.; so auch Saal, S. 32. Bogner, S. 83; so auch Saal, S. 32. Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 359. SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 50. Siolek, S. 189 f.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Nach allgemeiner Auffassung liegt für den Fall des In-Aussicht-Stellens einer schuldunangemessen niedrigen Strafe auch ein Verstoß gegen § 136a Abs. 1 S. 3 2. Var. StPO vor.803 Wegen § 257c Abs. 3 S. 2 StPO handelt es sich dabei aber schon nicht um Fälle einer gesetzeskonformen Verständigung. (3) Unzulässige Drohung durch Verständigungssituation Andere Autoren kritsieren vordergründig, dass durch die Verständigung eine Drohkulisse aufgebaut werde und wiederum ein Verstoß gegen § 136a StPO vorliege. Rönnau meint, dass die Aushandlungsprozesse als Kern der Abspracheprozesse Druck auf die Verhandlungsposition des Beschuldigten erzeugen. Zusagen einer Strafmilderung enthalten immer die latente Drohung, diese im Fall der Ablehnung der Absprache nicht zu gewähren und die Strafe zu schärfen. Eine Kopplung von Prozessverhalten und Strafmaßbestimmung wäre nur dann zulässig, wenn die prozessuale Kooperation unabhängig von ihrem prozesskürzenden Effekt ein legitimes Kriterium der Strafzumessung wäre.804 Es werde deshalb regelmäßig massiver Geständniszwang aufgebaut.805 Von einer Selbstbelastungsfreiheit könne daher unter diesen Umständen nicht gesprochen werden. Paeffgen ist der Ansicht, dass im Rahmen der Geständnisse nicht selten ein „nötigender Druck“ oder ein „fragwürdiges Versprechen problematischer Vorteile“ im Spiel sei und damit Fälle des § 136a StPO vorliegen. Evident sei dies, wenn die „Sanktionsschere“ aufgemacht werde. Dadurch entstünden auch Spannungen mit dem nemo-tenetur-Grundsatz.806 (4) Nennung einer Alternativstrafe für das streitige Verfahren Ein Sonderproblem in diesem Kontext ist das Nennen einer Strafe für den Fall einer Verständigung bei gleichzeitiger Nennung einer Alternativstrafe für den Fall eines streitigen Verfahrens. Hier könnte unzulässiger Druck im Sinne des § 136a Abs. 1 S. 3 1. Var. StPO ausgeübt werden. Der § 257c Abs. 3 S. 2 StPO gestattet es, eine „Ober- und eine Untergrenze der Strafe anzugeben“. Problematisch ist, ob dies so zu verstehen ist, dass nur ein Strafrahmen für den Fall einer Verständigung angegeben werden darf oder ob dies auch eine Alternativstrafe für den Fall der streitigen Verhandlung zulässt. Jahn/Kudlich sehen im Nennen einer Alternativstrafe nur dann einen Verstoß gegen § 136a StPO, wenn dabei die „Sanktionsschere“ geöffnet wird. Dies ist der 803 BGH, StV 2002, 637; SK-StPO/Rogall, Bd. 2 § 136a Rn. 81; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, § 136a Rn. 23; KMR/Pauckstadt-Maihold, § 136a Rn. 20 (Stand: Dezember 2012); Göttgen, S. 20; Tscherwinka, S. 135; Huttenlocher, Rn. 110; Heller, S. 123; vgl. zum Verstoß gegen den Schuldgrundsatz 2. Kapitel § 2 A. IV. 1. 804 Rönnau, ZIS 2018, 167, 172. 805 Rönnau, ZIS 2018, 167, 172 f. 806 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 15.

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Fall, wenn zwischen der genannten Strafe im streitigen Verfahren und der genannten Strafe im Fall einer Verständigung eine große Abweichung besteht.807 Heller merkt an, dass das Nennen einer Alternativstrafe für den Fall des streitigen Verfahrens dann zulässig sei, wenn sowohl die Strafobergrenze für den Fall der Verständigung als auch die Strafobergrenze für den Fall des streitigen Verfahrens im Rahmen des Schuldangemessenen liegen.808 Ist die in Aussicht gestellte Strafe allerdings überhöht, so liege eine unzulässige Drohung vor. Eine überwiegende Ansicht in der Literatur hält die Angabe einer Alternativstrafe im Fall des streitigen Verfahrens für unzulässig.809 Der Wortlaut beziehe sich nach dem Gesetzeszusammenhang wohl nur auf den Strafrahmen innerhalb einer Verständigung, denn nur diese sei in § 257c StPO geregelt.810 3. Stellungnahme Wird dem Beschuldigten eine schuldunangemessen niedrige Strafe für ein Geständnis zugesagt, so liegt neben einem Verstoß gegen den Schuldgrundsatz811 auch ein Verstoß gegen § 136a StPO vor. Eine überobligatorische Strafmilderung stellt einen gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil dar. Allerdings verweist das Verständigungsgesetz selbst in § 257c Abs. 3 S. 2 StPO auf die allgemeinen Strafzumessungserwägungen, sodass das Inaussichtstellen einer schuldunangemessenen Strafe mit dem Verständigungsgesetz nicht vereinbar ist. Das Problem, dass prozesstaktische Geständnisse die Strafe nicht mildern dürfen, wird dadurch aber nicht beseitigt. Allerdings würden die im Rahmen des Schuldprinzips gemachten Vorschläge auch den Konflikt mit § 136a Abs. 1 S. 3 2. Var. StPO beseitigen.812 Wird dem Beschuldigten ein schuldangemessener Strafrahmen in Aussicht gestellt, so handelt es sich faktisch nur um ein Aufzeigen der Auswirkungen des Aussageverhaltens. Es wird hier lediglich die mögliche Strafmilderung im Falle eines Geständnisses aufgezeigt. Darin ist nach richtiger Ansicht813 kein Verstoß gegen § 136a StPO zu sehen. Folglich 807

MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 56; so auch SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4 § 202a Rn. 15; Göttgen, S. 19; Heller, S. 116 f.; Weichbrodt, S. 159 f.; Huttenlocher, Rn. 115; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 39 (Stand: November 2009). 808 Heller, S. 116. 809 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 19; Schlothauer, StV 2011, 205, 207; Schlothauer, StraFo 2011, 487, 492; SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 21; Niemöller/ Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 47; Nahrwold, S. 279; zögerlich Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 331 f.; SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 71; a. A. Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 49. 810 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 19; Schlothauer, StV 2011, 205, 207; vgl. BGH, NStZ 2013, 671. 811 Vgl. oben 2. Kapitel § 2 A. IV. 1. 812 Vgl. oben 2. Kapitel § 2 A. IV. 1. c). 813 BGHSt 1, 387, 387 f.; BGHSt 14, 189, 191 f.; BGHSt 20, 268; BGH, StV 1990, 305, 306; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136a Rn. 23.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

lässt das Verständigungsgesetz keine gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteile zu und verstößt deshalb nicht gegen § 136a StPO. Wird im Einzelfall ein gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil versprochen, so liegt ein Verstoß gegen § 136a Abs. 1 S. 3 Var. 2 StPO vor sowie gegen das Verständigungsgesetz selbst. Allein in der Initiative zur Verständigung kann auch noch kein Verstoß gegen § 136a Abs. 1 S. 3 1. Var. StPO gesehen werden. Das Bild des unparteiischen und objektiven Richters führt zu der Schlussfolgerung, dass er auch im Falle eines streitigen Verfahrens keine unangemessen hohe Strafe verhängen wird. Dass die Strafe im streitigen Verfahren allerdings höher sein kann als im Falle eines Geständnisses, entspricht der gesetzlichen Regelung des § 46 Abs. 2 StGB und ist damit nicht zu beanstanden und erst Recht nicht als Drohung zu qualifizieren. Allerdings muss das Gericht vom Nennen der Alternativstrafe absehen. Zum einen kommt der psychologische Effekt, der in derartigen Fällen entsteht, einer Drohung gleich. Zum anderen bewegt sich das Gericht auch nahe an der Grenze zur absolut unzulässigen Sanktionsschere. Allerdings kann sich ein solcher Verstoß im Einzelfall aus der Art und Weise des Verständigungsverhaltens der Richter ergeben. Bezogen auf das Verhältnis von § 136a StPO und § 257c StPO sprechen die besseren Argumente dafür, dass der Gesetzgeber eine Einschränkung von § 136a StPO durch das Verständigungsgesetz nicht wollte. Auch aus der Stellung des § 136a StPO in den allgemeinen Vorschriften ergibt sich, dass dieser auch auf § 257c StPO anwendbar sein soll. Das angedeutete Konkurrenzverhältnis zwischen § 257c Abs. 4 S. 3 StPO und § 136a Abs. 3 S. 2 StPO wird wohl kaum jemals bestehen, weil ersterer gilt, sofern sich das Gericht von der Verständigung lösen will. Nur wenn das Gericht sich von der Verständigung lösen will, kann im Einzelfall ein Konkurrenzverhältnis bestehen, wenn das Geständnis durch unzulässigen Druck erlangt wurde oder gesetzlich nicht vorgesehene Vorteile versprochen wurden. Zum Schutz des Beschuldigten ist daher das Beweisverwertungsverbot des § 136a Abs. 3 S. 2 StPO anwendbar, wenn im Rahmen der Verständigung im Einzelfall gegen § 136a StPO verstoßen wurde. Im Bezug auf die Reichweite ergeben sich hier allerdings keine Unterschiede, da in beiden Fällen das Geständnis nicht verwertbar ist. Die Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten wird in Deutschland von der Rechtsprechung generell verneint, sodass sich auch diesbezüglich keine Unterschiede ergeben.814

814 Vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 28; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 150; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 68; MüKoStPO/Jahn/ Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 174; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 52 (Stand: November 2009); Kirsch, StraFo 2010, 96, 99.

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VI. Richterliche Befangenheit Die Befangenheitsvorschriften der §§ 22 ff. StPO sind einfachgesetzliche Ausprägungen des Rechts auf den gesetzlichen Richter.815 Dieses Recht gewährleistet, dass der Betroffene nicht nur vor einem unabhängigen, sondern auch vor einem „unparteilichen Richter zu stehen hat, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet“816. Die neutrale Amtsausführung ist schon mit den Begriffen des „Richters“ sowie des „Gerichts“ untrennbar verknüpft.817 Das Recht auf den gesetzlichen Richter gewährt daher nicht nur einen Anspruch auf den sich aus dem GVG, den Prozessordnungen und dem Geschäftsverteilungsplan ergebenden Richter. Es garantiert darüber hinaus materiell, dass der Betroffene nicht vor einem Richter steht, der aufgrund persönlicher oder sachlicher Beziehungen zu Verfahrensbeteiligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen lässt.818 Die Unvoreingenommenheit und Neutralität des Richters stellt ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit dar.819 In der Praxis und auch im Bezug auf die Verständigung ist insbesondere die Ablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit nach § 24 StPO relevant. 1. Besorgnis der Befangenheit aufgrund der Initiative zur Verständigung Im Rahmen der Verständigung könnte das Gericht, von dem ein Verständigungsvorschlag ausgeht, voreingenommen sein, da mit einer Verständigung ein Schuldspruch einhergeht. Da § 257c Abs. 1 S. 1 StPO von einem Initiativrecht des Gerichts ausgeht, könnte das Verständigungsgesetz mit den Befangenheitsvorschriften unvereinbar sein. Ein weiteres Problem könnte sich im Rahmen von fehlgeschlagenen Verständigungen ergeben, da hier keine grundsätzliche Auswechslung des Gerichts geregelt ist.

815 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 22 Rn. 1; KMR/Bockemühl, Vor §§ 22 ff. Rn. 1 (Stand: November 2017); Weichbrodt, S. 161; Tscherwinka, S. 166; Huttenlocher, Rn. 95; Göttgen, S. 27; Gerlach, S. 113 f.; Nahrwold, S. 258 f.; vgl. Rabe, S. 254 f.; Ioakimidis, S. 98 f.; Gutterer, S. 151. 816 BVerfGE 27, 312, 322; BVerfGE 48, 300, 316; BVerfGE 103, 111, 140; BVerfGE 133, 168, 202; vgl. BVerfGE 4, 331, 346; BVerfGE 4, 412, 416; BVerfGE 21, 139, 145 f.; BVerfGE 23, 321, 325; BVerfGE 82, 286, 298; BVerfGE 89, 28, 36. 817 BVerfGE 4, 331, 346; BVerfGE 21, 139, 146; BVerfGE 48, 300, 316; BVerfGE 87, 68, 85; BVerfGE 103, 111, 140; BVerfGE 133, 168, 202. 818 BVerfGE 21, 139, 146; BVerfGE 89, 28, 36; BVerfGE 133, 168, 203. 819 BVerfGE 133, 168, 203.

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2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

2. Meinungsstand Eine Ansicht sieht die Verständigung im Hinblick auf die richterliche Neutralität als kritisch an oder hält sie für unvereinbar.820 Dabei wird insbesondere kritisiert, dass bei einem Richter, der einen Verständigungsvorschlag macht, nicht mehr die notwendige Neutralität bestehe. Ein Richter, der einen Verständigungsvorschlag macht, gehe bereits zu diesem Zeitpunkt fest von der Schuld des Angeklagten aus.821 Das Verständigungsgesetz gehe allerdings in § 257c Abs. 1 S. 1 StPO explizit von einem Initiativrecht des Gerichts aus,822 sodass dieses Gesetz wegen Verstoßes gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter verfassungswidrig sein könnte. Ein weiteres Problem ergebe sich im Rahmen fehlgeschlagener Verständigungsversuche. Hier entscheidet in der Hauptverhandlung dasselbe Gericht, das auch bei den Verständigungsgesprächen beteiligt war.823 Dagegen kann angeführt werden, dass der Richter zunächst nur eine ergebnisoffene Erörterung anstrebe und nicht direkt den Vorschlag für eine Verständigung mache.824 Zudem liege der Initiative auch nur eine vorläufige Bewertung der Aktenlage zugrunde.825 Im Rahmen dieser Erörterungen müsse es ihm aber möglich sein, für den Fall eines qualifizierten Geständnisses einen Strafrahmen in Aussicht zu stellen.826 Krause geht für den Fall einer gescheiterten Verständigung davon aus, dass der Richter fähig sei, sich von allen Vorentscheidungen innerlich zu lösen.827 Zudem habe der Gesetzgeber ausreichende Schutzmechanismen wie beispielsweise § 243 820 Niemöller, StV 1990, 34, 37; Gutterer, S. 150 ff.; Saal, S. 41; Huttenlocher, Rn. 98 ff.; Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 481 f.; Müller, S. 152 f.; Braun, S. 79; Weichbrodt, S. 162; kritisch: Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 66; Heller, S. 24 f.; Bömeke, S. 122; Hildebrandt, S. 96 geht dagegen nur auf Einzelfälle ein wie das „Drängen des Gerichts auf eine Verständigung“, eine bindende Strafmaßzusage zu einem frühen Verfahrenszeitpunkt oder die Verständigung mit einem Mitangeklagten ohne Mitteilung an den anderen und hält hier die Besorgnis der Befangenheit für begründet; auch Tscherwinka, S. 165 betont, dass die Besorgnis der Befangenheit nicht generell, sondern nur konkret für jeden Einzelfall bestimmt werden kann. 821 Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 481 f.; Müller, S. 152 f.; Bömeke, S. 122; Weichbrodt, S. 162; Huttenlocher, Rn. 98; Heller, S. 24 f.; Gutterer, S. 151 nimmt an, dass bei einer „Vereinbarung“ grundsätzlich richterliche Befangenheit gegeben ist, dem könne aber durch eine gesetzliche Regelung vorgebeugt werden. 822 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 23a; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 66; KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 9. 823 Heger/Pest, ZStW 2014, 446, 481 f.; Braun, S. 79; Müller, S. 152 f.; Saal, S. 41; kritisch Heller, S. 24 f.; Huttenlocher, Rn. 98 stellt fest, dass sich das Problem der Voreingenommenheit bei jedem Beweisverwertungsverbot stellt und somit kein Spezifikum der Absprache ist. 824 Salditt, FS-Tolksdorf, S. 382 f.; Krause, S. 71 f.; die Initiative einer Verständigung durch das Gericht begründet daher allein nicht die Besorgnis der Befangenheit vgl. Gerlach, S. 116 f.; Ioakimidis, S. 100; Rabe, S. 264; Janke, S. 216. 825 Rabe, S. 264. 826 Salditt, FS-Tolksdorf, S. 382 f.; Krause, S. 71 f.; vgl. Gerlach, S. 116 f. 827 Krause, S. 71; auch Göttgen, S. 27 sieht keine Gründe, die bei Scheitern einer Verständigung die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen; Rabe, S. 264.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

217

Abs. 4 S. 1, 2 StPO getroffen.828 Rabe fügt dem hinzu, dass der Gesetzgeber im Rahmen der §§ 22 ff. StPO die Wertung getroffen habe, dass allein die Vorbefassung nicht zur Parteilichkeit führe.829 Ein Richter sei demnach nie von vornherein befangen, nur weil er eine Verständigung initiiert habe, die gescheitert ist.830 3. Stellungnahme Daher könnte sowohl das Initiativrecht des Gerichts als auch der Umgang des Gesetzes mit einer fehlgeschlagenen Verständigung zu einem Verstoß gegen die Befangenheitsvorschriften führen. Die Initiative des Richters zu einer Verständigung könnte bereits zu dessen Befangenheit führen und damit auch zu einer Unvereinbarkeit des Gesetzes mit den Befangenheitsregeln. Allerdings wird der Richter in der Praxis zumindest vor oder zu Beginn der Beweisaufnahme ergebnisoffene Gespräche im Sinne der §§ 212, 257b StPO suchen, bevor er einen konkreten Verständigungsvorschlag macht. Würde der Richter direkt zu Beginn des Verfahrens und vor Beginn der Beweisaufnahme einen konkreten Strafmaßvorschlag machen, so könnte dies auf Rechtsanwendungsebene problematisch sein und einen Befangenheitsantrag im Sinne der §§ 22 ff. StPO rechtfertigen. Der Gesetzgeber hat allerdings durch Einführung der Erörterungsvorschriften deutlich gemacht, dass einer Verständigung im Regelfall eine offene Kommunikation vorausgehen soll. Zudem hat der Gesetzgeber durch Anerkennung des Initiativrechts deutlich gemacht, dass die Verständigung als solche keine Befangenheit begründe, wohl aber die Art und Weise im Einzelfall.831 Die Initiative des Gerichts zu einer Verständigung begründet daher grundsätzlich nicht die Besorgnis richterlicher Befangenheit.832 Der § 257c Abs. 1 S. 1 StPO verstößt daher nicht gegen die Befangenheitsvorschriften. Im Einzelfall kann allerdings die Art und Weise der Initiative die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. In diesen Fällen wird die Ablehnung des Richters erfolgreich sein.833 Der Gesetzgeber hat in §§ 22 – 24 StPO Regelungen getroffen, welche die Neutralität des Gerichts gewährleisten sollen. Der § 22 StPO regelt den Ausschluss eines Richters ipso iure. Allerdings ist die Aufzählung in § 22 StPO abschließend und umfasst die Verfahrenssituation der Verständigung nicht.834 Auch der § 23 StPO 828

Krause, S. 71. Rabe, S. 264. 830 Krause, S. 72; Rabe, S. 264; Göttgen, S. 27. 831 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 66; vgl. KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 84. 832 Vgl. BVerfGE 133, 168, 228. 833 Vgl. dazu Hildebrandt, S. 96 f.; Tscherwinka, S. 165 ff.; Ioakimidis, S. 100, die zutreffend konkrete Einzelfälle untersuchen, in denen ein Befangenheitsantrag begründet ist. 834 BVerfGE 46, 34, 38; KMR/Bockemühl, § 22 Rn. 1 (Stand: November 2017); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 22 Rn. 3; KK/Scheuten, § 22 Rn. 1. 829

218

2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

enthält abschließende Regelungen, in denen die Verständigung nicht vorkommt.835 Besteht aufgrund einer Verständigung aus Sicht des Angeklagten die Besorgnis der Befangenheit, so bleibt ihm nur die Ablehnung des Richters nach § 24 Abs. 1 2. Alt StPO. Diese kann erfolgen, wenn gemäß § 24 Abs. 2 StPO ein Grund vorliegt, der „geeignet ist Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen“. Befangenheit ist eine innere Einstellung des Richters, die seine gerechte, von Neutralität und Distanz geprägte, Haltung gegenüber den Verfahrensbeteiligten beeinträchtigen kann.836 Notwendig ist nicht die tatsächliche Befangenheit, sondern die bloße Besorgnis. Zur Einschränkung kommt es aber nicht auf den subjektiven Eindruck des Angeklagten an, sondern auf die Sicht eines „vernünftigen Angeklagten“.837 Im Einzelfall kann der Richter daher auch im Rahmen der Verständigung abgelehnt werden, wenn die Art und Weise der Initiative zur Verständigung die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt. Ein weiteres potentielles Problem wird in den fehlgeschlagenen Verständigungen gesehen. Dabei muss nach dem Zeitpunkt des Scheiterns differenziert werden. Wurde das Geständnis noch nicht abgegeben, so führt Rabe838 zutreffend aus, dass die reine Vorbefassung nach der Wertung des Gesetzgebers noch keine Befangenheit begründe. Scheitert die Verständigung allerdings, nachdem der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hat, so reicht diese Feststellung nicht aus. Die Ansicht von Krause839, dass der Richter fähig ist, sich von allen Vorentscheidungen innerlich zu lösen, ist in der Praxis wohl nicht zutreffend. Löst sich das Gericht nach Abgabe eines Geständnisses von der Verständigung,840 so darf dieses gemäß § 257c Abs. 4 S. 3 StPO nicht verwertet werden. Die Kenntnis des Gerichts von dem Geständnis ist, wie Huttenlochner841 zutreffend feststellt, kein spezielles Problem der Verständigung, sondern ein Problem, das bei jedem Beweisverwertungsverbot gleichermaßen vorliegt. Allerdings muss im Rahmen der Untersuchung des Gesetzes vom Richterbild des Gesetzgebers ausgegangen werden. Das Richterbild des Gesetzgebers ist das des Grundgesetzes und wurde bereits eingehend beschrieben.842 Nach dem Richterbild des Grundgesetzes kann der Richter auch ein bereits abgelegtes Geständnis bei der Entscheidungsfindung ausblenden, sofern er es nicht verwerten darf. Allerdings gilt 835 BVerfGE 46, 34, 38; KMR/Bockemühl, § 23 Rn. 1 (Stand: November 2017); Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 22 Rn. 3; KK/Scheuten, § 22 Rn. 1. 836 Saal, S. 39. 837 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 Rn. 8; vgl. KMR/Bockemühl, § 24 Rn. 8 (Stand: November 2017). 838 Rabe, S. 264. 839 Krause, S. 71. 840 Etwa nach § 257c Abs. 4 S. 1, 2 StPO. 841 Huttenlocher, Rn. 99. 842 2. Kapitel § 2 A. II.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

219

auch hier, dass das Verhalten des Richters im Einzelfall die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen kann. Insgesamt verstößt die gesetzliche Regelung nicht gegen die Befangenheitsregeln. Insbesondere eine standardisierte Auswechslung des Gerichts bei Fehlschlagen einer Verständigung ist nicht erforderlich, kann aber im Einzelfall aufgrund Ablehnung wegen Befangenheit erfolgen. VII. Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte der Beteiligten Aus § 226 StPO ergibt sich, dass die Hauptverhandlung in ununterbrochener Gegenwart der zur Urteilsfindung berufenen Personen stattfindet. Der § 230 StPO schreibt die Anwesenheitspflicht des Angeklagten in der Hauptverhandlung vor, wobei mit der Anwesenheitspflicht auch ein Anwesenheitsrecht einhergeht.843 Dabei handelt es sich um eine einfachgesetzliche Ausprägung des Rechts auf rechtliches Gehör.844 Vor Einführung des Verständigungsgesetzes wurde vereinzelt problematisiert, inwieweit die Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte der Beteiligten beschnitten werden.845 Hintergrund war die Praxis der informellen Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung, bei denen nicht sämtliche Verfahrensbeteiligte einbezogen wurden.846 Müller kritisiert, dass die Anwesenheitsrechte außerhalb der Hauptverhandlung nicht gelten und durch die Praxis der informellen Absprachen deren Schutzzweck umgangen würde.847 Nach neuer Rechtslage darf nach richtiger Ansicht sowohl die Erörterung nach § 257b StPO als auch der Abschluss der Verständigung nach § 257c StPO ausschließlich in der Hauptverhandlung stattfinden, sodass die allgemeinen Anwesenheitpflichten aus den §§ 226, 230 StPO die Beteiligung aller Verfahrensbeteiligten zwingend vorschreiben. Problematisch könnte de lege lata allenfalls sein, dass die Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligten im Rahmen der §§ 202a, 212 StPO nicht zwingend vorgeschrieben ist. Die Anwesenheitsrechte gelten allerdings nur für die Hauptverhandlung, sodass für die §§ 202a, 212 StPO kein Konflikt mit den Anwesenheitsrechten besteht. Die Annahme einer Umgehung der Anwesenheitsrechte kann hier nicht mehr überzeugen, da die §§ 202a, 212 StPO keine „informelle Absprache“ ermöglichen, sondern allein die formelle Verständigung des § 257c StPO vorbereiten.

843 844 845 846 847

Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn. 4. Vgl. oben bei 2. Kapitel § 2 A. III. Siolek, S. 191; Müller, S. 144 ff. Heller, S. 22; Müller, S. 145. Müller, S. 145.

220

2. Kap. § 2 Verständigung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen

Es ergibt sich daher kein Konflikt des Verständigungsgesetzes mit den Anwesenheits- und Mitwirkungsrechten.848 VIII. Zwischenergebnis Verstöße gegen die Prozessmaximen wurden durch das Verständigungsgesetz größtenteils beseitigt. Ein Verstoß gegen das Legalitätsprinzip durch das Verständigungsgesetz liegt nicht vor. Im Rahmen der Verständigung wird nicht von der Strafverfolgung abgesehen, sondern es ergeht ein Urteil. Allerdings wurde das größte Problem der Absprachen, der Konflikt mit dem Amtsermittlungsgrundsatz, auch durch Einführung des Verständigungsgesetzes nicht beseitigt. Zwar will § 257c Abs. 1 S. 2 StPO den Amtsermittlungsgrundsatz unangetastet lassen. Wie dies geschehen soll, ist aber weder aus dem Gesetz noch aus der Gesetzesbegründung ersichtlich. Das Verständigungsgesetz wäre mit dem Amtsermittlungsgrundsatz de lege lata nur durch Zugrundelegung eines relativierten Wahrheitsbegriffes vereinbar. Sinn und Zweck der Verständigung ist gerade die Abkürzung des Verfahrens. Dem Amtsermittlungsgrundsatz kann nur genügt werden, wenn das Verständigungsgesetz Regelungen zu dessen Einhaltung aufstellt. Daher sollte das Gesetz künftig ein qualifiziertes Geständnis fordern. Das Verständigungsgesetz steht im Einklang mit dem Grundsatz freier richterlicher Beweiswürdigung. Die durch eine Verständigung statuierte „Bindungswirkung“ die e contrario aus § 257c Abs. 4 S. 1 StPO gefolgert wird, ist so lose, dass das Gericht sich mit entsprechender Begründung jederzeit von der Verständigung distanzieren kann. Auch mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz steht das Verständigungsgesetz in Einklang. Die formelle Verständigung, die später Urteilsgrundlage sein kann, muss innerhalb der Hauptverhandlung erfolgen. Eines der größten Anliegen des Verständigungsgesetzes war die Schaffung von Transparenz. Inbesondere die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO sorgt dafür, dass die Öffentlichkeit auch im Rahmen des Verständigungsverfahrens ihre Kontrollfunktion ausüben kann. Zu Beginn der Hauptverhandlung muss gemäß § 243 Abs. 4 S. 1 StPO mitgeteilt werden, ob Erörterungen stattgefunden haben und was deren wesentlicher Inhalt war. Gemäß § 243 Abs. 4 S. 2 StPO muss eine Mitteilung auch dann erfolgen, wenn zwischen den einzelnen Hauptverhandlungstagen oder in Verhandlungspausen Erörterungen stattgefunden haben. Zudem muss die formelle Verständigung selbst in der Hauptverhandlung stattfinden, sodass sowohl die Öffentlichkeit ausreichend informiert ist als auch das Mündlichkeitsprinzip gewahrt wird.

848 A. A. Heller, S. 22 allerdings ohne Begründung und ohne Bezugnahme auf die gesetzliche Regelung; ausführlich 2. Kapitel § 2 A. III.

B. Vereinbarkeit mit der Strafprozessordnung

221

Ein Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz kann im Einzelfall vorliegen, wobei sich keine Unterschiede zu dem Normalverfahren ergeben. Wird dem Beschuldigten aber, wie im Gesetz vorgesehen, ledliglich eine schuldangemessene Strafe im Falle einer Verständigung in Aussicht gestellt, so stellt dies keinen Verstoß gegen diesen Grundsatz dar. Das Verständigungsgesetz ist folglich mit dem nemotenetur-Grundsatz vereinbar. Probleme der richterlichen Befangenheit sowie der Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte der Beteiligten können sich im Rahmen des Verständigungsverfahrens gleichermaßen ergeben, wie es im Normalverfahren der Fall ist.

§ 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz Einen wichtigen Punkt dieser Arbeit stellt die Betrachtung des Zusammenspiels von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz dar. Grund hierfür ist, dass im Rahmen der richterlichen Rechtsfortbildung zur Verständigung in ständiger Rechtsprechung auf diesen Grundsatz Bezug genommen wurde.1 Eine Schwierigkeit ist, dass der Fairnessgrundsatz dem deutschen Recht noch recht „neu“ ist und jedenfalls im nationalen Recht noch keine positivrechtliche Konkretisierung erfahren hat. Dies stellt einerseits ein Problem dar, weil nicht klar ist, was genau ein faires Verfahren ausmacht. Andererseits kann hier noch eine positivrechtliche Konkretisierung erfolgen, die zugleich neue Leitlinien für die Verständigung vorgibt. Der „fair-trial“Grundsatz kann daher gewissermaßen zum Rettungsanker des Einzelnen im Hinblick auf ein missglücktes Verständigungsverfahren werden.

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes In einem ersten Schritt sollen die theoretischen Grundlagen des Fairnessgrundsatzes erläutert werden. I. Der historische Ursprung des Fairnessgrundsatzes im anglo-amerikanischen Recht Der „fair-trial“-Grundsatz stammt ursprünglich aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis und lässt sich bis in die Magna Charta aus dem Jahr 1215 zurückverfolgen.2 Wesen und Begriff des „due process“, der übersetzt ein ordnungsgemäßes Verfahren beschreibt, stammen aus dem englischen Recht des 14. Jahrhunderts.3 In den USA findet sich das Recht auf ein „due process of law“ erstmals 1868 in dem fünften sowie dem 14. Zusatzartikel der Verfassung (amendment).4 Im anglo-amerikanischen Strafprozess handelt es sich im Gegensatz zu dem kontinental-europä1 BGHSt 32, 44, 45; BVerfG, NJW 1987, 2662 – 2663; BGHSt 36, 210, 211; BGHSt 37, 10, 11; BGHSt 42, 46, 47 f.; BGHSt 43, 195, 203 f. 2 McIlwain, Columbia Law Rev. 1914, 27, 28 ff.; Dörr, S. 5; KK/Lohse/Jakobs, Art. 6 MRK Rn. 1. 3 Schmid, Strafverfahren, S. 139; Dörr, S. 5 ff.; Schroeder, in: Roth, Europäisierung, S. 187. 4 Steiner, S. 31; Schmid, Strafverfahren, S. 139; Tettinger, S. 2 f.

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes

223

ischen Strafprozess um einen Parteiprozess.5 Während der in Kontinental-Europa praktizierte moderne inquisitorische Strafprozess eine systematische Ermittlung der Wahrheit durch Berufsrichter darstellt, handelt es sich bei einem Parteiprozess eher um eine Art „sportlichen Wettkampf“, in dem jede Partei auf sich gestellt ist und um den Sieg kämpft, während der Richter lediglich als Schiedsrichter die Einhaltung der Spielregeln sichert.6 Der „sportliche Wettkampf“ muss daher unter dem Gebot der Fairness stehen.7 Herausragende Komponente des fairen Verfahrens im Parteiprozess ist daher die Waffengleichheit zwischen dem Angeklagten und dem Ankläger.8 Dieser Begriff ist als solches auf die Waffengleichheit der Parteien im adversatorischen Prozess ausgerichtet, sodass zweifelhaft ist, ob dieser für den Inquisitionsprozess überhaupt übernommen werden kann. Allerdings ist jedenfalls die, der Waffengleichheit zugrundeliegende, Aussage der Chancengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung auch auf den Inquisitionsprozess anwendbar.9 II. Herleitung des Fairnessgrundsatzes in Deutschland und Europa Das Fairnessprinzip existiert sowohl auf nationaler Ebene als auch auf europäischer Ebene. Die Herleitung unterscheidet sich allerdings grundlegend. 1. Nationale Ebene Mangels Kodifikation des fairen Verfahrens in der StPO kommt der deutschen Rechtsprechung bei der Ausgestaltung des Fairnessprinzips eine große Bedeutung zu. Teile der Literatur stützen das Fairnessprinzip auf Naturrecht,10 den allgemeinen Gleichheitssatz11 oder Art. 6 EMRK.12 Während das BVerfG größtenteils auf eine Begriffsbestimmung verzichtet und versucht, die Programmatik abstrakt zu umschreiben,13 hat auch der BGH bisher noch keine rechtstheoretische Konkretisierung vorgenommen.14

5

Zalman, S. 481; Sebastian, S. 13; Hettinger, JZ 2011, 292, 293. Zalman, S. 481; Steiner, S. 31 f.; Sebastian, S. 13 f.; Hettinger, JZ 2011, 292, 293. 7 Steiner, S. 31. 8 Schmid, Strafverfahren, S. 139; Heubel, S. 37. 9 Henckel, S. 59 der EGMR spreche insoweit von der „equality of arms“; vgl. auch Gaede, S. 650. 10 Stöhr, Rth 2014, 159, 164, 167; Tönnies, ZRP 1990, 292, 293 ff.; i. A. Steiner, S. 147. 11 Müller, NJW 1976, 1063, 1066 f.; Tettinger, S. 19 ff.; Steiner, S. 171. 12 Dörr, S. 147 ff.; Schaefer, FS-Rieß, S. 491. 13 BVerfGE 54, 100, 116; BVerfGE 68, 237, 255; BVerfGE 77, 65, 76; BVerfGE 85, 386, 404 f.; BVerfGE 87, 48, 65; BVerfG, NJW 2001, 2245, 2246; BVerfGE 110, 339, 340 f.; BVerfG, StV 2015, 269, 270; BVerfG, StV 2016, 409, 410. 14 BGHSt 24, 125, 131; BGHSt 36, 210, 212; BGHSt 43, 212, 214 ff.; BGH, StV 2010, 673, 674; BGH, StV 2015, 150, 151. 6

224

2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

Das BVerfG hat ein nationales Fairnessprinzip aus dem Grundgesetz entwickelt. In der ersten Entscheidung wurde dies allein auf das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG gestützt.15 Seit dem Beschluss des BVerfG vom 8. 10. 197416 wird neben dem Rechtsstaatsprinzip auch Art. 2 Abs. 1 GG angeführt.17 Damit wurde der Anspruch auf ein faires Verfahren erstmals zu einem Grundrecht aufgewertet.18 Häufig macht das BVerfG außerdem Ausführungen zur Objekttheorie,19 die besagt, dass das Individuum im Rechtsstaat nicht zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht werden darf.20 In einem letzten Entwicklungsschritt wird die grundrechtliche Absicherung des Fairnessprinzips durch direkte Bezugnahme zu Art. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG ergänzt.21 Daher können diesem Prinzip keine Gebote oder Verbote entnommen werden, es bedarf der Konkretisierung im Einzelfall.22 Der BGH folgt in seiner Auffassung im Wesentlichen dem BVerfG und nimmt eine grundgesetzliche Verankerung an. Allerdings verzichtet er häufig auf eine verfassungsrechtliche Ableitung.23 2. Europäische Ebene Auf europäischer Ebene ist das Grundrecht des fairen Verfahrens in Art. 6 EMRK kodifiziert. Dieser hat sich im Wesentlichen aus der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. 12. 1948 entwickelt.24 Wie Gaede zutreffend feststellt, sieht der EGMR in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ein Gesamtrecht auf ein faires Verfahren.25 Die in Art. 6 Abs. 1 – 3 EMRK benannten und die unbenannten, vom Gerichtshof entwickelten, Einzelrechte stellen Mindestrechte dar, die dazu beitragen sollen, das faire Verfahren zu verwirklichen.26 Ein Verfahren kann unfair sein, obwohl diese Mindestrechte gewahrt wurden, wenn mehrere prozessuale Unzulänglichkeiten additiv zu einer Verletzung des Gesamtrechts auf ein faires Verfahren 15

BVerfGE 26, 66, 71. BVerfGE 38, 105 – 120. 17 BVerfGE 38, 105, 111; BVerfGE 39, 156, 163; BVerfGE 68, 237, 255. 18 Rzepka, S. 124. 19 BVerfG, StV 1985, 177; BVerfGE 50, 205, 215. 20 Rzepka, S. 117. 21 BVerfGE 57, 250, 275; später nur noch allgemeiner Verweis auf Freiheitsrechte BVerfG, StV 2016, 409, 410; BVerfG, StV 2020, 357, 358; vgl. dazu ausführlich Jahn, ZStW 2015, 549, 564. 22 BVerfGE 63, 45, 61; BVerfGE 122, 248, 272; BVerfG, StV 2016, 409, 410; BVerfG, StV 2020, 357, 358. 23 Vgl. BGHSt 24, 15, 24; BGHSt 29, 224, 230; BGHSt 38, 102, 105. 24 Schroeder, in: Roth, Europäisierung, S. 186; Heubel, S. 30 ff.; Jugl, S. 25. 25 Gaede, S. 159; Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279, 283; vgl. Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, Art. 6 EMRK Rn. 3; SK-StPO/Paeffgen, Bd. 10 EMRK Art. 6 Rn. 70; Jahn, ZStW 2015, 549, 591. 26 Gaede, S. 427; Schroeder, in: Roth, Europäisierung, S. 187; Jugl, S. 27. 16

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes

225

führen.27 Umgekehrt stehen auch die Mindestrechte unter der Einschränkung der Gesamtbetrachtungslehre,28 sodass trotz Verletzung eines der Mindestrechte das Verfahren insgesamt nicht zwingend unfair ist. Dabei könnte es sich um eine unzulässige Einschränkung des Gesamtrechts handeln. Mindestrechte sind schon nach dem Wortlaut nicht einschränkbar.29 Auch der Einwand Schroeders,30 dass der EGMR durch die Gesamtbetrachtungslehre das Erfordernis des Beruhens übernommen habe, kann nicht überzeugen. Bei der Individualbeschwerde zum EGMR handelt es sich nicht um eine Revision im strafprozessualen Sinne, sondern vielmehr um die Rüge der Verletzung eines Menschenrechts. Für ein Beruhen im strafprozessualen Sinne oder eine Gesamtbetrachtungslehre ist deshalb kein Platz. 3. Vergleich mit dem deutschen Fairnessprinzip Der persönliche Schutzbereich des europäischen Fairnessprinzips umfasst lediglich den Angeklagten, während im deutschen Fairnessprinzip auch Zeugen, Sachverständige, Privatkläger und Nebenkläger umfasst sind.31 Art. 6 Abs. 1 enthält sieben eigene Justizmenschenrechte, unter anderem das Recht auf ein faires Verfahren. In Art. 6 Abs. 3 sind weitere acht Mindestrechte geregelt.32 Das deutsche Fairnessprinzip ist grundsätzlich durch positiv-rechtliche Normen der Strafprozessordnung geregelt und das verfassungsrechtliche Fairnessprinzip tritt bei Verletzung positiven Rechts subsidiär zurück33 und hat folglich eine „Reservefunktion“34. Dies ist aufgrund der Verknüpfung mit Art. 2 Abs. 1 GG und der Ausprägung als Generalklausel von ungewöhnlicher Weite nur folgerichtig.35 Der zeitliche Anwendungsbereich des europäischen Grundrechts war lange umstritten.36 Nach der heutigen Rechtsprechung des EGMR gilt eine Person als Angeklagter, sobald sie von der zuständigen Behörde in einer amtlichen Bekanntgabe über den Vorwurf informiert wurde37 oder eine konkludente Bekanntgabe durch deutliche Ermittlungstätigkeit vorliegt, aus der sich ein solcher Vorwurf schließen lässt.38 Der zeitliche Anwendungsbereich des deutschen Grundrechts erstreckt sich 27

Schneider, S. 374; Ambos, ZStW 2003 583, 611; MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 6 Rn. 19. 28 Widmaier/Eschelbach, MAH Strafverteidigung, § 31 Rn. 142; Rzepka, S. 26. 29 So auch Heubel, S. 35 f. 30 Schroeder, in: Roth, Europäisierung, S. 188. 31 Schneider, S. 103; KK/Lohse/Jakobs, MRK Art. 6 Rn. 7. 32 Schroeder, GA 2003, 293, 293. 33 Jahn, ZStW 2015, 549, 567. 34 Schneider, S. 376. 35 Schroeder, in: Roth, Europäisierung, S. 186. 36 Vgl. dazu Gaede, S. 166; Rohne, S. 48 f. 37 Vgl. EGMR, StV 2001, 201; Schroeder, in: Roth, Europäisierung, S. 186. 38 Dazu ausführlich: Sommer/Brüssow, u. a. Strafverteidigung, § 17 Rn. 119.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

dagegen vom Beginn des Ermittlungsverfahrens39 bis zum Strafvollstreckungsverfahren.40 III. Rechtsnatur des Fairnessprinzips Weiterhin spielt es eine entscheidende Rolle im Hinblick auf den Rechtsschutz des Einzelnen, wie die Rechtsnatur des Fairnessgrundsatzes eingeordnet wird. Auch hier ergeben sich Unterschiede auf nationaler und europäischer Ebene. 1. Rechtsnatur auf nationaler Ebene Weiterhin wird über die Rechtsnatur des Fairnessprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG gestritten. Vereinzelt wird in der Literatur angenommen, dass das Fairnessprinzip rein deklaratorisch sei,41 dies ist schon wegen der grundrechtlichen Verankerung abzulehnen. Der BGH sieht in dem Fairnessprinzip eine Prozessmaxime,42 also ein Leitprinzip im Strafverfahren.43 Das BVerfG definiert das Fairnessprinzip als Grundrecht, sodass es mittels Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann.44 Konkret wird auch von einem allgemeinen Prozessgrundrecht als Ausfluss spezieller Freiheitsrechte gesprochen.45 Je nach Auffassung ergäben sich eigentlich unterschiedliche Prüfungsfolgen. Folgt man der Auffassung des BGH und sieht das Fairnessprinzip als Prozessmaxime, prüft man die Fairness eines Verfahrens anhand der Gesamtbetrachtungslehre. Ein Verstoß liegt vor, wenn nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls in der Gesamtschau das Verfahren nicht mehr fair war.46 Daraus ergibt sich, dass trotz einzelner Verstöße nicht zwingend ein unfaires Verfahren vorliegen muss, wenn diese anderweitig kompensiert wurden.47 Andererseits kann sich die Verletzung des fairen Verfahrens aus mehreren für sich betrachtet nicht ausreichenden Verstößen ergeben.48 Teilt man die Ansicht des BVerfG und sieht das Fairnessprinzip als 39

Steiner, S. 151. Schneider, S. 103. 41 Heubel, S. 40 ff. 42 Gebot: BGHSt 29, 109, 112; BGHSt, 42, 170, 172; Recht: BGHSt 36, 305, 312; BGHSt 43, 195, 203 f.; Anspruch: BGHSt 24, 125, 131; BGHSt 29, 274, 278. 43 Brunhöber, ZIS 2010, 761, 762; zur Entwicklung der Rspr.: Rzepka, S. 129 ff.; Steiner, S. 41 ff. 44 Vgl. BVerfGE 38, 105, 111 ff.; BVerfGE 57, 250, 274 ff.; BVerfGE 63, 45, 60; BVerfG, StV 2016, 409, 413. 45 BVerfGE 57, 250, 275; vgl. BVerfGE 110, 339, 342. 46 BGHSt 53, 294, 304. 47 Valerius, in: BeckOK StPO, Art. 6 EMRK Rn. 16. 48 Vgl. BGHSt 53, 294, 306. 40

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes

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Grundrecht an, so ergäbe sich eigentlich eine klassische Grundrechtsprüfung.49 Das BVerfG erkennt eine Verletzung des fairen Verfahrens aber nur an, wenn das Verfahren in seiner Gesamtheit nicht mehr fair war.50 Daher prüft auch das BVerfG die Fairness des Verfahrens im Ergebnis anhand der Gesamtbetrachtungslehre. Diese Gesamtbetrachtung verschafft der Rechtsprechung Spielraum. Problematisch ist, dass keine konkreten Verfahrensfehler normiert sind, die zu einem unfairen Verfahren führen. Es können deshalb zahlreiche Verstöße aufgelistet werden und trotzdem kann in der Gesamtschau noch ein faires Verfahren angenommen werden. Dadurch wird ein ausreichender Schutz des Individuums nicht gewährleistet. In dieser Arbeit wird der Auffassung des BVerfG gefolgt, dass es sich bei dem Recht auf ein faires Verfahren um ein Grundrecht handelt,51 um diesem einen angemessenen Stellenwert zu gewähren. Zudem ist nur so die Geltendmachung in der Verfassungsbeschwerde möglich. 2. Nationale Bedeutung der EMRK Bei dem Fairnessgebot handelt es sich um die praktisch bedeutsamste Garantie der EMRK.52 Es ist umstritten, in welchem Verhältnis die EMRK und demnach auch Art. 6 EMRK zu nationalem Recht steht. Auch das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht im Allgemeinen war lange Zeit unklar. Während die monistischen Theorien Völkerrecht und innerstaatliches Recht als einheitliche Rechtsordnungen ansehen, gehen die dualistischen Theorien von unabhängigen „Rechtsmassen“ aus.53 Kernfrage bei der Abgrenzung von gemäßigten Monoisten und gemäßigten Dualisten ist dabei im Wesentlichen, ob das nationale Recht eigenständig ist, so die Dualisten, oder ob es lediglich eine Ableitung oder Delegation des Völkerrechts ist, so die Monoisten.54 In der modernen Staatenwelt herrscht ein dualistisches Verhältnis vor, weil Völkerrecht und staatliches Recht als getrennte Rechtsordnungen verstanden werden.55 Insbesondere ist das nationale Recht in 49

Brunhöber, ZIS 2010, 761, 762. Vgl. BVerfGE 122, 248, 272; BVerfG, StV 2016, 409, 411. 51 Ebenso Gaede, S. 383, 389, der von dem fairen Verfahren als Grundrecht auf Teilhabe ausgeht; Rzepka, S. 118 f.; Jahn, ZStW 2015, 549, 557, 564 ff., der das faire Verfahren als Abwehrfunktion und Leistungsrecht definiert; Brunhöber, ZIS 2010, 761, 762. 52 MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2 EMRK Art. 6 Rn. 1 m. w. N. 53 Rudolf, S. 129; Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 4 f. (Stand: Mai 2016); dieser Streit ist inzwischen nahezu verblasst und es ist anerkannt, dass zwischen Völkerrecht und nationalem Recht wechselseitige Einwirkungen bestehen a. A. noch Sternberg, S. 95 ff. der eine Monoismustheorie vertritt, in der dem Völkerrecht ein grundsätzlicher Vorrang eingeräumt wird. 54 Rudolf, S. 145. 55 Rudolf, S. 146; Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 4 (Stand: Mai 2016); ausführlich zum Verhältnis von Völkerrecht zum nationalen Recht im Allgemeinen: Rudolf, S. 128 – 150. 50

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

Deutschland nicht lediglich eine Ableitung des Völkerrechts, sondern eigenständig.56 Die innerstaatliche Anwendbarkeit des Völkerrechts gründet sich daher auf einen Rechtsanwendungsbefehl.57 Die Art. 25 GG und Art. 59 Abs. 2 GG ordnen in ihrem Zusammenspiel das Verhältnis zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht aus der Binnenperspektive, also für Zwecke innerstaatlicher Rechtsanwendung.58 Dabei regelt Art. 25 GG den Rechtsanwendungsbefehl für die allgemeinen Regeln, während der Art. 59 Abs. 2 GG für die völkerrechtlichen Verträge ergänzend auf den jeweiligen Zustimmungsakt verweist.59 Das BVerfG nimmt an, dass es sich bei Völkerrecht und nationalem Recht um zwei verschiedene Rechtskreise handelt und dass „die Natur dieses Verhältnisses aus Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden“ könne.60 Dies zeigen Existenz und Wortlaut von Art. 25 GG und Art. 59 Abs. 2 GG.61 Bei der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich daher um ein dualistisches System, sodass Völkerrecht und nationales Recht als eigenständige Rechtsordnungen nebeneinander stehen. Der Art. 25 GG „öffnet“ den deutschen Rechtsraum für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts.62 Dazu gehören diejenigen Normen des Völkerrechts, die unabhängig von vertraglicher Zustimmung für alle oder jedenfalls die meisten Staaten gelten.63 Die allgemeinen Normen des Völkerrechts verpflichten alle Organe der

56 Rudolf, S. 146; die monoistischen Theorien treffen heutzutage allenfalls auf internationalisierte Staatsordnungen zu, die auf völkerrechtlichen Grundlagen ruhen. So schreibt beispielsweise das Abkommen von Dayton die verfassungrechtlichen Strukturen von Bosnien und Herzegowina vor Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 4 u. Fn. 4 (Stand: Mai 2016); hier ergeben sich die nationalen Regelungen ebenfalls aus dem Völkerrecht. 57 Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 4 (Stand: Mai 2016); Jarass, in: Jarass/ Pieroth GG, Art. 25 Rn. 2. 58 Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 3 (Stand: Mai 2016). 59 Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 4 (Stand: Mai 2016). 60 BVerfGE 111, 307, 318. 61 BVerfGE 111, 307, 318; a. A. Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 2 Art. 25 Rn. 43; Rojahn, in: v. Münch/Künig, GGK I, Art. 25 Rn. 4 f.; Streinz, in: Sachs GG, Art. 25 Rn. 20, die der Ansicht sind, dass Existenz und Wortlaut des Art. 25 GG keine Entscheidung für eine bestimmte Theorie enthalten. 62 Rojahn, in: v. Münch/Künig, GGK I, Art. 24 Rn. 1; Streinz, in: Sachs GG, Art. 25 Rn. 8; Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 1 (Stand: Mai 2016). 63 Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 1 (Stand: Mai 2016); Jarass, in: Jarass/ Pieroth GG, Art. 25 Rn. 7; Voraussetzung ist, dass die Regelungen von der weltweit „überwiegenden Mehrheit“ der Staaten vgl. BVerfGE 15, 25, 34; BVerfGE 117, 141, 148; BVerfGE 118, 124, 134 bzw. der „weitaus größeren Zahl“ vgl. BVerfGE 16, 27, 33 anerkannt werden, wobei es auf die ausdrückliche Anerkennung in Deutschland nicht ankommt BVerfGE 15, 25, 34; BVerfGE 16, 27, 33; BVerfGE 117, 141, 149; BVerfGE 118, 124, 134; vgl. auch Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 25 Rn. 7.

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes

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Bundesrepublik zu völkerrechtskonformem Verhalten.64 Zudem können aus dem innerstaatlich inkorporierten Recht unmittelbar Rechte für den Einzelnen erwachsen.65 Sie haben gemäß Art. 25 S. 2 Hs. 2 GG Vorrang vor den einfachen Gesetzen.66 Im Rahmen des Art. 59 Abs. 2 GG werden „Verträge“ durch Bundesgesetze in das deutsche Recht integriert und stehen dann auch im Rang eines Bundesgesetzes.67 Einigkeit besteht darüber, dass es sich bei der EMRK nicht um Völkergewohnheitsrecht handelt, welches gem. Art. 25 S. 2 GG über dem Grundgesetz steht.68 Das liegt daran, dass jedenfalls nicht sämtliche Regelungen der EMRK europaweit anerkannt sind.69 Möglicherweise könnte der Art. 6 EMRK als Einzelregelung eine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 S. 2 GG sein. Diesen Rang haben einzelne Regelungen wie beispielsweise die Verbote der Folter Art. 3 EMRK und der Sklaverei Art. 4 EMRK.70 Der Fairnessgrundsatz aus Art. 6 EMRK stellt allerdings heute noch keine allgemein anerkannte Regelung des Völkerrechts dar.71 Eine allgemeine Anerkennung wäre wünschenswert, da Art. 6 EMRK gerade nur Mindeststandards für ein Strafverfahren aufstellt. Dem Gesetzgeber bliebe bei der Umsetzung noch ausreichend Spielraum. Diese Mindeststandards sind allerdings Voraussetzungen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens, sodass es zu begrüßen wäre, wenn Art. 6 EMRK sich als allgemeiner völkerrechtlicher Grundsatz etabliert. Aktuell ist dies aber noch nicht der Fall, sodass Art. 6 EMRK richtigerweise nicht über Art. 25 S. 2 GG anwendbar ist. 64 Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 1 (Stand: Mai 2016); Jarass, in: Jarass/ Pieroth GG, Art. 25 Rn. 6. 65 Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 1 (Stand: Mai 2016); differenzierend nach dem Inhalt der Norm: Streinz, in: Sachs GG, Art. 25 Rn. 39 f. 66 Vgl. auch BVerfGE 111, 307, 318. 67 Staebe, JA 1996, 75, 79; Echterhölter, JZ 1955, 689; Tuschhoff, S. 88; Schmid, S. 30; a. A. Streinz, in: Sachs GG, Art. 25 Rn. 21; Sternberg, S. 98 – 107 indem sie die Vollzugstheorie der Transformationstheorie vorziehen; dies ist bei Vertretern der Monoismustheorie nur folgerichtig vgl. Rojahn, in: v. Münch/Künig, GGK I, Art. 25 Rn. 4 f.; Classen, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck GG, Bd. 2 Art. 25 Rn. 38 ff.; dagegen nimmt Streinz, in: Sachs GG, Art. 25 Rn. 15 an, dass eine Zuordnung der Vollzugstheorie zum Monoismus nicht zwingend ist; wie oben ausgeführt, handelt es sich bei der Bundesrepublik Deutschland aber um ein dualistisches System, sodass hier der Transformationstheorie gefolgt wird. Folglich steht der betreffende völkerrechtliche Vertrag nach einer Transformation im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG im Rang eines einfachen Bundesgesetzes; ausführlich zur Transformations- und zur Vollzugslehre Tuschhoff, S. 66 ff. 68 So aber Bleckmann, EuGRZ 1994, 149, 153 ff.; Frowein, FS-Zeidler, Bd. II, S. 1769; dagegen: Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Einf. EMRK Rn. 82; Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 45 (Stand: Mai 2016); Jahn, ZStW 2015, 549, 562; Echterhölter, JZ 1955, 689, 690. 69 Jahn, ZStW 2015, 549, 562; Weigend, StV 2000, 384, 386; Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Einf. EMRK Rn. 82; Echterhölter, JZ 1955, 689, 690. 70 Weigend, StV 2000, 384, 386; vgl. Uerpmann, S. 67 f. 71 Jahn, ZStW 2015, 549, 562; Weigend, StV 2000, 384, 386.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

Weigend sieht auch alle sonstigen Versuche, der EMRK Verfassungsrang zu verschaffen, auf verfassungsdogmatischer Ebene als gescheitert an.72 Ein Ansatz war es, die EMRK als institutionelle Einrichtung anzusehen, der die Bundesregierung gemäß Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsgewalt übertragen hat, indem sie die EMRK ratifiziert und somit die Zuständigkeit des Straßburger Gerichtshofs anerkannt hat.73 Dagegen spricht, dass der Europäische Gerichtshof zwar eine „zwischenstaatliche Einrichtung“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG sein mag,74 allerdings haben dessen Urteile keine unmittelbare Wirkung in den Staaten, sodass hoheitliche Umsetzungsakte notwendig sind.75 Teilweise wird die EMRK auch als Ausprägung der allgemeinen menschenrechtlichen Orientierung des Grundgesetzes gesehen, wie sie in Art. 1 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommt.76 Dazu führt Weigend aber zutreffend aus, dass dieses Bekenntnis zum einen vor Abschluss der Menschenrechtskonvention abgegeben wurde und zum anderen zu allgemein ist, um Einzelnormen der EMRK als Bezugspunkt zu verstehen.77 Auch der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der Verfassung hebt die EMRK für sich genommen nicht auf Verfassungsrang.78 Zwar sind das Grundgesetz sowie die übrigen Gesetze so auszulegen, dass sie dem inkorporierten Verfassungsrecht nicht zuwiderlaufen.79 Eine allgemeine Regel, dass inkorporiertes Völkerrecht stets Vorrang vor nationalem Recht haben müsse, lässt sich diesem Grundsatz genauso wenig entnehmen80 wie eine generelle Erhebung völkerrechtlich fundierter Gesetze in den Rang von verfassungsgleichen Normen.81 72

Weigend, StV 2000, 384, 386. Ress, FS-Zeidler, Bd. II, S. 1790 – 1796; Ress, EuGRZ 1996, 350, 353; ausführlich Sternberg, S. 136 ff. m. w. N.; der Art. 24 Abs. 1 GG bewirkt nicht die Übertragung von Hoheitsrechten, sondern enthält hierfür lediglich eine Ermächtigung Uerpmann, S. 177. 74 Zum Begriff der zwischenstaatlichen Einrichtung: Callies, in: Maunz/Dürig GG, Art. 24 Rn. 43 – 48 (Stand: Dezember 2016); Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck GG, Bd. 2 Art. 24 Abs. 1 Rn. 6 ff.; Rojahn, in: v. Münch/Künig, GGK I, Art. 24 Rn. 17 ff.; Nach BK/Sauer GG, Bd. 8 Art. 24 Rn. 42 setzt schon der Begriff der „zwischenstaatlichen Einrichtung“ die Supranationalität voraus, also die Möglichkeit, Rechtsakte mit innerstaatlicher Wirkung zu erlassen. Der EGMR hat allerdings keine unmittelbare Durchgriffsbefugnis; Weigend, StV 2000, 384, 386; Sommermann, AöR 1989, 391, 408; Sternberg, S. 171; vgl. Staebe, JA 1996, 75, 80. 75 Weigend, StV 2000, 384, 386; Sommermann, AöR 1989, 391, 408; Staebe, JA 1996, 75, 80; Sternberg, S. 157 – 172. 76 Vgl. Echterhölter, JZ 1955, 689, 691; Sommermann, AöR 1989, 391, 417 f.; Sternberg, S. 219 – 227; Staebe, JA 1996, 75, 79. 77 Weigend, StV 2000, 384, 386; ähnlich Staebe, JA 1996, 75, 79. 78 Weigend, StV 2000, 384, 386; vgl. auch BVerfGE 74, 358, 370; BVerfGE 111, 307, 318 f. 79 BVerfGE 74, 358, 370; BVerfGE 111, 307, 317. 80 BVerfGE 31, 58, 75 f.; BVerfGE 74, 358, 370; BVerfGE 111, 307, 318 f. 81 Weigend, StV 2000, 384, 386. 73

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes

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Die beinahe allgemeine Ansicht, insbesondere die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH, sehen die EMRK daher als ratifizierten völkerrechtlichen Vertrag gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG an, der formal im Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht.82 Der deutsche Gesetzgeber hat mit Gesetz vom 7. 8. 1952 die erforderliche Ratifizierung gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG vorgenommen.83 Eine Verfassungsbeschwerde kann sich daher nicht direkt auf eine Verletzung des Art. 6 EMRK berufen, da dieser nicht im Prüfungsmaßstab des BVerfG liegt.84 Es verbleibt die Möglichkeit der Individualbeschwerde zum EGMR.85 Allerdings sind aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit der Verfassung sowohl jüngere gleichrangige Gesetze als auch die Verfassung selbst im Sinne der EMRK auszulegen.86 An einem Verfahren nicht beteiligte Vertragsstaaten sind gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK nicht an das Urteil gebunden. Trotzdem geht von der Rechtsprechung des EGMR auch eine Orientierungswirkung aus.87 Die Urteile des EGMR haben zwar keine kassatorische Wirkung, die nationale Rechtsprechung ist aber wenigstens mittelbar über § 359 Nr. 6 StPO auch an die Rechtsprechung des EGMR gebunden.88 Daher steht Art. 6 Abs. 1 EMRK faktisch über dem einfachen deutschen Recht.89 Aufgrund der mangelnden Kodifizierung im deutschen Recht wäre es wünschenswert, wenn der Art. 6 EMRK auch im deutschen Recht Verfassungsrang

82 St. Rspr.: BVerfGE 74, 358, 370; BVerfGE 82, 106, 114; BVerfGE 111, 307, 317 f.; BVerfGE 128, 326, 367; BGHSt 49, 112, 121; Lit: Weigend, StV 2000, 384, 386; Gaede, StV 2004, 47, 49; Jahn, ZStW 2015, 549, 562; Uerpmann-Wittzack, Jura 2014, 916, 920; Uerpmann, S. 71 ff.; Safferling, NStZ 2004, 181, 186; Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Einf. EMRK Rn. 86; Herdegen, in: Maunz/Dürig GG, Art. 25 Rn. 45 (Stand: Mai 2016); Staebe, JA 1996, 75, 79; Henckel, S. 53; Schmid, S. 30; Schneider, S. 373. 83 BGBl. II 1952, S. 685; Art. II Abs. 1 besagt „Die Konvention wird nachstehend mit Gesetzeskraft veröffentlicht“; vgl. Uerpmann, S. 72; Weigend, StV 2000, 384, 386; zur Bedeutung der Bekanntmachung im Bundesgesetzblatt Tuschhoff, S. 84 ff. 84 BVerfGE 34, 384, 395; BVerfGE 41, 126, 149; BVerfGE 64, 135, 157; BVerfGE 111, 307, 317; vgl. Rzepka, S. 123; eine Verfassungsbeschwerde kann sich allerdings natürlich auf das nationale Fairnessprinzip berufen; Sternberg, S. 227 stützt sich bei einer Verfassungsbeschwerde, die sich auf einen Verstoß gegen die EMRK bezieht, auf Art. 1 Abs. 2 GG; vgl. auch Ress, FS-Zeidler, Bd. II, S. 1796. 85 Rzepka, S. 13 ff.; Schroeder, in: Roth, Europäisierung, S. 184. 86 Vgl. BVerfGE 74, 358, 370; BVerfGE 120, 180, 199 f.; Gaede, StV 2004, 47, 49; Sternberg, S. 227; Schneider, S. 101 f., 373. 87 Haug, NJW 2018, 2674, 2675; Renzikowski, JZ 1999, 605, 611; Rohne, S. 46; Ambos, ZStW 2003, 583, 591 f.; Uerpmann-Wittzack, Jura 2014, 916, 922. 88 Weigend, StV 2000, 384, 388; Uerpmann-Wittzack, Jura 2014, 916, 921; Safferling, NStZ 2004, 181, 186; Ambos, ZStW 2003 583, 591; vgl. BVerfGE 128, 326, 368; so schon der Vorschlag von Uerpmann, S. 216. 89 Ambos, ZStW 2003, 583, 587; Schroeder, in: Roth, Europäisierung, S. 184; vgl. Haug, NJW 2018, 2674, 2675; a. A. Schmid, S. 33 der dies nur in Einzelfällen anerkennt und in der völkerrechtskonformen Auslegung keine generelle Besserstellung sieht.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

hätte.90 Allerdings besteht aktuell aus rechtsdogmatischer Sicht wohl kaum eine Chance, den Art. 6 EMRK auf Verfassungsrang zu heben. Damit steht der Art. 6 EMRK faktisch auf dem Rang eines einfachen Bundesgesetzes, dient aber wegen der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes auch bei der Auslegung des einfachen Rechts als Orientierungshilfe. Damit muss Art. 6 EMRK auch bei der Auslegung der StPO berücksichtigt werden. Dadurch überschneiden sich die Schutzbereiche des nationalen und des europäischen Prinzips ohnehin weitgehend.91 3. Zwischenergebnis Bei dem deutschen „fair-trial“-Prinzip handelt es sich um ein sehr komplexes Prinzip, bei dem im Einzelnen vieles umstritten ist. Das liegt insbesondere an der fehlenden Normierung in der StPO, die eine richterrechtliche Entwicklung notwendig gemacht hat. Dass auch im Hinblick auf das europäische „fair-trial“-Prinzip noch Reformbedarf besteht, wird schon aufgrund des Prüfungsmaßstabes deutlich. Einerseits stellt Art. 6 EMRK Mindestrechte auf, die ein faires Verfahren gewährleisten sollen. Andererseits kann das Verfahren trotzdem noch fair sein, wenn es in seiner Gesamtheit fair ist. Dies widerspricht schon dem Wortlaut der „Mindestrechte“. Wenn nicht einmal die Mindestrechte gewahrt sind, dann sollte zumindest eine starke Vermutung dafür sprechen, dass auch das Verfahren insgesamt nicht fair gewesen sein kann.92 Der Art. 6 EMRK dient im deutschen Recht als Auslegungshilfe für die Vorschriften der StPO und steht somit faktisch über dem deutschen Recht. De lege ferenda wäre es wünschenswert, wenn der Art. 6 EMRK durch positivrechtliche Verankerung oder Anerkennung als allgemeiner völkerrechtlicher Grundsatz doch noch auf Verfassungsrang gehoben würde. IV. Materieller Gehalt des Fairnessprinzips Das BVerfG betont immer wieder, dass sich aus dem Fairnessprinzip keine allgemein gültigen Gebote oder Verbote herleiten lassen, sondern eine Konkretisierung im Einzelfall erfolgen muss.93 Eine positive Definition des Fairnessprinzips in Deutschland existiert aktuell nicht.

90 Vgl. Uerpmann, S. 243 der sogar einen Verfassungsrang der gesamten EMRK befürwortet. 91 Rabe, S. 267 f.; Brunhöber, ZIS 2010, 761, 764; vgl. etwa BVerfGE 110, 339, 342 der in seiner Definition des nationalen Fairnessprinzips auf Art. 6 EMRK verweist. 92 Vgl. Ambos, ZStW 2003, 583, 611 ff.; Heubel, S. 35 ff.; Schroeder, in: Roth, Europäisierung, S. 188. 93 Vgl. BVerfGE 70, 297, 308.

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes

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1. Systematische Einordnung Wegen der Ableitung des Fairnessgrundsatzes aus der allgemeinen Handlungsfreiheit ist es nur folgerichtig, dass das Recht des Beschuldigten grundsätzlich positivrechtlich durch die Strafprozessordnung geregelt ist.94 Es handelt sich um ein normgeprägtes Grundrecht.95 Das Recht des Beschuldigten auf Persönlichkeitsentfaltung verwirklicht sich gemäß Art. 2 Abs. 1 GG innerhalb der dreigeteilten Schranken, insbesondere innerhalb der geltenden verfassungsmäßigen Ordnung.96 Liegt ein Verstoß gegen das geschriebene Recht vor, so tritt ein Verstoß gegen den „fair-trial“-Grundsatz zurück.97 Die Auffangfunktion des „fair-trial“-Grundsatzes ergibt sich auch aus seiner Ableitung aus der allgemeinen Handlungsfreiheit.98 Aufgrund der Subsidiarität des Fairnessgrundsatzes bleibt für dessen Prüfung auch nur dann Raum, wenn kein Verstoß gegen die vorrangigen Prozessgrundrechte der Art. 103 Abs. 1, 101 Abs. 2 GG vorliegt.99 2. Definition des Fairnessgrundsatzes Währen einige Autoren auch weiterhin versuchen, eine Umschreibung des Fairnessgrundsatzes anhand von Fallgruppenbildung zu entwickeln, versuchen andere Autoren sich an einer abstrakten Definition. a) Umschreibung des Fairnessgrundsatzes anhand von Fallgruppen Gaede sieht in dem Recht auf ein faires Verfahren ein Grundrecht auf Teilhabe am Verfahren und folgert daraus das Recht des Angeklagten, in einem ergebnisoffen gestalteten Verfahren umfassend an der Erarbeitung der Entscheidungsgrundlage mitzuwirken.100 Dieses Recht knüpfe laut Gaede an die Rechtsprechung des EGMR an und stellt ein „einendes Motiv“ für die Rechtsprechung des EGMR dar.101 Auch Henckel geht bei dem Versuch seiner Definition von der Menschenwürde aus. Er folgert aus der Menschenwürde insbesondere die Subjektstellung des An-

94 Jahn, ZStW 2015, 549, 567; Brunhöber, ZIS 2010, 761, 766; Kudlich/Oglakcioglu, FSYenisey, S. 956 f.; vgl. Henckel, S. 53 f.; der Grundsatz kommt somit grundsätzlich nur zur Anwendung, wenn keine spezielle Norm in der StPO existiert Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, Einl. 19; Meyer-Goßner, NStZ 1982, 353, 362; Hamm, FS-Salger, S. 290. 95 Jahn, ZStW 2015, 549, 567; Brunhöber, ZIS 2010, 761, 766; Kudlich/Oglakcioglu, FSYenisey, S. 956 f. 96 Jahn, ZStW 2015, 549, 567; vgl. Brunhöber, ZIS 2010, 761, 766. 97 Jahn, ZStW 2015, 549, 567. 98 Jahn, ZStW 2015, 549, 567; Rabe, S. 266 f. 99 Hartmann/Apfel, Jura 2008, 495, 500; Jahn, ZStW 2015, 549, 565. 100 Gaede, S. 920. 101 Gaede, S. 921.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

geklagten im Strafprozess.102 Er richtet sich beim Versuch, den materiellen Gehalt des Fairnessprinzips zu bestimmen, aber stark nach Art. 6 EMRK sowie der Rechtsprechung des EGMR und der nationalen Gerichte. Im Ergebnis nimmt er so wieder eine Umschreibung durch Fallgruppen vor. Zudem orientiert er sich stark an dem Ansatz von Gaede, sodass in dem Konzept von Henckel eine gelungene Auswertung der relevanten Rechtsprechung und Literatur zum Fairnessgrundsatz zu sehen ist. Das Fairnessprinzip bedeute insbesondere, dass der Angeklagte in der Lage sein müsse, einen eigenen Beitrag zur Urteilsfindung zu leisten, auf Verlauf und Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss zu nehmen und sich des Grundrechtseingriffes durch die Strafverfolgungsbehörden zu erwehren.103 Laut Henckel handele es sich daher um ein Teilhaberecht zur effektiven Partizipation am gesamten Prozess der Urteilsfindung.104 Aus der Stellung als Verfahrenssubjekt ergebe sich unmittelbar, dass der Beschuldigte autonom über seine Rolle im Strafverfahren entscheiden solle.105 Die Entscheidung darüber, ob und wie seine Interessen im Verfahren geschützt werden, müsse er grundsätzlich selbst treffen.106 Die Autonomie sei aber nur dann gewahrt, wenn der Beschuldigte die Entscheidung aufgrund aller wesentlichen Informationen treffen kann. Grundlage der Eigenverantwortlichkeit sei ausreichendes Wissen des Angeklagten.107 Dazu müsse er weitgehende Kenntnis vom Verfahrensinhalt haben.108 Die Kenntnis von nur einzelnen Verfahrensschritten reiche dabei nicht aus, der Beschuldigte müsse sich ein Bild vom Gesamtverfahren machen können.109 Gleichzeitig sei allerdings keine Allwissenheit des Beschuldigten zu verlangen. Insbesondere für schwierige Aspekte des Strafverfahrens sehe das Recht auf ein faires Verfahren die Zuziehung eines Verteidigers vor.110 Mit der Subjektstellung des Beschuldigten gehe es auch einher, dass der Beschuldigte für seine Verteidigung grundsätzlich selbst verantwortlich ist.111 Mit dieser Sphäre der Eigenverantwortlichkeit gehe auch Verantwortung für das eigene Wissen einher.112 Als elementare Voraussetzung sieht Henckel das Recht des Angeklagten auf Teilnahme in der 102

Henckel, S. 56. Henckel, S. 56; vgl. auch BVerfGE 110, 226, 253; BVerfGE 133, 168, 199; Gaede, S. 389; Steiner, S. 167; Seppi, S. 92. 104 Henckel, S. 56; vgl. auch BVerfGE 66, 313, 318 f.; BVerfGE 110, 226, 253; Gaede, S. 391 f. 105 Henckel, S. 56 f. 106 Henckel, S. 57. 107 Henckel, S. 57; vgl. BGHSt 25, 325, 330; Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Art. 6 EMRK Rn. 177, 197. 108 Henckel, S. 57; EGMR, S.C/GBR, 60958/00 Rn. 29. 109 Henckel, S. 57. 110 Henckel, S. 57; EGMR, Stanford/GBR, 16757/90 Rn. 30; EGMR, S.C. v. GBR, 60958/ 00 Rn. 29; vgl. Gaede, S. 502 ff. 111 Henckel, S. 58; vgl. Gaede, S. 478 ff. 112 Henckel, S. 58; vgl. EGMR, Bykow/RUS, 4378/02 Rn. 102. 103

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes

235

Hauptverhandlung.113 Die gesetzlichen Regeln würden außerdem zeigen, dass die Anwesenheit sich nicht rein auf die formelle Hauptverhandlung beschränke, sondern sich auf alle entscheidenden Teile des Verfahrens einschließlich der Beweiserhebung erstrecken müssen.114 Nur so sei die effektive Partizipation des Beschuldigten sichergestellt. Die Verfahrenstransparenz bilde so die Grundlage eines ausreichenden Wissens über das Verfahren und sei Grundlage für eine ausreichende Verteidigung.115 Weitere Prinzipien ließen sich dem Prinzip der Waffengleichheit entnehmen. Daraus ergebe sich, dass jede Schlechterstellung des Beschuldigten unterbleiben müsse und beide Seiten im Laufe des Verfahrens gleichwertige Einwirkungsmöglichkeiten haben müssen.116 Voraussetzung hierfür sei wiederum die „Parität des Wissens“.117 Zudem ergeben sich laut Henckel aus dem Fairnessprinzip Handlungspflichten für den Staat.118 Die verfahrensstrukturell bedingten Wissensdefizite führen dazu, dass der Angeklagte sein Recht auf effektive Teilhabe nicht ausüben könne. Aus dem fairen Verfahren ergäbe sich auch, einer Benachteiligung des Beschuldigten entgegenzuwirken und Nachteile auszugleichen. Deutlich werde diese Fürsorgepflicht auch beim Ausschluss des Angeklagten von der Hauptverhandlung.119 Als Ausgleich hierfür müsse der Staat gewährleisten, dass der Angeklagte jederzeit alle für seine Verteidigung erheblichen Tatsachen und Rechtsfragen erkennen kann, um seine verfahrensrechtlich eingeräumten Befugnisse ungeschmälert und aufgrund eigener Entscheidung wahrnehmen zu können.120 Dazu könne der Staat die Transparenz auch durch nachträgliche Information des Beschuldigten herstellen.121 Dies umfasse insbesondere Informations- und Transparenzpflichten, um eine ausreichende Kenntnis vom Verfahrensstand zu garantieren und Wissensmängel zu verhindern.122 Gerade Wissensdefizite, die durch staatliches Handeln geschaffen wurden, begründen eine höhere Transparenzpflicht.123 Ihre Grenzen finden die Handlungs113

Henckel, S. 58; vgl. EGMR, Poitrimol/FRA, 14032/88 Rn. 32; EGMR, Zana/TUR, 18954/91 Rn. 68; EGMR, Mantovanelli/FRA, 21497/93 Rn. 33 f.; BGHSt 55, 87, 89; Rzepka, S. 391. 114 Henckel, S. 58; Rzepka, S. 391. 115 Henckel, S. 59. 116 Henckel, S. 59; vgl. Gaede, S. 650. 117 Henckel, S. 59; BGHSt 36, 305, 309; Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Art. 6 EMRK Rn. 212; vgl. EGMR, Reinhardt u. Slimane-Kaid/FRA, 23043/93, 22921/93 Rn. 103; EGMR, Voisine/FRA, 27362/95 Rn. 27 ff. 118 Henckel, S. 59. 119 Henckel, S. 60. 120 Henckel, S. 61; vgl. BGHSt 25, 325, 330; Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Art. 6 EMRK Rn. 201; SK-StPO/Rogall, Bd. 2 Vor § 133 Rn. 114; Rzepka, S. 348; Tettinger, S. 16. 121 Henckel, S. 60. 122 Henckel, S. 61; vgl. Löwe-Rosenberg/Kühne, Bd. 1 Einl. I Rn. 124; SK-StPO/Rogall, Bd. 2 Vor § 133 Rn. 116. 123 Henckel, S. 61; vgl. Amelung, StV 1985, 257, 263.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

pflichten wiederum in der Subjektstellung des Beschuldigten, dem eine wirksame Verteidigung auch nicht aufgedrängt werden dürfe.124 b) Abstrakte Definition des Fairnessgrundsatzes Der Weg zur Präzisierung des Anwendungsbereiches kann allein über die Fortsetzung der Fallgruppenbildung125 nicht gelingen.126 Vielmehr ist der Anwendungsbereich ausgehend vom Zweck des Rechtsinstituts zu definieren.127 Die Fairness selbst ist kein Verfahrensziel sondern nur ein Prinzip zu dessen Erreichung.128 Während Hörnle bei ihrer Definition an das Prinzip der Wahrheitsfindung anknüpft,129 schlägt Jahn zutreffend vor, die Konkretisierung des Fairnessprinzips in Zukunft verstärkt in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zu suchen.130 Dabei ist er der Ansicht, dass dieser zweiten „Wurzel“ des Fairnessprinzips bislang nicht ausreichende inhaltliche Konkretisierung zuteil geworden sei.131 Während die Würde des Menschen den Grund des Verfassungsstaates bilde, sei der Fairnessgrundsatz das prozessuale Pendant im rechtsstaatlichen Verfahren.132 Allerdings existieren auch im Bereich der Menschenwürdegarantie zwar zahlreiche Fallgruppen, eine positive Umschreibung gibt es allerdings nicht.133 Die Menschenwürde werde als situationsbedingt wertausfüllungsbedürftige Generalklausel verstanden.134 Daraus folgert Jahn, dass auch für den Fairnessgrundsatz eine positive Umschreibung nicht möglich ist.135 Die Abwesenheit von Fairness müsse immer dann festgestellt werden, wenn über die Position des Grundrechtsträgers nur noch von Obrigkeits wegen verfügt werde.136 Mit dieser Anknüpfung will Jahn verhindern, dass der Fairnessgrundsatz 124 Henckel, S. 61 f.; vgl. Löwe-Rosenberg/Kühne, Bd. 1 Einl. I Rn. 126; SK-StPO/Rogall, Bd. 2 Vor § 133 Rn. 114. 125 So beispielsweise Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 28; Löwe-Rosenberg/ Kühne, Bd. 1 Einl. I Rn. 107; Rzepka, S. 154 ff., 191 ff.; Rabe, S. 267 f.; vgl. Henckel, S. 54; Müller, S. 95; Moldenhauer, S. 52 f.; Rönnau, S. 208 ff.; Siolek, S. 138 ff. 126 Jahn, ZStW 2015, 549, 569; Hörnle, Rth 2004, 175, 192; Berkemann, JR 1989, 221, 222. 127 Jahn, ZStW 2015, 549, 569. 128 Jahn, ZStW 2015, 549, 569; Hörnle, Rth 2004, 175, 192, 194; Eser, FS-Schünemann, S. 1054; Renzikowski, FS-Lampe, S. 800; Steiner, S. 136; i. A. Neumann, ZStW 1989, 52, 60 f. 129 Hörnle, Rth 2004, 175, 192. 130 Jahn, ZStW 2015, 549, 569; ebenso: Brunhöber, ZIS 2010, 761, 767; Henckel, S. 55 f.; i. A. Rabe, S. 267 f. 131 Jahn, ZStW 2015, 549, 569. 132 Jahn, ZStW 2015, 549, 569; vgl. auch Hörnle, Rth 2004, 175, 194. 133 Jahn, ZStW 2015, 549, 569; Becker, S. 126 f.; vgl. hierzu Teifke, S. 33 ff. 134 Jahn, ZStW 2015, 549, 570; ebenso Höfling, in: Sachs GG, Art. 1 Rn. 8; vgl. Teifke, S. 67 f.; Blömacher, S. 164 ff. 135 Jahn, ZStW 2015, 549, 570. 136 Jahn, ZStW 2015, 549, 570; i. A. Löwe-Rosenberg/Kühne, Bd. 1 Einl. I Rn. 108 allerdings als eine von vielen Fallgruppen.

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes

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zur „kleinen Münze im Alltagsbetrieb der Justiz“ verkomme.137 Zudem werde der Gefahr vorgebeugt, dass durch die extensive Anwendung des „Weichmachers Fairness“ die Wertungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers durch eine schwer kritisierbare „globale Großformel“ überspielt werde.138 Jahn sieht das Fairnessprinzip für den Strafrichter daher als Auslegungsrichtlinie mit systemimmanenter Kontroll- und Berichtigungsfunktion, vergleichbar einem Virenscanner.139 Dies werde dadurch gerechtfertigt, dass das Gerichtsverfahren ein Beispiel für unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit sei.140 Allerdings sei dann, wenn das geschriebene Prozessrecht den verfassungsrechtlichen Fairnessanforderungen nicht genügt, ein direkter Rückgriff auf das allgemeine Prozessgrundrecht methodisch zulässig und sogar geboten.141 Dies sei allerdings sorgfältig und mit Behutsamkeit nachzuweisen, da es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers sein müsse, unter mehreren Methoden diejenigen auszuwählen, die dem Fairnessprinzip genügen. Nur wenn Unverzichtbares preisgegeben werden müsse, dürfe der Rechtsanwender selbst eigene Folgerungen für die Ausgestaltung des Strafverfahrens ziehen.142 Der Rechtsanwender müsse dann auf den „fair-trial“-Grundsatz zurückgreifen, wenn im gesetzlichen Normprogramm ein offensichtlich grober Verstoß gegen die Grundgedanken der Rechtsstaatlichkeit zum Ausdruck komme.143 In diesem Fall müsse sich das Gesetz unmittelbar dem Rechtsstaatsprinzip unterordnen.144 Das „fair-trial“Prinzip bleibe daher nur „Nothelfer des Prozessrechts“ angesichts ärgster Verstöße.145 3. Stellungnahme Das Fairnessprinzip kommt, wie oben gezeigt, aus dem adversatorischen Strafprozess, in dem der „Wettkampf“ zwischen den beiden Parteien „fair“ sein muss. Im Inquisitionsprozess steht die systematische Ermittlung der Wahrheit im Vordergrund, sodass hier für den Fairnessgrundsatz in seiner ursprünglichen Gestalt kein Platz bleibt. Schon Radbruch erkannte, dass „fair“ ein Wort ist, das sich ins Deutsche nicht übersetzen lasse, aber ein in die deutsche Sprache aufgenommenes Fremdwort 137 Jahn, ZStW 2015, 549, 570; Rzepka, S. 441 kritisierte bereits die inflationäre Anwendung des Fairnessgrundsatzes, die ihren Grund insbesondere in der fehlenden Definition habe. 138 Jahn, ZStW 2015, 549, 570. 139 Jahn, ZStW 2015, 549, 571; auch Brunhöber, ZIS 2010, 761, 769 ist der Ansicht, dass strafprozessuale Vorschriften im Lichte des Fairnessgrundsatzes verfassungskonform ausgelegt werde müssen, wenn sie in dessen Schutzbereich fallen. Zudem müsse der Fairnessgrundsatz bei Ermessensentscheidungen berücksichtigt werden. 140 Jahn, ZStW 2015, 549, 571. 141 Jahn, ZStW 2015, 549, 572. 142 Jahn, ZStW 2015, 549, 572; ebenso Renzikowski, FS-Lampe, S. 791. 143 Jahn, ZStW 2015, 549, 573. 144 Jahn, ZStW 2015, 549, 573. 145 Jahn, ZStW 2015, 549, 574.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

darstelle.146 Allerdings hat sich, wie oben147 gezeigt, auch der deutsche Strafprozess von einem rein inquisitorischen Prozess weg entwickelt und enthält nun teilweise adversatorische Elemente. Trotzdem muss eine sinnvolle Definition von Fairness an den deutschen Strafprozess angepasst werden. Dabei erscheint es sinnvoll, von der Menschenwürde auszugehen und alle weiteren Folgerungen darauf aufzubauen. Der Fairnessgrundsatz stellt daher im deutschen inquisitorischen Strafprozess vielmehr einen Schutz des Beschuldigten vor einer Wahrheitssuche um jeden Preis dar. Es geht insofern um die „gerechte“ Wahrheitsfindung.148 Zwar setzt Gerechtigkeit auch eine korrekte Tatsachenbasis voraus, es kann aber im reformierten Inquisitionsprozess kein faires Verfahren geben, wenn der Schuldnachweis gegen den Beschuldigten mit rechtswidrig erlangten Beweisen geführt wird. Problematisch ist an der Ansicht von Jahn zwar, dass dies dazu führen könnte, dass der Fairnessgrundsatz ähnlich „hoch aufgehängt“ wird wie die Menschenwürde und die Feststellung von Verstößen so ähnlich restriktiv gehandhabt werden könnte. Trotzdem ist sowohl die Herleitung als auch die Begründung überzeugend. Bei einem derart weiten Prinzip kann das Aufstellen einer positiven Definition kaum sinnvoll gelingen. Die Ausführungen von Henckel sind sehr hilfreich, stellen aber eher eine Zusammenfassung des Meinungsstandes dar als eine allgemeine Definition. Die Fallgruppen, die Henckel nennt, sind mit Sicherheit größtenteils auch von der Definition Jahns umfasst. Es handelt sich aber dem Grunde nach um eine Darstellung der bisherigen Rechtsprechung. Folglich bieten die Ausführungen von Henckel eine gute Orientierungshilfe, können aber im Gegensatz zum Ansatz von Jahn keine allgemeingültige Definition liefern. Zudem ist auch das Ergebnis überzeugend und sorgt dafür, dass dem Fairnessgrundsatz der Stellenwert zukommt, der ihm entspricht. Eine Prüfung des Fairnessgrundsatzes in jedem Verfahren würde diesen zu einer bloßen Floskel verkommen lassen und würde zudem die Strafprozessordnung als Ausdruck des Fairnessgrundsatzes überflüssig machen. Jahn ist es somit erstmals gelungen, eine sinnvolle Definition des Fairnessprinzips abseits der Fallgruppenbildung aufzustellen. Folglich wird der oben gewählte Ansatz weiter verfolgt. Die formellen Gesetze müssen sich aber auch nach der Ansicht von Jahn am Fairnessgrundsatz messen lassen.149 Dies darf nicht erst bei offensichtlichen und gravierenden Mängeln gelten. Dabei handelt es sich auch nicht um einen Verstoß gegen die Gewaltenteilung, weil der Gesetzgeber auch weiterhin die Möglichkeit hat, nachzubessern. Der 146

Radbruch, S. 15. 2. Kapitel § 1 A. 148 Conen, FS-Eisenberg, S. 471; Eser, FS-Schünemann, S. 1054; Jahn, ZStW 2015, 549, 569; vgl. BGHSt 38, 372, 374; Hörnle, Rth 2004, 175, 192; Renzikowski, FS-Lampe, S. 800; Schünemann, GA 2018, 181, 188; i. A. Neumann, ZStW 1989, 52, 60 f. 149 Das heißt natürlich nicht, dass der Rechtsanwender in der Praxis diese unangewandt lassen darf. Allerdings soll in dieser Arbeit geprüft werden, ob die Verständigungsgesetze mit dem Fairnessgrundsatz vereinbar sind. Ist dies nicht der Fall, so wäre es aber Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, diese für nichtig zu erklären. 147

A. Theoretische Grundlagen des „fair-trial“-Grundsatzes

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Fairnessgrundsatz gilt daher in erster Linie als Auslegungshilfe und führt in der Rechtsanwendung durch die Gerichte erst bei offensichtlichen und groben Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit zu Konsequenzen. Um eine Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers auszulösen, muss aber jeder Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz ausreichend sein. Im Gegensatz zum nationalen Recht ist im Rahmen des Art. 6 EMRK ein Verzicht auf die Anwesenheit möglich.150 Allerdings werden hieran strenge Anforderungen gestellt. Das Verhalten des Beschuldigten muss eindeutig darauf schließen lassen, dass er dem Prozess fernbleiben will.151 Zudem muss der Staat eine Reihe von Schutzmaßnahmen für das Anwesenheitsrecht bereitstellen und der Verzicht darf nicht gegen wichtige öffentliche Interessen verstoßen.152 Das Recht des Beschuldigten auf Anwesenheit ist also einerseits weiter als im Rahmen des rechtlichen Gehörs, weil es nicht nur auf die Hauptverhandlung beschränkt ist. Andererseits ist es auch enger, weil ein Verzicht problemlos möglich ist. Es handelt sich nicht um eine Anwesenheitspflicht.153 V. Rechtsschutz des Einzelnen Da es sich beim fairen Verfahren um ein allgemeines Prinzip handelt, das in den unterschiedlichsten Konstellationen auftritt, kann es keine allgemeine Rechtsfolge bei einem Verstoß geben. Die Rechtsfolge muss den jeweiligen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens so kompensieren, dass das Verfahren in seiner Gesamtbetrachtung wieder fair ist. 1. Strafmilderungsgrund Teilweise wird von der Rechtsprechung ein Strafmilderungsgrund angenommen.154 Diese Rechtsprechung wurde zwar dogmatisch verändert, faktisch stellt die neuerdings angewandte „Vollstreckungslösung“155 aber immer noch einen „QuasiStrafmilderungsgrund“ dar. Insgesamt muss der Beschuldigte bei Anwendung beider Prinzipien eine geringere Geldstrafe bezahlen oder eine kürzere Zeit in Haft verbringen. 150

Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Art. 6 EMRK Rn. 665. Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Art. 6 EMRK Rn. 666. 152 Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Art. 6 EMRK Rn. 666. 153 Löwe-Rosenberg/Esser, Bd. 11 Art. 6 EMRK Rn. 665; vgl. EGMR, Zana/TUR, 18954/ 91 Rn. 68. 154 Vgl. BGHSt 46, 159, 169 f. beispielsweise bei Nichteinhaltung einer Zusage durch die Staatsanwaltschaft oder überlanger Verfahrensdauer. 155 Wie bei der Strafzumessungslösung wird die Intensität des Grundrechtseingriffs berücksichtigt. Statt die Strafe zu senken, wird eine Gesamtstrafe gebildet und ein Teil davon wieder abgezogen. Dieser gilt als vollstreckt; vgl. BGHSt 52, 124, 147; Plankemann, S. 141. 151

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2. Annahme eines Verfahrenshindernisses Das BVerfG hat die Kompensierung von Verstößen gegen das faire Verfahren durch ein Verfahrenshindernis in Extremfällen bereits im Jahr 1983 bejaht.156 Es kommen nur Umstände in Betracht, „die nach dem ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes so schwer wiegen, dass von ihrem Nichtvorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im Ganzen abhängig gemacht werden muss.“157 In der Praxis wurde zumindest im Kontext des überlangen Verfahrens nie ein Verfahrenshindernis angenommen.158 Auch bei einer „rechtswidrigen Tatprovokation“159 wurde früher lediglich ein Strafmilderungsgrund angenommen.160 Das zentrale Argument für die Ablehnung eines Verfahrenshindernisses war insbesondere die Unbestimmtheit des „fair-trial“-Prinzips und die daraus folgende Rechtsunsicherheit.161 Nachdem dies vom EGMR allerdings abgelehnt wurde,162 ist die Rechtsprechung bereits vereinzelt zur Annahme eines Verfahrenshindernisses gekommen.163 Bevor die Annahme eines Verfahrenshindernisses aus dem verfassungsrechtlichen Prinzip des fairen Verfahrens erfolgt, müssen wegen der Subsidiarität erst die strafprozessualen Mittel der §§ 153 ff. StPO ausgeschöpft werden.164 Erst wenn die strafprozessualen Mittel zur Kompensation nicht ausreichen, darf das Gericht wegen eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen nach § 206a oder § 260 Abs. 3 StPO das Verfahren einstellen.165 Bei schweren Verstößen ist daher zumindest ab einer gewissen Eingriffsintensität ein Verfahrenshindernis anzunehmen.166 156

BVerfG, NStZ 1984, 128. BGHSt 37, 10, 13. 158 Hies, S. 132. 159 Unter „rechtswidriger Tatprovokation“, auch bezeichnet als „Lockspitzeleinsatz“, wird verstanden, dass der Lockspitzel eine Person aus Strafverfolgungszwecken zu einer strafgesetzeswidrigen Handlung verleiten soll Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279; vgl. BGHSt 45, 321, 328; BGHSt 47, 44, 47; dazu ausführlich die Beispielsfälle bei Schmidt, S. 16 ff. 160 Vgl. st. Rspr. BGHSt 45, 321, 323; BGHSt 47, 44, 47; BGH, NStZ 2014, 277, 280; Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279. 161 BGHSt 32, 345, 350; BGHSt 33, 283, 283 f.; BGHSt 37, 10, 13; BGHSt 42, 191, 193; BGHSt 45, 321, 333 f.; dieser Einwand wurde durch die vorstehenden Konkretisierungen allerdings entkräftet Jahn, ZStW 2015, 549, 576. 162 EGMR, NJW 2015, 3631, 3635. 163 BGHSt 60, 276, 290; OLG Rostock, StV 2011, 220, 221; LG Bremen, StV 2011, 223; LG Berlin, StV 1991, 371, 397; kritisch: Hanack, JZ 1971, 705, 713; Rieß, JR 1985, 45, 48; Wohlers, JR 1994, 138, 141. 164 Vgl. Plankemann, S. 89. 165 Plankemann, S. 89. 166 Jahn, ZStW 2015, 549, 576; Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279, 286; ebenso: Saliger, ZStW 2004, 35, 61; Löwe-Rosenberg/Kühne, Bd. 1 Einl. I Rn. 116; Tyszkiewicz, S. 223 f.; Schuska, S. 95, 134; sinngemäß: Rieß, JR 1985, 45, 48; ebenso in der Rspr: OLG Rostock, StV 2011, 220, 221; LG Bremen, StV 2011, 223; LG Berlin, StV 371, 397; a. A. Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, Einl. 19a, 148; SK-StPO/Rogall, Bd. 2 Vor § 133 Rn. 105; Rspr. BGHSt 32, 157

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3. Beweisverwertungsverbot Eine weitere mögliche Konsequenz ist ein Beweisverwertungsverbot. Dieses resultiert allerdings nicht alleine aus dem fairen Verfahren,167 sondern dient der Kompensation einer rechtswidrigen Beweiserlangung, die das Verfahren bei Verwertung des Beweises unfair werden lassen würde.168 Die Rechtswidrigkeit der Beweiserlangung resultiert dabei aus der Verletzung einer Norm. Zwar zieht nicht jede Normverletzung ein Verwertungsverbot nach sich, dient die Norm aber dem Schutz des Beschuldigten und wird dieser durch den Normverstoß in seiner Stellung beeinträchtigt, spricht dies für ein Verwertungsverbot.169 Beweisverwertungsverbote sind im Hinblick auf ein faires Verfahren für den Betroffenen wichtig, um ihn vor einem unfairen Urteil zu schützen.170 Außerdem sind sie auch zur Dispziplinierung der Strafverfolgungsbehörden wichtig, um diese zu ermahnen, sich an die Gesetze zu halten.171 Der Kampf um Fairness ist nicht immer nur ein Kampf um die Wahrheit, sondern auch ein Kampf um die gerechte Wahrheitsfindung.172 Zwar setzt Gerechtigkeit auch eine korrekte „Datenbasis“ voraus,173 es kann aber kein faires Verfahren geben, wenn der Schuldnachweis gegen den Beschuldigten mit rechtswidrig erlangten Beweisen geführt wird.174 Auch in den Augen der Bevölkerung spielt nicht nur die Fairness des Urteils eine Rolle, auch die Fairness des gesamten Verfahrens ist entscheidend für die Akzeptanz.175 Dies spricht dafür, die Disziplinierungsfunktion der Verwertungsverbote anzuerkennen176 und zumindest die Möglichkeit eines

345, 350; BGHSt 33, 283 f.; BGHSt 37, 10, 13; BGHSt 42, 191, 193; BGHSt 45, 321, 333 f.; Schmidt, S. 228 f. will dagegen auch für die rechtswidrige Tatprovokation lediglich ein Beweisverwertungsverbot annehmen und begründet dies damit, dass ein Beweisverwertungsverbot letztlich dieselben Wirkungen hat wie ein Verfahrenshindernis; ähnlich Gaede/Buermeyer, HRRS 2008, 279, 285 f. die aber zutreffend am Ende doch zu einem Verfahrenshindernis kommen, weil nach deutschem Recht bei Annahme eines Beweisverwertungsverbotes das Verfahren ohnehin nicht mehr sinnvoll geführt werden könne. Dies sei daher mit einem Verfahrenshindernis umzusetzen, was nach nationalem Recht eine angemessene und für den EGMR gleichwertige Lösung darstelle. 167 Vgl. Eder, S. 66. 168 EGMR, NJW 2006, 3117, 3117. 169 Vgl. Eder, S. 25 f. 170 Vgl. Queck, S. 199. 171 Vgl. Conen, FS-Eisenberg, S. 468, 471. 172 Conen, FS-Eisenberg, S. 471; Eser, FS-Schünemann, S. 1054; Jahn, ZStW 2015, 549, 569; vgl. BGHSt 38, 372, 374; Hörnle, Rth 2004, 175, 192; Renzikowski, FS-Lampe, S. 800; Steiner, S. 136; i. A. Neumann, ZStW 1989, 52, 60 f. 173 Bottke, S. 13. 174 Schneider, S. 61. 175 Lind, in: Bierbrauer u. a., Verfahrensgerechtigkeit, S. 4. 176 Vgl. Conen, FS-Eisenberg, S. 471.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

Verwertungsverbots bei jedem Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz in Betracht zu ziehen.177 4. Beweiswürdigungslösung Für die Fälle der mittelbaren Beweisführung hat der BGH die Beweiswürdigungslösung entwickelt. Diese besagt, dass die Beweise vorsichtig gewürdigt werden müssen und eine Verurteilung nicht allein auf die mittelbaren Beweise gestützt werden darf.178 Außerdem muss beachtet werden, ob die verletzte Vorschrift in erster Linie dem Schutz des Beschuldigten diene. Ist dies der Fall, liegt ein Beweisverwertungsverbot nahe.179 Dabei hat der BGH selbst ausgeführt, dass das Konfrontationsrecht wichtiger Teil des fairen Verfahrens ist.180 Dieses Recht trägt der Subjektstellung des Beschuldigten Rechnung181 und gibt ihm die Möglichkeit, vor allem die Glaubhaftigkeit von Belastungszeugen in Frage zu stellen. Dies schützt ihn auch vor einem unfairen Urteil, das auf offensichtlich unwahren Zeugenaussagen basiert. Daher führt Gössel aus, dass der BGH die Beweiswürdigungslösung mindestens hätte ausführlich begründen müssen.182 Bei der Beweiswürdigungslösung handle es sich dem Grunde nach um eine Beweisregel,183 die gegen § 261 StPO verstoße und damit unzulässig sei.184 Es wäre daher nur folgerichtig gewesen, ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen.185 5. Rechtsbehelfe Der Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens kann außerdem ein Revisionsgrund sein. Das faire Verfahren ist ein normgeprägtes Grundrecht und stellt daher eine Norm im Sinne des § 337 StPO dar.186 Allerdings kommt ein Rückgriff auf das Fairnessgebot aufgrund dessen Subsidiarität zum geschriebenen Recht nur dann in Betracht, wenn eine Gesetzeslücke besteht oder die Auslegung der Norm angepasst werden muss.187 177 Jugl, S. 155 will ein solches Beweisverwertungsverbot bei Verstößen gegen den „fairtrial“-Grundsatz in der Regel annehmen und nur in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen, wie der Zustimmung des Beschuldigten, hiervon abweichen. 178 Vgl. BGHSt 46, 93, 106; EGMR, StV 1997, 617, 619. 179 BGHSt 38, 214, 219 f. 180 Vgl. BGHSt 46, 93, 95. 181 Gössel, GS-Meurer, S. 388. 182 Vgl. Gössel, GS-Meurer, S. 388. 183 Gössel, GS-Meurer, S. 390. 184 Gössel, GS-Meurer, S. 392. 185 Vgl. Gössel, GS-Meurer, S. 388. 186 Löwe-Rosenberg/Franke, Bd. 7/2 § 337 Rn. 7; KK/Gericke, § 337 Rn. 9. 187 Löwe-Rosenberg/Kühne, Bd. 1 Einl. I Rn. 114.

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

243

Zudem stellt der § 359 Nr. 6 StPO einen Wiederaufnahmegrund dar, der auch bei Verletzungen des Art. 6 EMRK, also der europäischen Ausformung des Fairnessgrundsatzes, gilt.188 Eine Verletzung des deutschen Grundrechts auf ein faires Verfahren kann nach Erschöpfung des Rechtswegs zudem im Rahmen der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden.189 Bei einer Verletzung des Art. 6 EMRK kann ebenfalls Individualverfassungsbeschwerde zum EGMR erhoben werden, sobald der Rechtsweg erschöpft ist.190

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip Der Fairnessgrundsatz darf aufgrund seiner Subsidiarität nur geprüft werden, wenn kein Verstoß gegen die vorrangigen Prozessgrundrechte des Art. 103 Abs. 1, 101 Abs. 2 GG vorliegt.191 Zwar wurden im Rahmen dieser Grundrechte Vorschläge gemacht, die zu einer besseren Vereinbarkeit führen, allerdings wurde eine Verletzung dieser Grundrechte de lege lata nicht festgestellt.192 Der Anwendungsbereich für eine Prüfung des Fairnessgrundsatzes ist damit eröffnet. I. Vielzahl an Konflikten zwischen Verständigung und Fairnessgrundsatz Während sich bei den anderen Verfahrensgrundrechten meist sehr konkrete Problemstellungen ergeben, zeichnet den Fairnessgrundsatz aus, dass sich aufgrund seiner Weite eine Vielzahl von Problemstellungen ergeben. Beispiele sind die Wahrheitsermittlung, die bereits beim Amtsermittlungsgrundsatz behandelt wurde, sowie der nemo-tenetur-Grundsatz und die Unschuldsvermutung. Auch die Beteiligung des Beschuldigten an Vorgesprächen, die bereits im Rahmen des Rechts auf richterliches Gehör angesprochen wurde, wird im Rahmen des fairen Verfahrens erneut relevant. Im Rahmen des Fairnessgrundsatzes stellen sich insbesondere Probleme für die verfassungsrechtliche Prüfung des positiven Rechts. Wird gegen eine Norm verstoßen, die Ausfluss des Fairnessgrundsatzes ist, so tritt dieser subsidiär zurück. Es handelt sich dann nicht um einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz, sondern um einen Verstoß gegen die einfachrechtliche Norm. Der Fairnessgrundsatz greift nur dort ein, wo die Normen unzureichend sind. Allerdings 188

Weigend, StV 2000, 384, 388 wobei die Frage des Beruhens im Rahmen des § 359 Nr. 6 StPO ebenso beschuldigtenfreundlich zu lösen sei wie im Rahmen des § 337 StPO. 189 Weigend, StV 2000, 384, 389 wobei die EMRK als Auslegungshilfe herangezogen und so im „Deckmäntelchen“ eines deutschen Grundrechts geprüft werde. 190 Weigend, StV 2000, 384, 389. 191 Jahn, ZStW 2015, 549, 565; vgl. BVerfG, StV 2020, 357, 358. 192 Siehe oben unter 2. Kapitel § 2 A. II. bzw. § 2 A. III.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

hängt die Vereinbarkeit von Fairnessgrundsatz und Verständigung auch maßgeblich von der Definition des Fairnessgrundsatzes ab. Dieser wird in der Literatur unterschiedlich definiert, sodass es allein schon deshalb zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Die Darstellung des Forschungsstandes gestaltet sich zum einen wegen der vielen Anknüpfungspunkte zum anderen wegen der vielen verschiedenen Definitionen des Fairnessgrundsatzes als schwierig. II. Meinungsstand Wichtig ist im Rahmen des Fairnessgrundsatzes auch die Differenzierung zwischen der Situation vor und nach Einführung des Verständigungsgesetzes. Einige Problempunkte wurden durch die Einführung des Verständigungsgesetzes möglicherweise behoben. Wie bereits ausgeführt, ergibt sich die Vielfalt des Meinungsbildes unter anderem aus der Fallgruppenbildung im Rahmen des Fairnessgrundsatzes. Die am häufigsten gebrauchten Fallgruppen sind dabei das Prinzip der Waffengleichheit,193 die gerichtliche Fürsorgepflicht,194 der nemo-tenetur-Grundsatz,195 das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung196 und das Vertrauen197 des Beschuldigten.198 1. Meinungsstand vor Einführung des Verständigungsgesetzes Vor der Normierung des Verständigungsgesetzes wurde die Vereinbarkeit der „Absprachen“ mit dem Fairnessgrundsatz kontrovers diskutiert. Dabei nahm ein Teil der Literatur an, dass die Absprachen grundsätzlich mit dem Fairnessgrundsatz vereinbar seien.199 Im Einzelfall könne es aber zu Verstößen kommen.200 Dies wurde von der überwiegenden Ansicht der Literatur in den Fällen gescheiterter Absprachen angenommen.201 Tscherwinka führte dazu aus, dass nicht bereits die Durchführung der Absprache das Vertrauen in hinreichendem Maße 193 Rzepka, S. 192; Siolek, S. 140 f.; Rönnau, S. 208; Rabe, S. 267; Seppi, S. 91; vgl. auch BVerfGE 133, 168, 200. 194 Siolek, S. 141 ff.; Rabe, S. 268; vgl. Rönnau, S. 208. 195 BVerfGE 133, 168, 231; Krause, S. 39; Hertel, ZJS 2010, 198, 205. 196 Rabe, S. 268. 197 Siolek, S. 151 ff.; Rönnau, S. 208; Rabe, S. 268. 198 Eine abschließende Aufzählung aller Fallgruppen kann und soll hier nicht erfolgen, da diese, wie oben bereits erwähnt, ohnehin nicht zielführend ist; ausführliche Darstellung der Fallgruppen: Rzepka, S. 192 ff. 199 Gerlach, S. 89; Saal, S. 34 f.; Ioakimidis, S. 98; Löffler, S. 34; Tscherwinka, S. 86 ff.; Eschelbach, JA 1999, 693, 699. 200 Tscherwinka, S. 86 ff.; Gerlach, S. 89 f.; Saal, S. 34 f.; Ioakimidis, S. 98; Löffler, S. 34. 201 Tscherwinka, S. 86; Gerlach, S. 89 f.; Müller, S. 96; Saal, S. 34; Löffler, S. 33; Rönnau, S. 211; Braun, S. 75; wohl auch Ioakimidis, S. 97 f.

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

245

beeinträchtige.202 Dies sei erst dann der Fall, wenn das Vertrauen enttäuscht werde, also die Absprache scheitert.203 Der Fairnessgrundsatz schütze nur vor der Enttäuschung von Vertrauen, nicht vor dem Vertrauen selbst.204 Der BGH leitete daher die Bindungswirkung von Absprachen aus dem „fair-trial“-Grundsatz ab.205 Andere Autoren sahen die Absprache auch dann als nicht mit dem Fairnessgrundsatz vereinbar an, wenn diese „regelkonform“206 zustande kam.207 Grund hierfür sei, dass der „fair-trial“-Grundsatz bereits dann verletzt sei, wenn das Gericht den Angeklagten zu einer Absprache dränge, indem es ihm eine milde Strafe in Aussicht stelle.208 Dadurch werde der Angeklagte in seiner Entschließungsfreiheit hinsichtlich seines Verteidigungsverhaltens beeinträchtigt.209 Die Kritiker der Absprachen stützten ihre Kritik häufig auch auf die fehlende gesetzliche Regelung.210 2. Meinungsstand nach Einführung des Verständigungsgesetzes Zumindest das Problem der fehlenden gesetzlichen Regelung wurde durch Einführung des Verständigungsgesetzes gelöst. Trotzdem ist die Vereinbarkeit mit dem Fairnessgrundsatz auch heute noch umstritten. Eine Ansicht nimmt an, dass der Fairnessgrundsatz bei Beachtung der Regeln des Verständigungsgesetzes nicht verletzt werde.211 Göttgen bejaht die Vereinbarkeit von Fairness und Verständigung und nimmt an, dass dem Angeklagten eine starke Position zuerkannt werde, wenn er im Rahmen der Verständigung Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens nehmen könne.212 Allerdings müssen die Belehrungspflichten aus § 257c Abs. 5 StPO als Ausfluss des fairen Verfahrens zwingend beachtet werden.213 Ist dies nicht der Fall, so werde regelmäßig ein Beruhen im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO angenommen.214 Dabei handle es sich um die Etablierung 202

Tscherwinka, S. 85. Tscherwinka, S. 86; vgl. Ioakimidis, S. 97. 204 Tscherwinka, S. 85; vgl. Ioakimidis, S. 97. 205 BGHSt 43, 195, 210. 206 Die „regelkonforme“ Absprache wurde meist von der „gescheiterten“ Absprache unterschieden. 207 Eser, ZStW 1992, 361, 373; Hamm, ZRP 1990, 337, 339; Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 357; Schünemann, Gutachten, S. 115 ff.; Braun, S. 74 f.; Bogner, S. 75; Moldenhauer, S. 53; jedenfalls kritisch: Müller, S. 96; Rönnau, S. 211 f.; Weichbrodt, S. 166 f.; Siolek, S. 138 ff. 208 Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 357; Eser, ZStW 1992, 361, 373; Hamm, ZRP 1990, 337, 339; Moldenhauer, S. 53. 209 Küpper/Bode, Jura 1999, 351, 357; Hamm, ZRP 1990, 337, 339; Moldenhauer, S. 53. 210 Müller, S. 96; Braun, S. 75; Bogner, S. 75. 211 Göttgen, S. 17; BVerfGE 133, 168, 200 f., 231; i. E. Hertel, ZJS 2010, 198, 206 ff. 212 Göttgen, S. 17; vgl. BVerfGE 133, 168, 187. 213 Göttgen, S. 17; BVerfGE 133, 168, 224. 214 Göttgen, S. 17; BVerfGE 133, 168, 225; BGHSt 38, 214, 226 f. 203

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

eines „quasi-absoluten“ Revisionsgrundes.215 Die qualifizierte Belehrung müsse außerdem schon vor der Eingehung der Verständigung erfolgen, um deren Schutzzweck zu sichern.216 Ist dies nicht erfolgt, so könne ein Fehler nur durch eine qualifizierte Belehrung geheilt werden, in der dem Angeklagten vermittelt wird, dass er in Bezug auf eine Aussage frei in seiner Entscheidung ist und dass sein vorheriges Geständnis nicht verwertet werden kann.217 Das Gebot der Fairness erfordere es außerdem, dass das Gericht gemäß § 257c Abs. 4 S. 4 StPO unverzüglich darauf hinweist, wenn es gemäß § 257c Abs. 4 S. 1 StPO von der Verständigung abweichen will.218 Die andere Ansicht nimmt an, dass auch bei Beachtung der Regelungen des Verständigungsgesetzes ein Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz vorliege.219 Die Kritiker haben unterschiedliche Ansatzpunkte, was vor allem daran liegt, dass der Fairnessgrundsatz von einem Großteil der Literatur bis heute fallgruppenorientiert gebraucht wird.220 Krause nimmt an, dass die Verständigung gegen den nemo-tenetur-Grundsatz und damit auch gegen den Fairnessgrundsatz verstoße.221 Dies begründet sie insbesondere mit einer „drohenden Sanktionsschere“ und der fehlenden Kenntnis der Straferwartung im Falle der Verständigung und im Falle des Ausbleibens der Verständigung.222 Börner sieht die Verständigung als mit dem Fairnessgrundsatz unvereinbar an und bildet hierfür vier Fallgruppen.223 Zum einen werde das Verfahren in seiner Struktur grundlegend verändert. Das Geständnis als Kern der Verständigung werde bereits vor der Beweisaufnahme ausgehandelt und später nur formal mit dem Akteninhalt abgeglichen. Dies lasse die notwendige Genauigkeit und Ernsthaftigkeit vermissen.224 Zudem liege die letzte Entscheidung über den anzuwendenden Modus bei der Justiz und bedürfe keiner Begründung.225 Zweiter Grund für die fehlende Fairness sei, dass der Richter ein Interesse daran habe, seine im Rahmen des § 203 StPO getroffene Entscheidung zur Eröffnung der Hauptverhandlung und dem damit verbundenen 215

Jahn, JuS 2013, 659, 660; Knauer, NStZ 2013, 433, 436. Göttgen, S. 18; Schlothauer/Weider, StV 2009, 600, 604. 217 Göttgen, S. 18; BGH, NJW 2017, 1626. 218 Göttgen, S. 19. 219 Krause, S. 39; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 26 ff.; Börner, ZIS 2018, 178, 182 f.; Huttenlocher, Rn. 787; kritisch: Rabe, S. 271 ff.; Hildebrandt, S. 60; Seppi, S. 93 ff. 220 Vgl. beispielsweise Rabe, S. 267 f.; Rzepka, S. 154 ff., 192 ff.; Henckel, S. 54; Müller, S. 95; Moldenhauer, S. 52 f.; Rönnau, S. 208 ff.; Siolek, S. 138 ff. 221 Krause, S. 39. 222 Krause, S. 39. 223 Börner, ZIS 2018, 178, 182. 224 Börner, ZIS 2018, 178, 182. 225 Börner, ZIS 2018, 178, 182 f. 216

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

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hinreichenden Tatverdacht zu bestätigen. Daher solle eine Trennung zwischen dem Richter, der die Hauptverhandlung leitet und dem Richter, der an Verständigungsgesprächen teilnimmt, erfolgen.226 Weiter bestehe ein Machtungleichgewicht. Die bloße Existenz der Verständigungsbereitschaft der Justiz setze den Angeklagten unter Druck und gefährde die Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte. Er müsse sich vor der Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte „fürchten“. Die Hauptverhandlung werde zu einer Fassade degradiert.227 Überdies verstoße die Ungerechtigkeit der Verteilung gegen den Fairnessgedanken. Im Rahmen der Verständigung stehe der Strafnachlass der Abkürzung des Verfahrens gegenüber. Hier würden Ergebnisse erzielt, die weit unter der Strafe im Normalverfahren liegen würden.228 Huttenlocher kritisiert, dass das Vertrauen des Angeklagten durch die gesetzliche Regelung nicht ausreichend geschützt werde. Im Gegensatz zur vorausgehenden Rechtsprechung wurde dem Gericht das Lösen von der Verständigung zu sehr erleichtert, sodass hier ein Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz vorliege.229 Auch Rabe setzt beim Vertrauensschutz an und kritisiert insbesondere, dass schutzwürdiges Vertrauen auch im Rahmen informeller Verständigungsgespräche begründet werden könne.230 Die Belehrungspflicht des § 257c Abs. 5 StPO werde aber nur bei der Aufnahme formeller Verständigungsgespräche ausgelöst. Das schutzwürdige Vertrauen werde im Verständigungsurteil zu Unrecht kategorisch auf formelle Verständigungen beschränkt.231 Aufgrund der Gefahr informeller Verständigung müsse der Zeitpunkt der Belehrung ins Ermittlungsverfahren vorverlegt werden.232 Das Erfordernis der frühestmöglichen Information beruhe auf der Subjektstelung des Beschuldigten.233 Seppi folgert aus dem Fairnessgrundsatz, dass im Rahmen des § 160b StPO eine Bindungswirkung nach § 257c Abs. 4 StPO analog gelten soll.234 Konsequenterweise müsse dies auch für die Belehrungspflichten nach § 257c Abs. 5 StPO gelten. Die Bindungswirkung solle aber nur inter partes entstehen und nicht zulasten des Gerichts gehen.235 Zudem müssen bei Erörterungen über die Beendigung des Verfahrens oder eines Verfahrensabschnitts aus Fairnessgründen alle Verfahrensbeteiligten miteinbezogen werden. Als Beispiel hierfür nennt er Erörterungen über die Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO.236 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236

Börner, ZIS 2018, 178, 182 f. Börner, ZIS 2018, 178, 183. Börner, ZIS 2018, 178, 183. Vgl. Huttenlocher, Rn. 787. Rabe, S. 271. Rabe, S. 272. Rabe, S. 273. Rabe, S. 273. Seppi, S. 94. Seppi, S. 95. Seppi, S. 93.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

Seppi geht damit noch einen großen Schritt weiter als Rabe. Während Rabe zum Schutz des Beschuldigten vor informellen Absprachen die Belehrung vorziehen will, schlägt Seppi vor, die Bindungswirkung auf das Ermittlungsverfahren vorzuverlagern. Dabei ist die Vorverlagerung der Belehrung nur die logische Folge. Schünemann nimmt an, dass das Gebot des fairen Verfahrens es gebiete, dem Beschuldigten auf Wunsch im Verständigungsverfahren einen Verteidiger beizuordnen. Sofern der Beschuldigte keinen Verteidiger als Beistand haben wolle, so sei dies im Hinblick auf seine Autonomie aber ebenfalls zu akzeptieren.237 Henckel merkt an, dass die Nichtbeteiligung des Beschuldigten an Vorgesprächen einen Verstoß gegen das faire Verfahren darstellen könnte. Dies könnte sich aus der effektiven Teilhabe am Verfahren ergeben, die dem Angeklagten Anwesenheitsrechte einräumt. Werden entscheidungserhebliche Teile aus der Hauptverhandlung ausgelagert, ohne dass sich die Anwesenheitsrechte des Beschuldigten hierauf beziehen, so könnte dies das Recht auf ein faires Verfahren verletzen. Außerhalb der Hauptverhandlung werde zumindest eine Vorentscheidung getroffen. Inhalte und Voraussetzungen der Verständigung werden bereits festgelegt. Der Beschuldigte sei solange ausgeschlossen, wie ihm die Anwesenheit verwehrt werde. Das faire Verfahren gebiete eine effektive Partizipation an allen Teilen des Verfahren, die sich im Urteil niederschlagen können. Dem unterfallen auch Vorgespräche, sofern der Verständigungsvorschlag später angenommen werde.238 Der Beschuldigte könne seine Vorstellungen von einer gerechten Strafe daher nur über seinen Verteidiger einfließen lassen.239 Eine faire Absprache erfordere aber Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, die nicht allein durch Vorbesprechungen des Verteidigers mit seinem Mandanten hergestellt werden kann, sondern dessen Anwesenheit erfordert.240 Allerdings könnte laut Henckel die Partizipationsmöglichkeit im Rahmen des § 257c Abs. 3 S. 2, 3 StPO die Beschränkung der Anwesenheits- und Teilhaberechte ausgleichen. Dafür sei es erforderlich, dass die Annahme des Angeklagten sich als informierte und damit eigenverantwortliche Teilhabe darstelle. Dies setze eine autonome Entscheidung voraus, für die der Angeklagte vorher alle wesentlichen Informationen benötige. Nur so könne er die Bedeutung seiner Zustimmung erkennen.241 Für eine autonome Entscheidung sei eine Abwägung des Für und Wider seiner Prozesserklärung erforderlich. Dafür müsse der Angeklagte den gesamten Ablauf der Vorgespräche kennen, also auch, welche Aspekte die Beteiligten diskutiert haben und welche Bedeutung diesen Aspekten zugemessen wurde. Eine umfassende Bewertung sei nur unter Berücksichtigung der Entstehung des Angebots möglich. Zudem spiele der konkrete Ablauf der Gespräche eine Rolle, um zu beurteilen, ob der Verteidiger als Vertreter tatsächlich im Interesse des Beschuldigten gehandelt hat. 237 238 239 240 241

Schüneman, GA 2018, 181, 183. Henckel, S. 63. Henckel, S. 64. Vgl. Henckel, S. 64. Henckel, S. 65.

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

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Dies entscheide, ob die Interessen und Argumente des Beschuldigten ausreichend diskutiert und im Ergebnis berücksichtigt wurden. Das Wissen an der Erarbeitung des Absprachevorschlags sei ein entscheidender Faktor bei der Beurteilung der Absprache.242 Im Rahmen der Verständigung wirke der Beschuldigte aktiv auf seine Verurteilung hin, sodass die Transparenz hier von besonderer Bedeutung sei. Das Gebot der Waffengleichheit gebiete außerdem, dass der Beschuldigte den Verständigungsvorschlag bestmöglich beurteilen könne.243 Durch den Ausschluss des Beschuldigten von den Vorgesprächen werde daher in dessen Recht auf ein faires Verfahren eingegriffen. Für ein faires Verfahren bedürfe es eines Ausgleichs dieses Informationsdefizits.244 Eine Information des Beschuldigten nur über den Verteidiger sei aber ungeeignet.245 Vielmehr müsse der Staat die Information des Beschuldigten über § 243 Abs. 4 StPO gewährleisten.246 Der § 243 Abs. 4 StPO sei daher als „Mindestgarantie“ für die Information vor einem Verzicht auf Verfahrensrechte zu verstehen und solle die Freiwilligkeit des Beschuldigten sichern.247 Die Dokumentationspflichten aus § 273a Abs. 1, 1a StPO stellen nach Henckel ebenfalls die autonome Entscheidung des Beschuldigten über einen Rechtsverzicht sicher.248 Sie sichern damit nicht nur die revisionsrechtliche Kontrolle, sondern mit ihnen geht auch eine Disziplinierungsfunktion einher.249 Es handle sich allerdings nicht um ein verfassungsrechtlich zwingendes Schutzkonzept der Transparenz. Henckel ordnet die Verständigung vielmehr als Verzicht auf Verfahrensrechte nach der Rechtsprechung des EGMR ein, wobei Transparenz und Dokumentation die freiwillige Entscheidung des Angeklagten schützen sollen.250 3. Kritik an den Literaturstimmen Im Folgenden werden einige Literaturstimmen kritisiert. Sie werden bei der abschließenden Stellungnahme zum Verhältnis von Verständigung und „fair-trial“Grundsatz nicht weiter berücksichtigt. Krause nennt Fallgruppen für Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz, die bereits nach dem geltenden Recht verboten sind, sodass für die Anwendung des Fairnessgrundsatzes hier kein Raum bleibt. 242 243 244 245 246 247 248 249 250

Henckel, S. 66. Henckel, S. 67. Henckel, S. 69. Henckel, S. 76. Henckel, S. 76 f. Henckel, S. 89. Henckel, S. 116. Henckel, S. 117. Henckel, S. 164.

250

2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

Der Ansatz von Seppi, im Rahmen des § 160b StPO eine Bindungswirkung nach § 257c Abs. 4 StPO analog anzunehmen, ist höchst zweifelhaft. Eine Analogie erfordert eine vergleichbare Interessenlage sowie eine planwidrige Regelungslücke. Es besteht zwar eine „Regelungslücke“, weil der Gesetzgeber keine Bindungswirkung angeordnet hat. Allerdings ist nicht anzunehmen, dass die Regelungslücke planwidrig ist. Der Gesetzgeber wollte die Vorgespräche nach den §§ 160b, 202a, 212 StPO bewusst unverbindlich ausgestalten, um die Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten zu fördern. Überdies ist die Situation im Rahmen des § 160b StPO nicht vergleichbar mit der Situation des § 257c StPO. Während im Rahmen des § 257c StPO das Gericht der Hauptverhandlung an den Gesprächen beteiligt ist, handelt es sich bei § 160b StPO um Gespräche mit der Staatsanwaltschaft. Der Vergleich mit der Vorbereitung einer Einstellung gemäß §§ 153 ff. StPO ist dogmatisch nicht haltbar.251 Folglich liegt weder eine planwidrige Regelungslücke noch eine vergleichbare Interessenlage vor. Eine analoge Anwendung des § 257c Abs. 4 StPO auf § 160b StPO ist daher abzulehnen. Bei Börner ist auffällig, dass er den spezifischen Fairnessgrundsatz mit Aspekten der Gerechtigkeit und Gleichheit sowie Verfahrensidealen252 vermischt. Zudem handelt es sich, wie er selbst in seinem Aufsatz betont, um noch nicht bewiesene Thesen. Daher kann diesen Ansätzen hier nicht gefolgt werden. Allerdings enthält die zweite Anmerkung, in der er die Voreingenommenheit des Richters kritisiert, richtige Ansätze. Es handelt es sich um ein strukturelles Problem des deutschen Strafprozesses, dass der Richter, der den Beschluss zur Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 203 StPO trifft, später auch die Hauptverhandlung führt. Bei der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist der Richter bereits zu einer überwiegenden Verurteilungswahrscheinlichkeit gekommen und ist damit strukturell voreingenommen. Daher sollte der Richter, der die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt, allgemein ein anderer sein als derjenige Richter, der die Hauptverhandlung leitet.253 Hier sollte also eine Auswechslung stattfinden, wobei dieses Problem mit der Verständigung nichts zu tun hat. Der Vorschlag Börners, dass ein anderer Richter die Verständigungsgespräche führen solle, erkennt das eigentliche Problem nicht und kann daher keine Lösung bieten. In der vierten These werden „Fairness“, „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“ vermischt. Dieses Problem wurde oben im Rahmen des Schuldgrundsatzes und des Gleichheitsgrundsatzes diskutiert.254

251

Vgl. oben unter 1. Kapitel B. II. So in seinem ersten Punkt zur grundlegenden Änderung der Verfahrensstruktur. 253 Vgl. zu dieser Problematik ausführlich Bockemühl, in: Strafverteidigervereinigungen, Strafe, S. 105 ff. 254 Vgl. oben 2. Kapitel § 2 A. IV. 1.; V. 252

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

251

III. Stellungnahme Die Vereinbarkeit des Fairnessgrundsatzes mit dem Verständigungsgesetz ist noch nicht abschließend geklärt. Wie oben bereits dargestellt,255 war der Fairnessgrundsatz eines der maßgeblichen Kriterien bei der Entwicklung der Verständigung. Es muss daher geprüft werden, ob das Verständigungsgesetz de lege lata dem Fairnessgrundsatz auch genügt. Dabei werden verschiedene Ansatzpunkte anhand der von Jahn entwickelten Definition betrachtet, wobei auf die Konkretisierungen von Henckel ebenfalls zurückgegriffen wird. Ein Punkt ist die Wahrheitsermittlung. Zudem sollen die § 257c Abs. 4, 5 StPO betrachtet werden. Dabei stellt sich teilweise die Frage, ob einzelne Absätze gegen den Fairnessgrundsatz verstoßen.256 Die § 257c Abs. 4 S. 3, Abs. 5 StPO sind Ausprägungen des Fairnessgrundsatzes, sodass sich hier vielmehr die Frage stellt, ob sie zu dessen Sicherung ausreichen. Ein weiteres Problem ist die Teilnahme des Beschuldigten an Vorgesprächen im Sinne der §§ 202a, 212 StPO. Diese wurde im Rahmen des Rechts auf rechtliches Gehör bereits ausführlich diskutiert, wobei dort allerdings keine Verletzung dieses Rechts angenommen wurde. Daher darf diese Frage im Rahmen des Fairnessgrundsatzes erneut behandelt werden. 1. Verstoß aufgrund mangelhafter Wahrheitsermittlung Mit einem Verstoß gegen die Wahrheitsermittlung kann das Ziel des Strafprozesses und auch die Verfahrensfairness nicht mehr erreicht werden. Wird im Strafprozess kein wahrer Sachverhalt mehr zugrunde gelegt, so wird über die Position des Beschuldigten nur noch von Obrigkeits wegen verfügt. Dies wird der Subjektstellung des Beschuldigten nicht gerecht. Der Subjektstellung kann nur durch ein schuldangemessenes, also auf einem wahren Sachverhalt basierendes, Urteil entsprochen werden. Es handelt sich nicht mehr um ein faires Verfahren. Wie bereits im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes ausgeführt, steht die Verständigung in einem nahezu unauflösbaren Konflikt mit der Wahrheitsermittlung. Daher liegt auch ein Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz vor. Der § 257c Abs. 1 S. 2 StPO hält zwar formal am Amtsermittlungsgrundsatz fest. Wie dies allerdings eingehalten werden soll, lässt der Gesetzgeber offen. Es wäre die Aufgabe des Gesetzgebers, zu konkretisieren, wie die Einhaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes durch die Verständigung sinnvoll erfolgen kann.257 Die Regelung des § 257c Abs. 1 S. 2 StPO genügt dem Fairnessgrundsatz daher nicht.

255 256 257

Vgl. oben 1. Kapitel A. Insbesondere § 257c Abs. 4 S. 1 StPO. Siehe dazu den Vorschlag unter 2. Kapitel § 2 B. II. 3. c).

252

2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

2. Verstoß durch die gelockerte Bindungswirkung Die Bindungswirkung wurde bereits im Jahr 1997 durch den BGH im Hinblick auf den Fairnessgrundsatz aufgestellt.258 Damals wurde festgelegt, das Gericht könne sich nicht ohne weiteres von der Verständigung distanzieren, es sei denn, es ergeben sich im Anschluss an die Absprache neue, schwerwiegende Umstände, die für das Urteil relevant sind, dem Gericht aber vorher unbekannt waren.259 Im Jahr 2005 wurde die Bindungswirkung bereits gelockert, indem festgestellt wurde, dass die Bindungswirkung der Verständigung bezüglich einer verbindlich zugesagten Strafobergrenze nicht nur entfalle, wenn sich im Nachhinein neue schwerwiegende Umstände zulasten des Angeklagten ergeben,260 sondern auch, wenn diese bei der Absprache bereits vorlagen und vom Gericht lediglich übersehen wurden.261 Der § 257c Abs. 4 S. 1 StPO erlaubt es dem Gericht, sich von der Verständigung zu lösen, wenn „rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zur Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist“. Im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung ist dem Gericht die Nichteinhaltung der Verständigung weiter erleichtert worden.262 Vorher war es Voraussetzung, dass sich „im Nachhinein schwerwiegende Umstände ergeben“263, die ein Festhalten an der Verständigung unzumutbar erscheinen lassen, gleich ob diese bei Abschluss der Verständigung schon vorlagen.264 Nach der neuen Gesetzeslage kann sich das Gericht gemäß § 257c Abs. 4 S. 1 StPO von der Verständigung lösen, wenn Umstände übersehen wurden, die dazu führen, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr angemessen hinsichtlich Tat und Schuld ist. Hintergrund dieser Vorschrift ist, dass das Ergebnis eines Prozesses stets ein richtiges und gerechtes Urteil sein muss.265 Nach neuer Rechtslage rechtfertigt aber theoretisch jede Unachtsamkeit des Gerichts bei der Aktenlektüre ein Loslösen von der Bindungswirkung.266 Allein eine bloße Meinungsänderung rechtfertige kein Loslösen von der Bindung.267 Die Vorschrift sei restriktiv auszulegen.268 Dies wäre in der Praxis zu begrüßen, allerdings 258

BGHSt 43, 195, 210. BGHSt 43, 195, 210. 260 BGHSt 43, 195; vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt61, § 257c Rn. 26. 261 BGHSt 50, 40, 50. 262 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 147; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt61, § 257c Rn. 26; Murmann, ZIS 2009, 526, 538. 263 Es war ausreichend, wenn das Gericht erst nach Abschluss der Verständigung Kenntnis von den Umständen erlangte BGHSt 50, 40, 50. 264 BGHSt 43, 195; BGHSt 50, 40, 50. 265 BT-Drucks 16/11736, S. 12; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 26. 266 Murmann, ZIS 2009, 526, 538; Murmann, FS-Roxin, S. 1395. 267 Jahn, StV 2011, 497, 501; SSW-StPO/Ignor/Wegner, § 257c Rn. 96. 268 Jahn, StV 2011, 497, 501; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 158. 259

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

253

kann das Gericht selbst bei restriktiver Auslegung mit etwas Geschick jederzeit ein Loslösen von der Bindungswirkung herbeiführen.269 Die Bindungswirkung ist deshalb nichts mehr wert, da das Gericht sich jederzeit lösen kann.270 Ein vorher abgegebenes Geständnis ist dann allerdings gemäß § 257c Abs. 4 S. 3 StPO nicht verwertbar. Dieses Beweisverwertungsverbot diene ebenfalls der Verfahrensfairness.271 Das Beweisverwertungsverbot bei Loslösung des Gerichts ist im Hinblick auf die Fairness des Verfahrens unverzichtbar. Die Frage ist aber, ob es ausreicht, um die faktisch nicht mehr vorhandene Bindungswirkung zu kompensieren. Die Zusage des Gerichts, eine Verständigung einzugehen, begründet ein schutzwürdiges Vertrauen des Beschuldigten. Das Vertrauen soll einerseits durch die Bindungswirkung der Verständigung und andererseits, sofern das Vertrauen enttäuscht wird, durch das Beweisverwertungsverbot geschützt werden. Wenn allerdings dem Beschuldigten ein schutzwürdiges Vertrauen nur suggeriert wird, weil dieses durch die Bindungswirkung faktisch nicht mehr geschützt wird, so wird dieser zum Objekt des Verfahrens. Es herrscht eine Disbalance zwischen dem Beschuldigten, der auf die Einhaltung der Verständigung seitens des Gerichts vertraut und dem Gericht, das sich jederzeit von der Verständigung lösen kann, aber weiterhin mittelbar von den Vorteilen profitiert. Dies vermag auch ein einfaches Beweisverwertungsverbot nicht zu kompensieren. Legt der Beschuldigte ein umfassendes Geständnis ab, so ist dieses zwar nicht verwertbar. Allerdings können aufgrund des Geständnisses aufgefundene Beweismittel weiterhin verwertet werden, weil eine Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten überwiegend abgelehnt wird.272 Das Gericht darf also darin genannte Zeugen befragen und Urkunden, auf die im Geständnis verwiesen wird, heranziehen. Zudem darf es Anhaltspunkten, die Anlass zu weiteren Ermittlungen bieten, nachgehen.273 Dies gilt auch für im Geständnis enthaltene Anhaltspunkte für Augenscheinsobjekte, wie etwa den Auffindeort einer Leiche.274 Dies kann dazu führen, dass der Beschuldigte, der im Vertrauen auf die Verständigung ein Geständnis abgibt, sich trotz Verwertungsverbotes selbst „überführt“, hierfür aber keine Gegenleistung in Form einer Strafmilderung erhält. Die aktuelle „Bindungswirkung“ ist zur Sicherung des fairen Verfahrens daher nicht ausreichend. Trotz Beweisverwertungsverbot kann das Geständnis des Beschuldigten mittelbar 269

Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 61. Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 61; Murmann, ZIS 2009, 526, 538. 271 BT-Drucks 16/11736, S. 12. 272 So für die Verständigung: Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 28; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 150; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 68; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 174; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 52 (Stand: November 2009); Kirsch, StraFo 2010, 96, 99. 273 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 150; vgl. Spendel, NJW 1966, 1102, 1105. 274 Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 150; Spendel, NJW 1966, 1102, 1105. 270

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

gegen ihn verwendet werden. Die Bindungswirkung darf allerdings im Hinblick auf andere Verfahrensgrundsätze wie beispielsweise den Richtervorbehalt275 und dem Schuldgrundsatz276 auch nicht zu weit gehen. Folglich ist hier ein sinnvoller Ausgleich zu finden. Diesem Ausgleich zugunsten des Fairnessgrundsatzes würde wohl am ehesten eine absolute Bindungswirkung oder die Möglichkeit des Lösens von der Bindungswirkung nur bei sich nachträglich ergebenden schwerwiegenden Umständen entsprechen. Allerdings muss im Hinblick auf den Schuldgrundsatz ein schuldangemessenes Urteil gefällt werden, sodass eine Abweichung auch möglich sein muss, wenn schwerwiegende Umstände übersehen wurden und die Strafe daher nicht mehr tat- und schuldangemessen ist. Erforderlich ist hierfür, dass die Umstände so schwer wiegen, dass die angegebene Strafobergrenze im Rahmen des tatrichterlichen Ermessens nicht mehr vertretbar erscheint. Hier wäre also de lege ferenda eine Nachbesserung des Gesetzgebers in Anlehnung an die Rechtsprechung BGHSt 50, 40 notwendig. Die Bindungswirkung im Verständigungsgesetz wurde im Vergleich zu dem genannten Urteil weiter abgeschwächt, sodass der Gesetzgeber hier einen Schritt zurück machen muss, um die Verfahrensfairness im Verständigungsverfahren zu gewährleisten. Eine noch bessere Möglichkeit der Kompensation des Fairnessdefizites wäre die revisionsgerichtliche Entwicklung einer Fernwirkung des Beweisverwertungsverbotes im Rahmen des § 257c Abs. 4 S. 3 StPO.277 Dies wäre im Hinblick auf den Fairnessgrundsatz wohl die sinnvollste Lösung, da das Geständnis des Beschuldigten auch nicht mittelbar gegen ihn verwertet werden kann. Der Beschuldigte ist bei Wegfall der Bindungswirkung so zu stellen, als wäre die Verständigung nicht zustande gekommen.278 Dies kann nur dann gewährleistet werden, wenn das Geständnis auch nicht mittelbar verwertet werden darf.279 Dies sollte jedenfalls dann gelten, wenn der Fehler aus der Sphäre der Justiz stammt.280 Dies wäre beispielsweise bei Nachlässigkeiten im Rahmen der Aktenanalyse seitens des Gerichts anzunehmen. Allerdings ist problematisch, ob das Beweisverwertungsverbot auch dann Fernwirkung entfalten soll, wenn das Entfallen der Bindungswirkung jedenfalls nicht nur aus dem Verantwortungsbereich des Gerichts stammt. Die Fernwirkung eines Be275

2. Kapitel § 2 A. I. 2. Kapitel § 2 A. IV. 1. 277 Vgl. dazu Murmann, ZIS 2009, 526, 538; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2629. 278 Schlothauer/Weider, StV 2009, 600, 605. 279 Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2629; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 174 nehmen dies insbesondere dann an, wenn das Gericht seiner Verpflichtung zur Berücksichtigung aller Umstände gemäß § 257c Abs. 3 S. 2 StPO nicht nachgekommen ist, schließen dies aber für alle anderen Fälle nicht aus; Schlothauer/Weider, StV 2009, 600, 605 nehmen eine Fernwirkung nur dann an, wenn die Verantwortung für das Scheitern der Verständigung ausschließlich in der Sphäre der Justiz liegt; ebenso König, StV 2010, 606, 607. 280 Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2629; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 174; Schlothauer/Weider, StV 2009, 600, 605; König, StV 2010, 606, 607. 276

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

255

weisverwertungsverbots bestimmt sich nach der Sachlage und der Art des Verbotes.281 Grundsätzlich werde aber keine Fernwirkung begründet.282 Die andere Ansicht folgt der „the fruit of the poisonous tree-doctrin“, wonach auch mittelbare Beweisergebnisse dem Beweisverwertungsverbot unterfallen.283 Dies ist allerdings de lege lata zu verneinen,284 sodass die Notwendigkeit der Fernwirkung hier im Hinblick auf den Fairnessgrundsatz zu ermitteln ist.285 Grundsätzlich herrscht bei Verträgen eine gleichmäßige Risikoverteilung. Im Rahmen der Verständigung begibt sich das Gericht auf die Ebene des Beschuldigten, um mit ihm über das Verfahrensergebnis zu sprechen. Dabei trägt das Gericht das Risiko, dass sich im Nachhinein Umstände ergeben, die dazu führen, dass die zugesagte Strafobergrenze nicht mehr tat- und schuldangemessen ist. Dieses Risiko des Gerichts wird vollständig durch § 257c Abs. 4 S. 1 StPO kompensiert. Der Beschuldigte legt ein Geständnis ab und trägt das Risiko, dass das Gericht sich von der Bindungswirkung löst. Dieses Risiko wiederum wird aber nur teilweise durch das Beweisverwertungsverbot aus § 257c Abs. 4 S. 3 StPO kompensiert. Aus der Subjektstellung des Beschuldigten und der daraus gefolgerten Waffengleichheit gegenüber dem Gericht lässt sich daher ein Fairnessverstoß feststellten. Während das Risiko des Gerichts vollständig kompensiert werden kann, bleibt dem Beschuldigten das Risiko der mittelbaren Verwertung. Während das Gericht also letztendlich ohne Risiko handelt, bleibt auf Seiten des Beschuldigten das Risiko, dass er sich trotz Beweisverwertungsverbot mit seinem Geständnis selbst überführt. Vor allem der Beschuldigte, der ein ausführliches Geständnis ablegt, aus dem sich weitere Beweiserhebungen erschließen, wird nicht ausreichend geschützt. Aufgrund der fehlenden Fernwirkung des Beweisverwertungsverbotes kann das Gericht in diesem Fall den sich anschließenden Beweiserhebungen nachgehen, ohne sich selbst an die zugesagte Strafobergrenze zu halten. Es wäre daher de lege lata aus Sicht des Verteidigers ratsam, dem Beschuldigten zu einem „schlanken“ Geständnis zu raten, aus dem sich keine weiteren Beweiserhebungen ergeben. Da schlanke Geständnisse im Rahmen der Verständigung aber gerade nicht gewünscht sind und dem Amtsermittlungsgrundsatz sowie dem Schuldgrundsatz nicht genügen, würde dies die Existenz der Verständigung in ihrer jetzigen Form in Frage stellen. Für den Fall, dass 281

BGHSt 27, 355, 357; BGHSt 29, 244, 249; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 57. 282 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 57; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/ 2 § 257c Rn. 68; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 174; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn. 52 (Stand: November 2009). 283 Grünwald, JZ 1966, 489, 500; Haffke, GA 1973, 65, 82; Spendel, NJW 1966, 1102, 1105; vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 57. 284 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 57; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 68; MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 174; KMR/v. HeintschelHeinegg, § 257c Rn. 52 (Stand: November 2009). 285 Vgl. Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2629; Jahn, StV 2011, 497, 501; MüKoStPO/Jahn/ Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 174.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

der Beschuldigte seinen Teil der Vereinbarung nicht einhält, stellt sich diese Frage ohnehin nicht. Hat der Beschuldigte kein Geständnis abgelegt, verbleibt kein Raum für die Frage nach Beweisverwertungsverboten. Hat der Beschuldigte aber ein ausführliches Geständnis abgelegt, so verstößt es gegen den Fairnessgrundsatz, wenn dieses aufgrund einer Nachlässigkeit seinerseits, die zum Wegfall der Bindungswirkung führt, mittelbar gegen ihn verwendet werden kann. Zum einen würde dies den Beschuldigten, der mit einem umfassen Geständnis tatsächlich zur Sachaufklärung beiträgt gegenüber dem Beschuldigten, der ein reines Formalgeständnis ablegt, benachteiligen. Selbst wenn die Verständigung daher aus Gründen scheitert, die aus der Sphäre des Beschuldigten stammen, muss daher die Fernwirkung des Verwertungsverbots angenommen werden. Der Beschuldigte wird sonst zu einem reinen Verfahrensobjekt degradiert. Es sind allerdings nur die Beweismittel ausgeschlossen, welche die Strafverfolgungsbehörden ohne die Verständigung nicht erlangt hätten.286 Umgekehrt kann auch dem Gericht das Lösen von der Bindungswirkung nicht untersagt werden, weil die Verständigung aufgrund eines Umstands gescheitert ist, der aus dessen Risikosphäre stammt. Auch im Hinblick auf die Rechtsunsicherheit der Bindungswirkung wäre die generelle Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots die beste Lösung. Nur so kann die Unsicherheit über die Bindungswirkung in jedem Fall kompensiert werden. Der Beschuldigte kann allerdings anders als im Rahmen des § 136a Abs. 3 StPO auf das Beweisverwertungsverbot verzichten.287 Dies trägt der Autonomie des Beschuldigten Rechnung, der möglicherweise ein Interesse daran hat, dass strafmildernde Aspekte seines Geständnisses sowie seine allgemeine Kooperationsbereitschaft Berücksichtigung finden. 3. Zeitpunkt der Belehrung Wie Rabe zutreffend ausführt, können nicht nur formelle Verständigungen ein schutzwürdiges Vertrauen begründen, sondern auch Angebote zu informellen Verständigungen.288 Die Belehrungspflicht wird aber gemäß § 257c Abs. 5 StPO nur bei formellen Verständigungen ausgelöst, sodass das schutzwürdige Vertrauen zu Unrecht auf formelle Verständigungen beschränkt wird.289 Aufgrund der Gefahr von informellen Verständigungen muss der Zeitpunkt der Belehrung ins Ermittlungsverfahren vorverlegt werden, um den Beschuldigten davor 286

Grünwald, JZ 1966, 489, 500. BGH, StV 2018, 10; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 68. 288 Rabe, S. 271. 289 Rabe, S. 272; eine jüngere Entscheidung des BGH Beschl. v. 9. 10. 2019 – 1 StR 545/18, Rn. 8, 10 geht diesbezüglich in die richtige Richtung, indem sie die Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO bereits bei verständigungsbezogenen Erörterungen für notwendig erachtet; BVerfGE 133, 168, 224 sieht dagegen nur vor, dass die Belehrung „vor“ Eingehung der Verständigung erfolgen muss. 287

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

257

zu warnen, auf informelle Absprachen zu vertrauen.290 Das Erfordernis der frühestmöglichen Information beruhe laut Rabe auf der Subjektstellung des Beschuldigten.291 Dies trifft auch zu, da die Subjektstellung es gebietet, dass der Beschuldigte dem Verfahren zu jeder Zeit folgen kann und seine Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe kennt. Die Belehrung im Ermittlungsverfahren ist ebenfalls zu protokollieren. Zudem wäre es wünschenswert, dass die Praxis der Revisionen bei Verstößen gegen diese Belehrung ebenso einen „quasi-absoluten“ Revisionsgrund annimmt wie bei Verstößen gegen § 257c Abs. 5 StPO. Ein weiterer positiver Nebeneffekt einer solchen Belehrung wäre die Information des Beschuldigten über die Unzulässigkeit informeller Absprachen. So könnten diese möglicherweise noch weiter zurückgedrängt werden, weil sich die Beschuldigten nicht mehr auf informelle Absprachen einlassen und den Weg der Verständigung gehen. 4. Teilnahme des Beschuldigten an Vorgesprächen Wie im Rahmen der Ausführungen zu dem rechtlichen Gehör bereits ausgeführt wurde, ist insbesondere die nicht geregelte Teilnahme des Beschuldigten an Gesprächen im Sinne der §§ 202a, 212 StPO problematisch, da hier bereits das Gericht der Hauptverhandlung beteiligt ist. Zwar wird die Verständigung im Rahmen des § 257c Abs. 3 S. 4 StPO von der Zustimmung des Beschuldigten abhängig gemacht. Zudem muss die Anwesenheit des Beschuldigten sich nach dem Fairnessprinzip nicht nur auf die Hauptverhandlung im engeren Sinn sondern auch auf alle wesentlichen, also das Urteil vorbereitenden, Teile erstrecken.292 Sie ist allerdings im Gegensatz zu den deutschen Anwesenheitsrechten verzichtbar. Die fehlende Partizipation bei Gesprächen im Sinne der §§ 202a, 212 StPO könnte durch die Zustimmung des Angeklagten gemäß § 257c Abs. 3 S. 2, 3 StPO ausgeglichen werden. Allerdings führt Henckel zutreffend aus, dass die Annahme des Angeklagten sich als informierte und damit eigenverantwortliche Teilhabe darstellen muss, um die vorherige Nichtteilnahme zu kompensieren.293 Dies setzt eine autonome Entscheidung voraus, für die der Angeklagte vorher alle wesentlichen Informationen benötigt.294 Für den Angeklagten muss auch ersichtlich sein, welche Aspekte die Beteiligten diskutiert haben und welche Bedeutung diesen Aspekten zugemessen wurde.295 Für die Beurteilung, ob der Verteidiger tatsächlich im Interesse des Angeklagten gehandelt hat, spielt auch der konkrete Ablauf der Gespräche

290 291 292 293 294 295

Rabe, S. 273. Rabe, S. 273. Rzepka, S. 391; Henckel, S. 58. Vgl. Henckel, S. 65. So auch Henckel, S. 65. So auch Henckel, S. 66.

258

2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

eine Rolle.296 Das Zusammenspiel all dieser Faktoren lässt den Beschuldigten erkennen, ob seine Interessen und Argumente ausreichend diskutiert und im Ergebnis berücksichtigt wurden.297 Nur so kann der Beschuldigte am Ende beurteilen, ob es sich um ein für ihn akzeptables Ergebnis handelt. Eine autonome Entscheidung im Sinne des § 257c Abs. 3 S. 3 StPO ist daher nur bei umfassender Kenntnis über die Vorgespräche überhaupt möglich. Nach jetziger Rechtslage ist die persönliche Teilnahme des Beschuldigten an Gesprächen nach §§ 202a, 212 StPO aber nicht zwingend vorgeschrieben. Denkbar wäre für die Einhaltung des Fairnessprinzips die Einführung einer Vorschrift, welche die Teilnahme des Beschuldigten bei den Vorgesprächen der §§ 202a, 212 StPO grundsätzlich als zwingend vorschreibt, ihm aber die Möglichkeit eines Verzichts einräumt. Dies würde seine Subjektstellung am besten gewährleisten. Die Verzichtsmöglichkeit wird im Rahmen des Fairnessprinzips aufgrund der Subjektstellung des Beschuldigten und der daraus folgenden Autonomie ebenfalls immer wieder betont. Die Anwesenheitsrechte gehen im Rahmen des Fairnessprinzips weiter als im Rahmen des Rechts auf richterliches Gehör, sind allerdings verzichtbar. Daher wäre es sinnvoll, die Anwesenheit des Beschuldigten bei Gesprächen im Sinne des §§ 202a, 212 StPO anzuordnen, sie aber als verzichtbar auszugestalten. Denkbar wäre die Neueinfügung eines Absatz 2 in § 202a StPO. § 202a Abs. 2 StPO n. F. „1Der Beschuldigte muss bei sämtlichen Erörterungen, die eine mögliche Verständigung vorbereiten, persönlich anwesend sein. 2Dies gilt nicht, wenn der Beschuldigte ausdrücklich auf sein Recht zur Teilnahme verzichtet. 3Das Gericht muss den Beschuldigten auf sein Recht zur Teilnahme an den Erörterungen und die Verzichtsmöglichkeit hinweisen.“

Freilich bringt auch eine solche Regelung Schwierigkeiten mit sich. Beispielsweise kann nicht verlangt werden, den Beschuldigten bei jedem Telefonat miteinzubeziehen. Es würde allerdings verhindert, dass der Beschuldigte in seinem Anwesenheitsrecht „übergangen“ wird. Wie oben festgestellt wurde, informiert ein Teil der Verteidiger ihren Mandanten überhaupt nicht über stattfindende Gespräche, die eine Verständigung vorbereiten. Dies würde dann eine Verletzung seines Anwesenheitsrechts darstellen und zu einer Revisibilität des Urteils aufgrund eines Fairnessverstoßes führen. Des Weiteren wird er darauf hingewiesen, dass er jederzeit das Recht zur Teilnahme hat, auf dieses Recht aber ausdrücklich verzichten kann. Darüber hinaus müsste in § 202a S. 2 StPO a. F. ergänzt werden, dass auch in die Akten aufgenommen werden muss, ob der Beschuldigte an Gesprächen im Sinne des §§ 202a, 212 StPO teilgenommen hat oder ob er auf sein Recht zur Teilnahme verzichtet hat. Während der § 202a S. 1 StPO a. F. im Rahmen der neuen Regelungssystematik unverändert in § 202a Abs. 1 StPO überführt würde, müsste der in Abs. 3 überführte und leicht veränderte § 202a S. 2 StPO a. F. wie folgt lauten: 296 297

So auch Henckel, S. 66. Henckel, S. 66.

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

259

§ 202a Abs. 3 StPO n. F. „Der wesentliche Inhalt dieser Erörterung sowie ein möglicher Verzicht des Beschuldigten auf seine Teilnahme sind aktenkundig zu machen.“

Das Gericht kann es sich allerdings nicht erlauben, Verzicht und Information über die Gespräche vollständig dem Verteidiger zu überlassen, da dieser nicht immer dieselben Interessen verfolgt wie sein Mandant. Weider geht sogar davon aus, dass Mandant und Verteidiger zum Teil gegenläufige Interessen haben und die Verteidigung sich aufgrund der Übermacht der Justiz in den Deal „flüchtet“.298 Das Gericht kann daher nicht darauf vertrauen, dass der Angeklagte immer vollumfänglich informiert wird. Auch der Beschuldigte hat ein Interesse daran, den konkreten Ablauf des Gespräches nachzuvollziehen, um zu erkennen, ob der Verteidiger tatsächlich in seinem Interesse gehandelt hat.299 Zudem kann der Beschuldigte, wie oben ausgeführt, die Verständigung nur dann beurteilen, wenn er den kompletten Ablauf der Gespräche kennt. Hat das Gericht diesbezüglich Zweifel, so müsste es den Angeklagten selbst informieren, wenn es einen Grundrechtsverstoß vermeiden will. Eine über § 243 Abs. 4 StPO hinausgehende Informationspflicht gegenüber dem Angeklagten muss aktuell in Verbindung mit dem Fairnessgrundsatz angenommen werden, da es an einer ausdrücklichen Normierung fehlt. Diese Informationspflicht muss auch über § 243 Abs. 4 StPO hinausgehen, da hier nur der „wesentliche Inhalt“ mitgeteilt werden muss. Sinn und Zweck dieser Regelung ist die Wahrung des Transparenzgebotes und die Information der Öffentlichkeit sowie die Information der Verfahrensbeteiligten.300 Die Informationspflicht könnte zum einen durch verfassungskonforme Auslegung des § 243 Abs. 4 StPO im Hinblick auf den „fairtrial“- Grundsatz und zum anderen durch einen fiktiven § 202a Abs. 4 StPO sichergestellt werden. Die Regelung in § 202a Abs. 4 StPO n. F. hätte den Vorteil, dass sie über § 212 StPO auch auf Gespräche im Hauptverfahren anwendbar wäre. Eine Anwendbarkeit auf Gespräche im Rahmen des § 160b StPO ist nicht erforderlich, da diese ohne Beteiligung des Gerichts erfolgen. Daher sind sie deutlich weniger konkret, weil diejenigen, die am Ende die Entscheidung treffen, überhaupt nicht beteiligt sind. Bei der Auslegung des § 243 Abs. 4 StPO müsste die unbestimmte Begrifflichkeit „wesentlicher Inhalt“ der Verständigung weit ausgelegt werden und alle für den

298

Weider, S. 156, 176; zustimmend Weichbrodt, S. 133. Henckel, S. 66. 300 Die Vorschrift dient in erster Linie der Information der Öffentlichkeit: BVerfGE 133, 168, 217 f.; BVerfG, NJW 2015, 1235, 1237; MüKoStPO/Arnoldi, Bd. 2 § 243 Rn. 40; SSWStPO/Franke, § 243 Rn. 14; die Vorschrift dient in erster Linie der Information der Verfahrensbeteiligten: BGHSt 58, 310, 314 Rn. 13; BGH, StV 2013, 740, 740 f.; BGH, StV 2014, 67, 67 f.; BGH, StV 2014, 651; BGH, StV 2014, 653, 654; BGH, NStZ 2015, 178; Niemöller/ Schlothauer/Weider, § 243 Abs. 4 Rn. 6; Henckel, S. 27 die annehmen, dass § 243 Abs. 4 StPO auch die ausreichende Information der Schöffen und des Angeklagten gewährleisten soll. 299

260

2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

Beschuldigten wichtigen Abläufe des Gespräches enthalten.301 Es muss daher der komplette Gesprächsablauf in der Verhandlung offengelegt werden. Der Beschuldigte muss sich ausreichend informieren können, um von seinem Teilhaberecht, das in § 257c Abs. 3 S. 3, 4 StPO einfachrechtlich konkretisiert ist, Gebrauch zu machen. In § 243 StPO geht es allerdings um die öffentliche Mitteilung von Tatsachen in der Hauptverhandlung.302 Mitgeteilt werden müssen de lege lata nur, welche Standpunkte im Rahmen der Erörterungen vertreten wurden, von wem die Initiative ausging und wie die Reaktion der anderen Gesprächsteilnehmer war.303 Der Beschuldigte, der im Anschluss eine Entscheidung über den Abschluss einer Verständigung treffen muss, sollte aber umfassender informiert werden und zwar über den gesamten Verlauf des Gespräches. Im Hinblick auf das Informationsrecht des Beschuldigten ist eine Mitteilung in der öffentlichen Hauptverhandlung nicht zwingend. Es reicht aus, wenn er anderweitig ausreichend informiert wird. Außerdem führt die verfassungskonforme Auslegung oft zu Unsicherheiten in der Rechtsanwendung, sodass wohl eine Neuregelung in § 202a Abs. 4 StPO n. F. wirkungsvoller wäre. Das sollte jedenfalls dann gelten, wenn das Gericht erkennt, dass der Angeklagte über die Verständigungsgespräche offensichtlich nicht, unzureichend oder sogar falsch informiert wurde. Da hier allerdings wieder Rechtsunsicherheit entstehen würde, muss das Gericht den Beschuldigten immer im Beisein aller am Gespräch Beteiligten informieren. Den Fehler der nicht ausreichenden Information allein in das Innenverhältnis des Mandats zu verlagern, wird dem Grundrecht auf ein faires Verfahren nicht gerecht. Die Gerichte dürfen sich nicht auf die ausreichende Information durch den Verteidiger verlassen, weil sie selbst Grundrechtsadressaten sind.304 § 202a Abs. 4 StPO n. F. „Hat der Beschuldigte auf sein Recht zur Teilnahme verzichtet, so ist er im Beisein aller am Gespräch Beteiligten über den genauen Ablauf der Gespräche zu informieren.“

Im Vergleich zu § 243 Abs. 4 StPO, der nur eine Information über den wesentlichen Inhalt erfordert, wäre die Informationspflicht aus § 202a Abs. 4 StPO weitreichender. Die Anwesenheit aller am Gespräch Beteiligten soll die gegenseitige Kontrolle gewährleisten. Weil es sich dabei um Vorgänge außerhalb der Hauptverhandlung handelt, die nicht von der negativen Beweiswirkung des Protokols nach § 274 StPO umfasst sind,305 ist der Angeklagte bei der Geltendmachung eines Verstoßes auf das Freibeweisverfahren verwiesen. Über den Verweis in § 212 StPO 301

B. IV. 302

Dafür wurde schon im Rahmen des Öffentlichkeitsgrundsatzes plädiert 2. Kapitel § 2

BT-Drucks. 16/11736, S. 10; a. A. Niemöller/Schlothauer/Weider, § 243 Abs. 4 Rn. 6. BVerfGE 133, 168, 217. 304 Vgl. Remmert, in: Maunz/Dürig GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 58 (Stand: September 2016); Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke GG, Art. 103 Rn. 49. 305 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 274 Rn. 4. 303

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

261

sind sämtliche dieser Vorschläge auch auf Gespräche nach dieser Vorschrift anwendbar. Eine solche Regelung ist für § 257b StPO nicht notwendig, da bei einer mangelnden Teilnahme des Angeklagten an Gesprächen innerhalb der Hauptverhandlung schon dessen einfachgesetzliche Anwesenheitsrechte verletzt sind. Die gesetzlichen Regelungen der §§ 202a, 212, 243 Abs. 4 StPO reichen de lege lata zur Gewährleistung der Subjektstellung des Beschuldigten nicht aus. Daher besteht hier für den Gesetzgeber eine Nachbesserungspflicht im Hinblick auf den Fairnessgrundsatz. Werden die oben genannten Vorschläge umgesetzt, so kann auch dann von einer autonomen Entscheidung des Beschuldigten im Rahmen des § 257c Abs. 3 S. 3 StPO gesprochen werden, wenn dieser nicht persönlich an den Gesprächen teilgenommen hat. Die Subjektstellung des Beschuldigten wäre damit ausreichend berücksichtigt und der Fairnessgrundsatz gewahrt. 5. Notwendige Verteidigung Schünemann ist zuzustimmen, dass der Beschuldigte im Rahmen der Verständigung wenigstens einen Anspruch auf einen Verteidiger haben sollte. Außerdem darf dem Beschuldigten laut Schünemann kein Verteidiger aufgezwungen werden.306 Auch weitere Literaturstimmen plädieren dafür, die Verständigung zu einem Fall notwendiger Verteidigung zu erklären.307 a) Allgemeines Grundsätzlich steht es gemäß § 137 Abs. 1 S. 1 StPO jedem Beschuldigten frei, einen Verteidiger zu konsultieren.308 Im deutschen System wird zwischen Wahlverteidigung und Pflichtverteidigung unterschieden.309 Ein Pflichtverteidiger wird nur in den Fällen notwendiger Verteidigung bestellt, allerdings ist nicht jeder Verteidiger in den Fällen notwendiger Verteidigung auch Pflichtverteidiger.310 Hat der Beschuldigte in den Fällen notwendiger Verteidigung keinen Verteidiger gewählt, so wird ihm von Amts wegen ein Pflichtverteidiger bestellt.311 Zwischen dem Be306

Schünemann, GA 2018, 181, 183. Duttge, Meijo Law Rev. 2012, 1, 7; Krause, S. 192 ff.; Murmann, ZIS 2009, 526, 535; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2627 halten es für bedauernswert, dass der Gesetzgeber auf die Normierung eines Falls notwendiger Verteidigung verzichtet, sehen aber vor allem bei komplexen Abspracheverfahren die Möglichkeit der Bestellung nach § 140 Abs. 2 S. 1 StPO; Ruhs, NStZ 2016, 706, 709 nimmt an, dass die Verständigung zwar einen Fall der notwendigen Verteidigung begründen kann, dies aber nicht reflexartig geschieht. 308 Dabei handelt es sich um einen Ausfluss des fairen Verfahrens Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, § 137 Rn. 2; BVerfGE 68, 237, 255. 309 Vgl. MüKoStPO/Kudlich, Bd. 1 Einl. Rn. 315; Löwe-Rosenberg/Kudlich, Bd. 1 Einl. J Rn. 102. 310 MüKoStPO/Kudlich, Bd. 1 Einl. Rn. 317; vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 9 Rn. 165. 311 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 9 Rn. 165. 307

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

schuldigten und dem Wahlverteidiger besteht ein Geschäftsbesorgungsvertrag, aus dem der Beschuldigte zur Zahlung des Entgelts verpflichtet ist.312 Im Strafrecht wird grundsätzlich, anders als im Zivilprozess, keine Prozesskostenhilfe gewährt.313 Durch das Institut der Pflichtverteidigung sollen die Rechte des Beschuldigten ohne Rücksicht auf dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse gesichert werden.314 Allerdings kennt das deutsche Strafprozessrecht gerade keinen „Armenanwalt“.315 Die notwendige Verteidigung orientiert sich allein daran, ob die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der Sachlage zur Durchführung eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens notwendig ist.316 Während im Recht der notwendigen Verteidigung also nur eine Prüfung nach materiellen Kriterien erfolgt, würde im Rahmen der Prüfung einer Prozesskostenhilfe nur eine Bedürftigkeitsprüfung erfolgen. In den Fällen notwendiger Verteidigung wird das Honorar des Verteidigers gemäß § 45 Abs. 3 S. 1 RVG jedenfalls teilweise aus der Staatskasse beglichen.317 Zudem muss der Beschuldigte gemäß § 52 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 RVG keinen Vorschuss leisten und nur den Differenzbetrag zwischen Pflichtverteidigerhonorar und Wahlverteidigerhonorar tragen § 52 Abs. 1 S. 1 Hs. 1, S. 2 RVG. Im Falle einer Verurteilung trägt er allerdings gemäß § 465 Abs. 1 S. 1 StPO die Kosten des Verfahrens und damit auch die Kosten für seinen Pflichtverteidiger.318 Lüderssen/Jahn kritisieren, dass die Vorschriften über die Pflichtverteidigung einerseits zu weit seien, weshalb die Fälle notwendiger Verteidigung teilweise restriktiv auszulegen seien.319 Durch die restriktive Auslegung sollen aufgezwungene Verteidigungen im Hinblick auf die Autonomie des Beschuldigten vermieden werden.320 Andererseits seien diese aber auch zu eng und zwar im Hinblick auf die staatliche Finanzierung der Pflichtverteidigung für den mittellosen Beschuldigten.321 In diesen Fällen seien die Vorschriften über die Pflichtverteidigung extensiv aus-

312 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 555; a. A. unzutreffend KMR/Staudinger, Vor § 137 ff. Rn. 10 (Stand: Juli 2020) der den Vertrag als Auftrag qualifiziert. Dabei verkennt er, dass das Abgrenzungskriterium zwischen dem Auftrag und der Geschäftsbesorgung im Zivilrecht die Unentgeltlichkeit ist. 313 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 538. 314 MüKoStPO/Kudlich, Bd. 1 Einl. Rn. 317; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3 Vor §§ 137 ff. Rn. 36 f.; vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 9 Rn. 165. 315 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 538. 316 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3 Vor §§ 137 ff. Rn. 37; Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 538. 317 Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 538. 318 Vgl. Zink, S. 213 f. 319 Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 4 § 140 Rn. 7. 320 Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 4 § 140 Rn. 7; ebenso MüKoStPO/Thomas/ Kämpfer, Bd. 1 § 140 Rn. 3. 321 Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 4 Vor §§ 137 ff. Rn. 70.

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

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zulegen, um auch dem mittellosen Beschuldigten eine Verteidigung zu ermöglichen.322 Die „PKH-Richtlinie“323 eröffnet nach Maßgabe des Art. 4 Abs. 2 zwei Möglichkeiten. Zum einen kann eine Prüfung nach Bedürftigkeitsgesichtspunkten vorgenommen werden (means-test), zum anderen ist auch eine Begründetheitsprüfung denkbar (merits-test).324 Im deutschen System der notwendigen Verteidigung wird aktuell ausschließlich eine Begründetheitsprüfung vorgenommen. b) Aufgezwungene Verteidigung Der Beschuldigte ist in den Fällen notwendiger Verteidigung gezwungen, einen Verteidiger in Anspruch zu nehmen, da das Recht auf notwendige Verteidigung de lege lata nicht verzichtbar ist.325 Zwar ist seit der Umsetzung der PKH-Richtlinie gemäß § 141 Abs. 1 StPO ein Antrag des Beschuldigten vorgesehen.326 Dieser soll aber nur in zeitlicher Hinsicht maßgeblich sein. Zudem kann das Gericht dem Beschuldigten auch bei fehlendem Antrag einen Pflichtverteidiger beiordnen, sofern dies im „Rechtspflegeinteresse“ erforderlich ist.327 Die Bestellung kann gemäß § 141 Abs. 2 StPO zudem weiterhin völlig unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten erfolgen.328 Das Problem, dass dem Beschuldigten unter Umständen ein Pflichtverteidiger aufgedrängt wird, wurde daher durch die Umsetzung der PKHRichtlinie nicht gelöst. Jedenfalls könnte die aufgezwungene Pflichtverteidigung einen Verstoß gegen die Subjektstellung des Beschuldigten darstellen.329 Dabei handelt es sich allerdings nicht um ein spezifisches Problem der Verständigung. Im Rahmen der Verständigung ist dies aber besonders problematisch, weil in der Regel der Verteidiger die Gespräche für den Beschuldigten führt. Nicht selten geschieht dies, wie bereits an zahlreichen Stellen ausgeführt, ohne Wissen des Beschuldigten. Das System der notwendigen Verteidigung hat allerdings auch Vorzüge, die es auch im Hinblick auf die Richtlinie rechtfertigen dieses grundlegend beizubehalten.330 322 Löwe-Rosenberg/Lüderssen/Jahn, Bd. 4 § 140 Rn. 6; vgl. Zink, S. 64; MüKoStPO/ Thomas/Kämpfer, Bd. 1 § 140 Rn. 2. 323 Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. 10. 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ABl. EU L 297 1. 324 Vgl. Zink, S. 110. 325 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3 Vor §§ 137 ff. Rn. 42; Zink, S. 124; vgl. Heghmanns, Strafverfahren, Rn. 560. 326 Vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 35. 327 Vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 3. 328 Vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 36. 329 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3 Vor §§ 137 ff. Rn. 42; kritisch Zink, S. 124. 330 Jahn, Stellungnahme zu BT-Ds. 19/13837, S. 5; vgl. Zink, S. 63 – 69, 163 ff.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

Das Institut der Pflichtverteidigung hängt eng mit der deutschen Verfassungsidentität zusammen.331 Das Rechtsstaatsprinzip gebietet es, in Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten einen Verteidiger zur Seite zu stellen.332 Die Vorschriften über die notwendige Verteidigung stellen demnach eine Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar.333 In keiner anderen Verfahrensart wird der Beschuldigte so sehr gegen seinen Willen staatlichem Zwang unterworfen, wie im Strafverfahren.334 Deshalb kommt es hier besonders stark darauf an, ihn mit den notwendigen Verfahrensrechten auszustatten. Dies dürfe notfalls auch gegen seinen Willen geschehen.335 Ohne einen Verteidiger wäre der Beschuldigte in den Situationen, in denen das Gesetz diesen als zwingend vorschreibt, ebenfalls bloßes Verfahrensobjekt.336 Zwar wird dem Beschuldigten im Rahmen des Fairnessgrundsatzes eine gewisse Autonomie zugesprochen. Die Chancenungleichheit zwischen dem unverteidigten Beschuldigten und der Anklagebehörde wäre aber in diesen Fällen so eklatant, dass hier auch gegen den Willen des Beschuldigten ein Pflichtverteidiger bestellt werden muss. Bei den Fällen aufgedrängter Verteidigung handelt es sich daher nicht um einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz. Dies gilt auch, wenn dem Beschuldigten im Verständigungsverfahren ein Pflichtverteidiger aufgedrängt wird.337 Für den mittellosen Beschuldigten ist es wegen der Kostentragungspflicht aus § 465 Abs. 1 S. 1 StPO aber weiterhin nachteilig, wenn ihm ein Pflichtverteidiger aufgezwungen wird. Es wäre aber sinnvoll, über ein Kostentragungssystem für bedürftige Beschuldigte nachzudenken.338 c) Schutzlücke im Rahmen der Verständigung Im Hinblick auf die Verteidigung des Beschuldigten im Rahmen einer Verständigung ist das Gesetz allerdings weiterhin extensiv auszulegen, um die Schutzlücke zu schließen. Auch in Umsetzung der PKH-Richtlinie hat der Gesetzgeber das System der notwendigen Verteidigung nicht grundlegend reformiert, obwohl dies 331

Zink, S. 163; Jahn, Stellungnahme zu BT-Ds. 19/13837, S. 6. MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, Bd. 1 § 140 Rn. 2; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3 Vor §§ 137 ff. Rn. 37; Zink, S. 164; KMR/Staudinger, § 140 Rn. 1 (Stand: Juli 2020); SSW-StPO/ Beulke, § 140 Rn. 2. 333 BVerfGE 39, 238, 243; BVerfGE 46, 202, 210; BVerfGE 65, 171, 175; BVerfGE 66, 313, 318; BVerfGE 68, 237, 255; BGHSt 48, 170, 172; KMR/Staudinger, § 140 Rn. 1 (Stand: Juli 2020); KK/Willnow, § 140 Rn. 1; SSW-StPO/Beulke, § 140 Rn. 2; differenzierend: SK-StPO/ Wohlers, Bd. 3 § 140 Rn. 3. 334 Jahn, Stellungnahme zu BT-Ds. 19/13837, S. 6. 335 Jahn, Stellungnahme zu BT-Ds. 19/13837, S. 6. 336 Jahn, Stellungnahme zu BT-Ds. 19/13837, S. 6; vgl. MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, Bd. 1 § 140 Rn. 2; a. A. SK-StPO/Wohlers, Bd. 3 Vor §§ 137 ff. Rn. 42. 337 Dazu ausführlich Zink, S. 163 ff. 338 Mit konkreten Vorschlägen Zink, S. 224 ff. 332

B. Vereinbarkeit von Verständigung und Fairnessprinzip

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grundsätzlich möglich gewesen wäre.339 Zwar ist auch eine Umsetzung der Richtlinie im Rahmen der notwendigen Verteidigung wohl richtlinienkonform.340 Das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren würde es aber gebieten, jedem Beschuldigten bei Bedarf unabhängig von dessen finanziellen Möglichkeiten einen Verteidiger zur Seite zu stellen. Dies entspräche am ehesten einem System der Prozesskostenhilfe und ist auch kein spezifisches Problem der Verständigung. Es handelt sich bei der Verständigung auch nach neuer Rechtslage nicht um einen ausdrücklich normierten Fall notwendiger Verteidigung. Es könnte daher de lege lata von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Beschuldigten abhängen, ob es ihm im Rahmen der Verständigung möglich ist, einen Verteidiger zu beauftragen. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn aufgrund der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint und ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann. Im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO sollte daher die Auslegung de lege lata im Hinblick auf den Fairnessgrundsatz dahingehend erfolgen, dass im Rahmen von Verständigungsgesprächen immer eine schwierige Sach- und Rechtslage vorliegt. Dies ergibt sich aus dem Recht des Beschuldigten, auf den Ausgang des Verfahrens Einfluss zu nehmen und damit aus dem Fairnessgrundsatz. Eine Einflussnahme kann ihm aber nur gelingen, wenn ein Kräftegleichgewicht zwischen ihm und dem Gericht besteht. Folgt man der Fallgruppenbildung so ergibt sich dies auch eindeutig aus dem Prinzip der „Waffengleichheit“.341 De lege ferenda wäre es wünschenswert, Fälle, in denen sich eine Verständigung anbahnt, zu einem Fall notwendiger Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 StPO zu erklären. d) Fazit Folglich wird dem Fairnessgrundsatz im Hinblick auf die Verständigung mit den neuen Regelungen zur Pflichtverteidigung nicht vollständig Genüge getan. Bei Art. 3 GG, wo es um die Ungleichheit zwischen verteidigtem und unverteidigtem Beschuldigten geht, ist die Anordnung der Pflichtverteidigung nicht zwingend. Im Rahmen des Fairnessgrundsatzes geht es allerdings um die Ungleichheit zwischen dem unverteidigten Beschuldigten und dem Gericht. Diese Ungleichheit gefährdet seine Stellung als Prozesssubjekt und kann nur durch einen Verteidiger ausgeglichen werden. Es muss gewährleistet werden, dass im Verständigungsverfahren jeder Beschuldigter einen Verteidiger erhält, sodass diese Konstellation de lege ferenda in § 140 Abs. 1 StPO aufzunehmen ist. De lege lata muss inbesondere bei bestehendem Wunsch des Beschuldigten eine extensive Auslegung von § 140 Abs. 2 StPO vorgenommen werden. 339 340 341

Vgl. Zink, S. 162. Vgl. Zink, S. 121. Vgl. Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 9 Rn. 148; Zink, S. 64.

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2. Kap. § 3 Vereinbarkeit von Verständigung und „fair-trial“-Grundsatz

6. Ergebnis Es liegen de lege lata mehrere Verstöße gegen den verfassungsrechtlichen Fairnessgrundsatz vor. Zum einen ist der Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz, also das Defizit bei der Wahrheitsermittlung, gleichzeitig ein Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz. Die Bindungswirkung, die dem Schutz des Beschuldigten auf ein faires Verfahren dienen soll, ist nicht ausreichend. Hier wäre die Annahme der Fernwirkung des Beweisverwertungsverbotes die sinnvollste Lösung, sodass das Geständnis auch nicht mittelbar gegen den Beschuldigten verwendet werden kann. Auch die Belehrung, die den Beschuldigten vor einem unfairen Verfahren schützen soll, erfolgt zu spät und ist somit unzureichend. Außerdem wird das faire Verfahren durch die Regelungen über die Vorgespräche nicht gewahrt. Der Beschuldigte muss hier nicht teilnehmen, was häufig dazu führt, dass er von seinem Verteidiger und den anderen Beteiligten übergangen wird. Es muss entsprechend der Grundrechtsdogmatik des EGMR eine ausdrückliche Verzichtsmöglichkeit eingeführt werden. Nur so kann der Subjektqualität des Beschuldigten Rechnung getragen werden. Zwingend ist die persönliche Teilnahme im Hinblick auf ein faires Verfahren aber nicht. Nimmt der Beschuldigte nicht an den Gesprächen teil, so muss ihn das Gericht in Anwesenheit der übrigen Beteiligten über den genauen Gesprächsablauf informieren. Dies muss nicht notwendig in öffentlicher Hauptverhandlung geschehen. Nur so kann der Beschuldigte beurteilen, ob seine Interessen und Argumente ausreichend in die Beratung eingeflossen sind und so eine autonome Zustimmung erteilen. Zuletzt sind die Regelungen zur Pflichtverteidigung im Rahmen der Verständigung nicht ausreichend. Die Verständigung stellt de lege lata keinen Fall der notwendigen Verteidigung dar, sodass hier eine Schutzlücke besteht und eine extensive Auslegung geboten ist.

§ 4 Zwischenergebnis: Vereinbarkeit der Verständigung mit dem deutschen Strafprozess In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, die Verständigung in das bestehende System zu integrieren. Zu diesem Zweck wurden Vorschläge gemacht, die eine bessere Eingliederung ermöglichen sollen. Allerdings wurde hier an zahlreichen Stellen festgestellt, dass die Vereinbarkeit zumindest problematisch ist. Selbst wenn die obigen Vorschläge umgesetzt werden, muss am Ende die Einsicht bleiben, dass die Verständigung ein Fremdkörper im deutschen Strafprozess ist.

A. Vereinbarkeit der Verständigung mit den Zielen des deutschen Strafprozesses Die Verständigung steht grundsätzlich im Widerspruch zu dem im Grunde inquisitorischen Modell. Allein die Einsicht, dass es sich um ein adversatorisches Element handelt und somit um eine weitere konsensuale „Ausnahmenorm“ kann hier helfen. Zudem ist fraglich, inwieweit die Verständigung geeignet ist, die Ziele des deutschen Strafprozesses zu fördern. Hier wird davon ausgegangen, dass es die Aufgabe des Gesamtstrafrechts ist, den Rechtsfrieden zu fördern. Voraussetzung hierfür ist, dass die Wahrheit ermittelt wird und somit ein gerechtes Urteil gefunden wird. Zudem müssen in einem fairen Prozess die Rechte des Beschuldigten gewahrt werden. Im Rahmen der Verständigung werden allerdings de lege lata gerade bei der Wahrheitsermittlung zwangsläufig Abstriche zur Verfahrensverkürzung gemacht. Selbst unter Berücksichtigung der hier vorgeschlagenen Neuerungen zum Schutze des Amtsermittlungsgrundsatzes bleiben zumindest die Probleme im Hinblick auf die Gerechtigkeit. Gerade im Rahmen der Verständigung könnte das Urteil von der Bevölkerung als nicht „gerecht“ empfunden werden. Zwar ist die Akzeptanz eines Urteils im Verständigungsverfahren durch den Verurteilten oft höher, als dies im Normalverfahren der Fall ist. Darauf kommt es aber im Hinblick auf den Rechtsfrieden gerade nicht an. Im Rahmen der Verständigung werden oft zu hohe Strafmilderungen zugestanden. Auch der ungleiche Zugang zur Verständigung könnte als „nicht gerecht“ empfunden werden. Dies führt dazu, dass der Strafprozess sowohl bei der positiven als auch bei der negativen Generalprävention Abstriche macht. Auf-

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2. Kap. § 4 Zwischenergebnis

grund der milderen Strafen könnte der Strafprozess seine abschreckende Wirkung verlieren. Auch der Ablauf des Verfahrens ist für den erzieherischen Effekt entscheidend und wird durch die Verständigung verfehlt. Die Verständigung, die in vielen Punkten das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung verletzt, gefährdet daher den Rechtsfrieden mehr, als dass sie ihm nützt. Die Verständigung ist deshalb de lege lata und wohl auch de lege ferenda konträr zum Ziel des Gesamtstrafrechts: der Herstellung von Rechtsfrieden. Dieses Ziel könnte vielmehr durch ein Normalverfahren unter Einhaltung der Grundrechte des Beschuldigten und unter Beachtung der Prozessmaximen erreicht werden. Selbst wenn man im Hinblick auf das Verhältnis von Strafverfahren und Strafrecht anderer Meinung ist, so führt dies jedenfalls nicht zu einem anderen Ergebnis. Spricht man dem Strafverfahren eine rein dienende Funktion zu, so ist das Hauptziel die Wahrheitsermittlung. Wie bereits mehrfach erwähnt, besteht aber gerade hier ein Konflikt mit der Verständigung. Hier werden zugunsten der Verfahrensbeschleunigung Abstriche gemacht. Die Verständigung stünde also mit dem Hauptziel des Strafprozesses in Widerspruch, wenn man von der dienenden Funktion ausginge. Spricht man dem Strafverfahren eine dominierende Wirkung zu, so ist ebenfalls fraglich, inwiefern die Verständigung dieser dienen soll. Im Hinblick auf das Hauptziel des Strafverfahrens, die Herbeiführung von Rechtssicherheit durch eine rechtskräftige Entscheidung, klingt dies zunächst so, als würde die Verständigung diesem Zweck in geradezu idealer Weise dienen. Durch die Verständigung wird sogar schneller eine rechtskräftige Entscheidung herbeigeführt als im Normalverfahren. Es wird also schneller Rechtssicherheit erzielt als im Normalverfahren. Daher könnte man annehmen, dass die Verständigung dem Hauptziel des Strafverfahrens nach dieser Ansicht dient. Allerdings ist Voraussetzung der dominierenden Wirkung des Strafverfahrens nach dieser Ansicht, dass das Strafverfahren von einem Großteil der Bevölkerung akzeptiert wird. Dafür muss die Bevölkerrung wiederum davon ausgehen, dass sich bei Gericht ernsthaft um eine gerechte Entscheidung bemüht wird. Im Rahmen der Verständigung mag möglicherweise die Akzeptanz des Einzelnen gegeben sein, die Akzeptanz der Bevölkerung wird dadurch aber eher geschwächt. Auch im Rahmen der dominierenden Wirkung des Strafverfahrens ist die Verständigung daher kein Mittel, die Ziele des Strafverfahrens zu erreichen. Es kann zwar ein rechtskräftiges Urteil erreicht werden, dafür wird aber das Rechtsvertrauen der Bevölkerung und damit die Legitimation des Strafverfahrens gefährdet. Die Verständigung verfolgt daher, wie oben bereits erwähnt, prozessexterne Ziele wie die Verfahrensbeschleunigung. Sie ist aber nicht geeignet, um die Ziele eines idealen Strafverfahrens zu erreichen. Im Gegenteil: sie läuft den Zielen des inquisitorischen Strafprozesses sogar in jedem Fall zuwider!

C. Fazit

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B. Vereinbarkeit mit den Grundrechten und Prozessmaximen Besonders schwierig ist es, die Verständigung mit dem Schuldgrundsatz, dem Fairnessgrundsatz sowie dem Aufklärungsprinzip in Einklang zu bringen. Hier liegen de lege lata Verstöße vor. Die Anpassung an den Fairnessgrundsatz erfordert zwar einige wichtige Änderungen, kann aber aufgrund der Herkunft des Fairnessgrundsatzes aus dem adversatorischen Rechtsraum am ehesten gelingen. Auch der Schuldgrundsatz kann durch die vorgeschlagenen Regelungen weitgehend unangetastet bleiben. Im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz ist eine verfassungskonforme Auslegung erforderlich, um einen Verstoß zu vermeiden. Am größten ist der Widerspruch zum Amtsermittlungsgrundsatz, der daher rührt, dass dieser einer der Grundpfeiler des inquisitorischen Systems ist, während die Verständigung aus dem adversatorischen Rechtsraum kommt. Die Forderung eines qualifizierten Geständnisses ist der Versuch, diese Prozessmaxime bestmöglich zu schützen. Dieser Widerspruch ist allerdings systemimmanent, sodass eine Auflösung niemals vollständig gelingen wird. Die Vereinbarkeit mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter sowie dem Recht auf richterliches Gehör und der Unschuldvermutung sind zumindest problematisch, allerdings können diese Probleme durch Anpassungen egalisiert werden. Dafür hat das Verständigungsgesetz die Probleme mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz sowie dem Mündlichkeits- und dem Unmittelbarkeitsprinzip und der freien richterlichen Beweiswürdigung zufriedenstellend gelöst. Der Richtervorbehalt und das Legalitätsprinzip kommen mit der Verständigung nicht in Konflikt. Der nemo-tenetur-Grundsatz, die einfachgesetzlichen Anwesenheitsrechte, sowie die richterliche Befangenheit sind jedenfalls keine generellen Probleme des Verständigungsgesetzes. Sie können im Einzelfall im Rahmen der Verständigung ebenso problematisch werden, wie es im Normalverfahren der Fall ist.

C. Fazit Fest steht nach dieser Untersuchung, dass die Verständigung nach wie vor einen Fremdkörper im deutschen Strafprozess darstellt. Der Fremdkörper Verständigung hat sich aus medizinischer Sichtweise im deutschen Strafprozess verkapselt. Bei einer Verkapselung bildet sich ein festes Gewebe um den Fremdkörper, sodass dieser jahrzehntelang dort verweilen könnte. Die Verkapselung ist die verfestigte Praxis der Verständigung in der Rechtsprechung. Auch wenn die Verständigung einen Fremdkörper darstellt und Fremdkörper aus medizinischer Sicht grundsätzlich zu entfernen sind, stellt sich in diesem Fall die Frage, ob dies eine Verbesserung bringen würde. Bei einer derart festen Verkapselung stellt dies einen weit größeren operativen Eingriff dar, als ein Eingriff, der direkt nach dem Eindringen des Fremdkörpers vorgenommen worden wäre.

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2. Kap. § 4 Zwischenergebnis

Übertragen auf die Verständigung bedeutet dies, dass das Entfernen der Verständigung aus den Gerichtssälen heute einen weit größeren Eingriff darstellen würde, als das zu Beginn des Aufkommens der Verständigungspraxis der Fall gewesen wäre.1 Es müsste viel Gewebe entfernt werden und auch eine sehr engmaschige Nachsorge getroffen werden. Es ist inbesondere nicht zu erwarten, dass jene Richter, die seit Jahrzenten Verständigungen oder Absprachen praktizieren, dies aufgeben würden. Daher müsste gegen die Richter, die nach einer potentiellen Abschaffung weiter Absprachen praktizieren, mit den Mittel des Strafrechts vorgegangen werden. Hier ist daher eine sorgfältige Abwägung zu treffen. Ist es besser, das Gewebe bestmöglich zu versorgen oder den Fremdkörper zu entfernen? Macht es also mehr Sinn, die Verständigung abzuschaffen oder, wie oben vielfach vorgeschlagen, nachzubessern? Diese Frage kann hier nicht abschließend beantwortet werden. zumindest die oben dargestellte Notfallversorgung der Verständigung wäre aber wichtig für die Gesundheit des deutschen Strafprozesses.

1 In dieser Arbeit wird die Verständigung bewusst nur aus Sicht des deutschen Strafprozesses beleuchtet und so versucht, diese in das System einzugliedern. Eine andere Möglichkeit wäre es gewesen, im Rahmen der Rechtsvergleichung nach Lösungsansätzen zu suchen und diese in das deutsche System einzugliedern. Dies würde aber einen „Fremdkörper“ in dieser Arbeit darstellen und verdient eine selbstständige Darstellung. Vgl. hierzu die Darstellungen zum Rechtsvergleich: England: Bömeke; Davies in: Strafverteidigervereinigungen, Wahrheitssuche, S. 87 – 95; Frankreich: Krause, S. 177 ff.; Gilliéron, in: Barton u. a., Wahrheit, S. 59 – 77; Georgien: Laliashvili, S. 186 ff.; Italien: Bogner; Krause, S. 174 ff.; Österreich: Kier/Bockemühl, öAnwBl. 2010, 402 ff.; Luef-Kölbl; Polen: Saal; USA: Trüg; Laliashvili, S. 149 ff.; Brodowski, ZStW 2012, 733 – 777; Schünemann, FS-Fezer, S. 555 – 575; Schweiz: Nahrwold; Gilliéron, in: Barton u. a., Wahrheit, S. 59 – 77; Spanien: Krause, S. 173 f.; vgl. allgemein Deiters, ZStW 2018, 491 – 512.

§ 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013 Seit dem Urteil des BVerfG im Jahr 2013 steht die Verständigung unter „Bewährung“.1 Im Folgenden soll daher die Rechtsprechung im Rahmen der Verständigung seit dem Urteil aus dem Jahr 20132 näher betrachtet werden. Nachdem der Schwerpunkt der Untersuchung bisher auf der Theorie lag, soll nun die Praxis betrachtet werden. Dabei mussten zunächst Fallgruppen gebildet werden. Für diese Arbeit ist vor allem interessant, ob sich an der „wuchernden“ Verständigungspraxis seit diesem Urteil etwas geändert hat. Dabei sollen in dieser Arbeit nicht nur die Urteile und Beschlüsse der Revisionsgerichte betrachtet werden, sondern auch Beschlüsse aus dem Beschwerdeverfahren. Nur so kann ein vollständiges Bild der Rechtsprechung der letzten Jahre aufgezeigt werden.3 Es handelt sich hierbei nicht um eine statistische Erhebung. Es sollen vielmehr die Tendenzen in der Rechtsprechung aufgezeigt werden, um die oben gefundenen Ergebnisse kritisch zu hinterfragen. Wie zuvor dargestellt, entfalten die einfachrechtlichen Ausführungen des BVerfG keine Bindungswirkung, sodass weder die Gerichte in erster Instanz noch die Tatgerichte an diese Ausführungen gebunden sind.4 Zudem wird im Folgenden auch darauf verzichtet, auf die Besonderheiten der Zulässigkeit von Revisionen einzugehen. Entscheidend ist nur, wie sich Verstöße im Rahmen des Beschwerdeverfahrens und der Revision in der Begründetheit auswirken.

A. Vorschriften über die Erörterung des Verfahrensstands Weiterhin sollten, wegen der oben aufgezeigten Bedenken,5 die Urteile betrachtet werden, welche die Erörterung des Verfahrensstandes betreffen. Dabei handelt es sich insbesondere um die Durchführungsvorschriften zur Erörterung des Verfahrens nach §§ 160b S. 1, 202a S. 1, 212, 257b StPO. Da diese, wie oben festgestellt, im Ergebnis mit dem Grundgesetz vereinbar sind, ergeben sich jedenfalls im Rahmen 1

Vgl. Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662. Die Rechtsprechung vor BVerfGE 133, 168 wird nur dann vereinzelt eingeführt, wenn sich daraus für die Analyse ein Mehrwert ergibt, während die Betrachtung und Analyse der Urteile im Anschluss an BVerfGE 133, 168 möglichst vollständig erfolgen soll. 3 Vgl. für eine knappe Rechtsprechungsanalyse zwischen dem Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes und dem 31. 7. 2011: Krause, S. 97 – 151. 4 Vgl. oben unter 1. Kapitel C. IV. 2. c). 5 1. Kapitel B. III.; 2. Kapitel § 2 A. III.; 2. Kapitel § 3 B. III. 4. 2

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

der Durchführung keine Probleme in Theorie und Praxis.6 Problematisch werden die Erörterungsvorschriften nur im Hinblick auf die Beteiligung und Information des Angeklagten, weshalb an den oben gemachten Vorschlägen weiterhin festgehalten wird.7 In diesem Kontext hat der BGH erstmals entschieden, dass im Falle der Nichtbeteiligung des Angeklagten und seines Verteidigers an Gesprächen nach § 257b StPO kein absoluter Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO vorliege. Die Vorschrift des § 257b StPO erfasse schon nach ihrem Wortsinn „alle möglichen Arten der Erörterungen“. Es dränge sich auf, dass in diesem Fall speziell das Ausbleiben des Angeklagten und seines Verteidigers Gegenstand der Erörterungen im Sinne des § 257b StPO gewesen sei und nicht die Vorbereitung einer Verständigung, sodass es sich nicht um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung handele.8 Dem ist unter Hinweis auf die oben9 vorgenommene Abgrenzung zwischen rein verfahrensfördernden Absprachen und Gesprächen im Sinne von § 257b StPO entschieden zu widersprechen. In derartigen Gesprächen wird die Verständigung im Stadium der Hauptverhandlung vorbereitet, sodass der Angeklagte zwingend zu beteiligen ist. Während es sich bei verfahrensfördernden Absprachen nicht zwingend um wesentliche Teile der Hauptverhandlung handelt, sind Gespräche nach § 257b StPO immer ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO.10

B. Richterliche Befangenheit Interessant ist auch, wie häufig das Gericht für befangen gehalten wurde. Während dies vor Einführung des Verständigungsgesetzes ein größeres Problem darstellte11, spielt die Befangenheit in der heutigen Verständigungspraxis eine untergeordnete Rolle.12 Das BVerfG hat in seinem Grundsatzurteil bereits ausgeführt, dass allein eine kommunikative Verhandlungsführung, sowie die Initiative des Gerichts gemäß § 257c Abs. 1 S. 1 StPO nicht die Besorgnis der Befangenheit begründen.13 Daher wurde im Anschluss an dieses Urteil nur noch selten die Befangenheit des 6 Ein anderes Problem in diesem Kontext stellen die Mitteilungs- und Protokollierungspflichten im Zusammenhang mit den Vorgesprächen dar. 7 2. Kapitel § 3 B. III. 4. 8 BGH, Beschl. v. 19. 11. 2019 – 1 StR 162/19, juris. 9 1. Kapitel B. I. u. III. 10 Es kann insbesondere nicht darauf geschlossen werden, dass es in der Erörterung im Sinne des § 257b StPO nur um das Ausbleiben von Angeklagtem und Verteidiger ging. Die Erörterung einer solchen Prozesssituation würde eine rein verfahrensfördernde Absprache darstellen und gerade keine Erörterung im Sinne des § 257b StPO; a. A. unzutreffend BGH, Beschl. v. 19. 11. 2019 – 1 StR 162/19, juris. 11 Vgl. Niemöller, StV 1990, 34, 37; Gutterer, S. 150 ff.; Saal, S. 41; Huttenlocher, Rn. 98 ff.; Müller, S. 152 f.; Braun, S. 79; Niemöller, StV 1990, 34, 37; Weichbrodt, S. 162. 12 Vgl. 2. Kapitel § 2 B. VI. 13 BVerfGE 133, 168, 228.

B. Richterliche Befangenheit

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Gerichts im Kontext der Verständigung gerügt.14 Dabei wurde erneut klargestellt, dass eine offene, kommunikative Verhandlungsführung auch mit Äußerungen zu den bisherigen Prozessaussichten nicht die Besorgnis der Befangenheit begründe.15 Auch eine vorzeitige Prognose zu den Strafmaßvorstellungen, die ein Geständnis einschließt, begründe nicht die Besorgnis der Befangenheit.16 Dasselbe gilt für den Hinweis des Vorsitzenden, die geäußerten Strafmaßvorstellungen würden dem Vertrauensschutz unterliegen.17 Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine Bestätigung des Grundsatzurteils aus dem Jahr 2013.18 Zudem entschied der BGH, dass auch dann keine Besorgnis der Befangenheit begründet sei, wenn das Gericht mit einem von mehreren Mitangeklagten verständigungsbezogene Erörterungen führt, anschließend das Verfahren abtrennt und den geständigen Angeklagten entsprechend der Verständigung verurteilt.19 Ausnahmsweise hat der BGH in einer solchen Konstellation jüngst einen Verstoß angenommen, weil offensichtlich war, dass das von dem Angeklagten abgelegte Geständnis sich auch negativ auf die Mitangeklagten auswirken könnte. Zudem ist eine unverzügliche Information der sonstigen Verfahrensbeteiligten unterblieben, sodass hier ausnahmsweise die Besorgnis der Befangenheit bestand.20 Die meisten Rügen, die sich auf die richterliche Befangenheit bezogen, waren erfolglos.21 Nur in einem Fall konnte aufgrund der Umstände des Einzelfalls ein Verstoß festgestellt werden.22 Zusammenfassend ergibt sich kein generelles Problem hinsichtlich der Befangenheit des Gerichts, sofern die Verständigungsvorschriften eingehalten werden. Dies haben sowohl die theoretischen „Vorüberlegungen“23, als auch die Auswertung der Urteile ergeben. Allerdings kann aufgrund der Art und Weise der Durchführung der Verständigung ebenso wie im Normalverfahren die Besorgnis der Befangenheit entstehen.24 Es ergeben sich hier keine Besonderheiten für die Verständigung, sodass die Befangenheit im Einzelfall gemäß § 24 Abs. 2 StPO festgestellt werden kann. 14 BGH, NStZ 2016, 357; BGH, StV 2019, 310; OLG Düsseldorf, StV 2019, 382; OLG Hamburg, StV 2019, 382. 15 OLG Hamburg, StV 2019, 382. 16 OLG Hamburg, StV 2019, 382. 17 OLG Düsseldorf, StV 2019, 382. 18 BVerfGE 133, 168, 228. 19 BGH, NStZ 2016, 357; so schon BGH, StV 2012, 390, 391 in diesen Fällen müssen zusätzlich besondere Umstände vorliegen, welche die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. 20 BGH, StV 2019, 310, 312. 21 Vgl. BGH, NStZ 2016, 357; OLG Düsseldorf, StV 2019, 382; OLG Hamburg, StV 2019, 382. 22 BGH, StV 2019, 310, 311 f. 23 Vgl. 2. Kapitel § 2 B. VI. 24 BGH, StV 2019, 310, 311 f.; vgl auch: BGH, StV 2012, 390, 392; BGH, StV 2013, 372, 373.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

C. Verständigungsgegenstand In § 257c Abs. 2 S. 1, 3 StPO ist geregelt, was Gegenstand einer Verständigung sein darf. Es dürfen demnach nur die Rechtsfolgen des Urteils, sowie sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen und das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten Gegenstand der Verständigung sein. Eine Verständigung über den Schuldspruch, sowie über Maßregeln der Besserung und Sicherung wird in § 257c Abs. 2 S. 3 StPO explizit ausgeschlossen. Die Rechtsprechung beschäftigt sich bis heute mit der Konkretisierung dieser Vorschriften, indem sie mögliche Verständigungsgegenstände für zulässig oder unzulässig erklärt. I. „Punktstrafe“ Die Angabe einer „Punktstrafe“ wird aufgrund der Konflikte mit der freien richterlichen Beweiswürdigung und dem Gebot schuldangemessenen Strafens schon seit der Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1997 abgelehnt.25 Es ist unumstritten, dass die Angabe einer Punktstrafe de lege lata unzulässig ist,26 sodass im Rahmen der theoretischen Überlegungen nur am Rande auf dieses Problem eingegangen wurde.27 Trotzdem wurden auch im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2013 noch vereinzelt konkrete Strafen zum Bestandteil der Absprache gemacht.28 Diese Entscheidungen wurden daraufhin von den Revisionsgerichten aufgehoben, wobei die unzulässige Punktstrafe aber nur einer unter mehreren Verstößen war.29 Ob das Urteil auf einer vereinbarten Punktstrafe beruht hat das KG in seinem Urteil bewusst offen gelassen.30 Nach dem Urteil des KG ist dies wohl nicht generell anzunehmen, sondern im Einzelfall zu bestimmen.31

25

BGHSt 43, 195, 206 f.; ebenso BVerfGE 133, 168, 227 f. Bockemühl/Staudinger, StraFo 2010 425, 426 gehen dagegen davon aus, dass, sofern eine Obergrenze und eine Untergrenze der Strafe genannt werden, nur die Strafuntergrenze schuldangemessen sei. Dies würde allerdings der gesetzgeberischen Intention zuwiderlaufen, die eine Punktstrafe gerade verbietet. 27 Vgl. im Ansatz bei 2. Kapitel § 2 A. IV. 1. a) Fn. 250. 28 KG, Beschl. v. 16. 1. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 19 ff.; OLG Köln, Beschl. v. 18. 7. 2013 – III-1 RVs 146/13, juris, Rn. 6, 11; OLG Oldenburg, StV 2018, 340, 340 f.; vgl. auch OLG Karlsruhe, StV 2014, 659, 660; Nennung einer Punktstrafe bei erfolglosen Verständigungsgesprächen: BGH, NStZ-RR 2015, 379, 380. 29 KG, Beschl. v. 16. 1. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 26; OLG Köln, Beschl. v. 18. 7. 2013 – III-1 RVs 146/13, juris, Rn. 13; OLG Oldenburg, StV 2018, 340, 341. 30 KG, Beschl. v. 16. 1. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 23; in den übrigen Urteilen wurde auf die Beruhensfrage bezüglich der Punktstrafe garnicht eingegangen. 31 KG, Beschl. v. 16. 1. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 23. 26

C. Verständigungsgegenstand

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II. Teileinstellung Problematisch ist, ob eine Verfahrenseinstellung im Sinne der §§ 153 ff. StPO Teil der Verständigung sein kann. Im Rahmen der Verständigung wird dabei vor allem die Einstellung nach den §§ 154 Abs. 2, 154a Abs. 2 relevant. Dies wird in der Rechtsprechung seit dem Jahr 2013 unterschiedlich interpretiert. Dabei muss unterschieden werden zwischen Zusagen des Gerichts zur Teileinstellung der Verfahren, zu denen nur die Zustimmung der Staatsanwaltschaft erforderlich ist und Zusagen der Staatsanwaltschaft zu einer vollständigen oder teilweisen Einstellung in einem anderen, noch im Ermittlungsverfahren befindlichen Verfahren. Gemäß § 257c Abs. 2 S. 1 StPO können „sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen“ Teil der Verständigung sein. Von dieser „Auffangklausel“ werden grundsätzlich auch Verfahrenseinstellungen nach den §§ 154 Abs. 2, 154a Abs. 2 StPO umfasst.32 1. Teileinstellung im selben Verfahren Im Rahmen der Teileinstellung des zugrundeliegenden Verfahrens ist problematisch, dass es sich um eine unzulässige Abrede im Bezug auf den Schuldspruch im Sinne des § 257c Abs. 2 S. 3 StPO handeln könnte. Das BVerfG nimmt an, dass auch eine Einstellung im Sinne des § 154a Abs. 2 StPO kennzeichnend für ein Verständigungsgeschehen ist, sofern sie zu diesem in einem Synallagma steht.33 Damit wird klargestellt, dass eine Teileinstellung grundsätzlich Verständigungsgegenstand sein kann. Gemäß § 154a Abs. 2 StPO kann das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft einen abtrennbaren Verfahrensteil einstellen. Während das Gericht e contrario § 257c Abs. 4 S. 1 StPO grundsätzlich an die Einstellung gebunden ist, kann die Staatsanwaltschaft mangels Bindung ihre Zustimmung jederzeit zurückziehen.34 In diesem Fall zeigte sich allerdings auch die Gefahr die daraus resultiert, dass insbesondere die §§ 154 Abs. 2, 154a Abs. 2 StPO in dem selben Verfahren grundsätzlich Verständigungsgegenstand sein dürfen. Es handelte sich im Ergebnis nämlich um eine unzulässige Absprache über den Schuldspruch und damit um eine Verletzung des § 257c Abs. 2 S. 3 StPO.35 Allerdings stelle eine Verfahrensbeschränkung nach § 154a Abs. 2 StPO nicht immer eine gesetzeswidrige Disposition über den Schuldspruch dar, obwohl diese schon nach ihrer Natur Einfluss auf den Schuldspruch habe.36 Etwas anderes gelte nur dann, wenn die Verfahrensbeschränkung der Umgehung des § 257c Abs. 2 S. 3 StPO diene, das Gericht seinen Beur32

MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 110. BVerfG, StV 2016, 409, 411; auch in der Entscheidung OLG Köln, Beschl. v. 18. 7. 2013 – III-1 RVs 146/13, juris, Rn. 6 war eine Verfahrenseinstellung im Sinne des § 154a Abs. 2 StPO Teil der Vereinbarung, wobei dies in der Revision nicht einmal als möglicher Verstoß behandelt wurde. 34 Vgl. BVerfG, StV 2016, 409, 411. 35 BVerfG, StV 2016, 409, 412 f. 36 BVerfG, StV 2016, 409, 412; BGH, StV 2016, 81, 86; a. A. BGH, NStZ 2017, 244, 245. 33

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

teilungsspielraum überschritten habe oder das Vorgehen aus sonstigen Gründen nicht vom Gesetz gedeckt sei.37 Der 2. Senat des BGH hat dagegen in einem obiter dictum darauf hingewiesen, dass die Einstellung wesentlicher Verfahrensteile im Rahmen einer Verständigung stets eine unzulässige Abrede über den Schuldspruch darstellt.38 2. Zusage zur Teileinstellung in einem anderen Verfahren Ein anderes Problem ergibt sich, wenn Teil der Vereinbarung „das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten“39 in einem anderen Verfahren ist.40 Problematisch ist dabei weiterhin die Zusage der Staatsanwaltschaft zur Einstellung eines anderen, bei ihr anhängigen Verfahrens.41 In der Gesetzesbegründung wurden ausdrücklich Zusagen der Staatsanwaltschaft zur Einstellung eines anderen Verfahrens im Sinne des § 154 StPO für zulässig erklärt, die Bindungswirkung dieser Zusagen wurde allerdings ausgeschlossen.42 In seinem Grundsatzurteil aus dem Jahr 2013 hat das BVerfG sogenannte „Gesamtlösungen“ unter Einbeziehung anderer Verfahren ausdrücklich für unzulässig erklärt.43 Aus dem Wortlaut des § 257c Abs. 1, 2 StPO folge, dass sich Verständigungen ausschließlich auf das zugrunde liegende Erkenntnisverfahren beziehen dürfen.44 Teilweise wird angenommen, Absprachen über außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Gerichts liegende Beschränkungen über weitere bei der Staatsanwaltschaft anhängige Verfahren seien unzulässig.45 Zum Teil wird angenommen, dass im Rahmen von Verständigungen noch Zusagen zur Einstellung in anderen Verfahren gemacht werden dürfen, diese aber keine Bindungswirkung für die Staatsanwaltschaft entfalten.46 Sofern es allerdings Teil der Vereinbarung ist, dass die Staatsanwaltschaft in anderer Sache gemäß §§ 153 ff. StPO einstellt und sich dieses Verfahren noch im Stadium des Ermittlungsverfahrens befindet, besteht unstreitig keine Bindungs37

BVerfG, StV 2016, 409, 412; BGH, StV 2016, 81, 86. BGH, NStZ 2017, 244; ebenso Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327, 331; vgl. zur großzügigen Auslegung insbesondere der §§ 154, 154a StPO: BGHSt 50, 40, 50. 39 § 257c Abs. 2 S. 1 StPO. 40 Zur Zusage der Einstellung in einem anderen Verfahren nach § 154 StPO: BGH, StV 2018, 5; so auch schon vor Einführung des Verständigungsgesetzes: BGHSt 52, 165, 171 ff.; zur Rücknahme der Berufung im Parallelverfahren: KG, NStZ 2015, 236, 237 f. 41 Dabei kann es sich um Verfahren handeln, die sich noch im Stadium des Ermittlungsverfahrens befinden, jedoch auch um Verfahren, in denen bereits Anklage erhoben ist, diese aber noch nicht zugelassen ist oder das Hauptverfahren zwar schon eröffnet ist, die Hauptverhandlung aber noch aussteht Niemöller/Schlothauer/Wieder, § 257c Rn. 38. 42 BT-Drucks. 16/12310, S. 13. 43 BVerfGE 133, 168, 214. 44 BVerfGE 133, 168, 214. 45 BGH, StV 2016, 81, 86. 46 BGH, StV 2018, 5. 38

C. Verständigungsgegenstand

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wirkung. Es handelt sich daher weiterhin um eine „Frage des Binnenvertrauens zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung“47. Ob derartige Zusagen zumindest noch Gegenstand einer unverbindlichen Zusage im Rahmen des Verständigungsverfahrens sein dürfen ist seitdem unklar.48 3. Stellungnahme Diese Rechtsprechung ist inkonsequent. Die Zusicherung einer möglichen Einstellung eines anderen bei der Staatsanwaltschaft anhängigen Verfahrens hat im Verständigungsverfahren nichts zu suchen. Es ist widersinnig, dass einerseits Zusagen der Staatsanwaltschaft das Verfahren in anderer Sache einzustellen zu einem jedenfalls nicht unzulässigen Verständigungsgegenstand erklärt werden und andererseits zutreffend davon ausgegangen wird, dass derartige Zusagen keine Bindungswirkung entfalten. Es ist richtig, dass die Bindungswirkung des § 257c Abs. 4 StPO nur für das Gericht gilt, sodass Zusagen der Staatsanwaltschaft zur Verfahrenseinstellung keine Bindung entfalten können. Es ist allerdings falsch, diese Zusagen im Rahmen einer Verständigung überhaupt zuzulassen. Der Verständigungsgegenstand muss sich schon nach dem Gesetzeswortlaut auf das zugrundeliegende Verfahren beziehen.49 Verständigungsgegenstand können nach § 257c Abs. 2 S. 1 StPO nur „sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren“ sein. Selbst wenn man die Zusicherungen als „Prozessverhalten“ im Sinne des § 257c Abs. 2 S. 1 StPO qualifiziert,50 so muss dieser parallel zu § 257c Abs. 2 S. 1 Var. 3 StPO ausgelegt werden. Auch das Prozessverhalten ist daher nur auf das zugrundeliegende Verfahren zu beziehen.51 Für Zusicherungen im Hinblick auf andere Verfahren bleibt kein Raum.52 Das gilt insbesondere im Hinblick auf den Schuldgrundsatz und den Aufklärungsgrundsatz. Zudem grenzt es an eine unzulässige Täuschung im Sinne des § 136a StPO, dem Beschuldigten ein Geständnis zu entlocken und im Gegenzug eine Verfahrenseinstellung in einem anderen Verfahren in Aussicht zu stellen, die für das Gericht nicht zwingend ist.53 Dies hätte zur Konsequenz, dass es keine Auswirkung für die Verwertbarkeit des Geständnisses hätte, wenn die Staatsanwaltschaft ihren Teil der Vereinbarung nicht einhält.54 Der 47

Knauer, NStZ 2013, 433, 435 f.; vgl. BGHSt 52, 165, 173; BGH, StV 2018, 5. Vgl. dazu Knauer/Pretsch, NStZ 2015, 236, 238; Knauer, NStZ 2014, 115; Schneider, NStZ 2014, 193, 197; Mosbacher, NZWiSt 2013, 201, 204. 49 MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 111. 50 Vgl. Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 38. 51 A. A. Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 38. 52 Dies muss nach dem Urteil des BVerfGE 133, 168, 214 auch entgegen der Gesetzesbegründung gelten, die sich ausdrücklich mit Zusicherungen im Sinne des § 154 StPO für andere Verfahren beschäftigte BT-Drucks. 16/12310, S. 13. 53 Mosbacher, NZWiSt 2013, 201, 204 beschreibt dies als „begründetes Hoffen“ des Angeklagten. 54 Vgl. MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 111; Niemöller/Schlothauer/Weider, § 257c Rn. 38. 48

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Beschuldigte darf deshalb nicht mit leeren Versprechungen gelockt werden. Die Einstellung nach §§ 153 ff. StPO und die Verständigung sollten daher strikt getrennt werden. Eine Einstellung nach den §§ 153 ff. StPO sollte immer nach dem freien Ermessen der zuständigen Institution stattfinden. Dabei darf eine Verständigung niemals Leitfaden für das Ermessen sein. Daher sollten die §§ 153 ff. StPO generell kein tauglicher Verständigungsgegenstand sein und zwar unabhängig davon, ob die Einstellung dasselbe Verfahren betrifft wie die Verständigung oder ob es sich um ein anderes Verfahren handelt. Handelt es sich um dasselbe Verfahren, so treten Probleme im Hinblick auf § 257c Abs. 2 S. 3 StPO auf.55 Handelt es sich um ein anderes Verfahren, so besteht hinsichtlich der Zusage keine Bindungswirkung. Damit handelt es sich um ein enormes Ungleichgewicht, sodass ein Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz vorliegt. Hier muss der Gesetzgeber, hilfsweise die Rechtsprechung, eingreifen. Sowohl die Verständigung, als auch die Einstellung nach den §§ 153 ff. StPO sind für sich genommen schon problematisch. Eine Kombination ist daher mit dem deutschen Strafprozess nicht vereinbar. III. Sonstige Einzelentscheidungen Zu unzulässigen Verständigungsgegenständen wurden die Vereinbarung über die Anwendung eines Sonderstrafrahmens,56 sowie zwingende Maßnahmen der Vermögensabschöpfung erklärt.57 Es sei allenfalls eine Beschränkungsentscheidung im Sinne des § 421 StPO denkbar.58 Auch die Anwendung der Härteklausel könne nicht Gegenstand der Verständigung sein, da sie mit § 459 g Abs. 5 StPO ins Vollstreckungsverfahren verlegt wurde.59 Zulässige Verständigungsgegenstände sind dagegen die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung,60 die Frage der Fortdauer der Untersuchungshaft61 sowie die Vereinbarung über eine Berufungsbeschränkung im selben Verfahren, die allgemein als zulässiges Prozessverhalten im Sinne des § 257c Abs. 1 S. 2 StPO angesehen.62 55

Vgl. 2. Kapitel § 2 B. I. BGH, StV 2013, 485. 57 BGH, StV 2019, 725; zudem stellte der BGH fest, dass die Vermögensabschöpfung keinen Strafmilderungsgrund darstelle. In diesem Fall legte der Angeklagte Revision ein, nachdem das Gericht in der Verständigung zutreffend keine Vereinbarung zur Vermögensabschöpfung traf. Die Revision wurde verworfen, das Verhalten des Tatgerichts war nicht zu beanstanden. 58 BGH, StV 2019, 725, 725 f.; Bittmann, NStZ 2019, 447. 59 BGH, StV 2019, 725, 725 f. 60 BGHSt 61, 43, 47. 61 BGH, StV 2016, 97. 62 OLG Brandenburg, NStZ-RR 2020, 88; OLG Hamburg, NStZ 2014, 534, 536; OLG Karlsruhe, NStZ 2014, 536; OLG Nürnberg, Beschl. v. 10. 8. 2016 – 2 OLG 8 Ss 289/15, juris, Rn. 19. 56

D. Verstöße im Bereich des Verfahrens

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Unverständlich ist in diesem Kontext eine Entscheidung des KG, das annimmt, dass eine Rücknahme der Berufung in einem Parallelverfahren Gegenstand einer Verständigung sein könne.63 Diese Konstellation wurde in diesem Urteil erstmals gerichtlich entschieden.64 Zwar kann gemäß § 257c Abs. 2 S. 1 StPO auch das Prozessverhalten Teil der Absprache sein. Ob darunter auch das Prozessverhalten in anderer Sache fällt, ist allerdings zu bezweifeln.65 Die besseren Argumente sprechen dafür, den § 257c Abs. 2 S. 1 StPO einheitlich auszulegen, sodass sich das Prozessverhalten, ebenso wie die sonstigen verfahrensbezogenen Maßnahmen nur auf das konkret zugrunde liegende Erkenntnisverfahren beziehen darf. Auch die Begründung des KG ist indes nicht überzeugend. Das Heranziehen der Gesetzesbegründung66 ist seit dem Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2013 überholt.67 Die zitierten Entscheidungen68 des OLG Karlsruhe und des OLG Hamburg sind nicht mit der Entscheidung vergleichbar, weil es hier um die Berufungsrücknahme im Parallelverfahren ging,69 während die zitierten Entscheidungen eine Berufungsbeschränkung im selben Verfahren zum Gegenstand hatten.70 Zusammenfassend sind diejenigen Inhalte tauglicher Verständigungsgegenstand, bei denen dem Gericht ein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum eingeräumt wird und die durch das Gesetz für diesen Fall vorgesehen sind.71 Die Konkretisierung durch die Rechtsprechung hat inzwischen zwar Konturen angenommen, ist aber wohl noch nicht abgeschlossen.72

D. Verstöße im Bereich des Verfahrens Bei den Verstößen im Bereich des Verfahrens steht vor allem die Vorschrift des § 257c Abs. 3 StPO im Mittelpunkt.

63

KG, NStZ 2015, 236, 237 f.; vgl. dazu BGH, Beschl. v. 1. 8. 2019 – 4 StR 477/18, juris, Rn. 10 ff., der ein Gegenseitigkeitsverhältnis im konkreten Fall ablehnte und die Frage nach der Zulässigkeit als Verständigungsgegenstand offenließ. 64 Vgl. Knauer/Pretsch, NStZ 2015, 236, 238. 65 Knauer/Pretsch, NStZ 2015, 236, 238. 66 Vgl. KG, NStZ 2015, 236, 238. 67 Knauer/Pretsch, NStZ 2015, 236, 239. 68 Vgl. KG, NStZ 2015, 236, 238. 69 KG, NStZ 2015, 236, 237. 70 OLG Hamburg, NStZ 2014, 534; OLG Karlsruhe, NStZ 2014, 536. 71 KG, StV 2012, 654, 655; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257c Rn. 8; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, Bd. 6/2 § 257c Rn. 34; SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 13; KK/ Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 15. 72 Vgl. für einen Überblick über die tauglichen und untauglichen Verständigungsgegenstände unter Berücksichtigung der Literatur auch vor dem Jahr 2013: SK-StPO/Velten, Bd. 5 § 257c Rn. 10 ff.; KK/Moldenhauer/Wenske, § 257c Rn. 15 ff.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Probleme gab es insbesondere im Hinblick auf die Zustimmung der Verfahrensbeteiligten im Sinne des § 257c Abs. 3 S. 4 StPO. Dabei hat der BGH entschieden, dass eine konkludente Zustimmung von Staatsanwaltschaft sowie Angeklagten nicht ausreichend ist.73 Dies war aufgrund der fehlenden Vermerke über die ausdrückliche Zustimmung im Protokoll auch ohne Weiteres beweisbar.74 Daraufhin wurde jeweils ein Beruhen angenommen und die Urteile aufgehoben.75 Dies nahm der BGH sogar in einer Entscheidung an, in der der Verteidiger die Aussage des Beschuldigten ausdrücklich in den Kontext des Verständigungsvorschlags stellte.76 Die strikte Handhabung in der Revisionsinstanz überrascht hier positiv.77 Zudem stellte der BGH im Hinblick auf die Vorschrift des § 257c Abs. 3 S. 2 StPO fest, dass kein Anspruch auf die Offenlegung einer „Sanktionsschere“ besteht.78 Gemeint war hier allerdings nur, dass das Gericht die Straferwartung im Rahmen einer Verständigung, sowie die Straferwartung im Normalverfahren offen legen solle.79 Wenn klassischerweise von der Sanktionsschere gesprochen wird, dann handelt es sich dabei aber eher um das Nennen einer sehr hohen Strafe im Normalverfahren, während für den Fall der Verständigung eine viel niedrigere Strafe genannt wird. Zur „Sanktionsschere“ wurde im Rahmen des nemo-tenetur-Grundsatzes bereits Stellung bezogen.80 Unabhängig davon, ob es sich dabei um die klassische Sanktionsschere mit großer Differenz in der Straferwartung handelt oder ob der Richter lediglich angemessene Strafen aufzeigt, sollte das Nennen einer Alternativstrafe für das Normalverfahren gänzlich untersagt werden. Ansonsten stellen sich bezüglich der Verfahrensvorschriften des § 257c Abs. 3 S. 1 – 4 StPO keine Probleme, sodass hier kein Handlungsbedarf besteht. Sofern die Vorschrift des § 257c StPO nicht bewusst gänzlich umgangen wird, wird der § 257c Abs. 3 StPO in der absolut überwiegenden Anzahl der Fälle auch eingehalten.

73 BGH, Urt. v. 14. 5. 2014 – 2 StR 465/13, juris, Rn. 8; BGH, NStZ-RR 2017, 87; BGH, NStZ 2019, 688, 689; ebenso Bockemühl/Heuser, StV 2021, 7, 8. 74 BGH, Urt. v. 14. 5. 2014 – 2 StR 465/13, juris, Rn. 8; BGH, NStZ-RR 2017, 87, 88; BGH, NStZ 2019, 688, 689. 75 BGH, Urt. v. 14. 5. 2014 – 2 StR 465/13, juris, Rn. 8; BGH, NStZ 2019, 688, 689; im Rahmen des BGH, NStZ-RR 2017, 87 scheiterte die aus anderen Gründen eingelegte Revision bereits in der Zulässigkeit. In der nur konkludenten Zustimmung der Staatsanwaltschaft zur Verständigung wurde allerdings ein Verstoß gegen die Verständigungsvorschriften gesehen. 76 BGH, NStZ 2019, 688, 689; dazu ausführlich: Bockemühl/Heuser, StV 2021, 7, 8 ff. 77 So auch Bockemühl/Heueser, StV 2021, 7, 10. Kritische Anmerkung Kudlich, NStZ 2019, 688, 689 f. 78 BGH, StV 2013, 741. 79 BGH, StV 2013, 741. 80 Vgl. 2. Kapitel § 2 B. V. 3.

E. Problematik der Bindungswirkung

281

E. Problematik der Bindungswirkung Der § 257c Abs. 4 StPO regelt die Bindungswirkung der Verständigung, sowie deren Wegfall. Dabei ist die Bindungswirkung nicht ausdrücklich statuiert, ergibt sich aber e contrario aus § 257c Abs. 4 S. 1 StPO, der vom Entfallen der Bindungswirkung spricht. Die § 257c Abs. 4 S. 1, 2 StPO regeln, wann die Bindung an eine Verständigung entfällt. Im Gegenzug normiert der § 257c Abs. 4 S. 3 StPO ein Verwertungsverbot für den Fall des Wegfalls der Bindungswirkung. Die Bindungswirkung der Verständigung wurde in dieser Arbeit bereits an mehreren Punkten vertieft. Zum einen darf sie im Hinblick auf den Richtervorbehalt,81 sowie dem Gebot freier richterlicher Beweiswürdigung82 nicht zu weitreichend sein, weil sich hier sonst Verstöße ergeben. Zum anderen darf die Bindungswirkung aber aus Fairnessgründen auch nicht zu einer bloßen Floskel werden.83 Hier ist also im Hinblick auf die Grundrechte und Prozessmaximen ein Ausgleich zu finden. Daher ergeben sich im Bezug auf die Bindungswirkung mehrere Probleme. Zum einen ist zu klären, wie weit die Bindungswirkung reicht, also auf was sich die Bindungswirkung bezieht. Zum zweiten ist auch fraglich, wann die Bindung an die Verständigung entfällt. Dritter Punkt ist die Reichweite des Verwertungsverbots aus § 257c Abs. 4 S. 3 StPO. I. Reichweite der Bindungswirkung Wie im Rahmen des Verständigungsgegenstandes84 bereits angesprochen dürfen Zusagen zu Verfahrenseinstellungen in anderer Sache zumindest nach teilweise vertretener Ansicht auch im Rahmen einer Verständigung getätigt werden. Die Bindungswirkung im Rahmen einer Verständigung richtet sich aber generell nur an das Gericht, sodass die Staatsanwaltschaft derartige Zusagen zurücknehmen kann. Eine Bindungswirkung besteht daher unstrittig nicht.85 Auch bei Scheitern der Verständigung besteht keine Bindungswirkung, sodass sich der Beschuldigte in diesem Fall nicht darauf verlassen kann, dass sämtliche mögliche Rechtsfolgen erörtert wurden.86

81

2. Kapitel § 2 A. I. 2. Kapitel § 2 B. III. 83 Vgl. 2. Kapitel § 3 B. III. 2. 84 Siehe oben 2. Kapitel § 5 C. 85 BGH, StV 2018, 5. 86 KG, Beschl. v. 4. 4. 2014 – 3 Ws 165/14, juris, Rn. 10; sofern das Revisionsgericht ein Urteil aufgehoben und an das Gericht zurückverwiesen hat, besteht auch die Bindung an die Strafobergrenze BGH, StV 2013, 612. 82

282

2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

II. Entfallen der Bindungswirkung Weiterhin ist zu klären wann die Bindung an eine Verständigung entfällt. Gemäß § 257c Abs. 4 S. 1 StPO ist dies der Fall, wenn bedeutsame Umstände übersehen wurden oder sich neu ergeben haben und das Gericht deshalb zur Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- und schuldangemessen ist. Zudem entfällt die Bindungswirkung gemäß § 257c Abs. 4 S. 2 StPO, wenn das Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das bei der Prognose zugrunde gelegt wurde. Der BGH hat dazu festgestellt, dass die Staatsanwaltschaft sich aber selbst dann nicht einseitig wieder von der Verständigung lösen kann, wenn sie die Voraussetzungen des § 257c Abs. 4 S. 1, 2 StPO als gegeben ansieht.87 Entscheidend für das Entfallen der Bindungswirkung sind weder die tatsächlichen Gegebenheiten, noch die Überzeugung der Staatsanwaltschaft. Die Bindungswirkung entfällt erst dann, wenn das Tatgericht eine Entscheidung diesbezüglich trifft.88 Nach der Aufhebung des Urteils und der Zurückweisung ist das neue Tatgericht nicht mehr an die Verständigung gebunden.89 Auch das Berufungsgericht ist an eine erstinstanzliche Verständigung grundsätzlich nicht gebunden.90 Allerdings kann sich das Berufungsgericht freiwillig, jedenfalls mittelbar, der Bindung einer Verständigung unterwerfen, indem es das Geständnis durch ein Sekundärbeweismittel in die Berufungshauptverhandlung einführt.91 Sofern das Berufungsgericht keine Bindung an die erstinstanzliche Verständigung anstrebt, ist in diesen Fällen gemäß § 257c Abs. 4 S. 4 StPO analog eine qualifizierte Belehrung über die Unverwertbarkeit des erstinstanzlichen Geständnisses erforderlich.92

III. Reichweite des Beweisverwertungsverbots bei entfallener Bindungswirkung Der § 257c Abs. 4 S. 3 StPO regelt, dass das Geständnis im Falle des Scheiterns der Verständigung nicht verwertet werden darf. In Anschluss an den oben angesprochenen Wegfall der Bindungswirkung stellt sich die Folgefrage, ob das Gericht, welches nicht mehr an die Verständigung gebunden ist, das Geständnis verwerten darf. Dies könnte beispielsweise durch Vernehmung der erstinstanzlichen Richter geschehen.93 Dabei hat der BGH zutreffend ein Verwertungsverbot in den Fällen angenommen, in denen die Staatsanwaltschaft 87 88 89 90 91 92 93

BGH, StV 2017, 287, 289. BGH, StV 2017, 287, 289. BGH, StV 2017, 287, 290. OLG Karlsruhe, StV 2014, 659, 660; vgl. auch OLG Düsseldorf, StV 2011, 80, 81 f. OLG Karlsruhe, StV 2014, 659, 660; so schon: OLG Nürnberg, StV 2012, 590, 591. OLG Karlsruhe, StV 2014, 659, 660. BGH, StV 2017, 287, 290.

F. Amtsaufklärungsgrundsatz

283

zu Ungunsten des Angeklagten erfolgreich Revision eingelegt hat.94 Wenn allerdings nur der Angeklagte Revision eingelegt hat und die Sache daraufhin zurückverwiesen wurde, so gilt das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 S. 1 StPO, sodass eine Verwertung des Geständnisses zulässig ist.95 Klärungsbedürftig war auch die Disponibilität des Beweisverwertungsverbotes aus § 257c Abs. 4 S. 3 StPO. Während das Verwertungsverbot des § 136a StPO absolut gilt, unterliegt das Geständnis in den Fällen des § 257c Abs. 4 S. 1 StPO der Disposition des Beschuldigten.96 Bei Abschluss einer neuen Verständigung kann der Angeklagte daher sogar konkludent auf sein Geständnis zurückgreifen.97 Dieses Ergebnis ist nicht zu beanstanden und trägt der Autonomie des Beschuldigten Rechnung. Ein bislang nicht höchstrichterlich entschiedenes Problem im Rahmen der Bindungswirkung ist die Fernwirkung des Beweisverwertungsverbotes aus § 257c Abs. 4 S. 3 StPO.98 Dazu wurde oben99 bereits ausgeführt, dass die allgemeine Annahme der Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots aus § 257c Abs. 4 S. 3 StPO wünschenswert wäre. Aufgrund der Autonomie des Beschuldigten ändert dies aber nichts an der Verzichtbarkeit des Beweisverwertungsverbots, wobei hier eine „ganz oder garnicht“-Lösung notwendig ist. Der Beschuldigte kann entweder auf das gesamte Beweisverwertungsverbot verzichten und die Beweisverwertung im Allgemeinen zulassen oder auf das Beweisverwertungsverbot inklusive Fernwirkung bestehen. Hier sind die obersten Gerichte nun gefordert über diese Frage zu entscheiden, wobei die Entscheidung hoffentlich zugunsten der Fernwirkung des Beweisverwertungsverbotes ausfallen wird.

F. Amtsaufklärungsgrundsatz Ein sowohl in der Theorie, als auch in der Praxis sehr relevantes Problem ist die Einhaltung des Amtsaufklärungsgrundsatzes aus § 244 Abs. 2 StPO. Dieser bleibt gemäß § 257c Abs. 1 S. 2 StPO unberührt. Dabei spielt insbesondere das in der Regel erforderliche Geständnis gemäß § 257c Abs. 2 S. 2 StPO eine Rolle. In einigen Fällen wurde auch nach dem Grundsatzurteil des BVerfG aus dem Jahr 2013 noch die Verletzung der Aufklärungspflicht problematisiert.100 In diesen Fällen 94

BGH, StV 2017, 287, 291. BGH, StV 2017, 287, 291. 96 BGH, (5 StR 226/17) StV 2018, 10. 97 BGH, (5 StR 226/17) StV 2018, 10. 98 Vgl. MüKoStPO/Jahn/Kudlich, Bd. 2 § 257c Rn. 174. 99 2. Kapitel § 3 B. III. 2. 100 BGH, Beschl. v. 21. 8. 2013 – 5 StR 354/13, juris; BGH, StV 2013, 703; BGH, StV 2014, 201, 203; BGH, StV 2014, 723; BGH, NStZ 2016, 489; BGH, NStZ 2017, 173, 174; BGH, 95

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

führten die Gerichte aus, dass die Aufklärungspflicht nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten stehe.101 Das Gericht müsse sich schon aufgrund der Bindung an Gesetz und Recht an den Aufklärungsgrundsatz halten.102 Auch die Verständigung entbinde daher nicht von der Pflicht zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts.103 Angesichts der erhöhten Fehleranfälligkeit des Geständnisses aufgrund der Anreiz- und Verlockungssituation müsse sich aus den Urteilsgründen ergeben, weshalb das Gericht das Geständnis für glaubhaft erachtet.104 Es sei demnach unzulässig, dem Urteil einen Sachverhalt zugrunde zulegen, der nicht auf der Ausschöpfung der Beweismaterials beruht.105 Dies gelte auch, wenn der Angeklagte ein Geständnis abgelegt habe.106 Das Tatgericht müsse daher von der Richtigkeit des Geständnisses überzeugt sein, wenn es das Urteil darauf stützt.107 Es sei daher stets zu untersuchen, ob das Geständnis dem erforderlichem Aufklärungsbedarf hinsichtlich der erforderlichen Feststellungen zur Tat genügt, ob es stimmig ist und ob es hinsichtlich der sonstigen Erkenntnisse keinen Glaubhaftigkeitsbedenken unterliegt.108 Die Überprüfung des Geständnisses muss in der öffentlichen Hauptverhandlung erfolgen.109 Dabei können zum einen ergänzende Fragen an den Angeklagten gestellt werden,110 zum anderen auch weitere Zeugen vernommen werden.111 Beschl. v. 9. 1. 2020 – 2 StR 355/19, Rn. 12; KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 11 ff.; OLG Naumburg, Beschl. v. 20. 02. 2015 – 1 Rv 4/15, S. 3. 101 OLG München, StV 2013, 495, 501; OLG Naumburg, Beschl. v. 20. 02. 2015 – 1 Rv 4/ 15, S. 3; vgl. BGH, StV 2014, 201, 203. 102 BGH, StV 2013, 684; BGH, StV 2014, 723; KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/ 14 (280/14), juris, Rn. 13; OLG Naumburg, Beschl. v. 20. 02. 2015 – 1 Rv 4/15, S. 3. 103 KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 13; OLG München, StV 2013, 495, 501. 104 BGH, Beschl. v. 21. 8. 2013 – 5 StR 354/13, juris; BGH, Beschl. v. 9. 1. 2020 – 2 StR 355/ 19, Rn. 12. 105 BGH, StV 2013, 684; BGH, StV 2013, 703, 703 f.; BGHSt 59, 21, 28; BGH, StV 2014, 201, 203; BGH, StV 2014, 723; BGH, NStZ 2016, 489; KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 13; OLG München, StV 2013, 495, 501. 106 BGH, StV 2013, 703, 704; BGHSt 59, 21, 28; BGH, StV 2014, 201, 203; BGH, NStZ 2016, 489, 489 f.; BGH, NStZ 2017, 100, 102; KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 13. 107 BGH, StV 2013, 703, 704; BGH, StV 2014, 723; BGH, NStZ 2017, 173, 174; KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 13; OLG München, StV 2013, 495, 501; OLG Naumburg, Beschl. v. 20. 02. 2015 – 1 Rv 4/15, S. 3; vgl. auch BGH, StV 2013, 703; die Überprüfung des Geständnisses erfolgt im Strengbeweisverfahren BGH, NStZ 2017, 100, 102. 108 BGH, StV 2013, 684; BGH, StV 2013, 703, 704; BGH, StV 2014, 723; BGH, HRRS 2014, Nr. 589, Rn. 13; BGH, NStZ 2017, 173, 174; KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/ 14 (280/14), juris, Rn. 13; OLG Naumburg, Beschl. v. 20. 02. 2015 – 1 Rv 4/15, S. 3. 109 BGH, StV 2014, 723; KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 13; OLG München, StV 2013, 495, 501; auch nicht geständnisfähige Tatsachen müssen durch weitere Beweiserhebungen in die Hauptverhandlung eingeführt werden BGH, NStZ 2017, 100, 102. 110 Vgl. BGH, StV 2014, 723.

F. Amtsaufklärungsgrundsatz

285

An die Überprüfung des Geständnisses im Verständigungsverfahren dürfen allerdings auch keine strengeren Anforderungen gestellt werden, als bei einem Geständnis im Normalverfahren.112 In der überwiegenden Anzahl der Fälle hatten die Rechtsmittel Erfolg und die vorausgehenden Urteile wurden aufgrund einer Verletzung des Amtsaufklärungsgrundsatzes oder den Grundsätzen der Beweiswürdigung aufgehoben.113 Ein Urteil wurde aufgrund mehrerer schwerer Fehler für nichtig erklärt, unter anderem wegen einem Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz.114 Die Beschränkung der Beweiswürdigung auf den bloßen Hinweis auf das Geständnis des Angeklagten sei nicht ausreichend.115 Das Gericht hatte in diesem Fall zudem eine nähere Überprüfung des Geständnisses unterlassen, sodass die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft war.116 Ein bloßer Abgleich eines Geständnisses mit der Aktenlage reiche zudem nicht aus.117 Dies gelte insbesondere dann, wenn der Angeklagte auch keine ergänzenden Fragen des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten beantwortet.118 Das OLG München führte sogar aus, dass ein verständigungsbasiertes Geständnis zwingend auf Richtigkeit zu überprüfen sei.119 Auch im Rahmen eines Betäubungsmittelverfahrens entbindet die Verständigung nicht von einer konkreten Feststellung des Wirkstoffgehalts und der Wirkstoffmenge der gehandelten Drogen.120 In einigen Fällen konnte allerdings kein Verstoß gegen den Grundsatz richterlicher Beweiswürdigung sowie den Amtsermittlungsgrundsatz festgestellt werden.121 Der BGH hat ein „schlankes“ Geständnis ausreichen lassen, weil es sich um einen einfach gelagerten Fall handelte und das Geständnis sämtliche den späteren Schuldspruch tragende Sachverhaltselemente erfasste.122 Zudem wurde in diesem

111

BGH, StV 2015, 422, 423; vgl. BGH, NStZ 2017, 173, 174. BGH, NStZ 2017, 173, 174. 113 BGH, StV 2013, 684; BGH, StV 2013, 703, 704; BGHSt 59, 21, 27 f.; BGH, StV 2014, 201, 203; BGH, StV 2014, 723; BGH, NStZ 2016, 489, 490; BGH, StV 2017, 287; KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 26; OLG Naumburg, Beschl. v. 20. 02. 2015 – 1 Rv 4/15, S. 2. 114 OLG München, StV 2013, 495, 503. 115 BGH, StV 2013, 684. 116 BGH, StV 2013, 684. 117 BGH, StV 2014, 723; KG, Beschl. v. 16. 01. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 13. 118 BGH, StV 2014, 723. 119 OLG München, StV 2013, 495, 501. 120 BGH, StV 2013, 703, 704; BGH, StV 2017, 287. 121 BGH, Beschl. v. 8. 8. 2013 – 5 StR 312/13, juris; BGH, Beschl. v. 21. 8. 2013 – 5 StR 354/ 13, juris; BGH, NStZ 2017, 173, 174. 122 BGH, NStZ 2017, 173, 174. 112

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Fall die Richtigkeit des Geständnisses durch Vernehmung des polizeilichen Ermittlungsführers überprüft.123 Diese Entscheidung ist zu kritisieren. Gerade wegen der Verlockungs- und Anreizsituation sollten hier höhere Anforderungen an ein Geständnis gestellt werden. Dies macht gerade mit Blick auf den Sinn und Zweck der Verständigung nur Sinn. Je ausführlicher das Geständnis des Angeklagten ist, desto geringer können die Anforderungen für dessen Nachprüfung sein, sodass dementsprechend auch eine Verfahrensverkürzung eintreten kann. Gleichzeitig wird aber trotzdem der Aufklärungsgrundsatz eingehalten und die Gefahr von Fehlurteilen aufgrund eines falschen Geständnisses gesenkt. Je mehr Informationen der Beschuldigte über die angeklagte Tat geben kann, desto wahrscheinlicher ist es, dass er diese auch tatsächlich begangen hat. Gibt er allerdings nur spiegelbildlich die Anklageschrift in einem schlanken Geständnis wieder, so besteht die Gefahr, dass er dieses nur abgibt, um eine mildere Strafe zu erzielen, obwohl er die Tat nicht begangen hat. Es wird daher an dem oben gemachten Vorschlag festgehalten. Mindestanforderung für eine Verständigung sollte ein qualifiziertes Geständnis sein.124 Seit dem Jahr 2013 hatte der BGH auch einige Sonderfälle im Rahmen der Aufklärungspflicht zu entscheiden. So hat er festgestellt, dass eine Verständigung mit einem nicht geständigen Angeklagten allenfalls in absoluten Ausnahmekonstellationen möglich sei.125 In diesen Fällen wäre durch eine Verständigung eine nicht hinnehmbare Beschränkung der Pflicht zur umfassenden Wahrheitsermittlung zu besorgen.126 In einer anderen Entscheidung hat der BGH entschieden, dass auch im Falle einer Verständigung die irrigen Vorstellungen einer Person durch deren Vernehmung in der Hauptverhandlung zu ermitteln sind und dies nicht durch eine Verständigung ersetzt werden kann.127 In weiteren Verfahren hat der BGH sich mit der Berücksichtigung von verständigungsbasierten Geständnissen in Parallelverfahren beschäftigt.128 Es wäre in diesem Fall zu prüfen gewesen, ob der Zeuge in seinem eigenen Verfahren geglaubt hat, eine Falschaussage sei für ihn günstiger als wahre Angaben.129

G. Verstöße im Bezug auf den Fairnessgrundsatz Im Bezug auf den Fairnessgrundsatz sind die Problemstellungen, wie bereits herausgearbeitet, vielfältig. In der Rechtsprechung haben sich im Hinblick auf das 123 124 125 126 127 128 129

BGH, NStZ 2017, 173, 174. Vgl. oben 2. Kapitel § 2 B. II. 3. c). BGH, NStZ-RR 2013, 313, 314. BGH, NStZ-RR 2013, 313, 314. BGH, StV 2015, 422, 423. BGH, StV 2014, 392, 393; BGH, NStZ-RR 2019, 226, 226 f. BGH, StV 2014, 392, 393; BGH, NStZ-RR 2019, 226, 227.

G. Verstöße im Bezug auf den Fairnessgrundsatz

287

Fairnessprinzip im Wesentlichen drei Problemstellungen herauskristallisiert. Die wohl größte Fallgruppe in der Revisionsrechtsprechung ist hierbei die Verletzung der Belehrungspflicht aus § 257c Abs. 5 StPO. Zweitgrößte Fallgruppe war die Verletzung einer Hinweispflicht. Dabei ging es meist darum, dass Gegenstand der Verständigung eine Bewährungsstrafe war, allerdings kein Hinweis auf notwendige Bewährungsauflagen erfolgte. Zuletzt ergingen vereinzelt Urteile zum oben bereits angesprochenen Problem der notwendigen Verteidigung im Rahmen der Verständigung. I. Verletzung der Belehrungspflicht Die Belehrung gemäß § 257c Abs. 5 StPO schützt insbesondere den Fairnessgrundsatz, sowie die Selbstbelastungsfreiheit.130 Es handelt sich dabei nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift, sondern um eine zentrale rechtsstaatliche Sicherung dieser Grundsätze.131 Inhalt der Belehrung sollen die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung nach § 257c Abs. 4 StPO sein. Der Angeklagte soll also über die nur eingeschränkte Bindungswirkung der Verständigung belehrt werden.132 Der § 257c Abs. 5 StPO soll gewährleisten, dass der Angeklagte eine autonome Entscheidung über die Mitwirkung an einer Verständigung treffen kann.133 Eine Verständigung ohne vorherige Belehrung über die nur eingeschränkte Bindungswirkung verletze den Angeklagten regelmäßig in seinem Recht auf ein faires Verfahren.134 Die Belehrung müsse daher schon bei der Unterbreitung eines Verständigungsvorschlages erfolgen.135 In einer jüngeren Entscheidung hat der BGH die Belehrung auf den Beginn verständigungsbezogener Erörterungen vorverlagert.136

130 BVerfGE 133, 168, 238; BVerfG, StV 2015, 73, 74; BGH, NStZ-RR 2017, 151; BGH, StV 2019, 379. 131 BVerfGE 133, 168, 238; BVerfG, StV 2015, 73, 74. 132 BVerfG, StV 2013, 674; BVerfG, StV 2015, 73, 74; BGH, NStZ 2015, 358, 359; BGH, Beschl. v. 24. 1. 2017 – 5 StR 15/17, juris, Rn. 2; BGH, NStZ-RR 2017, 151; BGH, (1 StR 425/ 18) StV 2019, 380; BGH, NStZ 2019, 169. 133 BVerfG, StV 2013, 674; BVerfG, StV 2015, 73, 74; BGH, NStZ-RR 2017, 151; BGH, StV 2019, 379; KG, Beschl. v. 9. 1. 2017 – (4) 161 Ss 180/16 (248/16), juris, Rn. 6; OLG Braunschweig, NStZ 2016, 563, 564; OLG Köln, Beschl. v. 18. 7. 2013 – III-1 RVs 146/13, juris, Rn. 12; OLG München, StV 2014, 79, 80 f. 134 BVerfGE 133, 168, 238; BVerfG, StV 2013, 674; BVerfG, StV 2015, 73, 74; BGH, NStZ 2015, 358, 359; BGH, StV 2016, 98; BGH, Beschl. v. 24. 1. 2017 – 5 StR 15/17, juris, Rn. 2; BGH, StV 2018, 11, 12; BGH, StV 2019, 379, 380; BGH, (1 StR 425/18) StV 2019, 380; BGH, NStZ 2019, 169; OLG Braunschweig, NStZ 2016, 563. 135 BGH, Beschl. v. 24. 1. 2017 – 5 StR 15/17, juris, Rn. 2; BGH, StV 2018, 11, 12; BGH, (1 StR 425/18) StV 2019, 380; BGH, (5 StR 585/17) StV 2019, 380, 381. 136 BGH, Beschl. v. 9. 10. 2019 – 1 StR 545/19, Rn. 8, 10; vgl. aber zur Notwendigkeit einer diesbezüglichen Belehrung bereits im Ermittlungsverfahren oben 2. Kapitel § 3 B. III. 3.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Die Beschwerdeführer rügten teilweise eine verspätete Belehrung,137 die jedenfalls nach Zustimmung zum Verständigungsvorschlag erfolgte, teilweise wurde auch das völlige Fehlen einer Belehrung gerügt.138 In der absolut überwiegenden Anzahl der Fälle hatten diese Rügen Erfolg.139 Die Rechtsmittelgerichte haben auch in den Fällen ein Beruhen des Urteils auf der fehlenden Belehrung angenommen, in denen die Bindung an eine Verständigung nicht entfallen ist.140 Das Beruhen könne nur im Einzelfall wiederlegt werden,141 beispielsweise wenn der Angeklagte von der nur eingeschränkten Bindungswirkung nachweislich Kenntnis hatte142 oder wenn sonst aufgrund besonderer Umstände feststeht, dass der Angeklagte die Verständigung auch nach erfolgter Belehrung abgeschlossen hätte.143 Hierzu bedürfe es allerdings 137 BVerfG, StV 2015, 73, 75; BGH, NStZ 2015, 358; BGH, NStZ-RR 2017, 151; BGH, StV 2018, 11, 12; BGH, StV 2019, 379; BGH, (1 StR 425/18) StV 2019, 380; BGH, NStZ 2019, 169. 138 BVerfG, StV 2013, 674, 675; BGH, NStZ 2013, 727; BGH, StV 2013, 611; BGH, Beschl. v. 17. 9. 2013 – 1 StR 443/10, juris, Rn. 2; BGH, Beschl. v. 17. 9. 2013 – 1 StR 469/10, juris, Rn. 2; BGH, Beschl. v. 4. 12. 2013 – 4 StR 446/13, juris, Rn. 2; BGH, Beschl. v. 5. 2. 2014 – 1 StR 706/13, juris, Rn. 2; BGH, Beschl. v. 11. 11. 2014 – 3 StR 497/14, juris, Rn. 3; BGH, StV 2014, 518; BGH, Beschl. v. 14. 1. 2016 – 3 StR 386/15, juris, Rn. 4; BGH, NStZ 2017, 244, 245; BGH, Beschl. v. 24. 1. 2017 – 5 StR 15/17, juris, Rn. 1 f.; BGH, Beschl. v. 16. 10. 2018 – 3 StR 357/18, juris, Rn. 2; BGH, (5 StR 585/17) StV 2019, 380, 381; KG, Beschl. v. 9. 1. 2017 – (4) 161 Ss 180/16 (248/16), juris, Rn. 5; OLG Braunschweig, NStZ 2016, 563, 564; OLG Köln, Beschl. v. 18. 7. 2013 – III-1 RVs 146/13, juris, Rn. 12; OLG München, StV 2014, 79; OLG Rostock, NStZ-RR 2013, 351. 139 BVerfG, StV 2013, 674; BVerfG, StV 2015, 73, 74 f.; BGH, StV 2013, 611; BGH, Beschl. v. 17. 9. 2013 – 1 StR 443/10, juris, Rn. 2; BGH, Beschl. v. 17. 9. 2013 – 1 StR 469/10, juris, Rn. 2; BGH, Beschl. v. 4. 12. 2013 – 4 StR 446/13, juris, Rn. 2; BGH, Beschl. v. 5. 2. 2014 – 1 StR 706/13, juris, Rn. 2; BGH, Beschl. v. 11. 11. 2014 – 3 StR 497/14, juris, Rn. 3; BGH, StV 2014, 518, 519; BGH, NStZ 2015, 358, 359; BGH, Beschl. v. 14. 1. 2016 – 3 StR 386/ 15, juris, Rn. 2; BGH, NStZ 2017, 244, 245; BGH, Beschl. v. 24. 1. 2017 – 5 StR 15/17, juris, Rn. 1; BGH, NStZ-RR 2017, 151; BGH, StV 2018, 11, 11 f.; BGH, Beschl. v. 16. 10. 2018 – 3 StR 357/18, juris, Rn. 1; BGH, StV 2019, 379, 379 f.; BGH, (1 StR 425/18) StV 2019, 380; BGH, (5 StR 585/17) StV 2019, 380, 381; BGH, NStZ 2019, 169; KG, Beschl. v. 9. 1. 2017 – (4) 161 Ss 180/16 (248/16), juris, Rn. 2; OLG Braunschweig, NStZ 2016, 563; OLG Köln, Beschl. v. 18. 7. 2013 – III-1 RVs 146/13, juris, Rn. 9; OLG München, StV 2014, 79; OLG Rostock, NStZ-RR 2013, 351. 140 Vgl. beispielsweise: BGH, StV 2013, 611; BGH, NStZ 2019, 169; OLG Rostock, NStZRR 2013, 351; im Fall BGH, Beschl. v. 9.10. 2019 – StR 545/19, Rn. 16 ff. ist eine Verständigung überhaupt nicht zustande gekommen, sondern lediglich eine informelle Absprache. Ein Beruhen wurde trotzdem angenommen, weil das Urteil auf das Geständnis gestützt wurde. 141 BVerfG, StV 2013, 674; BVerfG, StV 2015, 73, 74; BGH, StV 2013, 611; BGH, (1 StR 425/18) StV 2019, 380; BGH, NStZ 2019, 169; KG, Beschl. v. 9. 1. 2017 – (4) 161 Ss 180/16 (248/16), juris, Rn. 5; OLG Rostock, NStZ-RR 2013, 351. 142 BGH, StV 2013, 611; BGH, Beschl. v. 5. 2. 2014 – 1 StR 706/13, juris, Rn. 2; BGH, StV 2018, 11, 12; BGH, StV 2019, 379, 380; BGH, (5 StR 585/17) StV 2019, 380, 381; BGH, NStZ 2019, 169; OLG Köln, Beschl. v. 18. 7. 2013 – III-1 RVs 146/13, juris, Rn. 13; OLG Rostock, NStZ-RR 2013, 351. 143 BVerfGE 133, 168, 238; BVerfG, StV 2013, 674; BVerfG, StV 2015, 73, 74; BGH, Beschl. v. 14. 1. 2016 – 3 StR 386/15, juris, Rn. 5; BGH, StV 2019, 379, 380; KG, Beschl. v. 9. 1. 2017 – (4) 161 Ss 180/16 (248/16), juris, Rn. 5; OLG München, StV 2014, 79, 80; OLG

G. Verstöße im Bezug auf den Fairnessgrundsatz

289

stichhaltiger Ausführungen für den Einzelfall.144 Im Regelfall sei ein Beruhen des Urteils auf diesem Fehler anzunehmen, weil das auf der Verständigung basierende Geständnis in das Urteil eingeflossen sei.145 Das Fehlen einer Belehrung konnte aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls aus § 274 S. 1 StPO recht unproblematisch nachgewiesen werden, da es sich dabei um eine wesentliche Förmlichkeit im Sinne des § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 3 StPO handelt, die zu protokollieren ist.146 Im Falle der verspäteten Belehrung haben die Gerichte entschieden, dass die bloße Nachholung nicht ausreicht, um eine Verletzung des § 257c Abs. 5 StPO zu heilen.147 Die Heilung erfordert vielmehr die Wiederholung des vom Verfahrensfehler betroffenen Verfahrensabschnitts.148 Erforderlich ist dafür ein ausdrücklicher Hinweis auf den zugrunde liegenden Fehler und die darauf folgende gänzliche Unverbindlichkeit der bereits erteilten Zustimmung, sowie die Nachholung der Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO.149 Daraufhin müsste die dann verbindliche Zustimmungserklärung neu eingeholt werden.150 Vereinzelt hatten die Rechtsmittel allerdings keinen Erfolg.151 Dabei handelte es sich allerdings lediglich um vier Entscheidungen, von denen eine nachträglich durch das BVerfG wieder aufgehoben wurde.152 Eine andere Rüge verkannte den Schutzzweck des § 257c Abs. 5 StPO,153 wieder eine andere scheiterte wegen des widersprüchlichen Vortrags.154 In der vierten und letzten Rüge konnte ein Verstoß nicht schlüssig dargelegt werden.155 Rostock, NStZ-RR 2013, 351; im Fall des BGH, NStZ 2013, 727 kam eine Verständigung nicht zustande, sodass auch hier das Beruhen verneint wurde. 144 BVerfGE 133, 168, 238; BVerfG, StV 2013, 674; BVerfG, StV 2015, 73. 145 BVerfG, StV 2013, 674; BVerfG, StV 2015, 73, 74; BGH, Beschl. v. 14. 1. 2016 – 3 StR 386/15, juris, Rn. 5; BGH, StV 2018, 11, 12; BGH, NStZ 2019, 169; OLG Köln, Beschl. v. 18. 7. 2013 – III-1 RVs 146/13, juris, Rn. 13; das OLG Braunschweig, NStZ 2016, 563, 565 stellt sogar eine Regelvermutung zugunsten eines Beruhens im Falle eines Verstoßes gegen § 257c Abs. 5 StPO auf. 146 BGH, StV 2013, 611; BGH, StV 2014, 518, 519; BGH, Beschl. v. 14. 1. 2016 – 3 StR 386/15, juris, Rn. 4; OLG Braunschweig, NStZ 2016, 563, 564; OLG Köln, Beschl. v. 18. 7. 2013 – III-1 RVs 146/13, juris, Rn. 11; OLG München, StV 2014, 79; vgl. MüKoStPO/Valerius, Bd. 2 § 273 Rn. 36. 147 BVerfG, StV 2015, 73, 74; BGH, NStZ-RR 2017, 151; BGH, StV 2018, 11, 12; BGH, StV 2019, 379; BGH, (1 StR 425/18) StV 2019, 380; BGH, NStZ 2019, 169. 148 BGH, NStZ-RR 2017, 151. 149 BGH, NStZ-RR 2017, 151. 150 BGH, NStZ-RR 2017, 151 dies entspreche einer „qualifizierten Belehrung“. 151 BGH, StV 2013, 682; BGH, HRRS 2016, Nr. 492 Rn. 2; BGH, Beschl. v. 6. 5. 2015 – 4 StR 40/15, juris, S. 2; BGH, Beschl. v. 4. 7. 2019 – 4 StR 121/19, juris, Rn. 3. 152 Aufhebung von BGH, StV 2013, 682 durch BVerfG, StV 2015, 73, 75. 153 BGH, Beschl. v. 6. 5. 2015 – 4 StR 40/15, juris, S. 2. 154 BGH, HRRS 2016, Nr. 492 Rn. 2. 155 BGH, Beschl. v. 4. 7. 2019 – 4 StR 121/19, juris, Rn. 3.

290

2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

In einer Revision brachte der Beschwerdeführer vor, dass nicht auszuschließen gewesen wäre, dass er ein Geständnis abgelegt hätte, wenn nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt worden wäre.156 Im vorausgehenden Verfahren ist es weder zu einer „Absprache“ gekommen, noch wurde ein Geständnis abgelegt.157 Das Gericht führt hier zutreffend aus, dass der Beschwerdeführer den Schutzzweck der Vorschrift, die den Angeklagten vor übereilten Geständnissen bewahren soll, verkannt hat.158 Dieser sei jedenfalls dann nicht berührt, wenn der Angeklagte kein Geständnis ablegt.159 Die Rechtsprechung ist im Rahmen von Verstößen gegen den § 257c Abs. 5 StPO zutreffend besonders streng und nimmt in der Regel ein Beruhen an. Es ist sehr erfreulich, dass die Revisionsgerichte hier eine klare Linie haben, sodass in diesem Bereich größtmögliche Rechtssicherheit herrscht. Lediglich in einem einzigen Fall hat der BGH unzutreffend ein Beruhen auf einem Verstoß gegen §257c Abs. 5 StPO abgelehnt,160 wobei dieses Urteil später aufgehoben wurde.161 Die übrigen Entscheidungen waren zutreffend. Hier hat sich ein „quasi-absoluter Revisionsgrund“ etabliert.162 Aufgrund seiner besonderen Bedeutung für das Recht auf ein faires Verfahren und die Selbstbelastungsfreiheit, die jeweils durch die Verständigung in besonderem Maße bedroht werden, ist dies als Ausgleich auch notwendig. Wegen § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 3 StPO ist ein solcher Verstoß auch problemlos beweisbar. Sofern eine Belehrung nicht erfolgt ist, beispielsweise weil der Richter diese schlicht vergessen hat, wird diese auch nicht protokolliert sein, sodass der Fehler anhand des Protokolls beweisbar ist.163 Die Erfolgsaussichten für die betroffenen Angeklagten sind daher bei einer Verletzung des § 257c Abs. 5 StPO ausgesprochen hoch. II. Verletzung des Vertrauens durch unterlassen des Hinweises auf Bewährungsauflagen Ein weiteres Problem im Hinblick auf das Fairnessprinzip ist die Verhängung einer Bewährungsauflage im Sinne des § 56b Abs. 1 S. 1 StGB ohne vorherigen Hinweis. Das Fairnessprinzip gebietet es, dass der Angeklagte vor Abschluss einer Verständigung, deren Gegenstand eine zur Bewährung auszusetzende Freiheitsstrafe ist, auf konkret in Betracht kommende Bewährungsauflagen hingewiesen wird. Die Bewährungsauflagen dienen der Genugtuung für das begangene Unrecht und deren 156

BGH, Beschl. v. 6. 5. 2015 – 4 StR 40/15, juris, S. 2. BGH, Beschl. v. 6. 5. 2015 – 4 StR 40/15, juris, S. 2. 158 BGH, Beschl. v. 6. 5. 2015 – 4 StR 40/15, juris, S. 2. 159 BGH, Beschl. v. 6. 5. 2015 – 4 StR 40/15, juris, S. 2. 160 BGH, StV 2013, 682. 161 BVerfG, StV 2015, 73, 75. 162 Wobei auch hier darüber nachzudenken wäre, ob de lege ferenda die Einführung eines absoluten Revisionsgrundes nicht sinnvoller wäre; siehe dazu unten 2. Kapitel § 5 H. I. 2. 163 Vgl. MüKoStPO/Valerius, Bd. 2 § 273 Rn. 36. 157

G. Verstöße im Bezug auf den Fairnessgrundsatz

291

Erteilung ist Voraussetzung für die in Aussicht gestellte Strafaussetzung ist.164 Nur durch einen solchen Hinweis kann sichergestellt werden, dass der Angeklagte vollumfänglich über die Tragweite seiner Mitwirkung informiert ist und so eine autonome Entscheidung treffen kann.165 Es ist daher erforderlich, dass das Gericht offenlegt, dass es eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe allein nicht für ausreichend hält, sondern zur Verwirklichung der Genugtuungsfunktion Bewährungsauflagen in Betracht zieht.166 Die Bewährungsauflagen im Sinne des § 56b Abs. 1 S. 1 StGB sind anders als Bewährungsweisungen im Sinne des § 56c Abs. 1 S. 1 StGB Bestandteil der Rechtsfolgenerwartung und stellen eine strafähnliche Sanktion dar.167 Erst die Kenntnis dieser Umstände, die eine erhebliche Belastung darstellen können, ermöglicht dem Angeklagten eine autonome Entscheidung.168 Hinzu kommt, dass Bewährungsauflagen im Ermessen des Gerichts stehen und sich dem Angeklagten deshalb nicht als selbstverständlich aufdrängen müssen.169 Daher hatten die Rügen, die die Verhängung einer Bewährungsauflage im Rahmen einer Verständigung ohne vorherigen Hinweis zum Inhalt hatten, größtenteils Erfolg.170 Ein Hinweis ist nach der Rechtsprechung im Hinblick auf alle in § 56b Abs. 2 S. 1 StGB genannten Bewährungsauflagen notwendig.171 Ein Beruhen im Rahmen der Revision könne auch in diesem Fall nur ausgeschlossen werden, wenn feststehe, dass ein rechtsfehlerfreies Verfahren zu demselben Ergebnis geführt hätte.172 In der Regel könne jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte sich bei Kenntnis der Bewährungsauflage nicht auf Verständigung eingelassen hätte.173 Im Rahmen der Beschwerde kommt es dagegen nur auf die objektive 164 BGHSt 59, 172, 174; BGH, StV 2015, 150, 151; BGH, NStZ-RR 2016, 379; BGH, StV 2019, 381, 382. 165 BGHSt 59, 172, 174; BGH, StV 2015, 150, 151; BGH, NStZ-RR 2016, 379; BGH, StV 2019, 381, 382; OLG Frankfurt/M., StV 2016, 98. 166 BGHSt 59, 172, 174; BGH, StV 2015, 150, 151; BGH, NStZ-RR 2016, 379; BGH, StV 2019, 381, 382; OLG Frankfurt/M., StV 2016, 98. 167 BGHSt 59, 172, 174; BGH, NStZ-RR 2016, 379; BGH, StV 2019, 381, 382. 168 BGHSt 59, 172, 174 f.; BGH, StV 2015, 150, 151; BGH, StV 2019, 381, 382. 169 BGHSt 59, 172, 175; BGH, NStZ-RR 2016, 379. 170 BGHSt 59, 172, 172 f.; BGH, NStZ-RR 2016, 379, 380; BGH, StV 2019, 381, 382; OLG Frankfurt/M., StV 2016, 98, 99; OLG Saarbrücken, StV 2014, 82, 83. 171 Schadenswiedergutmachung (§ 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StGB): vgl. BGH, StV 2019, 381, 381 f.; Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Organisation (§ 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StGB): OLG Saarbrücken, StV 2014, 82, 83; Arbeitsauflage (§ 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StGB): BGHSt 59, 172, 173; BGH, StV 2015, 150, 150 f.; BGH, StV 2019, 381, 382; OLG Frankfurt/ M., StV 2016, 98, 99; Zahlung an die Staatskasse (§ 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StGB): OLG Frankfurt/M., StV 2016, 98, 99; da es sich bei sämtlichen Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2 StGB um strafähnliche Sanktionen mit Genugtuungsfunktion handelt, ist es nur folgerichtig, dass sämtliche dieser Auflagen von der Hinweispflicht im Rahmen der Verständigung umfasst sind. 172 OLG Frankfurt/M., StV 2016, 98, 99. 173 BGH, NStZ-RR 2016, 379, 380.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Rechtswidrigkeit an.174 Dies gilt wie im Falle der Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO sowohl, wenn ein Hinweis auf eine mögliche Bewährungsauflage gänzlich unterblieben ist,175 als auch wenn er lediglich verspätet, also nach Abschluss der Verständigung erteilt wurde.176 Die Rechtsprechung zur Heilung eines Verfahrensfehlers kann auf diese Konstellation übertragen werden.177 Auch bei dem Hinweis auf eine Bewährungsauflage handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit im Sinne des § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 2 StPO, sodass dem Protokoll insofern negative Beweiskraft nach § 274 S. 1 StPO zukommt.178 In einigen Fällen hatten die Rechtsbehelfe keinen Erfolg.179 In einem Fall wurde Beschwerde abgewiesen, weil in den Erörterungsgesprächen keine Bewährungsauflagen erwähnt wurden, allerdings letztendlich auch keine Verständigung zustande kam, sodass hier kein schutzwürdiges Vertrauen bestand.180 In einer anderen Entscheidung wurden lediglich Bewährungsweisungen verhängt, die vorher nicht im Rahmen der Verständigung thematisiert wurden.181 Während Bewährungsweisungen im Sinne des § 56c Abs. 1 StGB dem Verurteilten helfen sollen, künftig ein straffreies Leben zu führen und damit vorrangig der Spezialprävention dienen, sind Bewährungsauflagen sanktionsähnlich.182 In der unterschiedlichen Zwecksetzung besteht damit der fundamentale Unterschied zwischen Bewährungsauflagen im Sinne des § 56b StGB und Bewährungsweisungen im Sinne des § 56c StGB.183 Ein vorheriger Hinweis auf Bewährungsweisungen ist daher im Hinblick auf den Fairnessgrundsatz nicht erforderlich.184 Die Entscheidung des OLG Rostock185 ist dagegen nicht nachvollziehbar und verkennt das Recht auf ein faires Verfahren. Das OLG Rostock verneint die Hinweispflicht im Verständigungsverfahren generell auch für Bewährungsauflagen im Sinne des § 56b Abs. 1 S. 1 StGB.186 Zum einen lasse die Regelung des § 257c StPO 174 BGH, StV 2015, 150, 151; OLG Saarbrücken, StV 2014, 82, 83; vgl. auch KG, Beschl. v. 4. 4. 2017 – 3 Ws 165/14, juris, Rn. 5; OLG Rostock, StV 2016, 100. 175 BGHSt 59, 172, 175; BGH, StV 2019, 381, 381 f.; OLG Frankfurt/M., StV 2016, 98; OLG Saarbrücken, StV 2014, 82, 84. 176 BGH, NStZ-RR 2016, 379. 177 Vgl. BGH, NStZ-RR 2017, 151. 178 OLG Frankfurt/M., StV 2016, 98, 99; vgl. MüKoStPO/Valerius, Bd. 2 § 273 Rn. 36. 179 BGH, StV 2015, 151; KG, Beschl. v. 4. 4. 2017 – 3 Ws 165/14, juris, Rn. 4; OLG Rostock, StV 2016, 100. 180 KG, Beschl. v. 4. 4. 2017 – 3 Ws 165/14, juris, Rn. 9. 181 BGH, StV 2015, 151, 152. 182 BGH, StV 2015, 151, 152. 183 BGH, StV 2015, 151, 152; auch die Bewährungsweisung im Sinne des § 56d StGB dient von vornherein der Spezialprävention und nicht der Genugtuung, sodass ein vorheriger Hinweis auch hier nicht erforderlich ist OLG Rostock, StV 2016, 100, 102. 184 BGH, StV 2015, 151, 153. 185 OLG Rostock, StV 2016, 100. 186 OLG Rostock, StV 2016, 100, 101 f.

G. Verstöße im Bezug auf den Fairnessgrundsatz

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nicht erkennen, dass die Ermessensvorschriften der §§ 56a ff. StGB zwingend miteinbezogen werden müssen.187 Zweites Argument des OLG Rostock ist, dass den Bewährungsauflagen im Sinne des § 56b StGB vorrangig eine „Denkzettelfunktion“ zukomme und maßgeblicher Kern der Verständigung nur das „Ob“ der Strafaussetzung zur Bewährung sei.188 Zudem widerspräche eine Einbeziehung der §§ 56a ff. StGB dem Regelungsgefüge des Bewährungsrechts, weil dieses von einer strikten Trennung von Strafverfahren und Bewährungsverfahren ausgehe.189 Durch eine zwingende Einbindung in das Verständigungsverfahren würden die Möglichkeiten der Gerichte im Bewährungsbeschlussverfahren und im Vollstreckungsverfahren während der Bewährungszeit derart beschnitten, dass der Gesetzgeber dies hätte regeln müssen.190 Auch aus der Möglichkeit der nachträglichen Verlängerung der Bewährungszeit in § 56 Abs. 2 S. 2 StGB ergebe sich die Wertentscheidung, dass Maßnahmen zur Absicherung der Bewährung anpassbar sein sollen.191 Die Möglichkeit der nachträglichen Entscheidungen im Sinne des § 56e StGB ließen sich außerdem bei zwingender Einbeziehung in die Verständigung kaum noch handhaben.192 Zudem seien die einzelnen Bewährungsauflagen nicht essenziell für die Entscheidung über eine Verständigung. Es widerspräche einer lebensnahen Betrachtung anzunehmen, der Beschuldigte würde der Aussetzung zur Bewährung im Hinblick auf einzelne Bewährungsauflagen nicht zustimmen. Dies gelte vor allem deshalb, weil sich der Beschuldigte gegen rechtswidrige Auflagen mit der Beschwerde wehren könne.193 Der Einwand, dass § 257c StPO die §§ 56a ff. StPO nicht zwingend einbezogen wissen will, geht fehl. In den Fällen, in denen Bewährungsauflagen ohne vorherigen Hinweis nach einer Verständigung verhängt wurden, ergab sich die Notwendigkeit tatsächlich nicht aus § 257c StPO, sondern aus dem Fairnessgrundsatz. Dieser gebietet es aber, dem Angeklagten alle Informationen zur Verfügung zu stellen, damit er eine autonome Entscheidung treffen kann. Das Gericht stellt unzutreffend die „Denkzettelfunktion“ in den Vordergrund. Allerdings handelt es sich unstrittig um strafähnliche Sanktionen, die auch eine Genugtuung für das Begangene Unrecht darstellen. Sie können sich als eine erhebliche Belastung für den Beschuldigten erweisen und sind daher unbedingt miteinzubeziehen. Zutreffend ist, dass der § 56e StGB von der Verständigung unberührt bleiben soll. Dem widerspricht es allerdings nicht, Bewährungsauflagen zum Gegenstand der Verständigung zu machen. Im Rahmen des § 56e StGB sind „neue Umstände er187 188 189 190 191 192 193

OLG Rostock, StV 2016, 100, 101. OLG Rostock, StV 2016, 100, 101. OLG Rostock, StV 2016, 100, 101. OLG Rostock, StV 2016, 100, 101. OLG Rostock, StV 2016, 100, 101. OLG Rostock, StV 2016, 100, 101. OLG Rostock, StV 2016, 100, 101.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

forderlich, welche die frühere Entscheidung in einem anderen Licht erscheinen lassen“194. Grundsätzlich kann der Verurteilte darauf vertrauen, dass die Auflagen und Weisungen gelten.195 Neue Umstände können sich allerdings unabhängig von einer vorausgehenden Verständigung ergeben, sodass § 56e StGB uneingeschränkt weitergilt. Dabei handelt es sich aber nicht um ein Argument, das geeignet ist, die Hinweispflicht im Rahmen der Verständigung einzuschränken. Jedenfalls das Urteil darf keine Bewährungsauflagen enthalten, die vorher nicht erörtert wurden. Auch der Einwand, dass die Bewährungsauflage nicht essenziell für die Entscheidung sei, geht fehl. Es ist wohl zutreffend, dass nach einem Urteil im Normalverfahren niemand gegen einzelne Bewährungsauflagen vorgehen und damit eine Gefängnisstrafe akzeptieren wird. Die Entscheidung im Rahmen der Verständigung ist nicht „Bewährungsauflage oder Gefängnisstrafe“, sondern „Verständigung oder streitige Verhandlung“. Um zu beurteilen ob eine Verständigung wirklich günstig ist müssen aber auch die Bewährungsauflagen im Sinne des § 56b StGB mit einfließen. III. Notwendigkeit der Verteidigung im Verständigungsverfahren Problematisch ist zudem, dass die Verständigung de lege lata keinen ausdrücklich normierten Fall notwendiger Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 StPO darstellt. Die Notwendigkeit der Verteidigung kann sich daher allenfalls aus § 140 Abs. 2 StPO ergeben, was von den Gerichten allerdings unterschiedlich beurteilt wird. Das OLG Bamberg folgert allein aus dem Umstand, dass in erster Instanz eine Verständigung stattfand, nicht die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Berufungsverfahren.196 Der Gesetzgeber unterscheide im Rahmen des Verständigungsverfahrens bewusst nicht zwischen verteidigtem und unverteidigtem Beschuldigten. Zudem sei die Regelung des § 257c Abs. 3 S. 4 StPO so zugeschnitten, dass es der Mitwirkung eines Verteidigers nicht zwingend bedürfe. Außerdem sehe das Gesetz ausdrücklich eine Belehrung über die Folgen der Verständigung vor und der Fehleranfälligkeit sei mit § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ausreichend Rechnung getragen.197 Deshalb begründe nicht das Vorliegen einer Verständigung per se, sondern nur die Gegebenheiten im Einzelfall die Schwierigkeit der Rechtslage.198 Dagegen nahm das OLG Naumburg an, dass bereits die Erörterung einer Verständigung regelmäßig Anlass zu einer Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO geben muss.199 Das Verfahren der Verständigung sei fehleranfällig und selbst für Berufs194 195 196 197 198 199

MüKoStGB/Groß, Bd. 2 § 56e Rn. 8. MüKoStGB/Groß, Bd. 2 § 56e Rn. 8; Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, § 56e Rn. 3. OLG Bamberg, StV 2015, 539. OLG Bamberg, StV 2015, 539. OLG Bamberg, StV 2015, 539. OLG Naumburg, StV 2014, 274.

G. Verstöße im Bezug auf den Fairnessgrundsatz

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richter kompliziert.200 Es sei daher unwahrscheinlich, dass der Angeklagte, der selbst kein Volljurist sei, seine Rechte ohne juristischen Beistand erkennen und wahrnehmen könne.201 Dies sollte allerdings nur dann gelten, wenn der Beschuldigte dies auch wünscht. Sofern ein einfach gelagerter Sachverhalt vorliegt, der keinen Fall notwendiger Verteidigung darstellt, darf dem Beschuldigten, der die Verständigungsgespräche selbst führen will, kein Pflichtverteidiger aufgezwungen werden. Wie oben202 bereits ausgeführt würde die Fairness des Verfahrens de lege ferenda am besten durch die Einführung eines Prozesskostenhilfemodells gewährleistet. De lege lata muss jedenfalls bei ausdrücklichem Wunsch des Beschuldigten nach einem Pflichtverteidiger die extensive Auslegung der Vorschriften über die Pflichtverteidigung erfolgen. Dies gilt unabhängig davon, ob im Verfahren eine Verständigung vorbereitet wird, diese sogar bereits erfolgt ist oder es sich um ein Normalverfahren handelt. Allerdings ist gerade das Verständigungsverfahren besonders kompliziert und mit besonderen Risiken verbunden. Zudem kann durch geschickte Verhandlung ein besseres Ergebnis erzielt werden, was der Beschuldigte mangels Fachkunde aber kaum erreichen wird. Sofern der Beschuldigte in einem Verfahren, in dem eine Verständigung vorbereitet wird oder bereits erfolgt ist, einen Pflichtverteidiger wünscht, sollte die extensive Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO de lege lata immer ergeben, dass die Schwierigkeit der Rechtslage gegeben ist. Denn „den hochgemuten voreiligen Griff nach der Wahrheit hemmen will der Kritizismus des Verteidigers“203. Dies gilt im Verständigungsverfahren, in dem der Angeklagte seine Verteidigungsposition aufgibt, ganz besonders. Die Unklarheit in der Rechtsprechung untermauert, dass es zwingend notwendig ist, Fälle in denen sich eine Verständigung anbahnt in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO aufzunehmen.204 IV. Fazit Im Hinblick auf die Belehrungspflicht aus § 257c Abs. 5 StPO ist die Rechtsprechung nicht zu beanstanden. Hier hat der Gesetzgeber eine gelungene Schutzvorschrift erlassen. Im Rahmen der Hinweispflicht bleibt festzuhalten, dass nur Bewährungsauflagen im Sinne des § 56b StGB verhängt werden dürfen, die vorher konkret in den Erörterungen benannt wurden. Im Rahmen der notwendigen Verteidigung ist im Verständigungsverfahren jedenfalls dem Beschuldigten, der dies wünscht, ein Verteidiger zur Verfügung zu stellen. Hier ist die Rechtsprechung bislang leider uneinheitlich, sodass hier Handlungsbedarf besteht.

200 201 202 203 204

OLG Naumburg, StV 2014, 274, 275. OLG Naumburg, StV 2014, 274, 274 f. Vgl. oben 2. Kapitel § 3 B. III. 5. Alsberg, S. 11. Siehe dazu oben 2. Kapitel § 3 B. III. 5.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Im Rahmen des Fairnessgrundsatzes wurde an zahlreichen Stellen betont, dass der Beschuldigte nur dann eine autonome Entscheidung treffen kann, wenn er über die notwendigen Informationen verfügt. Es wird daher nochmal auf die hier vorgeschlagene Neuregelung zur ausreichenden Information des Beschuldigten über der Verständigung vorausgehende Erörterungen hingewiesen und an dieser festgehalten.205 Dass dieses Problem in der Rechtsprechung nicht auftaucht liegt wohl daran, dass es für die Beschuldigten auch im Anschluss an das Urteil nicht ersichtlich ist, ob sie richtig informiert wurden. Hier muss daher zum Schutz des Beschuldigten nachgebessert werden.

H. Vorschriften zur Gewährleistung der Transparenz des Verfahrens Besonders problematisch im Kontext der Verständigungsvorschriften ist die Einhaltung der Vorschriften, welche die Transparenz des Verfahrens gewährleisten sollen. Daher stützt sich die absolut überwiegende Zahl der Revisionen auf eine Verletzung dieser Vorschriften. Dabei werden aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit die Vorschriften zum Schutz der Öffentlichkeit aus den §§ 169 ff. GVG und die Mitteilungspflichten aus §§ 243 Abs. 4 S. 1, 2 StPO und die Protokollierungs- und Begründungspflichten zusammengefasst. Zu den Protokollierungs- und Begründungspflichten zählen insbesondere §§ 267 Abs. 3 S. 5, 160b S. 2, 202a S. 2 eventuell in Verbindung mit § 212 und § 273 Abs. 1a S. 1 bis 3 StPO. I. Mitteilungspflichten Ein wichtiger Punkt in der Revisionsrechtsprechung waren Verstöße gegen die Mitteilungspflichten aus § 243 Abs. 4 StPO. Dabei ist zum einen problematisch, wann die Mitteilungspflichten ausgelöst werden und zum anderen wie weitreichend diese sind. 1. Überblick über die Rechtsprechung Grundsätzlich lösen schon nach dem eindeutigen Wortlaut nur verständigungsbezogene Gespräche im Sinne des §§ 202a, 212 StPO die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 S. 1 StPO aus.206 Dies sei jedenfalls dann der Fall, wenn Fragen prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit 205

Vgl. 2. Kapitel § 3 B. III. 4. BGH, StV 2018, 1; eine Mitteilungspflicht besteht allerdings nicht, wenn die Anklageschrift neu eingereicht wurde, sofern die verständigungsbezogenen Gespräche vor der förmlichen Rücknahme der Anklageschrift stattfanden BGH, NStZ 2014, 600, 601. 206

H. Vorschriften zur Gewährleistung der Transparenz des Verfahrens

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die Frage nach der oder die Äußerung zu der Straferwartung zu erwarten ist.207 Gespräche nach § 160b StPO fallen selbst dann nicht unter die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 S. 1, wenn aufgrund von Verständigungsgesprächen nach Anklageerhebung eine Verständigung doch noch zustande kommt.208 Allein die Aussage des Vorsitzenden, dass ein Geständnis sich strafmildernd auswirke und es vom Strafmaß abhängig sei, ob eine Strafaussetzung in Betracht komme, stelle noch keinen mitteilungspflichtigen Verständigungsvorschlag dar.209 Zudem sind Gespräche über eine vorläufige Verfahrenseinstellung gemäß §§ 153 ff. StPO nach neuerer Rechtsprechung wohl nicht mehr mitteilungsbedürftig.210 Sofern derartige Gespräche stattgefunden haben, muss gemäß § 243 Abs. 4 S. 1 StPO deren „wesentlicher Inhalt“ mitgeteilt werden.211 Wesentlicher Inhalt sind insbesondere die Standpunkte der einzelnen Gesprächspartner, von welcher Seite die Frage der Verständigung aufgeworfen wurde und ob dieser Vorschlag bei den anderen Gesprächspartnern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist.212 Sofern 207 BGH, StV 2014, 513, 514; BGH, StV 2016, 81, 82; BGH, NStZ 2017, 424; BGH, StV 2018, 3, 4; BGH, StV 2019, 378, 379; BGH, NStZ 2019, 484, 485 m. w. N.; OLG Nürnberg, NStZ-RR 2017, 350; ist lediglich das Strafmaß Gegenstand derartiger Erörterungen, ohne dass dieses in Konnex zum Prozessverhalten steht, wird die Mitteilungspflicht nicht begründet BGH, StV 2019, 371, 374; auch wenn das Gericht auf einen Vorschlag des Verteidigers für eine Verfahrensverständigung inhaltlich nicht eingeht, begründet dies nicht die Mitteilungspflicht BGH, (5 StR 258/13) NStZ 2015, 417, 418 oder der Verteidiger unangekündigt das Dienstzimmer des Vorsitzenden aufsucht, um Verständigungsgespräche anzuregen, der Vorsitzende derartige Gespräche aber ablehnt BGH, Beschl. v. 14. 09. 2017 – 4 StR 177/17, juris, Rn. 2; vgl. auch zur erfolglosen Anregung durch die Staatsanwaltschaft KG, NStZ-RR 2014, 316; es muss sich um vom Gericht geführte Gespräche handeln OLG Celle, NStZ 2014, 290, 292; OLG München, StV 2014, 520, 521. 208 BGH, StV 2018, 1; auch sonstige verfahrensfördernde Erörterungen fallen nicht in den Anwendungsbereich des § 243 Abs. 4 S. 1 StPO; BGH, StV 2016, 87, 88; BGH, StV 2016, 90, 91; BGH, NStZ 2017, 424; ebenfalls sind sonstige Gespräche die lediglich zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung stattfinden nicht mitteilungsbedürftig BGH, NStZ 2016, 362, 363. 209 BGH, NStZ 2015, 352, 352 f.; auch Gespräche über die Haftverschonung bei Kautionsstellung lösen keine Mitteilungspflicht aus BGH, StV 2016, 97. 210 BGH, StV 2018, 8, 8 f.; BGH, NStZ 2019, 684, 685; KG, StV 2014, 522, 522 f.; a. A. BGH, NStZ 2016, 743, 744. 211 Dies gilt auch dann, wenn die verständigungsbezogenen Erörterungen in anderer Besetzung der Strafkammer im Zwischenverfahren geführt wurden BGH, StV 2015, 149, 150; die Mitteilungspflicht wird nicht ausgelöst bei nur einseitigen Wünschen oder Anregungen anderer Verfahrensbeteiligter BGH, Beschl. v. 8. 1. 2020 – 5 StR 366/19, juris, Rn. 42. 212 St. Rspr. BGHSt 60, 150, 152; BGH, NStZ 2017, 244, 245; BGH, NStZ 2017, 596, 597; BGH, StV 2018, 5; BGH, StV 2018, 6, 7; in der Rechtsprechung wird die Mitteilung über die Initiative zum Verständigungsgespräch teilweise als nicht notwendig angesehen: BGH, NStZ 2015, 293; BGH, NStZ 2015, 416, 416 f.; BGH, StV 2016, 95, 96; BGH, NStZ 2016, 357, 361; BGH, Urt. v. 26. 10. 2016 – 1 StR 172/16, Rn. 44, juris; weil dies nur den Ablauf der Gespräche betreffe nicht deren Inhalt; allerdings sind auch die Information von wem die Verständigungsgespräche ausgingen für die Beurteilung wichtig und sollten daher ebenfalls mitgeteilt werden; so auch: BGH, StV 2014, 516, 517; BGH, Beschl. v. 8. 10. 2014 – 1 StR 352/14, juris; BGH, StV 2015, 81; BGH, NStZ 2015, 352.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

derartige Gespräche nicht stattgefunden haben, muss eine „Negativmitteilung“ erfolgen.213 Eine Mitteilung muss gemäß § 243 Abs. 4 S. 2 StPO auch erfolgen, sofern sich Änderungen im Hinblick auf die anfangs gemachte Mitteilung ergeben. Werden also nach Eröffnung der Hauptverhandlung Gespräche gemäß § 212 StPO geführt ist dies ebenfalls mitteilungspflichtig. Wurde die Hauptverhandlung ausgesetzt, so muss der Vorsitzende zu Beginn der neuen Hauptverhandlung mitteilen, ob Verständigungsgespräche geführt wurden und gegebenenfalls deren wesentlichen Inhalt bekanntgeben.214 In vielen Fällen war die Mitteilung nach § 243 Abs. 4 S. 1, 2 unzureichend215 oder die Mitteilung ist sogar komplett unterblieben.216 Unterblieben ist die Mitteilung meist dann, wenn nicht eindeutig zuzuordnen war, ob es sich um verständigungsbezogene Gespräche handelte oder um bloße verfahrensfördernde Gespräche.217 Ist fraglich, ob es sich lediglich um verfahrensfördernde Erörterungen handelt oder um verständigungsbezogene Gespräche, so müsse im Zweifel ein Hinweis ergehen.218 Ein Verstoß gegen § 243 Abs. 4 S. 1, 2 StPO gilt in der Rechtsprechung als besonders schwerwiegend, sodass hier im Rahmen von § 337 StPO regelmäßig ein Beruhen anzunehmen ist.219 Maßgeblich ist im Rahmen des § 337 StPO grund213 BVerfG, StV 2014, 713, 714 f.; BGH, StV 2015, 274; BGH, (5 StR 258/13) NStZ 2015, 417, 418; KG, StV 2014, 522; a. A. BGH, StV 2013, 678, 679 „Negativmitteilung“ beziehe sich nur auf gescheiterte Gespräche. 214 BGH, NStZ 2019, 483, 484. 215 BGHSt 60, 150, 153; BGH, StV 2016, 95, 96; BGH, NStZ 2017, 244, 245; BGH, StV 2018, 5; BGH, StV 2018, 6, 7; BGH, StV 2019, 374, 375; BGH, StV 2019, 375, 375 f.; BGH, StV 2019, 377, 377 f. 216 BGH, StV 2014, 658, 658 f.; BGH, Beschl. v. 16. 9. 2015 – 5 StR 364/15, juris, Rn. 3; BGH, NStZ 2016, 688, 689; BGH, StV 2018, 5; BGH, StV 2019, 376; BGH, NStZ 2019, 484, 485; BGH, NStZ 2019, 483, 484. 217 BGH, NStZ 2016, 688, 689; vgl. auch BGH, StV 2018, 5; im Fall des BGH, NStZ 2019, 483, 484 ist die Mitteilung wohl unterblieben, weil das Gericht übersehen hat, dass nach einer Verfahrensaussetzung erneut eine Belehrung nach § 243 Abs. 4 S. 1 StPO erfolgen muss. 218 BGH, NStZ 2016, 688, 689. 219 BVerfGE 133, 168, 223; BGH, StV 2014, 513, 514; BGH, StV 2014, 516, 517; BGH, Beschl. v. 13. 1. 2016 – 1 StR 630/15, juris, Rn. 3; BGH, StV 2016, 95, 97; BGH, NStZ 2017, 244, 245; BGH, StV 2018, 3, 4; BGH, StV 2018, 5; BGH, StV 2019, 374, 375; BGH, StV 2019, 377, 378; BGH, StV 2019, 799, 800; BGH, NStZ 2019, 483, 484; a. A. BGH, StV 2016, 81, 83 wobei ausdrücklich die Trennung zwischen § 337 StPO und § 338 StPO weiter beibehalten werden soll und daher im Rahmen der relativen Revisionsgründe immer eine Beruhensprüfung erfolgen müsse; BVerfG, NStZ 2015, 170, 171; BVerfG, NStZ 2015, 172, 173 schlagen zudem vor, die Beruhensprüfung im Hinblick auf die von § 243 Abs. 4 StPO bezweckte Öffentlichkeit nicht auf eine reine Kausalitätsprüfung zu beschränken sondern mit normativen Komponenten anzureichern, ohne näher auszuführen welche normativen Komponenten damit gemeint sind und wie sich dies auf die Prüfung auswirkt; dem folgend beispielsweise BGH, Beschl. v. 5. 8. 2015 – 5 StR 255/15, juris, Rn. 13; BGH, NStZ-RR 2015, 379; BGH, StV 2019, 375, 376; BGH, NStZ-RR 2019, 316; dagegen: BGH, Beschl. v. 10. 12. 2015 – 3 StR 163/15, Rn. 15, juris; BGH, StV 2016, 81, 85; BGH, NStZ 2016, 362, 362 f.; Henckel, S. 238.

H. Vorschriften zur Gewährleistung der Transparenz des Verfahrens

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sätzlich, dass sich nicht ausschließen lässt, dass das Gericht bei Einhaltung der Mitteilungspflicht zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.220 Zusätzlich müsse aber bei Verstößen gegen § 243 Abs. 4 StPO die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit berücksichtigt werden.221 Ein Beruhen sei insbesondere dann anzunehmen, wenn das im Rahmen der Verständigung abgelegte, „bemäkelte“ Geständnis verwertet und zur Grundlage des Urteils gemacht wurde.222 Auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der bis zum Schluss bestreitende Angeklagte im Falle einer Mitteilung geständig gezeigt hätte, beruht das Urteil auf dem Verstoß.223 Das Beruhen kann in dieser Konstellation nur in besonderen Ausnahmefällen ausgeschlossen werden,224 beispielsweise wenn die Negativmitteilung unterblieben ist aber feststeht, dass keine verständigungsbezogenen Gespräche stattgefunden haben.225 Außerdem könne das Gespräch des Angeklagten mit seinem Verteidiger auch im Rahmen der Beruhensprüfung die Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 StPO nicht ersetzen.226 Daher waren zahlreiche Revisionen, die einen Verstoß gegen § 243 Abs. 4 S. 1, 2 StPO darlegen konnten, erfolgreich.227 Einige Revisionen scheiterten allerdings, wobei die Gründe für deren Scheitern unterschiedlich waren.228 220

BGH, StV 2016, 81, 83; BGH, StV 2019, 374, 375; OLG Oldenburg, StV 2018, 13, 14. BVerfG, NStZ 2015, 170, 171; BVerfG, NStZ 2015, 172, 173. 222 BGH, StV 2014, 513, 514 f.; BGH, StV 2015, 149, 150. 223 OLG Oldenburg, StV 2018, 13, 14. 224 BVerfGE 133, 168, 223; BGH, StV 2014, 513, 514 f.; BGH, StV 2016, 94, 95; BGH, StV 2018, 3, 4; BGH, StV 2018, 6, 7; BGH, NStZ 2019, 483, 484; ausführlich BGHSt 60, 150, 153 f.; so beispielsweise im Fall OLG Oldenburg, StV 2018, 13, 14. 225 BVerfGE 133, 168, 223; BGHSt 60, 150, 153; BGH, StV 2014, 658, 658 f.; BGH, Beschl. v. 8. 12. 2015 – 5 StR 392/15, juris; BGH, NStZ-RR 2015, 118; BGH, (5 StR 258/13) NStZ 2015, 417, 418; BGH, StV 2015, 274; BGH, StV 2016, 94, 95; KG NStZ-RR 2014, 316. 226 BGHSt 59, 252, 259; BGHSt 60, 150, 155; a. A. BGH, StV 2014, 650, 651. 227 BGH, NStZ-RR 2014, 315, 316; BGH, StV 2014, 66; BGH, StV 2014, 513, 514; BGH, StV 2014, 516, 517; BGH, StV 2014, 653, 654; BGHSt 59, 252, 258 f.; BGHSt 60, 150, 158; BGH, Beschl. v. 16. 9. 2015 – 5 StR 364/15, juris, Rn. 3; BGH, StV 2015, 149, 150; BGH, NStZ 2015, 178; BGH, Beschl. v. 13. 1. 2016 – 1 StR 630/15, juris, Rn. 2 f.; BGH, StV 2016, 81, 82; BGH, StV 2016, 92, 94; BGH, StV 2016, 94, 95; BGH, StV 2016, 95, 97; BGH, NStZ 2016, 688, 690; BGH, NStZ 2017, 244, 245; BGH, NStZ 2017, 596, 598; BGH, StV 2018, 3, 4; BGH, StV 2018, 5; BGH, StV 2018, 6; BGH, StV 2019, 374, 375; BGH, StV 2019, 375, 375 f.; BGH, StV 2019, 376, 377; BGH, StV 2019, 377, 378; BGH, StV 2019, 378, 379; BGH, StV 2019, 799, 800; BGH, NStZ 2019, 484, 485; BGH, NStZ 2019, 483, 484; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 4. 8. 2016 – II-3 RVs 75/16, juris, Rn. 2; OLG Stuttgart, StV 2014, 397; vgl. auch die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde BVerfG, StV 2020, 357, 361 in der ein Verstoß gegen das faire Verfahren bejaht wurde. 228 BGH, StV 2013, 740 in diesem Fall erfolgte zwar keine Mitteilung, es konnte aber zweifelsfrei ermittelt werden, dass verständigungsbezogene Gespräche nicht stattgefunden haben; in den Fällen BVerfG, NStZ 2015, 170, 171; BGH, NStZ-RR 2014, 315 (später aufgehoben BVerfG, NStZ 2015, 172, 173); BGH, StV 2014, 650, 651; BGH, StV 2014, 651, 652 f.; BGH, StV 2014, 658, 658 f.; BGH, Beschl. v. 5. 8. 2015 – 5 StR 255/15, juris, Rn. 12 ff.; BGH, NStZ 2015, 416, 416 f.; BGH, StV 2015, 81; BGH, NStZ-RR 2015, 379; BGH, (5 StR 221

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Der Angeklagte soll durch die Mitteilung auf denselben Informationsstand gesetzt werden, wie die übrigen Verfahrensbeteiligten, damit er daran sein weiteres Prozessverhalten ausrichten kann.229 Die Öffentlichkeit soll dagegen informiert werden, um den Ablauf des Verfahrens zu durchschauen und ihre Kontrollfunktion auszuüben.230 Das Gesetz wolle erreichen, dass derartige Gespräche stets in öffentlicher Hauptverhandlung zur Sprache kommen. Dies soll auch inhaltlich dokumentiert werden, weil Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung kein informelles, unkontrollierbares Verfahren eröffnen dürfen.231 In der absoluten Mehrheit der Fälle wurde, wie soeben ausgeführt, ein Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO gerügt. In lediglich einem einzigen Verfahren wurde ein Verstoß gegen die §§ 169 ff. GVG durch eine nichtöffentliche Verständigung gerügt.232 Selbst in diesem Fall wurde ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitgrundsatz aber abgelehnt.233 Wie oben234 bereits ausgeführt, sind die Regelungen zur Gewährleistung der Öffentlichkeit des Verfahrens als gelungen anzusehen. Sofern die Regelungen des Verständigungsgesetzes eingehalten werden, ergibt sich kein Konflikt mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz. Ob sich die Gerichte an diese Vorschriften halten oder ob informelle Absprachen, die auch die Öffentlichkeitsvorschriften verletzen, lediglich nicht zu den Revisionsgerichten vordringen, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. 2. Stellungnahme Unverständlich ist daher, dass der § 243 Abs. 4 StPO eine der „tragenden Säulen“ für die Information der Öffentlichkeit darstellen soll und trotzdem lediglich ein relativer Revisionsgrund vorliegt.235 Wie oben236 bereits ausgeführt wurde, handelt es 258/13) NStZ 2015, 417, 418; BGH, NStZ 2016, 357, 362; BGH, NStZ-RR 2019, 316; OLG Oldenburg, StV 2018, 13, 14 wurde ausnahmsweise das Beruhen verneint vgl. auch BVerfG, StV 2020, 357, 358 f.; kein Verstoß: BGH, NStZ 2015, 293; BGH, NStZ 2015, 352; BGH, NStZ 2015, 353; BGH, Urt. v. 26. 10. 2016 – 1 StR 172/16, juris, Rn. 45 f.; BGH, NStZ 2016, 743, 744; BGH, StV 2016, 87, 88; BGH, StV 2016, 90, 91; BGH, NStZ 2018, 419, 419 f.; BGH, StV 2018, 8, 9; OLG München, StV 2014, 520, 521; im Rahmen der Verfassungsbeschwerde stellte BVerfG, StV 2014, 649 überdies fest, dass Verstöße gegen § 243 Abs. 4 StPO keine Drittwirkung entfalten; ebenso BGH, Beschl. v. 24. 04. 2014 – 5 StR 123/14, juris, Rn. 4; BGH, (4 StR 587/14) NStZ 2015, 417; BGH, StV 2016, 90, 91; a. A. Henckel, S. 224 f. 229 BGH, StV 2016, 95, 96; sinngemäß: BGH, StV 2014, 513, 515. 230 BGH, StV 2016, 95, 96. 231 BGHSt 60, 150, 152; BGH, StV 2016, 95, 96; BGH, NStZ 2016, 688, 689; BGH, StV 2018, 6, 7. 232 BGH, NStZ 2016, 118. 233 BGH, NStZ 2016, 118, 119. 234 Siehe 2. Kapitel § 2 B. IV. 235 BGH, StV 2016, 81, 83; vgl. mit Ausführungen zum Beruhen die nur im Rahmen des § 337 StPO erforderlich sind: BGH, StV 2016, 95, 97; BGH, NStZ 2017, 244, 245; BGH, StV 2018, 5.

H. Vorschriften zur Gewährleistung der Transparenz des Verfahrens

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sich bei Verstößen gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz um einen absoluten Revisionsgrund, weil diese einerseits schwer beweisbar sind und andererseits einen Verstoß gegen eine zentrale Funktion des Rechtsstaats darstellen. Da es sich bei § 243 Abs. 4 StPO gerade nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift handelt, wäre es wünschenswert, diesen in Zukunft ebenfalls unter § 338 Nr. 6 StPO zu subsumieren.237 Der Öffentlichkeitsgrundsatz wurde auch aufgrund übergeordneter Gesichtspunkte zu einem absoluten Revisionsgrund erhoben.238 Es ist unverständlich, dass das BVerfG zwar auf diesen Schutzzweck und auch auf den § 338 Nr. 6 StPO hinweist und trotzdem keinen absoluten Revisionsgrund annimmt.239 Eine Anreicherung um normative Aspekte verkennt den grundlegenden Charakter des Revisionsrechts, wo einzig das Beruhen relevant ist.240 Während dies im Rahmen des § 338 StPO vermutet wird, muss es im Rahmen des § 337 StPO positiv festgestellt werden. Auch ein absoluter Revisionsgrund führt außerdem nicht zur Aufhebung des Urteils, wenn eine Auswirkung auf das Urteil ausgeschlossen ist.241 Wenn Verstöße gegen § 243 Abs. 4 StPO unter § 338 Nr. 6 StPO subsumiert würden, wäre die Rechtsprechung dogmatisch korrekter, während sich am Ergebnis nicht viel verändern würde. Besonders erschreckend ist es zudem, dass die Mitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO teilweise unterblieben ist, obwohl der Angeklagte nicht an den Vorgesprächen beteiligt war.242 Der Angeklagte hatte in diesen Fällen entweder überhaupt keine Kenntnis von Ablauf und Ergebnissen der Vorgespräche oder wurde im Nachhinein von seinem Verteidiger unterrichtet. Vor allem weil im Bereich des § 243 Abs. 4 StPO in der Umsetzung noch größere Mängel bestehen, müssen hier, wie oben vorgeschlagen, weitergehende Schutzmechanismen für die Information des Angeklagten geschaffen werden.243 Er muss selbst darüber entscheiden können, ob er an den Vorgesprächen teilnehmen will oder nicht. Das gilt umso mehr im Hinblick auf die Gefahr der unzureichenden, oder sogar völlig fehlenden Mitteilung im Sinne des § 243 Abs. 4 StPO. Positiv zu beurteilen ist es allerdings, dass die Revisionsgerichte unter Zuhilfenahme eines „quasi-absoluten Revisionsgrundes“ konsequent Verstöße feststellen 236

Siehe oben 2. Kapitel § 2 B. IV. 3. Vgl. dazu oben die ausführliche Argumentation: 2. Kapitel § 2 B. IV. 3.; BGH, StV 2014, 651, 652 f. lässt dies wohl im Ergebnis offen; ablehnend: BGH, StV 2013, 740; BVerfG, StV 2014, 649 spricht davon, dass die Vorschriften über die Transparenz „in die Nähe absoluter Revisionsgründe gerückt wurden“; vgl. auch BVerfGE 133, 168, 223 Verständigung sei rechtswidrig und Beruhen deshalb regelmäßig nicht auszuschließen; der Vorschlag von Ruhs, S. 397 ist nicht zielführend, weil er die Rechtsunsicherheit lediglich von der Prüfung des „Beruhens“ in die Prüfung eines „besonders schweren Verstoßes“ verlagert. 238 Vgl. BGH, StV 2016, 81, 86. 239 BVerfG, NStZ 2015, 170, 171; BVerfG, NStZ 2015, 172, 173. 240 Ähnlich BGH, StV 2016, 81, 85; Henckel, S. 218 f. 241 Grube, StraFo 2013, 513, 514. 242 BGH, NStZ-RR 2014, 315, 316. 243 Vgl. oben unter 2. Kapitel § 3 B. III. 4. 237

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

und die betreffenden Urteile aufheben. Entgegen einem obiter dictum des BGH, dass aufführt es gehöre nicht zur Aufgabe der Revisionsgerichte die Tatgerichte zu disziplinieren,244 ist dies aber gerade im Kontext der Verständigung sehr wohl notwendig. Es bleibt zu hoffen, dass die gerügten Verstöße auch aufgrund der konsequenten Rechtsprechung immer weiter abnehmen. II. Protokollierungs- und Begründungspflichten Ein weiterer wichtiger Punkt im Rahmen des Verständigungsgesetzes sind die umfassenden Protokollierungs- und Begründungspflichten.245 Diese sind vor allem im Hinblick auf die revisionsgerichtliche Kontrolle unerlässlich. Zentrale Vorschrift ist diesbezüglich der § 273 Abs. 1a StPO. Gemäß § 273 Abs. 1a S. 1 StPO muss das Protokoll den wesentlichen Ablauf und Inhalt einer Verständigung nach § 257c StPO widergeben. Der § 273 Abs. 1a S. 2 StPO schreibt vor, dass die Mitteilungen nach § 243 Abs. 4 StPO und § 257c Abs. 4 S. 4 StPO sowie die Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO zu protokollieren sind. Der § 273 Abs. 1a S. 3 StPO schreibt das sogenannte „Negativattest“ vor. Auch wenn keine Verständigung stattgefunden hat, ist dies zu protokollieren. 1. Darstellung der Rechtsprechung Lediglich in zwei Fällen wurde ein Verstoß gegen § 273 Abs. 1a S. 1 StPO gerügt.246 Im Falle des OLG Oldenburg wurde ein Negativattest ins Protokoll aufgenommen, obwohl eine konkludente Verständigung in der Hauptverhandlung stattgefunden hat. Ein Vermerk gemäß § 273 Abs. 1a S. 1 StPO fehlte in diesem Fall.247 Das Beruhen wurde allerdings offen gelassen, weil die Aufhebung des Urteils schon aufgrund anderer schwerwiegender Verstöße erfolgte.248 Im Falle des OLG Nürnberg kam letztlich keine Verständigung zustande, der Verständigungsvorschlag und dessen Ablehnung wurden aber nicht gemäß § 273 Abs. 1a S. 1 StPO protokolliert. In diesem Fall wurde auf die Rechtsprechung zur „Gesamtbetrachtung“249 der obersten Gerichte im Kontext des Transparenzvorschriften des Verständigungsgesetzes ver-

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BGH, NStZ-RR 2015, 118. Bereits im Jahr 2012 hat der BGH, StV 2013, 194, 195 in einer sehr interessanten Entscheidung ausgeführt, dass im Einzelfall auch eine über die Mindestanforderungen des § 267 Abs. 3 S. 5 StPO hinausgehende Mitteilung zu Einzelheiten der Verständigung notwendig sein können, um eine wirksam revisionsrechtliche Kontrolle zu ermöglichen. Dieses Urteil ist zu begrüßen wird aber wegen der zeitlichen Eingrenzung der Analyse nicht weiter behandelt. 246 OLG Nürnberg, StV 2015, 282, 283; OLG Oldenburg, StV 2018, 340, 340 f. 247 OLG Oldenburg, StV 2018, 340, 340 f. 248 OLG Oldenburg, StV 2018, 340, 340 f. 249 Vgl. BVerfG, NStZ 2015, 170, 171; BVerfG, NStZ 2015, 172, 173. 245

H. Vorschriften zur Gewährleistung der Transparenz des Verfahrens

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wiesen.250 Nach dieser Rechtsprechung müsse auch in diesem Fall eine Aufhebung des Urteils erfolgen, obwohl ein Beruhen des Urteils auf diesem Verstoß im klassischen Sinne ausgeschlossen sei.251 Insbesondere im Rahmen des § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 StPO wurden häufig Fehler festgestellt. Die Vorschrift soll sicherstellen, dass eine Mitteilung nach § 243 Abs. 4 S. 1, 2 StPO, sofern sie in der Hauptverhandlung erfolgt, auch protokolliert wird. Sofern bereits die Mitteilung unterlassen wurde, handelt es sich schon rein logisch nicht um einen Verstoß gegen die Protokollierungspflicht, sondern allein gegen die Mitteilungspflicht. Protokolliert werden nur Abläufe innerhalb der Hauptverhandlung, die tatsächlich stattgefunden haben.252 Trotzdem wurde hier in den Urteilen teilweise nicht unterschieden und beispielsweise ein Verstoß gegen § 243 Abs. 4 S. 1, 2 StPO und § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 StPO benannt.253 Die Rechtsprechung vermischt daher die Argumentation zu den beiden Verstößen, was eine Analyse erheblich erschwerte. Sofern die Dokumentation einer Mitteilung gemäß § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 StPO fehlt, entfaltet das Protokoll diesbezüglich negative Beweiskraft im Sinne des § 274 S. 1 StPO. Bewiesen ist damit nur, dass eine Mitteilung über derartige Gespräche in der Hauptverhandlung nicht erfolgt ist, nicht dass solche Gespräche nicht stattgefunden haben.254 In einigen Fällen fehlte im Protokoll die Protokollierung der Mitteilung gemäß § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 StPO.255 Die Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 StPO sei zur Gewährleistung der effektiven Kontrolle ins Protokoll aufzunehmen.256 Das Fehlen der Protokollierung stelle einen Rechtsfehler des Verständigungsverfahrens dar, der durch das Protokoll beweisbar sei.257 Ein Mangel an Transparenz und Dokumentation der Gespräche, die mit dem Ziel der Verständigung außerhalb der Hauptverhandlung geführt werden, führe regelmäßig dazu, dass das Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler nicht auszuschließen sei.258 Durch die Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 StPO und deren Protokollierung gemäß § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 StPO werde nicht nur das Ergebnis der Absprache, sondern auch der Entscheidungsprozess festgeschrieben und so der revisionsrechtlichen Kontrolle zugänglich gemacht.259 Zudem seien Mit-

250

OLG Nürnberg, StV 2015, 282, 283. OLG Nürnberg, StV 2015, 282, 283. 252 So auch BGH, Beschl. v. 15. 4. 2014 – 3 StR 89/14, juris, Rn. 10; BGH, StV 2015, 271, 272. 253 So BGH, NStZ 2015, 178 obwohl es hier eigentlich ausschließlich um einen Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO ging; wohl ebenso BGH, StV 2016, 91, 92; BGH, StV 2014, 650. 254 MüKoStPO/Valerius, Bd. 2 § 273 Rn. 36. 255 BGH, StV 2013, 677; BGH, StV 2014, 67; BGH, NStZ 2015, 178; BGH, StV 2016, 91, 92. 256 BGH, StV 2013, 677, 678; BGH, StV 2014, 67; BGH, StV 2016, 91, 92. 257 BGH, StV 2013, 677, 678; BGH, StV 2014, 67; BGH, StV 2014, 515, 516. 258 BVerfGE 133, 168, 223; BGH, StV 2013, 677, 678; BGH, StV 2014, 67; BGH, StV 2014, 515, 516; BGH, StV 2016, 91, 92. 259 BGH, StV 2013, 677, 678; BGH, StV 2014, 67. 251

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

teilung und Dokumentation, sowie deren Nachprüfbarkeit Grundlage für die Entscheidung des Angeklagten über den Abschluss einer Verständigung.260 Die Mitteilung über die Gespräche, sowie deren Dokumentation und Nachprüfbarkeit in einem einheitlichen System der Kontrolle, seien jeweils Grundlage einer eigenverantwortlichen Entscheidung des Angeklagten über eine mögliche Beteiligung an der Verständigung.261 Auch im Falle einer fehlerhaften Protokollierung könne das Prozessverhalten des Angeklagten beeinflusst werden.262 In fast allen Urteilen, in denen die fehlende Protokollierung gemäß § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 StPO gerügt wurde, wurden die Urteile der Tatgerichte aufgehoben, weil ein Beruhen nicht auszuschließen war.263 Im Falle des § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 3 StPO wurde die fehlende Protokollierung der Belehrung gemäß § 257c Abs. 5 StPO gerügt. Sofern in diesem Fall lediglich die fehlende Aufnahme der Belehrung gemäß § 257c Abs. 5 StPO ins Protokoll gerügt wurde,264 wurde ein Beruhen des Urteils auf diesem Rechtsfehler durch den dritten Strafsenat verneint.265 Grund hierfür sei, dass das Protokoll e contrario § 273 Abs. 1 S. 1 StPO erst nach Verkündung des Urteils fertig gestellt werden kann, weil es die Urteilsformel enthalten muss.266 Das Gericht, sowie die Verfahrensbeteiligten haben daher keine Kenntnis vom späteren Protokollinhalt, sodass sich das Urteil aus diesem Grund ersichtlich nicht auf das Prozessverhalten des Angeklagten auswirken könne.267 Grundlage für das Urteil seien daher die tatsächlichen Geschehnisse in der Hauptverhandlung, nicht die spätere Niederschrift des Protokolls.268 Ein Beruhen des Urteils auf einem Fehler des Protokolls sei daher ersichtlich ausgeschlossen.269 Zudem wurde die Aufnahme eines Negativattests gemäß § 273 Abs. 1a S. 3 StPO ins Protokoll in einigen Fällen bewusst oder unbewusst unterlassen.270 Dies führt dazu, dass das Protokoll seine Beweiskraft verliert.271 In einem Fall hat der BGH allerdings auch entschieden, dass eine Negativfeststellung im Protokoll ausnahms260

BGH, StV 2013, 677, 678; BGH, StV 2014, 67, 67 f. BGH, StV 2013, 677, 678; BGH, StV 2014, 67, 67 f. 262 BGH, StV 2014, 515, 516. 263 BGH, StV 2013, 677; BGH, StV 2014, 67; BGH, StV 2016, 91, 92; lediglich Feststellung des Verstoßes in obiter dicta: BGH, StV 2014, 397; BGH, Beschl. v. 28. 11. 2013 – 5 StR 576/13, juris, Rn. 5; ein Verstoß wurde in einem Fall verneint, in dem die Mitteilung ordnungsgemäß erfolgte und im Rahmen der Protokollierung eine genaue Aktenstelle vermerkt wurde BGH, NJW 2019, 3316, 3317. 264 Und nicht gleichzeitig das Fehlen der Belehrung. 265 BGHSt 59, 130, 132; BGH, StV 2014, 395. 266 BGHSt 59, 130, 134; BGH, StV 2014, 395, 396. 267 BGHSt 59, 130, 134; BGH, StV 2014, 395, 396. 268 BGHSt 59, 130, 134. 269 BGHSt 59, 130, 133 f. 270 OLG Köln, StV 2015, 281, 282; OLG München, StV 2013, 493, 495; OLG München, StV 2013, 495, 499. 271 OLG Köln, StV 2015, 281, 281 f. 261

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weise entbehrlich sei, wenn vorher eine Negativmitteilung im Sinne des § 243 Abs. 4 StPO erfolgt ist.272 2. Stellungnahme Problematisch ist daher, ob das Urteil allein auf der fehlerhaften Protokollierung beruhen kann. Das BVerfG hat in seiner Grundsatzentscheidung festgestellt, dass bei Verstößen gegen die Transparenz- und Dokumentationspflichten in der Regel ein Beruhen des Urteils im Sinne des § 337 StPO vorliegen soll.273 Während ein überwiegender Teil der Rechtsprechung ein Beruhen bei Verstößen gegen § 273 Abs. 1a StPO deshalb annimmt, hat der dritte Strafsenat im Kontext des § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 3 StPO ein Beruhen verneint und generelle Ausführungen zum Beruhen des Urteils auf einer fehlenden Protokollierung gemacht. Es sind auch keine Gründe ersichtlich, Verstöße gegen § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 und 3 StPO unterschiedlich zu behandeln, weil diese dieselbe Schutzrichtung verfolgen. In beiden Fällen sollen Verstöße gegen das Verständigungsgesetz in der Revision nachweisbar sein. Dabei kann wegen des „Stufenverhältnisses“ auch nicht darauf abgestellt werden, dass § 257c Abs. 5 StPO nur den Angeklagten schützt, während § 243 Abs. 4 StPO auch die Öffentlichkeit informieren soll. Zusätzlich sollen beide Vorschriften die Gerichte disziplinieren, sich an die Regelungen des Verständigungsgesetzes zu halten. Folglich ist diese Rechtsprechung nicht allein auf § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 3 StPO zu beziehen, sondern auf sämtliche Alternativen des § 273 Abs. 1a StPO. Die Rechtsprechung ist auch ohne Weiteres auf die sonstigen Konstellationen übertragbar. Es ergeben sich insbesondere keine Unterschiede zwischen der Protokollierungspflicht nach § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 StPO und § 273 Abs. 1a S. 3 Var. 3 StPO, sodass hier eine Gleichbehandlung dieser Vorschriften erfolgen muss. Daher muss der Streit entschieden werden. a) Meinungsstand in der Literatur Der BGH führt lediglich aus, dass im Fall des § 273 Abs. 1a StPO ausnahmsweise eine „bloße Protokollrüge“ zulässig ist. Der Verfahrensfehler bestehe in seinem Kern gerade darin, dass das Protokoll den Inhalt der außerhalb der Hauptverhandlung getroffenen Gespräche nicht widergebe.274 Die Frage des Beruhens im Sinne des § 337 StPO ist allerdings eine Frage der Begründetheit. Diese wird soweit ersichtlich nur im Bezug auf die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO beantwortet und kommentarlos, sogar unbemerkt, auf die Dokumentationspflicht übertragen.275 272

BGH, HRRS 2015, Nr. 162. BVerfGE 133, 168, 223. 274 BGH, StV 2013, 677; BGH, StV 2014, 67. 275 BGH, StV 2013, 677, 678; BGH, StV 2014, 67; BGH, StV 2014, 515, 516; BGH, StV 2016, 91, 92. 273

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Warum genau in diesem Fall ausnahmsweise ein Beruhen anzunehmen sein soll ist nicht verständlich. Mosbacher nimmt an, dass das BVerfG den Protokollierungsvorschriften durch die Vermutung des Beruhens die notwendige Durchsetzungskraft verleihen wollte.276 Die Verknüpfung der Transparenz- und Dokumentationsvorschriften zu einer „untrennbaren Einheit“, wobei jeder Verstoß für sich zur Rechtswidrigkeit der Verständigung führen soll, sei eine „grundlegende Abweichung von der bisherigen Beruhensdogmatik“277. Auch Brocke sieht darin eine Abkehr von der bisherigen strafgerichtlichen Rechtsprechung.278 Lam folgt der Ansicht des BVerfG und nimmt eine untrennbare Einheit der Verfahrensregelungen an.279 Auch die normative Betrachtungsweise in der Revisionsrechtsprechung sei angemessen.280 Ein fehlendes Negativattest im Protokoll verletze zudem Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG, sodass im Rahmen des § 337 StPO eine verfassungskonforme Auslegung zu einem Beruhen des Urteils auf dem Fehler kommen müsse.281 Das Tatbestandsmerkmal des „Beruhens“ müsse im Rahmen der Protokollierungspflichten im allgemeinen verfassungsgemäß ausgelegt werden, sodass ein Beruhen in der Regel anzunehmen sei.282 Henckel schließt sich der Rechtsprechung nur teilweise an. Er lehnt die Gesamtbetrachtung als Ablösung der Beruhensprüfung ab und hält sie auch für nicht notwendig.283 Anders als die Rechtsprechung differenziert er bei Verstößen gegen § 273 Abs. 1a StPO284 allerdings danach, ob eine Verständigung stattgefunden hat, auf der das Urteil beruht.285 Sofern eine Verständigung stattgefunden habe, beruhe das Urteil auf einem Verstoß gegen § 273 Abs. 1a StPO.286 Sofern nicht alle Mitteilungs- und Dokumentationspflichten eingehalten würden, fehle es im Rahmen der Eingehung der Verständigung an einem freiwilligen Verzicht des Angeklagten auf seine Rechte.287 Es bestehe ein Autonomiedefizit des Angeklagten. Es sei nicht auszuschließen, dass bei hypothetisch rechtmäßigem Verhalten ein autonom han276

Mosbacher, NZWiSt 2013, 201, 206. Mosbacher, NZWiSt 2013, 201, 205. 278 Brocke, StraFo 2013, 441, 449. 279 Lam, StraFo 2014, 407, 408. 280 Lam, StraFo 2014, 407, 408 f. 281 Lam, StraFo 2014, 407, 409. 282 Lam, StraFo 2014, 407, 410. 283 Henckel, S. 210 ff. 284 Bei Verstößen gegen § 243 Abs. 4 StPO folgt er dagegen der Rechtsprechung und nimmt zutreffend ein Beruhen an, unabhängig davon, ob eine Verständigung stattgefunden hat Henckel, S. 218 ff.; allein im Rahmen der Drittwirkung des § 243 Abs. 4 StPO geht Henckel, S. 224 f. noch weiter als die Rechtsprechung. 285 Vgl. Henckel, S. 218 ff. 286 Henckel, S. 219 f. 287 Henckel, S. 218. 277

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delnder Angeklagter sich gegen eine Verständigung entschieden, ein anderes Geständnis abgelegt oder sich sonst anders verteidigt hätte.288 Auf Grundlage einer rechtmäßigen Verständigung oder ohne eine solche wäre das Urteil daher möglicherweise anders ausgefallen, sodass das Urteil stets auf einer Verletzung der Informations- und Mitteilungspflichten beruhe.289 Für den Fall, in dem keine Verständigung zustande gekommen ist, lehnt Henckel ein Beruhen des Urteils ab.290 Wegen der fehlenden Verbindlichkeit des Protokolls vor Urteilsverkündung, ließe sich außerhalb des „Rechtsverzichts“ in der Verständigung, der Transparenz als Schutzmechanismus zwischen Protokollierung und Prozessverhalten gebiete, keine unmittelbare Verbindung herstellen, die ein Beruhen rechtfertige.291 Auch Rabe differenziert zwischen den Fällen, in denen eine Verständigung zustande gekommen ist und den Fällen, in denen letztlich keine Verständigung zustande gekommen ist. Rabe nimmt in Fällen, in denen die Verständigung zustande gekommen ist, an, dass der § 273 Abs. 1a StPO kein konstitutiver Teil der Verständigung sei. Dies ergebe sich zum einen aus dem Wortlaut, dass die „Verständigung nach § 257c StPO“ zu protokollieren sei und zum anderen aus dem Sinn und Zweck der Protokollierungspflichten.292 Eine Verletzung könne daher auch nicht zur Rechtswidrigkeit der Verständigung führen.293 Zudem könne ansonsten jede Verletzung einer Förmlichkeit im Sinne des § 274 S. 1 StPO zur Rechtswidrigkeit des zugrunde liegenden Vorgangs führen.294 Bei der Annahme des Beruhens handle es sich um die systemwidrige Vermengung der Mitteilungs- und Protokollierungspflichten.295 Der Angeklagte werde durch die Protokollierung auch nicht reflexartig informiert. Die Protokollierung verlaufe vielmehr unbemerkt.296 Der Angeklagte habe daher bis zur Urteilsverkündung auch keine Kenntnis vom unfertigen Protokoll.297 Das Urteil erklärt nicht, warum die unzureichende Protokollierung das Verteidigungsverhalten beeinflussen könne.298 Folglich sei es im Rahmen des § 337 Abs. 1 StPO bereits bei zustande gekommener Verständigung fehlerhaft, ein Beruhen anzunehmen.299 In den Fällen, in denen eine Verständigung nicht zustande gekommen sei, beruhe das Urteil ebenfalls nicht zwingend auf einem Verstoß gegen § 273 Abs. 1a S. 3

288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299

Henckel, S. 218. Henckel, S. 218. Henckel, S. 227. Henckel, S. 228. Rabe, S. 459. Rabe, S. 459. Rabe, S. 459. Rabe, S. 460. Rabe, S. 461. Rabe, S. 460. Rabe, S. 462. Rabe, S. 463.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

StPO.300 Auch die mögliche Annahme einer Disziplinierungsfunktion dieser Vorschrift führe nicht zu einem anderen Ergebnis.301 Zudem bestehe auch keine Notwendigkeit, die Ausführungen des BVerfG im Verständigungsurteil als bindend anzusehen. Im Hinblick auf den effektiven Rechtsschutz bestand bereits vor diesem Urteil keine Schutzlücke, sodass die Ausführungen des BVerfG nicht bindend seien.302 Es bestehe überhaupt kein Erfordernis für eine Beruhensfiktion im Falle einer Verletzung von Dokumentationspflichten, weil sich in diesem Fall bereits erhebliche Vorteile im Zusammenhang mit der Geltendmachung „materieller Verfahrensrügen“ wie beispielsweise der Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO ergeben.303 b) Eigene Meinung Dem Urteil,304 dass die Protokollierung der Negativmitteilung für entbehrlich hält ist zu widersprechen. Wegen der revisionsrechtlichen Kontrolle ist auch im Rahmen des § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 StPO die Protokollierung der Mitteilung, dass Vorgespräche nicht stattgefunden haben immer vorzunehmen. Bei der von Mosbacher angesprochenen erstrebten Durchsetzungskraft der Protokollierungsvorschriften handelt es sich zwar um ein durchaus erstrebenswertes Ziel, dieses darf aber nicht durch Außerachtlassung der grundlegenden Systematik des deutschen Revisionsrechts erreicht werden. Es gibt keinen Grund die bisherige Beruhensprüfung in Frage zu stellen. Etwas anderes kann auch nicht mit einer Verknüpfung der Dokumentations-, Mitteilungs-, und Belehrungspflichten zu einer „untrennbaren Einheit“ erreicht werden.305 Es ist richtig, dass es sich dabei um ein einheitliches Regelungskonzept handelt. Während allerdings die Mitteilungs- und Belehrungspflichten direkt der Absicherung der Beschuldigtenrechte dienen und damit einen höheren Stellenwert haben, dienen die Protokollierungspflichten der Absicherung der Mitteilung- und Belehrungspflichten. Sie stehen daher bildlich in der „zweiten Reihe“. Allerdings kann ein Verstoß gegen die Mitwirkungs- und Belehrungspflichten meist durch eine unzureichende Protokollierung nachgewiesen werden.306 Nur die Mitteilungs- und Belehrungspflichten selbst dürfen daher „quasi-absolute“ Revisionsgründe darstellen. Jede andere Auslegung verkennt die Systematik des Revisionsrechts. Wie oben bereits dargestellt entfalten diese Ausführungen des BVerfG auch keine Bindungswirkung. Hier wurde die „autoritäre Wirkung“ der Rechtsprechung des BVerfG sichtbar.307 300 301 302 303 304 305 306 307

Rabe, S. 465. Rabe, S. 464. Rabe, S. 465. Rabe, S. 465. BGH, HRRS 2015, Nr. 162. Vgl. Mosbacher, NZWiSt 2013, 201, 205. MüKoStPO/Valerius, Bd. 2 § 273 Rn. 36. Siehe oben 1. Kapitel C. IV. 2. c).

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Der Ansicht von Rabe ist daher zu folgen. In der Rechtsprechung wird stets von „Mitteilungs- und Dokumentationsvorschriften“ gesprochen und diesbezüglich keine Trennung vorgenommen. Allerdings ist die Begründung zu den Mitteilungspflichten nicht ohne Weiteres auf die Dokumentationspflichten übertragbar. Während der § 243 Abs. 4 StPO, ebenso wie der § 257c StPO, unmittelbar dem Schutz der Autonomie des Angeklagten im Verständigungsverfahren dient, fördern die Protokollierungspflichten aus § 273 Abs. 1a StPO dem Schutz dieser Vorschriften. Es liegt somit ein „Stufenverhältnis“ vor. Selbst wenn man dem dogmatisch fragwürdigen Ansatz der Gesamtbetrachtung folgt, wäre hier jedenfalls eine stichhaltige Begründung notwendig gewesen, warum diese Grundsätze auch auf den § 273 Abs. 1a StPO übertragbar sind. Es ist nicht nachvollziehbar, wie der Inhalt des Protokolls, von dem der Angeklagte keine Kenntnis hat, seine Entscheidung beeinflussen soll. Die Ansicht von Henckel, wonach ein Autonomiedefizit vorliege, verkennt auch, dass der Angeklagte im Zeitpunkt der Entscheidung umfassend informiert sein muss und daher autonom entscheidet. Spätere Einflüsse können sich analog §§ 116 ff. BGB nichtmehr auf die Willensbildung auswirken. Der Angeklagte muss also im Zeitpunkt seiner Zustimmung ausreichend informiert sein, um eine autonome Entscheidung zu treffen. Spätere Fehler im Protokoll können an dieser autonomen Entscheidung nichts mehr ändern, erleichtern aber den Beweis fehlerhafter Mitteilungen oder Belehrungen in der Revision. Sofern die Mitteilung im Sinne des § 243 Abs. 4 StPO nicht erfolgt ist, liegt zudem kein weitergehender Fehler vor. Verstöße gegen § 273 Abs. 1a S. 2 StPO werden daher nur dann relevant, wenn eine Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 StPO erfolgt ist und diese nicht protokolliert wurde. Folglich kann ein Verstoß gegen § 273 Abs. 1a StPO zwar einen Rechtsfehler darstellen, ein Urteil wird aber nie auf diesem Fehler im Sinne des § 337 StPO Beruhen.308 Die Protokollierungspflichten des § 273 Abs. 1a StPO müssen daher aus dogmatischen Gründen weiterhin ein Beispiel für einen „zahnlosen Tiger“ sein. Die von der Rechtsprechung gewählte Gesamtbetrachtung ist zudem nicht mit den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts vereinbar und somit ebenfalls abzulehnen.309 Wird das Negativattest in das Protokoll aufgenommen, obwohl eine Verständigung in der Hauptverhandlung stattgefunden hat, so erfüllt dies laut BVerfG den Tatbestand der Falschbeurkundung im Amt gemäß § 348 StGB.310 Unabhängig davon, ob das Sitzungsprotokoll eine öffentliche Urkunde im Sinne dieser Vorschrift darstellt, wäre die Gefahr der Strafbarkeit im Hinblick auf die Durchsetzung der Einhaltung der Vorschriften des Verständigungsgesetzes wünschenswert. Ob dies auch für Fälle gilt, in denen einen Negativattest im Protokoll vermerkt ist, obwohl eine informelle Absprache außerhalb der Hauptverhandlung stattgefunden hat, hängt

308 Anders ist dies zu beurteilen, wenn der Fehler in der Begründung des Urteils liegt BGH, StV 2013, 194, 195. 309 BVerfGE 133, 168, 214; a. A. Göttgen, S. 141 ff.; Rabe, S. 492 f. 310 So im Fall OLG Oldenburg, StV 2018, 340, 340 f.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

von der Reichweite des § 273 Abs. 1a S. 3 StPO ab.311 Ein Urteil kann nach zutreffender Ansicht niemals allein auf der Unrichtigkeit des Protokolls beruhen.312

I. Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts Die Erklärung eines Rechtsmittelverzichts ist im Anschluss an eine Verständigung ausgeschlossen. Dies ergibt sich bereits aus § 302 Abs. 1 S. 2 StPO.313 Daraus ergibt sich, dass ein Rechtsmittelverzicht erst recht nicht Teil der Vereinbarung sein kann. Dies gilt nach der Rechtsprechung auch unabhängig davon, ob es sich dabei um eine formelle Verständigung im Sinne des § 257c StPO handelte oder um eine gesetzeswidrige, informelle Absprache314.315 Der Ausschluss des Rechtsmittelverzichts muss sogar erst recht in den Fällen informeller Absprachen gelten.316 Gerade in diesem Fall besteht ein erhebliches Bedürfnis nach Kontrolle, da hier die Vorschriften des Verständigungsgesetzes bewusst umgangen werden.317 Daher ist der § 302 Abs. 1 S. 2 StPO analog auf alle sonstigen verfahrensbeendenden, informellen Absprachen anzuwenden. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass dieses Problem 311

Vgl. dazu unten 2. Kapitel § 5 J. I. BGH, NStZ 2011, 170; BGHSt 59, 130, 133 f.; BGH, Beschl. v. 15. 4. 2014 – 3 StR 89/ 14, juris, Rn. 10; Rabe, S. 458 ff.; Bauer, StV 2011, 340, 341; a. A. unzutreffend Brand/Petermann, NJW 2010, 268, 271; Henckel, S. 229; Ruhs, S. 397. 313 BGHSt 50, 40, 60 f. wurde noch dafür plädiert einen Rechtsmittelverzicht im Anschluss an eine Verständigung zuzulassen, sofern dieser nicht Teil der Vereinbarung war und eine qualifizierte Belehrung stattgefunden hat. Hier hat der Gesetzgeber sich durch Einführung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO komplett gegen einen Rechtsmittelverzicht nach vorangegangener Verständigung entschieden vgl. dazu 1. Kapitel C. II. 1., 2; 1. Kapitel C. IV. 314 Als informelle Absprachen werden in dieser Arbeit solche Absprachen bezeichnet, die außerhalb des gesetzlichen Rahmens des § 257c StPO liegen. Dabei handelt es sich insbesondere, aber nicht ausschließlich, um Absprachen über die Rechtsfolgen. Informelle Absprachen sind demnach sowohl Absprachen, die heimlich erfolgen und damit die Vorschriften über die Mitteilung- und Dokumentation missachten, als auch solche die beispielsweise wegen eines unzulässigen Verständigungsgegenstandes außerhalb der Grenzen von § 257c StPO liegen. 315 BGHSt 59, 21, 26; OLG Köln, StV 2015, 281; OLG München, StV 2013, 493; OLG München, StV 2013, 495, 499; a. A. Niemöller, NStZ 2013, 19, 23. 316 OLG Köln, StV 2015, 281; OLG München, StV 2013, 493, 494; OLG München, StV 2013, 495, 499; a. A. Krause, S. 109 die der Ansicht ist, dass die Parteien, die sich gesetzeswidrig verhalten, sich nicht auf die für sie günstigen Normen berufen können. Weiter spricht Krause, S. 109 davon, dass die Parteien sich nicht ohne Weiteres von einer „frei getroffenen Einigung“ lösen können. Dabei verkennt sie, dass von informellen Absprachen gerade keine Bindungswirkung ausgehen darf. Das Verbot des Rechtsmittelverzichts muss außerdem erst recht für informelle Absprachen gelten, weil gerade hier ein Kontrollbedürfnis besteht. Krause, S. 109 spricht zuletzt davon, dass nur derjenige der sich Rechtstreu verhält in den Genuss des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO komme. Dabei verkennt sie, dass die Vorschrift gerade nicht an das rechtstreue Verhalten anknüpft und absolut gilt. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Verbotsnorm als um ein verwirkbares Recht. Der Ansicht von Krause ist daher entschieden entgegenzutreten; vgl. dazu auch zutreffend Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2630. 317 OLG München, StV 2013, 495, 499. 312

I. Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts

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durch Einführung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO weitestgehend zurückgedrängt wurde. Sofern eine dem Rechtsmittelverzicht vorausgehende, formelle oder informelle Absprache glaubhaft dargelegt wurde, so wurde ein Verstoß gegen § 302 Abs. 1 S. 2 StPO festgestellt.318 Das größte Problem dürfte in diesen Fällen der Beweis des Vorliegens einer informellen Absprache sein. Wurde ein Rechtsmittelverzicht im Kontext der Absprache gerügt, so hatten die Rügen meist Erfolg, es sei denn, das Vorliegen einer Absprache konnte nicht bewiesen werden.319 Ein Rechtsmittelverzicht wurde allerdings für zulässig erachtet, wenn nach Verkündung des Urteils „Abreden“ zwischen den Beteiligten getroffen wurden.320 Der § 302 Abs. 1 S. 2 StPO erklärt einen Rechtsmittelverzicht für unwirksam, wenn diesem „eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen“ ist. Während bei informellen Absprachen eine vergleichbare Interessenlage vorliegt, weil sie ebenso wie die Verständigung das Urteil beeinflussen, ist dies bei nach der Urteilsverkündung getroffenen „Abreden“ nicht mehr der Fall.321 Eine analoge Anwendung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO könnte daher schon mangels vergleichbarer Interessenlage ausscheiden. In diesem Fall wurde die Außervollzugsetzung der Haft von einem Rechtsmittelverzicht abhängig gemacht.322 Sinn und Zweck des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ist zum einen der Schutz des Angeklagten, dem Bedenkzeit eingeräumt werden sollte.323 Dabei handelt es sich allerdings um ein allgemeines Problem, weshalb der Hauptzweck des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO darin liegen dürfte, die Nachprüfung des Urteils vor den Revisionsgerichten zu gewährleisten. Nur so kann überprüft werden, ob die Verständigungsvorschriften eingehalten werden.324 Zwar ist die Aussage des BGH zutreffend, dass die klassische Verständigung im Sinne des § 257c StPO ihrer Natur nach den Schuld- und den Aufklärungsgrundsatz betrifft.325 Für eine Analogie ist eine klassische Verständigung im Sinne des § 257c StPO gerade nicht erforder-

318 Einzige Ausnahme ist soweit ersichtlich BGH, NStZ-RR 2019, 318. Dabei ging es allerdings um eine „Abrede“ nach Urteilsverkündung; erfolgreich waren dagegen: BGHSt 59, 21, 26 f.; OLG Köln, StV 2015, 281; OLG München, StV 2013, 493, 494; OLG München, StV 2013, 495, 499 wobei der Rechtsmittelverzicht jeweils für unwirksam erklärt wurde; im Falle OLG München, StV 2013, 495, 502 wurde das vorangegangene Urteil aufgrund „offenkundiger krasser Widersprüche zu grundlegenden Prinzipien“ sogar für nichtig erklärt. 319 BGH, Beschl. v. 20. 12. 2016 – 2 StR 432/16, juris, Rn. 5 ff.; im Fall OLG Hamm, NStZ 2017, 725 führte das Gericht zum einen aus, dass die Absprache nicht bewiesen werden konnte und selbst bei den vorgetragenen Gründen jedenfalls keine unzulässige Absprache vorliege. 320 BGH, NStZ-RR 2019, 318. 321 Vgl. BGH, NStZ-RR 2019, 318, 319. 322 BGH, NStZ-RR 2019, 318. 323 Löwe-Rosenberg/Jesse, Bd. 7/1 § 302 Rn. 59; Niemöller/Schlothauer/Wieder, § 302 Rn. 3. 324 Löwe-Rosenberg/Jesse, Bd. 7/1 § 302 Rn. 59; vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 Rn. 26c. 325 BGH, NStZ-RR 2019, 318, 319.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

lich. Nach allgemeiner Meinung reicht auch eine informelle Absprache.326 Hier wird insbesondere die in der Einleitung vorgenommene Abgrenzung relevant.327 Sofern es sich um rein verfahrensfördernde Absprachen328 handeln würde, wäre ein Rechtsmittelverzicht nicht zwingend unzulässig. Von verfahrensfördernden Abreden unterscheidet sich dieser Fall allerdings auch aufgrund seiner Konsequenzen für den Angeklagten. Es handelt sich daher nicht um verfahrensfördernde Abreden, sondern um eine informelle Absprache. Problematisch ist allerdings, dass eine Verständigung dem Urteil „vorausgegangen“ sein muss. Eine analoge Anwendung auf diese Konstellation würde daher die Wortlautgrenze überschreiten. Das Urteil des BGH ist daher de lege lata nicht zu beanstanden. De lege ferenda ist dieses Ergebnis allerdings fragwürdig. Es darf keinen Unterschied machen, ob eine informelle Absprache voroder nach der Urteilsverkündung stattfindet. Daher sollte auch in derartigen Fällen ein Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen sein. Zwar kann eine derartige informelle Absprache keinen Einfluss mehr auf das Urteil nehmen, eine Überprüfung ob eine Umgehung des Verständigungsgesetzes stattfindet sollte aber trotzdem geboten sein. Dies gilt insbesondere weil § 302 Abs. 1 S. 2 StPO nicht nur dann anwendbar ist, wenn eine Verständigung das Urteil bestimmt hat.329 Auch eine mit der Verständigung vergleichbare Drucksituation kann in diesen Fällen bestehen, sodass der Angeklagte auch hier geschützt werden muss. Gerade beim Thema informeller Absprachen,330 gleich in welcher Form, sollten die Gerichte durchgreifen, um diese immer weiter einzudämmen.331 Gerade in diesem Bereich dürfen keine neuen „Schlupflöcher“ entstehen. Es wäre daher auch denkbar, einen Rechtsmittelverzicht generell auszuschließen.332 Allerdings kann keine Aussage zur „Dunkelziffer“ getroffen werden. Es gibt möglicherweise zahlreiche Fälle, in denen insbesondere informelle Absprachen mit einem Rechtsmittelverzicht gekoppelt wurden, in denen aber aufgrund der Akzeptanz des Urteils nie ein Rechtsmittel eingelegt wurde. Aus aktueller Sicht ergibt sich zumindest kein akuter Handlungsbedarf333, da die gesetzliche Regelung hier eindeutig ist und von den Revisions- und Beschwerdegerichten auch zutreffend ausgelegt wird. An dieser Stelle wird allerdings erneut angeregt, allgemein über die Sinnhaftigkeit des Rechtsmittelverzichts nachzudenken.

326

BGHSt 59, 21, 26; OLG München, StV 2013, 493; OLG München, StV 2013, 495, 499; OLG Köln, StV 2015, 281. 327 1. Kapitel B. 328 Vgl. dazu 1. Kapitel B. I. 329 Niemöller/Schlothauer/Wieder, § 302 Rn. 6. 330 Ausnahme sind die verfahrensfördernden Absprachen. 331 Ein weiteres Problem war aber auch in diesem Urteil die fehlende Beweisbarkeit der Absprache BGH, NStZ-RR 2019, 318, 319. 332 So Huttenlocher, S. 492 u. Rn. 844; vgl. Niemöller/Schlothauer/Wieder, § 302 Rn. 2. 333 Ausnahme ist die Ausweitung der Analogie auch auf Fälle der „Abrede“ im Anschluss an ein Urteil.

I. Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts

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Der § 302 Abs. 1 S. 2 StPO bezieht sich nach seinem Wortlaut nur auf den Rechtsmittelverzicht und nicht auf die Rücknahme eines Rechtsmittels vor Ablauf der Einlegungsfrist. Dies erscheint allerdings problematisch, weil der Angeklagte nach der Rücknahme ebenso sein Anfechtungsrecht verliert und somit ein vergleichbares Schutzbedürfnis bestehen könnte wie im Rahmen eines Rechtsmittelverzichts.334 Daher könnte über eine analoge Anwendung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO auf die Rechtsmittelrücknahme nachgedacht werden. Das OLG München hat eine analoge Anwendung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO auf eine Rechtsmittelrücknahme mit der Begründung bejaht, dass auch die Rechtsmittelrücknahme zur Unanfechtbarkeit des Urteils führe und damit eine vergleichbare Interessenlage vorläge.335 Das Urteil solle nach dem Willen des Gesetzgebers nur durch den ungenutzten Ablauf der Rechtsmittelfrist rechtskräftig werden.336 Während aber der Rechtsmittelverzicht in der Regel am Ende der Hauptverhandlung erklärt wird, bedarf die spätere Rechtsmittelrücknahme einer weiteren Willensäußerung.337 Der Beschuldigte hatte nach Einlegung des Rechtsmittels also erneut Bedenkzeit, sodass keine vergleichbare Drucksituation besteht.338 Sofern Staatsanwaltschaft sowie Angeklagter direkt nach Urteilsverkündung Rechtsmittel einlegen und beide Parteien dieses unmittelbar danach wieder zurücknehmen nur um Rechtskraft eintreten zu lassen, so wird dies als unzulässiger Rechtsmissbrauch angesehen.339 Eine Rücknahme des Rechtsmittels vor Ablauf der Frist ist daher auch nach vorangegangener Verständigung allgemein zulässig.340 Dies dürfe nur dann nicht gelten, wenn diese erkennbar zur Umgehung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO dient und damit einen Rechtsmissbrauch darstellt.341 In diesen Fällen muss der § 302 Abs. 1 S. 2 StPO analog angewendet werden, weil eine vergleichbare Interessenlage sowie eine planwidrige Regelungslücke vorliegen.

334 BGHSt 10, 245, 247; BGH, NStZ-RR 2010, 55, 55 f.; vgl. Niemöller, StV 2010, 597, 598 Fn. 10 m. w. N. 335 OLG München, StV 2014, 79, 80 hier ging es um eine erklärte Berufungsbeschränkung im Anschluss an eine Verständigung. 336 OLG München, StV 2014, 79, 80. 337 KG, NStZ 2015, 236, 237. 338 BGHSt 55, 82, 85; KG, NStZ 2015, 236, 237. 339 BGHSt 55, 82, 85; vgl. Niemöller, NStZ 2013, 19, 25; Staudinger, HRRS 2010, 347, 348 f. 340 BGH, NStZ-RR 2013, 381, 382; KG, NStZ 2015, 236, 237; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 302 Rn. 26e; a. A. OLG München, StV 2014, 79, 80; Ruhs, S. 389. 341 Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 Rn. 26e; BGHSt 55, 82, 85 f.; Staudinger, HRRS 2010, 347, 348 f.; vgl. Niemöller, NStZ 2013, 19, 25; Bockemühl, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im DAV u. a., 2. Dreiländerforum, S. 200.

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

J. Weitergehende Probleme im Bereich informeller Absprachen342 Besonders interessant sind zudem die Urteile zu den informellen Absprachen.343 Während hier die Bilanz der Studie aus dem Jahr 2012 noch erschreckend war,344 finden sich seit dem Jahr 2013 vergleichsweise wenige Urteile, in denen eine informelle Absprache gerügt wurde. Dies könnte zum einen daran liegen, dass die Richter endlich Abstand von informellen Absprachen genommen haben. Zum anderen könnte es aber auch daran liegen, dass im Falle informeller Absprachen in einer weit überwiegenden Anzahl der Fälle keine Rüge erfolgt. Dies könnte sich daraus ergeben, dass das Bundesverfassungsgericht den informellen Absprachen eine eindeutige Absage erteilt hat,345 sodass nun jeder Richter weiß, dass die informelle Absprache auch geheim gehalten werden muss.346 Es besteht daher ein besonderes Interesse des Gerichts, dass die informellen Absprachen nicht durch eine Revision offen gelegt werden. Daher werden die informellen Absprachen bevorzugt mit einem Rechtsmittelverzicht gekoppelt. Wie oben bereits festgestellt, schließen auch informelle Absprachen gemäß § 302 Abs. 1 S. 2 StPO einen Rechtsmittelverzicht aus.347

342 In diesem Kapitel sind diejenigen informellen Absprachen gemeint, in denen nicht ledigliche Belehrungs- oder Protokollierungsfehler im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO zu einer informellen Absprache führen. Es soll hier vielmehr um Absprachen gehen, bei denen die Regelung des § 257c StPO bewusst umgangen werden soll; vgl. hierzu auch Fn. 15 im 1. Kapitel. 343 Urteile seit dem Verständigungsurteil in dem eine informelle Absprache gerügt wurde: BVerfG, StV 2016, 409, 410; BGH, NStZ-RR 2013, 381, 382; BGHSt 59, 21, 23 ff.; BGH, StV 2015, 153; BGH, NStZ-RR 2016, 85, 86; BGH, Beschl. v. 20. 12. 2016 – 2 StR 432/16, juris, Rn. 5 ff.; BGH, Beschl. v. 19. 7. 2017 – 4 StR 536/16, juris, S. 2; BGH, StV 2018, 9; BGH, (5 StR 176/17) StV 2018, 10, 11; BGH, NStZ-RR 2019, 318; KG, Beschl. v. 9. 8. 2019 – 3 Ws (B) 205/19, juris, Rn. 12 ff.; OLG Hamm, NStZ 2017, 725, 726; OLG Hamm, StV 2016, 791, 792; OLG Köln, StV 2015, 281, 281 f.; OLG München, StV 2013, 493, 494 f.; OLG München, StV 2013, 495; OLG Oldenburg, StV 2018, 340. 344 Altenhain/Dietmeier/May, S. 36 ff. 345 BVerfGE 133, 168, 204. 346 Es besteht sogar die (wohl eher theoretische) Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung für die Richter wegen Rechtsbeugung nach § 339 StGB; vgl. dazu BVerfG, NJW 2016, 3711. Der Richter mache sich der Rechtsbeugung schuldig, wenn er sich „bewusst in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt“; BVerfG, NJW 2016, 3711. Dies dürfte im Rahmen informeller Absprachen unzweifelhaft der Fall sein, wobei sich auch keine Probleme im Hinblick auf den Nachweis des Vorsatzes ergeben. 347 BGHSt 59, 21, 26; OLG München, StV 2013, 493; OLG München, StV 2013, 495, 499; OLG Köln, StV 2015, 281; dies gilt allerdings nicht für Zusagen der Staatsanwaltschaft, wie beispielsweise nach § 154 Abs. 1 StPO: OLG Hamm, NStZ 2017, 725.

J. Weitergehende Probleme im Bereich informeller Absprachen

315

I. Beweisproblem im Bereich informeller Absprachen Ein großes Problem ist dabei zunächst die Beweisbarkeit der informellen Absprache. Das Protokoll entfaltet gemäß § 274 S. 1 StPO Beweiskraft.348 Im Bereich informeller Absprachen könnte dies insbesondere im Hinblick auf § 273 Abs. 1a S. 3 StPO relevant sein. Demnach muss auch vermerkt werden, dass eine „Verständigung“ nicht stattgefunden hat. Ist dies der Fall, und findet sich dieser Vermerk im Protokoll, so muss gemäß § 274 S. 2 StPO der Fälschungsnachweis erbracht werden, wenn eine Verständigung bewiesen werden will. Fehlt allerdings ein Vermerk zur Verständigung im Sinne des § 273 Abs. 1a StPO völlig, so ist das Protokoll lückenhaft und verliert damit seine Beweiskraft.349 Der § 273 Abs. 1a S. 3 StPO gebraucht allerdings ausdrücklich den Terminus „Verständigung“. Verständigungen sind aber nur die gesetzesmäßigen Absprachen nach § 257c StPO. Es ist daher fraglich, ob der § 273 Abs. 1a S. 3 StPO auch informelle Absprachen umfasst, sodass im Falle einer Protokollierung des Negativattests der Fälschungseinwand erbracht werden müsste. Das BVerfG ist der Ansicht, dass sowohl der § 302 StPO350 als auch der § 273 Abs. 1a StPO in Fällen informeller Absprachen gelten.351 In beiden Fällen wird der Terminus „Verständigung“ gebraucht, sodass rein nach dem Wortlaut beide Vorschriften nicht auf Fälle informeller Absprachen anwendbar sein dürften. Etwas anderes ergibt sich aber, wenn man die Normen nach ihrem Schutzzweck auslegt. Wenn § 302 Abs. 1 S. 2 StPO informelle Absprachen miteinschließt, so dehnt dies den Schutz des Beschuldigten aus. Hat der Beschuldigte in Folge des Drucks, den eine informelle Absprache mit sich bringt, einen Rechtsmittelverzicht erklärt, so ist dieser unwirksam. Der Beschuldigte kann im Anschluss an das Urteil des Tatgerichts weiterhin Rechtsmittel einlegen und so erreichen, dass seine Rechte gewahrt bleiben. Bei gleichlaufender Auslegung des Merkmals Verständigung im Rahmen des § 273 Abs. 1a S. 3 StPO würde dies den Schutzzweck aber verkürzen. Der Beschuldigte müsste in diesen Fällen schlimmstenfalls den Fälschungseinwand erbringen, damit das Protokoll seine Beweiskraft verliert und in Folge dessen eine informelle Absprache nachgewiesen werden könnte. Zudem handelt es sich bei § 273 Abs. 1a StPO um eine Vorschrift, die sicherstellen soll, dass die Hauptverhandlung in ihrem formellen Ablauf protokolliert wird. Da das Verständigungsgesetz gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt, dient dies in erster Linie der Kontrolle des Ablaufs formeller Verständigungsverfahren § 257c StPO. Der § 302 Abs. 1 S. 2 StPO soll es dagegen ausschließen, dass Absprachen aller Art den Revisionsgerichten entzogen werden. 348

Rn. 3. 349

Ausführlich zur Beweiskraft des Protokolls: Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 274

BGH, Beschl. v. 20. 12. 2016 – 2 StR 432/16, juris, Rn. 6; OLG Köln, StV 2015 281, 282; vgl. auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 274 Rn. 15, 17. 350 Siehe dazu oben 2. Kapitel § 5 I., wo bereits eine analoge Anwendung des § 302 StPO auf informelle Absprachen bejaht wurde. 351 BVerfGE 133, 168, 234 f.

316

2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Daher ist im Hinblick auf den Schutzzweck des § 273 Abs. 1a S. 3 der Begriff der „Verständigung“ eng auszulegen und keine analoge Anwendung auf informelle Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung vorzunehmen.352 Umfasst sind also alle „Absprachen“ innerhalb der Hauptverhandlung, also sowohl Verständigungen im Sinne des § 257c StPO, als auch Absprachen die zwar innerhalb der Hauptverhandlung erfolgen, die Grenzen des § 257c StPO jedoch nicht einhalten.353 Informelle Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung sind von der Beweiskraft des Protokolls gerade nicht umfasst.354 Zudem wird kaum ein Richter eine informelle Absprache außerhalb der Hauptverhandlung nach § 273 Abs. 1a S. 1 StPO protokollieren lassen, sodass dies im Umkehrschluss auch nicht Sinn und Zweck der Vorschrift sein kann.355 Die § 273 Abs. 1a S. 1 und 3 StPO sind im Zusammenhang zu betrachten. Zudem ist zu befürchten, dass die Richter, die ihre informellen Absprachen verschleiern wollen, standardisiert die Negativmitteilung nach § 273 Abs. 1a S. 3 StPO aufnehmen, nur damit die Protokollierung vollständig ist und das Protokoll seine Beweiskraft nicht verliert. Die Beschuldigten hätten es dann extrem schwer, das vorliegen einer informellen Absprache überhaupt jemals zu beweisen. Fälle der informellen Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung fallen deshalb nicht in den Anwendungsbereich des § 273 Abs. 1a S. 3 StPO, sodass die Rüge der informellen Absprache auch ohne Rüge der Protokollfälschung erhoben werden kann. Das Negativattest bestätigt lediglich, dass keine Verständigung nach § 257c StPO in der Hauptverhandlung stattgefunden hat.356 Das Vorliegen einer informellen Absprache außerhalb der Hauptverhandlung kann daher unabhängig davon, ob ein Negativattest im Protokoll vermerkt ist, im Freibeweisverfahren dargelegt werden. Für Absprachen innerhalb der Hauptverhandlung stellt sich dieses Problem nur bedingt, da aus dem im Protokoll vermerkten Ablauf der Hauptverhandlung eine solche Absprache unabhängig vom vermerkten Negativattest ersichtlich sein wird. Das Protokoll verliert dann seine Beweiskraft § 274 S. 2 StPO. In vielen Fällen ist der Beweis der informellen Absprache nicht gelungen.357 Dabei handelte es sich beispielsweise um Fälle, in denen ein Negativattest im 352 353

S. 13. 354

So auch Henckel, S. 114 f. Dies ist wohl auch von der Gesetzesbegründung so gewollt vgl. BT-Drucks. 16/12310,

Vgl. auch Henckel, S. 115. Dagegen werden sehr wohl informelle Absprachen innerhalb der Hauptverhandlung protokolliert werden, insbesondere dann, wenn das Gericht die Grenzen des § 257c StPO schlicht verkennt. 356 So auch BGH, StV 2016, 772; BGH, NStZ 2017, 52; Niemöller/Schlothauer/Wieder, § 273 Rn. 16. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 273 Rn. 12c; Brand/Petermann, NJW 2010, 268, 269 f.; a. A. BVerfGE 133, 168, 234 f.; BGH, NStZ-RR 2016, 85, 86; BGH, Beschl. v. 20. 12. 2016 – 2 StR 432/16, juris, Rn. 6; Jahn/Müller 2009, 2625, 2630. 357 BGH, NStZ-RR 2013, 381, 382; BGH, NStZ-RR 2016, 85, 86; BGH, Beschl. v. 20. 12. 2016 – 2 StR 432/16, juris, Rn. 6; BGH, Beschl. v. 19. 7. 2017 – 4 StR 536/16, juris, S. 2; BGH, NStZ-RR 2019, 318; OLG Hamm, NStZ 2017, 725, 726. 355

J. Weitergehende Probleme im Bereich informeller Absprachen

317

Protokoll vermerkt war, sodass unzutreffend angenommen wurde, dass ein Fälschungseinwand erforderlich gewesen wäre.358 Wie bereits ausgeführt war der Fälschungseinwand nicht zu erheben. Es wäre lediglich der Beweis der informellen Absprache im Freibeweisverfahren erforderlich gewesen. In einigen Fällen lag auch dann keine informelle Absprache vor, wenn man den vom Beschwerdeführer im Freibeweisverfahren vorgetragenen Sachverhalt zugrunde legte.359 In manchen Fällen wurde ein Rechtsfehler aufgrund einer informellen Absprache festgestellt.360 Wenn es sich dabei rein um den Beweis des Vorliegens einer informellen Absprache handelte, gelang dies meist in Fällen, in denen ein Vermerk im Sinne des § 273 Abs. 1a S. 1 und 3 im Protokoll fehlte und das Protokoll dadurch seine Beweiskraft verlor.361 In Fällen, in denen die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts auf die mangelhafte Dokumentation durch das Gericht zurückgeht, dürfen die verbleibenden Zweifel nicht zu Lasten des Beschwerdeführers gehen.362 Daher liegt in diesem Fall in der Praxis eine deutlich erfolgversprechendere Situation hinsichtlich des Beweises einer informellen Absprache vor. In einer Entscheidung, in der im Rahmen der informellen Absprache zusätzlich zu den formellen Offenlegungs-, Dokumentations-, Hinweis- und Belehrungspflichten trotz offensichtlich weiter erforderlicher Aufklärung das Urteil allein auf das Geständnis gestützt wurde, wurde das Urteil sogar für nichtig erklärt.363 II. Bewusste Umgehung der gesetzlichen Regelung In einigen Fällen wollten die Gerichte die Regelung des § 257c StPO bewusst umgehen. Dabei ist zwischen den Absprachen zu unterscheiden, die überhaupt keine

358 BGH, NStZ-RR 2016, 85, 86; BGH, Beschl. v. 20. 12. 2016 – 2 StR 432/16, juris, Rn. 6; im Fall BGH, NStZ-RR 2019, 318 widersprach die Schilderung des Angeklagten dem dokumentierten Geschehen; im Fall OLG Hamm, NStZ 2017, 725, 726 fehlte das Negativattest im Protokoll, sodass dieses seine Beweiskraft verlor. Trotzdem konnte eine informelle Absprache durch den Beschwerdeführer nicht dargelegt werden. 359 BGH, NStZ-RR 2019, 318; OLG Hamm, NStZ 2017, 725, 726. 360 BVerfG, StV 2016, 409, 411; BGHSt 59, 21, 27; BGH, StV 2015, 153; BGH, StV 2018, 9; BGH, (5 StR 176/17) StV 2018, 10, 11; KG Beschl. v. 9. 8. 2019 – 3 Ws (B) 205/19, juris, Rn. 12 ff.; OLG Hamm, StV 2016, 791, 792 f.; OLG Köln, StV 2015, 281, 282; OLG München, StV 2013, 493, 494 f.; OLG München, StV 2013, 495, 499 f.; OLG München, StV 2014, 523, 524 f. 361 OLG Hamm, StV 2016, 791, 792; OLG Köln, StV 2015, 281, 282; OLG München, StV 2013, 493; OLG München, StV 2013, 495, 499; anders im Fall OLG München, StV 2014, 523, 523 f. in dem ein Negativattest im Protokoll enthalten war, aber trotzdem eine informelle Absprache nachgewiesen wurde. 362 BVerfG, NJW 2012, 1136; OLG München, StV 2013, 493, 495; OLG Zweibrücken, NJW 2012, 3193, 3194; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 302 Rn. 26c. 363 OLG München, StV 2013, 495.

318

2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Verständigung im Sinne des § 257c StPO darstellen sollten364 und denen, die zwar zunächst im Rahmen des § 257c StPO getroffen wurden, allerdings aufgrund eines Verstoßes gegen die gesetzliche Regelung im Grunde ebenso informelle Absprachen darstellten.365 In einem Urteil vom 25. 6. 2015 stellte der BGH für die Bestimmung, ob eine Absprache stattfand auf den Rechtsbindungswillen der Beteiligten ab.366 Dabei legte das Gericht die Ausführungen des Generalbundesanwalts zugrunde und verwarf die Revision ohne Begründung.367 Mangels Rechtsbindungswillen der Parteien, die ausdrücklich keine Verständigung eingehen wollten, verneinte das Gericht den Rechtsbindungswillen und lehnte in folge dessen eine Verständigung ab.368 Daraufhin erhob der Angeklagte Verfassungsbeschwerde und rügte insbesondere einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren.369 Das BVerfG stellte zutreffend fest, dass diese Auslegung des § 257c Abs. 1 S. 1 StPO den verfassungsrechtlichen Schutzgehalt der Vorschrift verkennt und auch bei einer Gesamtschau als nicht mehr hinnehmbar erscheint.370 Bereits aus dem Wortlaut des § 257c Abs. 1 S. 1 StPO folge, dass jegliche sonstige Absprachen und Vereinbarungen ausgeschlossen sind.371 Zentrales Ziel des Gesetzgebers bei Einführung des Verständigungsgesetzes war es, die Verständigung in einer den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden Weise in das geltende System zu integrieren.372 An diesen Vorgaben müsse sich auch die Auslegung des Gesetzes orientieren.373 Eine Verständigungsgeschehen sei durch eine synallagmatische Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung gekennzeichnet. Im konkreten Fall nahm die Verteidigung ihre gestellten Beweisanträge zurück, während Teile des Verfahrens mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wurden. Für das Vorliegen eines synallagmatischen Verhältnisses war insbesondere der Hinweis des Vorsitzenden entscheidend, dass die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung zur Verfahrensbeschränkung zurücknehmen könne, wenn die erhoffte Verfahrensbeschleunigung nicht eintrete.374

364

Vgl. BVerfG, StV 2016, 409; BGH, StV 2015, 153; BGH, StV 2018, 9; BGH, Beschl. v. 9. 10. 2019 – 1 StR 545/19, Rn. 15. 365 OLG Oldenburg, StV 2018, 340. 366 Dabei handelte es sich um die soweit ersichtlich nicht veröffentlichte Entscheidung BGH, Urt. v. 25. 6. 2015 – 1 StR 120/15 vgl. dazu in den Folgeentscheidungen: BVerfG, StV 2016, 409, 411; BGH, StV 2018, 9. 367 Vgl. BVerfG, StV 2016, 409, 410 f. 368 BGH, Urt. v. 25. 6. 2015 – 1 StR 120/15 vgl. BVerfG, StV 2016, 409, 411. 369 BVerfG, StV 2016, 409, 410. 370 BVerfG, StV 2016, 409, 411. 371 BVerfG, StV 2016, 409, 411. 372 BVerfG, StV 2016, 409, 411. 373 BVerfG, StV 2016, 409, 411. 374 BVerfG, StV 2016, 409, 411.

J. Weitergehende Probleme im Bereich informeller Absprachen

319

Das BVerfG stellte daraufhin fest, dass das Verfahrensgeschehen insoweit typische Merkmale einer Verständigung aufweise. Die Vorschrift des § 257c StPO könne dabei nicht allein durch eine verbale Distanzierung umgangen werden. Es komme darauf an, was nach dem objektiven Empfängerhorizont wirklich gemeint war.375 Der BGH habe daher das gesetzliche Schutzkonzept und die dahinter stehenden verfassungsrechtlichen Wertungen verkannt.376 Dies wiege umso schwerer, als im konkreten Fall sogar eine Absprache über den Schuldspruch zu befürchten sei.377 Daher beruhe das Urteil des BGH auf einem Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren und wurde aufgehoben.378 Diesen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Entscheidung wegweisende Wirkung für die Justiz hat und derartige Umgehungsversuche künftig unterlassen werden. In einem anderen Fall stellte das OLG Oldenburg eine informelle Absprache fest, weil im Rahmen einer solchen Absprache eine Punktstrafe vereinbart wurde.379 Das Urteil wurde daraufhin insgesamt aufgehoben.380 III. Vertrauensschutz im Bereich informeller Absprachen Weiter ist problematisch, dass von informellen Absprachen keine Bindungswirkung ausgeht, sodass unter Umständen ein Geständnis des Angeklagten abgegeben wird, das Gericht sich an eine mögliche Obergrenze nicht halten muss.381 Es besteht aus Sicht der Gerichte im Rahmen informeller Absprachen daher kein geschütztes Vertrauen. Hingegen kann auch im Rahmen informeller Absprachen jedenfalls schützenswertes Vertrauen begründet werden. Dieses Spannungsfeld kann nur dadurch gelöst werden, dass der Beschuldigte frühzeitig über die Folgen einer Verständigung und auch über die Gesetzeswidrigkeit informeller Absprachen belehrt wird. Hier ist das Gericht insbesondere dem unverteidigten Angeklagten derart überlegen, dass von diesem im Regelfall nicht erwartet werden kann die Gefahren zu erkennen.382 Daher stellt dieser Fall einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz 375

BVerfG, StV 2016, 409, 412. BVerfG, StV 2016, 409, 412. 377 BVerfG, StV 2016, 409, 412. 378 BVerfG, StV 2016, 409, 413; in BGH, StV 2018, 9 wurde im Anschluss lediglich der Umfang der Aufhebung des Urteils festgelegt. 379 OLG Oldenburg, StV 2018, 340; vgl. auch KG, Beschl. v. 16. 1. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 19 ff. 380 OLG Oldenburg, StV 2018, 340, 341; KG, Beschl. v. 16. 1. 2015 – (4) 161 Ss 240/14 (280/14), juris, Rn. 26. 381 BGH, NStZ 2018, 419, 420; BGH, (5 StR 176/17) StV 2018, 10, 11 in diesem Fall legte die Staatsanwaltschaft Revision ein, nachdem sich das Gericht an die in der informellen Absprache zugesagte Strafobergrenze gehalten hatte. 382 Der Ansicht von Niemöller, StV 2013, 19, 23 dass derjenige der sich auf eine informelle Verständigung einlässt generell nicht schutzbedürftig sei ist daher zu widersprechen. Richtig an 376

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

dar.383 Um derartige Verstöße künftig zu vermeiden wird an dem oben gemachten Vorschlag384 festgehalten, eine Belehrung ins Ermittlungsverfahren vorzuziehen. Aktuell wird die Belehrungspflicht erst bei Anbahnung einer formellen Verständigung ausgelöst, sodass der insbesondere der unverteidigte Beschuldigte nicht ausreichend geschützt wird.385 Wenn sich der Beschuldigte nach erfolgter Belehrung trotzdem auf eine informelle Absprache einlässt, so besteht tatsächlich kein schützenswertes Vertrauen. IV. Lösungsvorschläge Im Rahmen informeller Absprachen muss auch weiterhin eine strenge Linie in der Rechtsprechung verfolgt werden. Allerdings ist im Hinblick auf den Schutz des Beschuldigten der § 273 Abs. 1a S. 3 StPO so auszulegen, dass dieser gerade nicht auf informelle Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung anwendbar ist, sondern nur Verständigungen in der Hauptverhandlung ausschließt. Eine analoge Anwendung auf informelle Absprachen außerhalb der Hauptverhandlung scheidet daher aus. In den Fällen, in denen eine informelle Absprache erfolgt ist und ein Negativattest ins Protokoll aufgenommen wurde, kommt dann nur noch eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung in Betracht.386 Zudem ist es richtig, dass von informellen Absprachen keine Bindungswirkung ausgehen darf. Die aktuelle Rechtslage stellt allerdings einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz dar. Der Beschuldigte wird erst dann belehrt, wenn sich eine formelle Verständigung anbahnt. Regt der Richter eine informelle Absprache an, so ist der unverteidigte Beschuldigte nicht ausreichend über die Konsequenzen informiert, sodass ein enormes Kräfteungleichgewicht besteht. Eine Belehrung muss daher de lege ferenda zwingend bereits im Ermittlungsverfahren erfolgen. Würde man allein von der Rechtsprechung ausgehen, so wäre das Ergebnis sehr erfreulich. Es ist allerdings auch möglich, dass informelle Absprachen schlicht nicht zu den Revisionsgerichten durchdringen. Es ist nach den Studienergebnissen aus dem Jahr 2013 höchst unwahrscheinlich, dass seitdem nur eine einstellige Zahl informeller Absprachen stattgefunden hat. Es kann an dieser Stelle allerdings nicht dieser Ansicht ist allerdings, dass von einer informellen Absprache keine Bindungswirkung ausgehen darf, sodass der Schutz des Beschuldigten auf andere Weise erfolgen muss. 383 Vgl. 2. Kapitel § 3 B. III. 3. 384 Vgl. 2. Kapitel § 3 B. III. 3. 385 Vgl. BGH, Beschl. v. 9. 10. 2019 – 1 StR 545/19, Rn. 10 der eine solche Belehrung bereits bei verständigungsbezogenen Erörterungen fordert, damit im Hinblick auf die Beschuldigtenrechte aber noch nicht weit genug geht. 386 Ausführlich Göttgen, S. 134 ff.; es wurde dann objektiv schon nichts „falsches“ protokolliert, sodass eine Verurteilung wegen Falschbeurkundung im Amt ausscheidet; vgl. auch Henckel, S. 116; Göttgen, S. 141 ff. verneint zudem die Urkundsqualität des Protokolls und nimmt daher an, dass eine Verurteilung nach § 348 StGB in diesem Kontext allgemein ausscheide; ebenso Rabe, S. 492 f.

K. Ergebnis Rechtsprechungsanalyse

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beurteilt werden, ob und inwiefern eine Verbesserung eingetreten ist. Es bleibt das Ergebnis der von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie abzuwarten und gegebenenfalls darauf zu reagieren.

K. Ergebnis Rechtsprechungsanalyse Durch die Rechtsprechungsanalyse sollten insbesondere die oben gefundenen Ergebnisse erneut auf den Prüfstand gestellt werden und festgestellt werden, wo de lege ferenda Änderungsbedarf besteht. Dabei sollten zum einen die oben gefundenen Ergebnisse auf ihre praktische Relevanz überprüft werden, zum anderen auch möglicherweise weitergehende Mängel aufgedeckt werden. Die Auswertung der Rechtsprechung hat ergeben, dass über eine mögliche Fernwirkung des Beweiswertungsverbots aus § 257c Abs. 4 S. 3 StPO bislang nicht entschieden wurde. Wie oben bereits ausgeführt, wäre hier ein Bekenntnis der Rechtsprechung zur Fernwirkung dieses Beweisverwertungsverbotes wünschenswert und im Hinblick auf den Fairnessgrundsatz auch erforderlich.387 Im Rahmen der Auswertung der Rechtsprechung zum Amtsaufklärungsgrundsatz hat sich bestätigt, dass hier noch immer Unsicherheiten bestehen. Durch die Einführung eines qualifizierten Geständnisses als Mindestanforderung könnte zum einen der Tatsache Rechnung getragen werden, dass im Rahmen der Verständigung eine erhöhte Verlockungs- und Anreizsituation besteht und daher die Gefahr eines falschen Geständnisses besonders hoch ist. Zum anderen könnte aber auch eine erhebliche Verfahrensabkürzung herbeigeführt werden, weil ein Abgleich mit den Akten im Falle eines qualifizierten Geständnisses ausreicht.388 Zudem hat sich in der Rechtsprechungsanalyse bestätigt, dass besonders im Hinblick auf ein Recht auf ein faires Verfahren noch Verbesserungspotential besteht. Sofern die Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO im Rahmen des Verständigungsverfahren unterblieben ist, wird zutreffend ein Beruhen des Urteils auf diesem Verstoß angenommen. Im Hinblick auf ein faires Verfahren ist es vor allem notwendig, dass der Beschuldigte, der im Rahmen des Verständigungsverfahrens nach einem Verteidiger verlangt, diesen auch beigeordnet bekommt. Ob dies im Rahmen einer Einführung eines Falles notwendiger Verteidigung im Rahmen des § 140 Abs. 1 StPO, einer extensiven Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO oder durch die Einführung eines Prozesskostenhilfesystems geschieht, spielt keine Rolle. Fest steht, dass ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren vorliegt, wenn der Beschuldigte die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wünscht, ihm diese jedoch verwehrt bleibt.

387 388

Siehe 2. Kapitel § 3 B. III. 2. Vgl. hierzu auch die Ausführungen 2. Kapitel § 2 B. II. 3. c).

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2. Kap. § 5 Die Rechtsprechung seit dem Urteil des BVerfG 2013

Die Rechtsprechungsanalyse hat bestätigt, dass de lege ferenda eine Belehrung des Beschuldigten, insbesondere über die Folgen informeller Absprachen, bereits im Ermittlungsverfahren besonders wichtig wäre.389 Im Rahmen von Verstößen gegen die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO wäre es wünschenswert, wenn diese künftig unter § 338 Nr. 6 StPO subsumiert würden.390 Dagegen kann ein Urteil niemals allein auf einem Verstoß gegen § 273 Abs. 1a StPO beruhen. Ein Verstoß gegen §§ 243 Abs. 4, 273 Abs. 1a S. 2 Var. 1 StPO, wie er häufig zitiert wird, ist zudem denklogisch ausgeschlossen. Es liegt entweder ein Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO vor, dann hat die fehlende Protokollierung allerdings keine weitergehende Bedeutung. Es wird nur das protokolliert, was in der Hauptverhandlung tatsächlich stattgefunden hat. Eine Verletzung von § 273 Abs. 1a S. 2 Var. 3 StPO kommt nur dann in Betracht, wenn eine Mitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO stattgefunden hat und lediglich die Protokollierung unterblieben ist. In diesen Fällen scheidet allerdings ein Beruhen aus. Zudem haben sich im Rahmen der Rechtsprechungsanalyse auch zwei im Vergleich zum theoretischen Teil weitergehende Forderungen ergeben. Zum ersten muss der § 302 Abs. 1 S. 2 StPO jedenfalls analog auch auf Absprachen nach Urteilsverkündung anwendbar sein. Dies ist wegen des eindeutigen Wortlauts de lege lata nicht möglich, sodass hier eine Änderung erfolgen muss. Zum zweiten hat sich ergeben, dass die §§ 153 ff. StPO als Verständigungsgegenstand höchst problematisch sind. Es ist daher wünschenswert, diese ausdrücklich aus den tauglichen Verständigungsgegenständen auszuklammern. Im Bezug auf die Erörterungsvorschriften haben sich keine weiteren Probleme ergeben. Außerdem haben sich auch im Bezug auf die richterliche Befangenheit keine praktischen Probleme ergeben. Im Rahmen der Rechtsprechungsanalyse konnte nicht erwiesen werden, dass noch immer ein gravierendes Problem im Hinblick auf informelle Absprachen existiert. Allerdings konnte dies auch nicht ausgeschlossen werden. Eine Möglichkeit die geringe Anzahl an Urteilen zu deuten ist, dass informelle Absprachen schlicht nicht mehr stattfinden, die andere, dass sie die Rechtsmittelgerichte nicht erreichen. Hier ist die von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie abzuwarten.391 Sollte die Studie allerdings ergeben, dass noch immer überwiegend informelle Absprachen praktiziert werden, so ist die „Bewährung für den Deal“392 endgültig gescheitert.

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Siehe bereits oben 2. Kapitel § 3 B. III. 3. Vgl. oben 2. Kapitel § 2 B. IV. 3. 391 Ohne Autor, https://www.verstaendigung-in-strafverfahren.de/index.php/forschungspro jekt/, zuletzt abgerufen am 24. 5. 2020. 392 Beulke/Stoffer, JZ 2013, 662. 390

§ 6 Ausblick und Ergebnis Die Verständigung stellt einen Fremdkörper im deutschen Strafprozess dar. Daran können auch die Reformvorschläge nur bedingt etwas ändern. Auch zu den Zielen des modernen inquisitorischen Strafprozesses steht die Verständigung in einem offenen Konflikt. Zu den Schwächen des Verständigungsgesetzes in rechtstheoretischer Sicht kommen die Schwächen der Rechtsprechung. Vor allem im Bereich des § 243 Abs. 4 StPO als einer der tragenden Regelungen des Verständigungsgesetzes konnten zahlreiche Verstöße festgestellt werden. Auch die Belehrung des § 257c Abs. 5 StPO die der Gewährung der Waffengleichheit dient wurde zu oft missachtet oder falsch angewendet. Daran wird deutlich, dass den Tatgerichten die Einhaltung der Regelungen des Verständigungsgesetzes selbst wenn sie sich rechtstreu verhalten wollen noch schwerfällt.1 Auch im Bereich des Fairnessgrundsatzes besteht nach Auswertung der Rechtsprechung noch Handlungsbedarf.2 Die Rechtsprechung zum Beruhen auf Verstößen gegen § 273 Abs. 1a StPO ist dogmatisch falsch und Bedarf einer Änderung. Es bestehen daher weiterhin Diskrepanzen zwischen dem geltenden Recht und der Verfahrenswirklichkeit.3 Schwerwiegende Diskrepanzen zwischen Verfahrenswirklichkeit und Verfahrensrecht können deutlich machen, dass normative Wertvorstellungen des Gesetzgebers an unüberwindlichen Realfaktoren scheitern.4 Wenn keine Aussicht darauf besteht, Reformvorhaben in die Realität umzusetzen, so macht es keinen Sinn, diese weiter zu verfolgen.5 Umgekehrt indiziert die über die Vorstellungen des Gesetzgebers hinausgehende Anwendung eines Instituts, dass es den Bedürfnissen der Verfahrenswirklichkeit entgegenkommt.6 Solche Institute sollte der Gesetzgeber ausbauen, fundierte Kritik an ihnen kann allenfalls Anlass geben, diese im Detail zu überprüfen.7 Die Verständigung ist geradezu das Paradebeispiel für ein Institut, das in der Verfahrenswirklichkeit über die Vorstellungen des Gesetzgebers hinaus angewendet wird. 1

Oder dass diese die Regelungen bewusst missachten. Vgl. ausführlich zu den Forderungen 2. Kapitel § 5 K. 3 Ob noch weitere Diskrepanzen in Form informeller Absprachen bestehen wird die Studie im Auftrag der Bundesregierung zeigen Ohne Autor, https://www.verstaendigung-in-strafverfah ren.de/index.php/forschungsprojekt/, zuletzt abgerufen am 24. 5. 2020. 4 Rieß, FS-Schäfer, S. 177. 5 Rieß, FS-Schäfer, S. 177. 6 Rieß, FS-Schäfer, S. 177. 7 Rieß, FS-Schäfer, S. 177. 2

324

2. Kap. § 6 Ausblick und Ergebnis

Reformatorische Bestrebungen müssen daher immer von einer praxisbezogenen, empirischen Forschung begleitet werden.8 Zudem bewirkt eine Reform des Verfahrensrechts allein keine Reform der Verfahrenswirklichkeit. Es müssen auch organisatorische Folgemaßnahmen getroffen werden.9 Allein aus rechtstheoretischer Sicht wäre eine Nichtigerklärung des Verständigungsgesetzes wünschenswert. Die Gründe, die für eine Verständigung sprechen sind nicht geeignet, die Konflikte mit den Grundrechten und Verfahrensmaximen, sowie auch mit dem System des deutschen Strafprozesses aufzuwiegen. Da eine Abschaffung des Verständigungsgesetzes aufgrund der Bedürfnisse der Praxis aber kaum denkbar und eine Verbannung der „Absprachen“ aus den Gerichtssälen noch unwahrscheinlicher ist, muss versucht werden, diese bestmöglich in das deutsche System einzugliedern. Hier sind sowohl der Gesetzgeber als auch die Revisionsgerichte gefordert. Der Gesetzgeber muss an den oben ausgeführten Stellen nachbessern und die Revisionsgerichte müssen Verstöße strikt ahnden. Insbesondere die informellen Absprachen müssen dringend unterbunden werden, da hier sonst die Gefahr eines rechtsfreien Raumes ohne Schutz der Beschuldigtenrechte besteht. Ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethe kann auf die jetzige Situation des Strafprozesses hinsichtlich der Verständigung bezogen werden: „Es ist besser, daß Ungerechtigkeiten geschehen, als dass sie auf ungerechte Weise gehoben werden.“10 Es gilt daher für Reformen im Rahmen der Verständigung zu plädieren. Die Ergebnisse dieser Arbeit lassen sich daher in folgende Thesen zusammenfassen: 1. Die Verständigung stellt nach wie vor einen Fremdkörper im deutschen Strafprozess dar. 2. Die Verständigung ist mit den Verfahrensgrundrechten nur teilweise vereinbar. Das Verständigungsgesetz verstößt de lege lata gegen den Schuldgrundsatz. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz kann nur durch verfassungskonforme Auslegung verhindert werden. 3. Die Verständigung verstößt de lege lata gegen den Amtsermittlungsgrundsatz. Dieser Verstoß kann nicht in Abwägung mit dem Beschleunigungsgrundsatz kompensiert werden. Mit den übrigen Prozessmaximen konnte die Verständigung durch Einführung des Verständigungsgesetzes in Einklang gebracht werden. 4. Es gibt bis heute keine positive Definition des Fairnessgrundsatzes. Eine solche Definition kann wegen der Weite des Grundsatzes nicht gelingen. Es gibt lediglich eine negative Definition von Jahn, die dieser Arbeit zugrunde gelegt wurde.

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Rieß, FS-Schäfer, S. 176. Rieß, FS-Schäfer, S. 176. 10 Goethe, S. 100.

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§ 6 Ausblick und Ergebnis

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5. Die Verständigung verstößt de lege lata an zahlreichen Stellen gegen den Fairnessgrundsatz. Das Defizit in der Wahrheitsermittlung verstößt auch gleichzeitig gegen das Fairnessprinzip. Die lose Bindung stellt ebenfalls einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz dar und wäre nur mit der Fernwirkung des Beweisverwertungsverbotes aus § 257c Abs. 4 S. 1 StPO zu kompensieren. Der Zeitpunkt der Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO muss in das Ermittlungsverfahren vorverlegt werden, um den Beschuldigten vor informellen Absprachen zu warnen. Die fehlende Teilnahme des Beschuldigten an Gesprächen nach §§ 202a, 212 StPO stellt ebenfalls einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz dar. Dieser könnte mit einem Teilnahmerecht bei gleichzeitiger Verzichtsmöglichkeit beseitigt werden. Zuletzt ist es im Hinblick auf den Fairnessgrundsatz notwendig, Fälle, in denen sich eine Verständigung anbahnt, zu einem Fall notwendiger Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 StPO zu machen. 6. Die Verständigung dient nicht den primären Zielen des Strafprozesses. Dies gilt unabhängig davon, welches Verhältnis vom materiellen Strafrecht zum Strafprozess zugrundegelegt wird. Die Verständigung dient damit nur prozessexternen Zielen. 7. Die Rechtsprechungsanalyse hat ergeben, dass insbesondere im Bereich der formellen Verständigungsvorschriften noch erhebliche Defizite bei der Befolgung durch die Instanzgerichte bestehen. Erfreulich ist dagegen, dass die Revisionsgerichte in derartigen Fällen konsequent ein Beruhen im Sinne des § 337 StPO annehmen. Ein immer noch bestehendes Problem mit informellen Absprachen konnte in dieser Arbeit weder bewiesen, noch wiederlegt werden. Hier gilt es die Ergebnisse der durch das BMJV in Auftrag gegebenen Studie abzuwarten. 8. Es müssen noch zahlreiche Gesetzesänderungen vorgenommen werden, um die Verständigung im Hinblick auf die Verfahrensgrundrechte sowie die Prozessmaximen erträglich zu machen. Sie wird trotzdem ein Fremdkörper im System bleiben, ist aus diesem aber aufgrund praktischer Bedürfnisse nicht mehr wegzudenken.

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Sachwortverzeichnis Abgrenzung – zu anderen Rechtsinstituten 20 ff. Amtsermittlungsgrundsatz – Rechtsprechung 283 ff. – Vereinbarkeit mit Verständigung 172 ff. Anwesenheitsrecht 219 ff. Befangenheit – Rechtsprechung 272 ff. – Richterliche Befangenheit 215 ff. Belehrung – als Fairnessvoraussetzung 256 f. – Rechtsprechung 287 ff. – über die Bindungswirkung 256 f. – über informelle Absprachen 256 f. Bindungswirkung – Fairness 252 ff – freie richterliche Beweiswürdigung 189 ff. – Rechtsprechung 281 ff. „fair-trial“-Grundsatz – Geschichte 222 f. – Grundlagen 222 ff. – Herleitung 223 ff. – Rechtsnatur 226 ff. – Rechtsprechung 286 ff. – Rechtsschutz 239 ff. – Vereinbarkeit mit Verständigung 243 ff. Freie richterliche Beweiswürdigung 188 ff. Geschichte – der Verständigung 39 ff. – des deutschen Strafprozesses 73 ff. – des Fairnessgrundsatzes 222 f. Gesetz – über die Verständigung 56 ff. Geständnis – als zwingende Voraussetzung 57 – qualifiziert 187 f. Gesetzlicher Richter 103 ff.

Gleichbehandlungsgebot 151 ff. Gründe – für die Verständigung 95 f. Informelle Absprachen – Rechtsprechung 313 ff. Legalitätsprinzip 168 ff. Loslösung von der Verständigung – siehe Bindungwirkung Mitteilungspflichten – Rechtsprechung 296 ff. Mitwirkungsrechte 219 f. Mündlichkeitsprinzip 193 ff. Nemo-tenetur-Grundsatz

206 ff.

Öffentlichkeitsgrundsatz

193 ff.

Protokollierungspflchten – Rechtsprechung 302 ff. Punktstrafe 274 Rechtliches Gehör 121 ff. Rechtsfortbildung 48 ff. Rechtsmittelverzicht 310 ff. Rechtsprechung 271 ff. Richterliche Befangenheit 215 ff. Richtervorbehalt 98 ff. Schuldprinzip 130 ff. Strafprozess – Geschichte 73 ff. – Grundlagen 72 ff. – Zwecke 82 ff. Teileinstellung 275 ff. Transparenz – Rechtsprechung 296 ff.

Sachwortverzeichnis Unmittelbarkeitsgrundsatz 188 ff. Unschuldsvermutung 144 ff. Verfahren – gesetzliche Regelung 56 ff. – Rechtsprechung 279 f. Verfahrensbezogene Erörterungen – Abgrenzung zur Verständigung 28 ff. – Fairness 257 ff. – Rechtsprechung 271 f. – Vereinbarkeit mit dem Gebot des gesetzlichen Richters 106 ff.

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– Vereinbarkeit mit dem Recht auf rechtliches Gehör 106 ff. Verständigungsurteil des BVerfG 59 ff. Verteidigung – im Verständigungsverfahren 261 ff. – Rechtsprechung 294 f. Wahrheit – als Fairnessverstoß 251 – im Strafprozess 181 ff. – Wahrheitsbegriffe 178 ff.