Rechtsphilosophie in der Krise [Reprint 2021 ed.] 9783112484968, 9783112484951


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Rechtsphilosophie in der Krise [Reprint 2021 ed.]
 9783112484968, 9783112484951

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Hermann Klenner Rechtsphilosophie in der Krise

Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Philosophie Schriften zur Philosophie und ihrer Geschichte

3

Hermann Klenner

Rechtsphilosophie in der Krise

Akademie-Verlag • Berlin 1976

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag, Berlin 1976 Lizenznummer: 202 • 100/5/76 Umschlaggestaltung: Willi Bellert Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4659 Bestellnummer: 752 7627 (2178/3) • LSV 0165 Printed in GDR EVP 1 2 , -

Inhalt

1. Zur Gegenwartssituation bürgerlicher Rechtsphilosophie 2. Von der Kunst, recht zu behalten Zur Juristischen Topik

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3. Der Justizmord als vollendete Rechtmäßigkeit Zur Reinen Rechtslehre 4. Die mathematische Musik der Gerechtigkeit Zur Systemstrukturellen Rechtstheorie 5. Interpretation statt Veränderung Zur Juristischen Hermeneutik

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6. Wenn die letzten Register gezogen werden Zur Realistischen Jurisprudenz

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7. Rechtsphilosophie in der Krise: ohne Ausweg?

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Anhang I. Zeitgenössische bürgerliche Rechtsphilosophie 1. Theodor Viehweg, Analyse der Topik 135 2. Theodor Viehweg, Anhang zur Fortentwicklung der Topik 140 3. Hans Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? 144 4. Niklas Luhmann, Rechtstheorie 151 5. Niklas Luhmann, Positives Recht und Ideologie 153 6. Arthur Kaufmann, W. Hassemer, Der Fragebereich der Rechtsphilosophie 159 7. Arthur Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts im Lichte der Hermeneutik 161 5

8. Werner Maihofer, Rechtstheorie als Basisdisziplin der Jurisprudenz

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9. Werner Maihofer, Die Rechtsphilosophie als Garant der Menschlichkeit II. Beschlüsse der D K P 1. Thesen des Düsseldorfer Parteitages der DKP

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2. Entschließung des Hamburger Parteitages der DKP Namenverzeichnis

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1. Zur Gegenwartssituation bürgerlicher Rechtsphilosophie

Die bürgerliche Rechtsphilosophie (Rechtstheorie und Rechtssoziologie eingeschlossen) floriert wie selten zuvor in ihrer Geschichte. In kaum einem Jahrzehnt ihrer Vergangenheit wurden so viel rechtsphilosophische Werke umfassenden Charakters auf den Markt geworfen wie im vergangenen. Zu den vorhandenen wurden eigens neue Zeitschriften und Jahrbücher für Rechtstheorie, für Rechtssoziologie, für Rechtspolitik usw. begründet. Die Vermehrung rechtsphilosophischer Literatur hat inflationären Charakter angenommen. So erschienen: 1960 Brinkmann, Lehrbuch der Rechtsphilosophie 1961 Emge, Philosophie der Rechtswissenschaft Kempski, Grundlegung zu einer Strukturtheorie des Rechts Sauer, Einführung in die Rechtsphilosophie 1962 Fechner, Rechtsphilosophie Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit 1963 Goldschmidt, Der Aufbau der juristischen Welt Radbruch, Rechtsphilosophie Utz, Rechtsphilosophie Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie 1964 Engisch, Einführung in das juristische Denken Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie 1965 Kaufmann (ed.), Die ontologische Begründung des Rechts Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie Troller, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft 1966 Maihofer (ed.), Naturrecht oder Rechtspositivismus Messner, Das Naturrecht Sforza, Rechtsphilosophie 1967 Hirsch-Rehbinder (ed.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie Kelsen, Reine Rechtslehre Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung Weber, Rechtssoziologie 1968 Dubischar, Grundbegriffe des Rechts Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts 7

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Jerusalem, Die Zersetzung im Rechtsdenken Schmelzeisen, Recht und Rechtsdenken Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie Friedmann, Recht und sozialer Wandel Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft Maihofer (ed.), Ideologie und Recht Marcic, Rechtsphilosophie Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie Schreiber, Allgemeine Rechtslehre Viehweg, Topik und Jurisprudenz Zippelius, Das Wesen des Rechts Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz Lampe, Rechtsanthropologie Lautmann-Maihofer (ed.), Die Funktion des Rechts Naucke-Trappe, Rechtssoziologie und Rechtspraxis Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit Horvarth, Probleme der Rechtssoziologie Huber, Rechtstheorie — Verfassungsrecht — Völkerrecht Jahr-Maihofer (ed.), Rechtstheorie Kaufmann (ed.), Rechtstheorie Kaufmann-Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie Müller, Juristische Methoden Rehbinder, Einführung in die Rechtssoziologie Tammelo, Rechtslogik und materiale Gerechtigkeit Troller, Die Begegnung von Philosophie, Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft Wiethölter, Rechtswissenschaft Würtenberger (ed.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis Albert-Luhmann (ed.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft Coing, Juristische Methodenlehre Ebbinghaus, Wozu Rechtsphilosophie Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung Esser (u. a.), Methoden der Rechtswissenschaft Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel Luhmann, Rechtssoziologie Rehbinder — Schelsky (ed.), Zur Effektivität des Rechts Wolf, Rechtsphilosophische Studien Böckle-Böckenförde (ed.), Naturrecht in der Kritik Ehrenzweig, Psychoanalytische Rechtswissenschaft Hart, Der Begriff des Rechts Hippel, Ideologie und Wahrheit in der Jurisprudenz Küchenhoff, Rechtsbesinnung. Eine Rechtsphilosophie

Maihofer (ed.), Begriff und Wesen des Rechts Noll, Gesetzgebungslehre O p p , Soziologie im Recht Rottleuthner, Richterliches Handeln Schmitz, Der Rechtsraum Sturmfels, Probleme der Rechts- und Sozialphilosophie E s gehört zum Anliegen der hiermit vorgelegten streitbaren Studien, die späte Blüte bürgerlicher Rechtsphilosophie alles in allem als Scheinblüte nachzuweisen. Sie widerspiegelt die gegenwärtige Phase einer durchgängigen Krise, in die der Kapitalismus seit geraumer Zeit verstrickt ist. Zugleich ist sie ein Element dieser Krise, ein mehr bis minder geschickter, letztlich jedoch untauglicher Versuch, die Gesellschaftskrise ideologisch zu überwinden. V o n Philosophen ist gesagt worden 1 , daß sie als „Hofnarren des Establishments" ihr A m t verwalten (for representing the values). Ich will mit dieser Meinung hier nicht rechten. Aber für den Reaforphilosophie gilt diese A u f f a s s u n g mitnichten! I m Gegenteil, es ist seit geraumer Zeit ein internationaler Trend ihrer wachsenden Rolle festzustellen — R o s c o e P o u n d 2 : Rechtsphilosophie erhebt ihr H a u p t überall in der Welt — der offensichtlich objektiv bedingt ist. D a r a u f ist noch zurückzukommen. D a s Bild, das die bürgerliche Rechtsphilosophie — hier und im folgenden beschränke ich mich auf die in der B R D wirkende — im letzten Jahrzehnt bietet, ist aber auch buntscheckiger als je zuvor. A n f a n g der sechziger Jahre löste sich der Gegensatz zwischen den bis dahin bestehenden zwei Hauptrichtungen bürgerlichen Rechtsdenkens, der naturrechtlichen und der rechtspositivistischen Schule auf. D a s Naturrecht hatte seine Schuldigkeit getan und dem nach dem zweiten Weltkrieg v o n der in- u n d ausländischen Reaktion wieder in den Sattel geholfenen Imperialismus jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Deutschlands Geschichte mittels eines Heiligenschreines erhabener Leerformeln erspart. D e r offene Positivismus normativistischer Prägung war zu diskreditiert, als daß man auf ihn als einzig herrschende Richtung hätte bauen können. E r war überdies zu unterentwickelt, u m unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution den Anforderungen einer m o n o p o l kapitalistischen Führungstätigkeit zumal bei einem sich verändernden K r ä f t e verhältnis zwischen Sozialismus und Imperialismus zu entsprechen. S o begann ein Prozeß des Verfalls alter und der allmählichen Herausbildung neuer Richtungen juristischen D e n k e n s ; Differenzierungen, aber auch Integrierungen innerhalb des rechtsphilosophischen Gedankenguts ergaben f ü r den Betrachter einen raschen Szenenwechsel. Dickleibige Lehrbücher 3 begannen in den Bibliotheken zu verstauben, ehe sich auch nur eine Studentengeneration ihrer zur E x a m e n s 1 H. Lenk, Philosophie im technologischen Zeitalter, Stuttgart 1971, S. 10. 2 R. Pound, An Introduction to the Philosophy of Law, New Häven 1961, p. 23. 3 Zum Beispiel: K. Brinkmann, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Bonn i960 (mit Göttlichkeitsanspruch, S. 412).

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Vorbereitung bedient hatte (der Klerikalismus erwies sich als unfähig, weiterhin weltanschauungsbildend zu wirken). Scheinbar abseitige Problemstudien 1 , noch dazu elitär geschrieben, entpuppten sich als von schulenprägendem Format (Anleitungen für flexible Argumentationen wurden gefragt). Ehrenwerte Professoren 2 , ergraut in lebenslangem Kampf gegen Marxismus und Kommunismus, mußten erleben, wie sie mit ihrem plump-primitiven Geschwätz, wohlgemerkt vor bürgerlichem Publikum, scheiterten, obwohl sie nichts anderes als das vortrugen, was sie 1938 und 1948 mit jeweils großem Erfolg publiziert hatten (die Beendigung des kalten Krieges erforderte eine Umstellung der Argumentationsweise). Viele der während der faschistischen Diktatur allzu Kompromittierten zogen sich zurück oder schrieben aus dem Hinterhalt. Neue Autoren tauchen auf. Darunter einer, der schneller schreibt, als man lesen kann 3 . Neue Richtungen konstituieren sich; sicher in Verarbeitung alten Gedankenmaterials. Aber man macht es sich zu leicht, wenn man die Juristenphilosophie des letzten Jahrzehnts für insgesamt reprisenhaft hält und dies dadurch erklärt, daß sie dem Legitimationsbedarf der Rechtswissenschaft diene 4 , Ihre Aufgaben gehen weit darüber hinaus, die praktizierenden Juristen mit einem „guten Gewissen" zu versorgen. Von sowjetischer Seite ist aus gegebenem Anlaß vor Simplifizierungen im ideologischen Klassenkampf gewarnt worden: es sei falsch anzunehmen, daß die bürgerliche Rechtswissenschaft sich heutzutage etwa immer primitiver entwickele oder überhaupt aufhören würde, sich zu entwickeln 5 . Auf wenigen Gebieten gesellschaftsbezogenen Denkens ist ein derartig, teils prinzipieller teils prinzipienloser, jedenfalls unübersehbarer Meinungsstreit in Gang gekommen, wie auf dem Forschungsfeld der Rechtsphilosophie. Das kann ohne den Kontext der sozialen Gegensätze in der Welt von heute, der inneren und äußeren Widersprüche, denen sich die regierende Bourgeoisie ausgesetzt sieht, der wachsenden Attraktivität des realen Sozialismus (auch in der dritten Welt), der durch Kriegsexport (Vietnam) und Ausbeutungsverschärfung bewirkten allgemeinen Hinfälligkeit des kapitalistischen Leitbildes (besonders bei der Jugend), weder verstanden noch erklärt werden. 1 Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, München, 1. A u f l a g e 1953, 2. A u f l a g e 1963, S . A u f lage 1965, 4. A u f l a g e 1969, 5. A u f l a g e 1974. 2 S o : E. v . Hippel, Der Bolschewismus und seine Überwindung, 1. A u f l a g e Breslau 1938, 4. A u f lage Ulm 1 9 5 3 ; E. v. Hippel, Allgemeine Staatslehre, Berlin (West) 1963, S. 4 0 1 . 3 S o : O. Ballweg über N. Luhmann, i n : Jahrbuch f ü r Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd 2, Bielefeld 1972, S. 580. 4 S o : H. R. Rottleuthner, i n : O. Negt (Herausgeber), Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt/M. 1970, S. 2 1 1 ; vgl. auch Rottleuthner, Juristenphilosophie, i n : Kritische Justiz, 1970, S. 4 7 7 sowie Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 210. 5 V g l . : Das Recht im ideologischen Kampf der Gegenwart, Sowjetstaat und -recht, 10 — 1971, S. lOff. (russ.), deutsch i n : Staat und Recht, 1972, S. 469.

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Natürlich geht es dabei letztlich immer um dasselbe: die Aufrechterhaltung der Macht des Kapitals. Zutreffend ist daher von Wolfgang Friedmann gesagt worden, daß die Rechtsphilosophen von rechts bis links darin übereinstimmen, daß das Eigentumsproblem eine entscheidende Stellung in der modernen Industriegesellschaft einnimmt 1 . Übrigens kommt das auch in dem Aufwand an Raffinesse zum Ausdruck, mit dem manche Rechtsphilosophen die Eigentumsfrage zu umgehen versuchen 2 . Daß solche Versuche, die Eigentumsfrage durch Verschweigen ihrer Existenz aus der Angriffslinie zu nehmen, von Rechtsphilosophen mit einer gewissen Glaubwürdigkeitschance unternommen werden können, hängt damit zusammen, daß die Verhaltensregeln des kapitalistischen Rechts auf der Grundlage einer bereits vollzogenen Verteilung der Produktionsmittel wirken; so erscheinen Regulierung und Schutz der Zirkulations- (nicht der Produktions-)Sphäre als das ausschließliche Betätigungsfeld für Recht und Justiz, soweit sie überhaupt ökonomische Funktionen ausüben. Überdies erschwert es die in der bürgerlichen Gesellschaft vorhandene Trennung der politischen von der ökonomischen Macht — die Kapitalisten regieren, anders als die Feudalherren, nicht selbst —, den Zusammenhang von Eigentum an den Produktionsmitteln und Verfügung über die Staatsgewalt zu durchschauen. So erscheinen in den Bereichen, in denen das Recht politische Verhältnisse zu regulieren hat, weder Staat noch Recht als Funktionen des Privateigentums. Denn da die ökonomische Macht das Fundament politischer und ideologischer Macht ist, regelt das bürgerliche Recht ein Verhalten, das ökonomisch vorgeprägt, politisch erzwungen und ideologisch manipuliert ist. Rechtsphilosophen pflegen rot — oder vielmehr schwarz — zu sehen, wenn die Gretchenfrage von heute, die Frage nach der politischen Macht gestellt wird. Denn Rechtsphilosophie, wie immer sie profiliert oder strukturiert ist, wie immer es um das Gewissen ihrer Autoren bestellt ist, wie klarsichtig oder verhimmelt deren Auffassungen sein mögen, hat es nun einmal mit Machtfragen zu tun. Natürlich bleiben die ökonomische Macht und Ohnmacht Grundlage und Ziel des Klassenkampfes. Aber sein Austragungsfeld, das wird in der Epoche des weltweiten Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus verständlicherweise sichtbarer als zuvor, hat das Terrain der ideologischen Auseinandersetzungen voll erfaßt 3 . Das gilt natürlich besonders für eine Disziplin, deren Untersuchungs1 W. Friedmann, Recht und sozialer Wandel, Frankfurt/M. 1969, S. 75; (Friedmann, ein alter Antifaschist, ist inzwischen in New York ermordet worden, am hellichten Tag, wenige Meter vom Hochhaus der Columbia-Universität in Gegenwart vieler Menschen, ein Opfer der amerikanischen Straßenkriminalität; vgl. den Nachruf von O. Kahn-Freund, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1973, S. 412. 2 Etwa: H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, München 1964, S. 365ff. Offensiv hingegen: Pernthaler, Der Wandel des Eigentumsbegriffs im technischen Zeitalter, in: Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, Frankfurt/M. 1968, S. 1 9 3 f f . 3 Vgl.: Internationale Beratung der Kommunistischen und Arbeiterparteien (Moskau 1969), Berlin 1969, S. 13.

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gegenständ die Ausübung der politischen Macht in der Gesellschaft ist. Wenn irgendwo Dürrenmatts böses Wort von den Ideologien als den „Kosmetika der Macht" zutrifft 1 , für die bürgerliche Rechtsphilosophie gilt's! Und weil es bei der bürgerlichen Rechtsphilosophie — jedenfalls seitdem die Bourgeoisie die Macht hat — letztlich immer um dasselbe geht, nämlich über das Recht optimale Verwertungsbedingungen des Kapitals nach innen und nach außen zu schaffen, gleichen sich auch ihre Argumentationsweisen und Denkstrukturen. Aber die Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis und die Zuspitzung innerer Widersprüche haben die der bürgerlichen Gesellschaft verhafteten Rechtsphilosophen veranlaßt, die neuen gesellschaftlichen Erscheinungen zu durchdenken und nach neuen Methodiken zu suchen. Dabei zeigen sich einige Tendenzen, die das Bild der Rechtsphilosophie im gesellschaftlichen Leben auch äußerlich von dem Bild unterscheidbar machen, das sie früher abgab. a) Verstärkt haben sich die ideologischen Internationalisierungstendenzen. Früher war selbst bei juristischen Standardideologien eine wechselseitige Beeinflussung ihrer Vertreter über die Ländergrenzen hinweg oft nicht vorhanden. Roguin hat nichts von Austin, Kelsen nichts von Roguin gewußt 2 . Heutzutage haben wir es nicht mit einer sich spontan herstellenden Simultaneität ideologischer Erscheinungen, auf der gleichen gesellschaftlichen Grundlage beruhend, zu tun. Ungehemmt fließen die Informationsströme, die Amerikanisierung auch des juristischen Denkens greift um sich, wovon besonders Esser, Kriele und Luhmann eindrucksvoll Zeugnis ablegen 3 . Daß das wiederum den Umschlag an Gedanken beschleunigt, die Produktionskurve rechtsphilosophischer Literatur nach oben schnellen läßt, aber auch die Mobilität und Einsatzfähigkeit der bürgerlichen Ideologie erhöht, ist verständlich. Diese rechtideologische Internationalisierungstendenz wird nur unzureichend mit den neuen technischen Möglichkeiten erklärt, die die Welt für ihre Bewohner kleiner werden ließ, oder mit der normaler gewordenen Ausbildungschance der juristischen Intelligenz an den Universitäten anderer Länder. Vielmehr widerspiegelt diese Tendenz auf der bürgerlichen Seite direkt den epochalen Grundwiderspruch zwischen Imperialismus und Sozialismus, die Zuspitzung des Kampfes zwischen den beiden Weltsystemen. Daher der — wir werden sehen: vergebliche — Versuch der Herausbildung einer gegenüber dem Marxismus geschlossenen Rechtsphilosophie überall in der westlichen Welt. b) Verstärkt hat sich weiterhin die Verzahnung der bürgerlichen Rechtsphilosophie mit den juristischen Zweigdisziplinen. Früher schwebte die Rechtsphilosophie gewissermaßen oberhalb der Wasser und spielte — abgesehen vielleicht von Völker1 F. Dürrenmatt, Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, Zürich 1969, S. 50. 2 Vgl.: H. Klenner, Rechtsleere, Berlin (und Frankfurt/M.) 1972, S. 22, 69. 3 J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1964, bes. S. 1 8 3 f f . ; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin (West) 1967; N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972.

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recht und Strafrecht — innerhalb der Rechtsdogmatiken eine mehr als kärgliche Rolle, was die Professoren für Rechtsphilosophie entsprechende Klagelieder anstimmen ließ Der neue Zustand eines ständigen Aufeinanderangewiesenseins von Rechtsdogmatikern und Rechtsphilosophen läßt sich mit dem verstärkten Legitimationsbedürfnis einer sich nicht mehr von selbst verstehenden Gesellschaftsordnung erklären, das die Juristen allenthalben verspüren. Von der Rechtsphilosophie werden aber auch Leistungen ganz anderer Art erwartet: die umfassenden Regulierungsbestrebungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus erfordern nämlich ein methodisches Instrumentarium, das zusätzlich die Ergebnisse der wissenschaftlich-technischen Revolution nutzbar zu machen in der Lage ist. Dafür haben sich rechtsphilosophische Teildisziplinen herausgebildet und — wie die Rechtskybernetik — nahezu verselbständigt. c) Hand in Hand mit einer größer werdenden Einflußnahme der Rechtsphilosophie auf die juristischen Zweigdisziplinen, ist ihre tendenziell wachsende Bedeutung innerhalb der Juristenausbildung nicht zu übersehen. Während früher die Rechtsphilosophie ein bestenfalls geduldetes Plätzchen an den Juristenfakultäten einnahm, mehr als Marotte denn als Ausbildungsfach gepflegt wurde, sehen heute die Reformvorschläge eine erhebliche Verbreitung des rechtsphilosophischen Unterrichts vor 2 . Die Neugründung rechtsphilosophischer Institute hat die Voraussetzungen dafür bereits geschaffen. Rechtsphilosophie ist bekanntlich zu speziell und zu diffizil, um sich im größeren Umfang in Alltagsbewußtsein verwandeln zu können. (Dafür stehen der Bourgeoisie Religion, Moral und Ethik zur Verfügung, deren Eckpfeiler auch das Gebäude der Rechtsphilosophie tragen.) Aber die bürgerliche Rechtsphilosophie ist so eine Art Berufsideologie der Juristen. Und daß diese Ideologie intakt ist, ist eine Lebensfrage für die Bourgeoisie, verfügen doch die BRD-Juristen, wenigstens ein Teil der an die hunderttausend erwerbstätigen, über die Verwendung des Machtapparates. Rechtsphilosophie wird so zu einer durchset^baren Philosophie. Sie verbrämt und legitimiert Herrschaftsausübung; denn Juristen sind Entscheider wie Militärs 3 , nur daß sie alltags entscheiden, und daß die Rechtmäßigkeit ihres Handelns unmittelbar aus der Autorität des Rechts abgeleitet oder vermutet wird. Von hier aus wird die Aufmerksamkeit verständlich, die der Rechtsphilosophie im Ausbildungsprozeß in einer Zeit gewidmet ist, in der der Jurist nicht mehr — wie früher angenommen werden konnte4 — per definitionem konservativ ist. 1 Vgl.: C. A . Emge, Einführung in die Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1955, S. 8. 2 Vgl.: die entsprechenden Berichte in: Juristenzeitung, 1970, S. 37, 362, 457, sowie Grundsatzresolution zur Reform des juristischen Studiums, in: J. Wassermann (ed.) Erziehung zum Establishment, Karlsruhe 1969, S. 109. 3 Insoweit zutreffend: K . Lenk, Von der Bedeutung der Rechtswissenschaft, in: Kritische Justiz, 1970, S. 278. 4 So: H. Levy-Bruhl, Soziologische Aspekte des Rechts, Berlin (West), 1970, S. 24. Vgl. dagegen etwa die Beiträge über „Antikommunismus und KPD-Verbot", über „Vietnamkrieg und

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Die Beteiligung einer nicht unerheblichen Anzahl von Juristen an den Ostermärschen, an den Aktionen gegen die Notstandsgesetzgebung und den Demonstrationen gegen das amerikanische Engagement in Vietnam, wie die völkerrechtswidrige militärische Intervention verharmlosend bezeichnet wurden, bewiesen, daß sich die herrschende Klasse nicht mehr uneingeschränkt auf ihre Funktionäre verlassen konnte. Die von der etablierten Zeitschrift für Rechtspolitik (1969, S. 45) wahrscheinlich als Bürgerschreck abgedruckte Stellungnahme des SDS Mannheim „Die Justiz in der kapitalistischen Gesellschaft" belegt, daß unter den immerhin 35000 Studenten der Rechtswissenschaft — sicher weder abgewogen noch als Allgemeinbewußtsein — die Einsicht in den Klassencharakter des Rechts an Boden gewann. Auch der Lehrkörper konnte sich nicht frei halten von marxistischen Auffassungen. Damit entstand die Gefahr eines Eindringens von Gegnern des Kapitalismus in den Staatsapparat. Wiewohl das Bonner Grundgesetz (Artikel 21) unter der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" nicht die bestehende Gesellschaftsstruktur monopolkapitalistischer Prägung festgeschrieben hat, hat das Landgericht in Essen einen Berufsschullehrer dazu verurteilt, dem Mitgesellschafter einer Offenen Handelsgesellschaft ein Schmerzensgeld in Höhe von D M 2000,— zu zahlen, weil er diesen als Ausbeuter bezeichnet hat, da er den Lehrlingen einen Stundenlohn von D M 0,50 zahlte, aber bei seinen Kunden mit D M 9,50 berechnete 1 . Es haben die Ministerpräsidenten der Bundesländer am 28. Januar 1972 jenen verfassungswidrigen Beschluß gefaßt 2 , der ein Berufsausübungsverbot für Kommunisten, Marxisten, andere Sozialisten und kritische Demokraten im öffentlichen Dienst enthält, und dem inzwischen schon Mitglieder aus Brandts eigener Partei zum Opfer gefallen sind. Es versteht sich, daß die herrschende Klasse der administrativen Anwendung dieses Beschlusses die geräuschlosere Integration der juristischen Intelligenz auf dem Weg ihrer ideologischen Beeinflussung den Vorzug gibt. Hierbei spielt die bürgerliche Rechtsphilosophie eine nicht unerhebliche Rolle. Daher nimmt ihre Bedeutung in einer Gesellschaft zu, deren Widersprüche sich zyklisch zuzuspitzen pflegen. d) Schließlich fällt ins Auge, daß die bürgerliche Rechtsphilosophie es sich nicht mehr leisten kann, weltenfern zu argumentieren. Die Politisierung und Radikalisierung Völkerecht" und „Meinungsfreiheit im Betrieb" in: Rote Robe (Organ des südwestdeutschen Referendarverbandes), 1972, S. 14; 1973, S. 51. 1 Urteil des Landgerichts Essen vom 5. Juni 1970, in: Kritische Justiz, 1970, S. 479. G. Stuby hat übrigens nachgewiesen (in: Demokratie und Recht 2—1974, S. 181), daß das Bonner Grundgesetz einen differenzierten Eigentumsbegriff verwendet und Einschränkungen der wirtschaftlichen Monopolmacht nicht nur erlaubt, sondern fordert! 2 Beschluß der Regierungschefs des Bundes und der Länder (der B R D ) vom 28. 1. 1972, in: Niedersächsisches Ministerialblatt, 1972, S. 970. Dazu G. Stuby, Funktionen und Folgen der antidemokratischen Berufsverbote in der B R D , in: Demokratie und Recht, 2—1973, S. 152ff. sowie H. Bethge, E . Rossmann, Der Kampf gegen das Berufsverbot. Dokumentation der Fälle und des Widerstandes, Köln 1973.

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des öffentlichen Lebens zwingt auch die Rechtsphilosophie, Farbe zu bekennen, und die Rechtsphilosophen, Verbindungslinien zwischen ihren theoretischen Auffassungen und der Tagespolitik zu ziehen. Selbst wenn sie dabei behaupten, ihr theoretisches System sei unpolitisch und natürlich ideologiefrei, sind sie einem von den objektiv-realen Widersprüchen dieser Welt ausgehenden, von den progressiven Kräften forcierten Auseinandersetzungszwang ausgesetzt, dem sich nur wenige zu entziehen vermögen. Inzwischen ist es, wenn schon nicht üblich, so doch gelegentliche Praxis, daß renommierte Rechtsphilosophen Staatssekretäre und Minister werden. Daß das Herabsteigen der bürgerlichen Rechtsphilosophie in die unmittelbar ideologische Arena ihre Überprüfbarkeit erleichtert, trägt sicher zur Verstärkung der ideologischen Krisensituation bei. Gewiß betreffen diese vier sichtbaren Tendenzen in der RechtsphilosophieEntwicklung der letzten Jahre (Internationalisierungs- und Politisierungstendenz, Bedeutungszunahme für die Rechtsdogmatik und die Juristenausbildung) zunächst nur ihr Erscheinungsbild. Aber sie sind nicht nur Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Situation, der sich die Rechtsphilosophie nicht zu entziehen vermag, sie beeinflussen auch den Inhalt des rechtsphilosophischen Gedankenmaterials. Allerdings wird dieser Iphalt der bürgerlichen Rechtsphilosophie im wesentlichen von der Rolle des Imperialismus bestimmt, die dieser im Welt- und Gesellschaftsprozeß spielt. Von hier aus ergibt sich ihre determinierte soziale Funktion. Anders formuliert: insoweit eine Rechtsphilosophie die durch ihre Stellung im Produktionsprozeß objektiv gegebenen Interessen der machtausübenden Kapitalistenklasse ausdrückt, erweist sie sich als eine bürgerliche. Und dies unabhängig davon, ob der Rechtsphilosoph seine Gedanken aus „engagiertem Erkenntnisinteresse", als homo ludens oder in offener Parteinahme für eine Gesellschaftsklasse produziert. Letzters kommt ja auf Seiten der Bourgeoisie ohnehin kaum noch vor. Folgendes scheinen gegenwärtig die beiden hauptsächlichen Anforderungen an eine bürgerliche Rechtsphilosophie zu sein: a) Die bürgerliche Gesellschaft benötigt eine Legitimationstheorie ihrer Machtausübung. Bürgerliche Rechtsphilosophie stellt daher die historische Berechtigung dieser Mach tau sübung, das heißt den Inhalt des geltenden Rechts, entweder überhaupt nicht in Frage, oder sie leitet ihn aus ewigen Prinzipien ab, oder sie rechtfertigt ihn als zumindest im Prinzip gerecht. Ve.ib^&siimngs,bedürftigkeit wird kaum bestritten, aber Verbesserungs/ä&^e// immer unterstellt! Die von der bürgerlichen Rechtsphilosophie vollzogene Abschirmung des Rechts vor einer Aufdeckung seines Klassencharakters, seiner die Ausgebeuteten unterdrückenden Funktion, verbindet sich mit einer grundsätzlichen Kritik an der Rechtspraxis der sozialistischen Länder, aber auch an der marxistischen Rechtstheorie, wobei dies durchaus in der Form einer angeblichen Marx-Adaption, tatsächlich aber einer Marx-Revision, erfolgen kann. 15

Daß das Legitimationsbedürfnis der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sich zugleich verstärkt wie verbreitert, ist ein Zeichen der historischen Defensive, in die der Imperialismus gedrängt wurde. Die einst selbstevident scheinende Welt des Bürgertums ist irreversibel ins Wanken geraten. Das ist sowohl Ausdruck sich verstärkender innerer Widersprüche in den bürgerlichen Ländern als auch einer wachsenden Anziehungskraft des bereits sozialistisch gewordenen Teils unserer Erde. Wenn daher als Ursache für die gegenwärtige „Zugkraft" der Rechtsphilosophie in den bürgerlichen Ländern die Tatsache angeführt wird 1 , daß sich eine Weltmacht auf eine Rechtsphilosophie stütze (gemeint ist die Sowjetunion), so ist da schon etwas dran. b) Die bürgerliche Gesellschaft benötigt aber auch eine Leitungstheorie ihrer Machtausübung. Bürgerliche Rechtsphilosophie hat daher nicht nur eine unmittelbar ideologische, im wesentlichen apologetisch-demagogische Funktion, von ihr werden auch — meist als „konstruktiver Beitrag zur juristischen Alltagspraxis" bezeichnete — Leistungen unmittelbar administrativ-regulativer Art erwartet. Gerade im Imperialismus wird das Verhältnis zwischen Staatsfunktionär und Rechtsphilosoph mit der Formel Karel Capeks 2 : „Ich handele und du gibst die Begründung dafür" nur zur Hälfte zutreffend charakterisiert. In der heutigen bürgerlichen Gesellschaft ist nämlich die spontane Regulierung des kapitalistischen Verwertungsprozesses durch das Wertgesetz immer weniger gewährleistet und die staatsmonopolistische Regulierung zu einer Existenzbedingung für das imperialistische Profitsystem geworden 3 . Daher gehört zur heutigen Rolle des Staates, daß er sich neben seiner natürlich bleibenden Funktion als „Ordnungs"-Hüter unmittelbar in die Produktion und die Umverteilung des Mehrwerts einschaltet4. Die sich aus den immanenten Entwicklungsgesetzen des heutigen Kapitalismus ergebende Notwendigkeit einer verstärkten ökonomischen Rolle des Staates 5 führt zwangsläufig zu einer Erhöhung des Stellenwertes auch des Rechts. Dabei handelt es sich sowohl um eine Erweiterung seines Wirkungs/e/i/w als auch um eine Veränderung seiner Wirkungsw/jtf. Die objektiv bedingte Aufwertung des Rechts unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus zwingt aber auch der Rechtsphilosophie neue Einsichten und Ergebnisse auf, zumal die Einflußvergrößerung des Rechts seine Verbrämungsbedürftigkeit anwachsen läßt. 1 Th. Viehweg, Rechtsphilosophie als Grundlagenforschung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1961, S. 519. 2 K. Capek, in: Birthright of Man, Paris 1969, p. 228. 3 Der Imperialismus der BRD, Hrg. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der SED, Berlin 1971, S. 331. 4 Der staatsmonopolistische Kapitalismus. Hrsg. v. Mitarbeitern der Abteilung Ökonomie im Zentralkomitee der Französischen Kommunistischen Partei und der Zeitschrift „Economie et Politique", Berlin 1972, S. 288. 5 Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus. Hrsg. v. Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Berlin 1972, S. 388.

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Bei der Kompliziertheit, mit der sich materielle Interessen in den Sphären der Ideologie widerspiegeln, ist es nicht verwunderlich, daß die neuen Anforderungen an Recht und Rechtsphilosophie nur zögernd, ungleichmäßig und mit unterschiedlicher Zielstellung aufgegriffen werden. Einige reagieren leicht verstört auf die neue Situation — Huber etwa 1 : das Recht sei doch eigentlich ein ausschließlich statisches Element der Gesellschaft, es habe heute mit den Erfahrungen von gestern die Verhaltensregeln für morgen aufzustellen, mehr nicht. Andere 2 beginnen mit Bravour das Wirtschaftsrecht als Planungstechnologie zu entwickeln, nicht ohne zugleich politische Reformprogramme in linker Richtung einzuschleusen. Wieder andere 3 ziehen eiskalt die reaktionärsten Folgerungen aus der neuen Lage, in Fortsetzung übrigens ihrer publizierten Gedanken aus der Nazi-Ära. In der Mehrzahl der Fälle sublimieren sich allerdings die aus der ökonomischen Entwicklungsstufe des heutigen Kapitalismus ergebenden über die bloße Legitimation hinausreichenden Anforderungen an eine Rechtsphilosophie in deren Gedankengut. E s kommt dann zu Gedankenfolgen, die von ihren sie determinierenden Faktoren getrennt sind, aber nichtsdestoweniger administrativ-regulative Leistungen zu erbringen imstande sind, wenn auch spontan produzierte. E s gehört zu den Ausgangsthesen marxistischer Ideologiekritik 4 , daß die Arbeitsteilung innerhalb der herrschenden Klasse als Teilung von geistiger und materieller Arbeit bis hin zu dem Extrem sich zu steigern vermag, daß diejenigen, welche die Ausbildung der Illusionen dieser Klasse über sich selbst zu ihrem Hauptnahrungszweig machen, die ökonomisch und politisch aktiven Mitglieder dieser Klasse durchaus auch anfeinden können. Bei allen praktischen Kollisionen, wo die Herrschaft dieser Klasse gefährdet ist, verschwindet allderdings mit der Entgegensetzung der beiden Klassenfraktionen auch der Schein, als ob die herrschenden Gedanken nicht die Gedanken der herrschenden Klasse wären. So entpuppt sich selbst bei kritisch angelegten, von hartnäckigen Zweifeln geplagten Rechtsphilosophen 5 als ihr eigentliches Anliegen, die Rechtsordnung so, „wie sie hier und jetzt besteht", in den Grundzügen zu bejahen. Ganz sicher zielt auch diese Art, das immanente Selbstverständnis der existenten Rechtsordnung zu rechtfertigen, objektiv auf die Apologie der bürgerlichen Gesellschaft selbst. 1 H. Huber, Rechtstheorie — Verfassungsrecht — Völkerrecht, Bern 1971, S. 14. 2 S o : R. Wiethölter, Wirtschaftsrecht, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, München 1972, S. 531 ff. 3 S o : E . Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971, bes. S. 158ff.; Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart 1938. — Zu Forsthoff vgl. G . Stuby, Bürgerliche Demokratietheorien in der Bundesrepublik, in: R. Kühnl (ed.), Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Reinbek 1972, S. 118; H. Anders, in: Staat und Recht, 1963, S. 9 8 1 f f „ sowie A . Winkler, ebenda, 1967, S. 1096 sowie H. D . Bamberg, in: Demokratie und Recht 1 - 1 9 7 3 . 4 K . Marx, F. Engels, Werke, (im folgenden: MEW), Berlin 1956ff. Bd. 3, S. 4 6 f f . 5 A . Troller, D i e Aufgabe der Rechtsphilosophie, in: Schweizerische Juristen-Zeitung, 1973, S. 97. 2 Klenner, Rechtsphilosophie

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Natürlich gehen bei den verschiedenen Strömungen juristischen Grundlagendenkens die ideologische und die regulative Funktion der bürgerlichen Rechtsphilosophie ineinander über, widersprechen sich, sind ungleichmäßig ausgeprägt, in ihrer Effektivität aufeinander angewiesen usw. Und vor allem: all den Anforderungen des heutigen Kapitalismus an eine ihm genehme Rechtsphilosophie kann keine der vorhandenen Schulen oder Strömungen bürgerlichen Rechtsdenkens gerecht werden. Zu vielfältig, ja auch gegensätzlich sind diese Anforderungen: Die Bourgeoisie braucht eine Rechtsideologie, die zugleich illusionäre und realistische, irrationale und rationale Elemente enthält, die (das Volk) desorientierend und zugleich (die Juristen) orientierend wirkt, die zugleich Kontinuität wahrt und doch sich als immer etwas Neues anbietet, die sozialistischen Rechtsforderungen entgegentritt und sie zugleich in Integrationsmittel umzufunktionieren versucht, die der Anziehungskraft des realen Sozialismus entgegenwirkt und gleichzeitig — als ihre Außenfunktion — die Chance hat, in die Länder des realen Sozialismus einzudringen. Daß keine einzige der bürgerlichen Basiskonzeptionen der Rechtswissenschaft allen Anforderungen der regierenden Bourgeoisie an eine Rechtsideologie gleichzeitig gerecht zu werden vermag, darin liegt meines Erachtens die primäre Ursache für den vorhandenen Pluralismus in der gegenwärtigen bürgerlichen Rechtsphilosophie 1 . Es soll damit etwa nicht geleugnet werden, daß in den einzelnen Richtungen auch unterschiedliche Klasseninteressen sich artikulieren (die kleinbürgerlichradikale Komponente innerhalb der bürgerlichen Rechtsideologie ist gerade gegenwärtig unübersehbar). Es finden auch unterschiedliche strategische, ja selbst taktische Konzeptionen der Bourgeoisie, die liberalere und die aggressivere, ihren rechtsphilosophischen Ausdruck. Aber besonders wenn man die wichtigeren, dauerhafteren Strömungen rechtsphilosophischen Denkens im Auge hat, erweist sich die These als wahr, daß sich hinter der subjektiven Gegnerschaft zwischen den verschiedenen Rechtsphilosophen ihre heimliche Allianz, ihr objektiv arbeitsteiliges Operieren verbirgt. Wohlgemerkt: In der bürgerlichen Rechtsphilosophie widerspiegelt sich (mehr indirekt als direkt) die Labilität des kapitalistischen Gesellschaftssystem, seine Ausweglosigkeit, die Heterogenität der Bourgeoisieklasse selbst, die sich auf der Grundlage der ungleichmäßigen ökonomischen Entwicklung bildenden politischen Widersprüche zwischen den verschiedenen kapitalistischen Staaten. Wenn man aber den für die bürgerliche Rechtsphilosophie typischen Dauerprozeß einer permanenten Differenzierung und Integrierung von Ideen, dem zeitweiligen In-den-Hintergrund-Treten, dem vorübergehenden In-den-Vordergrund-Rücken ganzer Richtungen ins Auge faßt und auf seinen Charakter hin analysiert, dann kommt man zu der Feststellung, daß alle die verschiedenen Strömungen letztlich auf einer gemeinsamen sozialen Grundlage beruhen, aus gemeinsa1 Grundlegend zum Pluralismus in der bürgerlichen Rechtsphilosophie vgl. W. A. Tumanow, Bürgerliche Rechtsideologie, Moskau 1971, S. 1 0 2 f f . (russ.).

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men ideologischen und theoretischen Quellen gespeist sind und eine gemeinsame gesellschaftliche Funktion ausüben. Dabei ist natürlich die Originalitätssucht jedes Ordinarius einerseits und andererseits die Bereitschaft vieler, auf den Wellen der jeweiligen Mode zu reiten, einkalkuliert. Wiewohl die theoretischen Entgegensetzungen innerhalb der bürgerlichen Rechtsphilosophie nicht etwa Scheingefechte sind, handelt es sich bei ihnen letztlich um vereinbare Entgegensetzungen, die sich oft genug wechselseitig rechtfertigen, die ergänzungs/äfog (aber auch ergänzungsbedürftig), die schließlich aussöhnungsfähig sind. Der Pluralismus in der bürgerlichen Philosophie ist also kein Ergebnis einer wohlüberlegten demokratischen Grundeinstellung, wie uns Sir Popper und sein bundesrepublikanischer Paladin Albert einzureden versuchen1, er ist das sich spontan herstellende Produkt einer Gesellschaft, die zu einer offenen und zugleich geschlossenen Reflexion ihrer Lage und ihrer Perspektive unfähig ist. Noch immer gilt die vierte Feuerbachthese von Karl Marx 2 : Das in den Wolken fixierte selbständige Gedankenreich ist nur aus der Selbstzerrissenheit seiner weltlichen Grundlage zu begreifen und nur durch die Beseitigung dieses Widerspruches zu revolutionieren. So erklärt sich die immense Spannweite der bürgerlichen Rechtsphilosophie3, die das Postulat ewiger, von Gott selbst aufgehängter Rechtsprinzipien4, spielend .mit der brutalen Law-and-order-philosophy des weiland amerikanischen FBIChefs Hoover 5 : „Gerechtigkeit ist nur eine Begleiterscheinung von Recht und Ordnung" zu vereinbaren in der Lage ist. So erklären sich auch die ständigen Vereinbarkeitsbeteuerungen, etwa der Systemstrukturalen mit der Kritischen Rechtstheorie6, der juristischen Topik mit dem Systemdenken 7 , der existentialen mit der klerikalen Rechtsphilosophie — 1 K. Popper, The open Society, London 1957, vol. 1. p. 201; H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1969, S. 174, 47. — Dagegen: M. Cornforth, The open philosophy and the open society, New York 1968 (Teil I und II dieser ausgezeichneten Argumentation auch in: M. Cornforth, Marxistische Wissenschaft und antimarxistisches Dogma, Frankfurt/M. 1973). 2 MEW, Bd. 3, S. 534. 3 Vgl. die umfassende Darstellung der verschiedenen Richtungen bei W . Friedmann, Legal Theory, London 1967, p. 177ff., der freilich irgendwelche Erklärungen diese Vielfalt gar nicht erst versucht. 4 Etwa: E. Wolf, Rechtsphilosophische Studien, Frankfurt/M. 1972, S. 6 9 f f . 5 J. E. Hoover, in: Der Spiegel, 4 — 1970, S. 105; ins Bundesrepublikanische übersetzt von M. Kriele, „Recht und Ordnung", in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1972, S. 213, und von K. Doehring, Der Autoritätsverlust des Rechts, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, München 1972, S. 1 0 3 f f . — Gegen diese Linie am Beispiel des studentischen Disziplinarrechts R. Geulen, G. Stuby, .Ordnung' als Repression, in: Kritische Justiz, 1969, S. 125f. 6 J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, S. 378. 7 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, Berlin (West) 1969, S. 1 3 5 f f . ; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin (West), 1967, S. 150.

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Maihofer mit Thomas v. Aquin! —i, wie selbst der Gegensatz von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus im wesentlichen als „Mißverständnis" gedeutet werden konnte 2 . Für die plurale bürgerliche Rechtsphilosophie ist kennzeichnend, daß sie sich aus aufeinander angewiesenen Komplementärtheorien zusammensetzt, deren Kontroversen ständig in Konvergenzen umzuschlagen tendieren. Daher auch ihr oft betont eklektischer Charakter, wie etwa die Mixtur des Sozialdemokratismus, der — wie uns von sachkundiger Seite versichert wird 3 — Ansätze des christlichen Humanismus, des kritischen Rationalismus und des Existentialismus zu einer wirklichkeitsnahen Theorie zu verarbeiten sucht! Aus der Erkenntnis von der letztendlichen Vereinbarkeit der verschiedenen Schulen, Richtungen, Strömungen der bürgerlichen Rechtsphilosophie darf übrigens nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, daß es der Arbeiterbewegung und dem Marxismus gleichgültig sei, mit was für einer Art bürgerlicher Juristenideologie sie es zu tun haben. Das zuweilen vorhandene Unvermögen, einen bürgerlichen Rechtsphilosophen liberaler Richtung von einem aggressiv-reaktionären zu unterscheiden, hemmt in den geistigen Auseinandersetzungen unserer Zeit die Durchsetzungschance des Fortschritts. Eine verbreitete Auffassung 4 klassifiziert die Rechtsphilosophien in a) positivistische und b) naturrechtliche Richtungen. Was die marxistische Rechtsphilosophie anlangt, so pflegen dann im allgemeinen die Naturrechtler 5 sie unter die positivistischen, die Rechtspositivisten 6 sie unter die naturrechtlichen Theorien zu sortieren. Die marxistisch-leninistische Rechtstheorie ist aber keine Spielart unter Spielarten; sie spielt das Spiel eines dialogischen Pluralismus nicht mit. Sie ist der Antipode jeder bürgerlichen Rechtsphilosophie, sowie das Proletariat der Antagonismus der Bourgeoisie ist. Der Gegensatz zwischen den verschiedenen Richtungen innerhalb der bürgerlichen Rechtsphilosophie mag zuweilen als absolut erscheinen, im Wesen ist er immer relativ. Der Gegensatz zwischen der marxistischen und der bürgerlichen Rechtsphilosophie mag manchmal als relativ erscheinen, im Wesen ist er immer absolut! Das hat seine (sozialen) Ursachen, aber auch seine (theoretischen) Gründe. Es ist kein Zufall, daß sich in der philosophischen Literatur von heute gegensätzliche Theorien gegenüberstehen. Das ist vielmehr die notwendige ideologische 1 A . Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, Wien 1963, S. 234; E. Hruschka, Die phänomenologische Rechtslehre, München 1967, S. 68. 2 A. Verdroß, ebenda, S. 282. 3 P. Ch. Ludz, Die Ideologie des „Sozialdemokratismus", in: Die neue Gesellschaft, 1972, S. 362. 4 F. A. Utz, Rechtsphilosophie, Heidelberg 1963, S. 2 1 2 f f . 5 E. v. Hippel, Mechanisches und moralisches Rechtsdenken, Meisenheim 1959, S. 96, 119. 6 E. Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien 1958, S. 254; aber auch A. Verdroß, Statisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg 1971, S. 10.

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Widerspiegelung unterschiedlicher materieller Interessen in der Welt von heute, letztlich des Gegensatzes von Arbeiterklasse und Bourgeoisie, von Sozialismus und Kapitalismus. Daher ist auch die Hoffnung vergeblich, daß durch eine wechselseitige Kritik der verschiedenen rechtsphilosophischen Richtungen diese in eine Art „Weltgemeinschaftsideologie" konvergieren. Die subjektiven Gegensätze sind objektiv bedingt. Diese Tatsache ist nicht neu: Auch als sich Adel und Bürgertum gegenüberstanden, polarisierten sich die Rechtsphilosophien, wovon etwa die Auseinandersetzung zwischen Locke und Filmer, zwischen Hegel und Haller als Beispiel dienen mögen. Was aber in der Auseinandersetzung zwischen marxistischer und bürgerlicher Rechtstheorie neu ist, ist zweierlei: a) Die marxistischen Rechtstheoretiker gestalten ihre Theorie als bewußten Ausdruck der Interessen der Arbeiterklasse, während die sonstigen früheren und zeitgenössischen Rechtsphilosophen sich als jenseits aller Klassengegensätze philosophierend empfinden oder jedenfalls ausgeben, und b) die marxistische Rechtstheorie widerspiegelt im Gegensatz zu früheren oder anderen zeitgenössischen Rechtsphilosophien die Interessen weder einer gegenwärtigen noch einer zukünftigen Ausbeuterklasse, daher ihr konsequent wissenschaftlicher Charakter. Übrigens zeigt sich der Gegensatz zwischen der bürgerlichen und marxistischen Rechtstheorie auch in ihrem Weltanschauungsgehalt, in der Art, wie sie die Grundfrage jeder Philosophie, also auch der Rechtsphilosophie, beantworten. Ob die bürgerliche Rechtsphilosophie das Recht seinen Ausgang nehmen läßt von „vorgegebenen" (von wem?) Prinzipien und Begriffen1, oder ob sie die Beliebigkeit der Rechtsinhalte anerkennt, wenn dieser Inhalt nur einen staatlichen Gesetzgeber oder eine zu ihrer Befolgung bereite Adressatenschar (wodurch bereit gemacht?) vorgefunden haben2, immer handelt es sich um eine idealistische Auffassung vom Wesen des Rechts. Die marxistisch-leninistische Rechtstheorie hingegen3 geht von der dialektischmaterialistischen Beantwortung der Grundfrage der Philosophie aus: Das Recht als in einer Gesellschaft geltendes System staatlich garantierter Verhaltensregeln widerspiegelt objektiv-reale gesellschaftliche Verhältnisse; es ist ein mehr oder weniger adäquates Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse, deren Regelung seine soziale Funktion ist. Sein Inhalt ergibt sich (direkt oder indirekt) aus den materiellen Lebensbedingungen der herrschenden Gesellschaftsklasse. Es ist normiertes 1 Etwa: K. Latenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, München 1967, S. V, 48. 2 Vgl. St. Jörgensen, Recht und Gesellschaft, Göttingen 1971, S. 2 8 f f . 3 Grundlegend: Marxistisch-leninistische allgemeine Staats- und Rechtstheorie, Bd. 1 : Grundlegende Institute und Begriffe, Moskau 1970, S. 4 4 f f . (russ.); D. A . Kerimow, Philosophische Probleme des Rechts, Moskau 1972, S. 9 8 f f . (russ.); F. Cañizares, Teoría del Derecho, La Habana 1973, p. 2 3 f f . ; I. Szabó, Les Fondements de la Theorie du Droit, Budapest 1973, p. 7 5 f f ; B. S. Petrow, L. S. Jawitsch(ed.), Allgemeine Staats-und Rechtstheorie, Leningrad 1974, Bd. 2, S. 21 f f . (russ.)

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Klasseninteresse. Das Recht ist eine letztlich materielle Bedürfnisse widerspiegelnde und durch sie determinierte Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, mit dessen Hilfe gesellschaftliche Lebensprozesse gesteuert und geregelt werden. Das Recht ist somit Produkt und Instrument der Gesellschaft. Es befindet sich im Wechselverhältnis zur Ökonomik. Einerseits bedingen — und erzwingen letztlich — die Produktionsverhältnisse ein ihnen gemäßes Recht, andererseits ist das Recht ein notwendiges Organ zur Stabilisierung und Entwicklung der Produktionsverhältnisse. Das sozialistische Recht zum Beispiel basiert auf einer ideellen Reproduktion materieller gesellschaftlicher Verhältnisse, auf die es gleichzeitig durch seine die gesellschaftliche Praxis regulierende Funktion zurückwirkt; die gesellschaftlichen Verhältnisse wiederum sind im Ergebnis der zielsetzenden und verhaltensorganisierenden Funktion des Rechts durch menschliche Tätigkeit entstanden und sind gleichzeitig Grundlage für die auf einer rationalen Erfassung der materiellen Welt durch die regierende Arbeiterklasse auszuarbeitenden Regelungen. Juristische Gesetzlichkeit ist Konsequenz aus der Erkennbarkeit und der darauf beruhenden Lenkbarkeit der Welt. Die Erkenntnis, daß der ideologische Gegensatz zwischen einer in den dialektischen und historischen Materialismus integrierten Rechtstheorie und einer Rechtsphilosophie idealistischen und metaphysischen (im Sinne von nichtdialektischen) Charakters deshalb unüberbrückbar ist, weil er gesellschaftliche Antagonismen widerspiegelt, bewahrt auch vor Illusionen in den geistigen Auseinandersetzungen der heutigen Zeit. „Wie die olympischen Götter können auch die Rechtsideen miteinander hadern", meint Karl Engisch1. Wenn damit die Unberechenbarkeit der Ursachen des Ideenstreites und die Undurchsichtigkeit der Motive der Streitenden gemeint sein sollte, geht diese Auffassung genauso daneben wie die trügerische Hoffnung, daß mit Hilfe argumentierter Streitgespräche die sozialen und politischen Meinungsunterschiede aufgelöst werden können2. Wenn sich die auf rechts- und sozialphilosophischem Gebiet grundlegenden Probleme aus einer klassenunabhängigen Bedürfnisstruktur des Menschen ableiten ließen und zu einer Maxime der vernünftigen Einigung aller Individuen Anlaß gäben3, dann allerdings bestünde die Meinung Ayers zurecht, daß die Existenz streitender philosophischer Parteien nicht aus dem Wesen der Philosophie zu rechtfertigen ist4. Ist es aber nicht gut beobachtet (wenn auch nicht analysiert), wenn von einer zunehmenden Kommunikationslosigkeit zwischen den Philosophen der verschiedenen Richtungen gesprochen wird5? Pflegen nicht in den juristischen Grundlagendiskussionen die Akteure, wenn es hart auf hart geht, nur von ihren eigenen Argumenten 1 2 3 4 5

K . Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, München 1963, S. 17. So: A.-J. Gregor, Contemporary Radical Ideologies, New York 1968, p. VII. So: H. Seiffert, Marxismus und bürgerliche Wissenschaft, München 1971, S. 161. A . J. Ayer, Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart 1970, S. 177. W . Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwattsphilosophie, Stuttgart 1965, S. X U .

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überzeugt zu werden? Gleicht nicht so mancher Wissenschaftskongreß einer „Diskussion unter Gehörlosen" (Piaget)? Die große Hoffnung des Descartes1 auf eine Argumentation, die dem noch so widerstrebenden Gegner seine Zustimmung „entreißt", wo hat sie sich schon erfüllt? Belegt das alles vielmehr nicht eindeutig die Meinung eines Materialisten2, daß die eigentliche Ursache für die wissenschaftlichen Kontroversen nicht die Irrtümer, sondern die dialektische Bewegung des Erkenntnisprozesses ist, der die sich bewegende Wirklichkeit widerspiegelt? Wenn hinter den Ideen nicht Interessen stünden, von denen die Gemüter (unbewußt zumeist) vorangetrieben würden, dann hätte die Biedermeierei Sinn anzunehmen, daß jeder sich uns anschließt, sobald er uns nur „richtig versteht" — Friedrich Engels wies darauf hin3. Damit soll nicht etwa der tendenzielle Fortschritt auch in der RechtsphilosophieGeschichte geleugnet oder sogar die Sinnlosigkeit sozialtheoretischer Auseinandersetzungen behauptet werden. Rechtsphilosophische Aktivitäten erscheinen nur als ewig unentschiedene Meinungskämpfe4. In Wirklichkeit belegt gerade die Geschichte der Rechtsphilosophie den Erkenntnisprozeß mit all seinen endgültigen Falsifizierungen, aber auch Verifizierungen. Man darf freilich diesen Prozeß — aber das gilt für jedes Wissenschaftsgebiet — nie für abgeschlossen halten; vor allem aber sollte man sich keiner Illusion über die wirklich treibenden Kräfte in der Ideologiengeschichte hingeben, denn das sind nun einmal nicht die Ideologen. Die Gründe eines Denkers sind nicht die Ursachen seiner Gedanken. Aus dieser Tatsache ergibt sich zwingend die Notwendigkeit über die immanente Kritik hinausgehend eine transzendente Kritik rechtsphilosophischer Gedankengebilde zu üben. Immanente Kritik führt zum Nachweis der Wahrheit (oder Falschheit) einzelner Aussagen und ist in der Lage, Widersprüche innerhalb von Aussagenketten nachzuweisen. Darauf darf in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen nicht verzichtet werden. Aber der produktivere Beitrag eines Ideologiekritikers besteht wohl darin, die gesellschaftlichen Ursachen für das Auftreten rechtsphilosophischer Theorien aufzudecken. Da Ideologien materielle Interessen nicht nur widerspiegeln, sondern auch durchzusetzen helfen—enthalten sie dochhandlungsorientierende Programme —, liegt im Nachweis des Klassencharakters einer Rechtsphilosophie immer auch eine politische Leistung. Man hat die auf Marx zurückgehende Ideologiekritik — und wenn man heutzutage Marx sagt, ohne Lenin zumindest hinzuzudenken, verfährt man anachronistisch! —, man hat diese materialistische Ideologiekritik dadurch zu diskriminieren versucht, daß man ihr die Absicht unterschob, den Geltungsanspruch einer argumentierten 1 2 3 4

R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1954, S. 141. T. I. Oiserman, Probleme der Philosophie und der Philosophiegeschichte, Berlin 1972, S. 362. MEW, Bd. 36, S. 463. So: I. Tammelo, The perennial role of legal philosophy, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, Göttingen 1968, S. 124.

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Position zu unterlaufen 1 . Welcher anderen Waffe als des Arguments bedient sich aber ein materialistischer Ideologiekritiker? Untersucht er tatsächlich Aussagen statt auf ihren Inhalt auf die „Herkunft dessen, der sie äußert" ? Auch auf diese Unterstellung wird in den nachfolgenden Abschnitten eine konkrete Antwort zu geben sein. Die Unerbittlichkeit, mit der marxistische Rechtstheorie in der Polemik vorzugehen pflegt, beruht vor allem darauf, daß sie die geäußerten Gedanken anderer ernst nimmt. Deshalb sollten sich über die Schärfe mancher Auseinandersetzungsdetails nur jene wundern, die für die Produkte ihres Kopfes keine Verantwortung zu übernehmen bereit sind. Für uns ist der Hinweis auf die gesellschaftlichen Auswirkungen von Ideen immer noch der Hinweis auf das wahrheitsentscheidende Kriterium. Im Gegensatz zu anderen2, die wohl allzu leichtfertig über die traurigen Erfahrungen der Vergangenheit hinwegzusehen und zu -gehen bereit sind, ist daher für uns die „reductio ad Hiderum" ein durchschlagendes Argument. Kommunisten führen die rechtsphilosophische Auseinandersetzung nicht im Stil einer „psychologischen Kriegsführung"; das würde dem kalten Krieg entsprechen, den abzubauen die Völker schon genug Blut, Schweiß und Geld gekostet hat 3 . Im Gegensatz zu friedfertig formulierten, aggressiv gemeinten, freilich illusorischen Hoffnungen, nach denen erst dann Frieden zwischen den beiden Gesellschaftssystemen geschlossen werden kann, wenn die „ideologischen Eispanzer über der östlichen Welt" abgeschmolzen sein werden 4 , halten wir dafür, daß der Konflikt der Meinungen und Ideologien ein objektiv notwendiges Moment in den Beziehungen gegensätzlicher Gesellschaftsordnungen ist, auch, gerade unter den Bedingungen der friedlichen Koexistenz. Formelkompromisse sind nämlich nicht geeignet, Friedensbedingungen zu fördern. Gewiß ist die Macht der universitären Rechtsphilosophie, an deren Beispiel die Krise bürgerlicher Ideologien analysiert werden soll, nicht von der Art jener Ideen, die die Massen ergreifen. Eher könnte man sagen, daß von ihr die Massen ergriffen werden, denn Rechtsphilosophie ist in bürgerlichen Ländern vor allem die Berufsideologie der Juristen. Und die verfügen über den Einsatz des Staatsapparates. Fünfzig Prozent der gesellschaftlichen und politischen Führungseliten sind Juristen 5 . Ein Wort noch zur subjektiven Seite des Sachverhalts. Ehrlichkeit, im Sinne einer Übereinstimmung von Gemeintem und Gesagtem, von Wort und Tat, kann nicht primäres Kriterium bei der Bewertung politisch relevanter 1 So: A . Stüttgen, Kriterien einer Ideologiekritik, Mainz 1972, S. 9, 15. Vgl. auch: H. Kramer, Ursachen der Meinungsverschiedenheiten in der Philosophie, Berlin (West) 1967, S. 216. 2 H. Lübbe, Theorie und Entscheidung, Freiburg 1971, S. 9. 3 Zutreffend: G. A . Arbatow, Ideologischer Klassenkampf und Imperialismus, Berlin 1972, S. 414. 4 S o : H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962, S. 248. 5 Nach der Schätzung von R. Wassermann, Erziehung zum Establishment, Karlsruhe 1969, S. 37.

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Theorien sein. E s geht daher nicht um den persönlichen Vorwurf begangener Unredlichkeiten (auch das erweist sich gelegentlich als notwendig). E s geht nicht u m die subjektive Meinung des Rechtsphilosophen, nicht u m die Lauterkeit seiner A b sichten, seine Irrungen und Wirrungen; es geht um die objektive Funktion der von ihm konzipierten Theorie. „ E s wird nicht das partikuläre Gewissen der Philosophen verdächtigt", so schon der Promovend Marx 1 . Die gesellschaftspraktische Haltung eines Wissenschaftlers kann im Guten aber auch im Bösen sehr verschieden sein von der gesellschaftlichen Funktion der von ihm erarbeiteten Theorie. Von Gustav Radbruch ist überliefert 2 , daß er am 1. Mai 1930 wohl als einziger der Heidelberger Universitätsprofessoren den roten Fahnen der Arbeiter folgte. D a s hat ihn, der sich für einen Sozialisten hielt, aber gar nicht daran gehindert, ein rechtsphilosophisches Gedankengut vorzutragen, das der Machtergreifung der Faschisten insofern nichts in den Weg legte, als ihr Autor keine politische Theorie für beweisbar hielt, aber bereit war, jeder politischen Auffassung, die sich die Mehrheit verschaffen konnte, die Staatsführung zu überlassen 3 . In ihrem Selbstverständnis pflegen sich die bürgerlichen Rechtsphilosophen wie ihre Kollegen von den anderen Fakultäten als unorganisierte Individuen darzustellen, nur ihrem Gewissen verpflichtet, jenseits aller sozialen Interessen stehend, im Dienste von Vernunft und Humanität 4 . D a s Maß der sozialen Mobilität und des „Freischwebens" der Intelligenz vergrößere sich sogar ständig, wird behauptet 5 . Sicher gibt es im Ideen- und Gedankenhaushalt bürgerlicher Denker interessante, gelegentlich sogar brisante Widersprüche. D a paaren sich durchaus /»regressive Bekenntnisse mit regressiven Erkenntnissen. D a verschlingen sich stets wahre mit falschen Aussagen. Unter diesen Gesichtspunkten etwa das literarische Lebenswerk Arthur Baumgartens zu analysieren, des einzigen bürgerlichen Rechtsphilosophen, der — unter dem Eindruck der Realität des Faschismus auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite — sich infolge seiner einzigartigen Charakterstärke und intellektuellen Konsequenz im Marxismus vollendete, wäre schon eine lohnenswerte Aufgabe 6 . Was aber nutzt die Einbildung der bürgerlichen Rechtsphilosophen, ihrem Geschäft jenseits der realen Widersprüche dieser Welt nachzugehen? Ihre angeblich klassenlose Position verträgt sich nicht nur ganz ausgezeichnet mit der bestehenden Gesellschaftsordnung, sie ist eines ihrer notwendigen Elemente. Rechts- und Sozialphilosophien, jedenfalls wenn sie einen gewissen Widerhall 1 2 3 4 5

Marx-Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Berlin 1975,1. 1, S. 67. H. Einsele, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, Göttingen 1968, S. 39. G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), Stuttgart 1970, S. 84. Vgl.: M. R. Lepsius, Kritik als Beruf, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie, 1964, S. 77. S o : A. Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht (Herausgeber: W. Maihofer), Frankfurt/M. 1969, S. 41. Der Erfinder der „freischwebenden Intelligenz" ist K . Mannheim (in seinem Werk Ideologie und Utopie, 4. Auflage, Frankfurt, 1965, S. 222). 6 Vgl.: A. Baumgarten, Rechtsphilosophie auf dem Wege, Berlin (und Glashütten im Taunus) 1972, bes. S. 260ff.

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haben, sind weniger als Beleg für die intellektuelle Redlichkeit oder Konsequenz ihrer Urheber oder Verbreiter interessant. Ihre gesellschaftlichen Folgen sind es, die unser Interesse wachrufen. Zu Gedankensystemen verallgemeinerte fremde und eigene Erfahrung beeinflussen Haltungen und Handlungen der Menschen. So widerspiegeln sie nicht nur einen bestimmten Gesellschaftszustand, sie wirken fördernd oder hemmend auf seine Entwicklung ein. Darin liegt die Verantwortung sozialer Theoretiker: Die Produkte ihres Denkens, zunächst höchstpersönlicher Ausdruck gesellschafdicher Interessen, tragen gleichzeitig zu deren Formierung bei. Man mag das für ein unzumutbares Risiko halten, aber man kann sich ja auch an den eigenen Früchten zu erkennen und zu korrigieren schulen.

2. Von der Kunst, recht zu behalten Z u r Juristischen T o p i k

Ob die Mathematik Pfennige oder Guineen berechne, die Rhetorik Wahres oder Falsches verteidige, ist beiden vollkommen gleich. Goethe

A m 16. Januar 1969 hatte sich das Amtsgericht Heidelberg darüber schlüssig zu werden, ob die gegen sieben Studenten verhängten Haftbefehle aufzuheben oder aufrechtzuerhalten seien. Die Studenten waren verdächtigt, in die Universitätsgebäude eindringenden Polizisten den Weg verlegt und sie tätlich angegriffen zu haben. Bekanntlich setzt aber der Erlaß eines Haftbefehls außer dringendem Tatverdacht (den wir unterstellen wollen) auch Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr voraus. Verdunkelungsgefahr schien nicht gegeben zu sein, jedenfalls beschränkte sich Amtsrichter Orlet darauf, zu erörtern, ob Fluchtgefahr vorgelegen habe. Vom Ergebnis genau dieser Erörterung hing somit Aufhebung oder Aufrechterhaltung des Haftbefehls ab. Da seiner Meinung nach Fluchtgefahr bestand, entschied sich das Gericht für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls. Das Gericht begründete seine Entscheidung folgendermaßen 1 : „Der Haftgrund •der Fluchtgefahr besteht. Dafür spricht schon die Tatsache, daß sämtliche Beschuldigten einer politischen Richtung angehören, die unter anderem die Justiz der Bundesrepublik als .Klassenjustiz' ablehnt. Die Einlassung der Beschuldigten hat — von ihrem Standpunkt aus konsequent — deudich gemacht, daß sie, wenn sie zu Gerichtsverhandlungen erscheinen, dies nicht darum tun, weil sie dazu verpflichtet sind, sondern um ihrer politischen Ziele (Entlarvung der Methoden der Klassenjustiz) willen. Unter diesen Umständen aber drängt sich der Schluß auf, daß sie andererseits, falls es ihre Überzeugung verlangt, ebenso nicht erscheinen oder sogar flüchtig gehen werden. Freilich kann diese Erwägung allein noch nicht zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft führen, da auf diese Weise ein im Gesetz nicht vorgesehener Haftgrund, die SDS-Mitgliedschaft oder Anhängerschaft, geschaffen würde. Die Beschuldigten stehen jedoch wie ausgeführt im dringenden Verdacht, der Vollstreckung eines rechtmäßig erlassenen Haftbefehls sogar mit Gewalt entgegengewirkt zu haben. Trifft dies zu, so haben sie ihre Feindschaft gegen die sogenannte .Klassenjustiz' in außergewöhnlich intensiver Weise entwickelt und geben daher keinerlei Gewähr dafür, sich dem Strafverfahren nicht durch Flucht zu entziehen. Unter diesen Umständen sah das Gericht keinen Anlaß, die von der Verteidigung zum Beweis der Wahrheitsliebe und Zuverlässigkeit der Beschuldigten benannten Zeugen zu hören". 1 Beschluß des Amtsgerichts Heidelberg vom 16. 1. 1969, abgedruckt in: Kritische Justiz 1969, S. 99f.

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Ohne an dieser Stelle darauf einzugehen, ob der Begründungs/sAa// (logisch) zwingend ist (er ist es nicht!), das Begründungsi/gite« ist jedenfalls (faktisch) zwingend: Die Studenten bleiben auf Grund dieser Gründe weiter in Haft. Wie man leicht einsehen kann, ist die Beweisführung des Juristen, die Methodik, mit deren Hilfe er zu einer Entscheidung kommt (dem Erlaß eines Gesetzes oder der Verkündung eines Urteils) kein Thema, das bloß den Himmel unserer Einbildungen bewegt. Das macht die tagtägliche Bedeutung juristischen Grundlagendenkens aus, daß es mittelbar oder unmittelbar mit dem Einsatz des Staatsapparates verknüpft ist, dessen Entscheidungen mit seiner Hilfe legitimiert oder kritisiert werden können. Selbst wenn die Begründung nachträglich konstruiert wurde — ein gar nicht einmal so seltener Fall —, um ein vorgefaßtes Urteil zu stützen, so mag es doch immerhin als Begründungsgrundlage für Beschwerden, Berufungen und Revisionsanträge dienen. Viele Entscheidungen staatlicher Organe, deren Durchsetzung durch das Vorhandensein von Zwangsmechanismen verschiedener Art gesichert ist — Lenin 1 : Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen — sind bcgtündungspflicbtig. Das ist für Urteile im Straf-, Zivil- und Arbeitsprozeß verbindlich vorgeschrieben (etwa ZPO §313), trifft aber auch praktisch für Gesetzgebungsentwürfe zu. Unter gewissen Voraussetzungen ist die Unrichtigkeit der Entscheidungsbegründung eine ausreichende Grundlage, um das erlassene Urteil aufzuheben. Die Vorstellungen davon, wie man zu einer richtigen Entscheidung kommt und was als ausreichende Begründung angesehen werden muß, sind freilich sehr verschieden. Sie reichen vom „gesunden Volksempfinden" über die formal-logische Deduktion bis hin zur Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung. Während etwa das Bonner Grundgesetz (Artikel 97) den Richter als ausschließlich dem Gesetz unterworfen bezeichnet, erklären andere2, diese Feststellung sei schon deshalb pure Ideologie, weil jede Regel zahlreiche Freiheitsgrade aufweise. Jedenfalls hat Eberhard Schmidt Anfang der fünfziger Jahre vor Mitgliedern der höchsten Justizorgane der Bundesrepublik in einer Rede, der eine Weichenstellerfunktion zukam, unumwunden eingestanden, daß nichts so zweifelhaft geworden sei wie die Frage, woran denn nun eigentlich das Gericht gebunden ist3. Gleichgültig aber, ob der Richter sich an die (seinerzeit produktive) Illusion Montesquieus klammert, nach der er nur der Mund sein darf, der die Worte des Gesetzes ausspricht4 oder ob er sich nach jenem von Lion Feuchtwanger literarisch 1 W . I. Lenin, Werke, Berlin 1960, Bd. 25, S. 485. 2 D. Horn, Zivilrechtliche Fälle, Berlin (West) 1969, S. 65; überzeugend: K. Makkonen, Zur Problematik der juridischen Entscheidung, Turku 1965, S. 213. 3 E. Schmidt, Gesetz und Richter, Karlsruhe 1952, S. 8, und H. Weinkauff, in: Berliner Kundgebung des Deutschen Juristentages, Tübingen 1952; dazu H. Klenner, in: Staat und Recht 1954, S. 800 ff. 4 Ch. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (XI,6), Tübingen 1951, Bd. 1, S. 225.

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gestalteten, doch leider nicht erfundenen Landgerichtsrat richtet1, der sich hinreichend souverän fühlte, um mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Paragraphen jeden ihm beliebigen Spruch auch formal überzeugend zu begründen: immer ist der Richter der authentische Dolmetscher des Gesetzes. Sein Wort löst die Tat des staatlichen Vollzugsapparates aus. Die Verschiedenheit juristischer Argumentationsweisen ist nicht zufällig. Nicht nur im Rechtsinhalt, auch in den Mitteln und Methoden, mit denen der Jurist arbeitet, vergegenständlichen sich, genau wie in den Anforderungen, die an seine Entscheidungstätigkeit gestellt werden, unterschiedliche gesellschaftliche Interessen2. Und das unabhängig davon, ob sich die Beteiligten dessen bewußt sind oder nicht. Diese Widerspiegelung letztlich materieller Interessen in Argumentationsweisen gilt ohne Einschränkung auch für das rechtsphilosophische Gedankengut, das ja in so eine Art Methodik des Denkens über juristisch relevante Probleme, wenn nicht überhaupt in eine Methodik des juristischen Denkens mündet. Der grundsätzliche Zweifel an den theoretischen Grundlagen juristischer Tätigkeit, von dem vorhin zu berichten war, kann nur als Ausdruck eines Dilemmas verstanden werden: Einerseits zwang der Totalverfall des Rechts und der Rechtswissenschaft unter der faschistischen Diktatur zu einer Abgrenzung vom Gewesenen, und andererseits erforderte die Etablierung einer bürgerlichen Staatsmacht auf dem Boden der BRD ein rechtswissenschaftliches Grundlagendenken von der Art, wie es vor 1933 existiert und den Faschismus nicht nur nicht gestört, sondern zu einem erheblichen Teil vorbereitet hatte. Die primitivste Methode, sich das Vergangene vom Halse zu halten, war der dumm-dreiste — übrigens bis in die Gegenwart immer wieder unternommene — Versuch, der Mitwelt einzureden, daß die Verantwortung für die Verbrechen des Nazifaschismus weder die Justiz noch die Rechtswissenschaft, sondern ganz allein den Gesetzgeber (und der war ja tot!) treffe3. Es versteht sich, daß diese Art, die Vergangenheit zu bewältigen, vor allem von denjenigen betrieben wurde, die als Richter oder Professoren Herrn Hider ihre Dienste geleistet und natürlich auf einmal von allem nichts gewußt hatten. Anders Gustav Radbruch. Von den Nazis aus Amt und Würden gejagt, hatte er gleich nach der Zerschlagung des Faschismus begonnen, die Schuld für den nahezu nahdosen Übergang der Weimarer in die Hitler-Justiz auch bei der Rechtsphilosophie (bei seiner eigenen sogar!) zu suchen. Die positivistische Lehre — so seine nunmehrige Erkenntnis4 — mit ihren Eckpfeilern „Befehl ist Befehl" und „Gesetz ist Gesetz" habe das Volk und die Juristen 1 L. Feuchtwanger, Erfolg, Berlin 1950, S. 21, 353. 2 Vgl.: M. Szotäczky, Probleme des Ausdrucks der gesellschaftlichen Interessen im sozialistischen Recht, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Jena, 1966, S. 435ff., sowie Szotäczky, Das Wesen des Rechts, Budapest 1970, S. 1 0 5 f f . (ung.). 3 So: E. Schmidt, in: Tagung deutscher Juristen in Bad Godesberg, Hamburg 1947, S. 231. Dazu: (und dagegen) B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, Tübingen 1968. 4 G. Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, Rhein — Neckar-Zeitung, 12. 9. 1945, S. 3,

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wehrlos gemacht gegen verbrecherische Gesetze. Obschon guten Willens, nicht da wieder anzufangen, wo die Grundlagendiskussion 1933 aufgehört hatte, erwies sich aber Radbruch als unfähig, einen wirklichen Ausweg aus der rechtsphilosophischen Misere zu weisen. Dieser Ausweg konnte nur in einem radikalen Bruch mit der ganzen bürgerlichen Rechtsideologie und ihren Scheinalternativen bestehen. Radbruch hingegen verwies als Alternative zur Kadavergehorsamstheorie des Rechtspositivismus auf übergesetzliche Ideen und Werte, die Gerechtigkeitsidee vor allem, kurz auf das altbekannte Naturrecht. Er war allerdings klarsichtig genug, alsbald zu bemerken, daß die Gestaltlosigkeit des Naturrechts zur Bemäntelung einer Willkürrechtssprechung ausgenutzt werden konnte1. So endete er in einem „Einerseits und Andererseits" und sah nicht, daß positivistische und naturrechtliche Auffassungen in erkenntnistheoretischer und funktionaler Beziehung verschwisterte Richtungen sind, mit denen man eines jedenfalls nicht fördern konnte, den Aufbau einer ihrem Charakter nach von den Weimarer Zuständen unterscheidbaren Gesellschaft. Dazu bedurfte es einer nicht von ewigen Ideen, sondern von den tatsächlichen Interessen der heute progressiven Gesellschaftsklasse ausgehenden, also einer materialistischen Staats- und Rechtstheorie. Ihr stand Radbruch mit freundlich geäußertem, aber völligem Unverständnis gegenüber2. — Unter ideologischem Geleitschutz einer bald positivistisch, bald naturrechtlich argumentierenden Rechtsphilosophie vollzog sich nach 1945 die Restauration des Imperialismus in Westdeutschland mit einer ihm gemäßen Justiz3. Während das positivistische „Gesetzesvollzugsdenken" durch die Blutjustiz Hitlers offensichtlicher diskreditiert war und sich erst allmählich erholen mußte, begann die Schwungkraft der Naturrechtslehre bald zu erlahmen. Das rührte vor allem daher, daß die Vorstellungen darüber, was denn nun eigentlich der Inhalt des Naturrechts sein solle, sich mehr aus einer Negation ergaben, dem in einem Antitotalitarismus eingekleideten Antikommunismus. Die reichlich unternommenen Versuche hingegen, einen Naturrechtskatalog oberster Rechtsprinzipien von ewigen Geltungsanspruch aufzustellen4, erwiesen sich als ungeeignet. Heraus kamen dabei nämlich Leerformeln, hochgestochene Umschreibungen des

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abgedruckt in seiner Rechtsphilosophie, Stuttgart 1970, S. 335. Zu Radbruch vgl. Z. Peteri, Gustav Radbruch und einige Fragen der relativistischen Rechtsphilosophie, in: Acta Juridica Academiae Scientiarum Hungaricae, 1960, S. 1 1 3 f f . G. Radbruch, Eine Feuerbachgedenkrede (1946), Tübingen 1952, S. 33. Das geht aus seinem (unveröffentlichten) Brief vom 8. Mai 1947 an Otto Grotewohl hervor, vermutlich über dessen Deutsche Verfassungspläne, Berlin 1947. Vgl.: G. Haney, Bürgerliche Rechtstheorie und imperialistische Restauration, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Jena, 1964, S. 467. Etwa: H. Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neugründung des Naturrechts, Heidelberg 1947, S. 6 2 f . Gegen die ganze Strömung bereits damals und mit guten Gründen W . R. Beyer, Rechtsphilosophische Besinnung. Eine Warnung von der ewigen Wiederkehr des Naturrechts, Karlsruhe 1947, S. 66.

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Dekalogs zumeist. Damit konnte man zwar eine Sonntagspredigt ausschmücken, aber nicht die Ansprüche von Ausbildung und Praxis bourgeoiser Juristen auch nur einigermaßen befriedigen. Daher rissen die Klagen selbst allerhöchster Richter darüüber nicht ab, sie wüßten nicht, wozu man das Naturrecht eigentlich als Praktiker verwenden könne1. Dieses Dilemma fand seinen Ausdruck in einer Begründungskrise des Rechts und der juristischen Tätigkeit: Die Légitimations- und Administrationsbedürfnisse kapitalistischer Herrschaftsweise wurden weder durch positivistische noch durch naturrechtliche Theorien befriedigend abgedeckt. Die bürgerliche Rechtsphilosophie versuchte dieser Zwickmühle auf verschiedene Weise zu entkommen. Eine Methode bestand darin, das ursprünglich als System unwandelbarer Normen aufgefaßte Naturrecht beweglicher, anpassungsfähiger zu machen,2 führte allerdings — wie jeder bürgerliche Weg aus einer bürgerlichen Krise — in neue Begründungsschwierigkeiten. Als eine andere Art, dem Dilemma, theoretischer Ausdruck praktischer Ausweglosigkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, beizukommen, erwies sich der unabhängig voneinander unternommene Versuch Theodor Viehwegs und Chaim Perelmans, das juristische Denken auf eine völlig neue, oder jedenfalls seit Descartes in Vergessenheit geratene Grundlage zu stellen. Sie nannten ihre Methodenlehre des juristischen Denkens unter Rückgriff auf ein von der Antike überliefertes Gedankengut — auf das noch zurückzukommen sein wird — Topik oder Rhetorik. Folgender Ansatz wird dabei benutzt3 : 1. Die Rechtswissenschaft könne nicht von einem axiomatisch begründbarem System von Erkenntnissen und Normen ausgehen; ihre Struktur, ihre Begriffe und Behauptungen (zum Beispiel bei der Auslegung des Rechts) könnten vielmehr immer nur an das jeweilige Problem gebunden sein, das es zu lösen gelte. Daher bedürfe es der Ausarbeitung einer für das juristische Problemdtnke.n. (im Gegensatz zum Sjstemdenken) geeigneten Technik. Diese sei die Topik. 2. Da die Rechtswissenschaft nicht auf als wahr erweisbaren Aussagen beruhe, von denen man mit Hilfe einer demonstrativ vorgehenden Logik zu unbestreitbaren Schlußfolgerungen gelangen könne, brauche man eine wenigstens argumentativ vorgehende Logik, um Urteile und Meinungen zu rechtfertigen und zu kritisieren. 1 Vgl.: J. Llompart, Gesetz dem Juristen, Recht dem Rechtsphilosophen?, in: Juristenzeitung, 1970, S. 276. 2 Dazu: H. Klenner, Vom ewigen zum beweglichen Naturrecht, in: Staat und Recht, 1956,S. 485 f f . 3 Th. Viehweg, Topik (1. Auflage 1953), 5. Auflage, München 1974. Ch. Perelman, L. Olbrechts-Tyteca, Traité de l'argumentation. La nouvelle rhétorique, (1. Auflage Paris 1958), 2. Auflage, Bruxelles 1970; Le Champ de l'argumentation, Bruxelles 1970; Ch. Perelman, Droit morale et philosophie, Paris 1968; Perelman (ed.), Le Problème des lacunes en droit, Bruxelles 1968; Th. Viehweg, Notizen zu einer rhetorischen Argumentationstheorie der Rechtsdisziplin, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bielefeld 1972, Bd. 2, S. 4 3 9 f f . - Zur Kritik, vgl.: W . R.Beyer, Topik, in: Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1974, S. 1228.

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3. Die von der Topik angebotene Technik eines in diesem Sinn rational begründenden Denkens im juristischen Entscheidungsbereich liefere ein griffbereites Repertoire von Gesichtspunkten, mit deren Hilfe die anstehenden Probleme gefunden, erörtert und schließlich gelöst werden können. 4. Diese juristische Argumentationstechnik sei überall einsetzbar, weil ihre Verfahren und Methoden auf die Zustimmung aller Vernünftigen ziele; sie biete sich an für jedes demokratische Regime. Anfangs vermochten die juristischen Topiker in der bürgerlichen Literatur nur zögernd Widerhall zu erwecken. Sie wurden als Außenseiter mit unpraktikablen Ansichten betrachtet und — überwiegend von rechts übrigens — angegriffen1. Inzwischen hat sich das Bild so ziemlich ins Entgegengesetzte verkehrt2. Das mindeste sind Vereinbarkeitserklärungen, in deren Ergebnis eine Einbeziehung topischer Argumentationsweisen in alle möglichen Gedankengebäude stattgefunden hat, was freilich nicht ohne Profilverlust für die Topik selbst abging. Diese umfangreiche und international zu beobachtende Topikrenaissance rechtfertigt die Vermutung, daß der Argumentationsstil der Topik samt den dazugehörigen weltanschaulichen Implikationen keine professorale Zufallreminiszenz darstellt, sondern gesellschaftliche Bedürfnisse des regierenden Bürgertums von heute ausdrückt und befriedigen hilft. Das wiederum weist auf die Notwendigkeit einer marxistischen Auseinandersetzung mit dieser sich gar der „zukünftigen Rechtswelt der industriellen Gesellschaft" empfehlenden3 juristischen Methodenlehre. Da die modernen Topiker einen guten Teil ihrer äußeren Attraktivität der von ihnen beanspruchten Ahnengalerie von Aristoteles bis Leibniz verdanken, sei hier ein kurzer, zugegeben pragmatisch orientierter Rückblick eingefügt. Aristoteles hatte im Rahmen seiner der Erkenntnistheorie und Logik gewidmeten Schriften auch ein Verfahren ausgearbeitet, wie man aus zwar unbewiesenen, aber den meisten als wahr erscheinenden Aussagen Schlußfolgerungen ziehen könne, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln4. Für Problemerörterungen solchen Stils hatte Aristoteles neben einem ganzen Katalog verwendbarer Argumente auch typisierte Argumentationsquellen erschlossen. Der geschickte Einsatz dieser sogenannten topoi versprach dem Teilnehmer eines Streitgesprächs den Sieg. Es handelt sich 1 Besonders vom rechtsphilosophischen Rechtsaußen der Bundesrepublik und seinen Schülern: K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin (West) 1969, S. 1 5 0 f . ; U. Diederichsen, Topisches und systematisches Denken in der Jurisprudenz, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1966, S. 697; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, Berlin 1969, S. 1 3 5 f f . 2 Vgl.: N.Horn, Zur Bedeutung der Topiklehre Theodor Viehwegs, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1967, S. 6 0 1 ; W . Hennis, Politik und praktische Philosophie, Neuwied 1963, S . 8 9 f f . ; E . A . Kramer, Topik und Rechtsvergleichung, in: Rabies Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, 1969, S. l f f . 3 So: Th. Viehweg, in: W . Maihofer (ed.), Ideologie und Recht, Frankfurt/M. 1969, S. 95. 4 Aristoteles, Werke, Bd. 2, Topik, Sophistische Widerlegungen Leipzig 1922, besonders 5. 173ff.

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also um Disputationstechnik (Aristoteles, Topik, Buch VIII, Kap. 14: „Wie man ein tüchtiger Dialektiker wird"). Ungeachtet der Tatsache, daß Aristoteles wohl mehr ein Überzeugen als ein Überreden des Gesprächspartners im Auge hatte 1 , scheute er auch nicht davor zurück, die für eine Verschleierungstaktik geeigneten Diskussionsführungsmittel zu erörtern, was ihm immer wieder den Vorwurf eintrug, er liefere eine Anleitung zur Rabulisterei2. Immanuel Kant behauptete jedenfalls von der Topik 3 , man bediene sich ihrer, um mit einem Schein von Gründlichkeit „wortreich zu schwatzen." Dieser Einschätzung schloß sich Hegel an 4 . Vernichtungsurteile dieser Art bezogen sich vornehmlich auf die damalige Verwendung der Topik, die einen schier nicht zu überbietenden Banalisierungsgrad erreicht hatte, wenn man etwa die von Christian August Lebrecht Kästner verfaßte Topik hervorholt 5 , deren heuristischer Wert sich in der Gedächtnisstärkung und der Zergliederung kirchlicher Texte des Pastors zu Doberschütz erschöpft, zum Beispiel in folgender Maxime : Der keusche Joseph wurde von Gott gesegnet, folglich segnet Gott alle Keuschen. Die von Aristoteles als Organon kunstgerechter Rhetorik entwickelte, wie immer zu bewertende Topik ist von Cicero auf Anforderung für den Bedarf des Juristen gebrauchsfertig gemacht worden 6 . Vor allem um die Beweisführung vor Gericht zu rationalisieren, versuchte er den Fundort (topos, locus) zu erfassen, an dem der Sitz der Argumente (sedes argumenti) ist. Denn, so seine eigene Gedankenführung, da es leicht ist, versteckte Gegenstände dann aufzufinden, wenn nachgewiesen ist, wo sie liegen, so fällt uns der Beweis leicht, wenn wir die Quellen kennen, aus denen Beweise zu erwarten sind. Als solche Beweisquellen führte er in kunterbunter Reihenfolge an : Etymologie, Wortverwandtschaft, Ähnlichkeit, Entgegengesetztes, Umstände, Folgen, Vorausgegangenes, Widersprechendes, Ursache, Wirkung. Diese (und andere) topoi — Cicero schrieb seine Abhandlung auf einer Reise, fern seiner Bibliothek, daher viele Oberflächlichkeiten — sollten den forensischen Rednern als Vorratsmagazin von Argumenten dienen, zu verwenden natürlich nach Maßgabe des jeweiligen Parteiinteresses. Daher die despektierliche Bezeichnung: Topisch ist das Argument aus der Schublade7. 1 Insoweit wohl richtig: W . Grimaldi, Studies in the philosophy of Aristotle's thetoric, Wiesbaden 1972. 2 So: Th. Gomperz, Griechische Denker, Leipzig 1909, Bd. 3, S. 39. 3 I. Kant, Kritik der Reinen Vernunft, Reclam, Leipzig 1944, S. 361. 4 G. W . F . Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Reclam, Leipzig

1971,

Bd. 2, S. 263. 5 Chr. Kästner, Topik, Leipzig 1816, S. 85, 166ff. 6 M. T.Cicero, Topik, in: Werke, Stuttgart 1838, Bd. 25, S. 3 2 6 8 f f . ; dazu J. Stroux, Römische Rechtswissenschaft und Rhetorik, Potsdam 1949, S. 52 f. 7 S o : R. Zippelius, Problemjurisprudenz und Topik, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1967, S. 2232. 3

Klenner, Rechtsphilosophie

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Die modernen Nachkriegstopiker haben nun diesen überlieferten topisch-rhetorischen Ansatz im Ergebnis juristischer Grundlagenforschung zu einer prinzipiellen Position ausgebaut, wie aus den vier weiter oben extrahierten Kernthesen hervorgeht. Dabei knüpfen sie an eine Gegenüberstellung von Denkweisen an, wie sie von Nicolai Hartmann entwickelt worden war1. Hartmann hatte behauptet, daß es zwei gegensätzliche Denkweisen gäbe, eine systematische Denkweise, die vom festen Standpunkt eines eingenommenen Ganzen ausgehe, während es für die aporetiscbe Denkweise nur ein Heiligtum gebe, das Problem. Die juristischen Topiker erklären nun, daß das rechtswissenschaftliche Denken so ein aporetisches, angeblich nichtsystematisches Denken sei. Die Jurisprudenz wird als eine „permanente Problemerörterung" verstanden2; ihrer Struktur kommen angeblich folgende Erfordermisse zu: „ 1. die Gesamtstruktur der Jurisprudenz kann nur vom Problem bestimmt werden; 2. die Bestandteile der Jurisprudenz, ihre Begriffe und Sätze, müssen in spezifischer Weise an das Problem gebunden bleiben und können daher nur vom Problem her verstanden werden; 3. die Begriffe und Sätze der Jurisprudenz können deshalb auch nur in eine Implikation gebracht werden, die an das Problem gebunden bleibt; eine andersartige ist zu meiden." Von hier leuchtet zunächst ein, daß die Berufung der juristischen Topiker von heute auf Aristoteles danebengeht; denn der Stagirite schrieb seine „Topik" nicht als Gegen-, sondern als Ergänzungsstück zu seinen anderen Werken, sie war ein Element seines Systems und keinesfalls eine Attacke auf irgend ein systemanzielendes Bemühen. Aber das möge nur als Vorgeplänkel gelten. Es ist halt in gewissen Kreisen üblich geworden, vergangene Größen als Vorboten mit Feigenblattfunktion dem eigenen Ansatz vorzuspannen. Aber nicht das Erbe bestimmt den Erblasser. Der Ansatz der topischen Jurisprudenz beruht — nach eigener Darstellung — auf einem Unbehagen gegenüber den allzu engen Grenzen, die das positivistische Wissenschaftsverständnis der Rechtsphilosophie setzt. Nach diesem Rationalisierungsverständnis scheine — in der vorsichtigen Formulierung Peter Nolls3 — im Bereich der Normativität der Mensch weniger rational konstituiert zu sein als sonst, oder — direkter4 — „der letzte Erkenntnisakt ist dezisionistisch, das heißt irrational". 1 N. Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, in: Kantstudien, 1924, S. 1 6 0 f f . Als Grundlage für die juristische Topik vor allem von H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin (West) 1969, S. 342 benutzt. Coing gehörte zu den ersten Bewunderern der neuerstandenen Jurisprudenz-Topik, (in: Arch. f. Rechts-und Sozialphil., 1954—1955, Bd. 41, S. 436). 2 So: Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, München 1974, S. 97, 101; vgl. auch den im Anhang vorliegender Studie (S. 135ff.) abgedruckten Quellentext zur juristischen Topik. 3 P. Noll, Die Normativität als rechtsanthropologisches Grundphänomen, in: Karl-EngiSchFestschrift, Frankfurt/M. 1969, S. 133. 4 P. Schwerdtner, Wie politisch ist das Recht? in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1969, S. 139.

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Unmittelbare Schlußfolgerung aus dieser agnostizistischen Reduktion des aufklärerischen Totalanspruchs der Vernunft war bekanntlich die Behauptung, daß die Rationalität lediglich in der richtigen Anpassung der Mittel an die Zwecke liege 1 . Für die Rechtsphilosophie würde das bedeuten, daß wissenschaftlich zulässig immer nur die Frage danach sei, ob die Rechtsnormen geeignete Mittel für die Erreichung der Gesellschafts- oder Staatszwecke sind, nie aber die Frage nach der Legitimation der Legalität. Diese altpositivistische Position ist zunächst bequem für die machtausübende Bourgeosie, verhindert sie doch ein „In-Frage-Stellen" der bürgerlichen Gesellschaftsund Staatsordnung. Aber unter dem Druck der Arbeiterbewegung, dem Vordringen des MarxismusLeninismus mit seiner berechtigten Leugnung einer prinzipiellen Grenze für die Erkenntnistätigkeit des Menschen, ging selbst die Plausibilität des positivistischen Abschirmungsversuchs weitgehend verloren, mit dem die gesellschaftlichen Grundlagen aller Verhaltensregulative des Bürgertums verborgen gehalten werden sollte. Daher der weithin anzutreffende Trend der moderneren Positivisten2, den Rationalitätsbereich (angeblich) auszuweiten und für die Überwindung jeder Resignation in moralphilosophischen Fragen die Trommel zu rühren. Diese Entwicklung läßt sich an den beiden Gerechtigkeits-Essays eindrucksvoll belegen, die Chaim Perelman im Abstand von 20 Jahren veröffentlicht hat3. 1945 lautete seiner damaligen Weisheit letzter Schluß, daß die Gerechtigkeit auf „willkürlichen und irrationalen Werten" basiere; 1965 hingegen weigerte er sich, sich im Handlungsbereich auf eine Ausrichtung der Mittel auf die völlig irrationale Ziele zu beschränken, eine „einen Rationalisten zur Verzweiflung treibende Schlußfolgerung." Das Ergebnis des philosophischen Gebrauchs der praktischen Vernunft durch die Topiker besteht vor allem darin, daß ihrer Meinung nach rational begründen (raisonner) nicht nur als wahr erweisen (vérifier) und beweisen (démontrer), sondern auch erörtern, kritisieren und rechtfertigen, Gründe (raisons) dafür und dagegen vorbringen, das heißt in einem Wort: argumentieren bedeutet4. Und damit wird nun tatsächlich alles auf den Kopf gestellt. Denn nichts gegen Erörtern, Kritisieren, Rechtfertigen und Argumentieren. Ohne sie gibt es ganz sicher keine Wahrheitsfindung. Aber sie sind nicht Selbstzweck, sie sind Mittel und Methoden, um Wahres als wahr und Falsches als falsch nachzuweisen. Die von den Topikern angekündigte Ausweitung des Vcmunitsiereicbs erweist sich als eine Aufweichung des Ve.tn\m£tsbegriffes. Genau wie die Positivisten vor ihnen, versuchen auch die juristischen Topiker die 1 2 3 4

3*

So : B. Russell, Moral und Politik, München 1972, S. 10. Vgl.: H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1969, S. 79. Ch. Perelman, Über die Gerechtigkeit, München 1967, S. 82ff., 132. Ebenda, S. 138; sowie Ch. Perelman, Betrachtungen über die praktische Vernunft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1966, S. 215.

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Frage nach der Wahrheit (oder Falschheit) der juristisch relevanten Erkenntnisse aus der rechtswissenschaftlichen Diskussion auszuschalten. (Auch deshalb haben sie mit Aristoteles nicht viel gemein, denn der ist für seine materialistische Wahrheitskonzeption mit Recht berühmt !) Den in eine rechtswissenschaftliche Diskussion eingebrachten Prämissen wird von den Topikern bezeichnenderweise ein Wahrheitsbeweis gar nicht erst abverlangt. Die vorgebrachten Meinungen werden danach beurteilt ob sie „vertretbar", „kaum vertretbar", „noch vertretbar" oder „unvertretbar" sind; von den Diskussionsergebnissen wird zugestanden, daß sie zwischen strenger Nachprüfbarkeit und gestaltloser Willkür liegen1 ; Rationalitätskriterium ist demnach die „maximale Diskutierbarkeit". Eine andere Kontrollinstanz für Wissenschaftsprämissen und -ergebnisse kennen die Topiker nicht, f Man muß diese Position so ernst nehmen, wie sie gemeint ist. Schon deshalb, weil ihre Folgen sehr ernst sind. Wenn etwa zur Einschätzung der Topik gesagt wird, sie diene der Aufstellung sinnvoller Hypothesen2, so ist das eine wohl kaum auf Unverstand beruhende Verharmlosung des Anspruchs der Topiker, es sei denn man fügt hinzu, daß sie überhaupt nur Hypothesen kennen. Nach der Meinung von Theodor ViehwejA kann die Legitimationskette des Rechts ins Unendliche erweitert werden: vom positiven Recht gelange man zum Naturrecht, von da zur lex aeterna und von dort ins religiöse Gebiet. Ob man weit oder weniger weit zurückgreife, man werde nie zu einer sachlich zureichenden Begründung des Rechts kommen. Daher müsse man sich mit einer förmlich zureichenden, das heißt diskutierbaren Begründung begnügen. Oder — in der knappen Zuspitzung Perelmans4 — in der Philosophie gebe es keine res judicata! Das läuft — bei allen sonstigen Gegensätzen — genau in die Richtung, die das gegenwärtige Schuloberhaupt der Positivisten, Sir Popper (der bekanntlich Nichtpositivist zu sein beansprucht), mit seiner Antwort auf die Frage sichtbar gemacht hat5, wie sich erweisen lasse, welche sozialen Postulate richtig sind: „Das läßt sich nicht erweisen. Aber man kann es diskutieren . . ." Die Rationalität einer juristischen Entscheidung, davon abhängig zu machen, ob sie auf einem anerkannten Axiom beruht6, oder gar davon, ob sie diskutierbar ist7, das muß zu einer Subjektivierung großen Stils führen. 1 Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, München 1969, S. 26, 53. 2 So: M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967, S. 148. 3 Th. Viehweg, Positivismus und Jurisprudenz, in : J. Blühdorn, J. Ritter, Positivismus im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1971, S. 111. 4 Ch. Perelman, Über die Gerechtigkeit, München 1967, S. 163. 5 K.Popper, in: H. Marcuse, : K . Popper, Revolution oder Reform, München 1971, S. 38. 6 So: B.Russell, Autobiographie 1944—1967, Frankfurt/M. 1971, S. 36. - Zur Wahrheitskonzeption des Marxismus: G.Klaus, Spezielle Erkenntnistheorie, Berlin 1965, S. 79ff. ; I. S. Narski, Dialektischer Widerspruch und Erkenntnislogik, Berlin 1973, S. 361 ff. ; T. Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie, Berlin 1973, S. 403 f f . 7 So: Th. Viehweg, Zwei Rechtsdogmatiken, in: Emge-Festschrift, Wiesbaden 1960, S. 114.

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In Ländern mit nachgewiesener Massenmanipulierung, in denen ein ganzer Wirtschaftszweig, auf rationalem Weg übrigens, Irrationalismus erzeugt, die Maxime aufzustellen, daß auch in der Wissenschaft das vernünftig sei, was genügend Anhänger findet, legitimiert letztlich die Kunst, recht zu behalten, ohne recht zu haben. Umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeit in einer vom Wahrheitsbeweis entbundenen Diskussion sehr groß, daß es dem schlecht Argumentierenden erscheint, nur ihm gingen die Argumente aus, nicht aber sie fehlten überhaupt. Von seinem Eindruck jedoch, er sei ein schlechter Argumentator, bis zur grundsätzlichen Verachtung des Argumentierens, ist der Schritt klein. Bertolt Brecht wies darauf hin 1 . Angetreten, um den Anwendungsbereich der Vernunft von der theoretischen auf die praktische Ebene auszuweiten 2 , landen die juristischen Topiker in eben demselben Agnostizismus, gegen den sie guten Willens zu Felde zogen. Statt den Wahrheitsinteressenten zu helfen, laufen sie Gefahr, den gewieften Rhetoriker zu bedienen. Das ist die notwenige Folge einer hemmungslos betriebenen Verabsolutierung der Skepsis und des Zweifels (die natürlich im gewissen Umfang notwendig sind, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen; aber wer keine alten Erkenntnisse anerkennt, kommt eigentlich auch nie zu neuen). Dieses ideologische Problem hat außergewöhnlich harte politische Konsequenzen. Natürlich gestattet das Rationalitätskriterium der Topik, jede Form des Aberglaubens, wenn sie nur verbreitet genug ist, als rational legitimierte Denkvoraussetzung zu nehmen 3 . Aber nicht einmal darin, so schlimm das schon ist, liegt die eigentliche Gefahr. Die juristische Topik ist deshalb irreführend, weil in den Diskussionsgremien zur Vorbereitung juristischer Entscheidungen (Parlamentsgesetze, Gerichtsurteile, Verwaltungsverfügungen) nicht der Wille zur Wahrheit, sondern der Wille zur Macht wirksam wird. In der juristischen Argumentation kaschieren sich materielle Interessen. Wenn daher die Rhetorik für sich in Anspruch nimmt 4 , keine Spielregeln, sondern ausschließlich Gewinnstrategien zu kennen, die nur an der Faktizität ihrer Erfolghaftigkeit gemessen werden können, wenn sie die pragmatische Maxime aufstellt „erlaubt ist, was überzeugt", dann muß man immer hinzudenken, daß mit den durch bloße Annahme ausgewiesenen Meinungen der Einsatz der Staatsgewalt begründet und gerechtfertigt wird. Es ist schwer vorstellbar, daß von einer agnostizistischen Theorie — auch wenn sie sich eine dialektische nennt — eine gesetzlichkeitsfördernde Wirkung ausgeht. 1 Bertolt Brecht, Schriften zur Politik, Berlin 1968, Bd. 1, S. 105. 2 So: Ch. Perelman, Jugements de valeur, justification et argumentation, in: K . Ajdukiewicz (ed.), The foundation of statements and decisions, Warschau 1965, S. 385f. 3 Vgl.: G. Haney, Die Demokratie, Berlin 1971, S. 83. 4 G. Otte, Zwanzig Jahre Topik-Diskussion, in: Rechtstheorie, 1970, S. 190; R . A . M a l i , Argumentation als Destruktion von Ideologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1973, S. 126 ff.

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In den Händen einer bürgerlichen Klassenjustiz dürfte von ihr eher eine konservierende Funktion zu erwarten sein. Insofern entspräche sie übrigens dem Modell eines ihrer Urheber 1 , der dem Juristen eine ordnungserhaltende Rolle zuweist, da er sich von den Werten und Glaubensvorstellungen (!) derjenigen Gemeinschaft leiten zu lassen habe, in deren Namen die politische Gewalt ausgeübt werde. Die juristischen Topiker entheben die Machtorgane einer inhaltlichen Begründung ihrer Entscheidungen, ohne daß diese auf das wirksame Prädikat „vernünftig" verzichten müssen, sofern sie diskutierbar waren. Ob sie aber diskutierbar waren, entscheidet dasselbe Machtorgan. Nebenbei: ist nicht eigentlich dann eine Aussage am wenigsten diskutierbar, wenn sie wahr ist? Nur die Unsicherheit für den Inhalt eines Urteils macht die Diskussion nötig 2 . Die Topiker lehnen es ab, verifikationsfähige Erkenntnisse anzusteuern. Statt dessen leiten sie dazu an, Urteile, Werte, Beweise und Interpretationsverfahren so zu formulieren, daß sie von einem „universellen Auditorium" von allen „Vernünftig — und Gerechtdenkenden" anerkannt werden können 3 . Weil dieses Ziel in der bürgerlichen Gesellschaft wegen der vorhandenen Interessenantagonismen nun einmal weder durch Terror noch Betörung dauerhaft erreichbar ist, setzen sich die Topiker ein utopisches Ziel. Da sich noch immer die herrschende Meinung als die Meinung der Herrschenden erwies, um eine berühmte Äußerung von Marx und Engels aufzugreifen4, zielt eine vom bloß Meinungsmäßigen ihre Rechtfertigung herleitende Theorie ungeachtet aller entgegengesetzten Vorsätze tatsächlich auf einen Ke/^a/demokratismus, in dem Täuschung und Selbsttäuschung ineinander übergehen. Illusionen von der Art, daß es in der Klassengesellschaft eine „Gemeinsamkeit rationeller Ansprechbarkeit" gebe 5 , daß „Vernunft ein ausreichendes Führungsinstrument" sei6, daß alle Leute „guten Willens" vernünftigen Argumenten zugänglich seien7, tragen zu einer Verschleierung des gesetzmäßigen Zusammenhanges von ökonomischer, ideologischer und politischer Macht (und auf der Gegenseite der Ohnmacht) bei. Wie gerade die bitteren Erfahrungen aus der Geschichte reichlich lehren, ist der Konsensus alles andere als ein Garant der Vernünftigkeit. Als machte das den Irrtum klein, daß er von vielen geteilt wird. Kollektiver Irrtum mag sich zwar für den ein1 Ch. Perelman, Über die Gerechtigkeit, München 1967, S. 142, 145. 2 Vgl.: MEW, Bd. 20, S. 106. 3 So: H. Ehmke, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der (westdeutschen Staatsrechtslehrer, Berlin(West) 1963, Heft 20, S. 71. 4 M E W , Bd. 3, S. 46. 5 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt/M. 1970, S. 12. 6 E . H. Levi, Judicial Reasoning, in: S. Hook (Herausgeber), Law and Philosophy, New York 1964, p. 266. 7 Ch. Perelman, Justice and Reasoning, in: H. Hughes Justice, New York 1969, p. 214.

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zelnen leichter tragen — oder als leichter tragbar erscheinen —, tatsächlich wiegt er aber schwerer, ist folgenreicher, gefährlicher. Ganz abgesehen davon, daß in den Stunden der Gefahr die regierende Bourgeoisie ob mit, ob ohne Notstandsklauseln sich noch immer den Leitspruch Lichtenbergs zu eigen gemacht hat, eine Handvoll Soldaten sei wirksamer als eine Maulvoll Argumente, in der bürgerlichen Gerichtspraxis selbst herrschen nicht Argumente, sondern mit den Argumenten herrscht eine autoritäre, repressive Instanz. Lenin 1 : Das Gericht ist ein Organ der Macht! Argumente hin, Argumente her, das letzte Wort gehört — entgegen dem Wortlaut der Strafprozeßordnung — nicht dem Angeklagten, sondern dem Gericht. Es liest sich ganz schön, wenn die Topiker darauf verweisen2, daß in den Diskussionen auf das Wissen der „Besten und Angesehensten" Bezug genommen werden solle, oder daß wenigstens als Ausgangsvermutung „in dubio pro Übertäte" gelten müsse3. Aber im Prozeß der atomaren Aufrüstung der Bundesrepublik sowie der Einführung der Notstandsverfassung sind die Angesehensten und Besten zwar ¿zugehört worden, aber die Machthaber sind nicht genug genötigt worden, auf sie zu hören. In den amerikanischen Kommunistenprozessen ist seinerzeit dem nichtkommunistischen Sachverständigen sogar das Vorbringen von Argumenten verboten worden, nämlich, daß nicht nur der Marxismus, sondern auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung das Recht auf Revolution gegen eine tyrannische Regierung enthält4. Auch ein Beleg dafür, daß im Gericht nicht Argumente herrschen, sondern „forces stronger than reason"! Für die topische Beweisführung ist bezeichnend die Geringschätzung der formalen Logik und des Systemdenkens. Nun sind in der Tat die Zeiten vorbei, in denen man im Juristen nichts anderes sah als eine Maschine zur Umwandlung von Gesetzen in Gerichtsurteile (und in denen Rechtsphilosophen zugleich Mathematikprofessoren waren). Der gegenwärtige Zulauf, den die Topik erhält, hängt sicher mit dem durch das case-law geprägten Argumentationsstil und dem in den USA beheimateten Pragmatismus zusammen5. Aber es sind wohl auch die von ihren unerfüllt gebliebenen Erwartungen an praktikable Ergebnisse der modernen Formallogik Enttäuschten, die nun ihr Heil in einer Art Paralogik — im nichtlogischen, aber nicht unlogischen Denken, wie es hieß —6 suchen. 1 W . I. Lenin, Werke, Berlin 1960, Bd. 25, S. 172. 2 Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, München 1969, S. 26. 3 P. Schneider, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der (westdeutschen Staatsrechtslehrer, Berlin(West) 1963, Heft 20, S. 31 sowie P. Schneider, Recht und Macht, Mainz 1970, S. 238ff. 4 J. Sommerville, The Communist triáis and the American tradition, New York 1956, p. 29 f. 5 Ch. Perelman, Judicial reasoning, in: Israel Law Review, 1966, p. 379; J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1964, S. 2 1 8 f f . 6 So: E . J . L a m p e , Problemanalyse als Grundlage der juristischen Argumentation, in: Le raisonnement juridique, Bruxelles 1971, S. 72.

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Soweit sie dabei ihr Problemdenken als antidogmatisch verstehen, gehen sei freilich in die Irre. Zwar verfügen sie wirklich über kein ILikenntnissys/em, an dessen deduktiver Ausbreitung sie arbeiten, aber all ihre Ergebnisse, mögen sie noch so „bindungsscheu" und in „lässiger Anordnung" vorgeführt werden, beruhen auf dem Dogma von der Unerkennbarkeit oder gar der Nichtexistenz gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Topisches Denken ist sogar axiomatisch gebunden1. Um so verfehlter ist daher die Attacke der Topiker auf den Marxismus wegen des sich aus seinem Gedankensystem angeblich zwingend ergebenden Dogmatismus. Was von einem axiomatisch begründeten Wissenssystem wohl gelten kann, trifft auf den Marxismus überhaupt nicht zu : Seine Anhänger haben nie behauptet, daß der dialektische Materialismus eine Aussagenmenge sei, deren eine Teilmenge, die Theoreme, aus deren anderer Teilmenge, den Axiomen, nach den Schlußregeln der formalen Logik abgeleitet werden können. Die Ausarbeitung eines allumfassenden, ein für allemal abschließenden Systems der Erkenntnis von Natur und Gesellschaft steht nämlich im Widerspruch zu den Grundgesetzen eines dialektischen Denkens2. Der Vorwurf Viehwegs3, die marxistisch-leninistische Theorie argumentiere aus „begriffener Geschichte" und fixiere „zeitentrücktes Wissen", übersieht völlig, daß die Marxisten in Wirklichkeit aus begriffener und zu begreifender Geschichte argumentieren ; Gesellschaft und Begreifen, beide stehen in nie endender Entwicklung. „Die materialistische Dialektik", schreibt Lenin, dessen Ausführungen zum Verhältnis von absoluter und relativer Wahrheit in klassischer Prägnanz sind4, „erkennt die Relativität aller unserer Kenntnisse an, nicht im Sinne der Verneinung der objektiven Wahrheit, sondern in dem Sinne, daß die Grenzen der Annäherung unserer Kenntnisse an diese Wahrheit geschichtlich bedingt sind." Der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie kommt es daher im Gegensatz zur bürgerlichen Rechtsphilosophie auch nicht in den Sinn, die juristische Argumentation als eine Argumentation innerhalb eines Rechtssystems zu definieren, die die Anwendung der Rechtsnormen dieses Systems auf einzelne Fälle rechtfertigt5. Diese Beschränkung der praktischen und wissenschaftlichen Tätigkeit des Juristen auf die Ableitung von speziellen Entscheidungen aus den generellen des Gesetzes ist für den Marxismus unannehmbar. Eine wissenschaftliche, auf die rationale Erfassung und Veränderung der Gesellschaft gerichtete Rechtstheorie kann sich nicht auf die Ausarbeitung von Methoden beschränken, mit deren Hilfe man aus 1 Insoweit zutreffend: U. Klug, Juristische Logik, Berlin(West) 1966, S. 174. 2 Vgl.: MEW, Bd. 19, S. 206; Bd. 21, S. 267. 3 Th. Viehweg, Historische Perspektiven der juristischen Argumentation, in : Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, Beiheft 7, 1972, S. 73; Th. Viehweg, in: Emge-Festschrift, Wiesbaden 1960, S. 109. 4 W . I.Lenin, Werke, Berlin 1962, Bd. 14, S. 132; vgl.: Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie, Berlin 1971, S. 1 9 4 f f . 5 So: H. Ryffel, Zum „politischen" Charakter der juristischen Argumentation, in: Le Raisonnement Juridique, (Actes du congrès mondial de philosophie du droit et de philosophie sociale) Bruxelles 1971, p. 571.

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vorgegebenen Rechtsnormen begründete Einzelentscheidungen gewinnt. Das würde in der bürgerlichen Gesellschaft die Unterordnung der Arbeiterklasse unter das Klassenrecht der Bourgeoisie rechtfertigen. Folglich darf das Recht der bürgerlichen Gesellschaft nicht außerhalb der juristischen Argumentation von Marxisten liegen, es unterliegt vielmehr ihrer Kritik wie die Gesellschaft, die es hervorgebracht hat und der es dient. Jedes juristische Argumentationsinstrumentarium, das nicht die in der Eigentumsstruktur der Gesellschaft liegenden Wurzeln des Rechts aufzudecken in der Lage ist, leistet Verzicht auf die Entschleierung der Welt, was wiederum selbst ideologischer Ausdruck reaktionärer Klasseninteressen ist. Eine wissenschaftliche Rechtstheorie kann daher nicht darauf verzichten, Methoden für die Ausarbeitung von (generellen und speziellen) juristischen Entscheidungen zu entwickeln, die den gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten entsprechen, sowie Kriterien aufzustellen, mit deren Hilfe Rechtsnormen und Gerichtsurteile auf ihre Gesetzlichkeit wie auf ihre Fortschrittlichkeit überprüft werden können1. Was der Rechtswissenschaft also nottut, ist eine Methodik, die den Weg zur Wahrheit ebnet, die es gestattet, der gesellschaftlichen Wirklichkeit in umfassender Weise immer neue, tiefergreifende Erkenntnisse abzuringen, deren Wahrheitsgehalt zu beweisen und deren Anwendung zu ermöglichen. Diesen Anforderungen genügt nur die materialistische Dialektik2. Und das deshalb, weil sie — gleichermaßen als Lehre von der Entwicklung der objektiven Realität und des Denkens — die sich tatsächlich vollziehenden Bewegungsformen der wirklichen Welt widerspiegelt. Es gibt keine andere wissenschaftliche Methodenlehre, die ihre Anwender zu einer konkreten und allseitigen, auf die widersprüchliche Entwicklung orientierenden, die Praxis als Wahrheitskriterium anerkennenden Untersuchung ihres Forschungsobjekts befähigt und die sich selbst zugleich als weiterentwicklungsbedürftig empfindet3. Der materialistischen Dialektik sind die Einseitigkeiten von bestenfalls Stückwerk liefernden demonstrativen oder argumentativen Methoden schon deshalb fremd, weil sie sich als bewußt gewordenen Widerschein einer in ihrer Materialität einheitlichen Welt empfindet. Daher gestaltet übrigens der Materialist auch die Methoden des Erfindens und die des Beweisens als eine Einheit4. Daraus ergibt sich aber auch, daß die rechtssoziologischen, rechtslogischen, rechtsvergleichenden und rechtskybernetischen Methoden nur dann leistungsfähig sind, wenn sie auf der Grundlage der materialistischen Dialektik ausgearbeitet und einge1 Vgl.: H. Klenner, Über die Rechtfertigungsnotwendigkeit generalisierter juristischer Entscheidungen, ebenda, S. 501 f f . 2 D. A. Kerimow, V. A . Tumanow, Das „juristische Denken" und die Methodologie der Rechtswissenschaft, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 7 (Die juristische Argumentation, Vorträge des Weltkongresses für Rechts- und Sozialphilosophie), 1972, S. 9 3 f f . 3 W . I. Lenin, Werke, Berlin 1961, Bd. 32, S. 85. 4 P. W . Kopnin, Der Übergang vom wahrscheinlichen zum sicheren Wissen, in: Logik der wissenschaftlichen Forschung, Berlin 1969, S. 228ff.

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setzt werden. Nicht daß der Marxismus von einem „furor mathematicus" befallen wäre, aber jede Verselbständigung von Teilmethoden steht im Widerspruch zur Wahrheitsanforderung und führt früher oder später auch praktisch in die Irre. Die juristische Topik ist keine Modeströmung von kurzer Lebensdauer. Zwar nicht in ihrer strengen, sich apodiktisch von anderen Richtungen unterscheidenden Ausprägung, die sie von ihren Begründern erfahren hat, aber als anregendes Gedankendepot steht sie den anderen Richtungen der bürgerlichen Rechtsideologie zur Verfügung. Und diese machen von der topischen Denkweise inzwischen auch reichlich Gebrauch 1 . Warum aber besteht ein solches Bedürfnis nach solch einer Ideologie? Die Erklärung hierfür liegt in dem heutigen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft und den sich aus ihm ergebenden Anforderungen an die Handhabung des Rechts. Die Zeiten sind endgültig vorbei, in denen die Bourgeoisie sich der Hoffnung hingeben konnte, im Vollzug von kodifizierten Normensystem langfristig ihren Mehrwert zu realisieren. Damit ist das Kredo des juristischen Altpositivismus, nach dem das Recht ein „lückenloses Netz von Normen sei" 2, auslegungsfähig nach eingefahrenen Regeln von gewohnheitsrechtlichem Rang, dahin. Allgemeine Geschäftsbedingungen haben ganze Normenbündel des BGB zu zweitklassigem Recht degradiert, Kartell- und Konzernverträge haben das Marktmodell des Schuldrechts weithin ausgeschaltet, durch Regulierungsmaßnahmen umfassender Art und wechselnden Inhalts versucht der staatsmonopolistisch gewordene Kapitalismus der permanent gewordenen Krisensituation Herr zu werden. Der Labilität des kapitalistischen Systems von heute, dem Sich-Anpassen-Müssen an das internationale Kräfteverhältnis, den aus der Krise des Valuta- und Finanzsystems entspringenden Reaktionsnotwendigkeiten, der Verschärfung des inneren Klassenkampfes sind die eingefahrenen Verfahrensmethoden auch der Gerichte zum Opfer gefallen. Nicht bloß (aber auch) unter dem Einfluß des anglo-amerikanischen Fallrechts ist das Postulat in der Versenkung verschwunden, nach dem der Richter bloß Diener des Gesetzes und sein Urteil voraussehbar sein solle. Längst gehen, und anerkannt, die richterliche und die gesetzgebende Funktion ineinander über. Die klassische, auf den Beginn des vorigen Jahrhunderts zurückgehende, strenge Auslegungstheorie Savignys 3 hat sich dem bereits mit der Freirechtsschule einsetzenden Ansturm nunmehr endgültig nicht mehr gewachsen gezeigt. Nichts hält mehr und nichts ist mehr fest. Die neueste Untersuchung verfassungsrechtlicher Arbeitsmethoden anhand der Judikur des Bundesverfassungsgerichts und der einschlägigen überreichlichen Literatur hat zu der Einschätzung geführt, daß man sich einem „Chaos von Altem und 1 Etwa: St. Jörgensen, Recht und Gesellschaft, Göttingen 1971, S. 1 0 6 f f . 2 So: K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Leipzig 1892, S. 385. Vgl. auch: H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, in: Zur Geschichte des Privatrechtsystems, Frankfurt/M. 1962. 3 F. C. Savigny, Juristische Methodenlehre (1802/03), Stuttgart 1951, S. 1 8 f f . ; F. C. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Berlin 1840, Bd. 1, S. 206ff.

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Neuem", einer nur im „Einzelfall durch Entscheidung pragmatisch zu klärenden Verw orrenheit" gegenübersieht 1 . Eine topisch betriebene Jurisprudenz — das ist ihr großes Plus — bietet ein reichhaltiges Methodeninstrumentarium 2 , das seinem Benutzer gestattet, anpassungsfähig zu bleiben und den rasch wechselnden Anforderungen und Kräfteverhältnissen durch eine differenzierte, wenn es not tut sich auch selbst korrigierende Spruchtätigkeit Rechnung zu tragen. Die Topik erleichtert Kursänderungen der staatlichen Führungsorgane und deren Lavieren. Unter ihrer „Rationalitätsfürsorge kann die Flexibilität parlamentarischer und Justiztätigkeit mit einem Minimum an Begründungsaufwand, mit einer „Trivialideologie" hergestellt werden. (Dieser Einschätzung widerspricht übrigens nicht die geäußerte Kritik an der Topik, daß sie auf einer statischen Weltauffassung beruhe 3 , denn der von ihr argumentativ abgesicherte Handlungsspielraum gilt jedenfalls nicht den vorwärtsdrängenden Kräften.) Der bisher entwickeltste Topoi-Katalog 4 — insgesamt 64 Stück — verdeutlicht diese Einschätzung. Da werden in heiterem Nebeneinander angeführt: „in dubio pro reo" (Nr. 9) „einmal ist keinmal" (Nr. 10), „Paragraph 254 BGB" (Nr. 24), „Interesse" (Nr. 58) und „sozialer Schutz" (Nr. 60). Mit diesen und den anderen Topoi von ähnlicher Güte, deren Struktur als allgemein, vag, überzeugend, vernünftig, gerecht und brauchbar bezeichnet wird, soll nun der Weg zum richtigen Recht gefunden werden. In Wirklichkeit belegt diese Eklektik — das empfinden seine Erfinder nicht einmal als Vorwurf, nicht umsonst haben sie die Prinzipienlosigkeit auf ihr Panier geschrieben — die Einbuße einer auf einem Weltbild beruhenden Ordnungskonzeption. Sie gestattet ihnen, eine an Willkür grenzende Rechtsprechung als rational auszugeben. Der Zweifel der juristischen Topik scheint nicht von jener Art zu sein, die zur Verzweiflung führt. „Das wirklich Bleibende", schreibt jedoch Viehweg 5 , „ist immer nur die Grundaporie". Um dieser Gelegenheitswendung eine grundsätzliche Bedeutung zu geben : Für die bürgerliche Gesellschaft gehört die Ausweglosigkeit tatsächlich zum wirklich Bleibenden — jedenfalls solange sie selbst bleibt! 1 Fr. Müller, Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts, in: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, 11. Lieferung, Methoden der Rechtswissenschaft, Teil I, München 1972, S. 140. 2 Vgl. : Ch. Perelman — L. Olbrechts—Tyteca, Traité de l'Argumentation, Bruxelles 1970, p. 251 ff. 3 Th. Rasehorn, Im Namen des Volkes, Neuwied 1968, S. 133. 4 G. Struck, Topische Jurisprudenz, Frankfurt/M. 1971, S. 2 0 f f „ ähnlich eklektisch H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, München 1964, S. 4 1 8 f . 5 Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, München 1969, S. 70. Vgl. Klenner, Überlegungen eines Rechtstheoretikers, in: Staat und Recht, 1975, S. 1405.

3. Der Justizmord als vollendete Rechtmäßigkeit Zur Reinen Rechtslehre

Dies Positive ist das Negative der Vernunft Hegel

Die hervorstechende Rolle der Reinen Rechtslehre unter allen anderen Strömungen und Tendenzen bürgerlichen Rechtsdenkens liegt wohl darin begründet, daß sie die dienstälteste und zugleich konsolidierste ist. Auch nach ihrem Ausbreitungsgrad rangiert sie (noch) an der Spitze. Wurde doch vor wenigen Jahren erst von prominenter Seite behauptet, daß Kelsen so eine Art „Weltimperium" begründet habe 1 (Die Wirkungsgeschichte Kelsens verweist diesen rhetorischen Überschwang jedenfalls nicht von vornherein in den Lächerlichkeitsbereich.) Drei Gründe sind es vor allem, die einen marxistischen Juristen geradezu verpflichten, eine sowohl umfassende als auch scharfe Kritik des theoretischen Lebenswerkes von Hans Kelsen, zweifellos einem der fruchtbarsten Rechtsphilosophen dieses Jahrhunderts — wenn man einen ausschließlich quantitativen Maßstab anwendet —, zu liefern 2 . Zunächst hat Kelsen seit den zwanziger Jahren — nach dem zweiten Weltkrieg extrem verschärft — den Marxismus, wie er in Theorie und Praxis sich entwickelt hat, mit einer Aufdringlichkeit angegriffen 3 , die zwar mit Sachkenntnis nicht gepaart ist, aber es höchste Zeit werden läßt zurückzuargumentieren. Sodann fordert die Reine Rechtslehre die marxistische Rechtstheorie auch dadurch besonders heraus, als die von ihr entwickelte Methodik jedes Recht, also auch das sozialistische Recht, erfassen zu können beansprucht Diese Einmischung eines bürgerlichen Denkers in die Angelegenheiten einer ihm fremd gebliebenen Welt gilt es zurückzuweisen. 1 R. Marcic, in: Philosophie huldigt dem Recht, Wien 1968, S. 18. Vgl. auch: E. A. Kramer, Zwei Festschriften für Hans Kelsen, in: Rechtstheorie, 1973, S. 73ff., sowie die ebenda, S. 90 abgedruckte Notiz von der Gründung eines Kelsen-Instituts. 2 Nachfolgende Gedankenführung lag einem Vortrag zugrunde, der im Januar 1973 auf Einladung der Kommunistischen Studentengruppe Salzburg an der dortigen Universität gehalten wurde. 3 H. Kelsen, Sozialismus und Staat, Leipzig 1920; Marx oder Lassalle, Leipzig 1924; H. Kelsen, The Political Theory of Bolshevism, Berkeley 1948; Kelsen, The Communist Theory of Law, New York 1955. Dazu: U. Cerroni, Marx und das moderne Recht, Frankfurt/M. 1974, S. 1 3 7 f f . 4 H. Kelsen, in: Giacometti-Festgabe, Zürich 1953, S. 143f. Ähnlich bereits in der Vorrede der von ihm herausgegebenen antibolschewistischen Abhandlung von B. Mirkin-Getzewitsch, Die rechtstheoretischen Grundlagen des Sowjetstaates, Leipzig 1928, S. IV.

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Und schließlich wird immer wieder behauptet, daß die von der Reinen Rechtslehre entwickelten Erkenntnisse (auch) mit dem Marxismus vereinbar, ja in ihn integrierbar seien. Ein neuerdings scharfsinnig geführter Nachweis, daß Kelsens Ideologiekritik (wie könnte es auch anders sein) selbst ideologisch sei, enthält die salvatorische Klausel, man müsse Teilrichtigkeiten Kelsens in einer sozialistischen Theorie bewahren1. Kelsen wurde als Verbündeter des Marxismus gegen Klerikalismus und Metaphysik charakterisiert und die von ihm entwickelte erkenntnismäßige Einheit allen Rechts als korrespondierende Einsicht mit der von Marx und Lenin herausgearbeiteten Erkenntnis von der materiellen Einheit der Welt erklärt 2 . Auch insofern ist eine Klarstellung der Fronten einfach ein primitives Gebot wissenschaftlicher Sauberkeit. Die Reine Rechtslehre behauptet die absolute Eigengesetzlichkeit des Rechts. Ihre Generalthese — gewissermaßen ihre differentia spezifica zu anderen Arten juristischen Grundlagendenkens — lautet, daß Normen immer nur aus Normen ableitbar seien3. Danach gebe es keine kausalgesetzlichen Beziehungen zwischen Recht und Gesellschaft. Das verhindere schon die undurchdringbare Mauer, die das Sollen vom Sein trenne; die Sollgeltung des Rechts lasse sich nicht durch Rationalität erschleichen. Wissenschaftlich gesehen sei das Recht ein sowohl unhistorisches als auch asoziales Phänomen. Das Recht wird nur ohne Ursachen und ohne Wirkungen, ungeboren und kastriert, als Forschungsobjekt zugelassen. Da Kelsen das empirisch erfahrbare Recht, dessen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte — wie unzulänglich auch immer — auf Gesetzmäßigkeiten hin von anderen untersucht worden ist, aus seinen Überlegungen qua definitione ausklammert, spricht er eigentlich nicht über das Recht, sondern über ein von ihm erfundenes Gedankengebilde, dem eine Nullklasse in der Realität entspricht und das man, um Verwechselungen vorzubeugen, besser auch anders, etwa „Necht" bezeichnen sollte. Nun ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, daß jemand ein Phantasieprodukt, und wenn es sein eigenes ist, zu erforschen beginnt. Die Fortschrittsgeschichte der Menschheit verdankt etwa der Religionskritik — die Götter wohnen in den Lücken unseres Wissens von der Welt, hieß es schon bei Hpikur — ganz Außergewöhnliches. Das ist aber nicht Kelsens Position. Vielmehr hält er ein anderes als das von ihm der Wirklichkeit unterlegte Objekt rechtstheoretischer Forschung für wissenschaftlich unmöglich. Es könne keine realistische Rechtswissenschaft, d. h. keine empirische Erkenntnis des Rechts geben, 1 R. Römer, in: Politische Vierteljahresschrift, 1971, S. 598. 2 A. Frisch, in: Zukunft, Wien 1971, S. 23. 3 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1967, S. 1 9 6 f f . ; vgl. auch den im Anhang vorliegender Studie (S. 144ff.) abgedruckten Quellentext zur Reinen Rechtslehre. Eine marxistische Analyse des Dualismus von Sein und Sollen bietet V . Peschka, Grundprobleme der modernen Rechtsphilosophie, Budapest 1974, S. 24.

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heißt sein Verdikt 1 und: ein soziologischer Begriff des Rechts gleiche einem sittlichen Begriff des freien Falls 2 . Der Ausschließlichkeitsanspruch der Reinen Rechtslehre läßt weder andere Ergebnisse noch einen anderen Untersuchungsgegenstand gelten (wenn es mit wissenschaftlichen Dingen zugeht). Daher geht der oft geäußerte Einwand, daß die Wahl des Forschungsobjektes willkürlich sei — Walter 3 : jeder Lehre stehe es frei, ihren Betrachtungsgegenstand zu bestimmen — am Problemkern vorbei. Kelsen verspricht nämlich nicht innerhalb einer arbeitsteilig organisierten Rechtswissenschaft einen Teilabschnitt zu bewältigen. Vielmehr macht er sich anheischig, alles zu liefern, was auf dem Felde der Rechtstheorie re.chxsmssenschaftlich überhaupt geleistet zu werden vermag. Kelsen spricht — nach seiner Intention — das endgültig letzte Wort. Der von der Reinen Rechtslehre zum System ausgebauten Auffassung von der Reinigung der Rechtsbetrachtung von allem Soziologischen, Historischen, Psychologischen und Politischen hat bereits Karl Renner vorgearbeitet und ihr den Weg in den Revisionismus geebnet. Seine These, daß der Jurist genauso wenig die Wirkung des Rechts zu untersuchen habe wie der Botaniker die wirtschaftliche Verwendung des Tabaks 4 , kann nur verheerende Folgen zeitigen. Ganz ähnlich ist es mit Frantisek Weyrs (einem Vorläufer und Gefolgsmann Kelsens) Auffassung, daß der Jurist, der sich mit der Genesis des Rechts befasse, dabei ebensowenig Jurist sei wie beim Flöteblasen 5 . Es geht hier wohlgemerkt nicht um Rangfolgen und Prioritäten. Nicht um die Frage etwa, welche von verschiedenen möglichen Untersuchungen dringlicher als jede andere ist. Es geht auch nicht um moralische Bewertungen. Etwa — um ein Bild Dürrenmatts aufzugreifen 6 — darum, ob es angebracht ist, sich als Chemiker vor Schnapsbrennern über die chemische Zusammensetzung des Alkohols zu äußern, statt die schädliche Wirkung der Schnäpse auf den menschlichen Organismus zur Sprache zu bringen. Die Rechtstheorie steht vor einer solchen Wahl nicht, wenn sie ihrem wissenschaftlichen Auftrag gerecht werden will. Der von der Reinen Rechtslehre bis zum Substanzverlust des Rechts betriebene Purismus befindet sich im Gegensatz zu all den wichtigen Erkenntnissen von Aristoteles bis Hegel, die gerade in der Herausarbeitung von Gesetzmäßigkeiten des in der Gesellschafts- oder Geistes/o/a/z'/aV eingebetteten Rechts unverzichtbare Fort1 H.Kelsen, in: österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 10, S. 2 (1959/60), Mit der Meinung, eine empirische Wissenschaft vermöge niemanden zu lehren, was er soll• steht Kelsen in der Nachfolge Marx Webers; vgl. dessen Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1951, S. 151. 2 H. Kelsen, in: Archiv für Sozialwissenschaft, 1915, S. 876. 3 R. Walter, Der gegenwärtige Stand der Reinen Rechtslehre, in: Rechtstheorie, 1970, S. 75f. 4 K. Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts (1904), Stuttgart 1965, S. 52. Den Beitrag Kelsens für eine revisionistische Rechtsbetrachtung behandelt N.Leser, in: Law, State änd International Legal Order, Knoxville 1964, p. 189. 5 F. Weyr, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht, Bd. 40, S. 182. 6 F. Dürrenmatt, Monstervortrag, Zürich 1969, S. 113. 46

schrittsstufen markierten1. Auch auf rechtsphilosophischem Terrain darf die IX. Symphonie nicht ungestraft zurückgenommen werden. Und hier gerade zeigt sich die Unvereinbarkeit der Reinen Rechtslehre mit einer auf dem Boden des Marxismus beruhenden Rechtstheorie. Denn Karl Marx, ein studierter Jurist, hat als selbstverständliches Element seiner Weltanschauung das Recht als soziales und historisches Phänomen in seine ökonomisch-philosophischen Forschungsarbeiten einbezogen. Gemeinsam mit Friedrich Engels untersuchte er überdies2, unter welchen Bedingungen „reine" Theorien entstehen können und sich das menschliche Bewußtsein einzubilden vermag, „wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen". Ihren umwälzenden Beitrag zur Geschichte der Rechtsphilosophie haben Marx und Engels dadurch geleistet, daß sie den materiell determinierten Inhalt des Rechts aufdeckten : Die ökonomischen Lebensbedingungen der politisch herrschenden Gesellschaftsklasse bilden ihren Willen und dieser wird von ihren staatlichen Machtorganen in verbindliche Rechtsnormen transformiert3. Das Recht ist für sie keine Summe künstlich geschaffener Vorschriften. Es ist Klasserwz7/i, nicht -Willkür ! Es widerspiegelt vor allem die Eigentumsverhältnisse innerhalb der Gesellschaft, die zu regulieren seine wichtigste soziale Funktion ist. Die gesellschaftsordnende Rolle des Rechts dient zur Aufrechterhaltung der Existenzbedingungen der herrschenden Klasse. In ihrem Interesse liegt es, die beständige Reproduktion der ökonomischen Grundlage ihrer Gesellschaftsordnung zu sichern und daher die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte unter einheitliche Regeln zu fassen. Das Recht ist nur als normatives Produkt und Element der Gesellschaft sentwidgAurig angemessen zu analysieren. Daher auch die bekannten, wennschon oft mißverstandenen Zuspitzungen, daß das Recht wedereine eigene Geschichte habe noch in sich selbst einer systematischen Darstellung fähig sei4. Aus dem Vorangegangenen ergibt sich, daß die marxistische Kritik an der positivistischen Rechtstheorie eine Totalkritik ist. Sie gibt sich also nicht mit Meinungen zufrieden, wie sie etwa von Arthur Kaufmann5 oder von limar Tammelo6 geäußert wurden, nach denen die Reine Rechtslehre eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung der Rechtsbeschreibung bezeichne. Die Reine Rechtslehre ist keine Rechtstheorie mit begrenzter Reichweite ; vielmehr macht sie es ihrem Total- wie ihrem Partialadepten unmöglich, zu richtigen Auffassungen über das Wesen des Rechts zu gelangen. 1 Vgl.: W . R.Beyer, Das Reinheitspostulat in der Rechtsphilosophie, Köln 1973. 2 MEW, Bd. 3, S. 31. 3 Vgl. Marxistisch-leninistische allgemeine Staats- und Rechtsheorie, Moskau 1970, Bd. 1, S. 361 ff., Bd. 4, S. 1 3 0 f f . (russ.), sowie V. M. Chikhkvadze (ed.), The Soviet State and Law, Moskau 1969, p. 188f. 4 MEW, Bd. 3, S. 63, 539; Bd. 21, S. 302; Bd. 39, S. 97. 5 A. Kaufmann, W . Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1971, S. 51. 6 I. Tammelo, Rechtslogik, Frankfurt/M. 1971 S. 136.

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So die allgemeine Einschätzung der positivistischen Denkweise durch Rosa Luxemburg1, aus gegebenem Spezialanlaß hier wörtlich wiedergegeben: „Gewiß, auch in Deutschland hat die offizielle Wissenschaft eine bestimmte positive Funktion zu erfüllen. Die moderne Staatsmaschinerie ist nicht mehr so einfach wie die Verwaltungen der Schafherden der Erzväter Abraham und Jakob, der Bürokrat allein vermag das weitverzweigte Gebiet der sozialen Wirtschaft nicht zu beherrschen, und als natürliche Ergänzung des Bürokraten in der Kanzlei tritt der deutsche Professor auf dem Katheder hinzu, der theoretisierende Bürokrat, der den lebendigen Stoff der sozialen Wirklichkeit in die kleinsten Fasern und Partikelchen zerpflückt, nach bürokratischen Gesichtspunkten umordnet und rubriziert und so abgetötet als wissenschaftliches Material für die verwaltende und gesetzgebende Tätigkeit der Geheimräte abliefert. Diese fleißige Atomisierungsarbeit, die es erreicht, das Bild des sozialen Lebens wie in einem in tausend Splitter zertrümmerten Spiegel wiederzugeben, ist zugleich das sicherste Mittel, alle großen sozialen Zusammenhänge theoretisch aufzulösen und den kapitalistischen Wald hinter lauter Bäumen .wissenschaftlich' verschwinden zu lassen." Die rechtstheoretischen Auffassungen Hans Kelsens sind falsch. Aber diese Charakterisierung reicht nicht aus. In der Welt von heute spielen theoretische Konzeptionen (in relativer Unabhängigkeit von der Absicht ihrer Autoren) eine progressive oder reaktionäre Rolle, je nachdem, welche Klasseninteressen sie ausdrücken, welchen Beitrag sie leisten zum Übergangsprozeß vom Kapitalismus zum Sozialismus. Felix Ermacora, in kritischer Distanz zur Reinen Rechtslehre, meint, Kelsen vollende die Staatsauffassung des Liberalismus, er stehe in der Nachfolge Rousseaus2. Abgesehen davon, daß Rousseau sich wohl weniger als Stammvater des Uberalismus denn als Theoretiker eines bürgerlich-revolutionären Demokratismus ins Buch der Geschichte schrieb, Kelsen hat auch mit dem Liberalismus höchstens so viel gemein, daß er dessen Verfallsphase auszugestalten geholfen hat. Das zeigt sich besonders eindeutig in der Wendung, die Kelsen der bürgerlichliberalen Auffassung vom Rechtsstaat gibt. Wie kompromißlerisch auch immer, in den Forderungen nach Selbsteinschränkung des Staates durch sein Recht, nach Bindung von Exekutive und Justiz an Parlamentsgesetze, nach Bindung des parlamentarischen Gesetzgebers an die Verfassung und das Völkerrecht — und nichts anderes enthielt die Rechtsstaatskonzeption — waren zweifellos progressive Momente enthalten. Indem Kelsen aber den Terminus „Rechtsstaat" zu einem Pleonasmus und damit jeden Staat zu einem Rechtsstaat erklärt3, verzichtet er darauf, die zentralen politischen Forderungen des Liberalismus geltend zu machen. Er entzieht ihnen im 1 R.Luxemburg, Im Rate der Gelehrten, in: Gesammelte Werke, Berlin 1970, Bd. 1, zweiter Halbband, S. 388. 2 F. Ermacora, Allgemeine Staatslehre, Berlin(West) 1970, S. 1 3 0 f f . Anderer Meinung ist übrigens auch Kelsen selbst (in: Juristische Wochenzeitschrift, 1929, S. 1724). 3 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Bad Homburg 1966, S. 91.

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Gegenteil den Boden. Und daher dürfte es fragwürdig sein, die Reine Rechtslehre für eine liberale Theorie auszugeben. Erich Fechner, der zu den wenigen bürgerlichen Denkern gehört, die sich überhaupt an eine soziale Analyse der rechtstheoretischen Konzeption Kelsens wagten, hält dessen Theorie für eine Begünstigung des Besitzbürgertums1. Da Kelsen seine Theorie für immergültig und jenseits aller Klassenbezüge stehend ausgibt, verdient solch ein Versuch Beachtung, zwischen einer sich zeit- und klassenlos gebärdenden Theorie und einer im Irdischen profitierenden Gesellschaftsklasse Zusammenhänge aufzudecken. Gleichwohl führt dieser Versuch nicht zum Ziel. Fechners Bemerkungen treffen wohl Wesentliches am Gedankengut des juristischen Altpositivismus, wie er in Deutschland nach der verlorengegangenen Revolution von 1848 insbesondere von Gerber und Windscheid ausgearbeitet wurde. Diese und die anderen juristischen Altpositivisten zielten — wie Fechner Kelsen unterstellt — in der Tat auf „Berechenbarkeit" und „Voraussehbarkeit" innerhalb der vorgegebenen Rechtsordnung, kurzum auf Rechtssicherheit als höchsten Wert. Daß dieser Sachverhalt primär die Interessenlage der damaligen deutschen Bourgeoisie widerspiegelt, ihre Bereitschaft, sich politisch dem regierenden Adel unterzuordnen, wenn dieser die kapitalistische Ausbeutung garantiere, ist in der Tat kaum zu leugnen. Aber „Berechenbarkeit" und „Voraussehbarkeit" sind im Vokabular der Reinen Rechtslehre nicht mehr anthalten. Ganz im Gegenteil. Kelsen legitimiert die Unberechenbarkeit, die Unvorhersehbarkeit im Rechtsprozeß. Er leugnet die logische Ableitbarkeit etwa der Gerichtsurteile aus gesetzlichen Bestimmungen und eröffnet damit jeder beliebigen staatlichen Willkür einen „korrekten" Weg. Kelsen verneint ausdrücklich die Anwendungsmöglichkeit logischer Prinzipien (auch nicht im Wege der Analogie) im Recht2. Von dieser Auflösung eines nach altpositivistischer Manier konstruierten, immerhin gesetzlichkeitsfundierenden Normbegriffs ausgehend, läßt es sich Kelsen nicht nehmen, den Staat ausdrücklich mit „rechtlicher Unfehlbarkeit" zu krönen3. Sein Schüler Merkl zog aus der von Kelsen behaupteten Denkunmöglichkeit eines Staatsunrechts die brutale Schlußfolgerung4, daß es Aufgabe der Rechtstheorie sei, den „Justizmord als vollendete Rechtmäßigkeit darzustellen" ! Die Reine Rechtslehre erweist sich somit als eine Legitimationstheorie der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem zeitgenössischen Entwicklungsstadium. Obschon Kelsen — wie zutreffend bemerkt wurde 5 — nichts unbarmherziger attackiert hat als „Ideologien" innerhalb von Rechtstheorien, hat er selber eine der juristischen Standatdideologien in der bürgerlichen Welt von heute geliefert. Seine angeblich von 1 2 3 4

E. Fechner, in: Ideologie und Recht, (Herausgeber: W . Maihofer), Frankfurt/M. 1969, S. 99. H. Kelsen, Recht und Logik, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Wien 1968, S. 1 4 6 9 f f . H. Kelsen, in: Zeitschrift f ü r das Privat- und öffentliche Recht, Bd. 40, S. 114. A . Merkl, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Wien 1968, S. 1196.

5 C. K . Allen, Law in the Making, Oxford, 1951, p. 45. 4 Elenner, Rechtsphilosophie

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allem Politisch-ideologischen gereinigte und daher angeblich Keine Rechtslehre ist tatsächlich eine Theorie imperialistischen Charakters1. Denn Kelsens Variante eines rechtsphilosophischen Neopositivismus widerspiegelt grundlegende Bedürfnisse des regierenden Monopolkapitals, indem er a) die Unterordnung des Volkes unter den vorhandenen Staatsapparat bei gleichzeitiger Vortäuschung demokratischer Verhältnisse rechtfertigt und b) die Regulierungsbestrebungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus bei gleichzeitiger Verschleierung des Klassencharakters der Gesellschaftsordnung begünstigt. Am konzentriertesten kommt der Klassencharakter der Reinen Rechtslehre2 in der These Kelsens zum Ausdruck, daß das Recht einen beliebigen Inhalt haben könne und es daher dem Gesetzgeber frei stehe, den Inhalt seiner Rechtsordnung zu wählen3. Freilich möchte sich Kelsen vor einer Verantwortungsübernahme für den Rechtsinhalt drücken. Aber jeder Verzicht auf inhaltliche Kritik am Recht involviert die Aussage, daß der Aussagende das geltende Recht inhaltlich billigt und daher davon Abstand nimmt, es zu kritisieren4. Es legimitiert die kleinbürgerliche Flucht vor der Härte des Klassenkampfes in die scheinneutrale Welt des eigenen Winkels — eine nicht gering zu veranschlagende Unterstützung für die Inhaber der Staatsmacht! Indem der rechtsphilosophische Normativismus das factum brutum der bürgerlichen Gesellschaft als wissenschaftlich nicht erörterungsfähige Voraussetzung alles weiteren Denkens behandelt, leistet er einen entscheidenden Beitrag zur Macht des Kapitals. Seine Anhänger haben, ob sie das nun wissen oder nicht, vor der nackten Gewalt der Tatsachen, jedenfalls als Wissenschaftler, kapituliert. Ihre Analyse des bourgeoisen Rechts dient objektiv seiner Legitimation. Diese von der Reinen Rechtslehre betriebene Rechtfertigung des Rechts erstreckt sich wohlgemerkt sowohl auf die Produkte der Legislative wie auf die der Exekutive und der Justiz. Und zwar nicht nur in dem Sinn, daß die Zuständigkeiten der Verwaltungs- und Gerichtsorgane formal korrekt aus dem Stufenbau der Rechtsordnung abgeleitet, sondern auch insofern, als die Legalitätsgrenze für freies Exekutiv- und Justizermessen durchlässig gemacht wird. So endet etwa Kurt Ringhofers rechtstheoretisch brisante Analyse5 der ziemlich eindeutig erscheinenden Verfassungsnorm „Nachgeordnete Organe können eine Weisung zu befolgen ablehnen, wenn die Befolgung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würde" mit der resignativen Bemerkung, es gebe nicht die geringste Richtlinie für die Entscheidung im Einzel1 So: J. Wroblewski, Kritik der normativistischen Rechts- und Staatstheorie, Warschau 1955 (polnisch), S. 354, vgl. auch W . S. Petrow, L. S. Jawitsch (ed.), Allgemeine Rechtstheorie, Leningrad 1974, S. 167 (russ.). 2 Ausführlich: H. Klenner, Rechtsleere, Berlin (und Frankfurt/M.) 1972, S. 4 7 f f . Dagegen: W. Schild, in: Der Staat, 1975, S. 6 9 f f . 3 H. Kelsen, in: Festschrift für H.C. Nipperdey, München 1965, Bd. 1, S. 59. 4 Insoweit zutreffend: K. Adomeit, in Zeitschrift für Rechtspolitik 1970, S. 176f. 5 K. Ringhofer, Die strafgesetzwidrige Weisung, in: Festschrift für A. Merkl, Münchcn 1970, S. 331 f.

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fall, ob Recht ist, was Recht zu sein behauptet; daher könne der Weisungsempfänger nur eine höchstpersönliche Gewissensentscheidung fällen, die aber sei einer objektiven Kritik schlechterdings unzugänglich! Es gehört zu den Irrungen und Wirrungen einer anarchistoiden Betrachtungsweise, von der bürgerlichen (zum Beispiel der BRD) Justiz zu behaupten, sie sei zu einer blanken, unbegründenden Gewalt im Dienste des Kapitals geworden, da sie ihre Legalität nicht mehr zu legitimieren vermöge. So in ehrenwerter, aber nichtsdestoweniger verfehlter Radikalität Hans-Jürgen Krahl1. Aus dieser Sicht müßte sich eigentlich mehr als Verwunderung über die Zählebigkeit des verbreiteten Vorurteils ergeben, daß das Gericht berechtigt sei, Recht zu sprechen; noch immer gilt nämlich Marx' Meinung, daß unter den Illusionen, die das Volk gefesselt halten, obenan sein Aberglaube vom Richterstand stehe2. Wenn man als Linker nicht in sein Kalkül zieht, daß bürgerliche Legalität heutzutage zwar (historisch) nicht mehr legitimiert ist, aber von Meinungsmachern aller Bildungsgrade ständig legitimiert wird, muß das nicht nur zu einer Unterschätzung der juristischen Legitimationsphilosophie, sondern auch zu einer falschen Justizstrategie und -taktik linker Kräfte führen. Der Einordnung der Reinen Rechtslehre in die bürgerliche Rechtsideologie imperialistischer Prägung scheint zu widersprechen, daß sie seit ihrem Auftreten einer ständigen Kritik von rechts ausgesetzt war. Erich Kaufmann3, der seine Laufbahn mit einer Apotheose des Krieges einleitete („nicht die Gemeinschaft frei wollender Menschen, sondern der siegreiche Krieg ist das soziale Ideal") und folgerichtig als Kronjurist Adenauers endete, gehörte tatsächlich in der Weimarer Zeit zu den ärgsten Kritikern Kelsens: Kelsen korrigiere Halbwahrheiten, hieß es, aber in die falsche Richtung; er sei unfähig, das materialistische Gift des Marxismus (!) zu paralysieren, da er nicht an die „mystische Tiefe des deutschen Geistes" glaube, usw. usf. Mit Carl Schmitt, dem späteren juristischen Chefideologen der Nazifaschisten, war Kelsen mehr als einmal literarisch aneinandergeraten4. Und einer der aufdringlichsten Vertreter des militanten Klerikalismus, Ernst von Hippel, betrachtet den Rechtspositivismus als im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß abgeurteilt, da Kelsen für die Massenmorde und Konzentrationslager Hitlers (ideologisch) verantwortlich sei5. 1 H.-J. Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/M. 1971, S. 26. 2 MEW, Bd. 6, S. 138. 3 Zum Folgenden: E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts, Tübingen 1911, S. 146; Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Berlin 1927, Heft 3, S. 22; E. Kaufmann, Gesammelte Schriften, Göttingen 1960, Bd. 3, S. 230, 242ff. Zu Kaufmann: R. Meister, in: Staat und Recht, 1960, S. 1834ff. 4 Vgl.: C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1 9 3 1 ; H. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung' sein, Berlin 1931. Ch. v. Krockow (Die Entscheidung, Stuttgart 1958, S. 65) versucht nachzuweisen, daß Kelsen und Schmitt trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen zum gleichen Ergebnis führen. 6 E. v. Hippel, Allgemeine Staatslehre, Berlin(West) 1963, S. 154; Hippel, Die positivistische 4*

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Dabei hofft Hippel wahrscheinlich auf das kurze Gedächtnis der Mitwelt; denn er selbst (nicht Kelsen) hatte einst Hitler als Beleg dafür ins Feld geführt, wie sich „deutsches Wesen" vom Materialismus abzugrenzen habe1. Nun soll nicht etwa das Vorhandensein von Widersprüchen innerhalb der bürgerlichen Rechtsideologie geleugnet werden. Sie sind auch nicht nur eine Frage der Erscheinung oder der Oberfläche. Sie spiegeln im Gegenteil tatsächlich vorhandene Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse wider, aus denen sich dann unterschiedliche strategische und taktische Auffassungen ergeben. So drücken etwa die gegenwärtigen ordoliberalen Attacken auf den juristischen Positivismus eine rechte, gewisse kleinbürgerlich-protestantische Angriffe auf den Rechtspositivismus eine linke Position innerhalb der bürgerlichen Rechtsideologie aus2. Andererseits wäre es aber töricht zu übersehen, daß es bürgerliche Theorien gibt, deren wechselseitige Ergänzungs/äÄzg&«> und Ergänzungsbedürftigkeit die These zulassen, daß es sich dabei um zumindest unbewußt arbeitsteilig operierende Theorien handelt. Und solch ein Fall ist im allgemeinen die Beziehung von Stabilisierungsideologien (unter die der Positivismus rechnet) zu den Mobilisierungsiàeoìogien. (zu denen die meisten Naturrechtslehren zu zählen sind). Im Fall der Reinen Rechtslehre sind sich die beteiligten Ideenproduzenten dieser Tatsache — wenn auch nur teilweise und aus verkehrten Gründen — durchaus bewußt. Kelsen, der sich einst damit gebrüstet hatte, daß erst durch ihn die Rechtstheorie aus dem Niveau der Theologie in die Linie der modernen Wissenschaft vorgerückt sei, bezeichnet sich inzwischen selbst als Advokat Gottes3. Und als René Marcie im Rahmen seiner klerikal-existentialen Naturrechtslehre der Reinen Rechtslehre bescheinigte, sie vollende Thomas v. Aquin und sei gleichzeitig eine Zwillingsschwester der Phänomenologie4, da empfand Kelsen sich glänzend verstanden5. Nun ist es nicht diese Art von Vereinbarkeit von positivistischer und naturrechtlicher Theorie, die den Marxisten in erster Linie bewegt. Denn im Vordergrund unseres Interesses steht verständlicherweise ihre gesellschaftlich-funktionale Gemeinsamkeit. Aber in der Auseinandersetzung besonders mit dem Rationalitätsanspruch der Reinen Rechtslehrer ist die eingestandene Verwurzelung neoposivistischer Kon-

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Staatslehre im Nürnberger Prozeß, in: Aktuelle Fragen aus modernem Recht und Rechtsgeschichte, Berlin(West) 1966. S. 35; E. v. Hippel, Mechanisches und moralisches Rechtsdenken, Meisenheim 1959, S. 180ff. E. v. Hippel, Mensch und Gemeinschaft, Leipzig 1935, S. 162. F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, S. 2 9 9 f f . ; E. Brunner, Gerechtigkeit, Zürich 1943, S. 7. H. Kelsen, Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied 1964, S. 54; in: Das Naturrecht in der politischen Theorie, Wien 1963, S. l f f . R. Marcic, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reine Rechtslehre, Wien 1966, S. 6, 39. Bereits A . Merkl (in: österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 11, S. 300) hatte Kelsen mit Augustinus analogisiert.

5 H. Kelsen, in: österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 15, S. 270.

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zeptionen, im klerikalen Irrationalismus ein Fingerzeig für allzu Leichtgläubige. Insofern sind die Bemühungen von Marcic, die Verbindungstür zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre als unverschlossen nachzuweisen, als durchaus lehrreich zu bezeichnen1. Denn der Anspruch der Reinen Rechtslehre, eine ausschließlich rationale Rechtstheorie zu liefern (und dies als einzige Rechtstheorie), bedarf sowohl der Relativierung als auch der Zurückweisung. Der Zurückweisung insofern, als der rechtspositivistische Rationalismus selbst auf Irrationalsimus beruht, also irrational ist! So wie Sir Popper für seinen philosophischen Positivismus die Priorität des Irrationalismus mit der Feststellung anerkennt, daß sich seine eigene Entscheidung für den Rationalismus auf einer irrationalen Basisentscheidung gründe2, so gesteht auch Kelsen ein, daß sein juristischer Positivismus letztlich auch charakterlich bedingten und daher undiskutierbaren Voraussetzungen beruhe, ja im „dunklen Erdreich" seiner „intuitiven Wesenschau" wurzele3. Daß man am Gängelband der Vernunft in den Abgrund mit Sicherheit gerät, wenn die Ausgangsbasis vernunftlos ist, dürfte wohl einleuchten. Aber der Rationalitätsanspruch der Reinen Rechtslehre bedarf — auf der Grundlage seiner prinzipiellen Zurückweisung — auch seiner Relativierung. Der Anspruch Kelsens, eine rationale Rechtstheorie zu liefern, beschränkt sich nämlich auf den formalen Erzeugungszusammenhang von Rechtsnormen ein und desselben Systems4. Alle Inhaltjfragen des Rechts, insbesondere natürlich die Frage, „ob man einer effektiven Ordnung gehorchen oder gegen sie revoltieren soll" 5 , liegen außerhalb dieser Sorte Rationalität. Mit seinem Dogma, alle nichtformalen, das heißt doch wohl: alle wesentlichen Rechtsprobleme als angeblich irrational, als für des Menschen Vernunft unzugänglich auszugeben, hat Kelsen weit über seine Anhänger hinaus Schule gemacht6. In modernerer Fassung liest sich das so 7 : die positiven Rechtsordnungen seien wie die Prinzipien, von denen her sie bewertet werden, „Konstruktionen der praktischen Vernunft ohne Erkenntnisanspruch", sie seien bestenfalls „kognitiv maskiert". Die wissenschaftliche Unhaltbarkeit dieser Auffassung, den ihr zugrunde liegenden 1 R. Marcic, Reine Rechtslehre und klassische Rechtsontologie, in: österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 11, S. 395ff (1961). 2 K . R. Popper, Die offene Gesellschaft, Bern 1957, Bd. 2, S. 285; Eine rechtstheoretische Konzeption auf Poppers Grundlage entwickelte K . Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, Frankfurt/M. 1972, S. 5 0 f f . sowie sein Artikel „Rechtstheorie" im Handlexikon zur Rechtswissenschaft, München 1972, S. 350ff. 3 H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. V ; H. Kelsen, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Wien 1968, S. 79, 958. 4 Ähnlich: C. E. Aichourron, E. Bulygin, Normative Systems, New York 1971, p. 178f. 5 So: R. Walter, in: Rechtstheorie, 1970, S. 81. 6 Vgl.: H. Welzel, Grenzen der Rationalität in der Rechtswissenschaft, in: Festschrift für Ernst Heinitz, Berlin(West) 1972, S. 31 ff., sowie W . A . Scheuerle, Das Wesen des Wesens, in: Archiv für die civilistische Praxis, Bd. 163, S. 429ff. (1964). 7 So: H. Albert, Erkenntnis und Recht, in: Konstruktion und Kritik, Hamburg 1972, S. 241.

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Agnostizismus nachzuweisen, ist die eine Sache1. Doch neben einer den Inhalt der Rechtsordnung verhüllenden, also ideologischen Funktion, findet gerade in der Rationalitätsauffassung des juristischen Positivismus seine administrative Funktion ihren Ausdruck. Eben darin besteht die Doppelfunktion, die zweifache Verwendbarkeit des Rechtspositivismus in der bürgerlichen Gesellschaft (und für sie): Er versucht den Herrschaftsmechanismus dieser Gesellschaft vor dem Zugriff konträrer Auffassungen und Handlungen abzuschirmen, und er liefert gleichzeitig die begrifflichen Voraussetzungen, um diesen Herrschaftsapparat funktionstüchtiger zu machen. Die formale Rationalität gehört ohne Zweifel zu den Voraussetzungen für eine optimal organisierte strukturelle Variabilität innerhalb des juristischen Normenkörpers der herrschenden Bourgeoisie. So widerspiegelt beispielsweise die von Kelsen2 vollzogene Überwindung des überkommenen Dualismus von öffentlichem und privatem Recht die für den Monopolkapitalismus charakteristische Verschmelzung von Ausbeutung und Unterdrückung : Staat und Recht schätzen nicht nur mit ihrer Gewalt die kapitalistisch betriebene Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, sie beginnen (indirekt, aber auch direkt) den gesamten gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß zu kontrollieren und zu regulieren3. Insofern liefert Kelsens Erklärung, alles Recht sei politisch, die methodologische Voraussetzung für die Erfassung und Gestaltung des kapitalistischen Zivil- und Staatsrechts als eines einheitlichen Normenkörpers. Jedoch bleibt die Reine Rechtslehre in ihrer administrativen Dienstleistungsfunktion eigentlich immer bei den Voraussetzungen einer Effektivitätserhöhung des kapitalistischen Rechts stecken. Sie stellt die Weichen, erweist sich aber als wenig geeignet, auch die Gleise in die neue Richtung zu verlegen. Da sie Gesetzgeiungspiobleme von vornherein aus ihren Überlegungen ausklammert und selbst bei der Kecbtsanwendung logisch-rationalen Überlegungen wenig Spielraum läßt, ist ihre Verwendbarkeit begrenzt, die kapitalistische Gesellschaftsregulierung leistungsfähiger zu gestalten. So ist — von rechtsradikaler Seite4 — der methodologische Ertrag der Reinen Rechtslehre für die juristische Praxis als gering bezeichnet worden. Das dürfte stimmen. So kommt es, daß bei allen Verdiensten, die sich die Reine Rechtslehre im Rahmen ihrer ideologischen Funktion für die bürgerliche Gesellschaft dieses Jahrhunderts erworben hat, inzwischen die angelsächsische Variante des juristischen Neopositivismus, die Analytical Jurisprudence, sowie die integrativen Rechtstheorien von Parsons — Luhmann der Reinen Rechtslehre in der Gunst der herrschenden Klasse den Rang abgelaufen zu haben scheinen. Kelsen war vor und nach 1933 unzweifelhaft kein Faschist. 1 Vgl.: W . P. Kasimirtschuk, Das Recht und die Methoden seiner Erforschung, Moskau 1965, S. 5 4 f f . (russ.). 2 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1967, S. 284. 3 Vgl.: Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus, Berlin 1972, S. 4 0 5 f f . 4 K. Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, Berlin 1935, S. 3 9 f f . ; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin(West) 1969, S. 72, rezensiert von W . R. Beyer, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, S. 1961, S. 638ff.

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Er stand (anders als zumindest einer seiner beiden bedeutenden Schüler) den literarischen und den handgreiflichen Angriffen der Nazis auf die bürgerliche Demokratie ablehnend, wenn auch keineswegs kämpferisch, gegenüber. Er hat nach dem Zeugnis so mancher die Glaubwürdigkeit der klerikalen Naturrechts- und der rassistischen Blut-und-Boden-Lehren erschüttern helfen1. Aber Kelsen gab sein Bekenntnis zur Demokratie nicht als Wissenschaftler ab. „Wo ich mich für Demokratie ausgesprochen habe", schreibt er vier Jahre vor Hitlers Machtantritt2, „habe ich solches Werturteil nie als Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis ausgegeben, sondern offen und ehrlich als Konsequenz einer jenseits aller Wissenschaft liegenden subjektiven Grundwertung." Diese Grundwertung in allen Ehren; aber was sollte man mit ihr im ideologischen Kampf von damals anfangen? Hat nicht die von der Reinen Rechtslehre angestrebte reinliche Unterscheidung von Mensch-Sein und Jurist-Sein3 etwas von einer Schizophrenie an sich? Als jedenfalls die randalierenden Vorreiter Heydrichs den von den Nazis vertriebenen Kelsen daran zu hindern suchten, seine Vorlesungen in Prag zu halten4, da waren es vor allem die kommunistischen Studenten, die sich vor Hans Kelsen stellten. Das hat Kelsen nicht daran gehindert, wenige Jahre, nachdem die Sowjetunion auch seine Heimat von der Nazityrannei befreit hatte, die Diktatur des Proletariats mit der faschistischen Diktatur gleichzustellen5. Und er fügte — seine einstige „Neutralität" im Kampf der Klassen endgültig aufgebend — hinzu, daß wohl nur ein kapitalistischer Staat eine wirkliche Demokratie sein könne („only a capitalist State can be a true democracy"). Solches geschah 1947, etwa zu jener Zeit also, als neben vielen anderen auch der deutsche Emigrant Bertolt Brecht vor der amerikanischen Unterdrückungskommission einem politischen Verhör unterzogen wurde. — Sicher werden gerade jene Publikationen Kelsens, deren Erkenntnissen null ist, deren Bekenntnisposition allerdings den kältesten Kriegern von damals wundervoll ins Konzept gepaßt hat, von einigen seiner heutigen Anhänger als Belastung der Reinen Rechtslehre empfunden, sie sind mehr als das. Eine — vielleicht wahre, vielleicht gut erfundene — Anekdote berichtet von einem Gespräch zwischen einem Kommunisten und Hans Kelsen in dessen Schweizer Emigrationswohnung. Man kam auf Carl Schmitt zu sprechen, der gerade Hitlers Morde in einer juristischen Zeitschrift gerechtfertigt hatte6. Solche Leute, meinte Kelsen nachdenklich, werde man später wohl erschießen müssen, wenn auch weinenden Auges. Darauf der Kommunist: Ja, wir werden ihn erschießen, und Sie das weinende Auge liefern. 1 2 3 4 5 6

H. Klenner, E. Rabofsky, Die „Reine Rechtslehre", in: Weg und Ziel, 1972, S. 329. H. Kelsen, in: Juristische Wochenschrift, 1929, S. 1724. So: A. Merkl, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Wien 1968, S. 1066. W . v. Wolmar, Prag und das Reich, Dresden 1943, S. 652. H. Kelsen, The Political Theory of Bolshevism, Berkeley 1948, p. 7, 4 8 f f . C. Schmitt, Der Führer schützt das Recht, in: Deutsche Juristenzeitung 1934, Sp. 945. Zu Carl Schmitt: K. Polak, Reden und Aufsätze, Berlin 1968, S. 53ff., und R. Meister, in: Staat und Recht, 1967, S. 942ff.

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4. Die mathematische Musik der Gerechtigkeit Zur Systemstrukturellen Rechtstheorie

Die Vernunft im Dienste der Rationalisierung, die im Dienste des Profits steht. Bertolt Brecht

Die Reine Rechtslehre, der bisher konsequenteste Ausdruck des Positivismus in der Rechtstheorie1, erhebt den vierfachen Anspruch, daß die von ihr gelieferten Erkenntnisse a) auf einer denknotwendigen und daher unumstößlichen Grundlage beruhen, b) ein geschlossenes, in sich widerspruchloses Aussagensystem darstellen, c) von umwälzender Originalität sind und d) immer- und überallgültige Wahrheiten enthalten. Ohne an dieser Stelle auf die Berechtigung dieser Ansprüche einzugehen — sie sind allesamt unhaltbar! —, sei hier besonders darauf verwiesen, daß die Anforderungen, die das regierende Bürgertum an eine Rechtstheorie stellt, von der Reinen Rechtslehre nur im begrenzten Umfang erfüllt werden können, und zwar sogar dann, wenn die obengenannten vier Ansprüche berechtigt wären! Die ständigen Beteuerungen Kelsens2, seine Lehre sei gesellschaftlich funktionslos, nicht praktischen, nur theoretischen Erkenntnissen diene sie, er weigere sich, irgendwelche politischen Interessen dadurch zu unterstützen, daß er ihnen die Ideologie liefere, mit deren Hilfe die jeweils bestehende Gesellschaftsordnung legitimiert oder disqualifiziert werden könne, mögen ja für die Apologie eingefahrener Rechtsprozeduren ganz brauchbar sein. Kelsens Verzicht, irgendein positives Recht zu kritisieren — jede beliebige Zwangsordnung, wenn sie nur im großen und ganzen wirksam sei, akzeptiere er als Recht3 —, transformiert jenen brutalen Satz des Reichsgerichts: „Der Gesetzgeber ist an keine anderen Schranken als an diejenigen gebunden, die er sich selbst gezogen hat 4 ", in ein rechtsphilosophisches Aussagensystem. Aber die betont formalen Spekulationen Kelsens sind (vom Standpunkt der Bourgeoisie aus) defensiv, sie sind passive Apologie. Sie schirmen zwar das kapitalistische 1 Zur Stellung der Reinen Rechtslehre innerhalb der positivistischen Rechtstheorie vgl.: W . A. Tumanow, Bürgerliche Rechtsideologie, Moskau 1971, S. 209ff. (russ.) sowie K . A. Mokitschew (ed.), Geschichte der politischen Lehren, Moskau 1972, Bd. 2, S. 271 f f . (russ.). 2 H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Aalen 1960, S. X ; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1967, S. 112. 3 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1967, S. 201, 224. 4 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Berlin 1928, Bd. 118, S. 327, nicht prinzipiell aufgegeben durch das Bundesverfassungsgericht der BRD, in: Juristenzeitung, 1968, S. 422.

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Recht vor der Kritik ab, aber: weder mobilisieren sie das Volk zur Rechtsverwirklichung noch orientieren sie den Gesetzgeber über das künftig erforderliche Recht. Die ideologische und die administrative Funktion der Reinen Rechtslehre stehen einander insoweit im Wege. So ist es auch zu verstehen, daß die prae- und profaschistischen Theoretiker mit Kelsens Verarbeitung des positiven Rechts als „roher Tatsächlichkeit" unzufrieden waren1, nur duldende Hingabe genügte ihnen einfach nicht. (Es gehört zu den traurigen Witzen der bürgerlichen Ideologiengeschichte, daß dieser Vorwurf gegen Kelsen von einem Mann erhoben wurde, der „rohe Tatsächlichkeiten" allergrößten Ausmaßes, nämlich Massenmorde und Vernichtungskriege, zu rechtfertigen pflegte.) Die Unergiebigkeit der Reinen Rechtslehre für die Weiterbildung des bürgerlichen Rechts — gerade beim Übergang zum staatsmonopolistischen Kapitalismus ein dringendes Erfordernis — zeigt sich besonders deutlich an Kelsens Auslegungstheorie des geltenden Rechts2. Natürlich „bewährt" sich auch hier sein Positivismus, insofern er von vornherein erklärt, daß die Interpretation des Rechts durch Justiz und Verwaltung stets authentisch sei, also Recht schaffe. Aber da er den überkommenen Auslegungsmethoden jegliche Verbindlichkeit abspricht, Gesetzeslücken nicht anerkennt und keinerlei methodologisches Instrumentarium für die Weiterentwicklung des bürgerlichen Rechts durch ihre Anwender (von inhaltlichen Rezepturen ganz zu schweigen) bereitstellt, läßt er Bedürfnisse unbefriedigt, die sich die regierende Bourgeoisie dann eben von anderen, hermeneutisch ergiebigeren Theorien befriedigen läßt3. So ist es zu erklären, daß nach Auffassung vieler bürgerlicher Kritiker der Reinen Rechtslehre4 Kelsen wohl unüberholbare Ergebnisse eingebracht habe, insbesondere durch seine Kategorialanalyse der juristischen Grundbegriffe, daß aber für die rechtspolitischen Anforderungen des „Industriezeitalters" eine andere Rechtstheorie benötigt werde, die als bewußtes Glied einer Gesellschaftj-theorie den Anforderungen von heute gerecht wird. Daher wird der Reinen Rechtslehre selbst von ihren langjährigen Freunden alles andere als eine rosige Zukunft vorausgesagt5. Und daher wäre es kurzsichtig anzunehmen, daß mit einer Widerlegung der Reinen Rechtslehre und dem Nachweis ihres Klassencharakters das einzige Haupt der Hydra abgeschlagen sei: Der juristische Positivismus ist ohnehin kein Za/a/Aeinfall juristischer Professoren, er ist ein geset^1 C. Schmitt, Verfassungslehre, Berlin(West) 1965, S. 9. 2 H. Kelsen, Zur Theorie der Interpretation, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, Wien 1968, S. 1363ff. 3 Etwa: M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin(West) 1967, S. 1 5 7 f f . oder von J. Esser, Grundsatz und Norm, Tübingen 1964, S. 242ff. 4 Vgl.: R. Dreier, Sein und Sollen, in: Juristenzeitung, 1972, S. 335. 5 M. Stockhammer, Die Zukunft der Rechtswissenschaft, in: österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 21, S. 299 (1971). — St. ist ein alter Bewunderer Kelsens; vgl. die im Anhang von R. A. Metall, H. Kelsen, Wien 1969, S. 204f. mitgeteilten Publikationen.

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mäßiges Produkt des Kapitalismus, eine für die Bourgeoisie »o/M'iWzje Widerspiegelung der bürgerlichen Gesellschaft 1 . Eine wissenschaftliche Kritik des Positivismus aller Varianten kann folglich nur als Bestandteil der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus durchdringenden Erfolg haben. Niklas Luhmann, der neuerdings eine positivistische Rw/6/.rtheorie, eingebettet in positivistische Gesellscbaftstheoiie, also von großer Dimension, vorlegte, hat den bisher umfassendsten Versuch unternommen die Schwierigkeiten zu beheben, in die ein sich selbst begründender Rechtspositivismus geraten war 2 ! Im Gegensatz zu den Rückzugsgefechten, die bis in die jüngste Zeit von den Vertretern des Rechtspositivismus geführt wurden 3 , Rückzugsgefechte, in die sie von ihren zumeist rechtsbürgerlichen Kritikern mit dem Vorwurf verwickelt worden waren, der Positivismus sei für die Fügsamkeit der deutschen Juristen gegenüber dem Nationalsozialismus verantwortlich 4 , entwirft Luhmann die Grundzüge und D e tails einer positivistischen Offensivideologie. Zunächst die Gedankenführung dieser Sorte Rechtstheorie, ihre zentralen Thesen in Begründungszusammenhang und im Vokabular ihres Urhebers 5 : 1. Die Gesellschaft, das grundlegende Sozialsystem sinnhaft aufeinander bezogener Handlungen, vermag in einer übermäßig komplexen Umwelt die Sinnbeziehungen zwischen diesen Handlungen nur konstant zu halten, wenn im System Selektionsleistungen erbracht und so organisiert werden, daß sie die hohe Komplexität auf entscheidbare Handlungsgrundlagen reduzieren. 2. Die Komplexität eines Systems, d. h. die Gesamtheit der Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, deren Aktualisierung ein Sinnzusammenhang zuläßt, wird im wesentlichen durch seine Struktur geregelt. Eine für jede Gesellschaft notwendige Struktur ist das Recht. E s definiert die Grenzen dieses Systems und reduziert übermäßige Komplexität durch verbindliche und institutionalisierte Selektion auf entscheidbare Handlungsgrundlagen. 3. Die Gesellschaft als Sozialsystem und das Recht als eine seiner Strukturen stehen zueinander im Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit (Interdependenz). Denn Systemkomplexität ist immer nur strukturell ermöglichte (d. h. kontigente) Komplexität, und andererseits hängt auch die Struktur des Systems von seiner K o m plexität ab. Durch seine Struktur garantiert die Gesellschaft den in ihr gebildeten Sozialsystemen eine domestizierte Umwelt von geringerer Komplexität und entlastet daher deren Struktur. 1 H. Klenner, Zur Problematik des Rechtspositivismus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1972, S. 430. 2 S o : die Selbsteinschätzung bei N . Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, S. 12. 3 Vgl.: E. Franssen, Positivismus als juristische Strategie, in: Juristenzeitung, 1969, S. 766ff. 4 So: H. Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 30 ff. 5 Dargestellt nach: N . Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, vgl. auch den im Anhang vorliegender Studie(S. 151ff.) abgedruckten Quellentext zur Systemstrukturellen Rechtstheorie.

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4. Die Funktion des Rechts, d. h. die sanktionierte Reduktion sozialer Komplexität im Bereich zwischenmenschlicher Verhaltenserwartungen wird dadurch erfüllt, daß das Recht Selektionsleistungen erbringt, und zwar in drei Dimensionen: a) in der Zeitdimension können die Verhaltenserwartungen durch Normierung entäuschungsfest stabilisiert werden (Normen sind kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen) ; b) in der Sozialdimension können die Erwartungsstrukturen institutionalisiert werden; c) in der Sachdimension können die Erwartungsstrukturen durch identischen Sinn äußerlich fixiert und in einen Zusammenhang wechselseitiger Bestätigung gebracht werden. 5. Da es natürlicherweise Divergenzen innerhalb und zwischen den Selektionsleistungen der drei Dimensionen gibt, ist es Sache des Rechts, durch Generalisierung die jeweiligen dimensionstypischen Inkongruenzen zu überbrücken. Das Recht leistet also selektive Kongruenz und kann definiert werden als Struktur des So^ialsjstems, die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht. 6. Die steigende Komplexität und Kontingenz der Gesellschaft und ihrer Umweltbeziehungen ist der Motor einer "Evolution des Rechts. Diese besteht darin, daß dem Recht immer wirksamere Leistungen in Richtung auf kongruente Generalisierung abgefordert werden. Dabei verselbständigen sich im Ergebnis der Entwicklung die rechtlichen Erwartungsstrukturen und befreien sich immer mehr von Verquikkungen mit Wahrheit und Moral und mit Auslegungen der Welt im ganzen. 7. In seinem gegenwärtigen Entwicklungszustand tritt das Recht als positives Recht auf. Unter positivem Recht sind Rechtsnormen zu verstehen, die durch Entscheidung in Geltung gesetzt worden sind und daher durch Entscheidung auch wieder außer Kraft gesetzt werden können. Dieses positive Recht korreliert mit einem Gesellschaftssystem, das durch eine explosionsartige Vermehrung der Möglichkeiten des Erlebens und Handelns charakterisiert wird und daß daher die Tendenz hat, alles Recht als kontingent erscheinen zu lassen. 8. Als ein Moment der Positivierung von Recht ist die Tendenz %ur Konditionalisierung von Rechtsnormen zu begreifen, die Umstrukturierung des Rechts auf die Form von Konditionalprogrammen. Solche Programme sind verbal fixierte Entscheidungsregeln, deren Anwendung durch Institutionalisierung garantiert ist. Ein Handeln, das diesem Programm entspricht, ist richtig. Konditionalprogramme sind im Grenzfall Algorithmen und dann automatisierbar. Man möge sich durch die sprachliche Gestaltung der Systemstrukturellen Rechtstheorie nicht ablenken lassen. Zweifellos gehört Luhmann zu jenen, denen es nicht vergönntist, die Wörter ungestört imBesitz ihrer Bedeutungenzu lassen. Aber das ist nur äußerlich. Es belegt, daß es ihm auf das staatstragende Publikum, auf Eliten und Bürokratien als Adressaten seiner Gedankenführung ankommt1. Für Popularisierung hat er vorerst keine Zeit. Er überläßt das anderen. Wir kommen noch darauf zurück. 1 Zutreffend dies und anderes bei: J. Münstermann, Zur Rechtstheorie Niklas Luhmanns, in: Kritische Justiz, 1969, S. 325 ff.

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Reine Rechtslehre und Systemstrukturelle Rechtstheorie verhalten sich zueinander wie Mühle- und Schachspiel. Beide sind im wesentlichen positivistische Theorien, aber Kelsen verteidigt nur einen verhältnismäßig kleinen Abschnitt in den Auseinandersetzungen um Recht, Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt und das mit verhältnismäßig hausbackenen Mitteln. Luhmann ist der mit vielen Wassern gewaschene Konstrukteur einer die ganze Gesellschaft als sich selbst regulierendes Sozialsystem betrachtenden Theorie, in der jene dynamisch-funktionale Analyse des Rechts enthalten ist, die von anderen als erwartbare Folgerung aus der Industriegesellschaftskonzeption angekündigt 1 , aber nicht erbracht wurde. Die Ursachen für die rasch steigende Resonanz „kybernetisierender" Gesellschaftstheorien liegen nur vordergründig darin, daß sie mit der Aureole, zeitgemäß zu sein, behaftet sind, und sie liegen nicht in der quantitativen Fruchtbarkeit ihrer Autoren (die allerdings beängstigend ist); sie sind auch nicht darin zu suchen, daß für ihre Anhänger neue Universitäten offen stehen (obwohl einer von ihnen zu den Modelleuren neuer Bildungseinrichtungen zählt). Auch reicht der Zauber, der Halbverstandenem zuzuwachsen pflegt, nicht aus, um die Anziehungskraft einer Theorie zu erklären, in deren begrifflichem Bezugsrahmen „Integration", „Funktionalität", „Stabilität", „Homeostasis" eingefügt sind. Und erst recht voreilig wäre es, auf die U.S.-amerikanischen Quellen dieser Konzeption zu verweisen (obwohl sie dort zu finden sind): nicht wenn es bei Harvard regnet, werden in Münster, Speyer oder in Bielefeld die Straßen naß; es sind da diesseits wie jenseits des Atlantik übereinstimmende materielle Interessen im Spiel! Nichts dagegen, systemtheoretische Ergebnisse der Kybernetik in die Untersuchung gesellschaftlicher Prozesse einzubringen. Im Gegenteil, eine Weiterentwicklung des sozialtechnologischen Apparates erfordert oft genug den Einsatz der von der Logik, Mathematik und Informationstheorie erarbeiteten Erkenntnisse 2 . Aber wenn man das methodologische Instrumentarium einer Wissenschaftsdisziplin unter Mißachtung der realen Objektbeziehungen anwendet, dann muß das zu inhaltlichen Fehldeutungen führen, die übrigens zugleich den methodischen 1 W . Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion, Berlin(West) 1967, S. 28. Vgl. auch: L. Eley, Transzendentale Phänomenologie und Systemtheorie der Gesellschaft, Freiburg 1972, S. 83 ff. 2 Vgl.: H. Klenner, B. Zimmermann, in: Staat und Recht, 1962, S. 1 3 9 2 f f . ; V. N. Kudrjawzew, Die Kybernetik im Kampf gegen die Kriminalität, Moskau 1964 (russ.); Fragen der Kybernetik und das Recht, Moskau 1967 (russ.), mit Beiträgen u. a. von Schljachow, Trusow, Gawrilow, Kudrjawzew, Kerimow, Kogan, Tschugunow, Gorski, Ratinow (deutsch in: Aktuelle Beiträge der Staats- und Rechtswissenschaft, Heft 47, Potsdam 1969); Buchholz, Sozialistische Rechtsverwirklichung unter dem Gesichtspunkt der Stabilität eines Systems, in: Staat und Recht, 1968, S. 24; M. G. Losano, Giuscibernetica, Torino 1969; J. Wroblewski, Legal Problems and Cybernetics, in: Archivum Juridicum Cracoviense, 1971, p. 4 5 f f . A. A. Iwin, Grundprobleme der deontischen Logik, in: H.Wessel (Herausgeber), Quantoren-Modalitäten-Paradoxien, Berlin 1972, S. 402ff.; Ju. A. Tichomirow, W . P. Kasimirtschuk, Recht und Soziologie, 1973, S. 1 4 6 f f .

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Ansat2 zu diskreditieren geeignet sind. Im Falle der Kybernetik schießt man mit größerer Genauigkeit — daneben! Das ist — jedenfalls bei der im Rahmen einer funktional-strukturellen Theorie des Sozialsystems entwickelten systemstrukturellen Rechtstheorie1 — die notwendige Folge davon, daß Aussagen nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt und Normen nicht mehr auf ihren Gerechtigkeitswert hin untersucht werden. Statt auf die Entwicklungsgesetze menschlichen Zusammenlebens werden Aussagen und Normen ausschließlich auf den Stabilitätszustand des bestehenden Sozialsystems bezogen. So wird die Rationalität eines Gedankens, einer Handlung, eines Programms oder einer Institution immer nur von ihrer Systemerhaltungsfunktion abgeleitet, nie aber die Rationalität des Systems selbst als Problem und in Frage gestellt. Denn Systeme könnten zwar empirisch wahrnehmbar sein (obwohl ihre Strukturkomponehten — weiß der Teufel, wie sich das zusammenreimt — nichts Seiendes seien), aber sie geben zugleich die Wissenschaftsgrenze ab: hinter ihnen liege das Reich der Metaphysik, wie die modernen Agnostiker uns Erkenntniswütige bescheiden. Nun sind in der Tat sowohl die bürgerliche wie auch die sozialistische Gesellschaft Systeme gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie sind Produkte des wechselseitigen Handelns der Menschen auf der Grundlage eines bestimmten Entwicklungsstandes der Produktivkräfte, wobei die Produktionsverhältnisse die materiellen Verhältnisse dieser Gesellschaft darstellen, auf deren Basis ideologische und institutionelle Teilsysteme mit Rückwirkungsfunktion entstehen2. Aber: Die systemstrukturelle Rechtstheorie weigert sich, das Sein gesellschaftlicher Systeme nach qualitativen Kriterien zu untersuchen, immer nur stellt sie die Frage nach deren Funktionieren. Daher definiert Luhmann seine Kategorien (z. B. Struktur, Gesellschaft, Recht) funktional, nicht ontologisch und gibt diese Verfahrensweise als notwendig aus3. Daher unterläuft er das Problem gesetzmäßiger Ursache-Wirkung-Beziehungen im Rechtsleben und versucht, „wie immer die Stränge der Kausalität verwoben sind", etwa die Geltung des Rechts auf rein variable Faktoren zu beziehen4. Diese durch ihn selbst auferlegte Erkenntnisschranke, immer nur nach dem Funktionieren, nie aber nach dem Wesen und den Ursachen des (mehr oder weniger) Funktionierenden zu fragen, kommt heutzutage nur einer Gesellschaftsordnung zugute, der bürgerlichen, der freilich nicht an der Aufdeckung ihrer wesentlichen 1 So die Selbstbezeichnung bei N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Opladen 1971, S. 80; vgl. auch N. Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie II, Bielefeld 1972. Immer im Anschluß an Talcott Parsons, etwa: Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied 1964, S. 39. 2 MEW, Bd. 3, S. 25; Bd. 13, S. 8; W. I. Lenin, Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 127ff. Vgl. auch: Klenner, in: Anuario de Filosofia del Derecho, Madrid 1974, Vol. XVII, p. 385. sowie H . Scheler, Das gesellschaftliche Sein als Bewegungsform der Materie, in: Aufsätze zum historischen Materialismus, Berlin 1973, S. 242ff. 3 N . Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 40, 133, 226. 4 Ebenda, S. 135, 208.

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Charakteristika gelegen sein kann. Insofern erweisen sich die intellektuellen Schranken Luhmanns als K/assenschtanken der heutigen Bourgeoisie. D e n n wer kann schon eine Interesse daran haben, daß der gesetzmäßige Zusammenhang v o n ö k o nomischer, politischer und ideologischer Macht unerörtert bleibt? Hinter Luhmanns Abneigung gegen Fragen nach dem Sein verbirgt sich sein Abscheu vor dem Materialismus. Daher versucht er den Sjstembegn££ gegen den Substanzbegriff auszuspielen, und hofft, daß er sich so v o m Materiebegti££ unabhängig macht 1 . Insofern nimmt er teil an der idealistischen Illusion vieler Positivisten, die sich einbilden, eine jenseits v o n Materialismus und Idealismus — Luhmann charakterisiert sie als „westliche" und „östliche" Ideologie — angesiedelte Position zu vertreten. Tatsächlich führt aber die Erkenntnis, daß bestimmte Erscheinungen wechselseitig voneinander abhängen, kurz: daß sie ein System sind, notwendig zur F r a g e nach der Qualität dieses Systems und dem Charakter seiner Elemente. Wenn man die Gesetzmäßigkeiten des Zusammenhanges erforschen will, in dem sich die in Wechselwirkung befindlichen Elemente eines Sozialsystems befinden — und worin sonst besteht die A u f g a b e des Wissenschaftlers? —, dann gewinnt die Fragestellung nach dem Verhältnis der materiellen Gesellschaftsverhältnisse zu den ideologischen zentrale Bedeutung. Dies gilt für die Rechtstheorie schon deshalb ganz besonders, weil das Recht ideeller Natur ist, seine Determinierung also zwangsläufig auf den Bereich der Produktionsverhältnisse verweist: Recht ist letztlich eine Funktion des Eigentums an den Produktionsmitteln, also ein Instrument der Privateigentümer 2 . Insofern verfehlt eine Systemtheorie der Gesellschaft, die darauf verzichtet, sich u m den materiellen oder ideellen Charakter der Systemelemente zu kümmern, das Wesentliche. U n d dies auch dann, wenn sie sich dialektisch gebärdet, indem sie die wechselseitige Abhängigkeit aller Elemente des Sozialsystems akzeptiert 3 . A u c h hier beweist sich die alte Wahrheit, daß eine Theorie sich mehr noch durch das entlarvt, was sie nicht untersucht, als durch das, was sie für untersuchungswert findet. Gerade weil bei der systemstrukturellen Rechtstheorie die Struktur des Systems in den Vordergrund rückt — hat sie doch hohe Komplexität durch Selektion auf entscheidbare Handlungsgrundlagen zu reduzieren —, muß darauf verwiesen werden, daß die Strukturiertheit eines sozialen Systems primär mit seiner Qualität zusammenhängt. S o führt auch eine Analyse des bürgerlichen Rechts nach den Kriterien formaler (d. h. qualitätsunabhängiger) Funktionalität nie und nimmer zu einer 1 N. Luhmann, Recht und Automation, Berlin(West) 1966, S. 140. 2 Vgl. H. Klenner, Sein und Sollen im Erfahrungsbereich des Rechts, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 6, 1970, S. 145ff.; ausführlich: Marxistisch-leninistische allgemeine Staats- und Rechtstheorie, Moskau 1970, Bd. 1, S. 420ff. (russ.). 3 G. W. Wittkämper, Theorie der Interdependenz, Köln 1971, S. 113; N . Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bielefeld 1972, Bd. 2, S. 262.

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den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen gerecht werdenden Einschätzung. Sie verhindert sie geradezu! Denn wenn man etwa die vom Bundesarbeitsgericht der BRD in die Rechtsprechung überführte Lehre, daß ein Streik nur dann rechtmäßig sei, wenn er „sozialadäquat" ist 1 , daraufhin untersucht, ob sie geeignet sei, Verhaltenerwartungen (und damit das bestehende Sozialsystem) zu stabilisieren, dann muß das wohl uneingeschränkt bejaht werden; ja diese von Nipperdey zunächst als Wissenschaftler kognitiv entwickelte, dann von ihm als Gerichtspräsident normativ geprägte Lehre ist geradezu ein Musterbeispiel eines integrativen Strukturelements. Nebenbei: der Rechtsbegriff der „sozialen Adaequanz" entstammt der faschistischen Strafrechtstheorie des Jahres 1939. Seine Definition — „sozialadaequate Handlungen sind alle Betätigungen, in denen sich das Gemeinschaftsleben nach seiner geschichtlich bedingten Ordnung jeweilig vollzieht" 2 — liest sich wie eine Vorstufe der Begriffsbestimmung von Integration. Daß die erhobene Forderung: nur wenn ihr Streik „sozialadaequat" ist, brauchen die Streikenden keine Entschädigung an die Kapitalisten zu zahlen, arbeiterfeindlich ist, kann mit dem famosen Instrumentarium, das die strukturelle Rechtstheorie zur Verfügung hält, nicht einmal festgestellt (viel weniger bewertet) werden. Und dabei erhebt der Autor der systemstrukturellen Betrachtungsweise juristischer Phänomene keinen geringeren Anspruch, als daß man mit seiner Methode (und nur mit seiner Methode) bis an die Wurzel des Rechts gelange 3 ! In Wirklichkeit aber versucht Luhmann selbst da, wo in bestimmten Begriffen des geltenden Rechts materielle Interessen verhältnismäßig direkt zum Zuge kommen, beim „subjektiven Recht" etwa, diese Kategorien in Möglichkeiten abstrakter Systemsteuerung umzubiegen. Das Unterlaufen offizieller Benennungen und Begründungen sei ohnehin sein tägliches Geschäft, meint er und ist freudigen Herzens bereit, die unmittelbare Verzahnung von Rechten und Pflichten, jene „mathematische Musik der Gerechtigkeit" aufzugeben 4 . So begründet das Eigen1 Vgl.: Die kritische Studie von X. Rajewski, Arbeitskampfrecht in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1970, S. 60ff., in Auseinandersetzung mit A. Hueck, H. C. Nipperdey, Grundriß des Arbeitsrechts, Berlin(West) 1965, S. 284, und Das Bundesarbeitsgericht zum Arbeitskampfrecht, Köln 1955. — Die von J. Meyer (in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bielefeld 1972, Bd. 3, S. 186) aus der Lehre von der „sozialen Adaequanz" gezogene Schlußfolgerung, die Monopolisierung des Streikrechts bei den Gewerkschaften mache diese zu Ordnungsfaktoren, d. h. zu Disziplinierungsorganen gegenüber den Arbeitern, trifft natürlich nur auf eine reformistische Gewerkschaftsführung zu. 2 H. Welzel, Studien zum System des Strafrechts, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 58, S. 517 (1939). 3 N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 27. Dagegen auch die biedere Rezension v o n H. Ostermeyer (in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1973, S. 101), freilich in dem naiven Glauben, daß Luhmann nicht weiß, was er will. 4 N. Luhmann, Zur Funktion der ,subjektiven Rechte' in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie I, Bielefeld 1970, S. 322ff.

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tum am Betrieb — die Beispiele entwickelt Luhmann selbst — keine Pflichten gegenüber den dort Arbeitenden, und nicht die Umweltverschmutzer haben für die erforderlich gewordenen Reinigungsaktionen zu zahlen. Es versteht sich, daß in einer Zeit, da die herrschende Klasse im Rahmen ihrer Notstandsgesetzgebung die Eventualliquidation der Menschenrechte als subjektive Rechte durchzusetzen verstand, die funktional-integrative Grundrechtstheorie wie gerufen erschien1. Daß sie dabei ausdrücklich nicht die Verteidigung bestehender Interessen (etwa der umweltverschmutzenden Betriebseigentümer), sondern nur deshalb argumentiert, um eine höhere adaptive Elastizität des Rechts zu erreichen, na, wer wagt das zu bezweifeln? Die Untauglichkeit der systemstrukturellen Rechtstheorie, die wesentlichen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Sozialsystemen zu erfassen, wird besonders deutlich bei der von ihr gelieferten Entwicklungskonzeption des Rechts. Entsprechend seinem antimaterialistischen Axiom, daß sich Handlungssysteme nicht durch Seingesetze strukturieren — wie ja überhaupt das menschliche Handeln von der funktionaldenkenden Systemtheorie nicht als gesetzmäßig bewirkter und wirkender Kausalfaktor angesehen wird 2 —, benennt Luhmann als systemtheoretisches Fortschrittskriterium die Komplexität der Gesellschaft3. Danach finde im sozialen Bereich eine immanente Entwicklung von Systemen aus sich selbst heraus nicht statt (während wir spätestens seit Hegel gelernt haben, im inneren Widerspruch der Phänomene deren Trieb und Tätigkeit zu begreifen). Vielmehr liege in der ständig steigenden Komplexität der sozialen Systeme und in ihren Umweltbeziehungen der Motor auch der Rechtsentwicklung insofern, als dem Recht stets höhere Leistungen abverlangt werden. Nun soll weder ausgeschlossen werden, daß es in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft oder ihrer Gesellschaftsinformationen so etwas ähnliches wie eine tendenzielle Zunahme an Komplexität gibt, noch soll etwa geleugnet werden, daß jede spezifische Sphäre der Gesellschaft auch ihre besonderen Entwicklungskriterien hat. Aber wenn eine sich so undogmatisch gebende Theorie, wie die systemfunktionale, sich zu dem Dogma eines einzigen Evolutionskriteriums durchdringt und dieses dann als das allgemeine Kriterium des Fortschritts auch gesellschaftlicher Systeme 1 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin(West) 1965; anders interpretiert bei F. Rotter, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten der Institutionalisierung sozialen Wandels, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bielefeld 1972, Bd. 3, S. 94f., und bei K. Grimmer, in: Hegel-Jahrbuch 1971, Meisenheim 1972, S. 5ff., die allerdings die Nähe von Luhmanns Auffassung über die Grundrechte als Systemstabilisatoren zu Carl Schmitts prae- und profaschistischer Theorie von den Grundrechten als sogenannte „institutionelle Garantien" zu übersehen scheinen (C. Schmitt, Freiheitsrechte und institiutonelle Garantien (1931), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin(West) 1958, S. 140ff.) 2 N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 116; N. Luhmann, J. Habermas, Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971, S. 90. 3 N. Luhmann, in: Habermas-Luhmann, Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971, S. 22.

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handhabt, dann muß das zu einer Verzerrung, in diesem Fall der Rechtsentwicklung, ohnegleichen führen. In Anwendung seiner Rechtsdefinition, nach der das Grundproblem des Rechts die „kongruente Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen" ist, unterscheidet Luhmann drei historisch nachweisbare Typen des Rechts, je nachdem, ob es ausdifferenzierte rechtliche Entscheidungsverfahren nicht gibt (Fall a) oder gibt und ob diese sich nur auf Rechtsanwendung (Fall b) oder auch auf Rechtsetzung (Fall c) beziehen1. In diesem Sinn unterscheidet er a) archaisches Recht, b) Recht der vorneuzeitlichen Hochkulturen und c) das positive Recht der modernen Gesellschaft. Hier werden zehntrangige Unterschiede als allein tragbare Differenzierungskriterien ausgegeben. (Man könnte natürlich auch die in der Welt aufgetretenen Regierungsformen nach der — tendenziell sicher zunehmenden — Körpergröße der jeweiligen Staatsoberhäupter klassifizieren.) Auf dieser Weise werden alle wesentlichen, weil den Klassencharakter der Gesellschaft und des Rechts ausdrückenden Zusammenhänge verwischt. Damit wird es unmöglich gemacht, die teils progressive, teils reaktionäre Rolle des Rechts in der Menschheitsgeschichte aufzudecken. Klassifizierungen sozialer Phänomene sollen doch in erster Linie nicht unterscheidungshungrigen Archivaren, sie sollen der Erkenntnis vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Zusammenhänge dienen. Darin besteht ihre handlungsorientierende Funktion. Gerade weil die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der bürgerlichen Länder und zwischen den Ländern mit gegensätzlicher Gesellschaftsordnung weithin die Form eines Kampfes um den Rechtsinhalt angenommen haben, ist die historisch-reale, kritische Bewertung sowohl der Rechtsnormen als auch der Rechtsforderungen ein unverzichtbares Element einer wissenschaftlichen, d. h. die Wirklichkeit mit Wahrheitsanspruch widerspiegelnden Rechtsphilosophie. Da die für den heutigen Kapitalismus charakteristische Konzentration der ökonomischen, politischen und ideologischen Macht zu einer Verwandlung von Rechtsnormen in Leerformeln und zu einem tendenziellen Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten führt, erfordern die Gegenwarts- und Zukunftsinteressen aller am gesellschaftlichen Progreß interessierten Rechtswissenschaftler eine kritisch bewertende Inhaltsanalyse der Funktionen des geltenden Rechts wie auch der erhobenen gegensätzlichen Forderungen nach einer Veränderung dieses Rechts bis hin zu seiner Aufhebung. Daß die juristische Formenlehre Luhmanns in die Irre führt, zeigt sich besonders deutlich an seiner Kennzeichnung der Positivität des Rechts als Voraussetzung und Element der „modernen" Gesellschaft 2 . Dies positive, weil allein auf die staatliche Dezision gegründete Recht willkürlichen Inhalts korreliere mit der seit dem 19. 1 N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 147. 2 N . Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft,

in:

Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie I, Bielefeld 1970, S. 177ff. 5

Klenner, Rechtsphilosophie

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Jahrhundert einsetzenden explosionsartigen Vermehrung der allgemeinen Möglichkeiten des Erlebens und des Handelns. Positivierung des Rechts bedeute — so werden wir belehrt 1 —, daß das Recht sich immer mehr von seinen aus Tradition und Transzendenz stammenden Verquickungen mit Wahrheit, Moral und Weltanschauung löse, ja, daß nunmehr für beliebige Inhalte legitime Rechtsgeltung gewonnen werden könne. Die Legalität selbst sei legitim! Und damit sind wir wieder bei der pragmatischen Verherrlichung des factum brutum gelandet: wenn schon nicht den Geboten der Humanität, so passe sich das Recht wenigstens den Erfordernissen einer funktional differenzierten Gesellschaft an, man müsse ohnehin den Mut haben zu sehen, daß physische Gewalt die Selektivität von Ordnung zur Evidenz bringe 2 . Nun ist es schon schlimm genug, wenn solche, wie schon vermerkt, an die staatstragenden Eliten adressierten Gedanken, nach deren Logik ein Verbrechen, wenn es Gesetz wird, aufhört, ein Verbrechen zu sein, in die brisante Situation des gegenwärtigen Kapitalismus eingebracht wird. Hier konstituiert sich unter dem Deckmantel scheinneutraler Gedankengänge eine Law-and-order-Philosophie, die sich eindeutig gegen die sozialistische Arbeiterbewegung, aber auch gegen die rebellierende Jugend, ja gegen jede vorwärtsdrängende Gesellschaftsgruppe richtet. Zur Tollheit wird das Ganze aber dadurch, daß die systemstrukturelle Rechtstheorie universelle Anwendbarkeit beansprucht3. Und das heißt, daß ihre Erkenntnisse auch aus der Analyse sozialistischer Rechtssysteme gezogen und für den Sozialismus praktikabel zu sein vorgeben. In den sozialistischen Ländern, so steht es einmal bei Luhmann an bedeutsamer Stelle4, liegen die Probleme weder praktisch noch theoretisch anders, „insofern man nur abstrakt genug vergleicht." „Sofern man nur abstrakt genug vergleicht" — hier liegt der Hase im Pfeffer. Spätestens jetzt wird greifbar, wohin es führt, wenn zeitlose Strukturgesetzc als Entwicklungsgesetze ausgegeben oder ihnen übergeordnet werden. Nicht etwa der zu hohe Abstraktionsgrad, die falsche Abstraktionsrichtung ist die methodologische Wurzel der Fehlkonstruktion. Das Kriterium richtigen Abstrahierens ist bekanntlich die größer werdende Annäherung an die Wahrheit. (Lenin 5 : „Das Denken, das vom Konkreten zum Abstrakten aufsteigt, entfernt sich nicht — wenn es richtig ist — von der Wahrheit, sondern nähert sich ihr".) Das Denken der systemstrukturcllen Rechtstheoretiker freilich entfernt sich von der Wahrheit, weil im Ergebnis ihres Abstraktionsprozesses alle wesentlichen, die tatsächliche Rolle des Rechts in der 1 Ebenda, S. 188 und N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Opladen 1971, S. 180. 2 N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 106, 110, 115. 3 N. Luhmann, in: J.Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971, S. 378. 4 N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 305. 5 W . I. Lenin, Werke, Berlin 1964, Bd. 38, S. 160 (in Kommentierung von G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Leipzig 1948, Bd. 2, S. 225 f.).

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Gesellschaftsgeschichte ausdrückende Eigenschaften und Beziehungen des Rechts abgesondert werden und unter den Tisch f a l l e n D i e systemstrukturelle Rechtstheorie liefert mit den von ihr reichlich (und so kompliziert wie möglich) entwickelten Kategorien einen geradezu als klassisch zu bezeichnenden Beleg zu der Warnung Goethes2 vor jenen allgemeinen Begriffen, die auf dem Wege sind, entsetzliches Unheil anzurichten . . . Man denke etwa daran, daß die systemstrukturelle Rechtsgeschichte in dem Entwurf einer einheitlichen Weltgesellschaft gipfelt, in der alle zwischenmenschlichen Beziehungen bereits faktisch zusammengewachsen seien3. Universelle Kommunikationsmöglichkeiten und der Weltfriede seien hergestellt, ein gemeinsamer Tod aller Menschen sei möglich geworden. Überall werde Elektrizität als Elektrizität, Geld als Geld, Mensch als Mensch genommen. Und mit unüberlesbarer Anspielung auf die Auffassungen der Marxisten, die das Geld danach befragen, aus welcher Quelle es gekommen, und den Menschen, ob er amerikanischer Bombenflieger oder vietnamesischer Reisbauer ist, werden andere Zustände als pathologisch denunziert. Wie ja überhaupt Luhmann den dialektischen Materialismus unter die funktionelle Störungen des Nervensystems subsumiert4. In der systemfunktionalen Weltgesellschaftskonzeption aber werden faktisch unter Hervorkehrung äußerlicher Erscheinungen einer tatsächlich vorhandenen Gesetzmäßigkeit alle Triebkräfte und Ziele des objektiven Geschichtsprozesses eliminiert. Man kann es natürlich für Zufall halten, daß sich solch ein Konvergenzkonzept ziemlich nahtlos in die Strategie einer „Wandlung durch Annäherung" einfügt. Und damit ist ein Bezugspunkt angesteuert, der für die Beurteilung der systemstrukturellen Rechtstheorie von besonderer Bedeutung ist, nämlich die Frage nach ihrer Brauchbarkeit. Man kann das selbstverständlich auch als Frage nach ihrer Funktionalität bezeichnen, wenn man tatsächlich vorhandene Gesellschaftssysteme (und nicht zurechtgebogene) im Auge behält. Die Systemfunktionalisten bestreiten jedweden Zusammenhang ihrer Theorie mit irgendeiner politischen Macht oder Herrschaft. Burnham habe zwar richtig formuliert, daß der Sitz der Souveränität sich verlagert habe, aber falsch weitergedacht, als er die Manager als die neue herrschende Klasse bezeichnete; hier (im gegenwärtigen Kapitalismus!) herrsche gar niemand mehr, hier laufe eine Apparatur, die sachgemäß bedient sein wolle; der technische Staat beseitige das traditionelle Verhältnis der Herrschaft selbst5. Obschon nach dieser famosen Auffassung „Herrschaft" genau wie „Staat" über1 Vgl.: W . R. Beyer, Die Parteinahme der Wissenschaft für die Arbeiterpartei, Frankfurt/M. 1972, S. 14, sowie C. Warnke, Die abstrakte Gesellschaft, Berlin 1974. 2 J.-W. v. Goethe, Berliner Ausgabe, Berlin 1972, Bd. 18, S. 550. 3 N. Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1971, S. l f f . 4 N. Luhmann, Recht und Automation, Berlin(West) 1966, S. 136. 5 H. Schelsky, Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf 1965, S. 457. Dazu: E. Gottschling, Zur Kritik technokratischer Ideologien, in: Staat und Recht, 1973, S. 393ff. 5*

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haupt keine brauchbaren Begriffe mehr sind 1 , bewährt sich die ganze Theorie als eine hervorragende Verbindung zwischen den Anforderungen, die der staatsmonopolistische Kapitalismus unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution an eine Rechtsphilosophie in ideologischer wie in administrativer Hinsicht stellt. Die systemstrukturelle Rechtstheorie ist Element kapitalistischer Herrschafts- und Staatsideologie. a) Ihre administrative Funktion besteht vor allem darin, daß die systemstrukturelle Rechtstheorie einer managermäßigen Leitung der politischen Apparaturen unter den labilen Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismus und bei auswechselbarem Personalbestand zwischen Konzernen und Ministerien die technokratisch renovierten Leitungsinstrumente bis hin zur datenverarbeitungsgemäßen Gesetzgebung bereitstellt. Der dabei ins Feld geführte beträchtliche Aufwand an kybernetischer Theorie sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Systemstrukturalisten primär nicht Datenverarbeiter, sondern Ideologen sind: Die revolutionierende Wirkung der Verwaltungsautomation wird nicht von ihren verwaltungsorganisatorischen Folgen, sondern von ihren Denkvoraussetzungen, also im ideologischen Bereich, erhofft 2 . In diesem Zusammenhang zahlt sich auch ihre „realpolitische" Position aus, nicht alle Diskordanzen als bereits in einer „heilen Welt" harmonisiert zu unterstellen, sowie die Skrupellosigkeit, mit der sie sich unter dem breitflächigen Einfluß amerikanischer Quellen pragmatischer Provenienz von überkommenen Wertvorstellungen und Denktraditionen freizumachen verstanden hat. Die Offenheit mit der sie zum Beispiel das Primat der Wirtschaft vertritt, der die Struktur der ganzen Gesellschaft angepaßt werden müsse — unter der ideologischen Flankendeckung, daß dann die Familie mehr Liebe, die Wissenschaft mehr Wahrheit erreichen könne 3 —, ist hiefür typisch. In ähnlicher Richtung zielt die rücksichtslose Attacke gegen die immer wieder vorgetragenen Projekte 4 , die für den staatsmonopolistischen Kapitalismus kennzeichnende Paragraphenflut — das bundesrepublikanische Gesetzblatt zählt von 1949—1965 an die 44000 Seiten 5 — mit dem Demokratiegebot in Übereinstimmung zu bringen, nach dem ja jeder Bürger die ihn betreffenden Rechtsvorschriften kennen solle. Für die moderne Gesellschaft, so heißt es 6 , sei eine Umstrukturierung des Rechts auf die Form von Entscheidungsprogrammen, im Grenzfall von Algorithmen, charakteristisch, für die nicht einmal logische Konsistenz erforderlich oder erreich1 So: K. Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart, München 1972 S. 64; im Anschluß an Luhmann, Soziologische Aufklärung, Opladen 1971, S. 154. Vgl. K.-H. Röder, Zur Krise der bürgerlichen Staatslehre, in: Staat und Recht, 1973, S. 798. 2 N. Luhmann, Recht und Automation, Berlin(West) 1966, S. 141. 3 N. Luhmann, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie I, Bielefeld 1970, S. 201 f. 4 Etwa: Th. Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg 1969, S. 81 f f . 5 Gezählt von Stein, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1966, S. 2 1 0 6 f f . 6 N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 225—254.

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bar sei; die Gesetzessprache brauche weder Gedächtnis- noch Überzeugungshilfe zu vermitteln und sich weder zum Hören noch zum Lesen zu eignen; Unwissen in Rechtsfragen sei daher nicht nur unvermeidlich, sondern auch ratsam. Das liest sich wie eine neutrale Gebrauchsanweisung für staatsleitende Bürokratien aller Arten, zumal auf die Angabe selbst plakativer Zielstellungen und Sollwerte wie „Gemeinwohl" u. a. verzichtet wird1, ist aber ganz etwas anderes. Natürlich ist dem Juristen die Existenz variabler, innerhalb einer Rechtsordnung austauschbarer Normen eine vertraute Erscheinung. Etwa die Regelung, ob der Fahrverkehr auf der rechten oder linken Straßenseite zu erfolgen hat. Viele Rechtsnormen gehen ihrer gesellschaftlichen Funktion, ja ihres Klassencharakters verlustig, wenn sie aus dem Normenkörper gelöst werden, in den sie inkorporiert sind. Bei manchen Regelungen ist — in gewissen Grenzen — nicht wichtig, wie, sondern daß sie erfolgt sind (ob die Verjährungsfrist für Ansprüche 30 oder 35 Jahre beträgt, zum Beispiel). Auch zählt die Regelungsmethode, ob case-law ob codified-law, wohl nicht zu den invariablen Momenten. Insofern bedarf die gelegentlich geäußerte Auffassung2, daß die bürgerliche Gesellschaft zwar plurale Ideologie aber kein plurales Recht vertrage, einer gewissen Korrektur. Aber die positivistische, auf der radikalen Trennung der Form vom Inhalt beruhende Position, nach der man mit einem formalen Begriffswerkzeug sich jeden beliebigen Rechts geistig bemächtigen könne, geht nichtsdestoweniger genauso in die Irre wie die Auffassung, daß nur die Funktion der Rechtsnormen, nicht ihr so-, zialer Inhalt konstante Elemente enthalte. Selbst die Gesetzgebungstechniken sozialistischer Staaten unterscheiden sich von den der bürgerlichen, und das auch dann, wenn jeweils automatengerechtes Recht produziert wird. Denn Gesetzgebungstechnik pflegt, das hat Pigolkin überzeugend herausgearbeitet3, wie immer und wo immer entwickelt, auf die Übereinstimmung von Form und Struktur der Rechtsvorschriften mit ihrem Inhalt ausgerichtet zu sein. So verändert der Austausch selbst ganzer Normenkomplexe innerhalb des Schuldrechts warenproduzierender Gesellschaften (zum Beispiel der Gewährleistungsrechte oder der Gefahrtragungsregelung) nichts am Charakter des Rechts, sofern und weil die sach- und strafrechtlich geregelte Eigentumsordnung die Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse stabil hält. Diese Erkenntnis gehört für eine materialistisch betriebene Rechtsvergleichung ganz sicher zur Ausgangsposition. Bevor das Recht — in der Formulierung der Funktionalisten4 — gesellschaftliche Komplexität reduziert, ist nämlich längst über die Verteilung der Produktionsmittel 1 Im Gegensatz hierzu etwa: E. Lang, Zu einer kybernetischen Staatslehre, Salzburg 1970, S. 172ff„ unter Berufung besonders auf A. F. Utz, Sozialethik, Heidelberg 1958, Bd. 1, S. 1 3 6 f f . 2 H. Ley, Th. Müller, Kritische Vernunft und Revolution, Köln, 1971, S. 246. 3 A. S. Pigolkin, Die Entwurfsvorbereitung von Normativakten, Moskau 1968, S. 10 (russ.). Umfassend: P. Gurjew, P. Sedugin (ed.) Gesetzgebung und Gesetzgebungstätigkeit in der UdSSR, Moskau 1972 (russ.). 4 R. Bierstedt, The Social Order, New York 1970, p. 211.

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und damit auch über die der politischen Macht entschieden. Insofern verbirgt sich unter den Bedingungen des privatisierten Eigentums an den Produktionsmitteln hinter der angeblich inhaltlich nichtdeterminierten Aufgabenstellung des Rechts tatsächlich eine Interessengängelung und -Unterdrückung der Produzenten. Nicht das Recht entscheidet über die ökonomische Macht, sondern die Macht über das Recht1. b) In die administrative Funktion der systemstrukturellen Rechtstheorie, Handlungsanleitung für die Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Justizbürokratien, ist auch eine kräftige ideologische Funktion gemischt. Obschon versichert wird, daß das Recht in der modernen Gesellschaft seine eigentliche Aufgaben nur erfüllen könne, wenn es von zahlreichen Nebenfunktionen entlastet werde, etwa von denen eines Unterbaues der Religion oder denen einer individuellen Gefühlsregulierung2, kommt auch im Rechtsbegriff der Systemstrukturalisten diese Doppelfunktion zum Ausdruck. Und zwar insofern, als das Recht die Verhaltenserwartungen nicht bloß durch Normierung enttäuschungsfest stabilisiert und institutionalisiert, sondern auch — wie es symbolträchtig heißt — durch „identischen Sinn äußerlich fixiert und in einen Zusammenhang wechselseitiger Bestätigung" bringt3. Hinter dieser — wie bei Luhmann üblich — technisch neutralen Formel verbirgt sich mehr bis minder geschickt die Rezeption und Weiterentwicklung eines geschichtsnotorisch anrüchigen Gedankenguts. (Daher verzichtet er — soweit ich sehe — wohl auch darauf, sich zu dieser seiner Quelle zu bekennen.) Denn die ideologische Funktion des Rechts auf die „Vermittlung einer gemeinsamen Welt" festzulegen, geht wohl so ziemlich genau in jene Richtung, in die vier Jahrzehnte zuvor mit Untersuchungen gezielt wurde, die das Problem der „Vergemeinschaftung der individuellen Willen zur Wirkungseinheit eines Gesamtwillens" in Angriff nahmen. Der Verfasser dieser Auffassungen, Rudolf Smend, nannte den von ihm angestrebten „Vergemeinschaftungsprozeß" — genau wie nun auch Luhmann — „Integration" ; er bekannte, aus der Fundgrube faschistischer Literatur geschöpft zu haben und bescheinigte dem Faschismus, daß er die funktionelle Integration mit Meisterschaft handhabe4. Auf eine „Volksgemeinschaft" unter den Bedingungen antagonistischer Gegensätze innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften zu orientieren, ist 1 MEW, Bd. 19, S. 18; ausführlich: I. Szabö, Lés fondements de la théorie du droit, Budapest 1973, p. 17 ff. 2 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, S. 145; anderer Meinung noch T. Parsons, in: W . M. Evan, Law and Sociology, Glencoe 1962, p. 62. 3 Zum Folgenden: N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 81, 94. V o r allem aber N. Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971, S. 2 5 f f . 4 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928, S. 23, 62; Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin(West) 1955, S. 1 1 9 f f ; Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 1966, S. 803.

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den Völkern in Vergangenheit und Gegenwart teuer genug gekommen. Unter diesen Voraussetzungen betriebene Integrationspolitik hat sich noch immer als eine ausgeklügelte Mischung von ideologischer Manipulation und politischer Unterdrückung erwiesen. Und die verfeinerten Methoden sind dabei nur die gefährlicheren. An dieser Stelle setzt sich der geballte Einbruch offen irrationaler Elemente in die sonst mit ihrer Rationalität als Eigenschaft technologisch programmierter und erfolgskontrollierter Handlungen protzende systemstrukturelle Theorie durch1. Gesteht sie doch selbst ein2, daß sie bei dieser Aufgabe auf Erkenntnistechniken angewiesen sei, wie sie vor allem in der phänomenologischen Tradition entwickelt worden sind. Damit wird nicht, auch nicht verbal, auf mathematische Strenge oder logische Konsistenz angespielt, sondern auf das „Über-sich-Hinausgewiesensein, diese immanente Transzendenz des Erlebens". — Ungeachtet der kritischen, ja zynischen Distanz, die sich ihre Vertreter zuzulegen pflegen, büßen die Integrationstheoretiker ihre wissenschaftliche Haltung schon dadurch ein, daß sie sich selbst bedingungslos in das bürgerliche Gesellschaftssystem integriert haben. Eine sinnvolle Kritik des Vorhandenen — so ihre ausdrückliche Kapitulationserklärung3 — sei immer nur als immanente Kritik des Systems möglich. Die Systemtheorie der Integrationswilligen ist also immer eine Systemerhaltungstheorie. Ihre Vertreter sind Konformisten und leisten den agierenden Inhabern der ökonomischen und politischen Macht Legitimations-, Ausbeutungs- und Unterdrückungshilfe. Sie produzieren Herrschaftswissen im Dienste partikulärer Interessen. Daß sie auf diesen Vorwurf, selbst wenn er nur angedeutet wird, allergisch reagieren4, beweist nur ihr schlechtes Gewissen. Ihr positivistisches Apriori, dessen Woher und Wohin nicht untersucht wird, angeblich wissenschaftlich auch nicht untersucht werden kann, ist ihr bestehendes Gesellschaftssystem. Seiner Stabilisierung und Perfektionierung wird alles untergeordnet. Auch die Rationalität, die ausschließlich auf die Systemerhaltungsfunktion bezogen wird 5 . Hier ist — entgegen gelegentlicher Absichtserklärungen6 — ein rücksichtsloser Antihumanismus am Werk: das Recht zum Beispiel wird nicht etwa danach beurteilt, inwieweit es die Entwicklungsbedingungen des Menschen fördert oder wenigstens 1 Zur Rationalitätskonzeption des sozialphilosophischen Positivismus vgl.: I. Bauer, H. Klenner, Verstand ohne Vernunft, in: Spektrum 4—1973, S. 28. 2 N. Luhmann, in: J.Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971, S. 30f. 3 N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Opladen 1971, S. 198. 4 Zum Beispiel: H. Schelsky, Soziologiekritische Bemerkungen zu gewissen Tendenzen v o n Rechtssoziologen, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bielefeld 1972, Bd. 3 ; S. 608, als gereizte Antwort auf vorsichtig-reformerische Vorschläge von E. Blankenburg, W . Kaupen, R. Lautmann, F. Rotter (ebenda, S. 600ff.). 5 N.Luhmann, Vertrauen, Stuttgart 1968, S. 89; anders noch: H.Lübbe, Theorie und Entscheidung, Freiburg 1971, S. 54. 6 Etwa: L. v. Bertalanffy, General System Theory, New York 1969, p. 52.

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nicht hemmt; es wird vielmehr danach bewertet1, inwieweit es „integrativer Mechanismus" ist, oder — in der hemdsärmeligen Ausdrucksweise des amerikanischen Lehrmeisters2 — dazu dient, „die Maschinerie des sozialen Verkehrs zu ölen." Die Justiz hat nach dieser Auffassung nicht etwa den Rechtsbedürfnissen der Prozeßbeteiligten zu dienen. Die integrative Funktion der von ihr durchgeführten Verfahren besteht vielmehr darin, Systemvertrauen zu systemkonformen Entscheidungen zu produzieren und die reibungslose Funktionalität des Rechts permanent zu gewährleisten3. Da die Justiz so an einem als technisch- neutral interpretierten Steuerungsvorgang teilnehme, sei den etwaigen Mängeln ihres Instrumentariums noch am ehesten mit dem Computer beizukommen4. Kultur hat nach dieser Auffassung natürlich nichts mit der Selbstverwirklichung des Menschen zu tun, sie hat als (austauschbares) Verhaltensmuster zu wirken und innerhalb der eingesetzten Antriebskombinationen dazu beizutragen, daß die Systemgrenzen stabil bleiben. Das menschliche Individuum erscheint somit nicht als Subjekt der Geschichte, sondern als Objekt eines Mechanismus. Das Sozialsystem schließe den konkreten Menschen nicht ein, sondern aus, heißt es5, Mensch und Gesellschaft seien füreinander Umwelt. Und wozu überhaupt Herrschaft, wenn derjenige, der sie ausübt, nicht in der Lage ist, seine Zwecke zu Zwecken anderer zu machen0? Die Aufgabe des Menschen besteht nach dieser Auffassung darin, die bereits institutionalisierten Werte zu verinnerlichen, denn soziale Integration bedeute, daß äußerer Zwang durch inneren Zwang ersetzt werde, indem Normen „einverseelt" und zum Gesetz des eigenen Handelns gemacht werden7. Damit ist haargenau das Interesse des Kapitalisten ausgedrückt, in das Gewissen des Arbeiters einzudringen und 1 So: H. C. Bredemeyer, Law as an Integrative Mechanism, in: W. M. Evan, Law and Sociology, Glencoe 1962, p. 89. 2 T. Parsons, Recht und soziale Kontrolle, in: E. Hirsch, M. Rehbinder, Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Köln 1967, S. 122, sowie T. Parsons, The system of modern societies, Englewood Cliffs N. Y, 1971, p. 18. 3 W. Murphy, Elements of Judicial Strategy, Chicago 1964, p. 1 2 f f . ; N. Luhmann, Funktionen der Rechtsprechung im politischen System, in: Politische Planung, Opladen 1971, S. 4 6 f f . — Mit kritischem Akzent: I. Maus, Aspekte des Rechtspositivismus in der entwickelten Industriegesellschaft, in: Konkretionen politischer Theorie und Praxis (Carlo-Schmid-Festschrift), Stuttgart 1972, S. 143. 4 J. Martin, A. Norman, The computerized Society, Englewood Cliffs (N. J.) 1970, p. 446. Umfassender: K. Deutsch, Politische Kybernetik, Freiburg 1969, S. 255 ff. 5 N. Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 133f. 6 N. Luhmann, Politische Planung, Opladen 1971, S. 91 f. Kritisch: Löwe-Lanfermann, „Systemtheorie" kontra gesellschaftlicher Fortschritt, in: IPW-Berichte, 7—1973, S. 30. 7 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, S. 121, dessen antihumane theoretische Position durch die demokratisch gemeinte Kritik von R. Zippelius (Legitimation durch Verfahren?, in: Festschrift für Karl Latenz, München 1972, S. 293) nicht bemerkt oder jedenfalls nicht aufgedeckt wird, vgl. auch: N. Luhmann, Das Phänomen des Gewissens, in: Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973, S. 223ff.

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dort einen inneren Aufseher in Gestalt moralischer Prinzipien des Unternehmerstandpunktes einzusetzen. Sollte der Mensch aber die Systemintegration beeinträchtigen, indem er die Entscheidungen der Leitungsbürokraten nicht als Prämissen seines eigenen Verhaltens übernimmt, dann wäre er von einem systemimmanenten Standpunkt aus (den wir als den angeblich einzig sinnvollen kennengelernt haben!) als Disfunktionaler sozial zu isolieren, damit sein Protest folgenlos bleibt 1 . Wahrscheinlich wurden diese Zynismen zu einem Zeitpunkt geschrieben, als die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg des amerikanischen Imperialismus und die Notstandspraktiker der damals großen Koalition von SPD und CDU auf dem Höhepunkt stand. Das Rezept Luhmanns war eindeutig. Auf diese Weise wird selbst der Arbeiterklasse die Rolle zugemutet, systemstabilisierend zu wirken, wobei ihre Konformanität mittels kapitalistischer Gewinnverteilungsmethoden angereizt und institutionalisiert werden soll 2 . Auch an diesem Punkt zeigt sich eine verdächtige Übereinstimmung der Integrationstheorie mit tagespolitischen Konzepten, wie sie etwa von der CDU vertreten werden. Da nämlich die Konzentration und Zentralisation des Kapitals in der BRD — 1,7 % der Haushalte besitzen 75% des Produktivvermögens — zu einer sozialen Polarisierung ohnegleichen und damit zur Anhäufung politischen Zündstoffes tendiert, betreibt die Partei des Kapitals eine integrationsstrategische Vermögenspolitik: man verheißt „Eigentum für alle", um das objektive Klasseninteresse der Arbeiter an der Expropriation der Expropriateure durch ein fiktives Interesse an der allgemeinen Eigentumserhaltung, wie groß oder klein es auch sei, zu überlagern. Mit dieser auch als Alternative zum „östlichen" Volkseigentum durch revolutionäre Sozialisierung gedachten Zuführung von Arbeitslohnteilen zum Kapitalmarkt soll, wie ein CDU-Experte sich ausdrückte 3 , der „Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit in die Brust jedes einzelnen gelegt und dadurch als sozialer Konflikt beseitigt werden." Ganz ähnlich zielen die Mitbestimmungsvorschläge der CDU, der FDP, aber auch der SPD darauf, den antikapitalistischen Druck der Arbeiterklasse zu einem Stabilisierungselement des Machtsystems der Monopole zu kanalisieren und die ideologi1 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, S. 33, 121. Vgl. auch: N. Luhmanns Ratschläge an die Studenten, in: H.Bayer (Herausgeber), Studenten in Opposition, Bielefeld 1968, S. 73 ff. 2 T. Patsons, Beiträge zur soziologischen Theorie (1949), Neuwied 1964, S. 220f. Zur Position von Talcott Parsons vgl. die ausgezeichnete Charakteristik von Howard L. Patsons, Humanism and Marx's Thought, Springfield (III.) 1971, p. 307. 3 F. Engels, Referat auf dem Wirtschaftstag der CDU/CSU 1969, in: Die Freiheit erhalten, Bonn 1969, S. 169; vgl. auch: H. Willgerodt, K. Bartel, U. Schillert, Vermögen für alle, Düsseldorf 1971 (mit Vorwort von Ludwig Erhard) — Dagegen: J. Ledwohn, Zu den FondsPlänen der SPD und des DGB, in: Marxistische Blätter, 3 - 1 9 7 3 , S. 11, sowie W . M. Breuer, Vermögenspolitik als „Reform" des staatsmonopolistischen Kapitalismus?, ebenda, 4—1973, S. 29 ff.

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sehe Einwirkung des realen Sozialismus auf das Forderungsprogramm der Gewerkschaften abzublocken1. Soziale Antagonismen sollen so auf ein lammfrommes Miteinander eingespielt und die Triebkraft des Fortschritts in eine Konservierungshilfe für das Rückständige umfunktioniert werden. Und das ausgerechnet in einer Epoche, deren Signum der weltweite Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ist; und zu einem Zeitpunkt, in dem sich der Imperialismus als objektiv nicht stabilisierbare Gesellschaft und zugleich als Feind der Menschheit, als kontrastabilisierendes Element gegenüber der Ersten und der Dritten Welt mit blutigen Fingern jedermann ins Gedächtnis schreibt! Soweit mit dieser Theorie der Systemimmanenz überhaupt etwas geändert werden könnte, dann jedenfalls lediglich auf dem Niveau eines Reformismus, der systemstabilisierend wirkt, also mitschuldig ist am Fortbestand des Ganzen. Natürlich ist jenen Theoretikern, denen das Funktionieren des kapitalistischen Sozialsystems um jeden Preis am Herzen liegt, die Übereinstimmung von Wort und Tat, und was es dergleichen für ehrpusselige Dinge noch gibt, völlig gleichgültig. Von den Parteien und Regierungen wird erst gar nicht gefordert2, daß sie ihren politischen Kalkül dem Volk offenbaren (von einer Interessenvertretung des Volkes ganz zu schweigen). Lediglich in der Darstellung ihrer Programme mögen sie sich dem mutmaßlichen Wählerwillen anpassen. Im übrigen gelte es, ihre Ziele so vieldeutig zu formulieren, daß sie konsensbildend wirken; als tatsächlich verwendbare Entscheidungsprogramme kämen solche Leerformeln wie „Förderung des Gemeinwohles" und „Sicherung der Freiheit" ohnehin nicht in Betracht. Nicht Prinzipienfestigkeit, die Anpassungsfähigkeit des Menschen, möglichst bis in sein Inneres hinein — Luhmann spricht unverblühmt von Opportunismus! —, ist gefragt und wird gefördert3. Damit ist eine weitere Seite dieser Theorie bloßgelegt: ihre antidemokratische Haltung. Denn ihr geht es nicht nur um eine Rechtfertigung vorhandener Meinungsmanipulation ; sie legitimiert vielmehr ungeniert den Frontalangriff auf den Restbestand an Demokratie im monopolkapitalistischen Herrschaftsmechanismus. Der alte Leviathan — damit ist der militärisch stärkste Staat Westeuropas gemeint! — habe schon vielzusehr die Züge einer Milchkuh angenommen4. Eine ihrer Lieblingsthesen lautet, daß die gegenwärtige industrielle Revolution, ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz entziehe, da die Regierungsentscheidungen — sachgesetzlich determiniert, wie sie heute nun einmal seien — nur uneffektiv werden, unterstellt man sie einer demokratischen Willensbildung. Folglich werde 1 Vgl.: H. Lang, Mitbestimmung — Ordnungselement oder Hebel zur Veränderung der Machtverhältnisse, in: Marxistische Blätter, 4—1973, S. 2 3 f f . Vgl. die umfassende Darstellung von W . Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, Frankfurt/M. 1973, S. 5 0 4 f f . 2 Zum Folgenden: N. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1968, S. 149; N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Opladen 1971, S. 184, 197. 3 N. Luhmann rezipiert hier den Rechtsradikalen H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1956, S. 227. 4 A . Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt/M. 1969, S. 110.

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das Volk, das möglicherweise einst Ursprung der Staatsgewalt gewesen sei, zum Objekt der Regierungstechnik. Die heutigen Methoden der Meinungsforschung, der Propaganda und der Publizistik würden die politische Willensbildung zu einem „wissenschaftlich deduzierbaren und manipulierbaren Produktionsvorgang" machen 1. Man kann dieser Gedankenführung eine gewisse Schlüssigkeit nicht absprechen. Alle ihre Folgerungen leiten sich vom Stabilisierungsziel des vorgegebenen Sozialsystems ab 2 , das freilich ungeprüft (und angeblich unüberprüfbar) den Gedankenweg in die Irre bis hin zur nackten Machtapologetik leitet. So wird, ausgehend von einem bei der Physiologie, der Biologie und der Ethnologie übernommenen Modell selbstregulierender Systeme (vor allem der anatomischen Struktur des Organismus) unter intensiver Rezeption psychoanalytischer Standards 3 eine gesellschaftliche Unterordnungsideologie konstruiert, die schließlich im offenen Antikommunismus, ja Antidemokratismus landen muß. Es ist dieses Urteil wohlgemerkt keine Deutung bloß möglicher Konsequenzen. Denn der einflußreichste Förderer der systemfunktionalen Komponente kapitalistischer Staatsräson hat längst und wiederholt im politischen Klartext gesprochen. Diese Neigung hat sich bei Helmut Schelsky übrigens seit jener Zeit erhalten, da er seine damalige Lesart der Ganzheitslehre braunlackiert zum besten gab 4 . Nunmehr bedient der sozialtheoretische Mitläufer den Produzenten der Notstandsgesetze 5 , die Springer-Presse und den CSU-Parteitag als Analysen- und Parolenlieferant 6 . Im Stil eines Generalstäblers für psychologische Kriegsführung durchmustert Schelsky das Gesamtgebiet der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen. Die Adenauer-Aera preist er als das goldene Zeitalter (es war das des kalten Krieges!). Er verdächtigt jeden des Hochverrats, der mit dem Establishment nicht konform geht, einschließlich jener Liberalen, die sich als „denkende Minderheit" selbst wider1 H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf 1965, S. 457ff. 2 T. Parsons, The Social System, Glencoe 1952, p. 535; dazu (und dagegen): B. Löwe, Klassenkampf oder sozialer Konflikt, Berlin 1973, S. 59 ff. sowie G. Domin, H. Lanfermann, R. Mocek, D. Pälicke, Bürgerliche Wissenschaftstheorie und ideologischer Klassenkampf, Berlin 1973, S. 151 ff., 181 f f . 3 Vgl.: T. Parsons, Die jüngsten Entwicklungen in der strukturell-funktionalen Theorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie, 1964, S. 3 0 f f . 4 H. Schelsky, Sozialistische Lebenshaltung, Leipzig 1934, S. 11. Vgl.: L. Elm, Hochschule und Neofaschismus, Berlin 1972, S. 126. 5 E. Benda, Der Rechtsstaat in der Krise, Stuttgart 1972, S. 19; rezensiert in: Marxistische Blätter, 2 - 1 9 7 3 , S. 92. 6 Zum Folgenden: H. Schelsky, Die Strategie der „Systemüberwindung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Dezember 1971, S. 11 u. 12; Schelsky, Mehr Demokratie oder mehr Freiheit, ebenda, 20. Januar 1973, S. 7 u. 8; H. Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, ebenda, 29. September 1973, S. 11 u. 12; H. Schelsky, Systemüberwindung, München 1973. - Zu H. Schelsky vgl. A. Bauer, Ch. Zak, in: Philosophen-Kongreß der D D R 1970, Berlin 1970, Teil V, S. 147.

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legen (!), und jener, die angeblich die Menschenrechte durch ihre exzessive Beanspruchung zu einem Angriffsinstrument auf den Staat umzufunktionieren versuchen. In der offenkundigen Absicht, zu der manipulierten Hysterie gegen die angebliche Unterwanderung der westlichen Welt durch „Links-Chaoten" auf seine Weise beizutragen, umgibt er die grundgesetzwidrigen Verbannungen von Kommunisten und anderen Demokraten aus dem öffentlichen Dienst mit einer paraphilosophischen Weihe. Demokratie gibt Schelsky als Gegensatz der Freiheit aus, soziale Gerechtigkeit als Gegensatz menschlicher Selbstbestimmung. Mehr Demokratie bedeute weniger Rationalität und neige dazu, in sprunghafte Systemüberwindungen, in Krisen und Kriege, umzuschlagen. Mitbestimmungsforderungen der Werktätigen in der Wirtschaft werden als Ersatzlösung für politische Revolution („Herrschaftsübernahme durch Mitbestimmung") verleumdet. Demonstrationen gegen die Politik der USA in Vietnam werden als „argument-entlastete Bekundungen" verlästert. Daß sie, wie all die anderen demokratischen Aktionen auch — zugegeben —, legal sind? Unwichtig. Nicht Legalität, Systemstabilität zählt! Alles in allem eine Konzeption, für die auch McCarthy, der ruhmlos verstorbene, dankbar gewesen wäre. Hier zeigt sich in der authentischen Interpretation eines ihrer Mentoren, daß die integrative Theorie der Systemimmanenz stockreaktionär ist, und zwar vom Typus eines aggressiven Konservatismus. Man könnte sich auch konterrevolutionär nennen, wenn wenigstens eine Revolution stattgefunden hätte.

5. Interpretation statt Veränderung Zur Juristischen Hermeneutik Henkt die Philosophie, kann sie nicht aufheben eines Fürsten Urteilsspruch Shakespeare

Im Jahre 1963 erschien in einer juristischen, im wesentlichen mit der Fortbildung gerichtlichen Spruchpraxis befaßten Zeitschrift ein längerer Beitrag, den wohl zunächst nur wenige Praktiker gelesen haben werden1. Sein Titel : Zur rechtsphilosophischen Situation der Gegenwart. Der Beitrag beginnt und endet mit Karl Marx. Es geht um die elfte, die berühmteste seiner Feuerbach-Thesen2: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern." In dem Aufsatz aber wird wie folgt argumentiert : Rechtsphilosophie sei ein Teil der Philosophie; Philosophie aber, die darauf aus ist, die Welt zu verändern, sei ein Widerspruch in sich: die NichtVerfügbarkeit für Aufgaben mache das Wesen der Philosophie aus. Die Epoche des Rechtspositivismus sei zu Ende ; die Nachkriegsrenaissance des Naturrechts habe sich als Dilettantismus erwiesen. Eine rechtsphilosophische Gesamtkonzeption gebe es nicht mehr, Standortlosigkeit und Unsicherheit charakterisiere den heutigen Menschen. Der Rückgriff auf übergesetzliche sittliche Wertmaßstäbe, auf die herrschenden Kultur- und Wertanschauungen sei unverzichtbares Element der Rechtsprechung. In Fragen der Sittlichkeit und des Rechts könne keine Demokratie walten. In der Philosophie gebe es keinen Fortschritt. Aus dem Staunen des Menschen sei die Ontologie, aus dem Zweifel die Erkenntnistheorie, aus der Erschütterung die Existenzphilosophie gewachsen. Unsere Zeit sei die eines Übergangs zu einem neuen, noch namenlosen vierten Zeitalter. So sei in dieser Krisenzeit die Existenzphilosophie das Tor zu einer neuen Ontologie. Praktische Resultate könne daher die Rechtsphilosophie vorerst dem Juristen nicht liefern; der Gesetzgeber solle Zurückhaltung und Toleranz üben. Am Beginn der Neuzeit habe das Bekenntnis zur Macht gestanden. Heute sei Marx die große Mode. Stellen wir

1 A. Kaufmann, Zur rechtsphilosophischen Situation der Gegenwart, in: Juristenzeitung, 1963, S. 1 3 7 - 1 4 8 . 2 MEW, Bd. 3, S. 7. 535. Zu den Feuerbach-Thesen vgl. A. Cornu, K. Marx, F. Engels, Werke, Berlin 1968, Bd. 3, S. 1 5 6 f f . ; T. I. Oiserman, Die Entstehung der marxistischen Philosophie, Berlin 1965, S. 356; W . Schuffenhauer, Ludwig Feuerbach und der junge Marx, Berlin 1972, S. 1 3 8 f f . ; M. Klein (u.a.), Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in Deutschland, Berlin 1969, Bd. 1, 1. Halbband, S. 248ff.; L. Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Berlin 1972, S. 6 4 f f .

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seine These wieder auf die Füße: bisher ging es den Philosophen darum, die Welt zu verändern, nunmehr komme es darauf an, sie neu zu interpretieren . . . Als Arthur Kaufmann, der Autor vorstehend resümierter resignativer Konservatismen, der sich in den Folgejahren in die erste Reihe bundesdeutscher Rechtsphilosophen geschrieben hatte, diesen Aufsatz neun Jahre später, 1972, einem Sammelband einverleibte, fügte er bei der abschließenden Marx-Zitierung folgende Anmerkung hinzu 1 : „Versteht man .Interpretation' jedoch nicht positivistisch, sondern hermeneutisch, dann schließt die Interpretation der Welt deren Veränderung notwendig ein." Welcher Wandel (wenn es einer war) hatte sich von 1963 zu 1972 vollzogen, der Kaufmann veranlaßte, seine Generalattacke gegen die Feuerbach-Thesen — immerhin laut Freundeszeugnis2 das erste Dokument, worin der geniale Keim der Weltanschauung des Karl Marx niedergelegt ist — zu relativieren oder sogar zurückzuziehen? Was veranlaßte Kaufmann zu der nunmehrigen Behauptung, die elfte Feuerbach-These sei gar nicht so revolutionär, wie es vielen dünke, denn „Interpretation", richtig verstanden, habe schon immer und unvermeidlich „Veränderung" der Welt eingeschlossen, was er selbst früher freilich verkannt habe 3 ? „Interpretation" richtig, hermeneutisch verstanden, das scheint der springende Punkt zu sein. In der Tat, in der Zwischenzeit hatten sich im Ergebnis eines langjährigen Dialogs die Ansätze eines neuen Rechtsverständnisses allmählich zu einer neuen Art juristischen Grundlagendenkens verdichtet. Es handelt sich dabei um nicht Geringeres als um den Beginn einer systematischen Ausarbeitung einer juristischen Hermeneutik. Obschon ihre Anhänger nicht den „Alleinvertretungsanspruch" für eine bestimmte Richtung von Rechtstheorie oder -philosophie beanspruchen und sich der Fragwürdigkeit philosophischer Schulbildung bewußt sind, hat sich eben doch so etwas Ähnliches wie eine Schule — übrigens mit starker internationaler Ausstrahlungskraft — herausgebildet, nichts Abgeschlossenes freilich, aber doch eine tendenziell einströmige Art des juristischen Denkens. Die juristischen Hermeneutiker sind im Gegensatz zu ihren philosophischen Parolenlieferanten4 allerdings klug genug, jedenfalls zunächst keinen Universalitätsanspruch zu erheben. Nun gehört die Exegese oder Hermeneutik juristischer Texte, vor allem von Rechtsnormen und Gerichtsurteilen, zum jahrtausendealten Instrumentarium der Juristen, deren Arbeitsweise eigentlich immer neben der Sachverhaltsfeststellung die Deutung und Auslegung, das Verstehen und Interpretieren von Gesetzen und 1 2 3 4

A. Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt/M. 1972, S. 206. MEW, Bd. 21, S. 264. A. Kaufmann, Wozu Rechtsphilosophie heute, Frankfurt/M. 1971, S. 38. H.-G. Gadamer, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1971, S. 289; J. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, ebenda, S. 120. Allgemein: O. Pöggeler (Herausgeber), Hermeneutische Philosophie, München 1972, sowie N. Henrichs, Bibliographie der Hermeneutik und ihrer Anwendungsbereiche, Düsseldorf 1968.

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Urteilen enthielt1. Und zwar mit der Zielstellung des juristischen "Praktikers einer Entscheidungsfindung und -begründung, die den Einsatz staatlicher Zwangsmittel einleitete, oder mit der Zielstellung des juristischen Theoretikers, der eine in sich geschlossene Normen- und Urteilshierarchie unter Ausmerzung innerer Widersprüche darzustellen sich bemühte. Diesen wegen des unvermeidlichen Unbestimmtheitsgrades ihrer Ergebnisse meist mehr als Kunst denn als Wissenschaft bezeichneten hermeneutischen Methoden werden gerade in der bürgerlichen Gesellschaft besondere Leistungen abverlangt. Die heute noch gültigen Kodifikationen entstammen den Jahren nach dem Machtantritt der Bourgeoisie, widerspiegeln in Inhalt und Form konkurrenzkapitalistische Bedürfnisstrukturen, und da bedarf es gegenwärtig schon Auslegungskünste höherer Art, um das Recht gesellschaftsadäquat zur Wirkung zu bringen. Die solcherweise hermeneutisch betriebene Jurisprudenz hat mittlerweile ein für Laien unvorstellbares Ausmaß angenommen: Die Kommentierung des Zwei-ZeilenParagraphen 242 des 1896 beschlossenen BGB hat sich inzwischen zu 1400 Seiten Text, im Lexikonformat, aufgebauscht. Das für die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse grundlegende Betriebsverfassungsgesetz, gerade erst erlassen, ist mit einem tausendseitigen Kommentar auch nicht gerade „transparent"2. In der Form von Rechtsinterpretationen vollzogen und vollziehen sich natürlich, und nicht unerhebliche, RechtsVeränderungen. Wie der mit der kapitalistischen Justiz als Verteidiger von Angeklagten aber auch als Angeklagter vertraute Karl Liebknecht schrieb3, bestimmen zu allen Zeiten die Richter durch ihre Interpretation den Inhalt der Gesetze und üben in diesem Sinn eine Art gesetzgebender Funktion aus. Aber weder Ausmaß noch Inhalt dieser Art von Interpretations-Hermeneutik juristischer Texte bestimmen das eigentliche Anliegen der Rechts-Hermeneutik moderner Prägung. Ihr Vorhaben zielt auf eine Neuorientierung der Rechtsphilosophie und auf einen Brückenschlag der neugeordneten Rechtsphilosophie zur Rechtstheorie; sie hofft auf eine (bisher ausgebliebene) Ergänzung durch angemessene rechtssoziologische Erörterung und will dann wohl insgesamt die Rechtsphilosophie des bisher namenlosen vierten Zeitalters darstellen, von der weiter oben die Rede war. Seinen besonderen Reiz erhält die Konstituierung der juristischen Hermeneutik dadurch, daß sie im Zeichen der Kritik erfolgt, und zwar einer Kritik, die nicht systemimmanent zu bleiben, ja die einen Beitrag zur qualitativen Umgestaltung des Rechts zu liefern verspricht4. Theorien aber, die aus einem Gegensatz geboren wer1 Vgl.: K. A. Mokitschew (Herausgeber), Staats- und Rechtstheorie, Moskau 1970, S. 520ff. (russ.); I. Szabö, Die theoretischen Fragen der Auslegung von Rechtsnormen, Berlin 1963; H. M. Ffarr, Auslegungstheorie und Auslegungspraxis, Berlin(West) 1972. 2 J. Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. II, Teil lb, Berlin(West) 1961; E. G. Erdmann (u. a.), Betriebsverfassungsgesetz. Kommentar für die Praxis, Neuwied 1972. 3 K. Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Berlin 1960, Bd. 2, S. 19. 4 W. Paul, Kritische Rechtsdogmatik und Dogmatikkritik, in: A. Kaufmann (Herausgeber), Rechtstheorie, Karlsruhe 1971 (künftig als „Kecbtitbeorie" zitiert), S. 70.

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den, gewinnen rascher Profil; man kann leichter sehen, was an ihnen ist, und wozu sie befähigen. Tatsächlich, der kritische Ansatz gegen die systemstrukturelle Rechtstheorie wie auch gegen die Axiomatisierungen anstrebende juristische Logik sind unverkennbar1: Es komme darauf an, eine mögliche Position der Systemkritik zu erarbeiten, und zwar nicht als immanente Kritik am System, sondern als Kritik des Systems; es gelte Gerechtigkeitskriterien zu entfalten, die als „Argumente des Widerstandes gegen das Gesetz" benutzt werden können; das ehrgeizige Ziel der von den juristischen Logikern und EDV-Forschern angestrebten computergerechten Gesetzgebung und vollautomatisierten Rechtsanwendung würde zu einer Entwertung des zur Entscheidung anstehenden Sachverhalts und damit zum Wesensverlust juristischer Tätigkeit führen. Der insoweit zunächst verheißungsvolle kritische Ansatz der juristischen Hermeneutik wird — nicht häufig allerdings — auch ins Praktisch-Juristische gewendet. Ende 1968, Anfang 1969 fanden vor bundesrepublikanischen Gerichten hunderte von Strafverfahren gegen Demonstranten statt, die gegen die Notstandsgesetze und die Meinungsmanipulationen des Springer-Konzerns protestiert hatten und nun wegen Landfriedensbruch, Aufruhr, Nötigung usw. angeklagt waren. In solch einem Gerichtsverfahren erließ das Amtsgericht Frankfurt ein Urteil2, in dem es sich vor der Verantwortung für seine repressive Tätigkeit durch eine Formel zu drücken versuchte, die — auch mit ihrem grammatikalischen Unverstand — in geradezu klassischer Weise die Tradition der Untertanjustiz vergangener Zeiten fortführte: „Die Tatbestandsverwirklichung ist als wertneutrale Subsumtion mit dem Gesetzeswortlaut vorzunehmen." Diese eine Subsumtionsrationalität vortäuschende Auffassung nimmt nun einer der jüngeren Hermeneutiker aufs Korn, indem er darauf verweist, daß richterliche Tätigkeit alles andere als neutral sei. Aber die aus dieser — sicher richtigen — Erkenntnis gezogene Schlußfolgerung, daß folglich kein Weg an einer kritischen Reflektion auf den hermeneutischen Prozeß und die in diesem sich auswirkenden gesellschaftlichen Strukturen vorbeiführe, ist weder zwingend noch dann geeignet, zum Wesen der Sache vorzudringen, wenn (im Anschluß an Habermas) als Ziel solcher Reflektion angegeben wird, der Intersubjektivität handlungsorientierter Verständigung zu dienen3. Daß Intersubjektivität eine (wenn auch — vielleicht 1 — geläuterte) Form von Subjektivität ist, wird von den Hermeneutikern nicht bestritten4; da sie aber die Existenz 1 Vgl.: A. Kaufmann, W . Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Frankfurt/M. 1971, S. 27ff., 6 8 f f . 2 Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 4. Oktober 1968, in: Kritische Justiz, 1968, S. 182. 3 U. Schroth, Zum Problem der Wertneutralität richterlicher Tatbestandfestlegung im Strafrecht, in: „Rechtstheorie", S. 108; J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1971, S. 221. 4 A. Kaufmann, in: „Rechtstheorie", S. 3.

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absoluter Maßstäbe leugnen und ihr Methodeninstrumentarium ihnen das Auffinden objektiver Maßstäbe verwehrt, verbleiben alle hermeneutisch erzielten Ergebnisse im bloß Meinungsmäßigen, eben im Subjektbereich. Daher kann eine hermeneutisch betriebene Rechtstheorie nicht das leisten, was ihre Anhänger1 sich von ihr erhoffen oder uns glauben machen möchten, daß man es von ihr erwarten könne: die ErErkenntnis des geschichtlich-gesellschaftlich konstituierten Rechts! So definiert Ellscheid2 auch geradezu als Absicht seiner Art Rechtstheorie zu betreiben, „außerbewußte Strukturen des Rechtsdenkens als die dieses Denken mitbestimmende Realität aufzudecken." Nichts dagegen, Vorurteile — die man neuerdings als „Vorverständnis" zu verharmlosen pflegt — transparent zu machen; aber nicht (wie immer geartete) Strukturen des Denkens sind letztlich die Ursachen des Denkinhalts, und schon gar nicht sind die objektive Realität. Objektive Realität zu erkennen und zu verändern, bleibt jedoch das eigentliche Ziel einer Rechtstheorie, die auf wissenschaftliche Erkenntnis der Welt Wert legt. Materialistisch betriebene Destruktion von falschem Bewußtsein, ist darauf gerichtet, daß der sich seiner Versklavung bewußtwerdende Sklave die Ketten abwirft. Hermeneutisch betriebene Ideologiekritik hingegen zielt nicht einmal darauf, daß sich der Sklave seiner Versklavung bewußt wird; sie macht lediglich dem Sklaven begreiflich, daß er nur ein sklavisches Bewußtsein haben kann. Hermeneutik verändert kein Bewußtsein, sie rechtfertigt vielmehr mit dem Bewußtsein die Welt. Ihre Vertreter beschränken sich darauf, das Vorurteil, das Vorverständnis, als Voraussetzung des Urteilens sichtbar zu machen. Das Vorurteil sei mehr noch als sein Urteil die Wirklichkeit des einzelnen3. Denn aus diesem, auf individualen und sozialen Erfahrungen beruhenden Vorverständnis würden sich die entscheidenden Maßstäbe für die Urteilstätigkeit ergeben. Die Maßstäbe selbst könnten nicht beseitigt oder ersetzt, sondern nur durchschaubar gemacht werden4. Der damit eingestandenermaßen auf kontemplative Reflexion gerichtete Charakterzug der Hermeneutik gewinnt bei ihrer Anwendung im juristischen Forschungsfeld insofern eine zusätzlich verschleiernde Funktion, als Rechtsfragen ja Machtfragen sind. Was aber nutzt es, wenn sich — in der Formulierung 1 K.-L. Kunz, Rechtstheorie — regionale allgemeine Wissenschaftstheorie oder Erkenntnistheorie des Rechts, in: „Rechtstheorie", S. 23. 2 G. Ellscheid, Zur Forschungsidee der Rechtstheorie, in: „Rechtstheorie", S. 17. — Zu den Möglichkeiten einer strukturalistisch betriebenen Jurisprudenz vgl.: P. Hartmann, Sprachwissenschaft und Rechtswissenschaft, in: Rechtstheorie, 1970, S. 4 5 f f . Allgemeiner: M. Esbroeck, Hermeneutik, Strukturalismus und Exegese, München 1972. 3 H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, S. 261. 4 A . Kaufmann, W . Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Frankfurt/M. 1971, S. 72; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt/M. 1972, S. 1 3 6 f f . Dagegen H. M. Pawlowski, Überlegungen zur Gerechtigkeit des Rechts, in: Recht und Staat, Festschrift für G. Küchenhoff, Berlin(West) 1972, S. 1 3 9 f f . 6 Klenner, Rechtsphilosophie

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von Habermas 1 — ein „Objekt auf dem Wege der Selbstreflexion über unbewußte Voraussetzungen seiner gerade vollzogenen Leistungen klar wird", da doch gerade das Vollziehen der Leistung, spricht: die staatliche Machtübung in Frage gestellt werden müßte. Hermeneutik bietet also höchstens ein Verstehen des bereits Getanen, ein Selbstverständnis vielleicht, nie aber eine Tat 2 ; ihre Philosophie analysiert, aber sie produziert nicht, und das mit Absicht. In ihrem juristischen Anwendungsbereich verschlimmert sich die Selbstbeschränkung der Hermeneutik noch dadurch, daß deren Anhänger den Vorrang des Gesetzgebers beachten zu müssen meinen: Kritik innerhalb der Grenzen des Gesetzes 3 ! Und dann gibt es ja noch den vielbeschworenen hermeneutischen Zirkel: Das Einzelne kann nur verstanden werden, wenn das Ganze verstanden ist, und das Ganze nur, wenn das Einzelne verstanden wurde, oder: was ich wissen will, muß ich-schon wissen 4 . Daß der Auslegende — so Heidegger 5 — das Auszulegende bereits verstanden haben muß, wenn er mit der Auslegung beginnt, beschert dem Juristen eine kafkaeske Dauersituation, denn Auslegung gehört nun einmal zu seinem täglichen Geschäft. Sie nimmt seiner Tätigkeit damit jeden Rationalitätsanspruch ; vor allem aber stellt sie ihn vor rationaler Kritik sicher. Wenn es nach der Hermeneutik ginge! Die Hermeneutiker erliegen dem Trugbild (und produzieren es bei anderen), daß das Gerichtsverfahren ein „herrschaftsfreier Dialog" zwischen den Prozeßbeteiligten und die richterliche Urteilsfindung ein „herrschaftsfreies" Hin- und Herwandern des richterlichen Blickes zwischen Gesetzesnorm und Lebensachverhalt sei, wie eine berühmt gewordene Formel die hermeneutisch verstandene Subsumtionstätigkeit des Juristen charakterisiert 6 . Man vergleiche mit dieser verharmlosenden Deutung des Richterschwertes als einer Gelehrtenfeder die kritische Betrachtung eines Revisionsurteils des Bundesgerichtshofes 7 : „Der BGH wirft sich in den Staub. Er legalisiert die Macht . . . Wer das Geld hat, sich von Universitätsprofessoren die passenden Rechtsguthaben zu kaufen, der hat das Recht. Das ist die letzte Wahrheit zur Auslegungslehre." 1 J. Habermas, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1971, S. 126. 2 So: W. R.Beyer, Hermeneutik, in: G. Klaus, M. Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1974, S. 518. 3 So: B. Rüthers, Institutionelles Reohtsdenken im Wandel der Verfassungsepochen, Bad Homburg 1970, S. 59. 4 H. Seiffert, Marxismus und bürgerliche Wissenschaft, München 1971, S. 35. 5 M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 1958, S. 152. 6 K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung (1943), Heidelberg 1963, S. 15. Von A. Kaufmann (Analogy and „The Nature of Things", in: Journal of the Indian Law Institute, 1966, p. 388) gutgeheißen. Gegen Engisch: H. Rottleuthner, Klassenjustiz, in: Kritische Justiz, 1969, S. 3. 7 Th. Rasehorn, H. Ostermeyer, F. Hasse, D. Huhn, Im Namen des Volkes, Neuwied 1968, S. 85f.

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Indem die Hermeneutiker die menschliche Gesellschaft, die doch in erster Linie Produkt ionsioim des Zusammenlebens von Menschen ist, als eine Gespräcbsgemeinschaft deuten, erscheint ihnen die zwischenmenschliche Verständigung als das eigentliche Ziel. Unter den Bedingungen vorhandener Antagonismen, von Ausbeutung und Unterdrückung, in Anlehnung an die T o p i k auf den Konsensus zu orientieren 1 , heißt aber nicht nur sich eine illusionäre (und daher eine letztlich illusorische) A u f g a b e zu stellen, es heißt vor allem einen potentiellen Beitrag zur Irreführung anderer zu liefern. D a s kommt davon, wenn man dem juristischen Denken die Möglichkeit einer Erkenntnistätigkeit mit dem Ziel einer adaequatio rei intellectus abspricht, also auf eine ontologische Wahrheitsbegründung verzichtet 2 . Damit erreicht man nicht nur eine idealistische, sondern eine subjektiv-\d&z\isx\sche Haltung. Unter dem Motto „ Z u r Sache" ausgezogen, landet man bei der Meinungs konvergent als Wahrheitskriterium, einem subjektivistischen Maßstab, der allerdings noch immer den „herrschenden Kultur- und Wertanschauungen" zum „ G e f ü h l innerer Gewißheit" beim Gericht und damit Geltung verschafft hat. Was K a u f mann übrigens nicht bestreitet 3 . Selbst das Higentum, die Gesamtheit der (materiellen) Produktionsverhältnisse, mittels deren sich die Aneignung der Welt durch den Menschen vollzieht, und das als Besitz-, Verfügungs- und Entscheidungsmacht von Individuen und G e sellschaftsklassen über die Mittel und Ergebnisse der Produktion sichtbar wird, nimmt unter den Händen der Hermeneutiker die Struktur eines „ D i a l o g s " a n 4 . Natürlich nicht zwischen Arbeitenden und Ausbeutenden, die tauchen nämlich beide bei Erörterungen solcher Art erst gar nicht auf. Vielmehr wird der Prozeß der Eigentumswerdung als Wandel gesellschaftlicher Herrschaftsformen über die Natur betrachtet, so daß nicht die Herrschaftsformen des Menschen über den Menschen in den Blick treten. A u f diese (nicht ungeschickte, weil dialektische Argumentationen einsetzende) Weise kann dann der heute dominant werdenden industriellen Naturbeherrschung das Zurückgedrängtwerden des mit der Agrargesellschaft verknüpften Begriffs des „heiligen" Privateigentums nachgesagt werden. Übrig blieben dann v o m Eigentum abstrakte soziale Teilhaberrechte eines jeden. Der Rechtsschutz des Eigentums bestünde dann nur noch darin, die Möglichkeit des einzelnen abzusichern, nach vorhersehbaren Regeln über Geld oder geldäquivalente Sachwerte verfügen zu können 5 . 1 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt/M. 1972, S. 13, 155. 2 G . Ellscheid, in: „Rechtstheorie", S. 8. 3 A. Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt/M. 1972, S. 185 ff., 194; A. Kaufmann, Das Schuldprinzip, Heidelberg 1961, S. 76ff. 4 Zum Folgenden: R.-P. Calliess, Eigentum als Institution, in: „Rechtstheorie", S. 119f., auch in: H. Schelsky (Herausgeber), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, S. 119ff. 5 N . Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin(West) 1965, S. 123 ff. 6*

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Die damit vollzogene „Dynamisierung der Eigentumsinstitution" könnte als etwas eigenwillige Umschreibung des Vergesellschaftungsprozesses der Produktion und der Arbeit aufgefaßt werden. Er zielt aber auf das genaue Gegenteil: Die von der wissenschaftlich-technischen Revolution beschleunigte Arbeitsteilung und Spezialisierung der Produktion läßt im Kapitalismus die gegenseitige Abhängigkeit und wechselseitige Verflechtung zwischen Betrieben und Produktionszweigen zunehmen; dadurch wird aber die Leitung der objektiven Zusammenhänge der Produktion, die planmäßige Koordinierung zwischen den Wirtschaftszweigen und den Phasen des Reproduktionsprozesses sowie die Aneignung und Verteilung der Produktionsmittel und — ergebnisse im gesamtgesellschaftlichen Interesse noch sichtbarer zur objektiven Notwendigkeit. Während der Charakter der Vergesellschaftung von Produktion und Arbeit durch die herrschenden Produktionsverhältnisse bestimmt wird, wird deren Aufhebung, also die Sozialisierung, eben durch den Entwicklungstrend der allgemeinen Vergesellschaftung erforderlich Bei der dialogisierenden Betrachtung des Eigentums hingegen ist alles Wesentliche schon geschehen. Wissenschaft und Technik bestimmen die Aneignungsund Herrschaftsprozesse über die Natur, das Eigentum ist „sozialverflochten" und das Eigentumsrecht braucht bloß noch im Dialog der Beteiligten herausprozessiert zu werden. Solchermaßen werden Antagonismen durch Rechtsgespräche überbrückt. Die Reflexion erübrigt die Revolution. Nach all dem ist das Unbehagen mehr als verständlich, das einzelne der jüngeren Hermeneutiker empfinden 2 , da sich in der Sprache des Rechts — „mitunter", wie gemeint wird — Herrschaftsinteressen ausprägen, und Deutungskünste gegenüber bestehenden Machtverhältnissen verführbar seien. In der Tat: wozu eigentlich der Aufwand, die Vorurteilsstruktur transparent zu machen, wenn sie doch unaufhebbar ist? Solange Rechtstheorie als kritisches Nachdenken über das Recht konzipiert wird — und das ist ja der Generalanspruch der Hermeneutiker 3 —, steht als erstes die Frage nach dem Kriterium, dessen sich die Kritik bedient. Daß die Hermeneutiker um die Frage nach dem Kriterium ihrer Kritik einen Bogen machen, ist jedoch nicht Zufall. Wolf Paul etwa 4 reitet zwar zunächst eine Attacke gegen die traditionelle Jurisprudenz als die dogmatische Statthalterin des gelten1 Vgl.: Der Staatsmonopolistische Kapitalismus (Paris 1971), Berlin 1972, S. 8 7 f f . 2 So: R. Leicht, Von der Hermeneutik-Rezeption zur Sinnkritik in der Rechtstheorie, in: „Rechtstheorie", S. 71 ff. 3 Vgl.: W. Hassemer, Rechtstheorie, Methodenlehre und Rechtsreform, in: „Rechtstheorie", S. 27. J. Priester (Das Prinzip der Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften und das L'art-pour-1' art-Prinzip in der Kunst, ebenda, S. 45) schwächt allerdings mit seinen Darlegungen zum „ Prinzip der kriteriumsrichtigen Entscheidung" die kritische Potenz der Rechtstheorie von vornherein in analytisch-positivistische Richtung. 4 Zum Folgenden: W . Paul, Kritische Rechtsdogmatik und Dogmakritik, in: „Rechtstheorie", S. 53 f f .

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den Rechts, schiebt aber die Schuld dafür auf die herrschende Stellung der Rechtsdogmatik, die „naturgemäß" (!) nicht dazu neige, über sich selbst hinauszufragen, so wie darauf, daß Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie bislang in nur subalterner Absicht betrieben wurden. Eine qualitative Veränderung erhofft er sich von einer kooperativen Forschung, die sich einem praktischen Forschungsziel verpflichtet fühle und von interdisziplinärer Kritik überwacht werde. Also nichts von einem Maßstab der Kritik, von materiellen Interessen ganz zu schweigen, die hinter dem Recht und hinter den Rechtsideologien stecken, und ohne deren Aufhellung höchstens eine Salamitaktik des Fortschritts praktiziert werden kann. Aber vielleicht ist verschämter Progreß auf Raten ohnehin der Autoren Ziel? Wie anders könnte man sonst den „Alternativenentwurf eines Strafgesetzbuches", der gewiß Mittelalterliches aus dem geltenden Strafrecht eliminiert hat, als revolutionäre Tat feiern, weder der Sache noch der Absicht des Entwurfsteams gerecht werdend? Die in die Hermeneutik eingebrachten Ausläufer der „Kritischen Theorie" belegen, wie harmlos diese eigentlich ist und wie gefügig deren Erkenntnis in die traditionellen Ideensysteme integriert werden können. WennJ man, wie Horkheimer es formuliert 1 , sich kritisch zur freien Welt zu verhalten und dennoch zu ihren Ideen zu stehen verspricht, wenn man — wie Marcuse 2 — noch stolz darauf ist, daß man sich im Nichtbesitz von Begriffen, die die Kluft zwischen Gegenwärtigem und Zukünftigem überbrücken, mit der Großen Weigerung begnügt, wenn man — wie Negt 3 — die Konterrevolution als notwendige Voraussetzung der Revolution abzuwarten vorschlägt, dann verwandelt sich eben unter der Hand die großangekündigte, das Wesen der Demokratie geradezu definierende Kritik in Verbesserungsvorschläge kleineren Kalibers. Auch so kann man die Perfektion der bestehenden Gesellschaftsordnung betreiben! Wenn man schon die Kritik für das Wesen des Rechts und der Rechtstheorie ausgibt, ja sich sogar „radikalkritisch, d. h. auch selbstkritisch und revisionsfähig" zu verhalten verspricht 5 , dann gewinnt neben der Herausarbeitung der Kriterien dieser Kritik auch die des Anwendungsbereiches dieser Kritik entscheidende Bedeutung. Und damit sind wir bei einer Erörterung des Abstraktionsfeldes rechtstheo1 M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 10. Zur Kritik der Philosophie und Soziologie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas und Negt vgl.: Die „Frankfurter Schule" im Lichte des Marxismus, Berlin 1971. 2 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1970 S. 268; Marcuse, Reexamination of the concept of revolution, in: Marx and contemporary scientific thought, The Hague, 1969, p. 479. 3 O. Negt, Politik und Protest, in: L. Hack (u. a.) Protest und Politik, Frankfurt/M. 1968, S. 23. Das kommt eben davon, wenn man der europäischen Arbeiterklasse revolutionäre Potenzen abspricht. 4 Th. W . Adorno, Kritik, Frankfurt/M. 1970, S. 10. 5 So: I. Tammelo, Rechtslogik und materiale Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1971, S. 152.

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Schematiche

Darstellung

z i Rechtsphilosophie Reflexion der axiologischen Strukturen des Rechts

Methodologie der: Gesetzgebung

I iRccht¡sprechung

> JuriJik Dogmaiik des: Rechts: sog. All g. Rechtslcl ire § . ao « .5

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Zivilrechts

Strafrechts

öffentlichen Rechts

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Gesetzgebung und Rechtssprechung sowie der Dogmatik der einzelnen Rechtszweige1. Rechtstheorie müsse sowohl analytisch wie kritisch betrieben werden. Analytische Rechtstheorie leiste die bewußtseinswissenschaftliche Fundierung und Orientierung realistischer Jurisprudenz. Sie gewährleiste die formale Rationalität und Intersubjektivität der gedanklichen Setzungen und Schlüsse der Rechtswissenschaft. Sie sichere zugleich die funktionale Rationalität der Termini und Figuren, der Institute und Normen des Rechts. Sie wache über die Begriffs- und Systemrationalität des Gedankenapparates, aus dem die alltägliche praktische Arbeit am Recht mit wissenschaftlichen Methoden aus einem wissenschaftlichen System theoretisch vorbereitet und praktisch angeleitet werde. Als Teildisziplinen einer analytischen Rechtstheorie seien bisher entwickelt: a) Erkenntnistheorie und Logiktheorie, b) Begriffstheorie und Systemtheorie, c) Entscheidungstheorie und Informationstheorie, d) Sprachtheorie und Argumentationstheorie des Rechts. Die kritische Theorie des Rechts leiste demgegenüber die wirklichkeitswissenschaftliche Fundierung und Orientierung realistischer Jurisprudenz. Sie gewährleiste die materiale Rationalität und Intersubjektivität der tatsächlichen Setzungen und Schlüsse der Rechtswissenschaft. Kritische Rechtstheorie sichere zugleich die emanzipatorische Rationalität der Termini und Figuren, der Institute und Normen der Rechtswissenschaft. Sie wache damit über Begriffsrationalität und Systemrationalität als eines Gesellschaftsentwurfs, aus dem die alltägliche praktische Arbeit am Recht mit wissenschaftlichen Methoden theoretisch vorbereitet und praktisch angeleitet werde. Als Teildisziplinen einer kritischen Theorie des Rechts werden benannt: a) Erkenntnistheorie als kritische Reflexion der konkreten Situation, b) Gesellschaftstheorie als produktive Antizipation emanzipatorischer Konzepte, c) Entwicklungstheorie als komparative Verifikation an paraleller Evolution, d) Handlungstheorie als pragmatische Strategie konkreter Realisation. Kritische Rechtstheorie leiste die ständige gesellschaftstheoretische Infragestellung und Erneuerung der in der Theorie und Praxis der Rechtswissenschaft angewandten Regelungen und Ordnungen durch die sozial- und ideologiekritische Überprüfung dieser rechtlichen Setzungen an den tatsächlichen Verhältnissen mittels der Einbringung und Umsetzung hierfür geeigneter Methoden und Techniken wirklichkeitswissenschaftlichen Fragens und Erfahrens aus der Grundlagendiskussion der Gesellschaftstheorie. Rechtstheorie, analytisch und kritisch betrieben, ermögliche erst eine gesamte Rechtswissenschaft, in Hinsicht ebenso auf das Recht als Norm in einem Überbau des Bewußtseins über die gesellschaftliche Wirklichkeit und auf das Recht als 1 Zum Folgenden: J. Klüver, J. M. Priester, J. Schmidt, F. O. Wolf, Rechtstheorie — Wissen schaftstheorie des Rechts, in: .Rechtstheorie', S. 1 ff., sowie vor allem W. Maihofer, Rechtsthcorie als Basisdisziplin der Jurisprudenz, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 2, Bielefeld 1972, S. 51 ff.

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Instrument nicht nur der kritischen Interpretation, sondern auch der konstruktiven Veränderung ebendieser Basis der Gesellschaft. 2. Die Rechtsso^iologie hingegen baue auf den Erkenntnissen der allgemeinen Soziologie auf; sie habe die soziologischen Strukturen des Rechts zu untersuchen und die Gesellschaftlichkeit des Rechts zu sichern 1 . Um die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts (die regulative und die integrative Funktion) sowie die anthropologischen Funktionen des Rechts (die rationalisierende und antizipierende Funktion) des Rechts umfassend zu erforschen, bedürfe es einer dreigeteilten Rechtssoziologie. Die empirische Rechtssoziologie habe Rechtstatsachenforschung zu betreiben, das heißt, Beobachtungsaussagen über tatsächlich feststellbare Verhaltensgepflogenheiten und Rechtsauffassungen zu erbringen. Die theoretische Rechtssoziologie habe von einer bestimmten Perspektive her, nämlich der systemfunktionalen Perspektive der Gesellschaft als soziales System oder von der personfunktionalen Perspektive des Einzelnen als soziales Individuum alle diese im gesellschaftlichen Sein und Bewußtsein beobachteten Rechtserscheinungen auf ihre Struktur und Funktion hin zu analysieren. Die kritische Rechtssoziologie habe sich mit einer Diagnose der realen Determination des Rechts durch die Gesellschaft und der idealen Determination der Gesellschaft durch das Recht zu befassen, vor allem also mit der Erhellung der Widersprüche zwischen Recht und Gesellschaft, die als soziologische und ideologische Differenz zwischen Norm und Faktum bezeichnet werden. Die Rechtssoziologie, empirisch, theoretisch und kritisch betrieben, sei gegenüber den juristischen Argumentationen der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie, aber auch gegenüber denen der Rechtsdogmatik, der Garant für die Gesellschaftlichkeit der Gestaltung und Handhabung des Rechts in Gesetzgebung und Rechtssprechung. 3. Die Rechtsphilosophie schließlich basiere auf den Ergebnissen der Sozialphilosophie und reflektiere die axiologischen Strukturen des Rechts; ihr obliege es, für die Humanität der Rechtswissenschaft aufzukommen 2 . Die Rechtsphilosophie habe die alle Stufen der juristischen Reflexion begleitende, zunächst und zumeist irrationale und implizite Reaktion unseres Rechtsgefühls zum Anlaß einer rationalen Explikation zu nehmen. Das allen Wertungen auch im Recht zugrunde Liegende und Vorausgesetzte werde durch Offenlegung: Explikation der ontologischen und anthropologischen Prämissen und Implikationen, die sich in Strukturen humaner Realität und in Konzeptionen realer Humanität niederschlagen, erhellt. Die Stellenwerte von Zwecken und Rangverhältnisse von Werten erörtere die Rechtsphilosophie in konkreter Analyse der 1 Zum Folgenden: W . Maihofer, Zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: .Rechtstheorie', S. 247ff., sowie Maihofer, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1, Bielefeld 1970, S. 11 f f . 2 Zum Folgenden: E. Zacher, Zum Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, in: „Rechtstheorie", S. 224ff., sowie Maihofer, ebenda, S. 440ff., 273f., 297f.

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konkreten Situation. Sie stelle das geltende Recht und die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse dadurch in Frage, daß sie diese mit den konkreten Utopien konfrontiere, in denen sich das Bewußtsein eines Zeitalters artikuliert, für unsere Epoche der Moderne als ein Zeitalter der Gleichheit: die Rechtsutopie einer weltbürgerlichen Gesellschaft und die Sozialutopie einer klassenlosen Gesellschaft. Die in sich aufgefächerte, sich in ihren Subsystemen ständig überlappende „Realistische Jurisprudenz" will eine nur interdisziplinäre Vereinigung von Rechtstheorie, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie sein. Das deutet schon darauf hin, daß mit der vorgelegten Mehrdimensionalitätskonzeption weder die erforderliche Allseitigkeit der juristischen Grundlagenforschung noch eine die wesentlichen Gesetzmäßigkeiten der Rechtsentwicklung aufdeckende Forschungsarbeit erreicht werden kann. Es bleibt beim Stückwerk. Denn: Eine Konzeption, die Wissenschaftlichkeit und Rationalität nur einem Teilbereich der Grundlagenforschung beziehungsweise nur Teilen von Teilbereichen zuordnet, kann zur wissenschaftlichen Durchdringung der anderen beiden Teilbereiche wohl nur mit erschlichenen oder jedenfalls nicht auf Verifikation angelegten Auffassungen beitragen. Wenn lediglich die Rechtstheorie rationale Ergebnisse zu liefern vermag, wie lediglich die Rechtsphilosophie humane, dann heißt das wohl auch, daß die Rechtstheorie nichts Humanes, die Rechtsphilosophie nichts Rationales und die Rechtssoziologie weder Humanes noch Rationales zur Rechtserkenntnis und -handhabung beizusteuern haben. Die trialistische Konzeption beruht wohl auf der überfälligen Einsicht, daß eine bloß logisch-analytisch angelegte Rechtsforschung (wie etwa bei Kelsen oder Hart) schon von ihrem Ansatz her nur unzureichende Ergebnisse ermöglicht. Sie verbleibt aber mit ihrer eingeengten Wissenschaftskonzeption innerhalb der von den Positivisten gezogenen Schranken. Damit aber werden von vornherein die möglichen progressiven Folgerungen aus dem theoretischen Ansatz der Vertreter einer realistischen Jurisprudenz von ihnen selbst als nicht zwingend, als nicht denknotwendig preisgegeben. Was aber nutzt eine Rechtsphilosophie, die ihre Ergebnisse als zwar nicht irrational, aber doch als nichtwissenschaftlich bezeichnet also dem Glaubensbereich zuzuordnen gestattet? Die als Feiertagsangelegenheit — Maihofer 2 : wenn die letzten Register gezogen werden — in Anspruch genommen wird, als verweltliche Ersatzpredigt, aber Predigt immerhin? Das ist um so bedauerlicher, als ein Teil der realistischen Jurisprudenzler von jener gelehrten Apathie frei ist, die von jeher ein Hauptübel bürgerlicher Wissenschaftlichkeit war. Einer der jüngeren unter ihnen meint von der Rechtstheorie resigniert feststellen zu müssen 3 , daß sie zwar so manche logisch nicht halt1 So: Klüver, Priester, Schmidt, Wolf, in: „Rechtstheorie", S. 8. 2 So: W . Maihofer, in: „Rechtstheorie", S. 274, 298. 3 E. Zacher, in: „Rechtstheorie", S. 246.

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bare Aussage der Rechtswissenschaft werde durchstreichen dürfen, aber dem Recht insgesamt nicht auf die Sprünge zu helfen vermöge, denn im Recht gehe es letztlich um die wissenschaftlich nicht sicherungsfähige Voraussetzung der Freiheit; da aber werde es praktisch, und noch der geringste sensus libertatis zähle hier mehr als Wissenschaft, die ihn nie verspürt hat. Solche von den sich selbst genehmigten Voraussetzungen her gewiß konsequente Trennung von Wissenschaftlichkeit und Progressivität, von Kopf und Herz, entbehrt zumindest bei einigen ihrer Vertreter nicht einer persönlichen Tragik; objektiv aber wirkt sie anachronistisch; denn in unserem Zeitalter sind auf der Grundlage einer bereits der Anlage nach allseitigen wissenschaftlichen Weltanschauung die geschichtsgestaltenden Kräfte längst — und siegreich — in Aktion getreten. Von deren juristischen Auffassungen grenzt sich die „Realistische Jurisprudenz" freilich von vornherein ab, indem sie versuchen zu müssen meint, die marxistische Rechtstheorie aus dem Horizont eines modern-interpretierten Marx zu rekonstruieren, und das heißt in Wirklichkeit: zu revidieren! Den Marxisten-Leninisten der sozialistischen Länder wird, bloß weil sie „institutionalisiert" seien, das für den Marxismus charakteristische kritische Vermögen abgesprochen1. Warum freilich jene, die in bürgerlichen Ländern institutionalisiert sind, über die marxistische Rechtstheorie ein ungetrübtes Urteil haben sollen, bleibt unerfindlich. Zumal dann, wenn die tiefgründigste Quelle für die Rechtstheorie von Marx, und das ist nun einmal sein „Kapital", nicht zur Kenntnis genommen wird 2 . Wo aber sonst als bei den Theoretikern der Arbeiterbewegung kann man studieren, unter welchen objektiven Bedingungen sich der sensus libertatis mit der theoria libertatis vereinigt! Die von der „Realistischen Jurisprudenz" vollzogene Trennung von Wissenschaftlichkeit und Menschlichkeit widerspiegelt allerdings — sicher gegen ihre Intentionen — den für die bürgerliche Gesellschaft bezeichnenden Gegensatz von Rationalität und Humanität 3 . Sie demonstriert zugleich ihr Unvermögen, mit wissenschaftlichen Mitteln und Methoden auf die Beseitigung dieses Gegensatzes zu orientieren. Eine Aufgabe, die soziale Prozesse zu stimulieren geeignet wäre, Prozesse, die allerdings außerhalb des Horizonts aller Vertreter der „Realistischen Jurisprudenz" liegen. Deren „emanzipatorisches" Interesse bleibt nämlich immer schön innerhalb der Grenzen ihrer Vernunft, will sagen: der Grenzen ihres Gesellschaftssystems. Und wenn einmal einer wider den Stachel 1 W . Paul, Die marxistische Rechtstheorie, in: „Rechtstheorie", S. 1 7 5 f f . ; ausführlicher W . Paul, Das Programm marxistischer Rechtstheorie, in: N. Reich (Herausgeber), Marxistische und Sozialistische Rechtstheorie, Frankfurt/M. 1972, S. 201 f f . 2 L. S. Mamut, Fragen des Rechts im„Kapital" von Karl Marx, in: Staat und Recht, 1968, S. 640 f . ; vgl. auch Marxistisch-leninistische allgemeine Staats- und Rechtstheorie, Moskau 1970, Bd. 1, S. 1 5 3 f f . (russ.). 3 Vgl.: J. P. Priester, Rationalität und funktionale Analyse, in: Jahrbuch für Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Bd. 1, Bielefeld 1970, S. 457f.

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zu locken scheint — wie gelegentlich Böhler 1 —, am Ende begnügt er sich doch mit einer Revision des Sprachgebrauchs. Und damit wird auf einen hochinteressanten Beleg hingewiesen, den das Autorenteam — und diesmal nicht unfreiwillig — liefert. Ihrem geistigen Herkommen nach bekennen sich nämlich die Jüngeren unter ihnen als Anhänger teils des Neopositivismus, wie er von der analytischen Philosophie betrieben wird, teils der kritischen Theorie, wie sie in der Frankfurter Schule heimisch war. Und nun erweisen sich die angeblichen Antipoden in der sozial-wissenschaftlichen Grundlagendiskussion von heute mit ihrem vorgelegten Forschungsergebnissen als aussöhnungsfähig, ja als wechselseitig ergänzungsbedürftig. Während sich Habermas und Albert — ich begnüge mich hier mit der zweiten Garnitur der Opponenten — noch befehdeten, daß die Fetzen flogen, befanden sich deren Schüler in Saarbrücken bereits auf dem Wege der Einigung. Gewiß ist es auch der einfallsreichen Regie Maihofers zu danken, daß die Kontroversen in eine konzertierte Diskussion übergeleitet werden konnten, aber das ginge eben nicht, wenn die Kombattanten echte Kontrahenten wären. Sie erweisen sich einmal mehr als Komplementäre ein und derselben Gesellschaft. Darauf ist übrigens von anderer Seite durch den Nachweis, daß Marcuses sich antipositivistisch gebärdende Theorie voller heimlichen Positivismus stecke 2 , bereits hingewiesen worden. So gelungen die Synthese von analytischer und kritischer Rechtstheorie in der „Realistischen Jurisprudenz" auch sein mag — ungeachtet einer ganzen Reihe zweitrangiger Widersprüche zwischen ihren Vertretern: sie passen wirklich zusammen I —, so illusionär ist ihr Anspruch, diesseits oder jenseits von Materialismus und Idealismus zu operieren 3 . Abgesehen davon, daß dieser Anspruch nicht neu ist — anrüchige Gestalten in der juristischen Ideengeschichte haben ihn auch erhoben 4 —, so fehlt bis zum heutigen Tag auch nur der Versuch seiner epistemologischen Grundlegung. Tatsächlich erweisen sich seine Exponenten allesamt als Idealisten, die sich sogar einbilden, die Wahrheits-Chance ihrer Ansichten zu erhöhen, wenn sie deren Beziehungslosigkeit zu materiellen Interessen beteuern. Was anders als Idealismus reinsten Wassers soll es denn sein, wenn vom Recht behauptet wird 5 , daß es „auf die Freiheit des Menschen hin gebaut" sei. Ange1 D. Böhler, Rechtstheorie als kritische Reflexion, in: „Rechtstheorie", S. 76, 99, 120. 2 R. Steigerwald, in: Die „Frankfurter Schule" im Lichte des Marxismus, Berlin 1971, S. 110. Vgl. auch W. R. Beyer, Die Sünden der Frankfurter Schule, Berlin 1971, sowie R. Bauermann, H.-J. Rötscher, Dialektik der Anpassung, Berlin 1972, bes. S. 59: Die kritische Theorie und die antiimperialistische Bewegung. 3 Diesseits von Materialismus und Idealismus: Böhler; jenseits von Materialismus und Idealismus: Maihofer („Rechtstheorie", S. 92, 428). Möglicherweise von Heidegger (Sein und Zeit, Tübingen 1949, S. 207) beeinflußt. 4 K. Larenz, Rechts- und Sozialphilosophie der Gegenwart, Berlin 1935, S. 168. 5 E. Zacher, in: „Rechtstheorie, S. 245.

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sichts einer mehr als zweitausendjährigen Unterdrückungsgeschichte der Bevölkerungsmehrheit durch die jeweiligen Inhaber der ökonomischen und politischen Macht mit Hilfe des Rechts in aller Unschuld solch eine Behauptung erwachsenen Lesern zuzumuten, unterstellt eben ein höheres Wesen als Baumeister des Rechts, freilich ein ziemlich machtloses Wesen, wenn man bedenkt, wie die Rechtsgeschichte nun einmal verlaufen ist. Und wenn man meint 1 , in einem Zusammenspiel von positivem und transpositivem Denken, in einer phänomenologisch produzierten Synthese von natürlichem und positivem Recht den Gegensatz von Materialismus und Idealismus hinter sich lassen können, so irrt man gewaltig. Rechtspositivismus verfährt nämlich genauso idealistisch wie das Naturrechtsdenken. Ob ich — wie die Normativisten — von den jeweils staatlich gesetzten Rechtsnormen ausgehe und hinter sie zu fragen mich nicht erkühne, oder ob ich das positive Recht — wie die Naturrechtler — an den Maßstäben menschlicher, eventuell als göttlich firmierter Offenbarungen messe, das bleibt sich erkenntnistheoretisch gleich. Der Materialismus beginnt in der Rechtsphilosophie da, wo das Recht und die (positivistischen oder naturrechtlichen) Gedanken über das Recht als ideelle Widerspiegelung materieller Verhältnisse und Interessen begriffen werden. Man muß die frühen Schriften von Marx und Engels nicht einmal bis zum Kommunistischen Manifest gelesen haben, um zu dieser Einsicht zu gelangen, die „Deutsche Ideologie" tut's auch. In ihrer Auseinandersetzung mit der subjektiv-idealistischen Rechtsauffassung von Marx Stirner — „Recht ist, was Dir recht ist" 2 — haben nämlich Marx und Engels nachgewiesen 3 , daß der Inhalt des Staatswillens in den materiellen Lebensverhältnissen der herrschenden Gesellschaftsklasse gegeben ist: So wenig es von ihrem Willen abhängt, ob ihre Körper schwer sind, so wenig hängt es auch von ihm ab, ob die herrschenden Individuen „ihren eigenen Willen in der Form des Gesetzes durchsetzen und zugleich von der persönlichen Willkür jedes einzelnen unter ihnen abhängig setzen. Ihre persönliche Herrschaft muß sich zugleich als Durchschnittsherrschaft konstituieren. Ihre persönliche Macht beruht auf Lebensbedingungen, die sich als Vielen gemeinschaftliche entwickeln, deren Fortbestand sie als Herrschende gegen andere und zugleich als für Alle geltende zu behaupten haben. Der Ausdruck dieses durch die gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens ist das Gesetz". — Die Gesellschaftskonzeption, in die sich die „Realistische Jurisprudenz" eingebettet fühlt 4 , nennt als ihr oberstes Ziel die Gewährleistung von „Menschen1 W. Maihofer, ebenda, S. 427f. A. Troller, Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft, Frankfurt/M. 1965, S. 169. 2 M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Reclam, Leipzig 1892, S. 240. 3 MEW, Bd. 3, S. 311. 4 W. Maihofer, Liberale Gesellschaftspolitik, in: K.-H. Flach (u. a.), Die Freiburger Thesen der Liberalen, Reinbek 1972, S. 31.

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würde durch Selbstbestimmung"; in der Gesellschaft soll sich alles um den Menschen als um ihre Mitte drehen 1 . Natürlich auch das Recht. Damit beteiligt sich die realistische Jurisprudenz auf ihre Weise an der Hinwendung zu einer „anthropologischen Optik" des Rechts 2 , die seit etwa zehn Jahren innerhalb der juristischen Grundlagenforschung unübersehbar geworden ist. Die Rechtsanthropologen greifen die altbekannte lebensphilosophische Problemstellung auf, alle Kulturbereiche als vom Menschen hervorgebrachte Leistungen zu behandeln 3 . Sie leiten daraus die nicht weniger altbekannte (Digesten: I, 5, 2) Aufgabenstellung der Jurisprudenz ab, nicht so sehr der Verrechtlichung des menschlichen Lebens als vielmehr der Vermenschlichung des Rechts zu dienen Da sich die Anthropologen nicht einigen können, was das Menschliche am Menschen ist — er sei unergründlich, wird gesagt, und entziehe sich jeder Definition —, gehen ihre Auslassungen auch im juristischen Anwendungsbereich in unterschiedliche Richtungen. Da wird einerseits das Recht aus der menschlichen Natur und andererseits aus dem Gottesbild des Menschen abgeleitet 5 . Das ist natürlich dann kein Gegensatz, wenn man die Religiosität als notwendige Eigenschaft des Menschen hinstellt. Da wird das eigentumsgarantierende Privatrecht aus der Humanität des Menschen und so die Zukunftsträchtigkeit dieses Privatrechts begründete. Wenn es tatsächlich ohne eigentumsicherndes Privatrecht keine Humanität gäbe, dann allerdings könnte man daraus die Verfassungswidrigkeit jeder Rechtsforderung herleiten, die auf eine echte Mitbestimmung der Werktätigen im Betrieb gerichtet ist. Andererseits wird mit einer anthropologisch angereicherten Argumentation eine notstandsfreundliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kritisiert 7 . 1 W . Maihofer, Gesetzgebung und Rechtsprechung im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft, in: Das Rechtswesen, München 1971, S. 36f. 2 W. G. Becker, Grundformen einer anthropologischen Jurisprudenz, in: Phänomenologie — Rechtsphilosophie — Jurisprudenz, Festschrift für Gerhart Husserl, Frankfurt/M. 1969, S. 98. Vor allem: H. Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, Neuwied 1969, S. 10ff., 103 ff. 3 Vgl.: O. F. Bollnow, Die philosophische Anthropologie und ihre methodischen Prinzipien, in: Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 27. — Grundlegend: A . A . M a r k , Über das Problem des Menschen in der Geschichte der Philosophie, Charkow 1970 (russ.), A . G. Myslivcenko, Der Mensch als Objekt philosophischer Erkenntnis, Moskau 1972 (russ.), und V. D. Popkow, Der Humanismus des sowjetischen Rechts, Moskau 1972 (russ.). 4 I. Tammelo, Non solum sub lege — enimvero sub homine, in: A. Kaufmann (Herausgeber), Rechtstheorie, Karlsruhe 1971, S. 52. 5 Vgl. die Kontroverse zwischen Klenner und Maihofer in: H. Lübbe, H.-M. Saß, Atheismus in der Diskussion, München 1975, S. 72—108. 6 L. Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, Berlin(West) 1971, S. 3 6 f . 7 E. Denninger, Staatsrecht I, Reinbek 1973, S. 19, 23.

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Vor allem aber diente bisher die Sozialanthropologie dazu, die Einmaligkeit des Individuums in eine Totalisolierung des Menschen von seinen Mitmenschen umzufälschen. Es wird die Gefahr einer Kollektivneurose beschworen, mit der die „postindustrielle" Gesellschaft ihre Kinder bedrohe 1 . Gemeint ist die antiimperialistische Solidarität und nicht die durch das Meinungsmonopol der Pressekonzerne produzierten Lebensgewohnheiten von der Stange. Inzwischen ist sogar eine Rechtsanthropologie entstanden, die das Recht an den Ein^elmenschen zu binden vorschlägt 2 . Dem von Anthropologen solchen Kalibers zur Asozialität verdammten Menschen, für den in einer „Gemengelage verschiedener Katechismen" kein zentraler Wert existiere 3 , bleibe nur die Eingewöhnung in eine weder heile noch heilbare Welt. Nie war er sich selbst entfremdet, keine eigene Arbeit an fremden Produktionsmitteln und für fremden Profit hat ihn entstellt, unergründlich aber ausbeutbar, unterdrückbar und verdummbar, so das antihumane Wunschbild des Menschen. Auch der homo barbarus braucht seinen homo humanus! Wozu eigentlich? Von diesen anthropologischen Ansätzen verqueren, juristisch benutzbaren und benutzten Gedankenguts abgegrenzt, doch bewußt nicht beziehungslos zu ihm gestaltet, hat nun Maihofer anthropologische Fragestellungen zunächst in die allgemeine rechtsphilosophische Grundlagendiskussion, dann aber schließlich speziell in seine „Realistische Jurisprudenz" eingebracht. Maihofers Rechtsanthropologie beruft sich auf Ludwig Feuerbach: Gott war schließlich sein erster, die Vernunft sein zweiter, der Mensch aber sein dritter und letzter Gedanke 4 . In Auseinandersetzung mit jenen, die Feuerbachs freilich frechen Materialismus als flache Alltagsphilosophie verleumdeten — nicht nur politisch beherrschten damals christlich Drapierte die Szenerie —, war ein Bekenntnis zu einer atheistischen Anthropologie schon ein Affront, der ihm auch einen Rüffel seines an übersinnlichen Existenzen in der Rechtswissenschaft hängenden Lehrers einbrachte 5 . Alles in allem erwies sich jedoch Maihofers Feuerbach-Adaption als Versuch, versteinerte Verhältnisse zum Tanzen zu zwingen, aber nicht linksherum! Denn die weltweite Revolution der Gegenwart Staat von Marx, von Feuerbach (oder von einem auf Feuerbach reduzierten Marx, was auf dasselbe hinausläuft) ihren 1 H. O.Luthe, in: Natur und Naturrecht, Köln 1972, S. 116. 2 E.-J. Lampe, Rechtsanthropologie, Berlin(West) 1970, S. 7, 350. 3 A. Gehlen, in: Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 114, H. Plessner, ebenda, S. 49. 4 L. Feuerbach, Gesammelte Werke, herausgegeben von W. Schuffenhauer, Berlin 1967, Bd. 10, S. 178. Ausführlich: H. Klenner, L. Feuerbach und der Ansatz der Rechtstheorie von K. Marx, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Berlin 1975, S. 55ff. 5 E. Wolf, Rechtstheologische Studien, Frankfurt/M. 1972, S. 162.

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theoretischen Ausgang nehmen zu lassen — und genau das war Maihofers Position 1 — ist auch und in erster Linie gegen Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung gerichtet. Da nämlich der reale Sozialismus, wie jedes zum Bewußtsein seiner Lage und Chancen gekommene Proletariat, sich zu Marx als zu ihrer Wissenschaftsquelle bekennt, ist das Unterfangen, die theoretische Grundlegung jener Revolution, die sich von Petrograd bis Havanna schon ausgedehnt hat, umzupolen, eine Herausforderung an sie. Denn wenn es gelänge, Feuerbach zum Purgatorium von Marx zu machen, dann allerdings wären realer Sozialismus und reales sozialistisches Recht ohne theoretisches Fundament, und das heißt wissenschaftlich preisgegeben. Und daher sei hier etwas im Detail eingehakt. Nach dem inzwischen ausgebauten rechtsanthropologischen Element der „Realistischen Jurisprudenz" 2 befinde sich das Individuum nur mit sich selbst in wirklicher Identität, die Urdistanz zwischen dem Ich und dem Du bleibe unüberwindbar; alle Koexistenz zwischen Menschen, entspringend aus ihrem wechselseitigen Aufeinanderangewiesensein, sei antagonistisch. Kontraexistenzen, wie Solidarisierungen, objektiv bedingte, versteht sich, bleiben außer Betracht. Lehrer und Schüler, Mann und Frau, Arzt und Patient, Schuster und Geselle, Käufer und Verkäufer: die Aufhebung der Bedürfnisse des einen bedeute zugleich die Entfaltung der Fähigkeiten des anderen. E s soll nicht geleugnet werden, daß eine solche Sicht, ins Außenpolitische gewendet, den Koexistenzgedanken in einer Welt grundlegend eigenständiger Standpunkte, die in der Tat zur Friedenserhaltung aufeinander angewiesen sind, zu fördern geeignet ist. Aber das grundlegende innergesellschaftliche Verhältnis ist unter den Bedingungen eines privatisierten Eigentums an den Produktionsmitteln von der Gestalt, daß zwar auf lange Sicht die Besitzenden nicht ohne die Nichtbesitzenden, diese aber sehr wohl ohne jene zu existieren vermögen. Die Existenz des Arbeiters ist ohne Koexistenz mit den Kapitalisten nicht nur denkbar, sie ist bereits erlebbar. Mehr noch: Die umfassende Persönlichkeitsentwicklung des Arbeiters setzt die Nichtexistenz des Kapitalisten voraus. Bereits in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten setzte Karl Marx die Selbstverwirklichung des Menschen, die Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen, wie er damals sagte, mit dem vollendeten Humanismus und mit der Aufhebung des Privateigentums gleich 3 . Daß der das Kapital produzierende Arbeiter von der Gesellschaft als Arbeiter und nicht als Mensch — und mit Recht übrigens, wenn man sich auf den Boden der bürgerlichen Gesellschaft stellt — betrachtet wird, ist eben nicht eine nur 1 W. Maihofer, Konkrete Existenz — Versuch über die philosophische Anthropologie Ludwig Feuerbachs —, in: Existenz und Ordnung, Frankfurt/M. 1962, S. 247, 281. 2 W. Maihofer, Anthropologie der Koexistenz, in: Mensch und Recht, Frankfurt/M. 1972, S. 162 ff. 3 MEW, Ergänzungsband I, Berlin 1968, S. 536.

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leider noch nicht ausgestorbene Sebmise1. Für Karl Marx und Friedrich Engels ist die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die damit notwendig verbundene Selbstentfremdung des Menschen, des Bourgeois wie des Proletariers, kein optisches, sondern ein ontologisches Problem. 2 Wenn man bei Vorhandensein objektiv-realer Antagonismen die Menschlichkeit als anthropologische Verbundenheit aller Individuen in der Gemeinschaft interpretiert 3 — des Mitglieds einer Volksfrontregierung mit dem Mitglied einer Militärjunta?! —, dann allerdings hat man aufgehört, alle Verhältnisse auch nur umwerfen zu wollen, in denen der Mensch geknechtetes Wesen ist. Wenn man meint, daß jeder mit jedem, der konkrete Mensch mit seinen konkreten Mitmenschen dauerhaft koexistieren müsse, dann allerdings ist man weder in der Lage, progressive Rechtsforderungen aufzustellen, noch den nach der Machtergreifung durch die Arbeiterklasse erforderlichen Rechtsinbalt zu begreifen. Gesellschaftlicher Fortschritt, der an den Bestand der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse geknüpft ist, schlägt nur allzubald in Reaktion um. Es ist daher nur konsequent, wenn Maihofers Anthropologismus nunmehr zu Kants Resignation zurückfindet 4 , laut der „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, nichts ganz Grades gezimmert werden kann", wenn er jedweder revolutionären Remedour entsagt und sich dem von ihm selbst als trivial empfundenen Geschäft eines Ausgleichs der Ungleichgewichts zugewendet hat 5 . Als Maihofer noch danach trachtete, unter dem Vorzeichen Heideggers Kants Sozialkonzeption mit der von Nietzsche zu vereinigen, da machte er auch — wie jetzt wieder — die wechselseitige Entsprechung von Lehrer und Schüler, von Mann und Frau, von Arzt und Patient zum Angelpunkt seines Gesellschaftsbildes. Damals allerdings gestand er unverblümt, daß es ihm allein darum gehe, selbst nicht aus der Rolle zu fallen und damit aus einer Ordnung, in der sich der Herr im Befehlen sowie der Knecht im Gehorchen in Erfüllung zu bringen habe 6 . Die „Realistische Jurisprudenz" wird in die Nachkriegsgeschichte der bundesdeutschen Rechtsphilosophie eingehen als großangelegter Versuch einer Sammlungsbewegung der durch Faschismus und kalten Krieg nicht diskreditierten Kräfte. Diese Ideenintegration will zugleich auch die Bezugspunkte vermitteln, um die sich die durch die außerparlamentarischen Aktionen gegen die Not1 So aber: W. Maihofer, Demokratie und Sozialismus, in: Ernst Bloch zu ehren, Frankfurt/M. 1965, S. 48. 2 MEW, Bd. 23, S. 16; Bd. 2, S. 37; Bd. 19, S. 223. 3 So: A. Schwan, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, in: Berliner Stimme, 30. Oktober 1971, Beilage, S. 4. 4 I.Kant, Werke, (Cassirer), Berlin 1922, Bd. 4, S. 157ff. Zu Kants Rechtsphilosophie vgl.: H. Klenner, Recht ohne Revolution? in: Neue Justiz, 1974, S. 224ff. 5 W. Maihofer, in: Mensch und Recht, Frankfurt/M. 1972, S. 175. 6 W. Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, Frankfurt/M. 1956, S. 62, 76.

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standsgesetze und die Vietnam-Aggression der US-Amerikaner durcheinander geratenen Auffassungen vor allem der jungen juristischen Intelligenz ordnen sollten. Ihren Impetus bezieht sie aus den unverschlissenen Parolen der Aufklärung — man sollte freilich Morgenröte nicht mit Sonnenuntergang verwechseln! —, aber auch aus den Erfolgen, die etwa die Strafrechtsreformer gegen die antiquierten Regierungsentwürfe der CDU Adenauers erzielt haben 1 . , Unter Einbeziehung des für die wissenschaftlich-technische Revolution angemessenen Rüstzeugs werden von der „Realistischen Jurisprudenz" Auffassungen vorgetragen, die geltendes und künftiges Recht anpassungsfähiger an-die Anforderungen gestalten helfen, denen sich das kapitalistische Regime in' der zweitgeteilten Welt von heute gegenübergestellt sieht. Gegenüber den ursprünglichen Ankündigungen einer Neufundierung der Rechtswissenschaft, die eine transzendente Sozialkritik versprachen 2 , hat; die „Realistische Jurisprudenz" bis zu ihrer ersten Ausarbeitung erhebliche Abstriche gemacht. Ihr gegenwärtiges kritisches Vermögen ist auf das Niveau von Verbesserungsvorschlägen und Reformprogrammen gedrückt, hat also mit dem, was Marx unter Kritik verstand, nichts zu tun. Kritik auf dem Boden der Rechtfertigung ist ihrer Qualität nach — Rechtfertigung! Ihre in der „Realistischen Jurisprudenz" vollzogene Vereinigung mit analytischen Richtungen signalisiert einen Zustand, in dem es geraten erscheint, oppositionelle Stimmen vor einem Abgleiten in grundsätzliche Haltungen durch Systemintegration einzufangen. Die „Realistische Jurisprudenz" bietet sich an als theoretische Grundlegung für ein Rechtsreformprogramm, das ganz sicher systemstabilisierend gemeint ist. Wie die Zeichen der Zeit stehen, wird es in der BRD auch in dieser Weise genutzt werden. In den rechtspolitischen Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung- in Betrieben, um Bodenspekulationsverbot und Bildungsreform und nicht zuletzt um die Durchsetzung einer der friedlichen Koexistenz gemäßen Außenpolitik wird die der „Realistischen Jurisprudenz" immanente Konzeption einer „reaien Humanität" übergenug Gelegenheit haben, konkret zu werden. Wir werden sehen. 1 J. Baumann (u. a.), Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, Tübingen 1966; Besonderer Teil, Politisches Strafrecht, Tübingen 1968; Besonderer Teil, Sexualdelikte, Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand, Tübingen 1968; Besonderer Teil, Straftaten gegen die Person, Tübingen 1970. 2 W. Maihofer (Herausgeber), Ideologie und Recht, Frankfurt/M. 1969, S. XVII.

7. Rechtsphilosophie in der Krise: ohne Ausweg?

Die bürgerlich bestimmte Menschheit muß, um sich als Menschheit zu halten, das Bürgerliche aufgeben. Bertolt Brecht

Seit geraumer Zeit schon empfinden immer wieder der bürgerlichen Gesellschaft verhaftete Rechtsphilosophen eine um sich greifende Verunsicherung ihrer Gedankenwelt. 'Rechtsphilosophie ist im Selbstverständnis ihrer Produzenten fragwürdig geworden, um die Lieblingsvokabel der insoweit Einsichtigen zu benutzen1. Als Symptome werden genannt: Ratlosigkeit und Entmutigung, gewachseh aus dem Versagen der Rechtsphilosophie unter Hitler und der Angst vor den Auswirkungen des kybernetischen Zeitalters. Aber nicht nur bürgerliche Rechtsphilosophen erfassen ihre Situation als kritisch. Vielerorts wird alles Rechtliche als krisenverseucht empfunden 2 : Das Recht stecke in einer Legitimations- und Autoritätskrise, der Rechtsstaat selbst stehe samt seinen Legislatoren und Interpretatoren vor einem dauerhaften Dilemma, und auch die Juristenausbildung sei affiziert von der Krise, in der sich die ganze Rechtswissenschaft befinde: „. . . wir stehen, wohin wir auch blicken, vor Trümmern . . ." Aber eigentlich ist das nichts Neues. Wiewohl das Dasein einer ideologischen Krise keineswegs davon abhängt, ob sie wahrgenommen (oder gar zugegeben) wird — das faschistische Rechtsdenken, zum Beispiel, gab und gibt sich betont „gesund" —, für die bürgerliche Rechtsphilosophie gilt, daß sie sich seit weit über einhundert Jahren in einer Krisenkontinuität befindet, deren sie sich mehr bis minder deutlich auch bewußt wird. Der bürgerlichen politischen Ökonomie begann bereits 1830 die Totenglocke 1 Vor allem: A. Kaufmann, Wozu Rechtsphilosophie heute, Frankfurt/M. 1971, S. 16; H. Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, Neuwied 1969, S. 21 f f . ; E . W o l f , Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft (1953), Darmstadt 1967. 2 Zum Folgenden: H. W . Alberts, Die Autoritätskrise des Rechts, in: Demokratie und Recht, 3—1973, S. 288 (mit radikal-demokratischem Impetus); E. Benda, Der Rechtsstaat in der Krise, Stuttgart 1972, S. 15 (mit stockreaktionären Irreführungen); F. Majoros, Zur Krise der internationalen Kodifikationspolitik, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1973, S. 65; R. Wassermann, Erziehung zum Establishmentm Karlsruhe 1969, S. 3, 98; J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973; H. Huber, Niedergang des Rechts und Krise des Rechtsstaates, in: Demokratie und Rechtsstaat, Zürich 1953,. S. 5 9 f f . und vor allem die marxistische Arbeit von M. u. R. Weyl, Revolution et perspektives du droit, Paris 1974, p. 1 1 2 f f .

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ihrer Wissenschaftlichkeit zu l ä u t e n M a n wird wohl auch für die deutsche politische und Rechtsphilosophie des Bürgertums die Zeit von 1830 bis 1848 ansetzen müssen, in der sich ihr Umschlag vom Progreß zur Reaktion, von der Wissenschaft zur Apologie vollzog: In dieser Zeitspanne entwickelte sich die deutsche Bourgeoisie zu einer konterrevolutionären Klasse. Und bereits 1839 kann ein Dutzendjurist schreiben 2 : „. . . daß die Rechtsphilosophie in Deutschland sich jetzt im Zustand einer Krisis befindet, braucht kaum gesagt zu werden". Das seit Kirchmanns mutiger Rede über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft von 1848 nie mehr ganz verstummende Fragwürdigkeitsgefühl bürgerlicher Rechtsphilosophen über den Sinn ihrer Tätigkeit 3 indiziert einen Krisenzustand. Immerhin muß man bedenken, daß einstens die juristische Weltanschauung die klassische Weltanschauung der Bourgeoisie warA Aber das war zu einer Zeit, als das Bürgertum noch daran glaubte (und daran zu glauben auch berechtigt war), daß die speziellen Bedingungen seiner Befreiung mit den Befreiungsbedingungen der Menschheit zusammenfallen. Die Zeiten sind für immer dahin. Wenn es sich auch bei dem allenthalben vorhandenen Unsicherheitsgefühl bürgerlicher Rechtsphilosophie, ihrem Eingeständnis, daß die Welt ihrer Werte zusammengebrochen sei 5 , tatsächlich um Anzeichen einer geistigen Krise handelt, so ist damit noch nicht gesagt, ob das, was als Krise empfunden wird, die wirkliche Krise ist. Denn auch die Art, wie sich eine Krise in den Köpfen widerspiegelt, kann von ihr angesteckt sein. Hierin liegt die Erklärung dafür, daß die Unsicherheit der intellektuellen Existenz bei den über diese Unsicherheit Grübelnden nur zu oft Gedanken auslöst, die nach hinten losgehen. Dieses Phänomen bedarf unserer Aufmerksamkeit. So hat Emil Brunner (mag sein in redlicher Absicht, aber nicht Redlichkeit muß denen fehlen, die von der Krise betroffen werden) die „grauenhafte Wirklichkeit" — wir schreiben 1943 — als „Krise der Rechtsordnung" gedeutet und diese als „offenkundig gewordene Krise des Rechtsdenkens" verstanden6. Seine Diagnose: Ursache ist der Zerfall der abendländischen Gerechtigkeitsidee, einsetzend mit der Aufklärung. Also: zurück marsch marsch ins Mittelalter! 1 MEW, Bd. 23, S. 20f. Dazu: H. Meißner, Die Krise der heutigen bürgerlichen politischen Ökonomie, in: Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der DDR, 5-1973, S. 9ff. 2 L. Warnkönig, Rechtsphilosophie, Freiburg 1839, S. 172. 3 J. Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin 1848; A. W. Lundstedt. Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, Berlin 1932. 4 F. Engels, K. Kautsky, Juristen-Sozialismus, in: MEW, Bd. 21, S. 492. - Dazu K. A. Mollnau, Vom Aberglauben der juristischen Weltanschauung, Berlin 1974. 5 E. Fechner, Naturrecht heute, in: Gedächtnisschrift für G. Radbruch, Göttingen 1968; S, 169. 6 E . Brunner, Gerechtigkeit, Zürich 1943, S. 3ff. Aus neuerer Zeit mit ähnlich verkehrter Marschrichtungszahl: Fr. W. Jerusalem, Die Zersetzung im Rechtsdenken, Stuttgart 1968, S. 65 ff.

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Das Vorgestern wird zum goldenen Zeitalter verklärt, aus dem das Heute im Wege der Degeneration entstand. Das Gewordene soll durch das Gewesene gerichtet werden. Eine idealistisch betriebene Untersuchung von Krisensymptomen neigt zu reaktionärer Romantik. Die Verherrlichung jener Zeit, da der Mensch angeblich im „Bewußtsein nur einer möglichen Weltanschauung" lebte versucht den von vorn bis hinten in Verruf gekommenen Kapitalismus vor einer materialistischen Ursachenforschung abzuschirmen. Nicht der Kapitalist „als solcher", versichert der obengenannte B r u n n e r 2, der „verantwortungslose" Kapitalist nur sei der Feind der Gerechtigkeit; und damit ja niemand einen Ausweg aus der Krise nach vorn sucht, wird das Jahr 1917 (nicht etwa 1933) zum Geburtsjahr des totalen Staates erklärt I Oder was anders soll die Meinung 3 , Ursache der rechtsphilosophischen Krise sei die Krise der „legitimierenden Kraft des demokratischen Gemeinwillens", als den reichlich vorhandenen Antidemokraten die Parolen zu liefern? Auf ähnlichem Niveau standen die spärlichen Versuche westdeutscher Juristenprofessoren, die Untaten der faschistischen Barbarei rechtsphilosophisch zu bewältigen. Den meisten von ihnen fiel ohnehin zu Hitler nichts ein. Andere 4 schlugen ernsthaft eine „volle Hinwendung zu dem vor, was wir vor 1933 zu tun ohnehin im Begriffe standen"! Und so wurde die Lösung der angeblichen „Weltrechtskrise" mit abgestandenen Rechtsideologien betrieben, zunächst mit dem aus der Ewigkeit wiedergekehrten Naturrecht, dann mit dem von eben dort hergeholten Rechtspositivismus 5 . Nun muß man folgendes wissen: Naturrechtliches wie auch rechtspositivistisches Denken waren nicht nur vor Hitler herrschend, sie herrschten auch unter ihm. Auf die positivistischen Unterordnungsformeln „Befehl ist Befehl" und „Gesetz ist Gesetz" wurde bereits hingewiesen. Die Behauptung 6 , Recht und Gerechtigkeit hätten nichts als das Etymologische gemeinsam, was doch soviel heißt wie: Das Wesen des Rechts erschöpft sich im Gesetz, hat ganz sicher die Durchsetzungs-Chance von grenzenlosen Brutalitäten erhöht. 1 2 3 4

A. Stüttgen, Kriterien einer Ideologiekritik, Mainz 1972, S. 10. E. Brunner, a. a. O., S. 213, 240f. So: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967, S. 561. So: E.V.Hippel, Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung, Tübingen 1947, S. 53. Vgl. auch E. v. Hippel, Vorbedingungen einer Wiedergesundung heutigen Rechtsdenkens, Marburg 1947, S. 56, sowie V. Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, Bonn 1946, S. 57. 5 Vgl. : H. Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, München 1947 (erste Auflage 1936) ; D. Lang-Hinrichsen, Zu ewigen Wiederkehr des Rechtspositivismus, in : Mezger-Festschrift, München 1954, S. l f f . 6 E. Brodmann, Was ist das Recht und wo ist es? Rechtsphilosophie eines praktischen Juristen, Berlin 1935, S. 81. 8 Kienner, Rechtsphilosophie

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Aber das Naturrecht erwies sich als keinen Deut besser. Recht ist das, was arische Menschen für recht befinden, und: gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich — diese beiden Hauptpostulate einer faschistischen Rechtstheorie wurden als Naturrechtssätze verkündet 1 ! Worin aber liegt der praktische Unterschied zwischen einem Bluturteil, das sich aus der naturrechtlich behaupteten Unfehlbarkeit des „Führers" herleitet, und einem anderen, das unter Legitimationsverzicht seinen terroristischen Inhalt mit einem „wie das Gesetz es befahl" verlautbart? Wenn daher nach 1945 die gleichen juristischen Denkweisen wie vor und nach 1933 (übrigens überwiegend von eben denselben Professoren) gepriesen wurden, dann beweist das neben der bis zur Identität reichenden Kontinuität der bürgerlichen Rechtsideologie dieses Jahrhunderts nur eines: die bürgerliche Rechtsphilosophie hat nicht erst unter Hitler versagt, sondern auch vor und nach ihm. Schärfer formuliert: vor 1933 war sie praefaschistisch und nach 1945 postfaschistisch. Alles in allem hat sie vor 1933 den Machtübergang an die Nazis erleichtert, nach 1933 deren Gewaltherrschaft legitimiert und nach 1945 verhindert, daß deren soziale Wurzeln vor der studentischen Jugend aufgedeckt wurden. Sicher wurde vor 1945 etwas anderes naturrechtlich legitimiert als danach. Vorher die faschistische Erbhofpolitik, nachher — Sozialisierungen standen ins Haus — das Eigentum (so Artikel 60 der Verfassung von Rheinland-Pfalz, 18. Mai 1947). Vorher ließ man das Recht aus der Natur der völkischen Gemeinschaft, nachher aus der Natur des Menschen fließen. Aber ob Naturrecht aus „völkisch-politischer Anthropologie" 2 oder aus „sittlicher Wertordnung" mit Heiligenschein 3 , „niemand weiß etwas Gewisses von ihm" — so jemand, der das wenigstens wissen muß, denn er ist selbst Naturrechtler, teils existential-faschistischer, teils existential-klerikaler Coleur 4 . Auf diese Weise löst ein Irrationalismus den anderen ab, ein Glauben folgt dem anderen, und übrig bleibt das — irrende Gewissen. 1 H.-H. Dietze, Naturrecht in der Gegenwart, Bonn 1936, S. 185 f. W . R. Beyer (Die verfassungsmäßige Sicherung staatsbürgerlicher Freiheiten, Karlsruhe 1946, S. 12) hat zutreffend festgestellt, daß sich keine Geistesrichtung jemals so stark auf das Naturrecht berufen hat wie die nationalsozialistische. 2 Vgl.: O. v. Schweinichen, Rechtsphilosophie, in: Die Rechtsentwicklung der Jahre 1933 bis 1935/36, Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. VIII, Berlin 1937, S. 556. 3 H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin(West) 1950, S. 165; W. Schönfcld, Über die Heiligkeit des Rechts, Göttingen 1958. — A. Knoll (Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, Wien 1962, S. 31) meint zur gesellschaftlichen Funktion des klerikalen Naturrechts, es habe erst die Sklaverei, danach die Leibeigenschaft und dann die koloniale Zwangsarbeit verteidigt, solange all dies positives Recht war. In der Aufzählung fehlt der Kapitalismus. 4 E. Wolf, Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, in: Archiv für Rechts- und Sozial philosophie, Bd. 28, S. 348 (1934), Wolf in: Historische Zeitschrift, Bd. 156, S. 108 (1937), sowie das Problem der Naturrechtslehre, Karlsruhe 1955, S. 1. Zum Irrationalismus des Nachkriegs-Natutrechts vgl.: H. Klenner, Das Rechtsgefühl als Asyl des Naturrechts, in: Staat unc* Recht 1955, S. 306ff.

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Und wenn jetzt von bürgerlichen Rechtsphilosophen die Jahrhunderte alte Auseinandersetzung zwischen Naturrechtlern und Rechtspositivisten als Streit von gestern bezeichnet wird, ohne in erkenntnistheoretischer und funktionaler Beziehung etwas anderes als ein Mischmasch von Positivismus und Naturrecht anzubieten 1 , dann bleibt die Frage nach dem Sinn solch einer „Herausforderung" nicht einmal offen. Die Fragwürdigkeit der bürgerlichen Rechtsphilosophie besteht also weniger darin, daß sie würdig ist zu fragen, als vielmehr darin, daß sie überfällig ist, in Frage gestellt zu werden! Das sogar zum Gütezeichen erklärte Unbehagen, man könnte auch sagen: Sündenbewußtsein bürgerlicher Juristenphilosophie — Gustav Radbruch 2 : ein guter Jurist kann nur der werden, der es mit einem schlechten Gewissen ist —, widerspiegelt zunächst die Gesellschaftskrise. Insoweit drückt dieses Unbehagen bei seinen feinfühligen Repräsentanten oft den Gegensatz zwischen ihren bürgerlichen Idealen und der Praxis imperialistischer Diktatur aus. Indem diese Repräsentanten jedoch kein kritisches Verhältnis zu den materiellen und ideellen Voraussetzungen dieser Krise gewinnen, widerspiegelt ihr Unbehagen nicht nur die Krise, sondern wird auch zu einem Moment ihrer Keproduktion. Und das ungeachtet des gelegentlich humanistisch gemeinten Engagements derjenigen, denen bürgerliche Rechtsphilosophie, also ihr eigenes Geschäft, fragwürdig geworden ist. Als ob es die Aufgabe der Rechtsphilosophie wäre, Unbehagen zu artikulieren, und nicht vielmehr auf die ihr gemäße Weise Existenzverwirrung in Existenzerhellung umwandeln zu helfen. Das genaue Gegenteil aber wird gemacht. So wurde und wird die Ursache von ideologischen Krisen in der Ideologie gesucht (die Krankheit kommt von der Krankheit), was zwangsläufig dazu führt, daß der Holzweg einer neuen Metaphysik als Ausweg angepriesen 3 und der irdische Mensch auf die übersinnliche Welt als auf seine Chance verwiesen wird. 4 Und wenn man sich schon dazu bequemt, die Ideologiekrise als Indikator einer Gesellschaftskrise zu betrachten, dann wird diese Krise der bürgerlichen Gesellschaft entweder als Menschheitskrise ausgegeben (und damit gerechtfertigt) — Marcic 5 : „Unrecht und Übel sind notwendig" —, oder die Ursache dieser Krise statt in den kapitalistischen Produktions- und Aneignungsverhältnissen im Entwicklungsstand der 1 S o : A. Ehrenzweig, Psychoanalytische Rechtswissenschaft, Berlin(West) 1973, S. 55. 2 G. Radbruch, Eine Feuerbachgedenkrede, Tübingen 1952, S. 24; H. P. Bull, Gute Juristen — mit schlechtem Gewissen, in: Die Zeit, 20—1968, S. 48. 3 G. Cottier, Das Krisenbewußtsein in der modernen Philosophie, in: A. Luyten (ed.), Krise im heutigen Denken, Freiburg 1972, S. 40. 4 E. v . Hippel, Die Krise des Rechtsgedankens, Halle 1933, S. 23. 5 R. Marcic, Rechtsphilosophie, Freiburg 1969, S. 15, 24. In ähnlicher Weise verfährt W . C. Sforza, Rechtsphilosophie, München 1966, S. 148, wenn er den Gegensatz zwischen Norm und Leben nicht als pathologischen Aspekt der Rechtserfahrung, sondern als ihr Wesen wettet. 8*

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Produktivkräfte und dem gesetzmäßig wachsenden Vergesellschaftungsgrad der Arbeit gesucht 1 . Damit erscheint die Krise ohne Ausweg; dem Menschen bleibt nur Angst und — Gott. Aber nicht Maschinen sind es, auch nicht kybernetische, die den Menschen vergewaltigen. Und das Rettende in einer Krise liegt noch lange nicht darin, daß sie als solche auch zur Kenntnis genommen wird 2 . Sie liegt darin, daß ihre Ursachen erforschbar und geschichtsgestaltende Kräfte auf dem Wege sind, ihr den Garaus zu machen. Die ideologische Krise 3 , in der sich die bürgerliche Rechtsphilosophie gegenwärtig befindet, zeigt sich vor allem in folgendem: a) Im Verlust der bourgeoisen Selbstverständlichkeit zu profitieren und mit Hilfe des Rechts zu regieren. Die Folge davon ist, daß bürgerliche Rechtsphilosophie häufig ein gebrochenes Verhältnis zur Macht hat. Die dem Recht zugrunde liegende bürgerliche Existenzweise wird nicht mehr gern diskutiert oder sogar überhaupt als wissenschaftlich nicht erörterungsfähig hingestellt. Die „offene" Gesellschaft (oder welcher Deckname für den Kapitalismus gerade in Mode ist) wird nicht mehr als „heile", gelegentlich sogar als nicht mehr zu heilende Welt behandelt; ihre Gebrechen können nicht mehr verheimlicht und durch das Recht nicht mehr kuriert werden. Kaum jemand wagt für den status quo einzutreten, Rechtsreformen hält eigentlich jeder für erforderlich. Entscheidungsreife Gesellschaftsprobleme werden in den „rechtsfreien" Raum verlegt 4 . Der Glaube an den Ewigkeitsbestand dieser Gesellschaft und ihres Rechts ist untergraben, aber man weiß nicht so recht, wie es weiter gehen soll. Daher ein Schwanken zwischen moralischer Resignation und existenzialistischem Kult des Engage1 H. Huber, Das Recht im technischen Zeitalter (1960), in: Rechtstheorie — Verfassungsrecht — Völkerrecht, Bern 1971 S. 57ff. 2 S o : A. Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt/M. 1972, S. 202. 3 Zur Krise der bürgerlichen Ideologie vgl. vor allem: Geschichte der Philosophie (herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR), Berlin 1967, Bd. VI., S. 434ff.; G. A. Arbatow, Ideologischer Klassenkampf und Imperialismus, Berlin 1972, S. 159ff.; W. Heise, Aufbruch in die Illusion, Berlin 1964, S. 363ff.; H. Meißner (Herausgeber), Bürgerliche Ökonomie im modernen Kapitalismus, Berlin 1967, S. 710ff.; L. V. Skvorcov, Über die Besonderheiten der Krise der modernen bürgerlichen Ideologie, Moskau 1970 (russ.); W. Jopke, Karl Marx und die Krise der bürgerlichen Philosophie, in: Einheit, 1966, S. 355ff.; L. N . Moskitschew, „Entideologisierung" — Illusion und Wirklichkeit, Berlin 1973, S. 213ff.; A. Gedö, Zur Krise der bürgerlichen Philosophie, in: Marxistische Blätter, 5—1973, S. 43; H. Häber, Zur Vertiefung der Krise der bürgerlichen Ideologie, in: IPW-Forschungshefte 2-1973, S. 28ff.; W. A. Tumanow, Bürgerliche Rechtsphilosophie, Moskau 1971, S. 367f. (russ.); K . Hager, Das „Manifest der Kommunistischen Partei" und der revolutionäre Weltprozeß, Berlin 1973, S. 48ff. 4 Zum Beispiel die Frage nach der Legalität oder Illegalität der Schwangerschaftsunterbrechung durch A. Kaufmann, (Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, in: Festschrift für Maurach, Karlsruhe 1972, S. 327ff.).

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ments 1 ; daher das Aufblühen von Rechtsutopien, geboren freilich weniger aus Hoffnung denn aus Angst. Für den Tagesgebrauch werden reformistische Flickwerk-Veränderungen nach dem Vorbild positivistischer Stückwerktechnologien angekündigt 2 , b) Im Verlust einer einheitlichen Weltanschauung, einer rechtsphilosophischen Gesamtkonzeption, aus der das Recht seine Legitimation abzuleiten vermag. Aus dieser Not wird gelegentlich sogar eine Tugend gemacht, etwa mit der auf ihren Urheber zurückschlagenden Behauptung, eine Theorie verliere ihre Wissenschaftlichkeit, wenn sie einen Anspruch auf Universaldeutung erhebe 3 . Die Einschränkung des Wirkungsgrades und des Wirkungsfeldes der vorhandenen Rechtsideologien — die Einflußsphäre der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie vergrößert sich — verstärkt die plurale Erscheinungsform bürgerlicher Rechtsideologie, ihre Krise erscheint als literarische Überproduktionskrise. Die Abwesenheit eines stabilen Systems erfolgreicher Leitideen erklärt auch den sich ständig verändernden Differenzierungs- und Integrationsprozeß von Schulen, Richtungen und Strömungen juristischen Denkens, deren innere Widersprüchlichkeit, ihren zumeist eklektischen Charakter sowie den außergewöhnlich raschen Gedankenverschleiß. Die Atmosphäre, in der ein Gedanke, schon deshalb, weil er neu ist, Kredit genießt, begünstigt ideologisches Konjunkturrittertum. Die ideologischen und die administrativ-regulativen Funktionen bürgerlicher Rechtsphilosophie werden von den verschiedenen Richtungen unterschiedlich stark bedient und geraten zueinander in Gegensatz. c) Im Verlust eines wissenschaftlich-rationalen Verhältnisses zur Gesellschaft und dem Recht. Das fängt damit an, daß die Rechtsphilosophie von der Beantwortung offener Fragen überhaupt entbunden wird — Rechtsphilosophie löse keine Probleme, sondern werfe sie nur auf, heißt es 4 —, und gipfelt im Rahmen einer als völlig verunsichert empfundenen 5 Rationalitätsdiskussion in der zynischen Forderung, Recht und Rechtsphilosophie endgültig von Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit zu emanzipieren 6 . 1 Helmut Schmidt, in: Langzeitprogramm —SPD-Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen für die Jahre 1973—1985, Bonn 1972, S. 18 (unter Berufung auf Sir Poppers „piecemeal social engeneering"). 2 Darüber wundert sich H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1969, S. 79. 3 O. Ballweg, Rechtsphilosophie als Grundlagenforschung, in: Jahrbuch für Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Bielefeld 1972, Bd. 2, S. 47. 4 S o : E . Fechner, Rechtsphilosophie, Tübingen 1962, S. 3; ähnlich A.Kaufmann, Die Aufgaben der Rechtsphilosophie im kybernetischen Zeitalter, in: Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt/M. 1972, S. 375. 5 So: O. Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, Basel 1970, S. 23. 6 N. Luhmann, in: J . Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971, S. 401; N . Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, S. 20.

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d) Im Verlust, schließlich, der progressiven Tradition bürgerlicher Rechtsphilosophie. Er äußert sich zugespitzt in der Absage an den Anspruch der Vernunft auf die rationale Herrschaft des Menschen über Natur und Gesellschaft, wie ihn die Spinoza und Hegel — gewiß überhöht — begründeten, und in dessen Verwirklichungsprozeß die eigentliche Funktion des Rechts liegen sollte. — Wenn man diesem vierfachen Ausdruck der ideologischen Krise bürgerlicher Rechtsphilosophie von heute, dem Riß zwischen Rationalität und Humanität, zwischen Wahrheit und Macht, zwischen Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit, zwischen Idealität und Positivität auf den Grund geht, zeigt sich, daß ihr eigentliches Dilemma in ihrer Unfähigkeit besteht, die Fragen a) nach dem Charakter der gegenwärtigen Menschheitsepoche, b) nach dem Charakter der bestehenden Gesellschaftssysteme und c) nach der objektiv-determinierten Rolle des Rechts im gegenwärtigen Geschichtsprozeß zu stellen und zu beantworten. In diesem dreifachen Unvermögen erweist sie sich als bürgerliche Rechtsphilosophie. Wie in der realen Welt von heute kein Weg am Sozialismus vorbeiführt, so führt auch in der geistigen Welt von heute keiner hinter den Marxismus zurück. Es ist daher kein Wunder, sondern ganz gesetzmäßig, daß seit dem Anwachsen des realen Sozialismus zu einem Weltsystem die der bürgerlichen Gesellschaft verpflichtete Rechtsideologie in eine permanente Defensive gedrängt wurde, deren sichtbarster Ausdruck die chronische Krise ihrer geistigen Existenz ist. Nun hat diese durch die Entwicklung innerer und äußerer Widersprüche des Kapitalismus, insbesondere durch die siegreichen Revolutionen der Arbeiterklasse in die Verteidigung gedrängte bürgerliche Rechtsphilosophie durchaus auch ihre aggressiven Seiten. Sie konzentrieren sich in ihrem AntikommunismusK Seit der Zeit, da im Staatslexikon der Herren Rotteck und Welcker jener Kommunismus-Artikel erschien 2 , dessen erste Worte („seit wenigen Jahren ist in Deutschland von Communismus die Rede und schon ist er zum drohenden Gespenst geworden") vermutlich den Einleitungssatz in der folgenreichsten politischen Streitschrift der Weltgeschichte 3 provozierte („ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst des Kommunismus"), haben sich Form und Inhalt des Antikommunismus in politisch-juristischen Theorien ständig verändert. 1 Vgl.: G. P. Cernikow, Die Haupttheorien des Antikommunismus, Moskau 1972, (russ.); B. A. Schabad, Die politische Philosophie des gegenwärtigen Imperialismus, Berlin 1970, S. 221; Antikommunismus vom Kölner Kommunistenprozeß 1852 bis zu den Berufsverboten heute, Frankfurt/M. 1972; H. Adamo, Antileninismus in der BRD, Frankfurt/M. 1970. W . Abendroth, Zur Rolle des Antikommunismus heute, in: Marxistische Blätter, 5—1973, S. 2 4 f f ; B. A. Schabad, Die Krise der Ideologie des Antikommunismus, Moskau 1973 (russ.); K. H. Röder, W. Weichelt, Das Dilemma des Antikommunismus in der Staatsfrage, Berlin 1974. 2 W . Schulz, Communismus, in: C. Rotteck, C. Welcker (Herausgeber), Das Staatslexikon, Altona 1846, Bd. 3, S. 2 9 0 - 3 3 9 . 3 MEW, Bd. 4, S. 461.

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Und er hat auch gegenwärtig viele Gesichter. Er reicht von offenen Injurien, notdürftig „theoretisch" verpackt, bis hin zur „feinsinnigen" Verleumdung des realen Sozialismus unter Einsatz von Marx-Zitaten. Damit niemand meint, es werde übertrieben, ein wörtlicher Beleg und ohne Kommentar: Das „fremdartige Wesen des gruppenseelischen Volkscharakters der Russen verspürten wir im letzten Krieg an der Ostfront aus erster Hand"; hier trat der Russe „nie einzeln in Erscheinung, stets nur im Rudel einer dichtgeballten Masse"; der Russe „versteht uns und unsere Rechtsordnung nicht . . ." E s handelt sich hierbei nicht etwa um die verspätete Herausgabe der Memoiren eines Frontberichterstatters. Dieser Erguß ist einem rechtsphilosophischen Werk entnommen 1 , das 1972 des großen Erfolges wegen bereits in dritter Auflage erschien! Antikommunistische Züge einer Einstellung sind aber auch, in anderer Form und Dosierung, in jenen literarischen Beiträgen enthalten, die der marxistischleninistischen Rechtstheorie, wie sie in den Länden; des „etablierten" Sozialismus (so sagt man in geschickter Ausnutzung studentischer Stimmungen) erarbeitet wurde und wird, die marxistische Legitimation absprechen, meist verbunden mit dem Versuch, die kritische, gegen den Kapitalismus gerichtete Potenz des Marxismus gegen den Sozialismus umfunktionieren 2 . Wir sprachen schon davon. Nun sind natürlich keineswegs alle bürgerlichen Rechtsphilosophen (und die, die es sind, nicht in jeder Hinsicht) Antikommunisten. Manche von ihnen sind liberale Intellektuelle, die von abstrakt-humanistischen Prinzipien her gegen negative Äußerungsformen des Imperialismus auftreten. Andere wiederum geraten durch offene Klassenauseinandersetzungen in den Sog einer nach links rutschenden Welt und nähern sich sozialistischen Positionen. In diesen beiden Fällen bedeuten antikommunistische Ressentiments (oder mehr), daß der vorhandenen antifaschistischen oder antiimperialistischen Einstellung die Spitze abgebrochen, die oppositionelle Haltung auf ungefährliche Bahnen gelenkt und der Humanismus zur Herabwürdigung des realen Sozialismus verwendbar ist. Insoweit macht Antikommunismus diejenigen, die als Kritiker sichtbarer Gebrechen bürgerlicher Rechtsphilosophie und -praxis begannen, allmählich unfähig, Veränderungsideen zu produzieren und mehr als Unbehagen zu artikulieren. 1 A. Leinweber, Gibt es ein Naturrecht (1966), Berlin(West) 1970, S. 102. — Die Rezensionen dieser Schrift durch Oberer und Engisch in den seriösen Zeitschriften „Rechtstheorie", 1972, S. 91 und „Zeitschrift für die gesamte Straf rechtswissenschaft", 1968, S. 668, übersehen die rassistischen Hetztiraden des Alt- oder Neonazis Leinweber. 2 Etwa: N . Reich, Marxistische und sozialistische Rechtstheorie, Frankfurt/M. 1972, S. 77ff., aber auch W. Paul, D. Böhler, Rechtstheorie als kritische Gesellschaftstheorie, in: „Rechtstheorie", 1972, S. 81. N . Reich, Marxistische Rechtstheorie, Tübingen 1973, dagegen: Klenner i n : Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1974, S. 445.

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Es könnte zum Beispiel sein, daß sich Rudolf Wiethölter, auf solch eine Haltung hinbewegt. Er begann die „Entzauberung" des kapitalistischen Rechts mit wertvollen Teilanalysen zu betreiben, war durch antikommunistische Voreingenommenheit gehindert, seiner Konzeption Profil zu verleihen, wurde von rechts scharf attackiert und zog sich daraufhin auf einen zu nichts Positivem verpflichtenden „juristischen Negativismus" zurück Die Auswirkungen des Antikommunismus innerhalb der bürgerlichen Rechtsphilosophie treffen nicht einmal in erster Linie die Kommunisten oder die marxistische Theorie. Sie sind wohl auch mehr gegen die progressiven Auffassungen von Nichtkommunisten gezielt, deren Progressivität in einigen der bewegenden Fragen von heute, der friedlichen Koexistenz, der Abrüstung, der Gefahr des Faschismus sie in die Aktionseinheit mit Kommunisten führen würde, wenn, ja eben wenn der Antikommunismus nicht wäre. Insofern übt der Antikommunismus eine Disziplinierungsfunktion innerhalb der bürgerlichen Ideologiestruktur zugunsten der reaktionären Richtungen aus und verhindert, daß die politische (bürgerliche) Progressivität einzelner Rechtsphilosophen zum konstitutiven Element einer theoretischen Richtung werden kann 2 . Martin Kriele stellt daher die Dinge auf den Kopf, wenn er meint, daß in den letzten Jahren mit dem Antikommunismus Mißbrauch getrieben wurde, indem er für eine entspannungsfeindliche Politik benutzt worden sei. Folgerichtig erwartet (und erhofft) Kriele, dessen Rechtsdrall überhand nimmt, von einer erfolgreichen Koexistenzpolitik einen neuen Aufschwung des antikommunistischen Arguments 3 Der Antikommunismus wird von Robert Steigerwald 4 charakterisiert als eine „Fessel im Kampf um vernünftige Dinge", sobald Kommunisten darin auch etwas Vernünftiges sehen und mitmachen wollen oder sobald es gar die Kommunisten selbst sind, die als erste oder als entschiedenste Kraft dieses Problem zu lösen versuchen — „wer vom Juden frißt stirbt daran", hieß es unter den Faschisten, „wer sich mit Kommunisten einläßt, geht daran zugrunde, heißt es heute." Da aber die Krise der Rechtsphilosophie einhergeht mit einer Krise von Recht 1 R. Wiethölter, Rechtswissenschaft (1968), Frankfurt/M. 1971, S. 164, 26, 281 f f . Dagegen P. Schwerdtner, Wie politisch ist das Recht, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1969, S. 1 3 6 f f . ; Wiethölter replizierte mit: Recht und Politik, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1969, S. 1 5 5 f f . Vgl. auch: W . Fikentscher, Rechtswissenschaft und Demokratie, Karlsruhe 1970, S. 7 f f . 2 Zur erforderlichen Differenzierung innerhalb bürgerlicher Auffassungen vgl.: H. Meißner, Konvergenztheorie und Realität, Berlin 1969, S. 142f. 3 M. Kriele, Zum gegenwärtigen Stand der Ostpolitik, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1970, S. 911. Das J'PD-Mitglied Kriele befindet sich mit seiner Meinung in schönster Eintracht mit dem CDU-Generalsekretär; vgl. K. Biedenkopf, Die ideologische Kriegführung geht weiter, in: Die Welt, 25. September 1974. 4 R. Steigerwald, Marxistische Klassenanalyse oder spätbürgerliche Mythen, Berlin (und Frankfurt/M.) 1972, S. 99.

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und Gesetzlichkeit, bedeutet vorhandener Antikommunismus, daß die Durchsetzungschancen progressiver Rechtsforderungen erheblich vermindert werden. Denn bei einem beträchtlichen Teil der Klassenauseinandersetzungen im letzten Jahrzehnt handelte es sich im Kern um die Durchsetzung fortschrittlicher RecZi/jforderungen und um die Verhinderung reaktionärer. Im Gegensatz zu linksradikalen Ansichten ist nämlich der Inhalt des bürgerlichen Rechts auch im Imperialismus weder der Willkür der regierenden Klasse preisgegeben noch der Arbeiterklasse gleichgültig. Das Recht ist eines der Hauptobjekte des ökonomischen und politischen Kampfes zwischen dem Monopolkapital und den Werktätigen. Das gilt bereits für die „alltägliche" Rechtspraxis. Eduard Rabofsky wies z. B. darauf hin, daß es von der Arbeiterklaase eines Landes abhängt, ob das Arbeitsrecht seine ihm zugedachte Funktion als Bindeglied zwischen monopolkapitalistischem Staat und Arbeiterschaft erfüllt oder ob es zum hochbrisanten Sprengstoff in der Ausbeutergesellschaft wird Erst recht aber gilt die Notwendigkeit für Sozialisten und Demokraten, auf Gesetzgebung und Rechtsprechung einzuwirken, wenn das Monopolkapital im Rahmen innerer Staatsreformen oder „Totalrevisionen" der Verfassung die bürgerlichen Grundrechte, mögen sie noch so formal und begrenzt sein, über Bord zu werfen sich anschickt. Ob es darum geht, die Verbrechensflut einzudämmen — gegenwärtig wächst die registrierte Kriminalität in der BRD jährlich etwa achtmal schneller als die Einwohnerzahl! —, oder die grundgesetzwidrigen Subventionen revanchistischer Organisationen durch den Staatshaushalt zu liquidieren — 1972 an die 25 Millionen Mark —, oder die Mitbestimmung der Arbeiter und Angestellten über ihre Arbeitsbedingungen, über Investitionen und Betriebsstruktur, über Gewinnverteilung und Preispolitik vom Kleinbetrieb bis zu den multinationalen Konzernen auszudehnen, oder den Bodenspekulationen und der Mietwucherei ein wohlverdientes Ende zu setzen — nie werden das Geschenke der Regierung oder des Monopolkapitals sein. Immer werden diese Rechtsforderungen nur im Ergebnis langwieriger Klassenkämpfe, ob man sie als solche bezeichnet oder nicht, durchgesetzt werden können 2 . Ohne die Möglichkeiten rechtsphilosophischer Arbeitsweise zu überschätzen, hätte progressive Rechtsphilosophie in diesen Auseinandersetzungen um das 1 E. Rabofsky, Über den Charakter des kapitalistischen Arbeitsrechts, in: Weg und Ziel, 1972, S. 103. Vgl. auch: F. Hanacik, Arbeitsrecht als Form der Rechtsungleichheit, ebenda, 1973, S. 259, sowie B.Degen, Tendenzen der Arbeitsrechtsprechung, in: Marxistische Blätter, 2 - 1 9 7 3 , S. 54. 2 Vgl.: Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien (Moskau 1969), Berlin 1969, S. 41 f. (III/9); Thesen des Düsseldorfer Parteitages der Deutschen Kommunistischen Partei, Düsseldorf 1971, vor allem Thesen 4, 11, 14; B. Hartmann, Zu einigen Fragen imperialistischer Herrschaftsausübung in der BRD, in: Marxistische Blätter, 2—1972, S. 1 3 ; aber auch W . Däubler, Gewerkschaftsstrategie gegenüber multinationalen Unternehmen, in: Recht der Arbeit, 1 - 1 9 7 3 , S. 8 f f .

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Recht einer sich nach vorwärts oder rückwärts wandelnden Gesellschaft ein respektables Wirkungsfeld. Oder schreit nicht etwa jenes Gerichtsurteil 1 nach einer rechtsphilosophischen Bewertung, das die Kündigung bestätigte, die durch die (westdeutsche Bundespost gegen einen Fernmeldehandwerker ausgesprochen wurde, weil er sich weigerte, Anweisungen zu befolgen, die sich auf die Notstandsgesetze stützten? Oder lohnt es sich nicht, über die innenpolitischen Voraussetzungen und Folgerungen einer internationalen Entspannungspolitik als Rechtsphilosoph nachzudenken? Aber hier zeigt sich ein bezeichnender Widerspruch. Es fehlte und fehlt nicht an progressiver juristischer Literatur in der Bundesrepublik (auch wenn sie natürlich nicht den Einfluß auf die Machtorgane hat, der ihr nach dem Gehalt ihrer Argumente zukommt). Es gibt saubere Analysen der Notstandsgesetze 2 , sachkundige Einschätzungen der politischen Justiz, 3 tiefgreifende Untersuchungen zum Recht studentischer Aktionen 4 , klarsichtige Stellungnahmen zu den von der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen Ausnahmerechten für Kommunisten und andere Demokraten 5 , differenzierte Betrachtungen zum gegenwärtigen Arbeitsrecht 6, Anregungen, wie man die von den Monopolen verübten schweren Verstöße gegen die Prinzipien der freien Marktwirtschaft kriminalisieren sollte 7 , und sogar herzerfrischende Ratschläge für demonstrierende, verhaftete und angeklagte Demokraten 8 . Es gibt — in Auseinandersetzung mit „konvergierenden Brüdern gleicher Kappen" von linken Sektierergruppen bis hin zu regierungs1 Urteil des Arbeitsgerichts von Ludwigshafen vom 1. Dezember 1969, in: Kritische Justiz 1970, S. 234. 2 E. Kogen, W. Abendroth, H. Ridder, H. Hannover, Der totale Notstandsstaat, Frankfurt/M. 1965 (mit Synopsis) vgl. auch: W . Abendroth, H. Ridder, KPD-Verbot oder mit Kommunisten leben?, Reinbek 1968. 3 L. Lehmann, Legal und Opportun, Politische Justiz in der Bundesrepublik, Berlin(West), 1966. 4 G. Stuby, Disziplinierung der Wissenschaft, Zur Rechtsmäßigkeit studentischer Kampfmaßnahmen, Frankfurt/M. 1970. 5 Stellungnahmen u. a. von W. Abendroth, W. Däubler, E. Denninger, H. Hannover, Fr. Müller, U. K. Preuß, H. Ridder, P. Römer, H.-P. Schneider, J. Staff, G. Stuby und H. Wagner zu den von der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen „Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst", in: Wortlaut und Kritik der verfassungswidrigen Januarbeschlüsse, Köln 1972, S. 7ff. 6 X. Rajewski, Arbeitskampfrecht in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1970; aber auch Th. Ramm, Kampfmaßnahmen und Friedenspflicht im deutschen Recht, Stuttgart 1962, und vor allem: W. Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, Tübingen 1970, S. 193ff. und W. Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, Frankfurt/M. 1973, S. 504ff. 7 F.Bauer, Auf der Suche nach dem Recht, Stuttgart 1966, S. 234. Vgl. auch: K. Tiedemann (Herausgeber), Die Verbrechen in der Wirtschaft, Karlsruhe 1970. 8 H. Lederer, J.Michels, Rechtsfibel für Demokraten, Frankfurt/M. 1970; J.Michels unterliegt wegen seiner Mitautorschaft an diesem Buch dem menschenrechtswidrigen Berufsverbot, vgl.: R. Geffken, Klassenjustiz, Frankfurt/M. 1972, S. 52.

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amtlichen Reformfabriken — Einschätzungen der Rolle des positiven Rechts in der heutigen Gesellschaft und des Verhaltens wirklicher Demokraten zu ihm 1 . Wenn man jedoch die in den letzten Jahren erschienene rechtsphilosophische Literatur daraufhin überprüft, wie sie die unter den Regierungen Erhards (1963— 1966) und Kiesinger (1966—1969) offen zutage getretenen politischen Widersprüche reflektiert, dann stößt man bei der Rechtsphilosophie so gut wie ins Leere. Das trifft selbst für jene Rechtsphilosophen zu, die an einzelnen progressiven Aktionen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre teilnahmen oder partielle Rechtsreformen — etwa des Strafvollzugs — literarisch unterstützt haben. Schon eher ist es möglich, die Formierung einer offen antidemokratischen Rechtsphilosophie zu beobachten, die ihre Gedankenreihen in bewußter Kontinuität zum wilhelminisch-preußischen Polizeipräsidenten von Berlin — „ich warne Neugierige, die Straße dient dem Verkehr" — zu organisieren weiß 2 . Keiner der Professoren wird sich damit herausreden, daß er die Widersprüche der Gegenwart nicht bemerkt habe. Wenn ihm schon die Septemberstreiks von 1969 entgangen sein sollten — 140000 Arbeiter und Angestellte nahmen daran teil 3 —, dann durchflutete zumindest die Welle der Studentenproteste, beginnend mit der Fackelwache der Berkeley-Studenten am Napalm-Verladekai im Hafen von San Francisco, auch seinen Hörsaal. Und wenn auch das Verhalten Carlo Schmids, das Landgericht zu Frankfurt am Main gegen die ihn zur öffentlichen Diskussion über die Notstandsgesetze nötigenden Studenten zu mobilisieren 4 — vergeblich übrigensI — genauso zu den Ausnahmefällen zu rechnen ist wie Martin Krieles gebündelte Gebrauchsanweisungen für Richter in Verfahren gegen Notstandsgegner und Ostermarschierer 5 , das Schweigen der Rechtsphilosophie spricht für sich. Freilich ist es zunächst vonnöten, die Neutralitätsillusionen abzubauen, mit denen Recht, Gericht und Rechtsphilosophie umgeben werden. Rechtsphilosophie vermag nicht der Gesellschaftsentwicklung von außen her das Gerechtigkeitsmaß anzulegen 6 , und Rechtswissenschaft liefert nicht den kontrastierenden Gesell1 H. Ridder, Verfassungsreformen und gesellschaftliche Aufgaben der Juristen, in: Juristentagung am 17./18. April 1971 in Frankfurt am Main, Düsseldorf 1971, S. 6 f . ; G. Stuby, Bürgerliche Demokratietheorien in der Bundesrepublik, in: R. Kühnl (Herausgeber), Der bürgerliche Staat der Gegenwart, Reinbek 1972, S. 87ff. 2 So: J. Ebbinghaus, Wozu Rechtsphilosophie Berlin(West) 1972, S. 10. 3 Vgl.: H. Jung, J. Schleifstein, K. Steinhaus (Herausgeber), Die Septemberstreiks 1969 — Darstellung, Analyse, Dokumente —, Köln 1969. 4 Beschluß des Landgerichts Frankfurt/M. vom 27. März 1969, in: Kritische Justiz, 1969, S. 1 8 8 f f . Zum Demokratie-Unverständnis von C. Schmid vgl. H. Klenner, Volk und Staat und C. Schmid, in: Staat und Recht, 1961, S. 454ff. 5 M. Kriele, Antijustizkampagne — was tun, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1969, S. 3 8 f f . 6 So: R. Marcic, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie, in: österreichische Juristenzeitung, 7—1968, S. 173, aber auch G. Roellecke, Die Funktion der Rechtsphilosophie in der Praxis des Rechts, in: Th. Würtenberger (ed.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, Frankfurt/M. 1971, S. 11 ff.

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schaftsklassen die rechtlichen Argumente nach Wahl 1 . Wenn Recht tatsächlich die Alternative von Gewalt wäre, dann allerdings dürfte es für die den Kapitalismus bekämpfenden Lohnarbeiter empfehlenswert sein, sich unter Gewaltverzicht auf „rechtlich geordnete Vorgänge" zu beschränken 2 . Gesetze und Gerichte sind aber wie die Gewehre Instrumente der Gewalt, mit ihrer Hilfe wird Klassenherrschaft realisiert, sie stehen nicht zur intellektuellen Disposition. Daher ändern auch „linke" Theorien, mit denen Mißbehagen sich in letztlich manipulierter Opposition abreagiert, nichts am Wesen der Sache. Was aber gilt für eine Rechtsphilosophie, deren Abstraktionsebene so gewählt ist, daß sich Fortschrittsnotwendigkeit in vieldeutigen L e e r f o r m e In verflüchtigt ? Und das in einer Zeit, in der der Fortschritt so konkret ist wie die Wahrheit und — buchstäblich — auf der Straße liegt? Was aber gilt für eine Rechtsphilosophie, die sich für zu vornehm hält, die Erfahrungen demokratischer Aktionen — der Erfolge und der Niederlagen — zu verallgemeinern? Was gilt für eine Rechtsphilosophie, deren Realitätsbezug sich immer mehr verdünnt, in deren Konstruktionen der heiße Atem ihrer Entstehungstage nicht zu verspüren ist? Die ihre Rationalität, zumindest aber ihre Originalität zu verlieren meint, wenn sie das Wahre anerkennt? Die sich aber mit einer konformistischen Monotonie; bescheidet 3 , wenn es um die Grundfragen in Theorie und Praxis geht. Was aber gilt für eine Rechtsphilosophie, die Öl auf die Wogen der Unschuld gießt, wenn sie es schon verschmäht, Sand zu streuen ins Getriebe des monopolkapitalistischen Herrschaftsmechanismus? Die vielleicht die unhaltbar gewordenen Positionen räumt, ohne ihr Ziel zu ändern? Die sich dem Fortschritt anpaßt, ohne ihn zu forcieren? Und das ist noch der bessere Fall. Denn der häufigere besteht ja darin — die vorangegangenen Kapitel haben das zur Genüge belegt —, daß durch eine radikal betriebene Trennung des Rechts von seiner gesellschaftlichen Basis — Radbruch 4 : das Sollen ist durch das Sein verursacht, aber nicht aus ihm zu begründen — Gründe für die rechtsphilosophische Arbeitsweise reserviert werden, die nie auf den Grund führen können. Das gleiche trifft auf die als soziologisch ausgegebene, tatsächlich aber formal-funktionale Betrachtungsweise des Rechts 5 , zu, deren letzte Erklärungsebene die Systemerhaltung ist, die also jede emanzipatorische Absicht rücksichtslos ausschließt. Oder wenn — nach Annahme der 1 S o : M. Löwisch, in: Kritische Justiz, 1972, S. 193, ausgerechnet am Beispiel des Arbeitsrechts. W. Däubler k o m m t im Rahmen einer umfangreichen Untersuchung der Spruchpraxis d e s Bundesarbeitsgerichts (in: Streik und Aussperrung, F r a n k f u r t / M . 1974 S. 510) zu dem E r g e b nis, daß den Unternehmerinteressen durchgehend der V o r r a n g v o n den Arbeiterinteressen eingeräumt wird. 2 So aber: T h . Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, Darmstadt 1972, S. 248. 3 D a z u : G . Lukacs, D i e Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 653. 4 G . Radbruch, Rechtsphilosophie, Stuttgart, 1950, S. 99. 5 N . Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 106, 357. D a g e g e n : W. Paul, D . Böhler, i n : „Rechtstheorie", 1972, S. 80.

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Notstandsverfassung durch das Parlament entgegen der eindeutig festgestellten Mehrheitsmeinung der Wähler — die Leistungsfähigkeit ausgerechnet des Staater beschworen wird, um das „Allgemeininteresse" (das arithmetische Mittel aus den, Interessen von Flick plus Thyssen plus Mannesman* plus Horten plus Arbeiterklasse) gegenüber dem Druck selbstsüchtiger Sonderinteressen durchzusetzen1. Daß es auch mit einem Flickwerk am überkommenen, diskreditierten Gedankengut nicht getan ist, möge an einem neuerlich erschienenen Sammelband beispielhaft demonstriert werden, mit dem versucht wird, die rechtsphilosophischen Grundpositionen der katholischen Soziallehre von ihren eigenen Denkvoraussetzungen her zu verteidigen, wahrlich keine leichte Aufgabe 2 . Inzwischen ist es nämlich zum Gemeingut geworden, daß nicht nur Sklaverei, Feudalismus, Kolonialismus nebst Völkermord, sondern auch der Kapitalismus einschließlich seiner faschistischen Sumpfblüte mit Hilfe der Naturrechtslehre legitimiert worden ist. Daß Thomas von Aquin, jener Doctor Angelicus, auf dessen Prinzipien die katholischen Professoren auch heute noch verpflichtet sind (Corpus Iuris Canonici, 1917, Can. 1366, § 2), das Naturrechtsprinzip „Jedem das Seine" daran erläuterte, daß der Sklave dem Herrn zukomme (Summa, I, qu 21, a l),hat längst vom Beispiel auf das Naturrecht selbst zurückgeschlagen. Die NaturrechtsRenaissance in der westlichen Welt nach dem zweiten Weltkrieg 3 hat infolge der Verschärfung innerer und äußerer Widersprüche inzwischen zu einem Naturrechts-Kollaps geführt. Aber nicht einmal dieser Tatsache sind sich alle Autoren der vorgelegten Naturrechtswiederbelebung bewußt. So wird etwa ein problemgeschichtlicher Überblick geboten, dessen Verfasser in bewundernswürdiger Naivität fast bis zum Schluß die „heile Welt" der Naturrechtslehre vorführt: Ihre Entwicklungsgeschichte wird vom Markus-Evangelium (7, 1 — 13) über Augustinus, den Aquinaten, die Reformatoren, über das aufklärerische Vernunftrecht bis hin zu „Mater et magistra" als „Resultante der inneren Selbstbewegung der Sache des Naturrechts" geschildert (S. 23). Daß Pufendorf — um nur einen derer herauszugreifen, die hier umfunktioniert werden — im Namen eines vernünftigen Naturrechts die spätscholastisch drapierte ecclesia tnilitans beider Konfessionen attackierte, daß er ein „christliches" Naturrecht zu einem einer „christlichen" Chirurgie gleichzustellenden Unfug erklärte, daß unter den fast 5000 Zitaten seines Hauptwerkes nicht ein einziger Scholastikername auftaucht 4 , daß andererseits er — wie viele seiner naturrechtlichen Kollegen von den profanen Fakultäten — auf den päpstlichen Index gesetzt wurde 5 , davon kein Wort. 1 H. Ehmke, Politik der praktischen Vernunft, Frankfurt/M. 1969, S. 218. 2 Vgl.: F. Böckle, E.-W. Böckenförde, Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973; Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch. 3 Vgl.: B. F. Brown (ed.), The natural law reader, New York 1960, p. 1 9 f f . 4 Vgl.: H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Pufendorf, München 1972, S. 269, 333. 5 Vgl.: A . Sleumer, Index Romanus, Osnabrück 1951, S. 170.

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Während so die Naturrechtsgeschichte von ihren Ursachen und Wirkungen getrennt als innerideologische Selbstbewegung dargestellt wird, werden anderwärts die geschichtlichen Wirkungen des christlichen Naturrechts realistischer eingeschätzt. Der Nachweis, daß die scholastische Naturrechtslehre maßgeblich zur Etablierung des Gesetzespositivismus beigetragen, daß sie die sklavenhändlerischen Kolonialisten nicht behindert, sondern gedeckt, ja, daß ihre Fundierung des Privateigentums das kapitalistische Wirtschaftssystem gestützt habe (S. 64, 75, 78), ist wohl eindeutig, nur: Diese Analyse bricht da ab, wo die Gegenwart mit ihrer Frage beginnt, was soll uns dieses belastete Naturrecht heute? Dabei sind sich einige Autoren der bisherigen Ambivalenz des Naturrechts wohl bewußt — sie scheuen sich auch nicht, einzelne Enzykliken als naturrechtswidrige Apologien zu bewerten — zumal sie keinen Bogen um den Legitimierungsdienst machen, den die katholischen Bischöfe 1933 Herrn Hitler geleistet haben, sie behandeln auch die bis Mitte der sechziger Jahre üblichen bischöflichen pro-Adenauer-Wahlhirtenbriefe. Sie wissen um den tautologischen Charakter der meisten Naturrechtsprinzipien und um die, mit Verlaub, Lächerlichkeit des klerikalen Arguments für das Verbot einer frei herbeigeführten Empfängnisverhütung : Die Natur des männlichen Samens sei normativ (S. 206)! Daraus wird hinsichtlich der Vergangenheit ein Ungenügen der Naturrechtslehre als ethisch-sittlicher Orientierungsmaßstab für politisches Handeln geschlußfolgert: aufgegeben werden (S. 135) die bisherigen Postulate a) von der ontologischen Qualität des Naturrechts, b) von der Kongruenz der göttlichen mit der menschlichen Vernunft, c) von der Unwandelbarkeit und universalen Gültigkeit des Naturrechts, d) von der unmittelbaren Rechtsqualität des Naturrechts, e) von der Authentizität kirchlicher Naturrechtsinterpretationen. Dergestalt bieten also die Naturrechtsprinzipien keine praktikablen Handlungsanweisungen; sie sind eigentlich nur im Katastrophenfall aktuell und ihre Konkretisierungen erfolgen im Rahmen eines Argumentationsprozesses, dessen Output immer plural ist, so daß keine einzelne Konkretisierung für sich unbedingte Verbindlichkeit erlangen kann (S. 121ff.). Mit meinen Worten: Auch diese Art einer topisch betriebenen Naturrechtstheorie läßt das Naturrechtsargument sowohl Franco als auch seinem bischöflichen Gegner, sowohl dem Militärjuntist Pinochet wie dem Christen innerhalb der Unidad Populär. — Das mag zwar redlicher gedacht sein als die bisherige Unterstellung, daß man mit „intuitiver Sicherheit" die angeblich göttlich organisierte Wertordnung „erschauen" und daher eindeutig handeln könne 1 , aber der positive Ertrag ist doch recht mager: Naturrecht als kritische Unruhe im Getriebe des Rechts, wohl systemimmanenter Natur. Eh und jeh haben reaktionäre und progressive Klassen mit dem Naturrecht die bestehenden Zustände je nachdem legitimiert oder revolutioniert 2 , und da 1 S o : H. Weinkauff, in: Neue Juristische Wochenschaft, 1960, S. 1692. 2 Vgl.: K . Marx, F. Engels, Werke, Berlin 1962, Bd. 18, S. 59, 277.

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dem Schwachen auch die stärksten Argumente nichts nutzen, wird die Überführung der Naturrechtslehre in den Bereich der „Gesprächsverbindungen zwischen sich befehdenden Klassen" (S. 220) daran aber auch gar nichts ändern. Solange jedenfalls nicht, bis alle Unterdrückten, Ausgebeuteten und Manipulierten dieser Erde sich im Kampf um ihre Befreiung die Weltanschauung angeeignet haben, die es nicht nötig hat, vorzutäuschen, daß ihre auf dem Baum der Vernunft gewachsenen Erkenntnisse vom Baum der Offenbarung gepflückt sind. — Der Weltkapitalismus befindet sich seit über einem halben Jahrhundert im Zustand einer allgemeinen Krise 1 : Mit der Labilität der kapitalistischen Wirtschaft und der Verschärfung ihrer Widersprüche wächst der Kampf zwischen Arbeit und Kapital; das System kapitalistischer Kolonialsklaverei ist zusammengebrochen; immer neue Länder gehen einen nichtkapitalistischen Weg; der reale Sozialismus ist zur entscheidenden Triebkraft der Menschheitsentwicklung geworden. Die wachsende wechselseitige Abhängigkeit aller Seiten des gesellschaftlichen Lebens hat im Vergesellschaftungsprozeß der Produktivkräfte die ökonomische, die soziale, die ideologische und die politische Krise des gegenwärtigen Kapitalismus in eine gesamtgesellschaftliche, den Weltkapitalismus erfassende Krise verwandelt. Ein diese Gesellschaftskrise widerspiegelndes und sie reproduzierendes Element ist die bürgerliche Rechtsphilosophie. Aus ihrer Krise gibt es innerhalb des bürgerlichen rechtsphilosophischen Denkens umsoweniger einen Ausweg, als das bürgerliche Recht wie der bürgerliche Staat zum organischen Bestandteil des Funktionsmechanismus des gegenwärtigen Kapitalismus geworden ist. Daher wird jede Rechtsphilosophie, die das monopolkapitalistische Recht legitimiert, das Schicksal des Monopolkapitalismus teilen. Die Krise der Rechtsphilosophie kann also nur insoweit überwunden werden, als sich die Rechtsphilosophie an der Beseitigung der Gesellschaftskrise beteiligt. Insofern ist die marxistische Rechtstheorie die Alternative zur bürgerlichen Rechtsphilosophie in der Krise. Ideologiekritische Betrachtungen können als Element des Kampfes gegen die Krise allerdings nur dann gelten, wenn sie Ideen und Theorien nicht nach dem beurteilen, was zu sein sie vorgeben, sondern sie als das durchschauen, was sie sind. Manche reden radikal, aber denken konservativ. Nicht die Bereitschaft, das Gedankenprodukt nach den Absichten und Standards seines Produzenten zu bewerten2, sondern danach, welche materiellen 1 Vgl.: Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien (Moskau 1969), Berlin 1969, S. 12—46; Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus, Berlin 1972, S. 1 4 f f ; P. Hess, Zum sozialen Inhalt der gegenwärtigen Entwicklungsetappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus, in: IP W ( = Institut für Internationale Politik und Wirtschaft) — Berichte, 8 - 1 9 7 2 , S. 6 f f . 2 S o : R.S.Summers, More Essays in Legal Philosophy, Berkeley 1971, p. 15. Vgl. dagegen die materialistische ideologische Haltung von Hanns Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig 1973, S. 131.

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Interessen es widerspiegelt, welche Handlungen es in welche Richtung beeinflußt, zählt. Denn Rechtsphilosophie ist wie alle Ideologie zugleich Wirkung und Bewirkendes. Als bürgerliche Ideologie hat sie wie jede Ausbeuterideologie eine Führungs- und eine Irreführungsfunktion. Sie vermittelt FflÄra/igj-informationen an die herrschende Klasse; sie verbreitet Irreführungsiniotmationcn für die beherrschten Klassen und Schichten. Die objektive Situation im gegenwärtigen Kapitalismus ist nun von der Art, daß sowohl die orientierenden wie auch die desorientierenden Aufgaben bürgerlicher Rechtsphilosophie wachsen. Die orientierenden Aufgaben vor allem deshalb, weil die staatsmonopolistische Regulierung (auch mit Hilfe des Rechts) zu einer Existenzbedingung des Profitsystems geworden ist — daher unter anderem die Versuche, die bisher als Kechtsprecbungswissenschaft betriebene Rechtswissenschaft in eine Geset^gebungswls&cn&ch.nit umzuprofilieren 1 . Die desorientierenden Aufgaben vor allem deshalb, weil sich der Zuspruch ständig und teilweise sprunghaft vergrößert, den die sozialistische Lösung der Weltprobleme von heute findet. Da aber der staatsmonopolistische Kapitalismus aus seinen inneren Widersprüchen heraus den Übergang zur antimonopolistischen Demokratie als der unumgänglichen Öffnung des Weges zum Sozialismus erforderlich macht, sind auch die von einer mit dem Monopolkapitalismus verbundenen Rechtsphilosophie erarbeitenden Führungsinformationen als Irreführung zu qualifizieren — gemessen an den Erfordernissen eines gesamtgesellschaftlichen Progresses. Sie wissen keinen Weg aus der Krise, sie verschärfen sie. Das chinesische Symbol für Krise kombiniert die Symbole für Gefahr und für Gelegenheit. Wo aber ist das Rettende, wenn die Gefahr wächst? Krisenzeiten sind Zeitenwenden. Und die Zukunft hat schon begonnen. Ob es den Rechtsphilosophen paßt oder nicht, die „Aurora" schoß das Startzeichen der neuen Welt. Der damit eingeleitete Emanzipationsprozeß der Menschheit ist in seiner Praxis und in seiner Theorie nicht mehr zurückzudrehen. Wo aber ansetzen? Karl Marx, Materialist und Dialektiker, der er war: die Entwicklung der Widersprüche einer historischen Produktionsform ist der einzig reale Weg ihrer Auflösung und Neugestaltung 2 Damit meint Marx, daß nur eine Theorie, die von der Untersuchung der wirklichen Bewegungsgesetze dieser Welt ausgehend einer Gesellschaftspraxis den Weg nach vorn weist, auf der Höhe unserer Zeit steht. Was nutzt es heutzutage, vor den Gegensätzen innerhalb der Gesellschaftsordnungen und zwischen ihnen die Augen zuzukneifen und etwa auf die Menschenliebe als dem Aufbauprinzip der Rechtsordnung von Gegenwart und Zukunft zu spekulieren 3 ? 1 A m ausgeprägtesten von P. Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 9 ff. 2 K . Marx, F. Engels, Werke, Berlin 1962, Bd. 23, S. 512. 3 So aber: G. Küchenhoff, Rechtsbesinnung. Eine Rechtsphilosophie, Göttingen 1973, S. 4 2 8 f f . Küchenhoff, gegenwärtig Vetkünder einet schwülstigen, von „Gotterlebnissen" durchsetzten Rechtsmystik, gehörte einst zu den Initiatoren der faschistischen Rechtswissenschaft

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Prinzipien sind nur insoweit richtig und verdienen nur insoweit als Handlungsorientierung anerkannt zu werden, als sie mit Natur und Geschichte übereinstimmen. Ansonsten gehören sie ins Illusionsmuseum. Es geht also um die Objektivität unseres Erkenntnisgegenstandes, um die gesellschaftliche Determiniertheit unserer Einbildungen, unseres Wissens und unseres Rechts. Und damit sind wir zugleich bei einem der „ewigen" Probleme der Rechtsphilosophie, dem Verhältnis von juristischer Gesetzlichkeit und gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit. DieRecÄ/j'ordnungen der regierendenBourgeoisie geben vor, sich von natürlichen, von Gott oder der Vernunft diktierten Gesetzen abzuleiten. Sie nehmen daher für ihren wesentlichen Inhalt in Anspruch, ewig zu gelten, unabänderlich zu sein. Von Natur aus seien alle Menschen gleichermaßen frei und besäßen angeborene, unabdingbare Rechte, zum Beispiel das Eigentumsrecht, heißt es im Artikel 1 der Virgina — „Bill-of-Rights" von 1776. Ähnliche Behauptungen finden sich in allen bürgerlichen Grundgesetzen, sie sind auch Basisaussagen von Einzelgesetzen (etwa § 16 des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches). Da die Bourgeoisie einerseits auf eine methaphysische Begründung für ihr Recht angewiesen ist, woraus sich seine vom Gottes- oder Naturgesetz abgeleitete, also nur relative Geltung ergibt, sie aber andererseits ihrem Recht unbedingten, also absoluten Gehorsam verschaffen möchte, schwanken ihre Theoretiker zwischen naturrechtlichen und positivistischen Positionen, Widerspiegelung einer auf bürgerlichem Boden nicht lösbaren Antinomie: das Recht wird aus dem Gesetz Gottes oder den Gesetzen des Staates hergeleitet, jedenfalls sei es Ausfluß eines gesellschaftlich nicht determinierten Willens. Daß das in einer Gesellschaft geltende System staatlich garantierter Verhaltensregeln, das Recht, nicht willkürlichen Inhalts ist, daß vielmehr ein gesetzmäßiger Zusammenhang besteht zwischen den materiellen Lebensbedingungen der herrschenden Klasse und den an alle Mitglieder der Gesellschaft adressierten juristischen Verhaltensanforderungen, gehört zu den grundlegenden, die Jurisprudenz überhaupt erst als Wissenschaft ermöglichenden Erkenntnissen des Marxismus. Indem Marx und Engels die soziale Determiniertheit des Rechts, seinen objektiv gegebenen Inhalt herausarbeiteten, bewiesen sie zugleich die Unwissenschaftlichkeit jeder Rechtslehre, die kausalgesetzliche Beziehungen zwischen Recht und Gesellschaft leugnet und auf eine absolute Eigengesetzlichkeit des Rechts zusteuert. Die marxistisch-leninistische Rechtstheorie betrachtet hingegen das Recht als ein relativ selbständiges Element einer einheitlichen objektiven Welt, als reale Erscheinung der Klassengesellschaft, die sich auf der Grundlage allgemeiner (vgl.: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Berlin 1937, Bd. VIII, S. 197, 578, 620, 773), was die neuerdings ihm zu Ehren veranstaltete Festschrift (Staat und Gesellschaft, Göttingen 1967, S. 365) zu vertuschen versucht. 9 Klenner, Rechtsphilosophie

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Gesellschaftsgesetze, aber auch spezifischer, ihr eigener Gesetzmäßigkeiten entwickelt Bei diesen Gesetzmäßigkeiten handelt es sich wohlgemerkt nicht um bloße Verallgemeinerungen erlebter Regelmäßigkeiten, die in die Zukunft extrapoliert werden 2 , sondern um objektive Zusammenhänge innerhalb der Gesellschaft. Wenn auch die staatlichen Gesetze letztlich nur das „Wollen der ökonomischen Verhältnisse protokollieren", die ökonomischen Gesetze also stärker sind als die juristischen Gesetze3, so gibt es doch Gesellschaftsgesetze, die sich ohne die juristischen Gesetze nicht durchsetzen: das Recht ist ein unentbehrliches, ein gesetzmäßiges Produkt der Klassengesellschaft. So ist etwa der synallagmatische Vertrag (vgl. Code civil, Art. 1102) geradezu als die Rechtsform des Wertgesetzes zu bezeichnen: die Warenbesitzer eignen sich über den Kaufvertrag wechselseitig die Waren an 4 . Daß aber der Vertrag, dieses gemeinsame Willensverhältnis zweier Personen, deren ökonomische Beziehungen nicht nur widerspiegelt, sondern zugleich auch zu mystifizieren in der Lage ist, zeigt sich besonders deutlich beim Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft: der diesbezügliche Vertrag zwischen Kapitalist und Arbeiter (vgl. Code civil, Art. 1710) ist, wie Marx im Detail nachgewiesen hat 5 , nur ein dem Zirkulationsprozeß angehöriger Schein von Äquivalentenaustausch; denn der Kapitalist bezahlt die Arbeitskraft mit dem Geldausdruck bereits vergegenständlichter fremder Arbeit, die er sich also unaufhörlich ohne Äquivalent aneignet, und der Arbeiter gehört infolge seiner Eigentumslosigkeit dem Kapital bereits bevor er sich einem Kapitalisten verkauft hat: seine ökonomische Hörigkeit ist zugleich vermittelt und versteckt durch die periodische Erneuerung seines Selbstverkaufs! — Ganz generell läßt sich sagen, daß das Recht in der Ausbeutergesellschaft die Illusion fördert, daß seine Verhaltensanforderungen im Interesse der Normadressaten selbst liegen. Wenn die gesellschaftsordnende Funktion des Rechts den materiellen Existenzbedingungen der jeweils herrschenden Klasse, deren verhaltensregulierender Willensausdruck es ist, dadurch dient, daß sie die beständige Reproduktion der ökonomischen Grundlage dieser Gesellschaft dadurch sichert, daß sie die täglich wiederkehrenden Akte der Produktion, der Verteilung und des Austauschs der Produkte unter gemeinsame Regeln faßt, heißt das etwa, daß das Recht notwendigerweise konservativ ist, daß es mit den Erfahrungen von gestern das Leben von morgen gängeln will? So etwa wurden auf dem letzten rechtspoliti1 Vgl.: Marxistisch-leninistische Allgemeine Theorie des Staates und des Rechts, Berlin 1974, Bd. 1, S. 10. 2 So aber von einem positivistischen Standpunkt aus: V. Kraft, in: The foundation of staements and dicisions, Warschau 1965, S. 23, und von einem phänomenologischen Standpunkt aus: A. Troller, Das Gesetz im Recht, in: Probleme der Rechtsetzung, Basel 1974, S. 35. 3 K. Marx, F. Engels, Werke, Berlin 1959, Bd. 4, S. 109; Bd. 19, S. 251. 4 K.Marx, F.Engels, Werke, Berlin 1962, Bd. 23, S. 99; dazu E. B. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Wien-Berlin 1929, S. 9 0 f f . 5 K . Marx, F. Engels, Werke, ebenda, S. 603, 609.

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sehen Kongreß der SPD die über die Rechtspraxis der sozial-liberalen Koalition Enttäuschten mit der Floskel zu trösten versucht, dem positiven Recht sei die Rückständigkeit als Dauererscheinung eigentümlich i . Wenn das Recht an der Stabilisierung gesellschaftlicher Strukturgesetze dadurch teilhat, daß es die den jeweiligen Eigentumsverhältnissen entsprechenden sozialen Beziehungen zwischen den Gliedern der Gesellschaft im Interesse der herrschenden Klasse reguliert, dann werden Progressivität und Regressivität des Rechts letztlich davon abhängen, welche Rolle die Eigentumsverhältnisse und die herrschenden Klassen im Geschichtsprozeß spielen. Je nachdem ob die herrschenden Gesellschaftsklassen eine reaktionäre oder eine progressive Funktion spielen, wird auch das jeweilige Recht die gesellschaftliche Entwicklung verlangsamen oder beschleunigen helfen. Insofern ist insbesondere das Verhältnis des juristischen Rechts zum sozialen Entwicklungsgesetz der menschlichen Gesellschaft, der tendenziellen Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte, als Bewertungskriterium für die Fortschrittlichkeit, für die Veränderungsbedürftigkeiten oder die Beseitigungsnotwendigkeit des jeweiligen Rechts zu betrachten. Diese grundlegende Erkenntnis einer materialistisch-dialektischen Rechtsphilosophie verdient vor allem gegen die sich klassenneutral gebenden Thesen einer systemstrukturellen Rechtslehre festgehalten zu werden, nach der, wenn man nur abstrakt genug vergleicht (d. h. von der Gesellschaftsqualität absieht!), sozialistisches wie kapitalistisches Recht identische Funktionen ausüben. Tatsächlich geben aber nicht die Strukturgcsetze, sondern die sozialen Entwicklungsgesetze den Gesellschaftsphänomenen das qualitative Gepräge. Während sich das sozialistische Recht dauerhaft durchsetzt infolge seiner Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten, teilt das bürgerliche Recht schließlich das Schicksal der ganzen Bourgeois-Herrschaft: Das Gesetz der Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte verlangt objektiv die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse samt der diese Verhältnisse regulierenden und sichernden Mechanismen. Hier entwickelt sich also ein antagonistischer Widerspruch zwischen juristischer Gesetzlichkeit und gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit. Das im Revolutionsprozeß erarbeitete sozialistische Recht übt (verglichen mit dem kapitalistischen Recht) entgegengesetzte Funktionen aus: es reguliert die Unterdrückung des Widerstandes der gestürzten Ausbeuterklassen und der von ausländischen Kapitalistenstaaten unternommenen Interventionsversuche, sowie den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Es ist Geburtshelfer der neuen Gesellschaft, es ist Regulator bei der Verteilung der Produkte und der Arbeit unter die Mitglieder der Gesellschaft 2 , und es garantiert die Funktionsfähigkeit des sozialistischen Gesellschaftssystems. 1 Gerechtigkeit in der Industriegesellschaft, Karlsruhe 1972, S. 12. 2 S o : W . I. Lenin, Werke, Berlin i960, Bd. 25, S. 481. fl*

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Mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse eröffnet sich zum ersten Mal die Möglichkeit, den realen Ablauf des Gesamtprozesses der erweiterten Reproduktion gemäß den ihm immanenten Gesetzmäßigkeiten planmäßig zu leiten. Ein dabei unverzichtbares Leitungsinstrument der politischen Organisation der Werktätigen unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei ist das sozialistische Recht. Juristische Gesetzlichkeit wird im Revolutionsprozeß erkannter gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit, einem Mittel ihrer Beherrschung. Daher ist die Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit, d. h. die Gestaltung der Gesellschaft mit den Mittel und Methoden des Rechts, eine objektive Notwendigkeit. Das Wachstum ihrer Bedeutung ist selbst eine gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit im Sozialismus. Daher kommt sowohl der wissenschaftlich fundierten Gesetzgebung als auch der allgemeinen Verwirklichung der Rechtsvorschriften durch alle Bürger, Betriebe und Leitungsorgane, den beiden Elementen der Gesetzlichkeit, eine erstrangige Bedeutung zu: in der sozialistischen Gesetzlichkeit verkörpert sich die Unumkehrbarkeit der vollzogenen revolutionären Veränderungen. Daher ist jede Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit Willkür und hemmt als solche die Durchsetzung gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten Ist in der bürgerlichen Gesellschaft jeglicher Fatalismus von Seiten der Arbeiterklasse gegenüber dem Inhalt des bürgerlichen Rechts unangebracht, so eröffnet erst recht im Sozialismus das richtige Verständnis für die Wechselwirkung von juristischer Gesetzlichkeit und gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit allen Werktätigen und deren Organisationsformen einen großen Verantwortungsbereich. Da das Recht im Sozialismus Produkt und zugleich Instrument erkannter und zu erkennender Gesetzmäßigkeiten ist, wird die Weiterentwicklung des Rechts zu einer ständigen Staatsaufgabe: sich verändernde gesellschaftliche Erfordernisse sind in generalisierte Entscheidungen, d. h. Rechtsnormen, zu transformieren. Dabei hängt die Wirksamkeit des sozialistischen Rechts in erster Linie von der Qualität des Rechts, also davon ab, inwieweit die vom Staat unter Einbeziehung der Werktätigen erarbeiteten Rechtsvorschriften den sich aus den gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und deren Wirkungsbedingungen abzuleitenden Verhaltensanforderungen entsprechen. Und die dem Sozialismus gemäße Verwirklichung des sozialistischen Rechts durch die Bürger, Betriebe und Gerichte setzt ihrerseits die Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit der rechtlich fixierten Verhaltensanforderungen voraus: Rechtsbewußtsein ist notwendiges Element von Klassenbewußtsein, und sozialistische Gesetzlichkeit ist nur als bewußte Gesellschaftsgestaltung mit Hilfe des Rechts denkbar. Dabei eröffnet die durch das Recht garantierte Stabilität und Kontinuität des gesellschaftlichen Fortschritts einen breiten Entscheidungsspielraum für individuelles und kollektives Schöpfertum. 1 Vgl.: W . I.Lenin, Werke, Berlin 1962, Bd. 33, S. 3 4 9 f f . (dazu: P. Stutschka, Lenin und das revolutionäre Dekret, in: Staat und Recht, 1970, S. 553ff.) sowie Dokumente des VIII. Parteitages der SED, Berlin 1971, S. 31 (Entschließung).

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Sozialistisches Recht ist kein Instrument der Gängelung des einzelnen. Im Gegenteil: Die Transformation gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten in juristische Gesetzlichkeit, in Rechte und Pflichten der Gesellschaftsmitglieder, gehört zu den unumgänglichen Vorbedingungen für die initiativreiche Ausnutzung des rechtlich gesicherten Verantwortungsbereiches und Entscheidungsspielraumes jedes einzelnen: im Sozialismus findet das Individuum seine Freiheit nicht — wie im Kapitalismus — im Kampf gegen die Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft selbst, in seiner Mitwirkung an der Gesellschaftsentwicklung. Die Übereinstimmung von juristischer Gesetzlichkeit und gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit im Sozialismus garantiert den kollektiven Selbstbefreiungsprozeß. Wenn auch der Rechtsinhalt gegeben ist in den materiellen Lebensverhältnissen der herrschenden Klasse, so heißt das nicht etwa, daß jeder Gesetzesparagraph direkt oder gar sich automatisch aus den Produktionsverhältnissen ergibt. Karl Marx bewies zum Beispiel, daß sich aus den objektiven Gesetzen des Warentausches im Kapitalismus keine Grenze des Arbeitstages und damit keine Grenze der Mehrarbeit ergibt; daher gebe es eine Antinomie zwischen dem Recht des Kapitalisten auf einen möglichst ausgedehnten Arbeitstag und dem Recht des Arbeiters auf beschränkte Arbeitszeit; zwischen beiden Rechten entscheidet schließlich die Gewalt: der Klassenkampf zwischen Gesamtkapitalist und Gesamtarbeiter i. Es gehört zu den Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus, daß das regierende Monopolkapital nicht nur das Recht zunehmend zur unmittelbaren Regulierung ökonomischer Prozesse einsetzt, sondern auch verstärkt die ihr vom Volk abgerungenen Rechte abzuschaffen und zu durchbrechen versucht. Diesem Zerstörungsprozeß der bürgerlichen Gesetzlichkeit durch die Bourgeoisie2 entgegenzuwirken und innerhalb des Kapitalismus für die Verteidigung und die Erweiterung der (bürgerlich) demokratischen Rechte einzutreten, gehört zum Aktionsprogramm der Kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder3. Für die Beseitigung von Berufsverbotsbestimmungen, für die Aufhebung von Notstandsgesetzen, für ein demokratisches Bildungs- und Bodenrecht, für wirksame Mitbestimmungsrechte der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften, für die Überführung der marktbeherrschenden Konzerne in demokratisch kontrolliertes öffentliches Eigentum, mit einem Wort: für die antimonopolistische Demokratie zu kämpfen, festigt zugleich das Fundament einer Politik der friedlichen Koexistenz. 1 K . Marx, F. Engels, Werke, Berlin 1962, Bd. 23, S. 249; dazu: P. Stutschka, Die revolutionäre Rolle von Recht und Staat, Frankfurt/M. 1969, S. 85 ff. 2 Vgl.: W . I. Lenin, Werke, Berlin 1962. Bd. 16, S. 315. 3 Vgl.: Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den X X V . Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin 1976, S. 3 4 f f . G. Hall, Der amerikanische Imperialismus, Berlin 1973, S. 101 f f . ; G. Marchais, Die demokratische Herausforderung, Berlin 1974, S. 93 sowie die im Anhang vorliegender Studie (S. 166 ff.) abgedruckten Auszüge aus Beschlüssen der DKP.

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Damit sind wohlgemerkt nicht austauschbare Vorstellungsmodelle zukünftigen Geschehens, damit ist objektiv Notwendiges genannt. Eine Rechtsphilosophie, die zur Erkenntnis dieser Erfordernisse gesellschaftlicher Vorwärtsentwicklung nicht wenigstens auf dem Wege ist, hat den Gang der Geschichte verfehlt. Denn was hat die großen Rechtsphilosophien der Vergangenheit groß gemacht? Um im Bereich der bürgerlichen zu bleiben: Hobbes vollzieht mit seinem „Leviathan" die Ablösung des feudal-theologischen Welt- und Rechtsbildes durch ein bürgerlich-rationales, mit dem er gegen die Vorrechte des Adels den Herrschaftsanspruch des Bürgertums legitimiert. Rousseau rechtfertigt mit seinem „Gesellschaftsvertrag" den revolutionären Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, und Hegel liefert eine der unumgänglichen, wenn auch nicht hinreichenden, Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Rechtsphilosophie, indem er das Recht in die Totalität eines widersprüchlichen Geschichtsprozesses integriert. Die großen Meister von Hobbes bis Hegel haben den Forderungen des Tages, ihres, Tages, genügt. . . Um aber die hiermit vorgelegte, im Frühjahr 1973 geschriebene Streitschrift gegen einige juristische Reflexionen über die bewegten letzten zehn Jahre auf den Begriff zu bringen: eine Rechtsphilosophie, welche die gesellschaftlichen Widersprüche in der Welt von heute samt ihrer Überwindungschance und -richtung nicht zu reflektieren und demzufolge den Interessenten am Fortschritt nicht zum Bewußtsein ihrer Aufgaben zu verhelfen vermag, eine solche Rechtsphilosophie ist, alles in allem, zeitgenössisch, aber nicht zeitgemäß.

Anhang I. Zeitgenössische bürgerliche Rechtsphilosophie

1. Theodor Viehweg, Analyse der Topik. Aus: Viebmeg, Topik und Jurisprudenz,

München 1974, S. 31—35, 38—45.

. ; : I. Der wichtigste Punkt bei der Betrachtung der Topik ist die Feststellung, daß es sich hier um diejenige denkerische Techne handelt, die sich am Problem orientiert. Aristoteles hat das mehrfach hervorgehoben. Die allerersten Worte seiner Topik sagen es. Dementsprechend ist auch die Aufgliederung, die er in der Topik vornimmt, eine Aufgliederung nach Problembereichen. Denn „das, worum sich die Schlüsse drehen, sind die Probleme" (Arist. Top. 1. 4. 2. 2.). Überdies hat er diesen von Rhetoren und Sophisten geübten Denkstil in seine eigene philosophische Arbeit überall dort hineingenommen, wo es sich erst einmal um eine eingehende Problemerörterung handeln mußte. Die Untersuchungen der Aporien im dritten Buche der Metaphysik sind ein Beispiel. Derart entstand also seine berühmte und für die neuere Philosophie beispielhafte aporetische Arbeitsweise. Der Terminus Aporie soll ja gerade die aufgedrungene und unausweichliche Frage kennzeichnen, die „Weglosigkeit", die nicht zu beseitigende Problemsituation, die Boethius, vielleicht etwas zu schwach, mit dubitatio übersetzt. Die Topik will Winke geben, wie man sich in einer solchen Situation verhält, um nicht rettungslos stecken zu bleiben. Sie ist daher die Techne des Problemdenkens. Erst das sachhaltige Problem löst ersichtlich jenes Erwägungsspiel aus, welches man Topik oder die Kunst des Findens nennt. Das bedeutet, um Zielinski sprechen zu lassen, also auch: .¿die Kunst, sich in jeder Lebenslage die Gründe zu vergegenwärtigen, die einen Schritt empfehlen oder widerraten — wohlgemerkt, beide Reihen, die Gründe dafür ebensogut, wie die Gründe dagegen." Worüber der eben zitierte Autor sehr treffend bemerkt: „ein äußerst wirksames Mittel gegen den Simplismus, der blind auf d a s . . . Ziel losgeht"; und mit Bezug auf das Tugendproblem: „die Handlungsweise . . . ergibt sich hier als die mühsam herausgequälte Resultante aus einem großen Für und Wider streitender Beweggründe: an Stelle des Reflexes ist die Reflexion getreten". Bei alledem ist erforderlich, das Problem selbst als vorgegeben und stets führend anzuerkennen. Denkt man in einem expliziten System, ist das ersichtlich nicht durchzuhalten, und Nicolai Hartmann hat diese Gegensätze zwischen Problemdenken und Systemdenken in sehr eindrucksvoller Weise geschildert. Immerhin darf man aber nicht verkennen, daß zwischen Problem und System wesentliche Verflechtungen bestehen, die wir etwas näher zeigen wollen. Nennt man, was für unsere Zwecke genügt, Problem eine jede Frage, die anscheinend mehr als eine Antwort zuläßt, und setzt man notwendigerweise ein vorläufiges Verständnis voraus, nach dem irgend etwas überhaupt als ernstzunehmende Frage erscheint, wird eben nun eine Antwort als Lösung gesucht. Dies wickelt sich in abgekürzter Schilderung, wie folgt ab: Das Problem wird durch entsprechende Umformulierung in einen vorgegebenen mehr oder weniger expliziten und mehr oder weniger umfänglichen Ableitungszusammenhang gebracht, aus welchem die Antwort erschlossen wird, Nennt man einen Ableitungszusammenhang ein System,

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könnte man in noch kürzerer Sprechweise sagen, daß das Problem zum Zwecke der Lösung in ein System eingeordnet wird. Legt man nun den Akzent der Betrachtung auf das System, ergibt sich folgendes Bild: Setzt man den extremen Fall, es gäbe überhaupt nur das eine System A, würden durch dieses alle Probleme in lösbare und unlösbare gruppiert werden, ja die letzteren könnten darüber hinaus als bloße Scheinprobleme abgetan werden, da ein Gegenbeweis nur aus einem System B möglich wäre. Entsprechendes gälte beim Bestand mehrerer Systeme A, B, C usw. Sie würden die ihnen zugehörigen Probleme A', B\ C* usw. auswählen und den Rest liegen lassen. Mit anderen Worten: Der Einsatz beim System bewirkt eine Problemauslese. Umgekehrt, bei Akzentverlagerung auf das Problem: Dieses sucht gleichsam ein System, das zur Lösung verhilft. Wenn es nur ein einziges System A gäbe, das unser Problem für unlösbar (ja darüber hinaus für ein bloßes Scheinproblem) erklärte, würde es andere Systeme für seine Lösung fordern. Entsprechendes gälte bei mehreren Systemen A, B, C usw. Helfen sie nicht, werden andere und wieder andere gefordert, wobei stets der Problemcharakter behauptet bleibt. Mit anderen Worten: Der Einsatz beim Problem bewirkt eine Systemauslese und führt gewöhnlich zu einer Pluralität von Systemen, ohne deren Verträglichkeit aus einem umfassenden System zu beweisen. Dabei können die Systeme (hier im Sinne von Ableitungen) von kleinem und kleinstem Umfang sein. Nur wird man sich im letzten Falle fragen, woher denn die unheimliche Konstanz des Problems stammt? Offenbar doch aus demselben Verständnis, das wir oben voraussetzen mußten und nach dem irgend etwas überhaupt als ernstzunehmende Frage erscheint. Das Problem stammt also aus einem immer schon vorhandenen Verständniszusammenhang, von dem man zunächst nicht weiß, ob er ein logisches System, also ein Ableitungszusammenhang, oder etwas anderes ist, und ob er überhaupt überblickbar gemacht werden kann. Es empfiehlt sich, die eben angedeuteten Verflechtungen zwischen System und Problem im Auge zu behalten, wenn man liest, was N. Hartmann wie folgt beschreibt: „Systematische Denkweise geht vom Ganzen aus. Die Konzeption ist hier das Erste und bleibt das Beherrschende. Nach dem Standpunkt wird hier nicht gesucht, er wird zu allererst eingenommen. Und von ihm aus werden die Probleme ausgelesen. Problemgehalte, die sich mit dem Standpunkt nicht vertragen, werden abgewiesen. Sie gelten als falsch gestellte Fragen. Vorentschieden ist hier nicht etwa über die Lösung der Probleme selbst, wohl aber über die Grenzen, in denen sich die Lösung bewegen darf." . . . „Aporetische Denkweise verfährt in allem umgekehrt." Woran sich Ausführungen anschließen, die mit folgendem Satz enden: „Sie (die aporetische Denkweise) zweifelt nicht daran, daß es das System gibt, und daß es vielleicht in ihrem eigenen Denken latent das Bestimmende ist. Darum ist sie seiner gewiß, auch wenn sie es nicht erfaßt." Topik ist nicht zu verstehen, wenn man nicht die hier angedeutete Eingeschlossenheit in eine wie auch immer zu bestimmende Ordnung, die nicht als solche erfaßt wird, annimmt, gleichgültig, wie man sie im einzelnen gedanklich ausgestaltet. Woraus folgt, daß dieses Denken nur mit fragmentarischen Einsichten rechnen kann. Piaton hat es selbst in seinen Dialogen benutzt. Aristoteles hat es, wie erwähnt, in sein Werk hineingenommen. Die Topik dient diesem Denken. Wie kann dies im einzelnen geschehen? Natürlich kann man, wenn man irgendwo auf ein Problem stößt, einfach so vorgehen, daß man mehr oder weniger zufällige Gesichtspunkte in beliebiger Auswahl versuchsweise aufgreift. Man sucht auf diese Weise sachlich passende und ergiebige Prämissen, um Folgerungen ziehen zu können, die uns etwas einleuchtend erschließen. Die Beobachtung lehrt, daß so im täglichen Leben fast immer verfahren wird. Auch in solchen Fällen würde eine genauere Nachforschung ergeben, daß bestimmte leitende Gesichts-

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punkte die jeweilige Orientierung lenken. Aber sie werden nicht explizit gemacht. Zum Zwecke des Überblicks nennen wir ein solches Verfahren Topik erster Stufe. Seine Unsicherheit fällt in die Augen und macht begreiflich, daß man nach einer Stütze sucht, die sich am einfachsten in einem stets bereiten Repertoire von Gesichtspunkten bietet. So entstehen Topoikataloge, und wir nennen ein Verfahren, das derartige Kataloge benutzt, Topik zweiter Stufe . . . . . . III. Die Funktion der Topoi, gleichgültig, ob sie als allgemeine oder besondere auftreten, besteht also darin, der Problemerörterung zu dienen. Daraus folgt, daß sie dort ganz besondere Bedeutung haben müssen, wo es sich um bestimmte Problemkreise handelt, in deren Natur es liegt, nie ganz ihren Problemcharakter zu verlieren. Im Wechsel der Situationen und Einzelfälle müssen dann immer wieder neue Hinweise für Problemlösungsversuche gefunden werden. Die Topoi, die helfend eingreifen, erhalten jeweils ihren Sinn vom Problem her. Ihre Hinordnung auf dieses bleibt ihnen immer wesentlich. Denn im Hinblick auf das jeweilige Problem erscheinen sie nach einem durchaus nicht unveränderlichen Verständnis passend oder unpassend. Sie müssen funktionell als Orientierungsmöglichkeiten und Leitfäden des Gedankens verstanden werden. Ob sie als Begriffe oder Sätze auftreten, ist eine reine Formulierungsfrage. Nur darf nicht vergessen werden, daß ihr systematischer Wert im angegebenen Sinne notwendigerweise unerheblich sein muß. Lange Folgerungen vertragen sich nicht mit ihrer Funktion, das logische Gewicht der von ihnen aufgebauten Begriffs- oder Satzgefüge bleibt deshalb stets gering. Wir werden hierüber noch mehrfach zu sprechen haben und zunächst nur versuchen, diesen Gedanken durch ein Beispiel zu erläutern: Ein Topoikatalog, wie wir ihn etwa bei Gribaldus Mopha finden, kann so wenig unser systematisches Verständnis befriedigen, daß wir uns gleichsam aufgefordert fühlen, uns alsbald an die dringend erscheinende deduktiv-systematische Arbeit zu machen. Wir möchten darangehen, einerseits zum Zwecke von Kettendefinitionen Grundbegriffe zu bestimmen, und andererseits zum Zwecke von Kettendeduktionen Kernsätze festzusetzen, oder ähnliches zu tun, was wir im Rahmen einer Prinzipienforschung gelernt haben. Aber wir würden hierdurch die Topoi in ihrer eigentlichen Intention verändern. Wir würden ihre Orientierung am Problem schrittweise auflösen, bei weitreichenden, durchaus korrekt vollzogenen Folgerungen schließlich bemerkten, daß diese immer situationsfremder und trotz ihrer Korrektheit immer unpassender erscheinen, und wir würden schließlich feststellen müssen, daß zwischen dem von uns entworfenen System und der Welt der Probleme, die durch all dies an Problematik nichts verloren hat, ein spürbarer Riß klafft. Offenbar haben wir ursprünglich komplexe Bezüge gestört. Es scheint ein Zusammenhang vorzuliegen, der sich nicht zu einem logischen vereinfachen läßt, so daß wir schließlich nur noch isolierte und gleichgültige Konstruktionen betreiben. Dieses merkwürdige Ergebnis wird sich überall dort zeigen, wo die Problematik, die man zu bewältigen wünscht, sich nicht einmal in einem gewissen Umfang restlos erledigen läßt, sondern überall in immer neuer Gestalt auftaucht. Die beständige Problemgebundenheit verhindert dann das ruhige logische Ausdenken nach rückwärts und vorwärts, also das Reduzieren und Deduzieren. Man wird dauernd vom Problem gestört. Man wird es nicht los, falls man es nicht zu einem Scheinproblem erklärt, und man wird daher immer wieder auf die Prämissensuche geschickt, mithin zur ars inveniendi, zur Topik. IV. Denn diese ist ein prämissensuchendes Verfahren, wie es Cicero hervorhob, indem er sie als ars inveniendi von der demonstrierenden Logik, der ars iudicandi, abhob. Das ist durchaus sinnvoll. Denn es ist (nach Cicero) ohne weiteres möglich, eine Reflexion, die die Herbeiholung des Denkstoffes im Auge hat, von einer anderen, die auf das Logische gerichtet ist, zu

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unterscheiden. Daß man im praktischen Verlauf diese jener nachstellen muß, ist ebenfalls klar. So gesehen, ist die Topik eine prologische Meditation, denn als Aufgabe verstanden, ist die inventio primär, die conclusio sekundär. Die Topik muß erst einmal zeigen, wie man Prämissen findet. Die Logik nimmt sie hin und verarbeitet sie. Damit hängt zusammen, daß die Art der Prämissenfindung die Beschaffenheit der Schlußformen beeinflußt, und umgekehrt die Beschaffenheit der Schlußformen Hinweise auf die Prämissenfindung gibt. Bei der Untersuchung einer Denkweise kann man also bei dieser oder jener ansetzen. Am zweckmäßigsten scheint jedoch, erst einmal festzustellen, wie die zu untersuchende Denkart sich ihre Prämissen schafft, und in welcher Weise sie an ihnen festhält. Denn dadurch erhält sie ihr eigentliches Gesicht. Das Weitere ergibt sich vielfach von selbst. Eine Denkweise, die über einen relativ kleinen und konstanten Schatz letzter Prämissen verfügt, wird lange Kettenschlüsse (sorites) entwickeln können. Eine andere, bei der die Prämissensuche gleichsam nie aufhört, wird sich mit kurzen Schlüssen begnügen müssen. Vico betont das besonders. Wie erwähnt, verweist er auf die Fülle der Syllogismen, die in der Topik ihre Rolle spielen, und auf das dortige Fehlen der sorites. Das häufige Auftreten von Analogieschlüssen wird gewöhnlich darauf hinweisen, daß ein perfektes logisches System fehlt, und auch die Beziehungen der öfter vorkommenden Schlüsse geben Winke, welcher Geistigkeit diese dienen. So stammen beispielsweise die Namen der Schlüsse argumentum a simili, e contrario, a maiore ad minus usw., die als spezielle Argumente der juristischen Logik gelten, aus der Topik. Im übrigen wird ein prämissensuchender Denkstil, der, wie erörtert, allgemeine Gesichtspunkte und Gesichtspunktkataloge für andrängende Fragen bereithält, von der neuzeitlichen Wissenschaft gering eingeschätzt. Kant verwirft die Lehre von den Topoi, „deren sich Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten für eine vorliegende Materie schickte, und darüber mit einem Schein von Vernünftigkeit zu vernünfteln oder wortreich zu schwatzen". Vico dagegen schätzt diese Lehre sehr hoch. Er meint, wie erwähnt, man könne sich in Wirklichkeit ohne sie gar nicht orientieren. Sieht man sich in seinem Sinne um, wird man finden, daß die Topik sehr viel häufiger anzutreffen ist, als man zunächst vermuten möchte. Sie scheint der menschlichen Natur und Situation nicht gänzlich unangemessen zu sein, und es erscheint zumindest geboten, sie nicht ganz außer acht zu lassen, wenn man versucht, sich über menschliches Denken, wo auch immer, Rechenschaft abzulegen. V. Hat sich ein Katalog zulässiger Topoi gebildet, ergibt sich für die weitere Gedankenführung, wie angestrebt, eine logische Bindung. Aber sie reicht nicht sehr weit. Die ständige Problemgebundenheit gestattet, wie oben ausgeführt, nur Ableitungszusammenhänge von geringem Umfange. Sie müssen im Hinblick auf das Problem zu jeder Zeit unterbrochen werden können. Jedes Problemdenken ist bindungsscheu. Aber es kann ebensowenig gänzlich auf Bedingungen verzichten. Im Gegenteil, es hat an gewissen Festlegungen ein eigenes Interesse. Denn es ist niemandem möglich, einen sachhaltigen Beweis zu führen, wenn es ihm nicht gelingt, sich und seinen Gesprächspartner wenigstens für einen abgesteckten Bereich in einem gemeinsamen Verständnis zu halten. Der Jurist zum Beispiel wird hierüber täglich im Prozeßbetrieb belehrt. Die platonischen Dialoge, in denen sich Sokrates durch eine zuweilen recht seltsam wirkende Fragetechnik jene Verständigungen schafft, die er für seine Beweise braucht, sind klassische Beispiele. Topoi und Topoikataloge haben daher weitgehend die Bedeutung, erst einmal ein bestimmtes Verständnis festzulegen und aufzubauen. Sie rücken Frage und Antwort zurecht, und sie weisen auf das hin, was überhaupt

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näherer Erwägung wert scheint. So findet fortgesetzt ein Aufeinanderabstimmen statt, und die gängigen Topoi, nicht nur die besonderen, sondern auch die allgemeinen, sind auf diese Weise gut geeignet, die Dimension zu zeigen, in der man sich jeweils bewegt und die man nicht verlassen darf, falls man nicht das Beweisverständnis verlieren will. Insofern bieten Topoi und Topoikataloge also einen wünschenswerten Halt. Aber die Herrschaft des Problems erfordert andererseits Beweglichkeit und Erweiterungsfähigkeit. Wie man sieht, bietet der nichtsystematisierte Topoikatalog irgendeines Sondergebietes hierfür selbst eine Handhabe. Denn das Repertoire ist elastisch. Es kann vergrößert und verkleinert werden. .Im letzten Fall müssen bisher zugelassene Gesichtspunkte ausdrücklich oder stillschweigend als nicht mehr annehmbar gelten. Die Beobachtung zeigt jedoch, daß dies zum mindesten auf gewissen Gebieten sehr viel schwieriger und seltener ist, als man vermuten möchte. Das einmal Festgelegte wird ungern angetastet. Aber auch hier hilft sich das topische Denken selbst und zwar in der Form der Interpretation. Bei ihr geht es dann darum, neue Verständnismöglichkeiten zu erschließen, ohne die alten zu verletzen. Das geschieht so, daß man zwar an den vollzogenen Fixierungen festhält, diese aber : unter neue Gesichtspunkte rückt, die oft in ganz anderem Zusammenhang entstanden sind und nun die Möglichkeit bieten, den alten Festlegungen eine neue W e n d u n g zu geben. Nicht jede Interpretation (Auslegung, Exegese, Hermeneutik) tut das, aber jede kann das. Sie ist ein Stück Topik und zu den erwähnten Modifizierungen hervorragend geeignet. An ihmen pflegt sich der Dialektiker im erörterten Sinne besonders zu bewähren. VI. Es ist ersichtlich, daß die grundlegenden Prämissen in dem hier geschilderten Verfahren durch die Annahme des Gesprächspartners legitimiert werden. Man orientiert sich am tatsächlichen oder voraussichtlichen Widerstand des Gegners. Infolgedessen gilt alles, was allseits und immer wieder angenommen wird, als fixiert, als unbestritten und wenigstens in diesem Umkreis sogar als evident. Auf diese Weise werden im Hinblick auf das jeweilige Problem Prämissen als „relevant", „irrelevant", „zulässig", „unzulässig", „annehmbar", „unannehmbar", „vertretbar", „unvertretbar" usw. qualifiziert, und selbst Zwischenstufen, wie etwa, „kaum vertretbar", „noch vertretbar", erscheinen hier, und nur hier, sinnvoll. Die Diskussion bleibt offenbar die einzige Kontrollinstanz, und die Problemerörterung hält sich hier im Bereiche dessen, was Aristoteles das Dialektische nennt. Was in der Disputation durch Annahme ausgewiesen ist, ist als Prämisse zugelassen. Das erscheint zunächst sehr bedenklich. Die Feststellung ist jedoch weniger erschreckend, wenn man berücksichtigt, daß die Disputanten ja selbst über ein Wissen verfügen, welches anderweitig bereits eine Nachprüfung, welcher Art auch immer, erfuhr, und welches eben nur dann unter vernünftigen Leuten auf Annahme rechnen kann, wenn es insoweit Gewicht zu haben scheint. Dergestalt ist auch der Bezug auf das Wissen der „Besten und Angesehensten" sinnvoll. Man bezieht sich mit der Nennung eines Namens auf einen anerkannten menschlichen Wissens- und Erfahrungskomplex, der nicht nur vages Vermeinen enthält, sondern ein Wissen im anspruchsvolleren Sinne verbürgen soll. Mit anderen Worten: Auch im Rahmen des Meinungsmäßigen werden wirkliche Einsichten angestrebt, nicht etwa bloßes, beliebiges Meinen. Das wäre sinnlos und würde in der Tat rechtfertigen, den ganzen Betrieb nicht ernst zu nehmen. Es handelt sich vielmehr um ein sehr bezeichnendes, mittelbares Erkenntnisverfahren, bei dem es allerdings sehr darauf ankommt, mit wem man es betreibt. Aristoteles hat darauf ausdrücklich hingewiesen. VII. Etwas anderes als eine Prämisse ausweisen oder erweisen, bedeutet eine Prämisse beweisen oder begründen. Das ist eine rein logische Angelegenheit. Sie erfordert ein deduktives System. Denn sie verlangt, daß der als Prämisse benutzte Satz auf einen anderen Satz und schließlich auf einen Kernsatz zurückgeführt, oder umgekehrt aus ihm abgeleitet wird, oder selbst,

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wie auch immer, zum Kernsatz bestimmt wird. Im großen und ganzen handelt es sich also um das Verfahren, welches Vico die methodus critica nennt, an deren Anfang ein primum verum stehen muß, falls sie nicht die subtile Entfaltung eines Irrtums sein soll. Die Topik setzt voraus, daß ein solches System nicht besteht. Ihre ständige Problemgebundenheit muß Reduktion und Deduktion in bescheidenen Grenzen halten. Gelingt es jedoch, ein Ableitungssystem herzustellen, wonach, von der logischen Seite her gesehen, jede Wissenschaft streben muß, ist die Topik weitgehend verabschiedet. Bei der Auswahl der Kernsätze hätte sie, wenigstens auf bestimmten Gebieten, vielleicht noch eine gewisse Bedeutung. Alles andere aber ist die logische Angelegenheit der Folgerung. Die Deduktion macht im opimalen Falle jede Invention gänzlich entbehrlich. Das System übernimmt die Führung. Es entscheidet allein über den Sinn einer Frage. Seine Sätze sind sämtlich logisch streng nachprüfbar, also im Sinne einer zweiwertigen Logik „falsch" oder „wahr". Werte wie „vertretbar", „noch vertretbar", „kaum vertretbar", „unvertretbar" oder entsprechende sind hier sinnlos. Auf sich selbst gestellt, muß das Satzsystem aus sich selbst verständlich sein, das heißt, aus der logischen Explikation seiner Kernsätze. Diese kann nicht mit Rücksicht auf eine wie auch immer behauptete Veränderung der Problemsituation irgendwie verändert werden. Sie ist zwar ursprünglich von einer Problematik in Bewegung gesetzt (auf die die Kernsätze ihre endgültige Antwort gaben), dann aber in ihrem rein logischen Fortschreiten vom Problem unabhängig. Man kann von hieraus Vermutungen anstellen, wo vielleicht der tatsächliche Übergang von der topischen Denkart in die deduktiv-systematische liegen könnte. Denn sind einmal Topoikataloge im oben erörterten Sinne für bestimmte Spezialgebiete vorhanden, bieten sie für eine systematisch denkende Epoche hinreichenden Anreiz, sie zum deduktiven System unzugestalten. Auch didaktische Motive werden hierzu hindrängen. Wobei aber zu beachten ist, daß ein didaktisches System immer noch einem nicht aus der Sache selbst entspringenden Problem, nämlich dem der besten Unterrichtung, dient. Es ist also nie rein logisch orientiert. In der Regel wird es aber den Weg zum deduktiven System ebnen. Nur ein solches System kann, wie erwähnt, die eindeutige logische Nachprüfbarkeit seiner Sätze gewährleisten. Die Topik kann das daher nicht. Die Sätze, mit denen sie operiert, können vielmehr nur in einem unzulänglichen Umfang logisch nachprüfbar sein. Immerhin sind sie diskutierbar, und auf dem Gebiete der Topik besteht daher jedes Interesse, wenigstens diese Diskutierbarkeit so klar und einfach wie möglich zu gestalten . . .

2. Theodor Viehweg, Anhang zur Fortentwicklung der Topik. Aus: Viebiveg, Topik und Jurisprudenz,

München 1974, S. 111—119.

. . . Um nach Vicos Beispiel die juristische Topik im Rahmen der Rhetorik erneut zu erörtern, seien hier noch einige Ausführungen zu einer fortentwickelten, zeitgenössischen rhetorischen Argumentationstheorie angefügt. Sie lassen die inhaltliche Topik, die mittlerweile anderweit eine dankenswerte Darstellung gefunden hat, beiseite und versuchen, die formale Topik mit Hilfe sprachkritischer und neurhetorischer Untersuchungen einige Schritte voranzubringen. 1. Zu diesem Zwecke darf noch einmal festgestellt werden, daß die neue Hinwendung zur Rhetorik in erster Linie darauf beruht, alle Argumentation aus der Redesituation verständlich zu machen. Das läßt empfehlenswert erscheinen, eine nichtsituative Denkweise von einer situativen zu unterscheiden und deren beiderseitige Besonderheiten zu untersuchen.

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Zur näheren Verdeutlichung dieser Zusammenhänge sei die Ausdrucksweise der neueren Semiotik verwendet und daher zwischen dem syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekt einer Sprechweise unterschieden. Syntax soll also heißen: der Zusammenhang von Zeichen mit anderen Zeichen, Semantik: der Zusammenhang von Zeichen mit Gegenständen, deren Bezeichnung behauptet wird, und Pragmatik: der situative Zusammenhang, in dem die Zeichen von den Beteiligten jeweils benutzt werden. Man kann feststellen, daß in der uns heute geläufigen Denkpraxis der syntaktisch-semantische Aspekt meist den Vorzug genießt. Man versteht Syntax mit Hilfe von Semantik, während die Pragmatik lediglich als Notbehelf fungiert, um etwa verbleibende Unstimmigkeiten zurechtzurücken. Über die Eigenart der drei Aspekte wird weiter unten noch einiges gesagt werden. Jetzt kommt es darauf an, den für uns wichtigsten Punkt hervorzuheben, nämlich folgenden. E s leuchtet ohne weiteres ein, daß die Rhetorik von alters her die eben erwähnte Pragmatik an erster Stelle im Auge hatte, und es ist ebenso leicht ersichtlich, daß das neue Interesse an der Rhetorik zu einer entsprechenden Blickwendung zurückkehrte. Die Folge davon ist, daß die oben skizzierte, konventionelle Reflexionsreihe nunmehr umgekehrt wird: eine Veränderung von fundamentaler Bedeutung. Denn man versucht nun, erneut und mit neuen Mitteln, die pragmatische Situation, aus der alle Rede stammt, als Startsituation zu reflektieren, um aus ihr die weiteren gedanklichen Hervorbringungen verständlich zu machen. Man nimmt also alle Gedankenprodukte in ihren situativen Ursprung zurück, um sie aus ihm heraus neu zu erklären. Nennt man eine solche Denkweise, die sich innerhalb der pragmatischen Redesituation bewegt, situativ, und ihr Gegenstück, das heißt also eine Denkweise, welche die Redesituation unberücksichtigt läßt, nichtsituativ, kann man sich über hier interessierende weitere Zusammenhänge, wie folgt, verständigen. II. Man kann zunächst bemerken, daß die nichtsituative Denkweise wohl deshalb bevorzugt wird, weil sie als intellektuelle Tätigkeit offenbar weniger Schwierigkeiten macht als die situative, obgleich gerade diese in der Lebenspraxis den Ausschlag gibt. Die nichtsituative Denkweise bietet jedenfalls intellektuelle Bequemlichkeiten. Denn hat man einmal ein Denkgefüge von den Störungen der pragmatischen Ausgangssituation, soweit wie irgend möglich, befreit, kann man über dessen isolierten syntaktischen Aufbau weitgehend störungsfrei verfügen. Auf diese Weise führte im Anfang der Neuzeit die Betonung der Syntax zu den großen und beliebten Zeichenhierarchien der Vernunftrechtssysteme, deren Isolierung schon Montesquieu kritisierte. Die isolierende Syntaktisierung betonte das deduktive System und war offenbar dazu geeignet, die Axiomatisierung zu fördern, sodaß die scheinbar situationslose Mathematik als imponierendes Vorbild vorgewiesen werden konnte. Dabei hat sich im juristischen Bereich, im Gegensatz zum fortentwickelten mathematischen Bereich, die eben erwähnte Axiomatisierung stets auf besonders qualifizierte und politisch meist erbittert umkämpfte Axiome gestützt, sodaß man gerade durch sie und deren Situationsbezogenheit auf außersyntaktische, letztlich situative und pragmatische Erörterungen verwiesen wurde. Zu ihnen wird man insbesondere auch dann gedrängt, wenn der Gegner die bloß syntaktische Sicherung einer Behauptung mit Recht als unzureichend zurückweist und eine über die Syntax hinausgreifende Vollbegründung fordert. Dann stößt man ersichtlich auf die situative Problematik, mit der es die Topik als ars inveniendi in erster Linie zu tun hat. Davon später. Jetzt ist der semantische Aspekt noch etwas näher zu betrachten. E r spielt in Jurisprudenz und Rechtsforschung eine eigenartige und zuweilen sogar irreführende Rolle. Denn hier werden sehr häufig Produkte der Rechtssprache als außersprachliche, von der Rechtssprache lediglich abgebildete Gegenstände vorgestellt. Auf diese Weise schuf man zuweilen selbständige Gegenstandsfelder, die das Rechtsdenken anzutreffen vermeinte und dementsprechend beschrieb, obgleich es sie selbst herstellte. In der deutschen Jurisprudenz hat der geniale Ihering die krassesten Exempel dieser Art geliefert. Aber es finden sich auch anderweit Beispiele, die weniger auffällig sind und

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bei der Lehre vom Vertrag, vom Eigentum und von anderen rechtlichen Grundbegriffen ihre Rolle spielen. Bei alledem liegt jedenfalls ein semantisches Denkmuster zugrunde. Es führt den praktizierenden Juristen vielfach zu der Überzeugung, daß das, was in casu hic et nunc als gerecht zu ermitteln ist, sich mit hinreichender Sicherheit letztlich doch aus der Wortbedeutung des einschlägigen Rechtstextes ergebe. Denn diese Bedeutung stehe im Grunde ein für allemal fest und sei nicht nur im Zusammenwirken mit anderen, sondern auch in einsamer Anstregung zu erfassen. Die Gegenansicht erblickt in solcher Überzeugung eine zwar sehr naheliegende aber unerlaubte Vereinfachung. Sie behauptet, jeder, der an der Rechtspraxis teilnimmt, wisse, daß das tägliche Rechtsgeschehen sich anders abwickelt: Das, was hier und jetzt im Rechtsfalle als gerecht akzeptiert wird, ergibt sich aus einer höchst komplexen Kommunikationssituation, die sich anhand von Rechtstexten abspielt. Es gehört gerade zu den notwendigsten Aufgaben einer fortentwickelten Rechtsforschung, diese schwierige Situation in situativer Denkweise mit allen Mitteln, die heute zur Verfügung stehen, zu klären und dergestalt überhaupt erst zuverlässig kontrollierbar zu machen. Sicherlich ist das nicht dadurch möglich, daß man sich damit begnügt, die gewohnte juristische Semantik gegen eine vielleicht etwas ungewohnte sozialwissenschaftliche oder sonstige auszutauschen. Vielmehr bleibt die Analyse der Redesituation die erste Aufgabe, zumal sie von dem Isolations- und Restriktionsbedürfnis des sogenannten Rechtspositivismus aus Furcht vor Weiterungen mit Hilfe der nichtsituativen Denkweise gemieden wurde. III. Die situative Denkweise muß, wie gesagt, zum pragmatischen Boden im oben angegebenen Sinne zurückehren. Sie muß daher in erster Linie versuchen, den intellektuellen Herstellungsprozeß abzuklären, der sich in der Redesituation auf der Suche nach Verständigung abspielt. Alle Gedankenprodukte in ihren situativen Ursprung zurücknehmen, heißt eben, diesen Kommunikationsvorgang zum Gegenstand der Forschung machen. Dieser Prozeß wird hier, anstelle der möglicherweise einsamen semantischen Ermittlung, in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. Er ist ein als im Miteinander und Gegeneinander gemeinsam betriebenes Verfahren verständlich zu machen, und zwar als ein Verfahren, das nicht auf bereits fixierten Behauptungen beruht, sondern um deren Auffindung und Fixierung erst einmal ringt. Es handelt sich alles in allem um ein Unternehmen, das allen Rhetorikern und Juristen hinlänglich geläufig ist. Heuresis oder inventio bringen es in Bewegung. Topik oder ars inveniendi geben nützliche Winke, topoi oder loci bieten konkrete Starthilfen. Sie fungieren als „Suchformeln" im rhetorischen Sinne, als angebotene, angenommene, wie auch immer durchgesetzte oder zurückgewiesene Anweisungen zur Invention, das heißt, zur Auffindung von problemlösenden Gesichtspunkten in angezeigter Richtung innerhalb einer Topik erster oder zweiter Stufe, als Einstiegsmöglichkeiten für Unterredungen, als Objekte des Aushandelns und anderes mehr. Übergehen wir jetzt die reizvolle und sicher noch nicht ausgeschöpfte funktionelle Beschreibung dieses deliberativen und kommunikativen Prozesses. Sehen wir uns vielmehr nach theoretischem Rüstzeug um, das in der jüngsten wissenschaftlichen Entwicklung entstand und geeignet erscheint, bei der Analyse des in Frage stehenden Prozesses zu helfen. Es handelt sich um logikwissenschaftliche, sprachkritische und ethische Überlegungen. 1. Was die Logik angeht, so rät die Hinwendung zur situativen und pragmatischen Denkweise deutlich dazu, die Dialogik als Logikgestalt zu bevorzugen. Denn sie formuliert die Folgerichtigkeit in der ursprünglichen Redesituation und löst sie nicht aus ihr heraus. Sie bleibt redebezogen und ist gerade so dem Rhetoriker und juristischen Praktiker hinlänglich bekannt. Vor allem läßt sie nicht vergessen, daß hier in Rede und Gegenrede sprachliche Handlungen zum Zuge kommen. Sie sind als Angriff und Verteidigung einem strengen Argumentationsverfahren unterworfen, in dem zwei Parteien in rhetorischer Manier als Proponent, Respondent, Defendent oder Opponent auftreten. Wem es gelingt, alle denkbaren Züge des Gegenspielers zum eigenen Vorteil zu beant-

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Worten, der ist Gewinner des Dialogs oder, wie man auch sagt, im Besitze der Gewinnstrategie. E s versteht sich von selbst, daß eine streng geregelte Dialogführung keineswegs das freie Spiel der kommunikativen Invention ersetzen kann. Aber sie ist zweifellos das logische Muster, das der pragmatischen Redesituation am besten entspricht und daher am ehesten geeignet ist, diese zu kontrollieren. Außerdem ist die Dialoggestalt deshalb empfehlenswert, weil sie pragmatische Verflechtungen, die anderweit von Bedeutung sein können, nicht verdeckt sondern offenlegt. Von solchen, die eine Brücke zu Erwägungen der praktischen Philosophie schlagen können, soll sogleich noch geredet werden. 2. Zuvor ist aber eine neuere sprachkritische Richtung zu verzeichnen, die ebenfalls auf die pragmatische Redesituation zurückgreift und in deren Analyse besonders radikal ist. Denn sie behauptet, daß die hier letztlich interessierende, alle Rede zugrunde liegende, generelle pragmatische Situation nur dann hinreichend verständlich gemacht werden kann, wenn man ihre Verlautbarungen als gegenseitige Anweisungen zur Sprachfindung (Invention) und zum Sprachgebrauch auffaßt. Alle sprachliche Invention und Kommunikation kommen nach dieser Ansicht dadurch zustande, daß sprachliche Handlungsanweisungen gegeben und angenommen werden. Wer wissen will, wie der jeweilig Redende durch seine Redeweise gesteuert wird, und das ist in der Tat eine aufregende Frage, muß sich diese Pragmatik verdeutlichen. Freilich ergeben sich hier dadurch erhebliche Schwierigkeiten, daß die herkömmliche Wissenschaftstheorie die Aussage, das heißt die Subjekt-Prädikat-Fügung, als Grundlage des Denkens und Sprechens ansieht, und die Anweisung, das heißt die Prädikat-Objekt-Reihe, auf jene zurückführt. Das sprachlich bevorzugte Aussagemuster verdeckt möglicherweise den Vorrang der Pragmatik. Daher muß nach dieser Ansicht auch hier erst einmal eine gründliche Umkehr der Betrachtung vorgenommen werden, um die unablässige, kommunikative Invention angemessen zu verdeutlichen. Das Aussagemuster bringt, so sagt man, die Gefahr mit sich, das freie Spiel der gegenseitigen Anweisungen, die zur Koproduktion auffordern, also das fortgesetzte, invenierende Aushandeln im Bewußtsein zu verdrängen und hinter einer unerlaubt verdinglichten, gleichsam verkrusteten Wirklichkeitsauffassung verschwinden zu lassen. Gerade die Rechtssprache zeigt, daß sie aus leicht erkennbaren Motiven die Aussageform der Anweisungsform vorzieht und auf diese Weise in der Lage ist, eine Rechtswirklichkeit eigener Art aufzubauen. Sie gibt hinreichende Veranlassung, dieser Erscheinung auf angegebenem Wege nachzugehen. Das Aussagemuster scheint unsere Orientierung zuweilen zu stören, während das Anweisungsmuster die zur unablässigen Fortentwicklung nötige Invention fördern könnte. Diese Überlegungen sind freilich noch nicht ausdiskutiert, stellen aber eine sehr bemerkenswerte, aus der primären Redesituation begründete, sprachkritische Rechtstheorie in Aussicht. 3. Kehren wir jetzt zum Dialogverfahren zurück und betrachten es zum Schluß unter ethischem Aspekt. Dabei ist festzustellen, daß sich aus der wiedergewonnenen Redebezogenheit gleichsam von selbst kommunikative Pflichten ergeben. Denn der intellektuelle Herstellungsprozeß, der sich aus der pragmatischen Ausgangssituation im Dialegesthai enfaltet, ist ohne solche Verpflichtungen nicht durchführbar. Wer sich auf eine Redesituation einläßt, übernimmt Pflichten, die wiederum dem Verständnis der praktizierenden Juristen sehr naheliegen. Denn dieser kennt seine Prozeßpflichten, die ihm als Behauptungs-, Begründungs-, Verteidigungs- und Erläuterungspflichten obliegen. Er kennt das onus probandi, die Beweislast, als eine der effektivsten Prozeßinstitutionen, welche die Verletzung der aus der Redesituation immer schon erwachsenden kommunikativen Verpflichtungen mit empfindlichen Sanktionen ausstattet, um non-liquet-Entscheidungen zu verhindern. Im Zivilprozeß muß bekanntlich der Kläger seiner Pflicht, den Klagegrund zu beweisen, genügen, falls er nicht zu Gunsten des Beklagten abgewiesen werden will, und im Strafprozeß gilt Entsprechendes für den Ankläger zu Gunsten des Angeklagten. Hier interessiert: Die

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Beweislastverteilung und die Fähigkeit, den Beweis zu führen, spielen in den meisten juristischen Verfahren die entscheidende Rolle. Das bedeutet aber, daß im Kern eine Verfahrenspflicht entscheidet, die aus jeder kommunikativen Redesituation zu rechtfertigen ist. Es entscheidet also ein fundamentales rhetorisches Officium, und es ist sehr bemerkenswert, daß diesem neuerdings von der Philosophie ein außerordentliches Gewicht gegeben wird. Die zeitgenössische philosophische Wissenschaftstheorie belegt das Reden, als theoretisches Handeln, mit theoretischen Pflichten. Kurz gesagt: Wenn einer redet, muß er sein Reden rechtfertigen können. Nur die Erfüllung der Redepflichten, insbesondere die Einhaltung der Verteidigungs- und Erläuterungspflichten, gewährleisten hinreichend verläßliche Behauptungen, an denen unstreitig ein allgemeines Interesse besteht. Nur dergestalt bleibt ein rationaler Dialog im Gange, der die Rechtfertigung theoretischer und praktischer Behauptungen im optimalen Umfange ermöglicht. Man sieht, daß auch hier die Rückkehr zur Redesituation, mithin zur pragmatischen Ausgangssituation, es erleichtert, den Prozeß der invenierenden Verständigung verständlich zu machen. Damit sind einige Schritte zur Erörterung der ars inveniendi im Rahmen einer fortentwickelten rhetorischen Argumentationstheorie beschrieben. Sie scheinen, mit anderen vereinigt, geeignet zu sein, das bisherige Denkmuster der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung nicht unwesentlich zu verändern . . .

3. Hans Kelsen, W a s ist die Reine Rechtslehre? Aus: Die Wiener recbtstbeoretiscbe Schule, Bd. 1, Wien 1968, S. 611-617, 618-622,

624-625.

• . . Das Recht kann auf sehr verschiedene Weise zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht werden. Man kann eine bestimmte Rechtsordnung systematisch darstellen, z. B. das Recht Frankreichs oder das Völkerrecht; oder eine bestimmte Gruppe von Normen einer solchen Rechtsordnung, z. B. das Strafrecht Schwedens oder das Obligationenrecht der Schweiz; oder eine einzelne Rechtsvorschrift herausstellen, etwa die Regelung von Verzugszinsen nach dem österreichischen Zivilgesetzbuch. Dabei kann die Absicht darauf gerichtet sein, die in Betracht gezogenen Normen oder die in Frage stehende Einzelnorm zu klären, ihren Sinn deutlicher zu machen als aus der áuthentischen Formulierung unmittelbar hervorgeht, die das Recht als Gesetz, Verordnung, Vertrag, usw. erhalten hat. Dann verbindet sich die Darstellung des positiven Rechts mit seiner Interpretation. Man kann aber auch fragen, wie der Inhalt einer bestimmten Rechtsordnung historisch entstanden ist, oder was die ökonomischen und politischen Ursachen sind, die diesen Inhalt bestimmt haben. Man kann den Inhalt einer Rechtsordnung mit dem einer anderen vergleichen, um gewisse Rechtstypen zu gewinnen. Und man kann schließlich, gestützt auf eine Vergleichung aller als „Recht" angesprochenen Phänomene, das Wesen des Rechtes überhaupt, seine typische Struktur, und zwar unabhängig von dem wechselnden Inhalt, untersuchen, den das Recht zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten angenommen hat. Das ist die Aufgabe einer allgemeinen, d. h. auf eine besondere Rechtsordnung oder besondere Rechtsnormen beschränkten Rechtslehre. Sie hat die spezifische Methode und die Grundbegriffe zu bestimmen, mit denen jedes beliebige Recht geistig erfaßt und beschrieben werden kann; und liefert so die theoretische Grundlage für jede auf ein besonderes Recht oder besondere Rechtsinstitutionen gerichtete Betrachtung. Eine solche allgemeine Rechtslehre will die Reine Rechtslehre sein. Als Lehre von der spezifischen Methode der Rechtserkenntnis ist sie mit Problemen der Logik befaßt. Von dem Faktum der Rechtswissenschaft ausgehend, unterwirft sie die Sätze, mit denen

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diese Wissenschaft ihren Gegenstand beschreibt, einer logischen Analyse; d. h. sie stellt die Voraussetzungen fest, unter denen Aussagen über Rechtspflichten, Berechtigungen, Rechtshaftung, Rechtssubjekte, physische und juristische Personen, Rechtsorgane, Rechtskompetenzen und dgl. überhaupt möglich sind. Auf diesem Wege gelangt sie zu dem Fundamentalbegriff aller Rechtserkenntnis, dem Begriff der Norm, in dem der Gedanke zum Ausdruck kommt, daß etwas, und zwar ein bestimmtes menschliches Verhalten, sein soll. Sie stellt fest, daß ein solches Verhalten immer nur unter bestimmten Bedingungen sein soll, und untersucht den spezifischen Sinn, in dem — in den als Rechtssätzen zu bezeichnenden hypothetischen Urteilen — die Bedingungen mit der Folge verknüpft ist, indem sie diese Rechtssätze, in denen die Rechtswissenschaft ihren Gegenstand, die Rechtsnormen und die durch diese Normen konstituierten Beziehungen, beschreibt, mit den hypothetischen Urteilen vergleicht, in denen die Naturwissenschaft ihr spezifisches Objekt begreift, und die als Naturgesetze bezeichnet werden. Dieser Vergleich führt die Reine Rechtslehre zu der Erkenntnis, daß die Rechtssätze der Rechtswissenschaft eine analoge Funktion haben wie die sogenannten Naturgesetze der Naturwissenschaft: die Verknüpfung zweier Tatbestände als Bedingung und Folge; daß aber der Sinn dieser Verknüpfung in den beiden Fällen verschieden ist. Während Bedingung und Folge in den sogenannten Naturgesetzen miteinander nach dem Prinzip der Kausalität verbunden sind — z. B. in dem Gesetz: Wenn ein Metall erwärmt wird, dehnt es sich aus —, erfolt die Verbindung von Bedingung und Folge in den Rechtssätzen nach einem Prinzip, für das die Wissenschaft bisher noch keine allgemein anerkannte Bezeichnung gefunden, und für das die Reine Rechtslehre den Namen der Zurechnung vorgeschlagen hat. Auf Grund einer Vergleichung der als Recht angesprochenen gesellschaftlichen Ordnungen kommt die Reine Rechtslehre zu dem Ergebnis, daß diese Ordnungen im wesentlichen Zwangsordnungen, d. h. Ordnungen sind, die ein bestimmtes menschliches Verhalten dadurch herbeizuführen suchen, daß sie für den Fall des gegenteiligen Verhaltens, das dadurch als Unrecht qualifiziert wird, einen Zwangsakt als Unrechtsfolge d.i. als Sanktion vorschreiben. Daher formuliert die Reine Rechtslehre das Urschema des Rechtssatzes wie folgt: Wenn ein Unrecht begangen wird, soll eine Unrechtsfolge (Sanktion) eintreten. Die Unrechtsfolge wird von dem Unrecht nicht bewirkt, wie die Ausdehnung des Metalls durch die Erwärmung, sondern die Unrechtsfolge wird dem Unrecht zugerechnet. Die Reine Rechtslehre zeigt, daß dieses Prinzip der Zurechnung nicht nur in den Rechtssätzen der Rechtswissenschaft, sondern auch in den Sätzen zur Anwendung kommt, in denen die Wissenschaft der Ethik ihren Gegenstand: die Moral, darstellt, wie etwa in dem Satz: Wenn jemand einem anderen eine Wohltat erweist, soll dieser jenem Dankbarkeit erweisen, oder: Wenn jemand eine Sünde begeht, soll er Buße tun. Die Reine Rechtslehre zeigt sogar, daß es ursprünglich, im Denken der Primitiven, das Prinzip der Zurechnung, und nicht das Prinzip der Kausalität ist, das der Deutung der Natur zugrundeliegt, daß der Primitive die natürlichen Phänomene nach einer gesellschaftlichen Norm, der Norm der Vergeltung deutet, in der dem guten Verhalten der Lohn, dem bösen die Strafe zugerechnet wird. Die Reine Rechtslehre zeigt ferner, daß das Prinzip der Kausalität aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem der Vergeltung dadurch entstanden ist, daß sich der menschliche Geist in seiner Interpretation der Natur von der religiösen Vorstellung emanzipiert, daß das natürliche Geschehen ebenso geregelt ist wie das gesellschaftliche Verhalten der Menschen, nämlich durch Normen, die von einem übermenschlichen Willen, einer Gottheit, ausgehen. Denn der wesentliche Unterschied zwischen dem Prinzip der Kausalität und dem der normativen Zurechnung besteht darin, daß die Verknüpfung der Elemente in dem Fall der Kausalität unabhängig ist von einem Akt menschlichen oder übermenschlichen Willens, während die Verknüpfung im Falle der Zurechnung durch einen Akt menschlichen Willens hergestellt wird, dessen Sinn eine Norm ist. Dieser Unterschied zwischen dem kausalen Naturgesetz als einem Gesetz des Seins und dem 10 Klemer, Rechtsphilosophie

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Rechtssatz als einem Gesetz des Sollens geht im Rahmen einer religiös-metaphysischen Weltanschauung verloren. Denn dieser zufolge wird die Verknüpfung von Ursache und Wirkung durch einen dem menschlichen Akt der Rechtserzeugung analogen Akt, dem Natur-erzeugenden Akt des göttlichen Schöpfers hergestellt. Daher werden auch die Naturgesetze als Normen gedeutet, die, von einem göttlichen Willen ausgehend, der Natur ein bestimmtes Verhalten vorschreiben. Und daher glaubt denn auch eine metaphysische Rechtslehre in der Natur als einer Manifestation des göttlichen Willens ein Natur-Recht zu finden, d. h. aber aus einem Sein auf ein Sollen schließen zu können. Das ist ein Trugschluß; und auf diesem Trugschluß ist die Naturrechtslehre gegründet. Dies ist der Grund — nicht der einzige — aus dem die Reine Rechtslehre als rationale Wissenschaft vom Recht die Naturrechtslehre als eine in letzter Linie irrationale, der Logik sich nicht unterwerfe nde Metaphysik des Rechts ablehnt. Die logische Unterscheidung zwischen Sein und Sollen und die Unmöglichkeit im Wege einer logischen Schlußfolgerung aus dem Bereich des einen in den des anderen zu gelangen, ist eine der wesentlichen Positionen der Reinen Rechtslehre. Sie ist eine Lehre von dem, was positiv-rechtlich sein soll, nicht von dem, was natürlich ist, ihr Gegenstand sind Normen, nicht die natürliche Wirklichkeit. Dennoch behauptet sie, sich von der Naturrechtslehre dadurch zu unterscheiden, daß sie nicht, wie diese, erkennen will, was Recht sein soll, sondern was Recht ist; denn sie ist eine Lehre vom positiven, und das heißt, vom wirklichen, nicht von einem idealen Recht, eine Lehre von der Rechtswirklichkeit. Das scheint ein Widerspruch zu sein. Aber er löst sich, sobald man erkennt, daß der Gegensatz von Sein und Sollen, von dem, was „wirklich" ist, und dem, was sein soll, ein relativer ist. Vom Standpunkt der Wissenschaft gibt es keine absolute Wirklichkeit. Wenn die Reine Rechtslehre behauptet, das positive Recht, das Recht so wie es ist, also eine Rechtswirklichkeit, zum Gegenstand zu haben, so charakterisiert sie das positive Recht als Sein im Verhältnis zu der Gerechtigkeit, das ist zu der Forderung, wie das Recht sein soll. Und wenn sie das positive Recht als Norm, und das heißt als ein Sollen kennzeichnet, so geschieht dies in Beziehung auf das tatsächliche Verhalten der Menschen, das dieser Norm, als dem positivrechtlichen Sollen, entsprechen, aber auch widersprechen kann. Das sei mit besonderem Nachdruck an die Adresse jener hervorgehoben, die der Reinen Rechtslehre entgegenhalten, daß das Recht kein Sollen, sondern ein Sein, eine Wirklichkeit sei. Mit der Behauptung, das Recht stelle eine Wirklichkeit dar, ist noch gar nichts gesagt; alles kommt darauf an, zu bestimmen, welcher Art diese Wirklichkeit ist, da es doch offenbar nicht die Wirklichkeit der Natur sein kann. Erst die Reine Rechtslehre hat das Problem der spezifischen Rechtswirklichkeit als Problem der Positivität des Rechts klar erkannt und zu lösen versucht. Sie sieht die Positivität des Rechts in der Tatsache, daß die Rechtsnormen durch menschliche, in der natürlichen Wirklichkeit vor sich gehende, aber durch höhere Normen geregelte Akte gesetzt werden, d. h. daß Normen der Sinn gewisser in der natürlichen Wirklichkeit gesetzter Akte sind, und daß die aus Rechtsnormen gebildete Rechtsordnung als gültig nur vorausgesetzt wird, wenn diese normative Ordnung im großen und ganzen angewendet und befolgt wird, d. h. wirksam ist; ohne daß damit die Wirksamkeit mit der Geltung, daß natürliches Sein mit dem rechtlichen Sollen zusammenfällt. Die eigenartige Beziehung zwischen dem natürlichen Sein der normsetzenden und normentsprechenden Akte einerseits und dem Sollen der gesetzten und entsprochenen Rechtsnormen andrerseits, konstituiert die spezifische Rechtswirklichkeit oder, was dasselbe ist, die Positivität des Rechts. Mit der Unterscheidung zwischen dem kausalen Naturgesetz und dem Rechtssatz als dem normativen Rechtsgesetz, zwischen dem Prinzip der Kausalität und dem der Zurechnung, legt die Reine Rechtslehre die methodologische Grundlage der Rechtswissenschaft als einer normativen Gesellschaftswissenschaft. Aus dieser Scheidung der normativen Rechtswissenschaft von den Kausalwissenschaften im allgemeinen und insbesondere auch von den an dem Kausalprinzip

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orientierten Gesellschaftswissenschaften, wie Sozialpsychologie und Soziologie, folgt eines der wesentlichsten Postulate, die die Reinheit der Rechtslehre als einer Wissenschaft konstituieren, die nicht nach Ursache und Wirkung des von der Rechtsordnung geregelten Verhaltens, sondern nach jenem Zusammenhang zu forschen haben, der durch die auf dieser Rechtsordnung beruhenden Zurechnung hergestellt wird. E s ist das Postulat, den Synkretismus einer normwissenschaftlichen mit einer kausalwissenschaftlichen Betrachtung zu vermeiden, die Frage, wie sich die Menschen nach einer positiven Rechtsordnung verhalten sollen, nicht mit der Frage zu vermengen, wie sie sich tatsächlich, von Kausalgesetzen bestimmt, verhalten. Das bedeutet natürlich nicht, daß eine kausalwissenschaftliche Betrachtung des menschlichen Verhaltens, auf das sich das Recht normativ bezieht, überflüssig oder bedeutungslos sei, daß es neben einer normativen Wissenschaft vom Recht als einer Erkenntnis der Rechtsnormen und der von ihnen konstituierten Beziehungen nicht auch eine Soziologie des Rechts geben könne, die nach den Ursachen und Wirkungen forscht, die die das Recht erzeugende und anwendende Tätigkeit des Menschen und das dem Recht entsprechende oder widersprechende Verhalten der rechtsunterworfenen Menschen haben. Ja, es bedeutet nicht einmal, daß ein Kausalzusammenhang von der Rechtswissenschaft überhaupt zu ignorieren sei. Denn das Recht selbst kann sich auf einen solchen Kausalzusammenhang in den von ihm als Bedingung oder Folge statuierten Tatbeständen beziehen — wie z. B. wenn als Mord das Verhalten eines Menschen definiert ist, das als Ursache den Tod eines anderen Menschen zur Wirkung hat. Dann hat auch die normative Rechtswissenschaft diesen Kausalzusammenhang in Betracht zu ziehen; aber nur sekundär, nur insoweit als er Bestandteil eines Tatbestandes ist, dem als Bedingung eine bestimmte Folge, die Strafe, zuzurechnen ist. So wie ja auch der Soziologe Normen in Betracht ziehen muß, aber eben nur insoweit als die Vorstellung dieser Normen im Bewußtsein des handelnden Menschen als Ursache oder Wirkung seines Verhaltens fungiert, ohne daß darum der Soziologe zum Juristen oder der Jurist zum Soziologen wird. Das Postulat der Reinheit soll dem wissenschaftlichen Juristen nur zu Bewußtsein bringen, daß die spezifische Methode seiner Erkenntnis eine andere ist als jene der kausalen Sozialwissenschaft, und daß daher die so häufigen Versuche, Rechtsfragen „soziologisch" zu beantworten, entweder auf Selbsttäuschung beruhen oder darauf abzielen, andere über das gegebene Recht hinwegzutäuschen. Im Rahmen ihrer logischen Untersuchungen stellt die Reine Rechtslehre fest — und sie ist es, die dies zuallererst festgestellt hat — daß auf die Sollsätze der Rechtswissenschaft das logische Prinzip, das den Widerspruch ausschließt, ebenso Anwendung findet wie auf die Seinsätze der Naturwissenschaft. Zu den logischen Problemen der Reinen Rechtslehre gehört insbesondere auch die Frage, was die Einheit in einer Vielheit von Rechtsnormen, d. h. was die Einheit konstituiert, die man als Rechtssystem oder als Rechtsordnung bezeichnet. In Beantwortung dieser Frage gelangt die Reine Rechtslehre zu der Idee der Grundnorm als der hypothetischen Voraussetzung aller Rechtserkenntnis. Die Grundnorm stellt den Geltungsgrund aller zu einer und derselben Rechtsordnung gehörigen Normen dar. Man kann aus ihr nur die Geltung, nicht aber — wie mitunter irrtümlich angenommen wurde — den Inhalt der Rechtsnormen ableiten. Nur wenn man die Grundnorm voraussetzt, kann man bestimmte menschliche Akte als Rechts-Akte, d. h. als Rechtsnorm-erzeugende Akte deuten, kann man als den Sinn dieser Akte Rechtsnormen behaupten. Die Reine Rechtslehre untersucht — was vor ihr noch nicht untersucht wurde — die logische Struktur der gegebenen Rechtsordnungen und gelangt so zu der Einsicht in den Stufenbau der Rechtsordnung, eine Einsicht, die für die Wesenserkenntnis des Rechts von grundlegender Bedeutung ist. Schließlich untersucht die Reine Rechtslehre das Verhältnis, das zwischen zwei oder mehreren Rechtsordnungen — wie zwischen den einzelstaatlichen Rechtsordnungen untereinander und zwischen diesen und der Völkerrechtsordnung — logisch möglich ist. Auf diesem Wege gelangt sie zu dem methodologischen Postulat der Einheit des rechtlichen Weltbildes.

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Diese Einheit ist eine logisch-systematische Einheit, ihr negatives Kriterium: die Widerspruchslosigkeit. Diese Einheit ist nicht in der Rechtswirklichkeit unmittelbar gegeben: sie ist vielmehr der Rechtserkenntnis aufgegeben. Das positive Recht, ein Gesetz oder völkerrechtlicher Vertrag, mag einander widersprechende Normen enthalten, ein Gesetz mag zur Verfassung oder zum Völkerrecht in Widerspruch stehen. Aber die Erkenntnis des Rechts hat diese Widersprüche im Wege der Interpretation zu beseitigen, und tut dies auch immer in der einen oder anderen Weise. So wie die Natur wird auch das Recht erst durch seine wissenschaftliche Erkenntnis zu einem sinnvollen, und das heißt widerspruchslosen Ganzen. Und so wie das Weltbild der Physik von dem in der unmittelbaren Wahrnehmung gegebenen Weltbild des naiven Menschen, so unterscheidet sich das Rechtsbild der Rechtswissenschaft von dem Bild, das der nichtjuristische Laie von dem ihm unmittelbar gegebenen positiven Recht hat . . . . . . Zur Methode der Rechtserkenntnis — die ein Problem der allgemeinen Rechtslehre ist — gehört auch die Interpretation positiver Rechtsnormen. Daher liefert die Reine Rechtslehre auch eine Theorie der Interpretation. In dieser Hinsicht betont sie den Unterschied, der zwischen der mit jeder Rechtsanwendung verbundenen Interpretation durch das rechtsanwendende Organ der Rechtsgemeinschaft, d. h. der Interpretation durch die Rechtsautorität, und der Interpretation durch die Rechtswissenschaft besteht. Jene ist immer authentisch, d. h. rechtsverbindlich, diese ist es nicht. Sie hat, zum Unterschied von jener, keine Rechtswirkung. Sie ist reine Erkenntnis. Man kann daher von ihr durchaus sinnvoll aussagen, daß sie richtig (wahr) oder falsch ist. Von der Interpretation durch die Rechtsautorität zu sagen, sie sei richtig oder falsch, ist juristisch sinnlos ; denn selbst wenn sie vom Standpunkt reiner Erkenntnis falsch wäre, ist sie doch Recht, d. h. Norm, und als solche weder wahr noch falsch, sondern gültig oder ungültig, d. h. im letzteren Falle überhaupt keine Norm, sondern nur der Schein einer solchen. Die Interpretation durch die Rechtsautorität ist Interpretation einer von der Rechtsautorität in der Erzeugung einer niederen Norm anzuwendenden höheren Norm. Daß die Interpretation durch die Rechtsautorität authentisch, d. h. verbindlich ist, bedeutet, daß die Norm verbindlich ist, die die Rechtsautorität in Anwendung einer höheren Norm setzt. Und diese Norm ist gültig, so lange sie nicht in einem Rechtsverfahren aufgehoben oder durch eine andere Norm ersetzt ist. Von einer noch zu Recht bestehenden oder gar in Rechtskraft erwachsenen richterlichen Entscheidung zu sagen, sie sei falsch, ist juristisch ebenso sinnlos wie von einem rechtskräftig wegen eines Verbrechens Verurteilten zu sagen, er sei unschuldig verurteilt. Wenn ein gültiger Akt des rechtsanwendenden Organs keine der vom Standpunkt der Rechtswissenschaft möglichen Deutungen der anzuwendenden Rechtsnorm darstellt, kann der wissenschaftliche Jurist nur feststellen, daß durch diesen Akt neues Recht — wenn vielleicht auch nur für den konkreten Fall — erzeugt wurde. Daraus geht hervor, daß das, was man „Interpretation" durch die Rechtsautorität nennt, etwas anderes ist als die erkenntnismäßige Interpretation des Inhaltes einer Rechtsnorm durch den wissenschaftlichen Juristen oder die mit dieser gleichartigen Interpretation einer Bibelstelle durch einen Theologen. Durch die Interpretation der Rechtsautorität wird Recht geschaffen. Der wissenschaftliche Jurist aber schafft durch seine Interpretation ebenso wenig Recht wie der Theologe durch seine Interpretation eine neue Bibelstelle. Mit anderen Worten: Die Rechtsautorität kann mit ihrer Interpretation das Recht ändern; die rechtswissenschaftliche Interpretation kann aber das Recht ebenso •wenig ändern wie die theologische Interpretation die Bibel. Daß die Gerichte sehr häufig unter dem Prätext, bestehendes Recht zu interpretieren, d. h. seinen Sinn im Wege der Erkenntnis klarzustellen, neues Recht schaffen, ist nicht erst von der Reinen Rechtslehre behauptet worden. Die Reine Rechtslehre stellt nur fest, daß die in der Anwendung einer höheren Norm implizierte sogenannte Interpretation durch die Rechtsautorität stets Rechtserzeugung, und darum von einer reinen Erkenntnisfunktion verschieden ist.

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In bezug auf die Interpretation konkreter Rechtsnormen durch die Rechtswissenschaft betont die Reine Rechtslehre die fast immer vorhandene mehr oder weniger weitgehende Vieldeutigkeit des zu interpretierenden Materials. Sie anerkennt als die alleinige Aufgabe der wissenschaftlichen Interpretation, die möglichen Bedeutungen einer konkreten Rechtsnorm aufzuzeigen, aber die nur durch politische Erwägungen bestimmbare Wahl zwischen den rechtswissenschaftlich gleicherweise möglichen Deutungen der rechtsanwendenden Autorität zu überlassen. Daß nur eine dieser Bedeutungen die „richtige" sei, kann vom Standpunkt der Rechtswissenschaft aus nicht behauptet werden. Solche Behauptung dient nur der Aufrechterhaltung der Illusion einer in Wahrheit nicht gegebenen Rechtssicherheit. Das bedeutet natürlich nicht, daß es dem interpretierenden Juristen versagt bleibt, eine bestimmte Deutung der Rechtsautorität als die — von irgend einem Wertstandpunkt aus — beste zu empfehlen. Aber dies darf er nicht — wie es freilich so häufig geschieht — im Namen der Wissenschaft, mit Berufung auf die Autorität der Wissenschaft, und das ist die Autorität der Wahrheit, tun. Denn mit seiner Empfehlung versucht der interpretierende Jurist Einfluß auf die Rechtsgestaltung zu nehmen. Damit vollzieht er eine Funktion der Rechtspolitik, nicht der Rechtswissenschaft. Die Trennung der — nur nach dem Wert der Wahrheit orientierten — Rechtswissenschaft, als einer Erkenntnis des positiven Rechts, von der — auf die Verwirklichung anderer Werte, insbesondere der Gerechtigkeit gerichteten — Rechtspolitik, als der willensmäßigen Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, ist das zweite Postulat, das die Reinheit einer Rechtslehre gewährleistet. Hier gilt es zunächst, ein Mißverständnis zu beseitigen, das in der Kritik der Reinen Rechtslehre eine ebenso große wie bedauerliche Rolle spielt. Die Entpolitisierung, die die Reine Rechtslehre fordert, bezieht sich auf die Wissenschaft vom Recht, nicht auf ihren Gegenstand, das Recht. Das Recht kann von der Politik nicht getrennt werden, denn es ist ein wesentliches Instrument der Politik. Seine Erzeugung sowohl wie seine Anwendung sind politische, und das heißt von Werturteilen bestimmte Funktionen. Aber die Wissenschaft vom Recht kann und muß von der Politik getrennt werden, wenn sie überhaupt den Anspruch erheben darf, als Wissenschaft zu gelten. Das heißt, daß die Erkenntnis des positiven Rechts, seine Darstellung, die Analyse seiner Struktur, die Definition der es begreifenden Begriffe und seine wissenschaftliche Interpretation — wie es dem Wesen jeder Wissenschaft entspricht — streng objektiv sein muß, und daher nicht von dem Werturteil des das Recht erkennenden Subjektes beeinflußt sein darf; und dieses Werturteil hat stets einen emotional-subjektiven Charakter. Mehr noch als in der Trennung der normativen Erkenntnis der Rechtswissenschaft von der kausalen der Naturwissenschaft Hegt in der Trennung der Rechtswissenschaft von der Politik ihre Reinheit. Aber die Reine Rechtslehre ist eine reine Lehre des Rechts, nicht die Lehre eines reinen Rechts, wie ihre Kritiker mitunter irrtümlich annehmen. Ein „reines" Recht könnte, wenn überhaupt etwas, nur ein richtiges, und das heißt gerechtes Recht bedeuten. Aber die Reine Rechtslehre will nicht und kann nicht eine Lehre vom richtigen oder gerechten Recht sein, denn sie maßt sich nicht an, die Frage zu beantworten, was gerecht sei. Als Wissenschaft vom positiven Recht ist sie — wie schon hervorgehoben — eine Lehre vom wirklichen Recht, vom Recht so wie es durch Gewohnheit, Gesetzgebung, Rechtsprechung tatsächlich geschaffen und in der gesellschaftlichen Realität wirksam ist, ohne Rücksicht darauf, ob dieses positive Recht von irgendeinem Wert-Standpunkt, und das heißt von einem politischen Standpunkt aus, als gut oder schlecht, als gerecht oder als ungerecht beurteilt wird; und jedes positive Recht kann von irgendeinem politischen Standpunkt aus als gerecht, und zugleich von einem anderen, ebenso politischen Standpunkt aus als ungerecht beurteilt werden; aber nicht von der Wissenschaft des Rechts, die wie jede echte Wissenschaft ihren Gegenstand nicht bewertet, sondern beschreibt, nicht emotional rechtfertigt oder verurteilt, sondern rational erklärt.

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Gerechtigkeit ist ihrem Wesen nach ein absoluter Wert, und das Absolute im allgemeinen, absolute Werte im besondern liegen jenseits rational-wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Reine Rechtslehre ist Rechtspositivismus; sie ist geradezu die Theorie des Rechtspositivismus; und Rechtspositivismus geht Hand in Hand mit Relativismus. Das heißt, wenn die Frage nach dem Wert eines positiven Rechts, nach seiner Gerechtigkeit überhaupt gestellt wird, so kann die Antwort nur sein, daß es relativ, d. h. nur unter der Voraussetzung eines bestimmten höchsten Wertes gerecht sei, und daß daher die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, es unter der Voraussetzung eines anderen höchsten Wertes als ungerecht zu betrachten. Die Annahme eines höchsten Wertes aber beruht stets auf einem emotional-subjektiven Werturteil. Als relativ gerecht kann jedes positive Recht, als eine Ordnung menschlichen Verhaltens, angesehen werden. Das bedeutet aber, daß das Urteil, eine Rechtsordnung sei relativ gerecht, auf die Tautologie hinausläuft, daß diese Rechtsordnung Recht sei. Auch in dieser Beziehung steht die Reine Rechtslehre als Wissenschaft vom positiven Recht gegen die Naturrechtslehre, die das Wesen des Rechts in einer transzendenten Gerechtigkeit sucht. Indem die Reine Rechtslehre das Recht aus dem metaphysischen Nebel heraushebt, in den die Naturrechtslehre dieses Recht als etwas seinem Ursprung oder seiner Idee nach Heiliges einhüllt, will sie es ganz realistisch als eine spezifische soziale Technik begreifen. Sie weist den Anspruch der Naturrechtslehre, die Frage der Gerechtigkeit beantwortet zu haben, mit dem Hinweis auf die Tatsache zurück, daß die verschiedenen Lehrer des Naturrechts in der Beantwortung dieser Frage zu den widersprechendsten Ergebnissen gelangen, und die Frage der Gerechtigkeit heute so umstritten ist wie je. Untersucht man aber die tatsächliche Leistung der Naturrechtslehre, so zeigt sich — und gerade das hat die Reine Rechtslehre gezeigt — daß es im wesentlichen nicht eine wissenschaftliche, sondern eine ideologisch-politische Funktion ist. Der Naturrechtslehre kommt es nicht so sehr auf eine Erkenntnis des geltenden Rechts, als vielmehr auf eine Rechtfertigung desselben, nicht auf seine Erklärung, sondern auf seine Verklärung an, erzielt durch den Nachweis, daß das jeweilige positive Recht in Einklang mit einer natürlichen, göttlichen oder vernünftigen, d. h. aber absolut richtigen, gerechten Ordnung sei; während die revolutionäre oder reformatorische Naturrechtslehre, die in der Geschichte der Rechtswissenschaft eine verhältnismäßig geringe Rolle spielt, die entgegengesetzte Absicht verfolgt: die Geltung des positiven Rechts dadurch in Frage zu stellen, daß sie von diesem behauptet, in Widerspruch zu einer irgendwie vorausgesetzten absoluten Ordnung zu stehen, und daher die Rechtswirklichkeit in einem ungünstigeren Lichte darstellt als der Wahrheit entspricht. Diese ideologischen Tendenzen, deren machtpolitische Absichten oder Wirkungen auf der Hand liegen, beherrschen noch immer — und heutigen Tages mehr als je — die traditionelle Jurisprudenz. Gegen diese Tendenzen ist die Reine Rechtslehre gerichtet. In einer immanenten Kritik dieser Jurisprudenz zeigt sie, welch große Gefahren auch in jenem Methodensynkretismus liegen, der darin besteht, daß die Erkenntnis des positiven Rechtes unklar mit dem Bestreben vermengt wird, dieses Objekt durch seine Bewertung in bestimmter Weise zu gestalten. Denn solche Gestaltung kann immer nur einem subjektiven Interesse entsprechen, mag dies auch das Interesse einer kleineren oder größeren Gruppe sein. Es gibt schlechthin kein Interesse, dem nicht — als dem Interesse der einen — ein widersprechendes Interesse anderer entgegensteht. Das sogenannte Gesamtinteresse aller ist eine exakt nachweisbare Fiktion, sofern darunter etwas anderes als ein Kompromiß zwischen entgegengesetzten Interessen verstanden wird. Beschränkt sich aber eine Wissenschaft vom Recht nicht peinlichst darauf, ihren Gegenstand in seiner Wirklichkeit zu erkennen, d. h. ihn begrifflich zu erfassen, seine Struktur zu analysieren, die hier bestehenden Zusammenhänge aufzuklären, sondern maßt sie sich — als Wissenschaft — auch an, das ihr zu Erkenntnis aufgegebene Objekt nach irgendwelchen Wertgesichtspunkten zu gestalten, dann tritt, was nur

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Ausdruck subjektiven Interesses ist, bekleidet mit der Autorität der Wissenschaft, d. h. ausgerüstet mit der Autorität objektiver Erkenntnis auf. Die Wissenschaft wird zu einer bloßen Ideologie und damit zu einem Instrument der Politik . . . . . . . Daß sich Juristen solch ideologischer Methoden bedienen, um eine von ihnen für gut befundene Politik ihrer Regierung gegen den Vorwurf der Rechtsstaatswidrigkeit zu verteidigen, ist menschlich verständlich. Aber daß sich Gelehrte finden, die den fragwürdigen Mut aufbringen, aus dieser Not eine Tugend zu machen, die, die Berufsethik aller Wissenschaft verleugnend, das Ideal einer objektiven, von politischen Tendenzen freien Erkenntnis aufgeben und ein Recht des Methodensynkretismus verteidigen, indem sie die untrennbare Verbindung von Rechtswissenschaft und Politik proklamieren, ist unentschuldbar. Diese Verirrung ist allerdings ein Zeichen unserer Zeit. In der durch Weltkrig und Weltrevolution erschütterten Gesellschaft kommt es den kämpfenden Gruppen und Klassen mehr denn je auf die Erzeugung brauchbarer Ideologien an, die den noch in der Macht Sitzenden, wie den zur Macht Strebenden die wirksamste Verteidigung ihres Interessenstandpunktes ermöglichen. Das ihrem subjektiven Interesse Entsprechende will als das objektiv Richtige dargestellt werden. Da muß eben die „Wissenschaft" — eine sogenannte Wissenschaft — von Staat und Recht herhalten. Sie liefert eben jene „Objektivität", die keine Politik aus sich selbst zu produzieren vermag. Und liefert sie — als ob sie noch in dieser Vergewaltigung ihre Natur nicht verleugnen könnte — in wahrhaft verhängnisvoller „Objektivität". Und so deduziert der bürgerliche Theoretiker — streng „wissenschaftlich", versteht sich — aus der Natur des Menschen oder dem Begriff der Gesellschaft die absolute Notwendigkeit des Privateigentums und die absolute Gerechtigkeit der Demokratie, während sein politischer Gegner — auf dem Boden eines ebenso „wissenschaftlichen" Sozialismus — die Notwendigkeit des Kollektiveigentums und die Gerechtigkeit der Diktatur des Proletariats beweist. Verwunderlich aber ist dabei nur, daß die völlige Wertlosigkeit dieser nichts als Politik maskierenden, angeblichen Wissenschaft nicht durchschaut wird, die durch ihre Methode dem Gegner das Gegenteil zu beweisen erlaubt. Nicht verwunderlich freilich ist, daß solcher Staats- und Rechts-,,Wissenschaft" von rechts ebenso wie von links eine Theorie recht unbequem ist, die diese Maskerade nicht mitmachen will, die sich unter allen Umständen weigert, dasjenige, was nur eine mögliche und besondere, bestimmten Interessen entspringende Gestaltung von Staat und Recht ist, als Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis und daher als notwendigen und allgemeinen Charakter dieser sozialen Gebilde auszugeben, weil diese Theorie eben nur Wissenschaft und nicht Politik sein will . . .

4. Niklas Luhmann, Rechtstheorie. Aus: Lubmanm Soziologische Aufklärung, Opladen 1971, S. 80—81. . . Mindestens seit dem Ende der alteuropäischen praktischen Philosophie und dem Zusammenbruch der Vernunftaufklärung sind die Bemühungen um die Rationalität und um die normative Richtigkeit des Handelns auseinandergetreten und haben sich auf verschiedene Disziplinen verteilt. Rationalität wird im Schwerpunkt als durch Wirtschaftlichkeitsüberlegungen korrigierte Zweckrationalität gesehen; die Urteile über normative Richtigkeit des Handelns bleiben dagegen einer Wertethik sowie der praktisch allein bedeutsamen Rechtswissenschaft überlassen, die sich auf die Auslegung des positiven Rechts konzentriert hat. Diese Trennung ist außerhalb der Soziologie vollzogen worden. Sie scheint ihre Gründe zu haben, aber die Selbstverständlichkeit der Scheidung — zusammen mit der Tatsache, daß sie zu einer Verteilung der Handlungswissen-

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Schaft auf verschiedene Disziplinen geführt hat — verhindert, daß die Frage nach ihren Gründen gestellt wird. Die Trennung mag im Bereich der Entscheidungswissenschaften, auf den wir gleich zu sprechen kommen, sinnvoll sein. Für die soziologische Systemtheorie ist sie nicht von vornherein verbindlich. Sie wird versuchen müssen, eine Theorie der Systemrationalität mit einer systemstrukturellen Rechtstheorie zu verbinden. Hierzu fehlen in der Rechtswissenschaft selbst nahezu alle Vorarbeiten. Das Rechtsdenken ist aus Gründen, die wir hier nicht näher untersuchen können, unter die Fachprämissen der Ethik geraten und nicht etwa als Strukturtheorie der Gesellschaft Bestandteil unserer Tradition geworden. Es findet in der unzerlegbaren Einheit des Begriffs der Rechtnorm, des an den Handelnden adressierten rechtlichen Sollens, seine Schranken. Eine Soziologie des Rechts wird diese Schranke durchbrechen und nach der Funktion dieser Sollsymbolik fragen müssen. Damit sprengt sie jede Art von strukturellen Prämissen und transzendiert zugleich das übliche Fragen nach der Begründung des Rechts, das sich auf der Grundlage eines einheitlichen Sollbegriffs um die Ableitung der bekannten und gebräuchlichen Rechtsnormen aus höherrangigem Recht, letztlich aus einer oder einigen wenigen Grundnormen bemüht. Während diese naturrechtliche oder formal-hierarchische Rechtstheorie das Problem der Komplexität unterschätzt — sie könnte sonst nicht versuchen, alles Recht durch einige Grundnormen zu legitimieren, also auf den Sinn zu beschränken, der von diesen Grundnormen aus konstruierbar ist —, führt eine soziologische systemstrukturelle Rechtstheorie gerade auf dieses Problem hin. Die Frage nach der Funktion der Rechtsnorm — nicht einzelner Rechtsnormen, sondern der rechtlichen Normierung schlechthin — läßt sich ausarbeiten im Rahmen einer funktional-strukturellen Theorie des Sozialsystems. Sie mündet in der Frage nach der Funktion von Strukturen und stößt damit auf das Problem der Reduktion von Komplexität. Die Funktion des Rechts wäre somit zu begreifen als bindende und sanktionierte Reduktion sozialer Komplexität im Bereich der zwischenmenschlichen Verhaltenserwartungen. Während die Vernunftaufklärung noch einmal versucht hatte, das Recht als Naturrecht — wenn auch nur in der subjektiven Form eines Vernunftsrechts — zu begründen, obliegt es der soziologischen Aufklärung, eine Theorie des positiven Rechts zu liefern. Das positive Recht kann nicht länger als einzig übriggebliebene unterste Stufe einer Hierarchie von Rechtsquellen und Rechtsmaterien begriffen werden, nachdem der Überbau praktisch weggefallen ist. Positivierung macht die Geltung des Rechts prinzipiell von Entscheidungen abhängig. Das bedeutet zweierlei: Einmal wird das Recht damit als herstellbar und änderbar begriffen. Die Rechtsgeltung hängt nicht mehr davon ab, daß Normen als immer schon geltend und ewig geltend dargestellt werden können. Eine neue Dimension der Komplexität, die zeitliche Variierbarkeit, wird hinzu gewonnen, und das erweitert den Bereich möglicher Verhaltensnormierung ins Unermeßliche. Zum anderen hängt die Rechtsgeltung nun von einem planmäßig vollzogenen, sozial kontrollierbaren Entscheidungsvorgang ab. Die Reduktion der Möglichkeiten auf geltenden Sinn wird nicht mehr als Bestandteil der Natur vorausgesetzt, sie wird organisiert und dann explizit geleistet. Die Positivierung des Rechts ist mithin eine wesentliche Komponente des universellen zivilisatorischen Prozesses der Aufklärung, nämlich eine prinzipielle Umstellung des Rechts auf gesteigerte Komplexität, auf weitreichendere Erfassung und wirkungsvollere Reduktion sozialer Komplexität. Unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen eine solche Umstellung möglich ist und trotz ihrer offensichtlichen Gefahren in einer sehr komplexen, stark differenzierten Sozialordnung stabilisiert werden kann — das sind Fragen, die letztlich nur von einer soziologischen Theorie beantwortet werden können . . .

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5. Niklas Luhmann, Positives Recht und Ideologie. Aus: Lubmann, Soziologische Aufklärung, Opladen 1911, S. 178-182, 196-198. . . . 1 Handlungstheorie und Systemtbeorie Das Vertrauen in die soziale und politische Ordnungskraft des Rechts hat in den letzten zweihundert Jahren in auffälliger Weise abgenommen. Die große Zeit des Vernunftrechts und seines Versuchs, das Verhältnis von Mensch-Gesellschaft als ein Rechtsverhältnis zu bestimmen, liegt weit hinter uns. Nicht einmal die ambivalente Stellung zum Thema Recht und Ideologie, die Karl Marx bezogen hatte, läßt sich heute überzeugend nachvollziehen. Marx sah das Recht bereits als Instrument einer Ideologie, als Ausdruck der wirtschaftlichen Interessen einer herrschenden Klasse, und glaubte doch, daß mit Hilfe einer Rechtsänderung, nämlich Enteignung, soziale Revolution sich durchführen und eine ideologiefreie Sozialordnung sich herbeiführen lasse. Inzwischen hat die soziologische Theorie und Forschung die Einsicht in die Komplexität sozialer Systeme so gesteigert, daß es kaum noch möglich ist, das Wesen und den Differenzpunkt verschiedener Sozialordnungen in bestimmten Rechtsfragen zu lokalisieren. Zu viele Variablen treffen zusammen, und das Recht scheint bestenfalls eine von ihnen zu sein. Eine soziologische Theorie des Rechts ist daher überfällig. Die Klärung des Verhältnisses von Recht und Ideologie könnte eine ihrer Aufgaben sein. Um an den Ursprung dieser Entwicklung zu kommen, die das Recht auf einen Ordungsfaktor unter anderen zurückgeschnitten hat, muß man weit hinter dieBlütezeit des Vernunftrechts zurückgehen und fragen, ob nicht schon am Anfang, im klassischen griechischen Rechtsdenken, Entscheidungen gefallen sind, die heute ein Gegeneinandersetzen von Recht und Ideologie ermöglichen und das Verhältnis beider als Problem des kausalen oder wertmäßigen Dominierens erscheinen lassen. Im griechischen Denken wird das traditional vorgegebene Recht durch die Frage nach seinem Prinzip hintergangen und dieses Prinzip der Gerechtigkeit in noch mythischer und doch schon rationaler Weise als Gleichheit charakterisiert. Damit war ein Gedanke von hoher Unbestimmtheit und Ausdeutbarkeit gesetzt. Er hätte zu einer Strukturtheorie der Gesellschaft führen können. Mit Aristoteles nimmt jedoch der Weg des Denkens vom Mythos zur Rationalität eine andere Wendung. Sowohl die Lehre von der Gerechtigkeit als auch die Lehre von der Gesellschaft werden auf der Grundlage einer Theorie richtigen Handelns entfaltet und die Richtigkeit des Handelns wird nach seinem Kulminationspunkt, dem Zweck, beurteilt. Die Präzisierungen, die der Gerechtigkeitsbegriff erfährt, hängen von der fachlichen Einordnung in die Ethik ab. Ebenso wird die Darstellung der politisch verfaßten Gesellschaft handlungstheoretisch angesetzt: Erst in bezug auf Handlungszwecke des einzelnen erscheinen nämlich andere Menschen als Feind oder als Helfer. Von dieser Fragestellung aus gewinnt die traditionelle politische Philosophie ihre beiden großen Bezugsprobleme Bedrohtheit und Angewiesenheit, ihre Befürfnisformeln (metus et indigentia) und die entsprechenden Zweckformeln der politisch verfaßten Gesellschaft (pat ex iustitia), die nun, mit wechselnder Akzentuierung, die Geschichte des rechtlich-politischen Denkens bestimmen und noch in der Soziologie sich wiederfinden in der Entgegensetzung von Kooperation und Konflikt. Doppelformeln dieser Art verraten einen handelstheoretischen Denkansatz. Selbst diese Verengung läßt noch mehr Komplexität in der Theorie, als mit streng logischen Mitteln abgearbeitet werden kann. Sinn und Zweck menschlichen Handelns gelten infolgedessen seit alters als ein Gegenstandsbereich, der seinem Wesen nach mit exakten Methoden wissen-

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schaftlicher Erkenntnis nicht bearbeitet werden kann, und sie verlieren in der Neuzeit unter dem Druck wachsender Ansprüche an die intersubjektiv zwingende Gewißheit wissenschaftlicher Erkenntnisse ihre Wahrheitsfähigkeit ganz und gar: Zwecke lassen sich nicht beweisen. An die Stelle der ethischen Gesellschaftstheorien, die sich bemühten, dem Handelnden seine Zwecke und sein richtiges Handeln vorzustellen, treten Theorien, die den Bestand der Gesellschaft als von „subjektiven" Einzelzwecken unabhängig zu erweisen suchen, und weiter Theorien, welche die Zwecksetzungen selbst kausal zu erklären und damit als ideologisch zu entwerten suchen. In der Konsequenz dieses Denkens liegt es, die Orientierungsvorstellungen des Handelnden auf seine ökonomischen Interessen oder seine „Seinslage" zurückzuführen und das jeweilige Recht als Produkt einer Ideologie zu erklären. Mit Kausalerklärungen dieser Art ist jedoch kein wesentlicher Fortschritt zu erzielen. Mag ihnen ein Beweis bestimmter Kausalzusammenhänge zwischen Sein und Vorstellungen bis zu einem gewissen Grad der Plausibilität gelingen oder nicht, in jedem Falle ist ihre Form, die Feststellung einer invarianten Relation zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen, viel zu einfach, um der sehr komplexen Struktur moderner Gesellschaften gerecht werden zu können. Eine Kritik und Entlarvung des naiven Glaubens an die eigenen Zwecke und ihr gutes Recht reicht außerdem nicht aus, wenn sie nur darin besteht, latente Ursachen aufzudecken. Denn ein vereinfachtes Programm- und Rechtsbewußtsein ist für alles Handeln unentbehrlich, und seine Naivität, das heißt das Abdunkeln anderer Möglichkeiten, ist ein ebenfalls unverzichtbarer Schutz seiner Motive. Der Grund dafür liegt in der geringen Informationsverarbeitsfähigkeit des Menschen, in seinem geringen Potential für Erfassung und Reduktion komplexer Sachverhalte. Sieht man das ein, kann es nicht länger sinnvoll erscheinen, Rechtsund Gesellschaftswissenschaften vom Grundbegriff des Handelns aus zu konstruieren und sie damit auf dieses geringe Potential für Komplexität festzulegen. Vielmehr muß ein theoretischer Bezugsrahmen gesucht werden, der es ermöglicht, die Grenzen des Erlebnishorizontes des Handelnden zu sprengen und mehr Komplexität zu erfassen. Manches deutet darauf hin, daß die systemtheoretische Konzeption der modernen Soziologie sich auf diesem Wege befindet. In Anlehnung an Gedanken, die in der allgemeinen Systemlehre und der kybernetischen Systemtheorie ausgearbeitet worden sind, kann man soziale Gebilde als Systeme ansehen, die in einer übermäßig komplexen Umwelt einen weniger komplexen, sinnvollen Erwartungszusammenhang invariant halten und dadurch das Handeln orientieren können. Durch die Art, wie Handlungen sinnhaft aufeinander bezogen sind und sich in ihrer Selektivität verstärken, wird es möglich, Systeme als Orientierungsrahmen des Handelns zu erhalten, obwohl ihre eigene Komplexität geringer ist als die der Umwelt. Positives Recht und Ideologie gewinnen in sozialen Systemen eine Funktion für die Reduktion der Komplexität des Systems und seiner Umwelt. Sie bilden eine Systemstruktur, die immerhin noch so komplex ist, daß das System in seiner Umwelt bestehen kann, und ermöglichen zugleich eine sinnvolle Orientierung des Erlebens und Handelns nach Maßgabe dieser Struktur. Damit ist eine analytische Perspektive fixiert, in der positives Recht und Ideologie vergleichbar werden, es ist aber noch nichts über ihr Verhältnis zueinander gesagt. Weiter ist angenommen, daß dieses Verhältnis ein solches von problemlösenden Einrichtungen in sozialen Systemen ist, aber noch nichts darüber ausgemacht, wie diese Einrichtungen funktionieren und welche Systeme sie benötigen und ausbilden können. Diese letzten Fragen haben den Vorrang. Wir müssen zunächst Funktionen und Funktionsweisen des positiven Rechts und der Ideologie und die Vorbedingungen des Einsatzes dieser Mechanismen klären, bevor wir die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen beurteilen können.

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II Positives

Recbt

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß zur gleichen Zeit, in der der Wertbegriff seine philosophische Karriere beginnt, der Ideologieverdacht auftritt und bald universell wird und das Recht erstmals in der Weltgeschichte vollständig positiviert, das heißt, der Entscheidung des politischen Systems der Gesellschaft überlassen wird. Die Gleichzeitigkeit dieses Geschehens weckt die Vermutung, daß sich Zusammenhänge zwischen Ideologie und Recht, oder genauer, zwischen der Ideologisierung dessen, was man heute „Werte" nennt, und der Positivierung des Rechts auffinden lassen. Ein solcher Zusammenhang kann nicht in einer weitgehenden Inhaltsgleichheit, also in einer Verschmelzung von Recht und Ideologie bestehen. Man braucht nur ein beliebiges Gesetzblatt herauszugreifen und zu versuchen, es Paragraph für Paragraph auf ideologische Inhalte abzufühlen. Die Schwierigkeiten, in die man dabei gerät, machen eine Differenz zwischen Recht und Ideologie überdeutlich. Das Gemeinsame muß auf einer sehr viel abstrakteren Ebene gesucht werden. Es liegt nicht im Inhalt, sondern in der Form. Positives Recht und Ideologie gleichen sich darin, daß sie ihrem Begriffe nach eine eigentümliche Distanz zu sich selbst implizierten. Diese formale Gleichheit, diese strukturelle Analogie, gilt es zunächst deutlicher herauszuarbeiten. Nur dadurch können wir hoffen zu begreifen, warum beides und warum beides gleichzeitig auftiitt. Denn vermutlich ist es eben diese Form der Distanz zu sich selbst, die gesellschaftlich benötigt und darum geschaffen wird. Die Positivierung des Rechts bedeutet, daß für beliebige Inhalte legitime Rechtsgeltung gewonnen werden kann, und zwar durch eine Entscheidung, die das Recht in Geltung setzt und ihm seine Geltung auch wieder nehmen kann. Positives Recht gilt kraft Entscheidung. Das ist zunächst ein höchst unglaubwürdiges Postulat — nicht nur für Juristen, sondern erst recht für Soziologen. Es ist indes in so weitem Umfange Wirklichkeit geworden, daß es unser Recht beherrscht und charakterisiert. Dabei verdiente die Frage höchstes Interesse, wie positives Recht überhaupt möglich ist und unter welchen Voraussetzungen eine Gesellschaft das Risiko der Positivierung ihres Rechts eingehen kann. Die Begründung unseres Rechts kann nicht mehr in einem höherrangigen Naturrecht gefunden werden, das etwas wahrhaft Seiendes ist und durch Seinswahrheit unabänderlich bindet. Wir stützen die Beständigkeit der Geltung nämlich nicht mehr auf eine noch beständigere höhere Geltung, sondern gerade umgekehrt auf ein Prinzip der Variation: Daß etwas geändert werden könnte, ist Grundlage aller Stabilität und somit aller Geltung. Wir denken demnach positives Recht nicht angemessen, wenn wir es weiterhin als unterste Stufe einer Hierarchie von Rechtsquellen und Rechtsmaterien auffassen, die nach dem Wegfall der höheren allein übriggeblieben ist. Der Begriff der Positivität muß vielmehr von einer Theorie des Entscheidungsprozesses aus gewonnen und darin abgesichert werden. Bei einer entscheidungstheoretischen Analyse des positiven Rechts fällt zunächst auf, daß nicht nur über Handlungen, sondern in erheblichem Maße auch über Entscheidungen entschieden wird. Offenbar ist es nicht möglich, alle notwendigen Überlegungen in einer einzigen, wenn auch schwierigen und langwierigen, Entscheidung unterzubringen. Der Entscheidungsvotgang wird auf mehrere Entscheidungen aufgeteilt, von denen die einen Prämissen für die anderen setzen. Das Entscheiden wird arbeitsteilig verteilt. Das hat natürlich nur Sinn, wenn damit auch die Entscheidungslast verteilt wird und nicht in jeder Entscheidung alle Überlegungen neu vollzogen oder doch wiederholt werden müssen; wenn zum Beispiel bei Erlaß eines Gesetzes (licht alle Anwendungssituationen vorausgesehen und durchdacht werden müssen, und umge-

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kehrt beim Auslegen des Gesetzes nicht die gesamten Alternativen wieder aktualisiert werden müssen, die beim Erlaß des Gesetzes erwogen wurden. Kooperatives Entscheiden ist immer dann von Vorteil oder gar notwendig, wenn in einer Umwelt von sehr hoher Komplexität entschieden werden muß — sei es, daß eine Auswahl unter sehr vielen Handlungsmöglichkeiten zu treffen ist, sei es, daß die Konsensbedingungen einer sehr großen Zahl von Personen unklar und doch relevant sind, sei es, daß langfristige Entscheidungen getroffen werden müssen ohne Voraussicht aller relevanten Faktoren und ohne daß zwischenzeitliche Änderungen wirksam ausgeschlossen werden können, oder schließlich, daß sachliche, soziale und zeitliche Komplexität in diesem Sinne zusammentreffen. Solche Umwelten erfordern eine komplizierte Organisation des Entscheidungsprozesses, so wie umgekehrt nur Systeme mit einer solchen Organisation in der Lage sind, eine sehr komplexe Umwelt zu haben und sich in ihr zu erhalten. Für die Bewältigung hoher interner Komplexität ist es durchweg notwendig, die Effektivität sozialer Prozesse dadurch zu verstärken, daß sie auf sich selbst bzw. auf Prozesse gleicher Art angewandt werden. Ein solches System muß zum Beispiel die Möglichkeit haben, Begriffe zu definieren (also über Worte zu sprechen), Geld zu verwenden (also Tauschmöglichkeiten zu vertauschen), das Lernen zu lehren bzw. zu lernen, Machthaber zu übermächtigen, über Forschung zu forschen und, wie schon gesagt, über Entscheidungen zu entscheiden. Prozesse, die in dieser Art auf sich selbst angewandt und dadurch in ihrer Effektivität verstärkt werden, lassen sich wegen dieses gemeinsamen Strukturmerkmals als reflexive Mechanismen bezeichnen. Das Entscheiden über Entscheidungen ist mithin nur ein Anwendungsfall eines viel allgemeineren Strukturprinzips, und im Rahmen dieses reflexiven Entscheidens ist es ein wiederum engerer Anwendungsfall, die Normierung der Normsetzung, der die Positivierung des Rechts ermöglicht. Es muß in Sozialordnungen mit positiviertem Recht mithin eine Schicht von Normen geben, die an eine Entscheidungsorganisation adressiert sind und den Vorgang der Normierung regeln (aber die dabei produzierten Normen inhaltlich weder determinieren noch rechtfertigen können). Das sind zum Beispiel Verfahrensnormen oder Normen, die Mindestbedingungen festlegen unter denen ein auftauchender Rechtsgedanke Norm werden kann. Auch diese Normierungsnormen können und müssen zu positivem Recht werden. Die Garantie der Rechtsgeltung kann nicht mehr in Normen von unabänderlicher traditionaler oder naturartiger Geltung gefunden werden, wenn einmal das Prinzip der Variabilität die Rechtsordnung und die Rollenstrukturen dominiert. Die strukturgebende Funktion der Normierungsnormen erfordert nur, daß sie in dem Normierungsvorgang, den sie steuern, als feststehend behandelt werden können; mögen sie auch zu anderer Zeit durch andere Stellen gesetzt worden sein bzw. geändert werden können. Die Stabilität der rechtlich gesicherten Sozialordnung muß unter diesen Umständen vor allem durch politische Prozesse gewährleistet werden. Sie wird zu einem permanenten Problem. Deshalb kann Politik nicht mehr gelegentlich, in Nebenrollen oder auf der Grundlage eines andersartigen (familiären, religiösen, wirtschaftlichen) Status betrieben werden. Sie muß in Parteien als Arbeit organisiert sein. Wenn nämlich sowohl die Entscheidungsprogramme der Staatsbürokratie als auch die Bedingungen politischer Unterstützung als prinzipiell variabel institutionalisiert sind, wird die Koordination beider zu einem Problem, das nicht mehr allein durch institutionelle Garantien, sondern nur noch durch laufende Arbeit gelöst werden kann, die ihre besondere institutionelle Ordnung benötigt. Ein zweiter, stabilisierender Faktor findet sich in der Diskrepanz zwischen der Komplexität des Gesamtrechts und der Kapazität einzelner Entscheidungsprozesse. In komplexen Ordnungen ist es ausgeschlossen, daß alles auf einmal geändert wird. Jeder sinnvollen Änderung sind daher Rücksichten auf das bestehende Recht aufgezwungen. Alle Neuerer müssen, wenn sie sich

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nicht als Revolutionäre gegen die Gesamtordnung wenden, Lernzeiten auf sich nehmen. Und Lernzeiten sind Sozialisierungszeiten, in denen die bestehende Ordnung im großen und ganzen akzeptiert wird. Als dritter Gesichtspunkt ist die Bestandsgarantie für subjektive Rechte oder jedenfalls für ihren Geldwert zu nennen, die ein rasches Fluktuieren der Gesetzgebung überhaupt erst erträglich macht. Daß dieser Bestandsschutz unabhängig von der Art der Begründung des Rechts, nämlich nicht nur für naturrechtlich begründete, sondern auch für positivrechtlich begründete Rechte gewährt wird, gehört zu den entscheidenden Errungenschaften des neuzeitlichen Rechtsdenkens, ohne welche eine volle Positivierung des Rechts nicht möglich gewesen wäre. Mit all dem ist freilich die Kontinuität bestimmter Wertaspekte einer bestehenden Rechtsund Sozialordnung nicht gewährleistet. Danach fragend, stoßen wir auf das Problem der Ideologie, das zunächst geklärt werden muß, bevor wir grundsätzlicher nach der Eigenart und den Stabilisierungsbedingungen einer Sozialordnung fragen können, die reflexive Mechanismen verwendet . . .

IX Wahrheit und

Gerechtigkeit

Systemtheoretische Analyse ist ein neuer Gedanke. In der europäischen Denktradition hatte man die letzten Maßstäbe in den Kriterien der Wahrheit und der Gerechtigkeit gesucht, und noch heute sind wir verseucht, unsere Themabegriffe daran zu messen, Ideologien nach ihrem Wahrheitsgehalt zu befragen und positives Recht nach seiner Gerechtigkeit. Denn zu den großen, unverlierbaren Errungenschaften des abendländischen Denkens gehört es, dem immer schon geformt und genormt vorgefundenen Seienden mit diesen Begriffen kritische Maßstäbe entgegengesetzt zu haben. Ob das Seiende so, wie es erscheint, auch wahr ist, und ob das Handeln so, wie es im Rahmen überlieferter Verhaltenserwartungen abläuft, auch gerecht ist, wird damit zur Frage — zu einer Frage die alle etablierten Formen der Reduktion von Komplexität unterläuft und letztlich als universeller Zweifel zur Entdeckung der Subjektivität des Selbstbewußtseins und der sozialen Kontingenz der Welt führt. Ursprünglich war diese Kritik des Vorhandenen als Handlungsanweisung gedacht gewesen in jenem undifferenzierten Sinne, in dem das alteuropäische Denken das Wesentliche und Richtige dem Faktischen gegenüberstellte. Ein schwacher Abglanz dieser Bemühungen liegt noch über dem zeitgenössischen Versuch, Wahrheit und Gerechtigkeit als Werte zu denken. Die Radikalisierung der möglichen Kritik auf der einen Seite und die zunehmende Komplexität der sozialen Wirklichkeit auf der anderen lassen jedoch fraglich werden, ob jene Kritik noch in Anweisungen zu richtigem Denken und Handeln nach feststehenden Maßstäben ausgemünzt werden kann. Die hundertjährige Diskussion des Ideologiebegriffs und der Positivität des Rechts hat dafür jedenfalls keine Anhaltspunkte ergeben. Gegenüber Ideologien auf Wahrheit als Wert und gegenüber positivem Recht auf Gerechtigkeit als Wert zu bestehen, hat wenig Sinn, wenn nicht erkennbar gemacht werden kann, was denn nun als wertvoll vorgezogen werden soll, und wenn jeder Versuch in dieser Richtung selbst zur Ideologie wird. Die alten Maßstabbegriffe haben ihre kritische, innovative Funktion verloren — nicht zuletzt dadurch, daß die Kritik als Reflexivität des Wertens und Normierens in die Wirklichkeit selbst eingebaut und institutionalisiert worden ist —, und sie behalten nur noch Symbolfunktionen: Sie dienen dazu, gute Absichten zu beteuern und an guten Willen zu appellieren, vorausgesetzten Konsens auszudrücken und Verständigungsmöglichkeiten zu postulieren. Dazu kommt, daß die Vielzahl der Werte und die Unmöglichkeit, sie allgemeingültig zu ordnen, es ausschließen, die höchsten Möglichkeiten des Menschen und seine Stellung in der 157

Welt durch Wertbegriffe auszudrücken. Das, was Wahrheit und Gerechtigkeit für das Selbstverständnis des Menschen einst bedeuteten, wird durch ihre Interpretation als Werte verfälscht. Gerechtigkeit war zum Beispiel für Aristoteles gleiche Distanz zu allen Werten, selbst also gerade kein Wert, und konnte nur so das höchste Gut, die menschliche Vollkommenheit, bedeuten. Unter den Bedingungen gestiegener Komplexität des Denkens und der Wirklichkeit fällt es uns schwer, den Rang des aristotelischen Rechtsdenkens wieder zu erreichen. In gleicher Distanz zu allen Werten eine Ruhelage höchster Vollendung und zugleich eine ethische Maxime des Handelns zu finden, ist nicht mehr möglich. Wir müssen differenzierter denken, müssen Wertebene und Normen bzw. Zwecke voneinander trennen und außerdem den Gedanken der gleichen Distanz dynamisieren. Am ehesten scheint, von den heutigen Denkmöglichkeiten her, eine Theorie des organisierten, reflexiven Entscheidungsprozesses, die Werte opportunistisch und Programme als entscheidbar behandelt, diesen Anforderungen zu genügen. Trifft diese Annahme zu, dann müssen wir ins Auge fassen, daß gerade Begriffe wie Opportunismus, Entscheidung, Positivität, Ideologie, Funktion, gemessen an der Tradition also haltlose, wenn nicht anrüchige Begriffe, es sind, die unser Denken in den Rang und die Geschlossenheit der alteuropäischen Bemühungen um eine Deutung der politischen Gesellschaft und ihres Rechts zurückbringen könnten. Mit einer Umwertung oder Aufwertung dieser Begriffe ist es freilich nicht getan. Eine eigene Basis für ein Gespräch mit der Tradition gewinnen wir nur, wenn wir den Sinn- und Funktionszusammenhang dieser Begriffe begreifen. Dazu bietet die in einigen Grundzügen bereits erkennbare soziologische Systemtheorie hoffnungsvolle Ansätze. Angesichts der gestiegenen und immer noch steigenden Komplexität unserer Gesellschaftsordnung wird es unumgänglich, die traditionalen Modellvorstellungen der Handlungsauslegung und -erklärung zu revidieren. Ihr Potential für Komplexität ist zu gering — sei es, daß sie Mittel aus Zwecken abzuleiten, sei es, daß sie Wirkungen aus Ursachen zu erklären, sei es, daß sie invariante Beziehungen zwischen bestimmten Faktoren festzustellen versuchen. Ein Thema wie das Verhältnis von Recht und Ideologie läßt sich mit solchen Modellen nicht adäquat erfassen. Ideologien ebenso wie positivierte Rechtsordnungen sind hochkomplexe Symbolbestände. Sie sind außerdem als stabile gesellschaftliche Institutionen nur möglich, wenn die Gesellschaft selbst einen hohen Grad an Komplexität erreicht hat. Idealbegriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit, verlieren gegenüber einer solchen Ordnung menschlichen Handelns ihre instruktive Funktion und entarten zu Chiffren für Sachverhalte von unbestimmter und unbestimmbarer Komplexität. Hohe Komplexität setzt, soll sie nicht unbestimmt bleiben, Systembildungen voraus, die Komplexität nicht nur benennen, sondern auch erfassen und reduzieren, das heißt dem Handeln nahebringen können. Das kann durch Strukturen, Teilsystembildung, Sinnaufteilungen, reflexive Mechanismen, Kommunikationsnetze, kybernetische Regelungen und dergleichen geschehen, die eine wirksame Orientierung des Handelns an einer Vielzahl anderer Möglichkeiten ermöglichen. Stellt man solchen Systemen formelhafte ideale Maßstäbe gegenüber, verkennt man dieses Problem der Komplexität. Man muß sich dann mit unwirksamen Appellen begnügen, oder sich auf eine bestimmte Auslegung des Maßstabes festlegen — etwa auf den Wahrheitsbegriff des empirischen Positivismus oder dem Gerechtigkeitsbegriff des Kommunismus —, welche eine drastische Reduktion der Komplexität vollzieht. In beiden Fällen bleibt das Denken der Komplexität der in der Wirklichkeit schon vorhandenen Handlungssysteme glatt unterlegen. Eine sinnvolle Kritik des Vorhandenen ist nur als immanente Kritik der Systeme, und sei es des umfassenden Systems der Gesellschaft, möglich, als Systemanalyse, als Aufdecken und Reproblematisieren der Probleme, die durch die eingelebten Normen, Rollen, Institutionen, Prozesse und Symbole gelöst werden und als Ausschau nach anderen, funktional äquivalenten Möglichkeiten. In diesem Sinne kann man von soziologischer Aufklärung sprechen . . .

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6. Arthur Kaufmann, W. Hassemer, Der Fragebereich der Rechtsphilosophie. Aus:

Kaufmann,

Frankfurt ¡Main

Hassemer, 1971,

S.

Grundprobleme

der zeitgenössischen

Rechtsphilosophie

und

Recbtstbeorie,

5-9.

. . . Kriterien der Gerechtigkeit aufzufinden und zu entwickeln — so kann das Ziel der neueren Rechtsphilosophie etwa ab der Jahrhundertwende umschrieben werden. Anders als in einer rechtstheoretischen oder methodologischen Betrachtung, welche — jedenfalls in Deutschland und in der hier beobachteten Zeitspanne — das Problem der Richtigkeitskriterien in der Ableitung des Richterspruchs aus dem Gesetz sieht und insofern die Existenz eines Gesetzes immer voraussetzt, sind Kriterien der Gerechtigkeit in rechtsphilosophischer Betrachtungsweise von Existenz und Inhalt eines Gesetzes grundsätzlich unabhängig. Die Rechtsphilosophie fragt hinter das Gesetz zurück und stellt es damit in Frage. Kriterien der Richtigkeit für eine Rechtstheorie sind Kriterien der richtigen Auslegung und Anwendung des Gesetzes; Kriterien der Richtigkeit für eine Rechtsphilosophie sind Kriterien richtigen Rechts, das heißt: der Verbindlichkeitscharakter des Gesetzes kann einer Rechtsphilosophie nicht vorausgesetzt sein; das Gesetz beurteilt nicht nur, sondern wird selber beurteilt; die Kriterien der Gerechtigkeit sind Maßstäbe nicht nur für den Richterspruch, sondern auch für das Gesetz. Wenn gesagt wird, eine rechtsphilosophische Fragestellung erschöpfe sich nicht in der Reflexion des Verhältnisses von Gesetz und Richterspruch, sondern stelle schon das Gesetz selber in Frage, so kann dies nicht heißen, daß rechtsphilosophische Fragen unabhängig vom Gesetz gestellt würden oder daß das Gesetz für die Rechtsphilosophie nicht mehr sei als ein mehr oder weniger zufälliges Faktum der kontinentaleuropäischen Rechtsgeschichte und Rechtserfahrung. Die Funktion des Gesetzes im Recht ist im Gegenteil ein zentrales Problem der neueren deutschen Rechtsphilosophie. Anders, als man dies von Rechtstheorie und Methodenlehre sagen kann, erschöpft sich diese Funktion nicht darin, daß das Gesetz den Richterspruch, der aus ihm gewonnen wird, bestimmt (und gewissermaßen ansonsten fraglos als richtig, als „gerecht", angenommen wird). Die Funktion des Gesetzes für eine Rechtsphilosophie ist grundlegender. Für sie ist das Gesetz nicht nur technische Entscheidungsregel, sondern möglicher Träger von Kriterien der Gerechtigkeit. Eine Rechtsphilosophie macht keine Aussagen über die Gewinnung von Urteilen aus dem Gesetz, sondern über den Richtigkeitscharakter des Gesetzes selbst. Diese knappen Andeutungen einer Unterscheidung rechtsphilosophischer und rechtstheoretischer Betrachtung unter dem Blickwinkel des Gesetzes können allenfalls eine vorläufige Bestimmung rechtsphilosophischen Fragens sein; sie haben den Sinn, einführend auf den Gesichtspunkt hinzuweisen, unter dem diese Untersuchung die neueren rechtsphilosophischen Ansätze vorstellen will, und diese Ansätze gegenüber einer rechtstheoretischen Frageweise abzusetzen. Die Unterscheidung von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ist keineswegs allgemeingültig zu treffen, ja diese Frage der Unterscheidung ist selbst ein aporetisches Problem der Rechtsphilosophie. Sie soll deshalb hier auch nicht diskutiert, sondern lediglich angedeutet werden. Der hier gewählte Gesichtspunkt der Darstellung — welche Funktion hat das Gesetz im Recht? — ist einerseits fruchtbar, andererseits aber wird er der ganzen Radikalität rechtsphilosophischen Fragens nicht gerecht. Er ist fruchtbar, weil unter ihm die beiden konträren rechtsphilosophischen Standpunkte deutlich werden, um die es heute noch in der rechtsphilosophischen Diskussion in Westdeutschland geht: Naturrecht und Rechtspositivismus.

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Für eine abstrakte, rationalistische Naturrechtslehre ist die Positivierung des Rechts in einem Gesetz nur eine akzidentelle, zufällige, Bedingung richtigen Rechts. Für ein solches Denken gibt es oberste unwandelbare Grundsätze, die immer und überall gelten, gleichgültig, ob sie in einem Gesetz verordnet sind oder nicht. Hier hat das Gesetz keine Funktion im Recht. E s gibt richtiges und geltendes Recht auch außerhalb des Gesetzes. Der Gesetzespositi vismus — so weit er sich rechtsphilosophisch versteht bzw. soweit er so zu verstehen ist — leugnet hingegen Rechtsprinzipien außerhalb des Gesetzes. Für ihn ist das Gesetz die alleinige Quelle allen Rechts; das Gesetz hat im Recht eine totale Funktion, es ist mit dem Recht identisch. Wenn auch neuere rechtsphilosophische Versuche entweder den Gesetzespositivismus oder das abstrakte Naturrechtsdenken überwunden haben, so ist der Problemkreis, der mit der Funktion des Gesetzes im Recht bezeichnet wird, doch noch nicht verlassen. Diese neueren Ansätze versuchen — wenn eine vorläufige und pauschale Charakterisierung gestattet ist —, den fruchtlosen Dualismus zwischen Naturrechtslehre und Positivisrtius hinter sich zu lassen und das Verhältnis von Recht und Gesetz immanent zu entwickeln, das heißt, konkrete und spezifische Bestimmungen eines „gerechten Gesetzes" bzw. eines „positiven richtigen Rechts" aufzudecken. Auch dies sind Aussagen zur Funktion des Gesetzes im Recht; sie liegen, will man bildlich sprechen, zwischen Naturrechtsdenken und Positivismus, aber nicht außerhalb der Ebene, die sich zwischen diesen beiden Polen erstreckt. Der Gesichtspunkt der Funktion des Gesetzes im Recht vermag jedoch andererseits — darauf muß hingewiesen werden — nicht alle rechtsphilosophischen Richtungen, die hier in Frage kommen können, abzudecken. Das liegt zuerst schon einmal daran, daß überhaupt ein Gesichtspunkt der Darstellung gewählt ist, der eine inhaltliche Information vermittelt und nicht ein bloß formaler Bezugspunkt ist. Anders als etwa bei einer rechtstheoretisch-methodologischen Betrachtungsweise, kann der gewählte Gesichtspunkt bei der Darstellung rechtsphilosophischer Lehren nur ein immanenter Gesichtspunkt sein, einer, der nicht außerhalb der Wissenschaft stehen kann, die unter ihm betrachtet wird. Denn die Rechtsphilosophie ist ein Teil der Philosophie, nicht der Rechtswissenschaft. Sie hat deshalb nicht ein bestimmtes, von außen her begrenzbares, Erkenntnisobjekt wie andere Wissenschaften; ihr Erkenntnisobjekt ist nur immanent, das heißt wiederum philosophisch bzw. rechtsphilosophisch, zu bestimmen. So wird jeder Gesichtspunkt der Darstellung eine rechtsphilosophische Aussage und damit eine inhaltliche Begrenzung dessen sein, was unter ihm betrachtet werden kann. Darüber hinaus macht der hier gewählte Gesichtspunkt der Darstellung noch eine Voraussetzung, welche radikale Fragen der Rechtsphilosophie aus der Betrachtung ausscheidet. E r setzt nämlich voraus, daß es ein Gesetz geben soll, wenn er nach der Funktion des Gesetzes im Recht fragt. Damit entfallen die Lehren, die eine gesetzliche Ordnung überhaupt leugnen, insbesondere bestimmte marxistische und existenzphilosophische Ansichten. Solchen Lehren sind, soweit ersichtlich, innerhalb der Rechtsphilosophie nicht ausformuliert worden; es gibt allenfalls Ansätze, und es gibt die philosophischen Grundlehren, aus denen solche rechtsphilosophischen Systeme abgeleitet werden könnten. Friedrich Engels hat die Lehre vom Absterben des Staates so formuliert: „ D a s Eingreifen der Staatsgewalt wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und Leitung von Produktionsverhältnissen. Der Staat wird nicht .abgeschafft', er stirbt ab." In einer klassenlosen Gesellschaft ist eine Rechtsordnung, wie sie hier vorausgesetzt wird, nicht mehr denkbar. Die Gesetze determinieren nicht mehr das Individuum; dieses wählt seine Lebensform frei und stellt in dieser Wahl das „Recht" erst her. Eine solche „Wahl" des Rechts, eine Entlassung des Menschen aus einer ihm vorgegebenen Rechtsordnung, unternimmt auch Jean Paul Sartre. Er geht davon aus, daß es keine Wesenheit

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gibt, die der Existenz vorausgeht und dieser ihre Ordnung vorschreibt: „L'existence précède l'essence." Das bedeutet für den Menschen: „L'homme est seulement non seulement tel qu'il se conçoit, mais tel qu'il se veut, et comme il se conçoit après l'existence" ; daraus muß folgen, daß eine Moral oder eine Rechtsordnung, die außerhalb des einzelnen Menschen existiert und ihm damit die Form seiner Existenz in gewisser Weise vorschreibt — sei es ein allgemeines Sittengesetz oder Naturrecht, sei es ein staatliches Recht — nicht gedacht werden kann. Der Mensch wählt sich selbst, er ist Freiheit: „Aucune morale générale ne peut vous indiquer ce qu'il y a à faire." Beide philosophischen Systeme könnte man, wenn man sie rechtsphilosophisch, als positivistisch insofern bezeichnen, als sie den Verbindlichkeitscharakter einer — wie immer gearteten — Sollensvorschrift als in dieser Sollensvorschrift total enthalten ansehen. Damit wird man aber der ganzen Radikalität dieser Systeme nicht gerecht. Sie unterscheiden sich von positivistischen Lehren fundamental dadurch, daß sie ein positives Gesetz als Entscheidungsregel für künftige Fälle gar nicht anerkennen. Der Mensch ist, vor allem für Sartre, nicht an eine solche Regel gebunden. Er lebt nicht unter einer Vorschrift. Deshalb ist schon die Frage, ob es eine Rechtsordnung oder Normen mit einer inhaltlichen Information für ein menschliches Verhalten geben kann, unzulässig. Wenn es sich für eine marxistische oder existentialistische Rechtsphilosophie in diesem radikalen Sinne herausstellen sollte, daß es Regeln für ein menschliches Zusammenleben gibt — etwa weil sich die Mitglieder einer klassenlosen Gesellschaft gerade aufgrund ihrer Freiheit von Staat und Recht in einer bestimmten Weise verhalten oder weil die Menschen im Sinne Sartres ihre Moral in einer bestimmten, übereinstimmenden Weise konstituieren —, so sind doch solche Regeln des Zusammenlebens nicht vorgegeben, sie stehen nicht fest vor ihrer Realisierung im menschlichen Akt. Allenfalls nachdem sie verwirklicht wurden, kann festgestellt werden, daß sie für diesen Akt hic et nunc gegolten haben, und für den nächsten Akt kann grundsätzlich nicht vorausgesetzt werden, daß sie auch dann wieder gelten werden. Es gibt kein Kriterium der Gerechtigkeit außerhalb des menschlichen Akts, der Akt kann an nichts gemessen werden als an sich selber. Sollte es so etwas geben wie Recht, so gibt es doch jedenfalls kein wie immer gedachtes Gesetz, das die Kriterien richtigen Verhaltens vor diesem Verhalten selbst bestimmt. Will man ein solches „Gesetz" auffinden, so kann es nur eine nachträglich aufgestellte Regel sein, die feststellt, daß die Menschen — doch wohl zufällig? — von ihrer Freiheit in einer bestimmten Weise Gebrauch gemacht haben, und die für zukünftiges menschliches Verhalten allenfalls mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit prognostizieren kann, ob sie sich wieder so oder diesmal anders verhalten werden. Aber gleichgültig, wie sie sich verhalten : sie realisieren in jedem Falle Recht. Eine solche nachträglich gefundene Regel kann nur in einem statistischen, nicht aber in einem normativen Sinn als Norm bezeichnet werden. Sie genügt deshalb nicht dem hier verwendeten Gesetzesbegriff. Ein Gesetz hat in diesen Systemen keine Funktion . . .

7. Arthur Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts im Lichte der Hermeneutik. Aus: Kaufmann, (ed), Kecbtstbeorie, Karlsruhe 1971, S.

96-102.

. . Recht entsteht nicht einfach durch Deduktion aus gesetzten Normen und allgemeinen Grundsätzen, Recht wird vielmehr in erster Linie gesprochen. Nicht nur ungefähr unterscheidet schon die Sprache „Gesetz"-„Gebung" und „Recht"-„Sprechung". Freilich ist auch die Gesetzgebung auf den sprachlichen Ausdruck angewiesen; die Gesetze müssen ja formuliert werden. Gleichwohl nennen wir die Formulierung von Gesetzesnormen nicht „Rechtsprechung", und dies mit 11

Klenner, Rechtsphilosophie

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gutem Grund. Denn der Rechtsspruch — damit ist nicht nur der richterliche Rechtsspruch gemeint, sondern jede konkrete Rechtsentscheidung — ist auch sprachlich etwas anderes als der Rechtssatz, wie ja eben überhaupt — was die Väter unseres Gundgesetzes ganz richtig empfunden haben (Art. 20 Abs. 3 G G ) — Gesetz und Recht nicht dasselbe sind. Deshalb stimmt der Deduktionsmechanismus der rationalistischen Naturrechtslehre wie des Gesetzespositivismus nicht, und deshalb stimmt es auch nicht, daß die juristische Interpretation nur das Verständlichmachen von rational Erfahr- und Mittelbarem sei. In der juristischen Methodenlehre begegnet man der hier aufgeworfenen Problematik meist unter der Fragestellung: Gesetzgeber oder Gesetz? — subjektive oder objektive Auslegungstheorie? Ist das Gesetz maßgebend und verbindlich nur und nicht anders, aber auch stets so, wie es der historische Gesetzgeber konzipiert und gewollt hat, selbst wenn dessen Vorstellungswelt überhaupt nicht mehr zu der unsrigen paßt? Oder führt das Gesetz ein vom Willen des historischen Gesetzgebers losgelöstes Eigendasein, das nach seiner Weisung für die hic et nunc gegebene Situation zu befragen ist und das daher, um mit Radbruch zu sprechen, klüger sein kann als seine Verfasser, ja sogar klüger sein muß? Die Frage, ob es auf den subjektiven Willen des Gesetzgebers oder auf den objektiven Sinngehalt des Gesetzes selbst ankommt, stellt sich auch bei dem sogenannten Lückenproblem. Von einer Lücke sprechen wir dort, wo die Rechtsordnung eine Regelung vermissen läßt, die wir nach einem vorausgesetzten Plan von ihr erwarten, also dann, aber auch nur dann, wenn es sich um eine planwidrige Unvollständigkeit der Rechtsordnung handelt. Die Frage ist nun aber, von welchem Standpunkt aus eine solche „Planwidrigkeit" zu beurteilen ist. Wessen Plan ist maßgebend: der des historischen Gesetzgebers, mithin das, was er hat regeln wollen — oder müssen wir einen Maßstab zugrunde legen, der sich aus dem Gesetzestelos im Hinblick auf die jeweilige Gegenwartssituation ergibt? Man sieht, der Lückenbegriff selbst ist sozusagen lückenhaft, denn sein wesentliches Merkmal, die planwidrige Unvollständigkeit, verweist auf ein Werturteil, das völlig im Dunkeln bleibt, wenn sich die methodologische Reflexion nicht auch darauf — und gerade darauf — richtet. Dabei wird man vor allem auch den politischen Hintergrund dieses Theorienstreits in der juristischen Methodenlehre nicht übersehen dürfen. Engisch hat sehr treffend auf den Zusammenhang der subjektiven Theorie mit der absoluten Monarchie und dem nationalsozialistischen Führerstaat hingewiesen, in denen dem Richter nur die Rolle eines Dieners des Souveräns, dessen Wille eben Gesetz war, zukam. Etwas von diesem autoritären Geist ist auch noch im geltenden Recht zu spüren, wenn es da heißt, der Richter sei dem Gesetz „unterworfen" (Art. 97 Abs. 1 G G ; § 25 DRiG). Andererseits macht Engisch auf den „augenscheinlichen Parallelismus" aufmerksam, der zwischen dem seit Jahrzehnten zu beobachtenden Vordringen der objektiven Auslegungstheorie und dem Vordringen des konstitutionellen und demokratischen Prinzips besteht. Indessen, so fügt er sehr mit Recht hinzu, darf man sich die Sache auch „nicht zu leicht machen und ohne weiteres behaupten, daß für jedes parlamentarische und demokratische Verfassungssystem die objektive Auslegungsmethode die einzige mögliche sei"; denn eine zu geringe Einschätzung der politisch-dezisionistischen Bedeutung der Gesetzgebung berge auch in der Demokratie die Gefahr des Mißbrauchs in sich. „Daher mögen diejenigen recht haben, die sagen, daß die Frage der richtigen Auslegungsmethode, d. h. letzten Endes des Auslegungszieles, nicht ein für allemal im Sinne dieser oder jener Auslegungsmethode zu beantworten ist, daß vielmehr die Auslegungsmethode abhängig ist von den besonderen Aufgaben, die ihr gestellt sind." Eine Patentlösung in dem Sinne, daß entweder die objektive oder die subjektive Theorie die einzig richtige sei, gibt es also auch hier nicht. Von daher sind die „Dogmenwidersprüche in der Rechtsprechung", das Schwanken zwischen den verschiedenen Kriterien der Auslegung, nicht nur verständlich, sondern im Grunde sogar sachgemäß. E s ist übrigens bemerkenswert, wie sich

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auch das Lückenproblem sowohl bei einem einseitig subjektiven wie bei einem einseitig objektiven Standpunkt nicht mehr in den Griff bekommen läßt. Für den konsequenten Subjektivisten wie Bergbohm kann es keine Rechtslücken geben; denn der Gesetzgeber hat alles geregelt, und außerhalb der gesetzlichen Regelungen gibt es nur den „rechtsleeren Raum". Andererseits aber steht das ganz dem Objektivismus verhaftete Denken vor der fatalen Frage, die Tucholsky in sieiner „soziologischen Psychologie der Löcher" einmal so formuliert hat: „Wenn ein Loch zugestopft wird: wo bleibt es dann? . . . Wo bleibt das zugestopfte Loch? Niemand weiß das: unser Wissen hat hier eines." Der Gedanke der objektiven Theorie würde, in letzter Zuspitzung, dazu führen, daß jeweils das Rechtens ist, was dem Rechtsuchenden hic et nunc zweckmäßig und sinnvoll erscheint. Die Konsequenz dieser weder der Vergangenheit noch der Zukunft Rechnung tragenden „Auslegungsmethode" wäre die Auflösung der Gesetzlichkeit überhaupt und damit bare Willkür und Anarchie. Eine solche Entbindung vom Gesetzesgehorsam wollten — entgegen der ihnen angedichteten Contra-legem-Fabel — auch die Vertreter der Freirechtsbewegung nicht, wenngleich man ihnen den Vorwurf nicht ersparen kann, daß sie mitunter allzu großzügig mit dem Wort des Gesetzes umgegangen sind. Ebenso ist aber auch die subjektive Theorie in ihrer Einseitigkeit unhaltbar. Sie muß entweder mit der Fiktion arbeiten, daß der Gesetzgeber die Summe der in Zukunft zu fällenden richtigen Entscheidungen gekannt und im Gesetz geregelt hat, was dann, da offensichtlich den Tatsachen widersprechend, zu solchen Ausflüchten führt, wie wir sie unter den Redewendungen von der „Genealogie der Begriffe", der „Vermehrung des Rechts aus sich selbst", dem „vernünftigen Willen" des Gesetzgebers u. a. m. kennen. Oder aber man muß sich zu einem autoritären Gesetzgeber bekennen, dessen notwendig lückenhafte und der historischen Situation verhaftete Willensäußerungen unverändert verbindlich bleiben sollen, auch wenn sich die Lebensverhältnisse völlig ändern und das, was vielleicht einmal eine sinnvolle Regelung war, zum baren Unsinn wird. Naucke ist freilich der Auffassung, daß die subjektive Auslegungsmethode um der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit willen zumindest im Strafrecht maßgebend sein müsse, wolle man nicht gegen den in der Verfassung verbrieften Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit der Tatbestände verstoßen, wobei er — sich selbst treu bleibend, die petitio principii seines Denkvorganges aber deutlich machend — fordert, daß auch dieser Grundsatz selbst subjektiv-historisch, also im Geiste des 19. Jahrhunderts, verstanden werden müsse. Doch ganz abgesehen davon, daß es eine Illusion ist, zu meinen, man könnte Rechtssicherheit auf diesem methodischen Weg erreichen (was zaubert man nicht alles aus dem „strengen" Wortlaut des Gesetzes!), gegen eine solche einseitig subjektive Auslegungstheorie ist — mit Forsthoff — vor allem der Einwand zu erheben, „daß sie an dem Wesen der Rechtssetzung vorbeisieht und damit die sprachlichen Qualitäten des Gesetzes verkennt". Die Sprache des Gesetzes (des gesetzten, formell-positiven Rechts, wozu auch die Normen des Gewohnheitsrechts und des sogenannten „Richterrechts" gehören) ist, ihrer Intention nach, abstrakt-begrifflich, exakt, eindeutig. In diesem Sinne hat Brecher recht, wenn er das Wesen des Gesetzes in der grenzengebenden (definitorischen) Form sieht, und ist Wagner darin zuzustimmen, daß das moderne Gesetz keine Symbole verwendet. Die Sprache des Gesetzes ist eindimensional, sie bewegt sich grundsätzlich nur auf der rational-kategorialen (horizontalen) Ebene. Deshalb hat das Gesetz, wie schon Gerhart Husserl ganz klar gesehen hat, lediglich eine „abstrakte Zeit". Sein „Zeitsein" bedeutet nicht die banale Tatsache, daß es zeitliche Grenzen hat und also nicht ewig ist. Vielmehr: Das Gesetz ist „nicht auf ein Ende hin", seine Geltung „ist Geltung ein für allemal", es ist „selbst ein Ende", es „hat keine Zukunft, in die es sich entwickelnd hineinlebte". Indem es „an Vorgänge der Sozialwirklichkeit — .Tatbestände' — Rechtsfolgen knüpft", sperrt es „die in eine 11»

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ungewisse Zukunft fließende Wirklichkeit aus". „Es ist eine .fertige' Welt entindividualisierter Handlungen, die in den Rechtsnormen zur starren Fixierung gelangt ist. Eine Welt, die keine Zweifel kennt. Es gibt in ihr keine Zukunft; sie ward durch Reduktion der normbetroffenen Sachverhalte auf ihr Seinkönnen (im Rechtssinn) antizipiert." Eine im strengen Sinne eindeutige Gesetzessprache wäre allerdings nur bei höchster Abstraktion erreichbar, und diese würde den Ausschluß jeder Wirklichkeitsbeziehung bedingen. Ein solches Gesetz bedürfte, eben weil es an ihm nichts zu deuten gibt, keiner Auslegung. Es wäre beliebig manipulierbar und daher gerade kein Garant für die Rechtssicherheit. Wem es mit der Rechtssicherheit ernst ist, muß sich mit dem Widerspiel zwischen Sprache und Kalkül auseinandersetzen, und dieses Widerspiel besteht darin, daß zwar die Sprache ihren Kalkül einschließt, der logische (logistische) Kalkül indessen die Sprache ausschließt. Die der Wirklichkeit zugewandte Sprache — und so auch die Rechtssprache — ist nicht auf Eindeutigkeit hin angelegt. Soll aus der formell-positiven Rechtsnorm materiell-positive Rechtswirklichkeit werden, so müssen die abstrakten Begriffe der Rechtsnorm zu den Lebenssachverhalten hin geöffnet werden. Das geschieht in der konkreten Rechtsentscheidung, im juristischen Urteil. Im Urteil gewinnt das Recht Gestalt, wächst ihm die vertikale, transzendentale, anschauliche Sprachdimension zu, werden aus den grenzengebenden Klassenbegriffen Sinnganzheiten erfassende Ordnungsbegriffe (Funktionsbegriffe, Typen). Diese im juristischen Urteil konkretisierten Begriffe sind nicht mehr eindimensional, rein univok — in keinem Wirklichkeitsurteil tritt der univoke Begriff auf —, und sie dürfen es gar nicht sein, könnten sie doch sonst ihre Funktion, die Spannungen innerhalb der Rechtsidee — Gleichheit, Rechtssicherheit, Billigkeit — zum Ausgleich zu bringen, nicht erfüllen. So schafft die Sprache das Recht in zweifacher Weise: durch den Akt der Normsetzung und durch den Akt der Entscheidung. Beide Akte sind schöpferisch. „Die Norm", sagt Larenz ganz in diesem Sinne, „bedarf fortgesetzt der Entscheidung, um als Norm . . . in bestimmter Weise wirken zu können, die Entscheidung bedarf ihrerseits der Norm oder doch eines Prinzips, an dem sie sich ausrichten kann, weil anders sie nicht als Recht Geltung beanspruchen könnte". Gesetzeskraft und Rechtskraft sind notwendig aufeinander bezogen. Nicht daß die Rechtskraft stärker wäre als die Gesetzeskraft, wie Oskar Bülow meinte — es gibt gar keine Gesetzeskraft ohne Rechtskraft, wie es andererseits ohne Gesetzeskraft (ohne effektive Norm) auch keine Rechtskraft geben kann. Das ist kein Widerspruch zum Prinzip der Gewaltenteilung, vielmehr gerade seine wahre Bedeutung. Dieser Befund, „wonach die geistige Realität des Rechts in der Sprache — als Rechtssatz und Rechtsspruch — lebt", erklärt nun auch die eigentliche Geschichtlichkeit des Rechts. Entstünde das konkrete Recht nur mittels Deduktion aus der Rechtsnorm, so hätte auch es, wie diese, kein wirkliches Zeitsein. Daß jedoch der Prozeß der Rechtsverwirklichung ein sehr viel komplexerer ist, hat schon Engisch in seinen „Logischen Studien" (1943) aufgezeigt und durch das Bild vom „Hin- und Herwandern des Blickes" zwischen Norm und Lebenssachverhalt treffend veranschaulicht. Dasselbe habe ich dadurch auszudrücken versucht, daß ich von der Rechtsfindung sagte, sie sei ein „In-die-Entsprechung-Bringen, eine Angleichung, eine Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm", nämlich „einerseits Angleichung des Lebenssachverhalts an die Norm, andererseits Angleichung der Norm an den Lebenssachverhalt", wobei dieser Angleichungsprozeß nicht als ein Nacheinander, sondern als ein Zugleich zu verstehen ist. Und nichts anderes meint auch Tsatsos, wenn er sagt: „Die Erkenntnis des Geschichtlichen ist . . . nur dann möglich, wenn der der Spaltung von Sollen und Sein zugrundeliegende Dualismus in einer Einheit aufgehoben wird. Diese Methode . . . verkennt keineswegs die vorangegangenen Stufen der Erkenntnis. Ihre Bedeutung liegt darin, den Augenblick zu erkennen, in dem das Sollen Sein und das Sein Sollen wird. Es ist also ihre Eigenart, im Sein das Sollen und im Sollen das Sein zu erkennen, und das ist

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nur im Geschichtlichen möglich. Da nicht jedes Sein zugleich ein Sollen und jedes Sollen zugleich ein Sein ist, besteht die Aufgabe der geschichtlichen Betrachtung darin, das Wirkliche, in dem Sein und Sollen zur Einheit kamen, zu erkennen und zu •würdigen." In diesem „hermeneutischen Zirkel", der aber kein vitiöser ist, wie Kriele anzunehmen scheint, bewegt sich jeder Verstehensprozeß: Das Verständnis des einzelnen setzt bereits das Verständnis des Ganzen voraus, dieses ist aber nur auf dem Weg über das einzelne zu gewinnen. Der konkrete Lebenssachverhalt ist in seiner rechtlichen Relevanz nur verstehbar im Hinblick auf die in Betracht kommende(n) Rechtsnorm(en), der Sinn der Rechtsnorm(en) aber erschließt sich nur über das Verständnis des Lebenssachverhalts. Da, wo die Rechtsnorm zur Anwendung gelangt ist, Sollen und Sein zueinander in Entsprechung getreten sind, besitzt das Recht die Seinsweise konkret-geschichtlicher Existenz. Es ist als „konkretes Recht . . . durch Verzeitung in der sozialen Wirklichkeit zeiträumlich fixiertes Recht". „Es hat seinen individuellen Ort in der geschichtlichen Zeit" und ist damit der Welt, die keine Zweifel kennt, entrückt. „Der Gewißheit des rechtsgültigen Richterspruchs geht mithin ein Stadium rechtlichen Zweifels voraus." „Der Richter ist, um die Lösung der Rechtsfrage bemüht, selbst ein Fragender." Das kann er aber nur sein, wenn „eine Distanzierung zwischen ihm, dem Fragenden, und ihm, dem [von der Rechtsgemeinschaft um Auskunft] Befragten" erfolgt. „Die zur Konkretion angerufene Rechtsnorm mit der sie tragenden Willensgesinnung, an die ihr Dasein unlöslich geknüpft ist, müssen dem Fragenden innerlich so gegenübergestellt sein, daß er seine Frage an sie richten kann. Da der Richter keinen Augenblick aufhört,auch diese Rechtsnorm (oder Normengruppe) gesinnungsmäßig aufrechtzuerhalten, kann die vorzunehmende Distanzierung nur den logischen Sinn einer rechtslogischen Reflexion haben."

. . Das Innewerden geschichtlicher Existenz ist die Reflexion. Eine objektive Richtigkeit des Rechts außerhalb des methodischen Rechtsfindungsverfahrens kann es daher nicht geben. „Eine richtige Entscheidung", sagt Engisch, „ist eine methodengerecht begründete Entscheidung". Worauf es ankommt, ist daher „die Vollständigkeit der Reflexion und Argumentation im Verfahren der Auslegung". Dazu bedarf es des Könnens und der Erfahrung, der logischen Denkkraft und der Intuition, der Einübung und der Diskussion. Vor allem bedarf es — wegen der Beschränktheit und der Perspektivität des eigenen Standpunktes — der Kommunikation, der Auseinandersetzung und Konfrontierung mit den Standpunkten der anderen. Doch auch so läßt sich die Persönlichkeit bei einer rechtlichen Entscheidung als mitentscheidende Instanz niemals ganz ausschalten. Die Subjektivität kann nicht vollkommen eliminiert werden. Der Erkennende bleibt nicht außerhalb des Erkenntnisprozesses, sondern er nimmt — mit all seinen Vorurteilen, Interessen, Einstellungen — an diesem Prozeß teil. Solange er sich dieser subjektiven Elemente des Erkenntnisprozesses nicht bewußt ist, ist er ganz und gar abhängig von ihnen. Es gilt daher, die Vorurteilsstruktur transparent zu machen. Der nach Rechtserkenntnis Strebende muß sich selbst unter Ideologieverdacht stellen, muß in kritischer Selbstreflexion Einsicht in seine Abhängigkeiten zu gewinnen suchen, um sich von ihnen befreien zu können. Die Vorstellung, derjenige Richter besitze die größte Unabhängigkeit, der sich nur am Gesetz orientiere, ist naiv. Die Unabhängigkeit des Richters, überhaupt des Juristen, wächst vielmehr in dem Maße, in dem er sich seiner geschichtlichen und gesellschaftlichen Abhängigkeit bewußt wird . . .

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8. Werner Maihofer, Rechtstheorie als Basisdisziplin der Jurisprudenz. Aus: Jahrbuch für Ricbtssoyologie

und Recbtstbeorie, Bd. 2, Bielefeld 1972, S. 75-78.

. . . These 1: Rechtstheorie in eine der drei Basisdisziplinen der Jurisprudenz oder Grundlagenwissenschaften der Rechtswissenschaft, neben Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie. These 2: Rechtstheorie ist weder gleichzusetzen mit Dogmatik oder mit Methodologie des Rechts (Juristische Methodenlehre) noch mit den Allgemeinen Lehren über Inhaltsaussagen und Verfahrensweisen bestimmter positiver Rechte (Allgemeine Rechtslehre). These 3: Rechtstheorie ist weder einzuengen auf die Fragestellung einer Theorie der Positivität des positiven Rechts als ein „Sollen", das „Geltung" hat, noch auf die Verfahrensweise einer Erkenntnistheorie des geltenden Rechts. These 4: Rechtstheorie ist, über die Grundlegung der Rechtswissenschaft als Erkenntniswissenschaft hinaus, eine als Entscheidungswissenschaft und damit als Handlungswissenschaft betriebene Theorie für die Praxis der Rechtswissenschaft. These 5: Rechtstheorie ist damit wissenschaftliche Grundlegung der Rechtswissenschaft als Rechtsprechungswissenschaft, als Verwaltungswissenschaft wie als Gesetzgebungswissenschaft, d. h. ebenso der wissenschaftlich vorbereiteten und angeleiteten Rechtsdogmatik wie Rechtspolitik. These 6: Rechtstheorie ist somit eine nach Thematik und Methodik den gesamten Gegenstandsund Erkenntnisbereich des Rechts in allen seinen Aspekten und Perspektiven umfassende, auf Wissenschaftlichkeit des theoretischen Erkennens und praktischen Handelns gerichtete Normund Sozialwissenschaft, die, ihrem Gegenstand entsprechend, aus einer eigentümlichen Verbindung von Bewußtseinswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft betrieben werden muß. These 7: Analytische Rechtstheorie leistet die bewußtseinswissenschaftliche Fundierung und Orientierung Realistischer Jurisprudenz. Sie gewährleistet die formale Rationalität und Intersubjektivität der gedanklichen Setzungen und Schlüsse der Rechtswissenschaft. These 8: Analytische Rechtstheorie sichert zugleich die funktionale Rationalität der Termini und Figuren, der Institute und Normen des Rechts. Sie wacht damit übet die Begriffsrationalität und Systemrationalität des Gedankenapparats, aus dem die alltägliche praktische Arbeit am Recht mit wissenschaftlichen Methoden aus einem wissenschaftlichen System (Rechtssystem) theoretisch vorbereitet und praktisch angeleitet wird. These 9: Bewußtseinswissenschaftliche Durchdringung der Praxis des Rechts in einer Analytischen Theorie der Rechtswissenschaft zielt damit nicht nur auf die Gewährleistung und Sicherstellung der Widerspruchsfreiheit rechtlicher Setzungen und der Folgerichtigkeit rechtlicher Schlüsse in Hinsicht auf ihre durch die formale Intersubjektivität der „Denkevidenz" gestützte formale Rationalität im Sinne der formalen Logik. Sie erstrebt ebenso auch die Erhellung und Bestimmung der Struktur und Funktion der bei praktischer Arbeit am Recht verwandten theoretischen Gedankengebilde (wie z. B. Rechtsgeschäft oder -handlung) in Hinsicht auf ihre funktionale Rationalität im Gedankenzusammenhang des Rechtssystems. These 10: Eine bewußtseinswissenschaftliche Durchdringung der Akte des Juristen, die er bei seiner alltäglichen Arbeit am Recht vollzieht, stößt auf die verschiedensten Aspekte des Erkennens und Denkens, Entscheidens und Urteilens, Handelns und Begründens schon bei der sogenannten Anwendung von Recht (Reproduktion von Recht). Auf sie beziehen sich die verschiedenen Disziplinen einer Analytischen Rechtstheorie, von denen bisher im Umriß faßbar und auch in diesem Bande entfaltet werden: — Erkenntnistheorie und Logik(theorie),

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— Begriffstheorie und Systemtheorie, — Entscheidungstheorie und Informationstheorie, — Sprachtheorie und Argumentationstheorie des Rechts. These 11: Analytische Rechtstheorie leistet in allen diesen Hinsichten die ständige wissenschaftstheoretische Ergänzung und Berichtigung der die Theorie und Praxis der Rechtswissenschaft fundierenden und orientierenden Fragestellungen und Verfahrensweisen, durch Einbringung und Umsetzung hierfür geeigneter Methoden und Techniken bewußtseinswissenschaftlichen Fragens und Verfahrens aus der Grundlagendiskussion der Wissenschaftstheorie. These 12: Analytische Rechtstheorie hat damit im Gesamtzusammenhang ebenso der Spezialdisziplinen (der Rechtsdogmatik und Rechtspolitik) wie der übrigen Basisdisziplinen der Jurisprudenz (der Rechtssoziologie und der Rechtsphilosophie) die Stellung und Aufgabe eines bewußtseinswissenschaftlichen Gewissens der Rechtswissenschaft. These 13: Kritische Theorie des Rechts leistet demgegenüber die wirklichkeitswissenschaftliche Fundierung und Orientierung Realistischer Jurisprudenz. Sie gewährleistet die materiale Rationalität und Intersubjektivität der tatsächlichen Setzungen und Schlüsse der Rechtswissenschaft. These 14: Kritische Theorie des Rechts sichert zugleich die emanzipatorische Rationalität der Termini und Figuren, der Institute und Normen der Rechtswissenschaft. Sie wacht damit über die Begriffsrationalität und Systemrationalität als eines Gesellschaftsentwurfs, aus dem die alltägliche praktische Arbeit am Recht mit wissenschaftlichen Methoden theoretisch vorbereitet und praktisch angeleitet wird. These 15: Wirklichkeitswissenschaftliche Durchdringung der Praxis des Rechts in einet Kritischen Theorie der Rechtswissenschaft zielt damit nicht nur auf die Gewährleistung und Sicherstellung der sozialkritischen und ideologiekritischen Stimmigkeit und Haltbarkeit der gedanklichen Überbauung der tatsächlichen Verhältnisse, wie sie alles Recht über jede Gesellschaft darstellt, sondern auch auf die Erhellung und Bestimmung der Identität und Differenz der bei der praktischen Arbeit am Recht verwandten theoretischen Gedankengebilde in Hinsicht auf ihre emanzipatorische Rationalität im Wirklichkeitszusammenhang eines Gesellschaftssystems. These 16: Eine wirklichkeitswissenschaftliche Durchdringung der Akte des Juristen, die er bei seiner alltäglichen Arbeit am Recht vollzieht, stößt auf die verschiedensten Aspekte des Erkennens und Denkens, Entscheidens und Entwerfens, Handelns und Begründens von Recht (Produktion von Recht). Auf sie beziehen sich die verschiedenen Disziplinen einer Kritischen Theorie des Rechts: — Erkenntnistheorie als kritische Reflexion der konkreten Situation; — Gesellschaftstheorie als produktive Antizipation emanzipatorischer Konzepte; — Entwicklungstheorie als komparative Verifikation an paralleler Evolution; — Handlungstheorie als pragmatische Strategie konkreter Realisation. These 17: Kritische Theorie des Rechts leistet in allen diesen Hinsichten die ständige gesellschaftstheoretische Infragestellung und Erneuerung der in der Theorie und Praxis der Rechtswissenschaft angewandten Regelungen und Ordnungen durch die sozialkritische und ideologiekritische Überprüfung dieser rechtlichen Setzungen an den tatsächlichen Verhältnissen mittels der Einbringung und Umsetzung hierfür geeigneter Methoden und Techniken wirklichkeitswissenschaftlichen Fragens und Verfahrens aus der Grundlagendiskussion der Gesellschaftstheorie. These 18: Kritische Theorie des Rechts hat damit im Gesamtzusammenhang ebenso der Spezialdisziplinen wie der übrigen Basisdisziplinen der Jurisprudenz die Stellung und Aufgabe eines wirklichkeitswissenschaftlichen Gewissens der Rechtswissenschaft.

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These 19: Analytische Rechtstheorie und Kritische Theorie des Rechts gewährleisten und sichern damit zusammen die volle theoretische Durchdringung und methodische Erhellung der Praxis der Rechtswissenschaft als nicht nur Normwissenschaft ( : Bewußtseinswissenschaft, Geisteswissenschaft), sondern Sozialwissenschaft ( : Wirklichkeitswissenschaft, Gesellschaftswissenschaft). Erst aus diesen beiden Erkenntnisperspektiven und den sie konstituierenden Erkenntnisinteressen wird Gesamte Rechtswissenschaft möglich, in Hinsicht ebenso auf das Recht als Norm in einem Überbau des Bewußtseins über die gesellschaftliche Wirklichkeit und auf das Recht als Instrument nicht nur der kritischen Interpretation, sondern auch der konstruktiven Veränderung ebendieser Basis der Gesellschaft: bestehender schlechter hin zu künftigen besseren gesellschaftlichen Verhältnissen. These 20: Analytische Rechtstheorie und Kritische Theorie des Rechts ergänzen sich damit nicht nur in ihren komplementären: hier bewußtseinswissenschaftlichen, dort wirklichkeitswissenschaftlichen Perspektiven auf Recht und Rechtswissenschaft. Sie leisten in ihrer auf der einen Seite stärker auf die Reproduktion von Recht in der Anwendung bisherigen Rechts, auf der anderen Seite stärker auf die Produktion von Recht in der Setzung künftigen Rechts gerichteten Erkenntnisabsicht, damit zugleich die sich ergänzenden theoretischen Fundierungen und Orientierungen der Rechtswissenschaft als Rechtsprechungswissenschaft (Rechtsdogmatik) und als Gesetzgebungswissenschaft (Rechtspolitik), deren Fragestellungen und Verfahrensweisen sich in einer als Gesamte Rechtswissenschaft begriffenen und betriebenen Norm- und Sozialwissenschaft beiderseits durchdringen und befruchten: in einer nicht nur positiv argumentierenden, sondern kritisch reflektierenden Rechtsdogmatik in der Rechtsprechungswissenschaft ebenso wie in einer nicht nur konstruktiv argumentierenden, sondern positiv reflektierenden Rechtspolitik in der Gesetzgebungswissenschaft.

9. Werner Maihofer, Die Rechtsphilosophie als Garant der Menschlichkeit Aus: Maibofer, Jabr, (ed), Recbtstbeorie,

Frankfurt!Main

1971, S.

297-301.

. . . Dieselbe nicht nur produktive Funktion in Hinsicht auf die alltägliche Arbeit der Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, sondern regulative Funktion in bezug auf die aus allen diesen Dimensionen der Jurisprudenz in die Theorie und Praxis der Rechtssprechung und Gesetzgebung einfließende juristische Argumentation, stellen wir auch für die Rechtsphilosophie als dritte der Basisdizisplinen der Jurisprudenz fest, wenn wir uns auch hier mit wenigen Bemerkungen über diesen am Rand unseres Themas liegenden ebenso eigentümlichen wie unbedachten Sachverhalt begnügen müssen. In der Rechtsphilosophie wird die alle Stufen der juristischen Reflexion begleitende, zunächst und zumeist noch irrationale und implizite Reaktion unseres Rechtsgefühls, nach der wir uns bald bei den in dogmatischer, theoretischer oder soziologischer Argumentation gewonnenen Rechtslösungen „beruhigen", bald, in unserem Rechtsgefühl durch sie „unbefriedigt", zu einer über die bisherigen Dimensionen der Gesetzlichkeit, der Wissenschaftlichkeit und der Gesellschaftlichkeit jeweils hinausgehenden vertiefteren Reflexion angetrieben „fühlen", selbst zum Anlaß und Anhalt einer rationalen Explikation. Was wir schon immer „dunkel wissen", wenn unser Judiz sich bei bestimmten gesetzlich, wissenschaftlich oder gesellschaftlich richtigen Lösungen nicht „beruhigen" kann und will, soll hier nicht mehr nur formaler, sondern materialer rationaler und intersubjektiver Reflexion

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der Regelungen und Ordnungen des Rechts auf ihre Zweckrationalität und Wettrationalität „erhellt" und „aufgeklärt", d. h. in die Helle des Bewußtseins gehoben und ihr ausgesetzt werden. Solche Reflexion des Rechts aus rechtsphilosophischer Perspektive, nicht mehr nur auf seine formale Positivität: wie in rechtsdogmatischer Perspektive, auf seine formale Rationalität: wie in rechtstheoretischer Perspektive, oder auf seine Sozialität: wie in der rechtssoziologischen Perspektive, sondern auf seine Humanität überhaupt, ist nicht nur die notwendige Ergänzung der übrigen Perspektiven juristischer Reflexion, sondern zugleich ihre endgültige Berichtigung; auch und gerade, wenn wir diese letzten Register der Rechtsphilosophie bei unserer alltäglichen Reproduktion und Produktion von Recht in Rechtsprechung und Gesetzgebung nur ziehen, wenn sich nicht schon auf einer der anderen Ebene befriedigende Lösungen ergeben. Besteht auf den davorliegenden Stufen der juristischen Reflexion, auch wo wir, wie in der Rechtstheorie und Rechtssoziologie, über die logische Struktur der Normen und die soziologische Struktur der Fakten reflektieren, in Hinsicht auf die in solchen Normen und Fakten antreffbare axiologische Struktur von Rechtssätzen und Rechtssachverhalten noch ein Reflexionsverbot, so werden eben diese werthaften Voraussetzungen selbst jetzt zum Gegenstand rationaler Analyse und intersubjektive Reflexion. Dieses allen Wertungen auch im Recht Zugrundeliegende und Vorausgesetzte erhellen wir durch Offenlegung: Explikation der ontologischen und anthropologischen Prämissen und Implikationen, die sich in Strukturen humaner Realität und in Konzeptionen realer Humanität niederschlagen, in denen tausendfältige aus geschichtlicher Erfahrung gewonnene Antwort des Menschen auf die Frage stecken: worauf es mit ihm in dieser Welt hinaus soll. Alle Zwecke und Werte, die wir in zweckrationaler Analyse und wertrationaler Reflexion hier, als vom Menschen seinem Verhalten und den Verhältnissen in dieser Welt zugrundegelegt und vorausgesetzt, in Gedanken erfassen können, alle die Stellwerte von Zwecken und Rangverhältnisse von Werten, erörtert die Rechtsphilosophie nicht in abstrakter Spekulation aus einem Gedankengebilde vom Menschen und seiner Welt, sondern in konkreter Analyse der konkreten Situation. Sie nimmt dabei, anders als die Rechtsdogmatik, die Rechtstheorie und die Rechtssoziologie diesen Kontext der Situation, mit den sie bestimmenden und bedingenden rechtlichen Normen und gesellschaftlichen Fakten nicht als ein fertiges Resultat hin, das es nur zu interpretieren und zu reproduzieren gälte. Sie stellt im Gegenteil dieses geltende Recht und diese bestehenden Verhältnisse der Gesellschaft dadurch grundsätzlich in Frage, daß sie diese mit den konkreten Utopien konfrontiert, in denen sich das Bewußtsein eines Zeitalters artikuliert; wie für unsere Epoche der Moderne als einem Zeitalter der Gleichheit: die Rechtsutopie einer „weltbürgerlichen Gesellschaft" der größten und gleichen individualen und nationalen Freiheit und Sicherheit, im inneren wie im äußeren Staatenverhältnis, und der Sozialutopie einer „klassenlosen Gesellschaft" der größten und gleichen sozialen und humanen Wohlfahrt und Gerechtigkeit, in der Befriedigung der individuellen Bedürfnisse und Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten. Sie antizipiert jedoch nicht nur diese Konzeptionen realer Humanität, die in der konkreten Situation im Bewußtsein einer Zeit umgehen, sie studiert ebenso auch die in den Strukturen realer Humanität in dieser konkreten Situation sich abzeichnenden Tendenzen der Evolution, die sich nicht nur in Extrapolationen der Rechtsgeschichte, sondern auch der Rechtsvergleichung erschließen lassen. So gewinnt die Rechtsphilosophie in einem ständig über das positive Rechtsdenken und Gesellschaftsdenken der übrigen Disziplinen hinausgehenden transpositiven Rechtsdenken, den nicht nur in philosophischer Reflexion „in Gedanken" (theoretisch) entworfenen, sondern in wissenschaftlicher Analyse „in der Wirklichkeit" (praktisch) verifizierten, bzw. falsifizierten

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kritischen und produktiven Horizont, nicht nur der Kritik des bestehenden Rechts, sondern der Produktion künftigen Rechts. Auf diese Weise wird die Rechtsphilosophie für alle anderen Disziplinen der Jurisprudenz nicht nur zum Horizont der Reflexion des geltenden Rechts auf seine axiologischen Strukturen und zur Explikation der diesem Wertungshintergrund unseres Rechts selbst wiederum zugrundeliegenden ontologischen und anthropologischen Prämissen und Implikationen, sondern auch zum Horizont der Kritik des bestehenden Rechts und der Produktion künftigen Rechts, aus der konkreten Antizipation eines besseren, weil .menschlicheren Rechts, das nicht irgendwann und irgendwo wirklich möglich wäre, sondern dessen objektive reale Möglichkeit in der konkreten Situation gekommen ist und bevorsteht, und die es darum in Theorie und Praxis des Rechts umzusetzen gilt. So besteht die Ergänzung und Berichtigung der Perspektiven der übrigen Disziplinen der Jurisprudenz durch die der Rechtsphilosophie hier nicht nur einfach in der regulativen Funktion der rechtsphilosophischen Reflexion gegenüber den werthaften Voraussetzungen, die sich in den juristischen Argumentationen der Rechtsdogmatik, der Rechtstheorie und der Rechtssoziologie finden, und die erst hier methodisch und systematisch auf ihre menschliche Richtigkeit hin in Frage gestellt werden können, und danach erforderlichenfalls „berichtigt" werden müssen, sondern in der viel grundsätzlicheren Infragestellung des geltenden Rechts und der bestehenden Gesellschaft, einschließlich des ihm gleichsam als sein Axiogramm eingeschriebenen Wertungshintergrundes, wo immer in der konkreten Situation bereits der Ansatz und Anhalt eines künftigen besseren Rechts einer künftigen menschlicheren Gesellschaft in der Tendenz/Latenz der Juristischen Evolution äußerlich faßbar, oder doch innerlich spürbar wird. Bei einer solchen Bestimmung der Stellung und Aufgabe der Rechtsphilosophie im Bezug auf die übrigen Disziplinen der Jurisprudenz, wie sie ihr im Gesamtzusammenhang einer Realistischen Jurisprudenz zuwächst, erweist sich am Ende auch die letzte dieser Basisdisziplinen, mit ihrer die Erkenntnisinteressen und Erkenntnisperspektiven der übrigen ergänzenden und berichtigenden „Erkenntnis" eines künftigen besseren: menschlicheren Rechts, in der Tat noch grundsätzlicher als alle bisherigen, als Garant für die Menschlichkeit der juristischen Argumentationen der Rechtstheorie und der Rechtssoziologie, aber auch der Rechtsdogmatik und der Rechtspolitik, bei der Handhabung des geltenden und der Gestaltung des künftigen Rechts in Rechtsprechung und Gesetzgebung . . .

II. Beschlüsse der DKP

1. Thesen des Düsseldorfer Parteitages der DKP. Aus: Thesen des Düsseldorfer Parteitages der DKP, Düsseldorf 1971, S. 9—10, 15-17, 22-23. — Die , Thesen' sind im Wortlaut abgedruckt in: Einheit, 21, (1972), H. 1, S. 121—156. . . . These 3: Das staatsmonopolistische System überwinden In der Bundesrepublik ist der staatsmonopolistische Kapitalismus hoch entwickelt. Dieses System stellt die Vereinigung der Macht der Monopole mit der Macht des Staates dar. Das gesamte gesellschaftliche Leben wird den Profit- und Machtinteressen des Monopolkapitals untergeordnet. Eine zentrale Rolle bei der Mehrung des Reichtums und der Macht der Konzernherren, bei der Ausbeutung des arbeitenden Volkes spielt die staatliche Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik. Sie bürdet den Arbeitern und den Angestellten, den Bauern, den kleinen Gewerbetreibenden und den Angehörigen der Intelligenz ständig steigende Belastungen auf. Dem Monopolkapital sichert der Staat dagegen durch Subventionen, Steuergeschenke, Exportprämien, Investitionserleichterungen, Kredite, Rüstungsaufträge und Forschungsfinanzierung hohe Profite. Mit der „konzertierten Aktion" und den Lohnleitlinien greift der Staat heute unmittelbar in die Lohn- und Tarifauseinandersetzungen zugunsten des Großkapitals ein. So stößt die Arbeiterklasse im Kampf für ihre Forderungen nicht nur auf den Widerstand der Unternehmer und ihrer Verbände, auf die kapitalistische Meinungsmanipulierung, auf die politische Schlichtung und den Einsatz staatlicher Zwangsmittel, sondern sie gerät auch in einen direkten Konflikt mit der staatlichen Wirtschaftspolitik. Die ökonomischen Kämpfe der Arbeiter und Angestellten erlangen dadurch zunehmend politische Bedeutung. Die Wirklichkeit in der Bundesrepublik widerlegt das Gerede von einem „gewandelten" Kapitalismus, vom Staat als Vertreter des „Allgemeinwohls". Die Bundesrepublik ist nicht, wie es das Grundgesetz verlangt, ein sozialer Rechtsstaat, sondern ein unsozialer Staat des Großkapitals. Die D K P bekämpft die verstärkten Bemühungen, die Arbeiterklasse und ihre Organisationen den Interessen des Großkapitals und seines staatsmonopolistischen Systems unterzuordnen. Sie sieht ihre Aufgabe darin, der Arbeiterklasse und allen anderen nichtmonopolistischen Kräften bewußt zu machen, daß sie im Kampf um ihre elementaren Interessen nur dann dauerhafte Erfolge erreichen können, wenn das politische Kräfteverhältnis grundlegend zu ihren Gunsten verändert wird. Das staatsmonopolistische System muß überwunden werden. Die antimonopolistischen Kräfte, unter Führung der Arbeiterklasse, müssen sich die politische Macht, den entscheidenden Einfluß in allen Bereichen der Gesellschaft erkämpfen . . . . . . These 4: Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten Die neue Stufe der Konzentration ökonomischer Macht in den Händen des Großkapitals

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drängt zum weitern Abbau demokratischer Rechte, zur Verstärkung der politischen Reaktion. Hinter dem Schleier des Parlamentarismus konzentriert die zentrale Exekutive (die Bundesregierung und die Ministerialbürokratie) immer mehr Macht in ihren Händen. Die Rechte des Bundestages, der Länder und Gemeinden werden weiter eingeschränkt. Die Großkonzerne und Großbanken üben über die Unternehmerverbände, über ihre Parteien, über Lobbyisten, ihre Vertreter in den Parlamentsfraktionen und Beiräten der Ministerien ausschlaggebenden Einfluß auf die Gesetzgebung aus. Immer enger wird die Verflechtung des Monopolkapitals mit der Staatsbürokratie und den Spitzen der systemtragenden Parteien. Diese Kräfte haben die Gesetzgebungsinitiative weitgehend monopolisiert. Um seine Macht aufrechtzuerhalten und zu sichern, bedient sich das staatsmonopolistische System sowohl der Methode der Reformversprechungen, der Teilreformen und Zugeständnisse, als auch der offenen Gewaltanwendung. Nach wie vor setzen die Herrschenden auf den massiven Einsatz politischer Zwangs- und Gewaltmittel. Dafür wird die Notstandsverfassung bereitgehalten. Sie soll durch den Erlaß von Ausführungsbestimmungen noch perfektioniert werden. Das „Notparlament" wurde als ein spezielles Notstandsorgan eingerichtet und im Bundeskanzleramt ein „Krisenstab" gebildet. Der gesamte Polizeiapparat wird zentralisiert. Durch erneute Grundgesetzänderungen soll die Konzentration der staatlichen Macht vorangetrieben und die Verfassung weiter ausgehöhlt werden. Das verfassungswidrige KPD-Verbot wird als Druckmittel gegen alle demokratischen und sozialistischen Kräfte, insbesondere gegen die DKP, aufrechterhalten. Die Angriffe auf die DKP und andere demokratische Organisationen haben sich verschärft. Im Widerspruch zu den Verfassungsrechten werden Kommunisten, Mitglieder des Marxistischen Studentenbundes Spartakus und auch Jungsozialisten diskriminiert sowie durch faktische Berufsverbote verfolgt. Es bestätigt sich die Erfahrung, daß sich der Antikommunismus nicht nur gegen Kommunisten, sondern letztlich gegen alle Demokraten richtet. Die Verteidigung und Erweiterung der demokratischen Rechte und Freiheiten ist ein Grunderfordernis des erfolgreichen Kampfes der Arbeiterklasse und aller demokratischen Kräfte . . . . . . These 8: Die Notwendigkeit des Sozialismus Die Notwendigkeit des Sozialismus für die Bundesrepublik ergibt sich nicht aus Wunschvorstellungen der Kommunisten. Es sind die grundlegenden gesellschaftlichen Erfordernisse unserer Zeit, die zu einer neuen Gesellschaftsordnung, zum Sozialismus, drängen. Die Lösung der durch die unversöhnlichen Klassengegensätze geprägten grundlegenden gesellschaftlichen Probleme kann nicht im Rahmen des Systems erfolgen, auf dessen Boden sie entstanden sind. Notwendig ist eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft. Notwendig ist die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Der Sozialismus ist notwendig, weil das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln längst zum Haupthindernis des gesellschaftlichen Fortschritts geworden ist. Der Sozialismus ist notwendig, weil nur auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln die Möglichkeiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zur Verbesserung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der arbeitenden Menschen voll genutzt und die Sicherheit der Arbeitsplätze gewährleistet werden können. Der Sozialismus ist notwendig, weil die Entwicklung der Produktivkräfte, die Konzentration der Produktion, der Zwang, immer größere gesellschaftliche Mittel für Investitionen aufzuwenden, eine gesamtgesellschaftliche Planung erfordern. Der Sozialismus ist notwendig, weil der Kapitalismus unfähig ist, den arbeitenden Menschen die aktive Teilnahme an den wichtigen Entscheidungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft

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zu ermöglichen. Die Praxis des Sozialismus in der Sowjetunion, in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern zeigt dagegen: Der Sozialismus ermöglicht die aktive demokratische Mitwirkung aller Werktätigen. Wo die Arbeiterklasse regiert, ist das Mitplanen, Mitentscheiden und Mitregieren jedes einzelnen Werktätigen eine Grundbedingung für die erfolgreiche Entwicklung. Der Sozialismus ist notwendig, weil die arbeitende Bevölkerung eine wahrhaft menschliche Gesellschaft braucht, in der die Voraussetzungen für die volle Entfaltung der Persönlichkeit gegeben, die Ursachen für die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und für die Ausrottung des Menschen durch den Menschen überwunden sind. Der Sozialismus schafft die Grundlagen für ein Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit. Die sozialistische Gesellschaftsordnung setzt die Erringung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse im Bündnis mit den anderen werktätigen Schichten voraus. Der Sozialismus gründet sich auf das gesellschaftliche Eigentum an allen wichtigen Produktionsmitteln. Er erfordert die planvolle und rationelle Nutzung und Mehrung aller gesellschaftlichen Quellen und Mittel zum Wohle des ganzen Volkes. Immer bessere Befriedigung der wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Mitglieder der Gesellschaft, ein Leben in Frieden, sozialer Sicherheit und Wohlstand, das ist der Sinn des Sozialismus. Dafür kämpft die D K P . . . . . . These 9: Antimonopolistische Demokratie In der Bundesrepublik sind die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus mit dem hohen Entwicklungsstand der Produktivkräfte und dem Grad der Vergesellschaftung der Produktion längst herangereift. Die Entwicklung zum Sozialismus vollzieht sich jedoch nicht automatisch. Er kann weder importiert werden, noch kommt er durch einen Putsch oder eine Verschwörung zustande. Der Sozialismus kann nur das Ergebnis des Kampfes der Arbeiterklasse und der Volksmassen selbst sein. Deshalb ist die Politik der DKP darauf gerichtet, die Arbeiterklasse und andere antimonopolistische Kräfte vom Kampf für ihre unmittelbaren sozialen und politischen Interessen über das Ringen für grundlegende antimonopolistische Umgestaltungen an die Erkenntnis der Notwendigkeit des Sozialismus und an die sozialistische Umwälzung heranzuführen. Es wird in der Bundesrepublik keinen gesellschaftlichen Fortschritt geben, ohne den Kampf der Arbeiterklasse und der anderen demokratischen Kräfte um die Durchsetzung ihrer elementaren sozialen Interessen, um die Verteidigung und Erweiterung der demokratischen Rechte und Freiheiten, um die Bändigung des Militarismus, für Abrüstung und eine wirkliche Friedenspolitik; In diesem Kampf entwickelt sich das Klassenbewußtsein, wächst die Organisiertheit der Arbeiterklasse, der entscheidenden Kraft im Kampf um antimonopolistische Umgestaltungen und für den Sozialismus. Um die vereinigte Macht der Monopole und ihres Staates zu überwinden ist die Sammlung aller vom Monopolkapital Unterdrückten und Ausgebeuteten in einem breiten, Bündnis unter Führung der Arbeiterklasse notwendig. Gerade weil für die DKP der Kampf für den Sozialismus keine Phrase, sondern das Ziel ist, dem ihre ganze Tätigkeit gilt, sieht sie ihre Aufgabe darin, jene realen Wege und Übergänge zu finden, die die Arbeiterklasse an den Kampf um den Sozialismus heranführen. Wie sich die Entwicklung zum Sozialismus konkret vollziehen wird, darüber entscheidet der Klassenkampf. Die D K P erstrebt, wie es in ihrer Grundsatzerklärung heißt, den für das arbeitende Volk günstigsten Weg zum Sozialismus. Sie erstrebt einen Weg ohne Bürgerkrieg. Es waren immer die herrschenden reaktionären Klassen, die zur Rettung ihrer Macht und ihrer Vorrechte blutige Gewalt gegen das Volk anwandten. Nur im harten Klassen- und Volkskampf gegen den unvermeidlichen Widerstand der großkapitalistischen Interessengruppen

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kann die antimonopolistische und sozialistische Volksbewegung die Kraft erlangen, um die Reaktion an der Anwendung von Gewalt zu verhindern. Aufgrund der heutigen Bedingungen des Klassenkampfes geht die D K P davon aus, daß der Kampf der Arbeiterklasse und der anderen demokratischen Kräfte um die demokratische Erneuerung von Staat und Gesellschaft, um eine antimonopolistische Demokratie, am besten geeignet ist, den Weg zum Sozialismus zu öffnen. Die D K P erstrebt diese Umgestaltung auf der Basis der im Grundgesetz verkündeten demokratischen Prinzipien und Rechte. Eine antimonopolistische Demokratie hat die grundlegende Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses, die Erkämpfung einer von der Arbeiterklasse geführten und gemeinsam mit allen antimonopolistischen Kräften getragenen Staatsmacht zur Voraussetzung. Durch die Überführung der Grundstoff- und Schlüsselindustrien, der marktbeherrschenden Unternehmen, der Bankkonzerne und großen Versicherungsgesellschaften, der Pressemonopole und Kulturkonzerne in gesellschaftliches Eigentum — bei demokratischer Kontrolle durch die Arbeiterklasse, die anderen antimonopolistischen Kräfte und ihre Organisationen — wird die ökonomische Macht des Monopolkapitals gebrochen. In dem Maße, wie durch den Kampf der Arbeiterklasse und der anderen antimonopolistischen Kräfte der staatsmonopolistische Kapitalismus überwunden wird, werden auch die schärfsten Formen der kapitalistischen Ausbeutung, die Ausbeutung durch die Monopole und den monopolkapitalistischen Staat beseitigt. Die D K P geht davon aus, daß die antimonopolistische und die sozialistische Umwälzung miteinander verbundene Entwicklungsstadien in dem einheitlichen revolutionären Prozeß des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus sind. Deshalb ist der Kampf um die antimonopolistische Demokratie Bestandteil des Kampfes um den Sozialismus . . . . . . These 14: Demokratische Rechte verteidigen und erweitern Die Interessen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten erfordern die Verteidigung der demokratischen Grundrechte und Freiheiten und den Kampf um ihre Erweiterung. Diese Rechte wurden den reaktionären Kräften vor allem durch den Kampf der Arbeiterbewegung abgerungen. Mögen sie heute auch noch so begrenzt und formal sein, sie können und müssen von der Arbeiterklasse als Waffe im Kampf für ihre Gegenwarts- und Zukunftsinteressen genutzt werden. Die Notstandsgesetze, alle Veränderungen oder Ergänzungen des Grundgesetzes, alle Gesetze und Verordnungen, durch die demokratische Grundrechte und Freiheiten eingeschränkt oder aufgehoben werden, müssen rückgängig gemacht werden. Die DKP stellt den verfassungsfeindlichen Plänen des Großkapitals und seiner politischen Vertretungen, demokratische Inhalte des Grundgesetzes weiter auszuhöhlen, umzufälschen oder außer Kraft zu setzen, den Kampf um die Rettung und Ausweitung der demokratischen Rechte und Freiheiten entgegen. Wir Kommunisten schlagen allen fortschrittlichen Kräften vor, gemeinsam dafür zu wirken, daß die demokratischen Grundsätze der Verfassung im Interesse der arbeitenden Bevölkerung durchgesetzt und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens demokratisiert werden. Die Arbeiter und Angestellten müssen über ihre Gewerkschaften und andere demokratische Organisationen Einfluß auf die staatlichen Entscheidungen erringen. Wirksame Mitbestimmung in allen Bereichen der Gesellschaft, Volksabstimmungen, Volksbegehren und Volksentscheide, die gesetzlich festzulegende Verpflichtung, Vorschläge und Gutachten der Gewerkschaften bei wichtigen Gesetzesmaßnahmen zu berücksichtigen — das sind notwendige Schritte, mehr Demokratie zu verwirklichen. Die DKP tritt dafür ein, daß alle bedeutenden Gesetzesänderungen öffentlich diskutiert werden. Das Streikrecht, einschließlich des Rechts auf den politischen Streik, ist im Grundgesetz zu verankern und die Aussperrung als verfassungswidrig zu verbieten. Die D K P fordert das uneinge-

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schränkte Verhältniswahlrecht, die Abs haffung der undemokratischen Sperrklauseln bei den Wahlen, die Beseitigung der staatlichen Parteienfinanzierung und die Erfüllung des Grundgesetzgebotes nach Offenlegung der Finanzierung der Parteien. Die DKP kämpft für die Aufhebung des verfassungswidrigen KPD-Verbots und gegen alle Repressalien, die sich gegen demokratische Kräfte richten. Je stärker die Arbeiterklasse den außerparlamentarischen Kampf entfaltet, um so größer werden auch die Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Parlamente und in den Parlamenten. Die Interessen aller arbeitenden Menschen verlangen, daß ihre konsequenten Vertreter, die Kommunisten, in die Parlamente gewählt werden. Kommunisten ins Parlament, das heißt Abgeordnete wählen, die täglich ihre Bewährungsprobe als unbestechliche Kämpfer gegen das Großkapital, als Betriebsräte und Vertrauensleute bestehen. Kommunisten im Parlament bedeutet, daß endlich auch dort von dem gesprochen wird, was den Interessen der arbeitenden Menschen dient. Durch die Arbeit von Kommunisten in den Parlamenten verbessern sich so auch die Bedingungen für den außerparlamentarischen Kampf . . .

2. Entschließung des Hamburger Parteitages der D K P . Aus: Protokoll des Hamburger Parteitages der DKP, Düsseldorf 1974, S. 453—454. . . . Die DKP kämpft als Teil der Arbeiterklasse der Bundesrepublik für folgende nächste Hauptforderungen: — Für die strikte Einhaltung und Verwirklichung der Verträge und den Ausbau fruchtbarer Beziehungen mit den sozialistischen Ländern; für einen konstruktiven Beitrag der Bundesrepublik zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa — Für eigene Beiträge der Bundesrepublik zur Rüstungsbeschränkung im Interesse des Friedens und der Finanzierung dringender Anliegen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie im kulturellen Bereich. — Für antiimperialistische Solidarität mit allen Kämpfern gegen Ausbeutung und Unterdrückung, vor allem mit dem vietnamesischen Volk und der chilenischen Arbeiterklasse. — Für Reallohnerhöhungen durch eine aktive Lohnpolitik und Teuerungszulagen gegen Inflationsverluste; Preisstopp unter öffentlicher Kontrolle, vor allem für Grundnahrungsmittel, Heizung und Mieten sowie die öffentlichen Tarife und Dienstleistungen; sofortige Anpassung der Renten und Sozialeinkommen an die Lohn- und Gehaltsentwicklung. — Für die Senkung der Lohnsteuern und Sozialabgaben der Arbeiter und Angestellten; stärkere Besteuerung der Profite und Vermögen der Konzerne, Großaktionäre und Großgrundbesitzer. — Für eine wirksame Mitbestimmung der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften, die die Preis-, Investitions- und Gewinnkontrolle sowie die Rechenschaftspflicht der gewählten Arbeitervertreter und ihre Kontrolle durch Belegschaften und Gewerkschaften einschließt. — Für die Überführung der marktbeherrschenden Unternehmen und Bankkonzerne sowie der Rüstungsindustrie in öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle durch die Arbeiterklasse, die anderen antimonopolistischen Kräfte und ihre Organisationen. — Für ein demokratisches Miet- und Bodenrecht, das Sozialmieten einschließt, die 12 Prozent des Nettoeinkommens des Hauptverdieners nicht überschreiten dürfen; wirksamen Kündigungsschutz; Bestrafung des Bodenwuchers und Einziehung der Spekulationsgewinne zugunsten des sozialen Wohnungsbaus; Uberführung des Großbesitzes an Grund und Boden in den Städten und Ballungszentren in kommunales Eigentum.

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— Für wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Verseuchung von Luft, Wasser und Boden. Die großkapitalistischen Verursacher der Umweltschäden müssen für deren Beseitigung aufkommen und zur Finanzierung vorbeugender Umweltschutzmaßnahmen herangezogen werden. — Für eine demokratische Bildungsreform, die auf die Beseitigung des Bildungsprivilegs gerichtet ist und den Zugang der Arbeiter- und Bauernkinder zu allen Schul- und Hochschuleinrichtungen besonders fördert; entscheidende Verbesserung der Berufsausbildung; Beseitigung des Numerus clausus; Schaffung von kleinen Klassen; Beseitigung reaktionärer Bildungsinhalte und Entwicklung demokratischer Unterrichtsstoffe; Mitbestimmung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen, der Lernenden und Lehrenden. — Für die volle Gleichberechtigung der Frauen und Jugendlichen in Betrieb, Wirtschaft und Gesellschaft ; für gleichen Lohn bei gleichwertiger Arbeit; für die Schaffung von Jugendzentren bei demokratischer Mitbestimmung der Jugend, für Kinderkrippen, Ganztagsschulen und Kinderspielplätze. — Für die Gleichberechtigung der ausländischen Arbeiter, gegen jegliche Diskriminierung; für gleichen Lohn, volle Freizügigkeit in der Wahl des Arbeitsplatzes menschenwürdige Wohnungen zu sozialen Mieten; für das aktive und passive Wahlrecht und die ungehinderte politische Betätigung. — Für die Verteidigung und Erweiterung der demokratischen Rechte und Freiheiten des Volkes; für die Beseitigung der verfassungswidrigen Berufsverbote für Kommunisten und andere Demokraten; für die Aufhebung des KPD-Verbots; für einen wirksamen Schutz der Jugendvertreter; für die Verteidigung des Streikrechts der Arbeiter, Angestellten und ihrer Gewerkschaften; für die Aufhebung der Notstandsgesetze und die Abwehr aller Angriffe auf die demokratischen Prinzipien des Grundgesetzes . . .

Namenverzeichnis

Abendroth 94, 118, 122 Adamo 118 Adomeit 50 Adorno 85, 93 Albert 8, 19, 35, 53, 117 Alberts 111 Aichourron 53 Allen 49 Anders 17 Arbatow 24, 116 Aristoteles 32 Ayer 22 Ballweg 8, 10, 117 Bamberg 17 Bartel 73 Bauer, A. 75 Bauer, F. 122 Bauer, I. 71 Bauermann 104 Baumann 110 Baumgarten 25 Bayer 73 Becker 106 Benda 75, 111 Bergbohm 42 Bertalanffy 71 Betti 93 Beyer, W. R. 30, 31, 47, 54, 67, 82, 104, 114 Beyme 68 Biedenkopf 120 Bierstedt 69 Blankenburg 71 Blühdorn 36 Böckle-Böckenförde 8, 125 Böhler 104, 119, 124 12

Klenner, Rechtsphilosophie

Bollnow 106 Brecht 37 Bredemeyer 72 Breuer 73 Brinkmann 7, 9 Brodmann 113 Brown 125 Brunner 52, 112, 113 Buhr 82 Bull 115 Bulygin 53 Calliess 83 Canaris 19, 32 Cañizares 21 tapek 16 Cernikow 118 Cerroni, N. 44 Chikhkvadze, V. M. 47 Cicero 33 Coing 8, 30, 34, 42, 93, 114 Cornu 77 Cornforth 19 Cottier 115 Dahrendorf 88 Däubler 74, 121, 122 Degen 121 Denninger 106, 122 Denzer 125 Descartes 23 Deutsch 72 Diederichsen 32 Dietze 114 Dilthey 93 Doehring 19

Domin 75 Dreier 57 Dubischar 7 Dürrenmatt 12, 46 Ebbinghaus 8, 123 Ehmke 38, 125 Ehrenzweig 8, 115 Ehrlich 7 Einsele 25 Eisler, H. 127 Ellscheid 81, 83 Eley 60 Emge 7, 13 Engels, F. 17, 73, 77, 112, 126, 128, 130, 133 Engisch 7, 8, 22, 82 Erdmann 79 Ermacora 48 Esbroeck 81 Esser 8, 12, 38, 39, 57, 81, 83 Fechner 7, 49, 97, 112, 117 Feuerbach, L. 77, 92, 107 Feuchtwanger, L. 29 Fikentscher 120 Flach 98 Franssen 58 Freyer 74 Friedmann 8, 11, 19 Frisch 45 Forsthoff 17 Gadamer 78, 81 Gawrilow 60 Gedö 116 Geffken 88, 89, 122 Gehlen 74, 107 Geiger 7 Geulen 19 Goethe 67 Goldschmidt 7 Gomperz 33 Gorski 60 Gottschling 67 Grahn 91 Gregor 22 Grimaldi 33

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Grimmer 64 Grotewohl 30 Häber 116 Habermas 19, 77, 80, 82, 85, 111 Hager 116 Hall 133 Hanacik 121 Haney 30, 37, 91 Hannover 122 Hart 8 Hartmann, B. 121 Hartmann, N. 34 Hartmann, P. 81 Hasse 82 Hassemer 8, 47, 80, 81, 84 Hayek 52 Hegel 33, 66, 134 Heidegger 82, 104 Heise 116 Henkel 7, 11, 43 Hennis 32 Henrichs 78 Hess 127 Hinderling 93 Hippel, E. 10, 20, 51, 52, 115 Hippel, F. 8, 113 Hirsch 7 Hobbes 134 Hoover 19 Hollerbach 25 Horkheimer 85 Horn, D. 28 Horn, N. 32 Horvarth 8 Hruschka 20, 93 Huber, H. 8, 17, 111, 116 Hueck 63 Huhn 82 Iwin 60 Jahr 8, 98 Jawitsch, L. S. 21, 50 Jerusalem 8, 112 Jörgensen 21, 42 Jopke 116 Jung 123

Kahn 11 Kant 33, 109 Kasimirtschuk 54, 60 Kästner 33 Kaufmann, A. 7, 8, 47, 77-94, 111, 116, 117 Kaufmann, E. 51 Kaupen 71, 89, 90 Kautsky 112 Kelsen 7, 4 4 - 5 7 Kempski 7 Kerimow 21, 41, 60 Kirchmann 112 Klaus 36, 82 Klein 77 Klug 40 Klüver 100, 102 Knoll 114 Kogan 60 Kogen 122 Kopnin 41 Kraft 130 Krahl 51 Kramer, E. 32 Kramer, H. 24, 44 Krawietz 60 Kriele 7, 12, 19, 36, 57, 120, 123 Krockow 51 Küchenhoff 8, 128 Kudrjawzew 60 Kunz 81 Lampe 8, 38, 107 Lanfermann 72, 75 Lang, H. 74 Lang, G. 69 Lang-Hinrichsen 113 Larenz 8, 21, 32, 54, 93, 104 Lautmann 8, 71, 88, 90 Leicht 84, 93 Lederer 122 Ledwohn 73 Legaz 7 Lehmann, L. 122 Leinweber 119 Lenin 28, 39, 40, 41, 61, 66, 131, 132, 133 Lenk, H. 9, 13 Lepsius 25 12*

Leser 46 Levi 38 Levy-Bruhl 13 Ley, H. 69 Liebknecht 79, 88, 90 Llompart 31 Losano 60 Löwe 72, 75 Löwisch 124 Lübbe 24, 71, 106 Lüderssen, K. 53 Ludz 20 Luhmann 8, 12, 19, 58-76, 83, 117, 124 Lukacs 124 Lundstedt 112 Luthe 107 Luxemburg 48 Maihofer 7, 8, 9, 9 5 - 1 1 0 Majoros 111 Makkonen 28 Mall 37 Mamut 103 Mansel 98 Marchais 133 Marcic 8, 44, 52, 53, 91, 115, 123 Marcuse 85 Mark 106 Martin 72 Marx 17, 77, 92, 107, 126, 128, 130, 133 Maus 72 Mayer-Maly 68, 124 Meister 51, 55 Meißner 112, 116, 120 Merkl 49, 52, 55 Messner 7 Metall 57 Meyer, J. 63 Michels 122 Mirkin 44 Mocek 75 Mokitschew 56, 79, 116 Mollnau 112 Montesquieu 28 Müller, Fr. 8, 43, 122 Müller, Th. 69 Mundorf 98

Münstermann 59 Murphy 72 Myslivcenko 106 Narski 36 Naucke 8 Nedbailo 91 Negt 85 Nipperdey 63 Noll 9, 34, 128 Norman 72 Oiserman 23, 77 Opp9 Ostermeyer 63, 82 Otte 37 Pälicke 75 Parsons, T. 61, 70, 72, 73, 75 Paschukanis 130 Pawlow 36 Pawlowski 81 Paul 79, 84, 91, 103, 119, 124 Perelman 31, 3 5 - 3 9 , 43 Pernthaler 11 Peschka, V. 45, 90 Petri, Z. 30 Petrow, B. S. 21, 50 Pfarr, H. M. 79 Pigolkin 69 Pöggeler 78 Polak 55 Popkow 106 Popper 19, 36, 53 Pound 9 Priester 84, 100, 102, 103 Preuß 122 Rabofsky 55, 121 Radbruch 7, 25, 29, 30, 115, 124 Raiser 106 Rajewski 63, 122 Ramm 122 Rasehorn 43, 82, 89 Ratinow 60 Reich, N. 119 Rehbinder 7, 8

180

Renner 46 Ridder 122, 123 Ringhofer 50 Ritter 36 Röder 68, 118 Roellecke 123 Römer 45, 122 Rommen 113 Rotter 64, 71 Röttscher 104 Rottleuthner 9, 10, 82, 88 Rousseau 134 Rüge 92 Rüssel 35, 36 Rüthers 29, 82 Ryffel 8, 40, 106, 111 Sartre 97 Saß 106 Sauer 7 Savigny 42 Schabad 118 Scheel 98 Scheler 61 Schelskf 67, 71, 75, 83 Scheuerle 53 Schild, W. 50 Schillert 73 Schleifstein 123 Schljachow 60 Schmelzeisen 8 Schmidt, E. 28, 29 Schmidt, H. 117 Schmidt, J. 100, 102 Schmitt, C. 51, 55, 57, 64 Schmitz 9 Schneider, G. 98 Schneider, H.-P. 122 Schneider, P. 39 Schönfeld, W. 114 Schreiber 8 Schroth 80 Schuffenhauer 77 Schulz, W. 118 Schwan 109 Schweinichen 114 Schwerdtner 35, 120

Seiffert, H. 22, 82 Sforza 7, 115 Skvotcov 116 Sleumer 125 Smend 70 Sommerville 39 Staff 122 Staudinger 79 Stegmüller 22 Steigerwald 104, 120 Stein 68 Steiner 89 Stirner 105 Stockhammer 57 Stone 98 Stroux 33 Struck 43 Stuby 14, 17, 19, 122, 123 Sturmfels 9 Stutschka 132, 133 Stüttgen 24, 113 Summers 127 Szabö 21, 70, 79, 91 Szotäczky 29, 91 Tammelo 8, 23, 47, 85, 106 Tichomirow 60 Tiedemann 122 Tomberg 113 Topitsch 20 Trappe 8 Troller 7, 8, 17, 130 Trusow 60

Tschugunow 60 Tumanow 18, 41, 56, 116 Utz 7, 20, 69 Verdroß 7, 20 Viehweg 8, 10, 16, 31-43 Wagner, I. 91, 122 Walter 46, 53 Warnke 67 Warnkönig 112 Wassermann 24, 111 Weber, M. 7, 46 Weichelt 118 Weinkauff 28, 58, 96, 126 Welzel 7, 24, 53, 63 Weyr 46 Weyrauch 89 Wieacker 113 Wiethölter 8, 17, 120 Willgerodt 73 Winkler 17 Wittkämper 62 Wolf, E. 8, 19, 102, 107, 111, 114 Wolmar 55 Wroblewski 50, 60 Würtenberger 8 Zacher 101-104 Zak 75 Zimmermann, B. 60 Zippelius 8, 33, 72