Geschichte Rußlands 1789–1861: Der Feudalismus in der Krise [Reprint 2021 ed.] 9783112563663, 9783112563656


184 112 86MB

German Pages 244 [257] Year 1979

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Geschichte Rußlands 1789–1861: Der Feudalismus in der Krise [Reprint 2021 ed.]
 9783112563663, 9783112563656

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Fritz Straube/Wilhelm Zeil Geschichte Rußlands 1789-1861

Fritz Straube/Wilhelm Zeil

Geschichte Rußlands 1789-1861 Der Feudalismus in der Krise

Akademie-Verlag • Berlin 1978

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str 3—4 Akademie-Verlag Berlin 1978 Einband und Schutzumschlag: Rolf Kunze Lizenznummer: 202 • 100/108/78 Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer: 7534640 (6476) • LSV 0255 Printed in G D R D D R 19,50 M

Inhalt

7

Einleitung Kapitel I Kapitel II

Die fortschreitende Zersetzung der Feudalwirtschaft a m E n d e des 18. und im ersten Viertel des 19. J a h r h u n d e r t s

13

Die politisch-gesellschaftliche Entwicklung R u ß l a n d s u m die W e n d e vom 18. z u m 19. Jahrhundert

33

Kapitel III ' Vaterländischer Krieg und europäischer Befreiungskampf

59

Kapitel IV

Die Zeit der Dekabristen

78

Kapitel V

Die Krise der feudalen Wirtschaft R u ß l a n d s im zweiten Viertel des 19. J a h r h u n d e r t s und die Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse • 101

Kapitel VI

D a s nikolaitische Regime und der antifeudale K a m p f der Volksmassen R u ß l a n d s

119

Kapitel VII

A u f der Suche nach einer neuen revolutionären Ideologiè

143

Kapitel VIII

Die russische K u l t u r auf d e m Wege zur Weltgeltung

169

Kapitel IX

Die nikolaitische Außenpolitik bis z u m Krimkrieg

191

Kapitel X

Der Krimkrieg 1 8 5 3 - 1 8 5 6

211

R e v o l u t i o n ä r e Situation und A u f h e b u n g der Leibeigenschaft : Fazit einer Entwicklung

223

Bibliographie

228

Quellennachweis der A b b i l d u n g und der K a r t e n

234

Register

235

Einleitung

Die rund .2000 Jahre umfassende Geschichte Rußlands erstreckt sich von der Urgesellschaft und der Genesis slawischer Stämme und staatlicher Gebilde im osteuropäischen Raum bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, der ersten siegreichen proletarischen Revolution in der Menschheitsgeschichte. Die Kenntnis der historischen Vergangenheit des ersten sozialistischen Staates der Welt bildet einen integrierenden Bestandteil des sich immer mehr bereichernden und vertiefenden marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes. Im Verlaufe der langen und Wechselvollen Geschichte Rußlands kam es zur Herausbildung, zur vollen Entfaltung und zum Niedergang mehrerer sich gegenseitig ablösender Gesellschaftsformationen : der Urgesellschaft, des Feudalismus und des Kapitalismus. In dieser historischen Kette waren von jeher jene Perioden von besonderem Interesse, die den Übergang von einer Gesellschaftsformation zur anderen zum Inhalt hatten. Ihr hoher Erkenntniswert liegt darin begründet, daß in ihnen in sehr unterschiedlichen historischen Erscheinungsformen gleichsam die niedergehende alte Gesellschaft und die aufstrebende neue präsent waren, und zwar nicht in einem bloßen Nebeneinander, sondern in einem widerstreitenden, höchst komplizierten Miteinander. Im vorliegenden Buch wird ein besonders wichtiger Abschnitt des historischen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in der Geschichte Rußlands dargestellt : die spannungsgeladene Periode von 1789 bis 1861. Dieser Zeitabschnitt ist vor allem deshalb bedeutungsvoll, weil .er die letzte, die bürgerliche Ausbeuterordnung in der russischen Geschichte einleitete, die schon in ihrem Werden, zuerst keimhaft, jene Elemente in sich trug, die den Kapitalismus später selbst sprengen und zum Sozialismus führen mußten. Die grundlegenden historischen Gesetzmäßigkeiten, die den Sieg der Oktoberrevolution bedingten und die für alle Länder allgemeingültig sind, begannen bereits in der Ablösungsphase des Feudalismus durch den Kapitalismus sich in Gestalt ausformender kapitalistischer Klassenantagonismen, der qualvollen Evolution einer revolutionären Ideologie, des Aufkommens der Arbeiterklasse - und proletarischer Kampfformen herauszubilden. Beim Studium dieser Periode der Geschichte Rußlands wird der Leser neue Einsichten über das Wirken historischer Gesetzmäßigkeiten gewinnen und anhand konkreten Materials anschaulicher erfassen, wie qual- und widerspruchsvoll, aber dennoch unaufhaltsam der geschichtliche Fortschritt sich den Weg bahnte. Die Pjeriode von 1789 bis 1861, die als Krise des Feudalsystems in Rußland zu bezeichnen ist, fallt weltgeschichtlich in die durch die Große Französische Revolution von 1789 bis 1794 eingeleitete und bis 1871 währende Epoche der Durchsetzung des Kapitalismus im Weltmaßstab. Lenin kennzeichnete den Zeitraum von 1789 bis»l871 unter universalhistorischem Aspekt als „die Epoche des Aufstiegs und des vollen Sieges der Bourgeoisie", als „die Epoche der bürgerlich-demokratischen Bewegungen im

8

Einleitung

allgemeinen und der bürgerlich-nationalen im besonderen, die Epoche, in der die überlebten feudalabsolutistischen Institutionen rasch zerbrochen" wurden. 1 Die Französische Revolution von 1789 bis 1794 zertrümmerte den Feudalismus in Frankreich, errichtete in diesem Land die Herrschaft der Bourgeoisie und brachte „der ganzen Welt solche Grundfesten der bürgerlichen Demokratie, der bürgerlichen Freiheit. . ., die nicht mehr zu beseitigen waren." 2 Seit dem ausgehenden 18. Jh. stand die Wehgeschichte maßgeblich im Zeichen der Ideen und der Taten der bürgerlichen Revolution in Frankreich. Die Französische bürgerliche Revolution und die von ihr geprägte Epoche waren in einem langen welthistorischen Entwicklungsprozeß herangereift, dessen Anfange bereits im 16. Jh. lagen und der von solchen Marksteinen gekennzeichnet ist wie dem Großen Deutschen Bauernkrieg von 1524/25 als der ersten frühbürgerlichen Revolution und den Revolutionen des 16. und des 17. Jh.'in den Niederlanden und in England. Der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg von 1776 bis 1783, der den Charakter einer bürgerlichen Umwälzung trug und über die Grenzen der USA hinaus die bürgerlichnationale Befreiungsbewegung der lateinamerikanischen Völker förderte, läutete bereits — um mit Karl Marx zu sprechen *— „die Sturmglocke für die europäische Mittelklasse" 3 . Diese weltumspannende bürgerlich determinierte Entwicklung, in die einzelne Länder einschließlich Rußlands graduell sehr unterschiedlich einbezogen waren, bildete den tieferen Grund dafür, warum die Französische Revolution eine so gewaltige internationale Ausstrahlungskraft erlangen konnte. Die kapitalistischen Verhältnisse hatten bis zum Vorabend der Französischen Revolution in einer Reihe von Staaten Europas und Amerikas einen bestimmten, relativ hohen Entwicklungsstand erreicht, und sie reiften auch in vielen anderen Ländern. Der entschlossene Sieg der Bourgeoisie über die Kräfte der alten Ordnung im Land des klassischen Absolutismus stellte in diesem welthistorischen Umwälzungsprozeß den markantesten Höhepunkt dar: Grundlegende Bedeutung für die weltweite Durchsetzung des Kapitalismus besaßen die in der sozialökonomischen Sphäre sich vollziehenden Prozesse, insbesondere das stürmische Fortschreiten der im letzten Drittel des 18. Jh. in England begonnenen und dann auf immer mehr Länder übergreifenden industriellen Revolution und die Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes. Die stärkere Nachfrage nach Garn und Tuchen führte zur Erfindung von Textilmaschinen ; ihre immer breitere Anwendung gab der Eisen- und Chemieindustrie Impulse, was zu einem wachsenden Bedarf an Kohle führte und die Entwicklung der ersten Dampfmaschinen förderte. Industrie und Handel stimulierten sich wechselseitig. Der anschwellende Warenumsatz machte Verbesserungen im Transportwesen notwendig und hatte schließlich die Erfindung der Eisenbahn zur Folge. Dampfmaschine, Eisenbahn und Stahlproduktion begünstigten ihrerseits wiederum den Maschinenbau und bewirkten, daß weitere Maschinen, Fahrzeuge, Schiffe usw. konstruiert wurden. Die technische Umwälzung ging einher mit tiefen sozialökonomischen Wandlungen, die

1 Legin, W. I., Unter fremder Flagge. In: Werke, Bd. 21, Berlin I960, S. 135. 2 Lenin, W. I., Rede vom Betrug des Volkes mit Losungen über Freiheit und Gleichheit. In: Werke, Bd. 29, Berlin 1961, S. 361. 3 Marx, K., Das Kapital, Bd. 1. In: Marx K./F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1963, S. 7.

Einleitung

sich vor allem in der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und der Herausbildung des.Proletariats als Klasse manifestierten. Die industrielle Revolution, schreibt J. Bernal, ist gekennzeichnet durch „die erste praktische Realisierung der Maschinenkraft im Rahmen einer neuen, auf kapitalistische Weise produzierenden Industrie. Nach diesen ersten Schritten war die ungeheure Ausdehnung von Industrie und Wissenschaft im 19. Jh. unausbleiblich. Das neue System erwies sich als soviel produktiver und billiger als das alte, daß keine ernsthafte Konkurrenz dagegen möglich war. Von nun an konnte es auch kein Zurück mehr geben. Früher oder später sollte sich die ganze Lebensweise aller Menschen auf der Welt ändern." 4 Die kapitalistische Produktion erschloß'neue Absatzmärkte, regte die Warenproduktion an und verband die nationalen Märkte immer mehr zu einem System enger internationaler Wirtschaftsbeziehungen: dem kapitalistischen Weltmarkt. Vor allem die steigende industrielle Produktion und der daraus resultierende expansive Handel der ökonomisch hochentwickelten Staaten, insbesondere Englands und Frankreichs, bewirkten, daß die nationalen Wirtschaften auch der weniger entwickelten Länder immer stärker in den kapitalistischen Weltmarkt einbezogen wurden. Die welthistorische Epoche von 1789 bis 1871 hatte somit den endgültigen Sieg der kapitalistischen Produktionsweise zum Hauptinhalt und führte zur Herausbildung nationaler Märkte, zur Formierung bürgerlicher Nationen und zur Errichtung bürgerlicher Nationalstaaten. In den Ländern, in denen territorialstaatliche oder nationale Fesseln bzw. eine fremdländische Unterjochung diese Entwicklung hemmten, wurde der historische" Fortschritt von bürgerlich-nationalen Bewegungen für Einheit und Unabhängigkeit begleitet. Die Große Französische Revolution als der Beginn einer neuen Epoche der .Menschheitsgeschichte bedeutete auch für die russische Geschichte einen wichtigen Einschnitt. Zwar können wir in der Geschichte Rußlands bereits im 16. Jh. vereinzelt Ansätze kapitalistischer Beziehungen verzeichnen, aber diese besaßen nicht die Fähigkeit, sich selbst dauerhaft zu reproduzieren, und gingen in der Folgezeit in den progressierenden feudalen Produktionsverhältnissen unter bzw. wurden von diesen feudal umgeformt. Selbst im ersten Viertel des 18. Jh., als Rußland durch das Reformwerk des Zaren Peter I. politisch und wirtschaftlich-kulturell einen großen Schritt nach vorn machte, um in seiner Entwicklung Anschluß an die fortgeschritteneren Länder Westeuropas zu gewinnen, geschah dies auf einer ausschließlich feudalen ökonomischen Basis. Die unter Peter I. und seinen unmittelbaren Nachfolgern verstärkt gebildeten Manufakturen, die als solche eigentlich eine typisch kapitalistische Organisationsform der industriellen Produktion darstellen, nahmen unter den damaligen gesellschaftlichökonomischen Bedingungen Rußlands und besonders infolge des Fehlens freier Lohnarbeiter die spezifische "Form feudaler Manufakturen an. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh. erlangten die kapitalistischen Produktionsverhältnisse eine neue Qualität, indem sie innerhalb der weiterhin dominierenden feudalen Produktion sich als kapitalistische Produktionsverhältnisse behaupteten, d. h. nicht mehr umkehrbar wurden. Zur gleichen Zeit verstärkten sich die Zersetzungserscheinungen der Feudalordnung in den politischen und ideologischen Bereichen: der Klassenkampf nahm schärfere Formen an und fand im Bauernkrieg unter Jemeljan 4 Bemal, J. D., Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin 1967, S. 346f.

10

Einleitung

Pugatschow einen Höhepunkt; in verschiedenen Schichten der russischen Gesellschaft wuchs das Interesse für bürgerliches Gedankengut, das sich in der Aufklärung als gesamteuropäischer geistiger Emanzipationsbewegung äußerte. Gleichsam als Antwort darauf begann der Zarismus, wie es gegen Ende der Regierungszeit Katharinas II. im ausgehenden 18. Jh. deutlich wird, von der Politik des aufgeklärten Absolutismus, d. h. der Ausnutzung bürgerlicher Ideen für die Festigung des feudalen Staates, abzurücken. Unter diesen Umständen konnte der Sieg der Großen bürgerlichen Revolution in Frankreich mit seinen vielfaltigen und nachhaltigen ideologischen, politischen, militärischen und nicht zuletzt ökonomischen Stimuli, die er der übrigen Welt gab, nicht ohne Auswirkungen auf Rußland bleiben, mochten es die Zeitgenossen wahrnehmen oder auch nicht. Von nun an waren Feudalismus, Leibeigenschaft und Absolutismus, also auch die in Rußland herrschende Gesellschafts- und Staatsordnung, endgültig ein welthistorischer Anachronismus geworden. Mit dem Sieg der Französischen Revolution war Rußland gegenüber den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern um eine ganze historische Epoche zurückgeblieben und geriet, geschichtlich gesehen, zunehmend in Zugzwang. Auf der Tagesordnung der Geschichte stand auch für Rußland zwingend die Beseitigung des Feudalismus. Im Ergebnis der Französischen Revolution veränderte sich das internationale Klassenkräfteverhältnis und mit ihm wandelte sich der Charakter wichtiger gesellschaftlicher Erscheinungen in Rußland, die durch tausend Fäden mit der bürgerlichen Umwelt und vor allem dem kapitalistischen Weltmarkt verbunden waren. In der russischen sozialökonomischen Wirklichkeit wurzelnde bürgerliche Entwicklungstendenzen wurden stimuliert, während der reaktionäre russische Adel und sein Staat sich nun erst recht, soweit sie es vermochten, gegen alles Neue stemmten, was ihre Herrschaft gefährdete. Die Jahre von 1789 bis 1794 bilden deshalb auch für die Geschichte Rußlands einen Wendepunkt, an dem qualitative Veränderungen in der Politik der machtausübenden Feudalklasse und in der Haltung der ihr gegenüberstehenden gesellschaftlichen Kräfte einsetzten. Mit dem internationalen Siegeszug des Kapitalismus und der fortschreitenden Zersetzung des Feudalismus in Rußland machten der russische Absolutismus und die von ihm verfolgte Innen- und Außenpolitik einen Funktionswandel durch, nahmen sie reaktionäre Spätformen an. Andererseits aktivierte sich der soziale Befreiungskampf der Volksmassen, gewannen progressive gesellschaftliche Kräfte an Bewußtheit, indem sie das Gedankengut ausländischer bürgerlicher Ideologen und dgs russischen Revolutionärs Alexander Radistschew aufnahmen und sich anschickten, zur revolutionären Tat überzugehen. Zeugnis für diese Entwicklung in Rußland bis 1861, die nur in enger Wechselbeziehung zu der von der Französischen Revolution geprägten Epoche zu'verstehen ist, waren die stetige Zunahme kapitalistischer Produktionsverhältnisse inmitten der noch vorherrschenden feudalen Wirtschaft, waren solche Ereignisse wie der nationale Befreiungskampf von 1812, der Dekabristenaufstand von 1825, Bas Entstehen einer revolutionärdemokratischen Bewegung etc. Zeugnis dafür waren aber auch solche Gegenaktionen der russischen Selbstherrschaft wie die Verurteilung Radistschews und der Dekabristen, die reaktionäre Gendarmenrolle des Zarismus in Europa u. a. In der Gesamtgeschichte Rußlands schließt die Periode von 1789 bis 1861 die sich über viele Jahrhunderte erstreckende Ära des Feudalismus ab und leitet in das kapitalistische Zeitalter über. In den sieben Jahrzehnten nach der Französischen Revolution nahmen

Einleitung

11

die sich entwickelnden kapitalistischen Verhältnisse und die Zerfallserscheinungen der alten Ordnung in Rußland solche Ausmaße an, daß man von einer Krise des Feudalsystems sprechen kann. Dabei muß man zwischen dem ausgehenden 18. Jh. und dem ersten Viertel des 19. Jh. einerseits und den folgenden Jahrzehnten bis" 1861 andererseits unterscheiden. Um die Jahrhundertwende und in den ersten Dezennien des 19. Jh. haben wir es noch mit einer latenten Krise des Feudalsystems zu tun, da die wesentlichen Bestandteile der Krise zwar vorhanden, aber noch nicht völlig ausgebildet sind. In den Jahrzehnten danach bricht die Krise infolge der fortschreitenden sozialökonomischen Entwicklung offen aus und wächst Ende der fünfziger Jahre, beeinflußt durch die Niederlage des Zarenreichs im Krimkrieg, in die erste revolutionäre Situation in der Geschichte Rußlands hinüber. Die unumgänglich gewordene Bauernreform von 1861, der eine Serie weiterer bürgerlicher Reformen folgt, leitet das kapitalistische Zeitalter in Rußland ein.

Kapitel I Die fortschreitende Zersetzung der Feudalwirtschaft am Ende des 18. und im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts Am Ausgang des 18. Jh. war Rußland ein feudalabsolutistischer Staat, an dessen Spitze der Zar, der Allrussische Selbstherrscher stand. Die Macht des Zaren war weder durch Gesetze noch durch staatliche Institutionen eingeschränkt. In autokratischer Weise regierte er das Land, gestützt auf eine Armee und einen Beamtenapparat, deren führende Schicht aus Vertretern des hohen Adels stammte. Ihrem Wesen und ihrer sozialen Funktion nach war die russische Selbstherrschaft eine Regierungsform; die in Gestalt der Zarenmacht die Diktatur der feudalen Gutsbesitzerklasse ausübte. In allen entscheidenden Fragen der Innen- und Außenpolitik vertrat sie wachsam die Interessen dieser Klasse. Das Russische Reich erstreckte sich gegen Ende des 18. Jh. über ein riesiges Territorium von der Ostsee bis zum Stillen Ozean und vom Nordmeer bis zum Kaukasus. Fast ganz Osteuropa und die gewaltigen Weiten der nördlichen Hälfte Asiens gehörten zum russischen Staat. Seine Fläche umfaßte rund 16 Millionen Quadratkilometer. Die natürlichen Bedingungen waren recht unterschiedlich. Im hohen Norden herrschte arktisches Klima, in den mittleren Breiten ein gemäßigtes Kontinentalklima mit verhältnismäßig strengen Wintern. Im Süden'dehnten sich warme Landstriche. Auf einem großen Teil des Territoriums bestanden günstige Voraussetzungen für den Ackerbau. Die südlichen Steppengebiete eigneten sich gut für die Viehzucht. Das Land war reich an Wäldern, an verschiedenen Gewässern, an Bodenschätzen. Die Bevölkerung Rußlands betrug Ende des 18. Jh. rund 35 Millionen Menschen. Damit war Rußland der Bevölkerungszahl nach bedeutend größer als solche Länder wie Frankreich und England, die 27 Millionen bzw. 16 Millionen Menschen zählten. Die Bevölkerungsdichte war mit 2l/4 Menschen auf einen Quadratkilometer jedoch äußerst gering. Als multinationaler Staat umfaßte Rußland eine Vielzahl von Völkern, die sich auf unterschiedlichem gesellschaftlichen Entwicklungsniveau befanden. Die Hauptmasse stellten die Russen, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung sich auf 60—70 Prozent belief. Rußland war ein Agrarland. 95,6 Prozent der Bevölkerung waren in der Landwirtschaft beschäftigt und nur etwas mehr als 4 Prozent lebten als Handwerker, Händler," Dienstpersonal, Beamte usw. in den Städten. Inl Russischen Reich herrschte unumschränkt die Feudalordnung. Die adligen Gutsbesitzer, die nur 1 Prozent der Bevölkerung ausmachten, verfügten über den größten Teil des Grund und Bodens und über 55,5 Prozent der Bauernschaft, die als Leibeigene zu schwerer Fron gezwungen wurden und hohe Geld- und Naturalabgaben an die Feudalherren entrichten mußten. Die Lage dieser Kategorie der Bauern war am schwersten, weil sie fast keinerlei Rechte besaßen und einer doppelten Ausbeutung ausgesetzt waren: durch den Gutsbesitzer und den Feudalstaat. Der leibeigene Bauer war der uneingeschränkten Willkür seines Herrn ausgeliefert. Der Gutsherr konnte ihn nach Belieben körperlich züchtigen, mit oder ohne Familie verkaufen, für Gegenstände,

14

Rußland von 1789 bis 1825

Hunde oder andere Leibeigene eintauschen, ihn zum Bediensteten machen, strafweise als Rekrut einziehen lassen, nach Sibirien verbannen usw. usf. Der Staat beutete ihn seinerseits aus: durch direkte urfd indirekte Steuern, durch staatliche Pflichtarbeiten, durch 25jährigen Militärdienst. Die Lage der Gutsbauern kam der von Sklaven nahe, weil sie noch nicht einmal das •Eigentumsrecht auf ihr bewegliches und unbewegliches Hab Und Gut besaßen. Der zeitgenössische progressiv gesinnte Prof. A. P. Kunizyn schrieb: „Ein leibeigener Mensch hat keinerlei Eigentum . . . Ihm gehört weder das Haus, in dem er wohnt, noch das Vieh, das er hält, noch die Kleidung, die er trägt, noch das Brot, das er ißt." 1 Etwa 2 Prozent der Leibeigenen verfügten weder über Land noch über Produktionsmittel. Diese langsam wachsende Schicht war größtenteils als Hofgesinde beschäftigt und mußte für ein monatliches Unterhaltsminimum an Produkten und Kleidung (mesjatschina) schwerste Arbeiten für den Gutsherrn verrichten. 41,8 Prozent der Bauern befanden sich als Staatsbauern in direkter feudaler Abhängigkeit vom Staat. Sie lebten auf staatseigenen Ländereien, bewirtschafteten die ihnen zugeteilten Bodenabschnitte, wofür sie zugunsten des Staats die Feudalrente, die Kopfsteuer und verschiedene andere Leistungen zu erbringen hatten. Sie wurden über örtliche Staatsorgane verwaltet, galten aber formalrechtlich als freie Personen. Die überwiegende Mehrheit der Staatsbauern zahlte Obrok, wobei im Baltikum und einigen anderen westlichen Gebieten der Staatsboden teilweise an Gutsbesitzer verpachtet wurde,'die dann von den Bauern mitunter auch Frondienste verlangten. Allgemein standen sich die Staatsbauern besser als die Gutsbauern. Sie waren, abgesehen vom Grund und Boden, Eigentümer der von ihnen genutzten Produktionsmittel, des Hofes und ihrer persönlichen Habe. Wohlhabende unter ihnen konnten Land käuflich erwerben. Als juristisch Freie hatten die Staatsbauern mehr Möglichkeiten, Handel und Gewerbe zu treiben. Aber auch ihre Lage war, generell gesehen, keineswegs leicht. Die Bodenanteile waren zu klein und die ohnehin nicht geringe Kopfsteuer stieg beständig an. Militärdienst, verschiedenerlei staatliche Pflichtarbeiten wie Wege- und Brückenbau, aber vor allem die Willkür der Verwalter machten den Staatsbauern das Leben und das Wirtschaften schwer. Eine Mittelstellung zwischen den zwei genannten Kategorien der Bauernschaft nahmen die Krön- oder Udelbauern ein, die als Besitz der Zarenfamilie galten. Ihr Anteil an der Landbevölkerung betrug Ende des 18. Jh. 2,7 Prozent. Ihre rechtliche Stellung war schlechter als die der Staatsbauern, aber doch etwas besser als die der Gutsbauern. Sie durften z. B. nicht wie die Letzteren frei verkauft werden. Auch hatten sie in der Regel einen etwas größeren Bodenanteil als die Gutsbauern. Im nichtagrarischen Sektor der Wirtschaft dominierten ebenfalls feudale Verhältnisse. Die industrielle Großproduktion basierte überwiegend auf feudaler Arbeit. Die Zahl kapitalistischer Manufakturen war gering. In den sogenannten Posses»ions- und Adelsmanufakturen, die es in Rußland seit dem 17. Jh. gab und die eine für Osteuropa eigenständige Form der großen Industrie darstellten, wurden Staats- bzw. Gutsbauern zu feudaler Fronarbeit gepreßt. Hinsichtlich der technischen Arbeitsteilung und der Produktionsmethoden ähnelten diese Manufakturen der kapitalistischen Manufaktur. Ihrem sozialökonomischen Wesen nach waren sie aber eindeutig feudal, denn Sie be-

1 Zitiert nach: Voprosy istorii narodnogo chozjajstva SSSR, Moskau 1957, S. 245.

Zersetzung der Feudalwirtschaft

15

ruhten „überwiegend auf der erzwungenen Arbeit von leibeigenen Kleinproduzenten, die organisch aus der feudalen Formation erwachsen waren" 2 . Was die industrielle Kleinproduktion anbelangt, so war sie noch viel mehr in das Gesamtsystem der feudalen Wirtschaft integriert. Die feudalistische Produktionsweise dominierte somit nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Industrie. Doch bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. vollzogen sich im Wirtschaftsleben Rußlands Vorgänge, die für das Schicksal des russischen Feudalsystems bedeutungsvoll werden sollten. Die Entwicklung der Ware-Geld-Beziehungen, der fortschreitende Niedergang der Naturalwirtschaft, das Wachstum der Manufakturen und die Anwendung von Lohnarbeit hatten einen solchen Grad erreicht, daß sie begannen — wenn auch sehr langsam — zersetzend auf die feudale Wirtschaft einzuwirken. Einige Industriezweige, so z. B. die Baumwollindustrie, entwickelten sich hauptsächlich auf der Grundlage von Lohnarbeit. Das Volumen des Innen- und Außenhandels stieg langsam aber beständig an: Die ökonomischen Bande zwischen Stadt und Land wurden enger, Gutsherren und Bauern brachten im wachsenden Maße agrarische Produkte auf den Markt und kauften Industrieerzeugnisse. Durch die Gesamtheit dieser Prozesse begann die feudale Landwirtschaft Rußlands ganz allmählich ihren Naturalcharakter und ihr patriarchalisches Wesen einzubüßen. All das zeugte davon, daß sich im Schöße der alten Ordnung neue, bürgerliche Verhältnisse herausbildeten. Wie überall, so ging also auch in Rußland die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft aus der ökonomischen Struktur d6r feudalen Gesellschaft hervor. „Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt." 3 Erste Ansätze sich entwickelnder kapitalistischer Verhältnisse hatte es in der Geschichte Rußlands schon seit dem 16. Jh. gegeben. Doch diese Ansätze waren und blieben damals sporadisch und wurden durch die Totalität feudaler Verhältnisse, die in Basis und Überbau existierte, unterdrückt und deformiert. Der Unterschied zu dieser zurückliegenden Zeit bestand in der zweiten Hälfte des. 18. Jh. darin, daß der Feudalismus nun nicht mehr imstande war, die entstehenden kapitalistischen Elemente zu erdrücken, so daß diese sich inmitten der fernerhin vorherrschenden feudalen Verhältnisse behaupteten, sich künftighin selbst als kapitalistische Verhältnisse reproduzierten, d. h. irreversibel wurden. Um die historischen Relationen zu wahren, muß jedoch ausdrücklich betont werden, daß diese in der zweiten Hälfte des 18. Jh. erst einsetzenden Prozesse sich äußerst langsam vollzogen. Das Wachstumstempo der Industrie, des' Handels, der Arbeitsproduktivität war um vieles geringer als in den fortgeschrittenen europäischen Ländern. Die Agrartechnik befand sich faktisch noch auf mittelalterlichem Niveau. Die feudalen Produktionsverhältnisse waren weiterhin absolut dominierend und gaben den kapitalistischen Wirtschaftsformen nur kümmerliche Entfaltungsmöglichkeiten. Selbst dort, wo, wie in manchen Manufakturen, die progressivere Lohnarbeit Anwendung fand, handelte es sich bei der Masse der Beschäftigten um obrokpflichtige Bauern. Die neuen, sich qualvoll langsam durchsetzenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die im feudalen Meer gleichsam noch unterzugehen schienen, waren historisch dennoch 2 Druzinin, N . M., Besonderheiten der Genesis des Kapitalismus in Rußland. In: Genesis und Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. Studien und Beiträge, hrsg. v. P. Hofimann und H. Lemke, Berlin 1973, S. 48. 3 Marx, K., D a s Kapital. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 743.

16

Rußland von 1789 bis 1825

sehr gewichtig, da sie den bürgerlichen Entwicklungstendenzen in der Welt entsprachen und auch für Rußland das kapitalistische Zeitalter ankündigten. Der Zeitraum, der etwa annähernd die Jahre von 1789 bis 1825 umfaßt, kann in der russischen Geschichte als die Phase der sich ausbildenden bzw. der latenten Krise des Feudalsystems charakterisiert werden. In dieser Zeit setzten sich der in der zweiten Hälfte des 18. Jh. begonnene Zerfallsprozeß der Feudalwirtschaft und die Ausbildung kapitalistischer Verhältnisse auf höherer Stufe fort. Die neue Qualität kam vor allem darin zum Ausdruck, daß diese Prozesse nicht mehr so hochgradig schleichend verliefen, wie in den vergangenen Jahrzehnten. Sie vollzogen sich aber feedeutend langsamer als analoge Vorgänge in den fortgeschrittenen europäischen Ländern, so daß Rußland trotz allem.immer mehr hinter diesen Ländern zurückblieb. Dennoch können für den genannten Zeitraum in wichtigen Sphären des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens Rußlands merkliche Wandlungen verzeichnet werden: in der Entwicklung der Produktivkräfte, in der Entstehung neuer Industriezweige, in der fortschreitenden Spezialisierung landwirtschaftlicher und industrieller Gebiete, im Wachstum der Zahl der Betriebe und der darin Beschäftigten, in der Zunahme der Lohnarbeit, in der Steigerung des Handelsvolumens, im weiteren Ausbau des Verkehrsnetzes, im Wachstum der Bevölkerung und der Städte u. a. m. Diese Jahrzehnte sind geprägt von einer zunehmenden Bauernbewegung, einer der wichtigsten Erscheinungsformen des Zerfalls des Feudalismus. Von der Jahrhundertwende bis 1825 war die Bevölkerung'Rußlands um 17 Millionen größer geworden und hatte die Zahl von 52,3 Millionen erreicht. Der natürliche Zuwachs betrug rund 12 Millionen und die übrigen 5 Millionen resultierten aus neuen Gebietserwerbungen. Bezeichnend ist die Tendenz, daß der Anteil der Leibeigenen an der Gesamtbevölkerung durch Freilassung, Loskauf und Flucht der Bauern sowie durch Anschluß von Gebieten, in denen keine Leibeigenschaft bestand, allmählich zurückging1825 hatte die Einwohnerzahl von Petersburg 450000 und die von Moskau 250000 erreicht. Paris zählte zu dieser Zeit 700000 Einwohner. Das Städtewachstum vollzog sich in West- und Mitteleuropa infolge der Fortschritte des Kapitalismus rascher als in Rußland. Die meisten Städte des Russischen Reiches waren Anfang des 19. Jh. eher Zentren des Handels und der Verwaltung als der Industrie. Lediglich um Moskau und Petersburg begannen sich Industrievororte herauszubilden. 1811 machten Kaufleute und Kleinbürger 42,5 Prozent, Adel und andere Privilegierte 19,9 Prozent der gesamten Stadtbevölkerung aus. Der Anteil aller übrigen Schichten betrug 37,6 Prozent, wovon der überwiegende Teil leibeigenes Dienstpersonal und ein statistisch nichterfaßter Prozentsatz Arbeiter waren. Von diesen Letzteren befanden sich nicht wenige noch immer in einem feudalen Abhängigkeitsverhältnis bzw. waren in irgendeiner Form mit der Landwirtschaft verbunden. Die bürgerliche Differenzierung der Bevölkerung Rußlands machte Ende des 18. und im ersten Viertel des 19. Jh. spürbare Fortschritte. Trotz ihres immer wieder zu betonenden gemächlichen Fortgangs im Vergleich zu den entwickelteren europäischen Ländern war sie soweit gediehen, daß vor allem in den Städten sich die bisherige feydalständische Gliederung allmählich zu verwischen begann und sich neue, bürgerliche Schichten abzeichneten. Neben dem aufsteigenden kapitalistischen Unternehmer auf der einen und dem Lohnarbeiter auf der anderen Seite existierten in vielen Abstufungen große und kleine Kaufleute, Zwischenhändler, Besitzer kleiner Werkstätten, selbständi-

Zersetzung der Feudalwirtschaft

17

ge und abhängige Handwerker, Heimarbeiter und Wanderarbeiter, freigelassene und leibeigene Arbeitsleute usw. Sie alle waren direkt oder mittelbar mit der zum Kapitalismus tendierenden Warenwirtschaft bzw. mit der kapitalistischen Produktion verbunden. Aus der Mitte der Kaufmannschaft, der Kleinbürger, der Geistlichkeit, der niederen Beamtenschaft, der Bauern sowie des Adels schälte sich bereits seit Ende des 18. Jh. eine Intelligenzschicht, die sogenannten Rasnotschinzen, heraus, deren Bedeutung im geistig-kulturellen und politischen Leben Rußlands allmählich zunahm. Langsam entwickelte sich als Antipode zur entstehenden Bourgeoisie eine vorerst noch dünne Schicht freier Lohnarbeiter, was für den beginnenden Prozeß der Herausbildung der zwei Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft charakteristisch ist. Ein wichtiges Kennzeichen der wirtschaftlichen Progression war das rasche Wachsen des Innen- und Außenhandels, wovon das lebhafte Handelstreiben auf den großen Märkten in Nishni-Nowgorod, in Rostow, in Kursk und anderen Städten Zefignis ablegt. 1824 zählte man im europäischen Teil Rußlands 76 große Messe». Gleichzeitig verstärkte sich der Dauerhandel über Kaufläden und Geschäfte, d. h. der nicht an Jahrmärkte und Jahreszeiten gebundene Handel, was eine typische Folgeerscheinung der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse war. Hatte Anfang des Jh. der Handelsumsatz innerhalb des Landes jährlich rund 500 Millionen Rubel betragen, so erreichte er 1820 über 900 Millionen Rubel. Das Außenhandelsvolumen hatte sich im selben Zeitraum trotz der langanhaltenden störenden Nachwirkungen der Napoleonischen Kriege und besonders der Verwüstungen von 1812 ebenfalls fast verdoppelt. Infolge des im Vergleich zu den fortgeschrittenen Ländern Europas langsameren Entwicklungstempos der russischen Industrie machte der Handel mit diesen Staaten' im ersten Viertel des 19. Jh. einige Wandlungen durch. Die im 18. Jh. sich anbahnende Tendenz zur Steigerung des Exports von Industrieerzeugnissen brach wieder ab. Der Handel wurde »rneut und in wachsendem Maße geprägt von solchen traditionellen russischen Ausfuhrartikeln wie Weizen, Holz, Speck, Flachs, Felle, Pelze und Leder. Nur im Handel mit China und einigen anderen Ländern des Ostens stieg der Anteil von Fertigprodukten am Export, namentlich von Textilien, etwas an, obwohl auch hier die Ausfuhr solcher Artikel wie Pelze und Leder überwog. In diesen Erscheinungen äußerte sich einerseits das wirtschaftliche Zurückbleiben Rußlands hinter den stürmisch voranschreitenden kapitalistischen Ländern des Westens, und andererseits die vergleichsweise raschere Entwicklung Rußlands gegenüber den noch mehr zurückgebliebenen Ländern des Ostens. Im Gesamtrahmen des von den führenden kapitalistischen Staaten zunehmend beherrschten Welthandels wurde Rußland trotz wirtschaftlicher Fortschritte immer mehr in die Rolle eines Lieferanten von Rohstoffen und Halbfabrikaten gedrängt. Die wirtschaftliche Spezialisierung der verschiedenen Territorien Rußlands, die sich in einjem langen Prozeß bereits seit dem 16. Jh. abzuzeichnen begonnen hatte, nahm im ersten Viertel des 19. Jh. immer deutlicher jene Konturen an, wie sie später für die kapitalistische Epoche in Rußland charakteristisch werden sollten. In den zentralen und einigen nördlichen Gouvernements gewann die Industrie an Bedeutung. Die größten Industriezentren waren das Moskauer Gouvernement, in dem. sich fast ein Viertel aller in der Industrie Beschäftigten befand, das Gouvernement Wladimir mit mehreren Manufaktursiedlungen, Petersburg mit seinen Metallbearbeitungswerken und Textilbetrieben. In diesen Gebieten spitzten sich die sozialen Gegensätze stärker als woanders zu, weil hier einerseits die kapitalistische Warenproduktion größere Fortschritte gemacht hatte, 2. Straube/Zeii, Feudalismus

18

Rußland von 1789 bis 1825

andererseits gerade diese Gegenden ein Bollwerk der Leibeigenschaft darstellten. Außerhalb dieser Sphäre lagen — bedingt durch reiche Eisenerzvorkommen — die seit langem erschlossenen und auf der Arbeit von Leibeigenen beruhenden Eisenhüttenwerke des Urals. Im Süden Rußlands, bei Baku, Grosny und auf der Taman-Halbinsel entwickelte sich um die Jahrhundertwende als ein neuer Industriezweig die Erdölgewinnung. In den nordwestlichen Regionen überwog in der Landwirtschaft der Anbau technischer Kulturen, so vor allem Flachs, und im Süden und Westen die Getreidewirtschaft und die Viehzucht. Einzelne Völker Rußlands im hohen Norden sowie in Sibirien, Baschkirien und im Kaukasus befanden sich noch im Stadium des Übergangs zum Feudalismus bzw. in der Phase des entwickelten Feudalismus. Aber auch sie wurden über Handel, Handwerk und Industrie allmählich in den gesamtrussischen Markt einbezogen, manche allerdings sehr spät und einige sogar erst nach 1917. Die weitere Ausprägung der territorialen Arbeitsteilung stimulierte die Warenproduktion, wirkte zersetzend auf die Naturalwirtschaft. Der zunehmende Handel machte eine Verbesserung der Verkehrswege notwendig. Vor allem wurden die Wasserwege erweitert, weil sie weniger kostspielig waren und andere Maßnahmen zur Vervollkommnung des Transportwesens die schwache russische Wirtschaft überfordert hätten. Um die Kama mit der nördlichen Dwina zu verbinden, wurde der Nord-Katharina-Kanal gebaut (1803). Mit der Fertigstellung des OginskiKanals (1804) war eine direkte Verbindung zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer geschaffen worden. Zwei künstliche Schiffahrtssysteme, das Mariinsche (1810) und das Tichwinsche (1812), erleichterten den Verkehr auf den Binnengewässern und verbanden die mittelrussischeri Flußwege mit der Ostsee! Über die neuen Wasserstraßen bewegte sich auf Lastkähnen ein nicht unbeträchtlicher Teil der Waren für den Innenund Außenhandel. Es wurden erste Versuche zur Einführung von Dämpfschiffen gemacht, die vorerst noch ohne praktische Auswirkungen blieben, aber die Richtung künftiger Veränderungen anzeigten. Im Vergleich dazu war der Zustand der Landstraßen äußerst schlecht und ließ kaum Verbesserungen erkennen, was sich in wirtschaftlicher Hinsicht entsprechend auswirkte. Während z. B. ein Pud Eisen im Uralgebiet 0,89 Rubel kostete, betrug sein Preis in Moskau bereits 1,66 Rubel und in Podolsk 2,16 Rubel. Das Wachstum der Produktivkräfte und die Wandlungen in der sozialökonomischen Struktur der russischen Wirtschaft waren in der Industrie am sichtbarsten. Zunächst fallt die wachsende Zahl der Manufakturen und der darin Beschäftigten ins Auge. Nach offiziellen Angaben gab es 1804 in Rußland 2400 Betriebe der verarbeitenden Industrie mit 95200 darin Tätigen, und 1825 war die Zahl der Betriebe auf 5200 und die der Beschäftigten auf 210000 angestiegen. Einzelne Industriezweige machten verhältnismäßig rasche Fortschritte. So vergrößerte sich z. B. die Zahl der Baumwollbetriebe fast um das Dreifache und der in ihnen tätigen Arbeitskräfte nahezu um das Zehnfache, die Zahl der zuckerverarbeitenden Betriebe um das Fünffache und der darin Beschäftigten um das Sechzehnfache. Während bis ins letzte Drittel des 18. Jh die Adels- und Possessionsmanufakturen noch eindeutig vorherrschten, begannen Anfang des 19. Jh die kapitalistischen Manufakturen allmählich in den Vordergrund zu rücken. Nehmen wir die obengenannten Zahlen über die Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie aus den Jahren 1804 und 1825, so stieg der Anteil der Lohnarbeiter unter ihnen in dieser Zeitspanne von 47 Prozent auf 54 Prozent. Hinter der gering erscheinenden Steigerung um 7 Prozent ver-

Zersetzung der Feudalwirtschaft

19

birgt sich, in absoluten Zahlen ausgedrückt, immerhin ein Wachstum von 44700 auf 113400 Lohnarbeiter, d. h. eine Vermehrung über das Zweieinhalbfache hinaus. Die neue Qualität im Wachstumstempo der Lohnarbeit wird bei einem Vergleich mit der zweiten Hälfte des 18. Jh. offensichtlich: Gegenüber dieser Zeit nahm die Lohnarbeit im ersten Viertel des 19. Jh. im Durchschnitt zehnmal schneller zu. In einzelnen Produktionszweigen hatte die Lohnarbeit eine vorherrschende Position eingenommen und betrug im Jahre 1825 in der Baumwollindustrie 95 Prozent, in der Seidenproduktion 83 Prozent und in der Lederverarbeitung 93 Prozent. Auf die gesamte Industrie einschließlich der Betriebe des Berg- und Hüttenwesens im Ural bezogen, lag der Anteil der Lohnarbeit aber noch unter 50 Prozent, wobei die überwiegende Zahl der für Lohn Arbeitenden feudal abhängig war. Die Arbeitsproduktivität der Lohnarbeiter war bedeutend höher als die der Leibeigenen in den Adels- und Possessionsmanufakturen. In den meisten Produktionszweigen war sie anderthalb bis doppelt so hoch, in der Baumwollindustrie betrug sie das Dreifache der unfreien Arbeit. Die auf feudaler Zwangsarbeit beruhenden Manufakturen konnten deshalb, auf die Dauer gesehen, nicht mit den kapitalistischen Betrieben kon* kurrieren. Ihr Anteil an der industriellen Gesamtproduktion zeigte eine rückläufige Tendenz, mehrere Feudalmanufakturen wurden geschlossen. Die Widersprüchlichkeit in der Entwicklung der russischen Industrie zeigte sich u. a. darin, daß trotz der Vorzüge der Lohnarbeit immer noch eine absolute Zunahme der Beschäftigung von Leibeigenen zu verzeichnen war. Zwar ging im ersten Viertel des 19. Jh. eine Anzahl von Possessionsmanufakturen ein, aber gleichzeitig entstanden neue Adelsmanufakturen, die bestimmten Marktbedürfnissen entsprachen und auf der Arbeit leibeigener Bauern beruhten. Auch wenn die Produktivität in diesen Manufakturen geringer war als in den kapitalistischen, konnten die Gutsbesitzer dennoch längere Zeit auf solche Weise wirtschaften, da die Arbeitskräfte sie nichts kosteten. Die Arbeitsbedingungen in den Gutsmanufakturen waren meist drückender als auf den herrschaftlichen Feldern. Peitsche und Eisenfesseln gehörten ebenso zur Ausrüstung dieser Betriebe wie die primitiven Arbeitsinstrumente. Der Dekabrist Nikolai Turgenjew schrieb, daß die Bauern die Worte: „in diesem Dorf befindet sich eine Fabrik" mit einem solchen Tonfall aussprachen, als hätten sie gesagt: „in diesem Dorf herrscht die Pest". 4 Ein weiterer Grund, warum die Feudalmanufakturen über verhältnismäßig lange Zeiträume neben den kapitalistischen Manufakturen bestehen konnten, liegt in dem zwiespältigen Charakter der Masse der damaligen Lohnarbeiter begründet. Gegenüber dem Unternehmer traten sie tatsächlich als Lohnarbeiter, als Verkäufer ihrer Arbeitskraft auf. Andererseits fehlten ihnen wichtige Attribute des wirklichen, im doppelten Sinne freien Lohnarbeiters: die endgültige Trennung von den Produktionsmitteln und die persönliche Freiheit. Die Mehrheit von ihnen war noch feudal abhängig, gehörte der Dorfgemeinde an, besaß noch einen Bodenabschnitt, wodurch sie an den Gutsbesitzer und den Boden gebunden waren. Die Gütsbesitzer könnten ihre Bauern zurück ins Dorf beordern, was eine Gefährdung des kontinuierlichen Produktionsablaufes darstellte. Initiative, Eifer und letztlich die Produktivität der in Lohn stehenden, aber feudal abhängigen Arbeitsleute litten darunter, daß ihnen ein Teil des Verdienstes vom Gutsbesitzer in Form von Zinsleistungen wieder abgenommen wurde. Die Leibeigenschaft und das ganze System der feudalen Verhältnisse hemmten die 4 Turgenev, N. I,, NeCto o krepostnom sostojanii v Rossii, St. Peterburg 1862, S. 173.

2*

20

Rußland von 1789 bis 1825

industrielle Entwicklung auch insofern, als sie den Arbeitskräftemarkt einengten, die Anwendung moderner Technik und neuer Produktionsmethoden erschwerten. In den Betrieben des Berg- und Hüttenwesens im Ural herrschte Anfang des 19. Jh. noch uneingeschränkt die Arbeit von Leibeigenen. Die Monopolstellung der Industrie des Uralgebiets, das System von staatlichen Aufträgen, die reichen Bodenschätze und die großen Brennstoffvorräte waren namentlich unter den Bedingungen des weiterbestehenden Feudalismus nicht geeignet, die Unternehmer und die Verwalter der staatlichen Betriebe dazu anzuspornen, auf die extensive Arbeit der Leibeigenen zu verzichten. Diese Betriebe waren gekennzeichnet durch veraltetes Inventar und überholte Produktionsmethoden. Technische Neuerungen fanden in der Regel keine Anwendung in der Produktion. Das russische Berg- und Hüttenwesen, das im Wettlauf mit anderen Ländern im 18. Jh. die Weltspitze errungen hatte, begann Anfang des 19. Jh. zu stagnieren, weil es dem Konkurrenzkampf mit der infolge der industriellen Revolution modern ausgerüsteten und billiger produzierenden kapitalistischen Hüttenindustrie Englands nicht gewachsen war und im Ausland keinen Absatz mehr fand. Während die russische Roheisenproduktion 1800 rund 170000 Tonnen betrug, stieg sie in den folgenden 25 Jahren kaum noch an. Die englische Roheisenproduktion hingegen erhöhte sich in derselben Zeitspanne auf rund 600000 Tonnen. Sehr unterschiedlich entwickelte sich die russische Textilindustrie. Die Woll- und Tuchproduktion lag hauptsächlich in den Händen adliger Unternehmer. Trotz primitiver Technik und des Einsatzes von Leibeigenen konnte sie sich weiter entfalten, da der Absatz durch staatliche Aufträge für die Armee gesichert und sie nicht auf den Markt angewiesen war. Die Leinenproduktion erlebte im ersten Viertel des 19. Jh. durch die Konkurrenz der billigeren englischen Produktion und auf Grund der zurückgehenden Nachfrage nach Segeltuch eine Krise. Mehrere Fakturen mußten schließen. Nur gut durchorganisierte Betriebe mit einem hohen Anteil von Lohnarbeitern bestanden den Existenzkampf. Ein Teil der Lohnarbeiter wanderte in andere Produktionszweige ab, z. B. in die Baumwollindustrie. In der Baumwollindustrie zeichnete sich die kapitalistische Entwicklung wie in England am frühesten ab. Hier wurden zu Beginn des Jahrhunderts unter dem Einfluß der industriellen Revolution in Westeuropa erstmals erfolgreich Maschinen, z. B. der mechanische Webstuhl, angewandt. 1805 hielt die erste Dampfmaschine ihren Einzug in einen Textilbetrieb Petersburgs. 1807 wurde in der Alexandrow-Manufaktur von Petersburg der erste mechanische Webstuhl aufgestellt, dem bald weitere folgten. Seit 1809 wurden in diesem Betrieb Flachsmaschinen betrieben. 1817 erhielt der Moskauer Fabrikant Michael Weber ein Privileg für die Aufstellung einer zylindrischen Kattundruckmaschine, die durch Dampf betrieben wurde und die Handarbeit von 500 Personen ersetzte. Sie druckte und trocknete den Kattun in einem zusammenhängenden Arbeitsgang. In Iwanowo War bis 1825 die Zahl der Kattundruckfabriken und größerer Baumwollwebereien auf 125 angestiegen. Der größte Teil der Maschinen war englischer Herkunft. Im wachsenden Maße wurden moderne Instrumente, Geräte und Maschinen aus dem Ausland importiert. 1815/16 betrug ihre Einfuhr den Wert von 83000 und 1825 den von 825000 Assignationsrubeln. Mit der verbesserten Maschinenausrüstung stieg der Verbrauch industrieller Rohstoffe, namentlich von Baumwolle, rasch an.

Zersetzung der Feudalwirtschaft

21

Durch die Zunahme der Lohnarbeit und den wachsenden Einsatz moderner Technik in der Produktion kam ein Prozeß in Gang, der später auch in Rußland zur industriellen Revolution führen mußte. Zwar fiel die Anwendung von Maschinen, von der Baumwollindustrie abgesehen, im Gesamtrahmen der Industrie noch wenig ins Gewicht, doch die einzelnen Neuerungen kündigten bereits auf dem Höhepunkt der Manufakturentwicklüng in Rußland an, daß die Manufakturperiode unweigerlich ihrem Ende entgegenging. Vom Aufschwung der Produktivkräfte und der Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen in der Industrie zeugten neben dem Wachstum von Manufakturen und ersten Fabriken auch die Fortschritte des Handwerks und des bäuerlichen Kustargewerbes. Schon seit langem gab es in Rußland Gebiete des spezialisierten Handwerks, die mit der Zeit gesamtrussische Bedeutung erlangt hatten: so z. B. die Siedlung Pawlowo, wo Metallgegenstände erzeugt wurden, die Siedlung Kimry, die wegen ihrer Schuhproduktion bekannt war, die Siedlung Iwanowo, wo Leinwand und später Kattun hergestellt wurden. Unter den Bedingungen der sich intensivierenden WareGeld-Beziehungen entstanden im Laufe des ersten Viertels des 19. Jh. vor allem in jenen zentralrussischen Gebieten, wo die Geldrente vorherrschte, eine Vielzahl bäuerlicher Betriebe, die in Form der einfachen Kooperation für den Markt produzierten. Bekanntlich stellt die einfache Kooperation neben der Manufaktur und der Heimarbeit eine der Formen dar, in der sich die erste Entwicklungsphase der kapitalistischen Indùstrie vollzieht. Da die bäuerliche Kleinindustrie in den Statistiken der damaligen Zeit so gut wie keine Berücksichtigung fand, muß man sich mit vorhandenen regionalen Ausschnitten begnügen, die zumindest annäherungsweise Aufschluß über bestehende Entwicklungstendenzen geben. Unter diesem Aspekt sind die Angaben über das zentralgelegene Gouvernement Wladimir nicht ohne Bedeutung, wo bis 1825 mehr als 300 soleher Betriebe entstanden, von denen 75 Prozent auf Lohnarbeit und nur die restlichen 25 Prozent auf der Tätigkeit der Kustararbeiter und ihrer Familien basierten. Von diesen Letzteren wurde aber ein gewisser, nicht näher zu bestimmender Teil in der Art des Verlagssystems beschäftigt, so daß der tatsächliche Anteil der Lohnarbeiter noch höher war. Im Zuge der weiteren Evolution der bäuerlichen Industrie, auf die wir im Zusammenhang mit der bürgerlichen Differenzierung der Bauernschaft noch zurückkommen werden, schälten sich aus ihr einzelne kapitalistische Manufakturen bzw. Fabriken heraus, die viele der Kleinbetriebe durch Konkurrenz zugrunde richteten oder von sich abhängig machten. Es entwickelten sich solche, mit der kapitalistischen Manufaktur verknüpfte Produktionsformen, wie das Verlagssystem, die Heimarbeit u. a. Eine Steigerung der Produktivkräfte und bestimmte sozialökonomische Wandlungen mit bürgerlicher Tendenz sind'Ende des 18. und im ersten Viertel des 19. Jh. auch in der russischen Landwirtschaft zu verzeichnen, wenngleich diese Prozesse hier nicht so ausgeprägt waren wie in der Industrie. Im Gesamtrahmen der russischen Wirtschaft stand der Agrarsektor an erster Stelle. Hier war der weitaus größte Teil der Bevölkerung, die Bauernschaft, beschäftigt. Die überwiegende Mehrheit der Guts- und Bauernwirtschaften arbeitete mit primitiver Technik, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hatte. Der Pflug besaß eine eiserne Schar, aber die meisten landwirtschaftlichen Geräte waren wie ehedem aus Holz. Immer noch herrschte das Dreifeldersystem vor. Die Steigerung der Agrarproduktion erfolgte hauptsächlich durch das Aufpflügen neuer Flächen.

22

Rußland von 1789 bis 1825

Zu den wichtigsten Archaismen der russischen Landwirtschaft gehörte die aus der Urgesellschaft in die Klassengesellschaft transformierte Dorfgemeinde als unterste territoriale Organisation der Landbevölkerung. Unter den Termini Obstschina, Mir, Obstschina-Volost u. a. bestand sie noch bei allen Kategorien der Bauernschaft und besaß eine Reihe aus früherer Zeit erhalten gebliebener Elemente der bäuerlichen Selbstverwaltung, der gegenseitigen Hilfe und Haftung, der Gerichtsbarkeit usw., die in der Mirverfassung, dem Gewohnheitsrecht der Dorfgemeinde ihren Ausdruck fanden. Mit der zunehmenden Feudalisierung hatte die Dorfgemeinde ihre ehemalige Selbständigkeit eingebüßt und war zu einer von der herrschenden Klasse und dem Staat abhängigen Organisation der unmittelbaren Produzenten geworden, die in einer Art Doppelfunktion teils dem feudalen Ausbeuter teils den Bedürfnissen der Gemeindemitglieder diente. Zu ihrer Kompetenz gehörte die Verteilung des Grund und Bodens und die Regelung seiner Nutzung, die Aufteilung der Abgaben und Steuern auf die Gemeindemitglieder, die Wahl der Dorfaltesten, die Sammlung von Mitteln für Gemeindezwecke, die Organisation gegenseitiger Hilfe, die Entscheidung über zivilrechtliche Angelegenheiten und kleinere Strafsachen. Seit dem 17. Jh. war im Zusammenhang mit der Vertiefung des Feudalisierungsprozesses, dem Wachstum der Bevölkerung und dem zunehmenden relativen Mangel an Ackerböden die ausgleichende Landumverteilung unter den Gemeindemitgliedern nach deren Kopfzahl zur wiederkehrenden Regel und zur hauptsächlichen Funktion der Dorfgemeinde geworden, weshalb in der historischen Literatur neben den Bezeichnungen Obstschina und Mir auch der Terminus Umteilungsgemeinde figuriert. Eine Besonderheit der russischen Dorfgemeinde bestand darin, daß sie im Interesse der herrschenden Klasse unter spätfeudalistischen Bedingungen sogar noch an Stabilität gewann und im geltenden Recht verankert wurde. Die Einbeziehung gewählter Gemeindevertreter, die meistens wohlhabende Bauern waren, in das System der untersten Guts- oder Ortsadministration wirkte dämpfend auf die Klassenantagonismen zwischen Bauern und Feudalherrn, und die regelmäßige Umverteilung der Böden behinderte die soziale Differenzierung unter der Bauernschaft. Der zunehmende Innen- und Außenhandel, die wachsenden Bedürfnisse der Städte und der Industrie beeinflußten aber trotz aller' mittelalterlichen Zurückgebliebenheit die russische Landwirtschaft. Vor allem bewirkten sie eine stärkere Produktion für den Markt. Am sichtbarsten machte sich dieser Trend in den großen Gütern bemerkbar, die bereits im dritten Jahrzehnt des 19. Jh. überwiegend Getreide für den Markt produzierten. Um die Erträge zu erhöhen, versuchten einige Gutsbesitzer, ihre Wirtschaften zu rationalisieren, indem sie nwderne landwirtschaftliche Geräte einsetzten, die Fruchtfolge und die Düngung verbesserten sowie andere Erkenntnisse der Agrarkultur berücksichtigten. Sie organisierten einen strengen Arbeitsablauf, ordneten die Wirtschaftsgebäude zweckmäßiger an und dergleichen mehr. Ausdruck dieser Bestrebungen war u. a. die sich aktivierende Tätigkeit der bereits 1765 gegründeten „Freien ökonomischen Gesellschaft". Wenn im 18. Jh. im Wirken dieser Gesellschaft noch eindeutig die Tendenz überwog, die Produktivität der feudalen Arbeit zu erhöhen, so wurde in den vielen Veröffentlichungen und Preisausschreiben aus dem ersten Viertel des 19. Jh. die Problematik der wirtschaftlichen Rentabilität immer öfter mit der Forderung verknüpft, Lohnarbeit und moderne Technik anzuwenden. Die Anwendung von Lohnarbeit in der Landwirtschaft durch die Gutsbesitzer

Zersetzung der Feudalwirtschaft

23

blieb jedoch sporadisch, und wenn sie geschah, dann handelte es sich bei den Lohnarbeitern meistens um die eigenen Gutsbauern, die mit Mitteln des außerökonomischen Zwangs dazu veranlaßt wurden. „In diesem Falle", schreibt der sowjetische Historiker W. A. Fjodorow, „kann man von einer Übergangsform von der feudalen zur kapitalistischen Ausbeutung sprechen, die sowohl die Züge der einen als auch der arideren in sich vereinte." 5 In etwas höherem und stärker zunehmendem Maße wurde die landwirtschaftliche Lohnarbeit von einigen wohlhabenden Bauern, namentlich aus der Mitte der Staatsbauern, angewandt, die auch in agrar-technischer Hinsicht Bestrebungen zeigten, auf neue Weise zu wirtschaften. 1806 wurde durch Regierungsverfügung die zollfreie Einfuhr von landwirtschaftlichen Maschinen aus dem Ausland gestattet. In Poltawa, Krementschuk und Romny entstanden die ersten Betriebe für Agrarmaschinenbau. 1802 wurden die ersten Dreschmaschinen hergestellt, vorerst aber nur ganz vereinzelt eingesetzt. 1820 wurde die fabrikmäßige Produktion von Pflügen und anderen landwirtschaftlichen Geräten aufgenommen. Neue, rentablere Kulturen begannen sich zu verbreiten: die Zuckerrübe, die Kartoffel, die Krappflanze (im Kaukasus). Der Weizenanbau wurde größer. Es entstanden neue agrarische Produktionszweige, denen industrielle Bedeutung zukam: die Feinwollschafzucht, der Zuckerrüben- und Weinanbau. In den landwirtschaftlich am weitesten fortgeschrittenen Gebieten des Baltikums und teilweise in der Ukraine bahnte sich die Ablösung der alten Dreifelder-Wirtschaft an. Einzelne Gutsbesitzer gingen zum Vierfeldersystem über, das sie mit dem Futtergrasanbau kombinierten. Die Flucht von vielen Tausenden russischer Bauern aus den zentralen in die südlichen Gebiete des Landes, hervorgerufen durch verschärfte Ausbeutungsmethoden, begünstigte im Süden die Entwicklung der Produktivkräfte. Im Süden der Ukraine, im Gebiet des Don und der unteren Wolga sowie im Vorgelände des Kaukasus bestand nicht die für Zentralrußland typische Feudalstruktur. Wo man sie einzuführen versucht hatte, war sie nicht derart festgefügt. Außerdem boten die brachliegenden Ländereien den Bauern gewisse Ausweichmoglichkeiten. Die feudale Zwangsarbeit erwies sich als wenig geeignet, diese Ländereien zu erschließen. „Neben den Gutsbesitzerlatifundien, in denen im breiten Umfang Lohnarbeit angewandt wurde, entstanden in der südlichen Ukraine viele Wirtschaften vom Farmer-Typus, die Rasnotschinzen, reichen Kolonisten und Staatsbauern gehörten." 6 Deshalb konnten die kapitalistischen Verhältnisse in der Landwirtschaft sich hier ungehinderter entfalten als in Zentralrußland. Diese Entwicklung erhielt zusätzliche Impulse durch die günstigen Handelsmöglichkeiten über die Schwarzmeerhäfen. Bereits im ersten Viertel des 19. Jh. bildeten sich in der Südukraine im Unterschied zu den zentralen Gebieten Vorbedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft auf „amerikanischem" Wege heraus. Im Rahmen von ganz Rußland nahmen sich die technischen Neuerungen und bürgerlichen Wandlungen in der Landwirtschaft jedoch recht bescheiden aus. Prägend für die Landwirtschaft waren nicht die Entwicklungen in einigen etwas fortgeschrittenen Randgebieten, sondern die im ganzen wenig veränderte sozialökonomische Struktur 5 Fedorov, V. A., Pomesciö'i krest'jane central'no-promyslennogo rajona Rossii konca XVIII — pervoj poloviny XIX v., Moskau 1974, S. 75. 6 Druzinina, E. I., Juznaja Ukraina 1800—1825 gg., Moskau 1970, S. 370.

24

Rußland von 1789 bis 1825

in den zentralen Gouvernements, die trotz gewisser bürgerlicher Zersetzungserscheinungen eindeutig feudalen Charakter trug. Fast alle Rationalisierungsversuche von Gutsbesitzern und wohlhabenden Bauern brachten unter den Bedingungen der Leibeigenschaft und der feudalen Produktionsweise nicht den erhofften Erfolg. Die Erfahrungen zeigten, daß es mit Leibeigenen schwer ist. rationell zu wirtschaften. Die Leibeigenen arbeiteten mit Unlust auf den herrschaftlichen Feldern, gingen nicht sorgsam mit den neu angöschafften Geräten um. Die Zahl freier Lohnarbeiter für die Landwirtschaft war im Gesamtmaßstab des Landes äußerst gering. An Fachkräften für die Maschinen, für die Mineraldüngung und den modernen Saat- und Fruchtwechsel fehlte es vollends. Für den Aufbau und die Inganghaltung rationeller Wirtschaften mangelte es außerdem an finanziellen Mitteln. Der feudale, teilweise noch stark naturale Charakter der Gutswirtschaften, der die Anlage großer Kapitalien ausschloß, und die Verschwendung von Mitteln für die parasitäre Lebensweise der Gutsherren schufen fast unüberwindliche Schranken. Für einen ernsten Wandel in der Landwirtschaft waren allgemeine, den Fortschritt begünstigende ökonomisch-gesellschaftliche Bedingungen erforderlich, die es im ersten Viertel des 19. Jh. im feudal-absolutistischen Rußland so gut wie noch nicht gab und die sich erst qualvoll herausbildeten. Die große Mehrzahl der Gutsbesitzer steigerte ihre Einkünfte in altgewohnter Weise, indem sie die Feudallasten der Bauern erhöhte und damit mehr Agrarprodukte auf den Markt brachte. In der nördlichen Ukraine, den zentralen Schwarzerdegebieten und einigen westlichen Gouvernements, wo auf Grund größerer Bodenfruchtbarkeit erhöhte Arbeitsleistungen der Bauern mehr Gewinn versprachen als eine Steigerung der Obrokzahlungen, verschärften die Gutsbesitzer in der Regel die Fronarbeit, so daß bei gleichzeitigen* Obrok- und Fronleistungen die letzteren in diesen Gebieten dominierten. Die Gutsbesitzer erschlossen Neuland, erweiterten ihre. Ackerflächen und Weiden, was zum Teil auf Kosten des bäuerlichen Gemeindelandes geschah. Daraus ergab sich zwangsläufig eine Ausdehnung der Fron auf den herrschaftlichen Feldern. „Einige Gutsbesitzer", schrieb der Dekabrist Turgenjew, „begnügen sich nicht mit drei Tagen in der Woche und zwingen manchmal alle ihre Bauern, während der Getreideernte mehrere Tage hintereinander zu arbeiten. Einige gönnen ihnen nur zwei Tage in der Woche. Andere lassen den Bauern überhaupt nur die Feiertage übrig." 7 Insgesamt verblieb den Bauern in den Schwarzerdegebieten nicht viel mehr Zeit für sich, als zur einfachen Reproduktion ihrer Wirtschaften notwendig war. In den weniger fruchtbaren zentralen und nördlichen Gebieten, wo zudem die Industrie sich stärker entwickelte und nicht wenige Bauern direkt oder indirekt mit ihr verknüpft waren, war es für die Gutsbesitzer vorteilhafter, die Obrokzahlungen der Bauern zu erhöhen, wobei parallel dazu weiterhin Fronarbeit angewandt wurde. In diesen Gebieten herrschte der Obrok vor. In einer der Besitzungen des Grafen Orlow im Gouvernement Nishni-Nowgorod, die für die Verhältnisse Anfang des 19. Jh: typisch war, betrug 1793 der halbjährliche bäuerliche Obrok 3,69 Rubel und stieg in den Jahren bis 1816 auf 9,17 Rubel. In vier Gütern des Fürsten Jusupow erhöhte sich der Obrok in den Jahren von 1796 bis 1823 von 5 Rubel auf 18 bzw. 26 Rubel pro männliche Person. Damit überstieg die Erhöhung des Obroks beträchtlich das Tempo 7 Turgenev, N. I., Necto o barscine. Dnevniki i pis'ma N. I. Turgeneva za 1816—1824 gg., In: Archiv brat'ev Turgenevych, vyp. 5, Petrograd 1921, S. 404.

Zersetzung der Feudalwirtschaft

25

der fortschreitenden Geldentwertung. Solche Zahlungen wurden einerseits durch die Beschäftigung der Bauern in Gewerbe oder Manufaktur ermöglicht', andererseits aber auch direkt mit brutalen Mitteln erzwungen, was den parasitären Charakter der feudalen Ausbeutung unterstreicht. Es kam zu derartigen Extremen wie 1817 im Gouvernement Pskow, wo sich die Bauern eines Dorfes beschwerten, daß ihr Gutsbesitzer in einem Jahr von .550 „Seelen" 10000 Rubel Obrok eingezogen und darüber hinaus durch Drangsalierungen aller Art weitere 28000 Rubel von ihnen erpreßt hatte. Jedes Mädchen dieses Dorfes, das nicht den für sie vom Gutsherrn bestimmten Bräutigam heiraten wollte, mußte 30 Rubel zahlen. Unter dem Einfluß der sich intensivierenden Ware-Geld-Beziehungen und der wachsenden Marktproduktion der Landwirtschaft wurde, um die Einkünfte zu erhöhen, auf den Ländereien der Staats- und Kronbauern ebenfalls eine Steigerung der Arbeitsproduktivität angestrebt. Insgesamt zeitigten die Versuche, die moderne Agrartechnik und die Lohnarbeit anzuwenden, auch in diesem Sektor der Landwirtschaft nur geringfügige Ergebnisse. Sie waren aber immerhin bedeutender als in den Gutswirtschaften, weil auf Grund der formalrechtlichen und ökonomischen Stellung der Staatsbauern, der neuen Art zu wirtschaften, nicht ganz so viele Hindernisse im Wege standen. Da unter den Staats- und Kronbauern, bedingt durch ihren Status, der Obrok dominierte, spiegelten sich in der Entwicklung des Obroks sowohl die echten produktiven Fortschritte der bäuerlichen Wirtschaften als auch die ständig wachsenden Forderungen von seiten des Staats und der Krone. Im ersten Viertel des 19. Jh. hatten sich die Obrokleistungen der Staatsbauern unter Berücksichtigung der Geldentwertung effektiv etwa verdoppelt. Generell gesehen, entsprach die Steigerung des Obroks bei den Staats- und Kronbauern fast ebensowenig den realen Erträgen der bäuerlichen Wirtschaften wie bei den obrokpflichtigen Gutsbauern. Um die Zahlungen leisten zu können, gingen viele Staats- wie auch Gutsbauern auf Arbeitssuche in die Stadt, wandten sich dem Handwerk und Handel zu oder verdingten sich in den Manufakturen. Die vielfaltigen, recht komplizierten Prozesse und Wandlungen in der Wirtschaft Rußlands, vor allem die wachsende industrielle und agrarische Marktproduktion, die Zunahme der Lohnarbeit und der kapitalistischen Produktionsformen wirkten zersetzend auf die patriarchalisch-feudalen Verhältnisse im Lande und verstärkten die soziale Differenzierung unter verschiedenen Schichten der Bevölkerung. Soziale Differenzierungsprozesse hatte es in der bisherigen langen Geschichte Rußlands schon immer gegeben. Ihre neue Qualität bestand seit dem ausgehenden 18. Jh. darin, daß sie zunehmend in Richtung der Herausbildung der Klassen der bürgerlichen Gesellschaft verliefen bzw. zumindest dazu beitrugen, den Boden für die bürgerliche Klassendifferenzierung zu bereiten. „Das ganze Wesen der kapitalistischen Entwicklung des landwirtschaftlichen Kleinbetriebs", schrieb Lenin, „besteht im Aufkommen und in der Verstärkung der wirtschaftlichen Ungleichheit innerhalb der patriarchalischen Verbände, des weiteren in der Umwandlung der einfachen Ungleichheit in kapitalistische Beziehungen." 8 Als besonders wichtig ist deshalb der Prozeß der Zunahme der Vermögensungleichheit und der Herausbildung divergierender sozialer Schichten in der Bauern v hilft zu bezeichnen, dieser weitaus zahlreichsten Bevölkerungsgruppe Rußlands. 8 Lenin, W. I., Die Agrarfrage in Rußland am Ausgang des 19. Jahrhunderts. In: Werke, Bd. 15, Berlin 1968, S. 85.

26

Rußland von 1789 bis 1825

Ende des 18. und im ersten Viertel des 19. Jh. existierten in der russischen Landwirtschaft weiterhin die drei Formen der Feudalrente nebeneinander: die Naturaloder riuuuktenrente (NaturaJobrokj, uit Geldrente (Geldobrok) und die Arbeitsrente (Fron). Innerhalb der Guts- und Bauernwirtschaften kamen die einzelnen Arten der Rente in reiner und in gemischter Form vor.. Aber auch bei der gemischten Form überwog eine Rentenart meistens ziemlich eindeutig, so daß man mit Fug und Recht entweder von Fron- oder von Obrokbauern sprechen kann. Ein Charakteristikum dieser Periode bestand darin, daß unter dem Einfluß der wachsenden Warenbeziehungen die feudalen Pflichtleistungen sich sowohl unter den Fron- als auch den Obrokbauern immens erhöhten, wobei ein deutlicher Rückgang des Naturalobroks und eine schärfere Abgrenzung zwischen Geldobrok und Fron nach Landwirtschaftsgebieten und nach der Größe der Güter zu verzeichnen waren. In den Nichtschwarzerde-Gebieten und dort vor allem in den größeren Gutswirtschaften überwog der Geldobrok, während in den Schwarzerde-Gebieten die Fron vorherrschte. Allgemein kann festgestellt werden, daß der Prozeß des Aufkommens und der Zunahme von Vermögensungleichheit dort größere Fortschritte machte, wo die WareGeld-Beziehungen tiefer in das wirtschaftliche Leben der Bauern eingedrungen bzw. schon zu deren festen Bestandteil geworden waren. Das war in der Regel in höherem Maße unter den Obrokbauern als bei den Fronbauern der Fall. Folgert wir den Berechnungen des sowjetischen Historikers I. D. Kowaltschenko, der die leibeigene Bauernschaft Rußlands in drei Vermögensgruppen unterteilt, so bietet sich für die ersten drei Jahrzehnte des 19. Jh. folgendes Bild wirtschaftlicher Ungleichheit: In den Schwarzerde-Gebieten, d . h . den Gebieten, wo die Fron vorherrschte, befanden sich 63 Prozent der ausschließlich im Agrarsektor tätigen leibeigenen Bauernschaft in einer mittleren Vermögens- bzw. Wirtschaftslage, während 30 Prozent als relativ wohlhabend und 7 Prozent als arm eingestuft wurden. Als mittlere Vermögenslage wird eine solche Lage der Bauernwirtschaften bezeichnet, in der sie sich selbst einfach reproduzieren können. Die relativ wohlhabenden Bauern hingegen waren imstande, darüber hinaus Gewinn zu erwirtschaften, während es bei den Armen nicht einmal zur einfachen Reproduktion langte und die fehlenden Mittel je nach den örtlichen und sonstigen Umständen aus verschiedenen zusätzlichen Quellen wie z. B. durch Hilfsleistungen der Umteilungsgemeinde erbracht werden mußten.9 Etwas anders sah es schon unter derselben, d . h . ausschließlich im Agrarsektor tätigen leibeigenen Bauernschaft in den Nichtschwarzerde-Gebieten aus, wo bekanntlich der Geldobrok überwog. Betrug die Schicht der relativ Wohlhabenden im selben Zeitraum auch hier etwa 30 Prozent, so war jene in der mittleren Vermögenslage geringer, und zwar 58 Prozent, und die Schicht der Armen machte bereits 12 Prozent der Bauern aus. Generell kann für die allein in der Landwirtschaft tätige leibeigene Bauernschaft in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jh. konstatiert werden, daß die mittler» Schicht überall dominierte, während die Schicht der Armen noch verhältnismäßig gering war. Die mittlere Schicht der Bauern gewann die Hauptmasse der notwendigen Unterhaltsmittel durch eigene Arbeit in den eigenen Wirtschaften auf den ihnen als Leibeigene zugeteilten Bodenabschnitten. 9 Koval'cenko, I. D., Russkoe krepostnoe krest'janstvo v pervoj polovine X I X v., Moskau 1967, S. 349.

Zersetzung der Feudalwirtschaft

27

Die armen Bauern erzielten aus ihrer eigenen Wirtschaft kaum die Hälfte dieser Mittel. Die übrigen Mittel für den Lebensunterhalt erhielten sie durch verschiedenerlei —: durchaus nicht immer selbstlose — „Hilfsmaßnahmen" und „Stützen" von seiten des Gutsbesitzers und der Umteilungsgemeinde, durch zusätzliche Fronarbeiten und vereinzelt durch Lohnarbeit bei wohlhabenden Nachbarn oder außerhalb des eigenen Dorfes. In den Dörfern, wo die Fronarbeit herrschte, mußten die fehlenden Unterhaltsmittel für die armen Bauern von diesen in der Regel unter feudalen Zwangsmethoden erarbeitet werden, während in den Obrokdörfern vorwiegend Übergangsformen wie Abarbeit aber auch Lohnarbeit angewandt wurden. Die wohlhabenden Bauern verfügten über überschüssige Mittel, die sie teilweise in der Agrarproduktion anlegten. Sie beschäftigten nicht selten Lohnarbeiter, wenngleich ihre landwirtschaftliche Tätigkeit in der Hauptsache auf der eigenen Arbeit ihrer Familien oder ganzer Familienkooperationen beruhte. In Einzelfallen kam es zwischen Gutsbesitzern und ihren finanzkräftigen Bauern unter Mißachtung der Mirverfassung zu pachtähnlichen Abkommen, ja zu Bodenkauf. Wenn Ahfang des 19. Jh. solche Abmachungen noch relativ selten und sporadisch vorkamen, so zeugen sie nichtsdestoweniger davon, daß in' der Basis ein wichtiger Prozeß begonnen hatte: die allmähliche ökonomische Trennung der Bauernwirtschaft von der Gutswirtschaft. Dieser sehr langsame Prozeß der Herausbildung neuer Bodeneigentums- und Bodenbesitzverhältnisse (Bodenkauf und Bodenpacht) verlief unter den wohlhabenden Bauern der Obrokdörfer in den Nichtschwarzerde-Gebieten immerhin etwas rascher als in den fronwirtschaftlichen Dörfern der Schwarzerde-Gebiete. Die Erscheinung der Bodenpacht und des Bodenkaufs durch wohlhabende Bauern darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß unter den Bedingungen der wachsenden landwirtschaftlichen Marktproduktion sich insgesamt eine Bodenbesitzverschiebung zugunsten der Gutsherren ujid zuungunsten der Bauern vollzog. Ende des 18. Jh. benutzten die Gutsbesitzer unmittelbar produktiv nur 17,7 Prozent der ihnen als Eigentümer gehörenden Ländereien. Bis zur Mitte des 19. Jh. war dieser Anteil im europäischen Rußland im Durchschnitt auf 48,8 Prozent angestiegen und hatte in den zentralen Agrarbezirken sogar 52,8 Prozent und im Wolgagebiet 56,2 Prozent erreicht. Etwa im. gleichen Maße ging der Umfang der bäuerlichen Bodenabschnitte zurück. Es liegt auf der Hand, daß dieser Prozeß vor allem die wirtschaftlich schwächeren Bauern traf, daß er ihre Reihen und ihre Armut vermehrte und damit einen wichtigen Faktor der aufgezeigten sozialen Differenzierung bildete. Neben den ausschließlich in der Landwirtschaft tätigen leibeigenen Bauern existierten Gruppen von Bauern (und ganze Dörfer), die gleichzeitig mit der agrarischen Produktion in Handwerk, Gewerbe oder Handel beschäftigt waren. Bei diesem Teil der Bauernschaft stellte I. D. Kowaltschenlco für die ersten drei Jahrzehnte des 19. Jh. folgende soziale Schichtung fest: Der Anteil der Bauern in mittlerer Vermögenslage hatte die 50 Prozent-Schwelle unterschritten und betrug 46 Prozent. Der Anteil der relativ Wohlhabenden war mit 26 Prozent ebenfalls geringer als der entsprechenden nur im Agrarsektor tätigen Bauernschicht. Dafür aber machten die Armen, deren Zahl sich kontinuierlich erhöhte, bereits 28 Prozent dieser Gruppe der leibeigenen Bauernschaft aus In den Dörfern, wo Handwerk, Gewerbe und Handel mit der landwirtschaftlichen Tätigkeit der Bauern verflochten waren, dominierte somit im sozialen Erscheinungsbild nicht mehr die Mittelschicht, sondern im zunehmenden Maße der Gegensatz

28

Rußland von 1789 bis 1825

zwischen den armen und den wohlhabenden Bauern. Die wohlhabenden Bauern erzeugten .im beträchtlichen Umfang Agrarprodukte für den Markt und waren daneben als Händler, als Gewerbetreibende oder Unternehmer tätig. Bei den einen überwog die kommerziell-händlerische, bei den anderen die gewerblich-unternehmerische Tätigkeit. Bei diesen Bauern waren Kauf und Pacht von Grund und Boden einschließlich von Bodenanteilen anderer Bauern sowie die Anwendung von Lohnarbeit nichts Seltenfes mehr. Unter den armen Bauern wurden jene zahlreicher, die zwar noch eine eigene kleine Wirtschaft besaßen, ihre Existenzmittel aber zunehmend aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft bestritten. Dieser Schichtungsprozeß innerhalb der leibeigenen Bauernschaft Rußlands in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. macht zweierlei deutlich. Erstens: Die Differenzierung hatte einen solchen Grad erreicht, daß die ehemals relativ einheitliche leibeigene Bauernschaft sich deutlich in drei soziale Gruppen aufspaltete. Zweitens: Es vollzogen sich im Grunde genommen zwei innerlich zusammenhängende, aber qualitativ unterschiedliche Differenzierungsprozesse: die Zunahme der einfachen wirtschaftlichen Ungleichheit und die Verwandlung dieser in kapitalistische Beziehungen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. überwog in Rußland ganz eindeutig die einfache Vermögensdifferenzierung, da sie noch keine breite Schicht wirklich freier Lohnarbeiter hervorbrachte. Der seine Arbeitskraft verkaufende Bauer war persönlich unfrei und besaß in der Regel weiterhin den ihm zugeteilten Bodenanteil. Die Bedeutung dieser niederen Phase der sozialen Differenzierung besteht aber darin, daß sie, je mehr sie voranschritt, den Boden für die kapitalistische Klassendifferenzierung bereitete und in diese hinüberleitete. Auch unter den Staats- und Kronbauern überwog in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. die einfache Vermögensdifferenzierung. Wenngleich uns ähnliche Berechnungen wie bei den Fronbauern nicht vorliegen, ist doch so viel klar, daß hier der soziale Schichtungsprozeß vor allem wegen der geringeren feudalen Bindung noch weiter vorangeschritten war. Die mittlere Schicht war noch mehr zugunsten der sich polarisierenden Gruppen zusammengeschmolzen. Als obrokpflichtige Bauern wurden die Staats- und Kronbauern enger in den WareGeld-Verkehr einbezogen und auf Grund ihrer größeren persönlichen Freiheit besaßen sie mehr Möglichkeiten, sich in Gewerbe und Handel zu betätigen. Pacht und gelegentlicher Kauf von Grund und Boden unter Umgehung der Mirverfassung wurden hier etwas öfter praktiziert. Der Staat, der die bäuerlichen Geldleistungen immer höher schraubte, mußte den Staatsbauern im Zuge der Entwicklung von Handel und Industrie notgedrungen erweiterte Rechte zugestehen. Ein 1801 erlassener Ukas gestattete den Staatsbauern, sowie Kaufleuten und Stadtbewohnern, unbesiedeltes Land käuflich zu erwerben. Das unumschränkte Monopol der herrschenden Feudalklasse, allein Eigentümer von Grund und Boden zu sein, war damit gebrochen. Ein Teil des solcherart erworbenen Landes tendierte dahin, bürgerliches Eigentum zu werden. Eine andere Regierungsverfügung räumte den Staatsbauern das Recht ein, Klein- und Engroshandel zu betreiben. Von 1810 bis 1812 hatte die Regierung durch mehrere Ukase eine besondere steuerpflichtige Gruppe „handeltreibender Bauern" geschaffen und 1818 bestimmt, daß Bauern aller Kategorien Fabriken erwerben dürfen. Diese Verfügungen kamen ebenfalls vorrangig den geschäfts- und bewegungsfreieren Staatsbauern zugute. Die genannten Gesetze entsprachen objektiven, ihrer Natur nach bürgerlichen

Zersetzung der Feudalwirtschaft

29

Entwicklungstendenzen in der russischen Wirtschaft. Sie begünstigten in einem gewissen, nicht zu überschätzenden Umfang die Herausbildung bürgerlicher Schichten und sind damit progressiv zu bewerten. Sie brachten aber nur einer äußerst geringen Zahl von Bauern eine soziale Besserstellung. Die Mehrheit verarmte noch mehr und blieb rechtlos wie zuvor. Oft genug gerieten die Armen zusätzlich zur feudalen Ausbeutung in Abhängigkeit von den aufsteigenden wirtschaftlich stärkeren Bauern. Bei der Vielschichtigkeit der Differenzierungsprozesse in der russischen Bauernschaft ist es oft schwer, ihre zwei Hauptphasen zu unterscheiden, zumal die zweite Phase, d. h. die „Umwandlung der einfachen Ungleichheit in kapitalistische Beziehungen" 1 0 , in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. noch sehr schwach ausgeprägt war. Immerhin weist aber eine Reihe von Erscheinungen, die sogar in Gesetzen ihren Niederschlag fand, daraufhin. Der bereits erwähnte Ukas von 1818, wonach alle Bauern zu Fabrikbesitzern avancieren durften, bringt zweifelsohne den Tatbestand eines wenn auch schwachen objektiven Prozesses der kapitalistischen Klassendifferenzierung zum Ausdruck. Eine ähnliche, obgleich geringer ausgeprägte Entwicklungstendenz widerspiegelt sich in dem 1803 erlassenen Ukas „Über die freien Ackerleute", wonach den Gutsbesitzern gestattet wurde, ihre Bauern gegen eine Entschädigung und mit einer Mindestlandzuteilung von der Leibeigenschaft zu befreien. Wenn die Zarenregierung dieses Gesetz in erster Linie als Hilfe für verschuldete Gutsbesitzer betrachtete, so ist es doch bezeichnend, daß man dabei bereit war, wohlhabenden, auf neue Weise wirtschaftenden Bauern — denn um solche vor allem handelte es sich hier — entgegenzukommen. Bis 1825 wurden auf der Grundlage dieses Gesetzes 47000 Bauern zu „freien Ackerleuten". Im Vergleich zur Gesamtmasse der Leibeigenen ist diese Zahl natürlich gering. Immerhin war damit erstmalig die juristische Möglichkeit gegeben, daß wohlhabende Bauern ihre Wirtschaften auf kapitalistische Weise betreiben konnten. Die Umwandlung einfacher Ungleichheit in kapitalistische Beziehungen war auch durch die Bauernreform von 1816 bis 1819 im Baltikum gegeben. In den russischen Ostseeprovinzen, wo der Warencharakter der landwirtschaftlichen Produktion seit langem tiefer ausgeprägt war und die Einflüsse aus den entwickelteren west- und mitteleuropäischen Ländern schon allein durch deren geographische Nähe und durch den Handel über die Ostsee sich stärker bemerkbar machten, waren die Zersetzungserscheinungen des Feudalismus und seine Widersprüche weiter fortgeschritten als in den übrigen Gebieten Rußlands. Zu, den besonders harten Formen der feudalen Ausbeutung gesellte sich hier die nationale Unterdrückung der einheimischen Bauern durch die deutsch-baltische Herrenschicht. Die estnischen und lettischen Bauern führten Anfang des 19. Jh., nicht zuletzt beeinflußt von den preußischen Agrarreformen, einen hartnäckigen Kampf um ihre Befreiung vom Joch der baltisch-deutschen Barone. Die Zarenregierung sah sich schließlich veranlaßt, die Leibeigenschaft im Baltikum aufzuheben. Die Reform brachte den Bauern jedoch nur die persönliche Freiheit, ohne ihnen wenigstens einen Mindestanteil an Land zu übereignen, das vollends und unein-

10 Lenin, W. I., Die Agrarfrage in Rußland am Ausgang des 19. Jahrhunderts. In: Werke, Bd. 15, Berlin 1968, S. 85.

30

Rußland von 1789 bis 1825

geschränkt Eigentum der alten Gutsherren blieb. Die so „befreiten" baltischen Bauern wandelten sich zu landlosen Agrarproletariern, die von ihren ehemaligen Herren teils mit feudalen teils mit kapitalistischen Methoden ausgebeutet wurdèn. Am sichtbarsten vollzog sich die kapitalistische Differenzierung unter jenen Obrokbauern, die überwiegend oder ausschließlich in Handwerk, Wandergewerbe oder Handel tätig waren und als solche bessere Voraussetzungen für die Integration in die kapitalistische Industrie bzw. für die eigenständige Herausbildung kapitalistischer Produktionsformen boten. Ein günstiges wirtschaftliches Klima bestand dafür in den erwähnten Gebieten des spezialisierten Handwerks, womit zugleich eine Relation zu den übrigen riesigen Räumen Rußlands gegeben ist, die von der kapitalistischen Entwicklung bedeutend schwächer berührt wurden und wo kapitalistische Verhältnisse nur keimhaft oder gar nicht vorhanden waren. Nichtsdestoweniger kam diesen kapitalistischen Inseln im feudalen Meer prinzipielle Bedeutung zu. Der Sog, der von den neuen kapitalistischen Betrieben ausging, wirkte zersetzend auf die patriarchalisch-feudalen Verhältnisse in den umliegenden Dörfern. Durch intensiven Geldverkehr und Handel, durch den Bedarf der Stadtbevölkerung an Lebensmitteln, durch Abwanderung von Arbeitskräften in die Städte, durch verschiedene Formen der Einbeziehung des Handwerks und der Heimindustrie in den Produktionsprozeß der kapitalistischen Betriebe wurden wichtige Bereiche der feudalen Wirtschaft immer mehr angegriffen. Waren die ersten Kapitalisten in Rußland Vertreter des Kaufmannstandes, die ihre Kapitalien für die Gründung von Manufakturen und die Belieferung und Finanzierung der Heimarbeit verwendeten, so ging der eigentliche Stamm der russischen Kapitalistenklasse aus der noch feudalabhängigen gewerbe- und handeltreibenden Bauernschaft hervor. Der Aufstieg dieser Bourgeoisie ist besonders interessant und veranschaulicht in eindrucksvoller Weise die soziale Differenzierung der Bauernschaft unter dem Einfluß sich entwickelnder kapitalistischer Verhältnisse. Je mehr sich der Absatzmarkt ausbreitete und von den Produktionsstätten entfernte, umso bedeutungsvoller wurde die Funktion derjenigen Handwerk und Handel treibenden Bauern, die neben dem Absatz eigener Produkte auch den für andere besorgten. Langsam schälten sich unter ihnen einige besonders Wohlhabende heraus, die dazu übergingen, Rohstoff aufzukaufen und ihn in Form des Verlagssystems an Handwerker in Heimarbeit zu verteilen. Als Nächstes gründeten sie eigene Werkstätten, in denen sie Lohnarbeit anwandten. Handel, Fuhrdiönste, Unterhaltung von Gasthäusern, Wuchergeschäfte aller Art, die Gründung von Faktoreien und Manufakturen öffneten somit den Weg, tim durch die Ausbeutung anderer, wirtschaftlich schwächerer Bauern, Kapitalien anzuhäufen. In der Regel kauften sich solche feudalabhängigen Bourgeois für riesige Lösegelder von ihren Herren los, um freie Unternehmer zu werden. Charakteristisch dafür sind die Vorgänge in Iwanowo. Bis 1861 kauften sich dort etwa fünfzig der reichsten Bauernfamilien frei und brachten dafür eine Summe von mehr als einer Million Goldrubel auf. Der Bauer Gratschow, Eigentümer einer Kattundruckerei, hatte bereits 1795 für die enorme Summe von 130000 Rubeln die Freiheit erlangt und sich sogleich als Kaufmann der 1. Gilde registrieren lassen. Viele der größten Fabrikbesitzer des späteren Rußland sind aus leibeigenen Bauern hervorgegangen : so Morosow, Sawjalow, Warypajew, Kondratow u. a. Morosow hatte sich 1820 freigekauft. «Zuvor war er Hirt, Kutscher, Weber und schließlich

Zersetzung der Feudal Wirtschaft

31

Zubringer von Waren für Ankäufer gewesen. Danach wurde er Eigentümer einer Werkstatt, eines Verteilungskontors, einer Fabrik. Leibeigener Bauer war auch Prochorow gewesen, der Begründer der größten Textilfabrik Moskaus. 1815 hatte er sich für eine geringe'Summe losgekauft und sodann in Moskau eine Manufaktur gegründet, die bald gut florierte, und ein herrschaftliches Haus erworben. Später lud er seinen ehemaligen Gutsherrn ein, der sich lange nicht darüber beruhigen konnte, einen so erfolgreichen Geschäftsmann ohne großen Gewinn freigelassen zu haben. Ein solcher Aufstieg in die Kapitalistenklasse war natürlich nur für einen verschwindend geringen Teil der russischen Bauern möglich. Soweit breitere Kreise der Bauern mit der kapitalistischen Produktion in Berührung kamen, verlief der Differenzierungsprozeß dergestalt, daß viele von ihnen bei. fortbestehender feudaler Abhängigkeit zu Lohnarbeitern wurden! Durch die zunehmende Trennung von der Landwirtschaft sowie durch ihre Entlohnungs- und Beschäftigungsweise stellten sie schon eine dem künftigen Proletariat nahestehende Schicht dar. Ihre Lage war besonders schwer, weil sie doppelt ausgebeutet wurden: durch den kapitalistischen Unternehmer und durch den Gutsherrn. Ihr Kampf um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen bildete eine neue soziale Erscheinung dieser Zeit. Den wirklichen, im doppelten Sinne freien Lohnarbeiter vermochte der Differenzierungsprozeß in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. nicht bzw. nur sporadisch hervorzubringen, weil sich die Leibeigenschaft dafür als stärkste Fessel erwies, die erst gesprengt werden mußte. In der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands stellte die Zeitspanne, die das Ende des 18. ünd das erste Viertel des 19. Jh. umfaßt, eine Übergangsphase dar. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jh. begonnene einheitliche Prozeß der Zersetzung des Feudalismus und der Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse setzte sich in intensiveren Formen fort und erzeugte immer mehr Elemente für die Krise des gesamten Feudalsystems. Die wichtigsten Elemente der Krise waren latent schon gegeben und entwickelten sich weiter. Es bedurfte jedoch noch mehrerer Jahrzehnte bis zu ihrer vollen Ausreifung. Obwohl die Grundzüge der feudalen Produktionsweise — die Naturalwirtschaft und die primitive Technik, das Eigentum des Gutsbesitzers an Grund und Boden, die persönliche Abhängigkeit der Bauern und der außerökonomische Zwang — weiterhin dominierten, war doch insgesamt ein merklicher, wenn auch langsamer Aufschwung der Produktivkräfte zu verzeichnen.1- Die Zerfallserscheinungen der alten Produktionsweise und das Reifen der neuen äußerten sich auf vielfaltige Art in der Wirtschaft und im politisch-kulturellen Leben des Landes und nahmen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt graduell zu. Die auf Zwangsarbeit basierenden Industriebetriebe begannen, insgesamt gesehen, zu stagnieren oder gar niederzugehen, während einige Industriezweige sich auf kapitalistischer Grundlage entwickelten und 'der Anteil der Lohnarbeit kontinuierlich anstieg. Die Agrarproduktion für den Markt erhöhte sich. Unter den Bauern verstärkte sich die Vermögensungleichheit, die teilweise und territorial unterschiedlich in den kapitalistischen Differenzierungsprozeß hinüberzuwachsen begann. Die Spezialisierung landwirtschaftlicher und industrieller Gebiete, das Wachsen des Innen- und Außenhandels, die Bevölkerungszunahme und andere Faktoren mehr unterstreichen die allgemeine Entwicklungstendenz des Landes, die in Übereinstimmung mit dem Charakter der Epoche auch für Rußland die Beseitigung der Leibeigenschaft und des Absolutismus, die Durchsetzung bürgerlicher Verhältnisse auf die Tagesordnung

32

Rußland vort 1789 bis 1825

setzte. Gleichzeitig wurden die feudalen Hemmnisse sichtbarer, die das Entwicklungstempo kapitalistischer Verhältnisse verlangsamten und das ökonomisch-politische Zurückbleiben Rußlands hinter den fortgeschrittenen europäischen Ländern bedingten.

Kapitel II Die politisch-gesellschaftliche Entwicklung Rußlands um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Die sich seit dem ausgehenden 18. Jh. allmählich verstärkende Zersetzung der Feudalwirtschaft, die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse und die Zunahme sozialer Spannungen in Rußland wirkten sich vorerst" noch nicht auf die bestehenden Machtverhältnisse aus. Die Selbstherrschaft, der zaristische Staatsapparat waren festgefügt und zentralisiert wie niemals zuvor in der russischen Geschichte. Die Regierungszügel befanden sich in den Händen einer ebenso energischen wie intelligenten Frau, der Zarin Katharina II., die schon seit 1762 infolge einer Palastrevolte auf dem russischen Throne saß und es wie wenige Herrscher vor ihr verstanden hatte, zum Nutzen und zum Gefallen des russischen Adels zu regieren und in deren Amtszeit der russische Staat sich beträchtlich erweitert und an internationalem Einfluß gewonnen hatte. In den hier zu beleuchtenden letzten Regierüngsjahren Katharinas II. versuchte die alternde Zarin, auch unter den sich langsam ändernden Bedingungen ihren bewährten Kurs weiter zu steuern. Die vorherrschende Stellung der russischen Aristokratie im Staate blieb unangetastet. Die feudalen Privilegien der Gutsbesitzer blieben erhalten. Der grundbesitzende Adel lebte wie eh und je auf großem Fuß. Man feierte rauschende Feste, umgab sich mit Scharen von Dienstpersonal. Die Gutsherren behielten die ihnen von der Regierung zugestandenen fast unbeschränkten Rechte über ihre Leibeigenen. Man konnte sie züchtigen, man konnte sie verkaufen, man wettete um sie, man gewann oder verlor sie beim Kartenspiel. Dennoch war das goldene Zeitalter der Feudalklasse, wie man die Regierungszeit Katharinas Ii. später zu nennen pflegte, bereits abgelaufen. Seit dem letzten großen Bauernkrieg von 1773 bis 1775 unter Pugatschow fühlte sich der russische Adel nicht mehr so selbstsicher in seiner Klassenherrschaft wie^zuvor. Trotz aller Unterdrückungsmaßnahmen rissen die Unruhen und Aufstände der feudal ausgebeuteten Bauern nicht mehr ab. 1777 kam es zu Bauernunruhen im Gouvernement Pskow, die 3000 aktive Teilnehmer zählten. Im Herbst 1780 wurden mehrere Landkreise in den Gouvernements Nowgorod und Twer von Unruhen ergriffen. Die mit Spießen, Sensen und Mistgabeln bewaffneten Bauern setzten sich gegen das eintreffende Militär zur Wehr. In einem Dorf mußte das Militärkommando wieder abziehen, da die Aufständischen besonders kämpferisch gestimmt waren und die Drohung ausstießen, daß „sie alle erschlagen würden, wie stark die Abteilung auch sei, denn im Notfall bekämen sie noch Unterstützung von anderen Gutsbauern" 1 . Auf heftigen Widerstand stießen die Regierungstruppen in den Dörfern des Gouvernements Nowgorod. Gleich in der ersten Siedlung traten rund 500 mit Flinten und Spießen bewaffnete Bauern auf offenem Feld der Strafabteilung entgegen und eröffneten das Feuer. 1 Zitiert nach: Okun', S. B„ Istorija SSSR. Teil I, Leningrad 1974, S. 26. 3

Straube/Zeil, Feudalismus

34

Rußland von 1789 bis 1825

Beträchtliche Ausmaße nahm der antifeudale Kampf der lettischen und estnischen Bauern in den achtziger Jahren des 18. Jh. an. Die Bauern weigerten sich, Frondienste zu leisten, und widersetzten sich den militärischen Strafexpeditionen. Im August 1784 schlugen die Bauern im Dorfe Karula eine Regierungseinheit in die Flucht. Der livländische General-Gouverneur forderte Verstärkung an, wobei er mit Nachdruck betonte, daß die Bauernschaft allgemein von Unruhe ergriffen und zum Äußersten entschlossen sei. Einen besonderen Aufschwung erlebte die Bauernbewegung 1796/97, als von 41 Gouvernements des europäischen Rußlands 32 von Unruhen und Aufständen erfaßt wurden. Allein in den Gütern der Aristokratenfamilien der Golizyns und Apraksins hatten sich 13000 Menschen zum Aufstand erhoben. Die Ursachen der Unruhen und Aufstände waren vor allem in den anwachsenden bäuerlichen Pflichtleistungen begründet. In den vielen Bittgesuchen an den Zaren beklagten sich die Bauern immer wieder über die sie ruinierenden „unmäßigen Lasten und Abgaben". Die bäuerlichen Bittschriften jener Zeit waren nicht selten voller Klagen über die Errichtung und den rücksichtslosen Betrieb von Manufakturen und Fabriken durch die Gutsbesitzer. Die Bauefnbewegung entfaltete sich somit auf der Grundlage der zunehmenden Verarmung und Ruinierung breiter Schichten der Bauernschaft. Die feudalabhängigen Arbeitsleute in den Manufakturen empörten sich ebenfalls immer öfter gegen die ihnen aufgezwungenen grauenvollen Arbeits- und Lebensbedingungen. Die vorherrschende allgemeine Forderung der Bauern in all diesen Bewegungen war die der Befreiung aus der Leibeigenschaft. Auch das erste Jahrzehnt des 19. Jh. war von Unruhen gekennzeichnet, die vor allem unter den obrokpflichtigen Bauern in den Gouvernements Nowgorod, Petersburg, Wladimir, Jaroslawl und Pskow größere Ausmaße angenommen hatten. In der fundamentalen sowjetischen Quellenpublikation über die Bauernbewegung in Rußland wurden für diese Jahre allein 168 aktive kollektive bäuerliche Widerstandsaktionen registriert. 2 Die Unsicherheit, die sich der russischen Feudalklasse zunehmend bemächtigte, hatte ihren Grund jedoch nicht allein in den Bauernunruhen. Die feudale Wirtschaft selbst offenbarte immer mehr Krisensymptome. Und wer von den- Gutsbesitzern das nicht wahr haben wollte, mußte zumindest aus eigener Erfahrung oder bei seinen adligen Nachbarn die progressierende Verschuldung der Gutswirtschaften als allgemeine Erscheinung jener Zeit feststellen. Unbehagen ergriff den reaktionären Adel schließlich auch dann, wenn er seine Blicke über die russische Grenze hinaus lenkte. Im Weltmaßstab hatte die Große bürgerliche Revolution in Frankreich die endgültige Wende zu einem neuen Zeitalter gebracht. Diese Revolution mußte, nach den Worten von W. I. Lenin, „das ganze übrige autokratische, zaristische, königliche, halbfeudale Europa bis in die Grundfesten erschüttern" 3 . Die Französische Revolution und die nachfolgenden stürmischen Ereignisse in West- und Mitteleuropa zeigten, wie rasch die Feudalherrschaft ins Wanken geraten und Throne fallen können.

2 Krestjanskoe dvizenie v Rossii v XIX — nacale X X veka. Sbornik dokumentov. Pod obscej redakciej N . M. Druzinina. Bd. I: Krestjanskoe dvizenie v 1796—1825 gg., Moskau 1961. 3 Lenin, W. I., Krieg und Revolution. In: Werke, Bö. 24, Berlin 1959, S. 397.

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

35

Rußland gehörte zu jenen Ländern, die schon lange vor der Französischen Revolution auf vielfaltige Weise mit dem Gedankengut der europäischen Aufklärung und besonders mit dem französischen Geistesleben und der französischen Kultur verbunden waren. Die für die Freiheit des Geistes, gegen religiöse und jede andere Despotie auftretenden Aufklärer appellierten an die menschliche Vernunft und waren bestrebt, die Gesellschaft entsprechend den natürlichen Bedürfnissen aller gleichgeborenen Erdenbewohner auf friedliche Art zu verbessern. Optimistisch glaubten sie daran, allein durch die Macht des Verstandes und durch Bildung Aberglauben und Rückständigkeit überwinden zu können. Die Aufklärung, die den Feudalismus im Grunde genommen in Frage stellte und auf ideologischem Gebiet den Boden für die bürgerliche Revolution bereitete, brachte auch in Rußland um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 18. Jh. in Michail Lomonossow, in Jakow Koselski, Aleksei Polenow, Denis Fonwisin und Nikolai Nowikow ihre eigenständigen Vertreter hervor. Anfangs wirkten die Schriften der bürgerlichen Ideologen unter den relativ zurückgebliebenen gesellschaftlichen Verhältnissen Rußlands allerdings noch nicht revolutionierend. Um die Jahrhundertwende begann sich das Bild jedoch allmählich zu wandeln, zumal die zahlenmäßig zunehmenden mittleren Schichten, d. h. die Händler, die Geschäftsleute, die Unternehmer, die selbständigen Gewerbetreibenden und die Intelligenz wachsendes Interesse für bürgerliche Ideen bekundeten. Es waren vor allem diese Schichten, die, angesichts der nach wie vor beherrschenden Stellung des Adels und vor dem Hintergrund nicht abreißender Bauernunruhen, das soziale Milieu für die Entstehung, Aufnahme und Verbreitung bürgerlichen Gedankengutes bildeten, das am Vorabend der französischen Revolution in Form von Büchern, Broschüren und Flugschriften verstärkt nach Rußland gelangte. Wichtiger Träger dieser Ideen war die seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. im Entstehen begriffene Schicht der RasnotschinzenIntelligenz, jener Intelligenz, die hervorging aus Kleinbürgern, Handwerkern, Händlern, Popensöhnen, Kirchendienern, einzelnen verarmten Adligen u. a. Aus ihren Reihen entwickelten sich bedeutende Wissenschaftler und Künstler Rußlands. Die Beschäftigung der Rasnotschinzen-Intelligenz mit Voltaire und anderen bürgerlichen Ideologen war keineswegs eine Modeangelegenheit, wie es bei vielen Adligen der Fall war. Dafür spricht das über Jahre hinweg anhaltende Interesse dieser Leserschaft. Nach den Worten der sowjetischen Historikerin Netschkina war Voltaire „im gewissen Sinne Teilnehmer der russischen gesellschaftlichen Bewegung"4. Mehr noch, neben Voltaire wandte man sich immer stärker radikaleren französischen Denkern zu und zeigte wachsendes Interesse für die unmittelbaren politischen Ereignisse in Frankreich am Vorabend der Revolution. Durch die Moskauer und Petersburger Zeitungen erhielten die Leser ziemlich ausführliche Berichte über die Hungersnöte in Frankreich, die Aufstände der französischen Bauern, die Wahl der Generalstände, über die dort entbrannten Diskussionen, die Reden Neckers, Mirabeaus und anderer Persönlichkeiten. Große Verdienste erwarb sich in dieser Hinsicht der als Schriftsteller und Herausgeber tätige russische Aufklärer Nowikow. Die von ihm redigierte Zeitung „Moskowskie wedomosti" verstand es besonders gut, dem Drängen interessierter Kreise nach politischer Information

4 Neckina, M. V., Vol'ter russkoe obscestvo. In: Vol'ter, Stat'i i materialy, pod red. V. O. Volgina, Moskau 1948, S. 93. 3'

36

Rußland von 1789 bis 1825

gerecht zu werden. A l l das zeugt von der Aufnahmebereitschaft für bürgerliche Ideen in Rußland. .Bürgerliches Gedankengut gelangte zum Teil auch durch die Lektüre der Werke deutscher Philosophen und Dichter nach Rußland.'Kants „ K r i t i k der reinen Vernunft" und „ K r i t i k der Urteilskraft" erlebten ihre Erstauflagen in Riga und Libau. Russische Studenten, die sich an deutschen Universitäten aufhielten, machten sich mit Herders Gedanken von der Entwicklung der Gesellschaft und seinen bürgerlich-humanitären Ideen vertraut. M i t Sympathie wurden die Werke Goethes und Schillers gelesen. Die Literatur des „Sturm und D r a n g " fand teilweise ebenfalls ihren W e g nach Rußland. Das Verständnis des russischen Lesers für die Gedanken deutscher bürgerlicher Ideologen wurde im gewissen Maße dadurch begünstigt, weil die gesellschaftlichen Zustände, unter denen deutsche Dichter und Philosophen wirkten, in vielen Beziehungen den relativ zurückgebliebenen russischen Verhältnissen mehr ähnelten, als die russischen den fortgeschrittenen französischen. D i e im Vergleich zu Frankreich weniger ausgereiften gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland hatten jedoch im Unterschied zu Rußland ein solches Niveau erreicht, daß die Deutschen die Französische Revolution und ihre Ideen zumindest philosophisch reflektierten. M i t Recht bezeichnete Karl Marx die Philosophie von Kant „als die deutsche Theorie der französischen Revolution" 5 . Die Wandlungen zum bürgerlichen Denken widerspiegelten sich im wachsenden Nationalbewußtsein der mittleren Schichten und der fortschrittlichen Vertreter dçs Adels, die gerade in diesen Jahren zunehmendes Interesse für die Geschichte des eigenen Landes, für die Entstehung- des russischen Volkes, für das russische Volksleben und seine Traditionen, für die sich entfaltende Nationalkultur in ihren vielfältigen Erscheinungen, für. den gegenwärtigen Platz und die künftigen Geschicke Rußlands im Weltgeschehen bekundeten. Die Lektüre der Werke französischer, deutscher und anderer bürgerlicher Ideologen regte zu Gedanken an über die rechtlose Lage des werktätigen Volkes im eigenen Lande, stimulierte dazu, sich mit dem bestehenden System der Leibeigenschaft und den absolutistischen Herrschaftsmethoden des Zarismus auseinanderzusetzen. Daraus erwuchsen, vor allem unter Händlern, Gewerbetreibenden, Geschäftsleuten und unter progressiv gesinnten Vertretern der Intelligenz und des Adels, in natürlicher Weise allmählich bürgerliche Gedanken. D i e Begriffe „ N a t i o n " , „Patriotismus", „Staatsbürger" wurden im alltäglichen Sprachgebrauch immer häufiger verwendet. A l s die ersten Nachrichten über die Französische Revolution nach Rußland gelangten, wurden sie deshalb in den genannten Gesellschaftsschichten freudig begrüßt. „ O b w o h l die Bastille", schrieb ¿ e r französische Botschafter am Zarenhof, „keinen der Petersburger Einwohner bedrohte, ist der Enthusiasmus kaum zu beschreiben, den die Erstürmung dieses Staatsgefangnisses und dieser erste Sieg der Freiheit unter den Händlern, Kaufleuten, Kleinbürgern und einigen jüngeren Menschen aus gehobener sozialer Stellung hervorriefen." 6 In der ersten Etappe der Revolution, als es üm die Beschränkung der königlichen Macht ging und die Gefahren für den Feudalismus noch nicht so offensichtlich waren, wurden die Votgänge in Frankreich auch von Kreisen

5 Marx, K . , Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 80. 6 Ségur, L.-Ph. de, Mémoires ou souvenirs et anecdotes, t. 3, Paris 1827, p. 508.

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

37

des liberal gesinnten russischen Adels begrüßt; denn diese hätten es gern gesehen, wenn nach demselben Muster auch die Allmacht des Zaren etwas eingeschränkt worden wäre. Einige Rasnotschinzen und liberale Adlige nahmen unmittelbar an der Revolution teil. Die fürstlichen Gebrüder Golizyn hatten den Sturm auf die Bastille mitgemacht. Der Architekt Komissarow und der ehemälige Leibeigene Rjasanow traten in die Nationalgarde ein. Andere ehemalige russische Leibeigene dienten im regulären französischen Heer. Als eine Abordnung aus Ausländern der französischen Nationalversammlung eine Begrüßungsadresse im Namen aller europäischen Völker überbrachte, befanden sich in ihrer Mitte auch mehrere Russen. Aufmerksam verfolgte man in Rußland die Nachrichten von den Revolutionsereignissen. Einige Zeitungen meldeten die Bildung der Nationalgarde, die Abschaffung der Feudallasten, die Liquidierung der Adelsprivilegien usw. Die Deklaration der Menschenrechte bewegte cjie Gemüter besonders. Dieses Programm der bürgerlichen Ordnung schied die Geister: Gleichheit der Rechte für alle, Begründung der Staatsmacht im Willen des souveränen Volkes, diese und andere Forderungen wurden von der Gutsbesitzerklasse entschieden abgelehnt. Unter den Rasnotschinzen und fortschrittlichen Vertretern des Adels erweckten sie jedoch Sympathie und ließen bürgerliche Gedanken reifen. Die revolutionäre französische'Literatur, Flugschriften, politische Pamphlete, Karikaturen gelangten auf verschiedenen legalen und illegalen Wegen nach Rußland. Der Moskauer General-Gouverneur meldete der Zarin: „Sämtliche Bücher, die in Frankreich gedruckt werden, kann man hier unter der Hand kaufen." 7 Nicht nur die Bevölkerung der beiden Hauptstädte erhielt Kenntnis über die Vorgänge in Frankreich. Nach zeitgenössischen Berichten sickerten Nachrichten über die Französische Revolution sogar in einige entlegene Gebiete. Die Nachrichten von den französischen Ereignissen gelangten durch jene Bauern in die Dörfer, die in den Manufakturen der Industriegebiete arbeiteten, die sich auf Wandererwerb befanden und saisonmäßig unterwegs waren, die aus den Städten zurückkehrten usw. Natürlich konnten die russischen Bauern auf Grund der Unreife der,gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland die Vorgänge in Frankreich nicht in ihrer wirklichen Tragweite erfassen.'Doch instinktiv spürten viele, daß hier etwas Bedeutsames vor sich ging. Das Interesse relativ breiter BevölkerungsJcreise an den Vorgängen in Frankreich wird von zahlreichen Quellen belegt. Sie Widerlegen jene bürgerlichen Historiker, die behaupten, das werktätige Volk Rußlands habe sich völlig indifferent zur Französischen Revolution verhalten. Die fiebernde Angst der Zarenregierung während und nach der Revolution kam nicht von ungefähr; sie ist weniger auf die Verbreitung revolutionärer Schriften als auf die Gefahr eines neuen Bauernkrieges zurückzuführen. Nicht umsonst verstärkte die Regierung Anfang der neunziger Jahre die Garnisonen und die militärischen. Kontrollen in Petersburg, Moskau, im Baltikum und anderen Gebieten. Für eine bürgerliche Revolution war Rußland jedoch nicht reif. Dafür fehlten wichtige gesellschaftliche Voraussetzungen: Die sich entwickelnden kapitalistischen Verhältnisse waren noch zu schwach ausgeprägt, und es fehlte vor allem ein klassenbewußtes Bürgertum. Doch das werktätige russische Volk und die anderen Völker dieses Reiches bekundeten, wie vielfältige Massenaktionen in den Jahrzehnten nach der Fran7 Letopisi russkoj literatury i drevnosti, Bd. V, Teil II, Moskau 1863, S. 41.

38

Rußland von 1789 bis 1825

zösischen Revolution bezeugen, insgesamt eine größere Entschlossenheit im Kampf gegen Leibeigenschaft und soziale und nationale Unterdrückung als in den Jahren zuvor. Die Zuspitzung sozialer Gegensätze, die besondere Härte der feudalen Unterdrückung uriter den Bedingungen entstehender kapitalistischer Verhältnisse schufen in der russischen Gesellschaft, so wenig die von der Bildung ausgeschlossenen werktätigen Massen sich näher über die Französische Revolution informieren konnten, ebenfalls einen Nährboden für antifeudales Denken und Handeln. Eine besondere Bedeutung erlangte hierbei die vermittelnde Rolle einer mit dem Volk verbundenen Intelligenz. Unter den russischen Zeitgenossen erkannten manche schon früh die internationale Bedeutung der Französischen Revolution. 1790 schrieb der aus Rasnotschinzen-Kreisen kommende Moskauer Professor Sochazki, daß 1789 „eine neue Epoche des Menschengeschlechts begonnen" habe, „eine Epoche, in der die Geschicke der sogenannten niederen Stände revidiert, die- selbstherrschaftliche Macht beseitigt" würden. 8 Der Schriftsteller Nikolai Karamsin schrieb Mitte der neunziger Jahre, die Französische Revolution gehöre „zu jenen Ereignissen, die das Schicksal der Menschheit für viele Jahrhunderte" bestimmen.9 Die reaktionären russischen Gutsbesitzer erkannten auf ihre Weise die weltverändernde Kraft der Französischen Revolution. Viele Adlige bezeichneten die Umwälzung in Frankreich als eine Epidemie, die sich über ganz' Europa ausbreite. Mit Schrecken konstatierte man einige Ähnlichkeiten zwischen den antifeudalen Bauernaufständen in Frankreich und dem letzten russischen Bauernkrieg. In einer aus Angst geborenen Übertreibung, die jedoch das Wesen der Sache traf, erklärte Graf Woronzow der Zarin Katharina II., daß Pugatschow, ohne die Werke der französischen Aufklärer je gekannt zu haben, im Grunde genommen deren revolutionäres Programm zu verwirklichen versucht hätte. Zur gleichen Zeit, als in Paris das werktätige Volk die Bastille stürmte, veröffentlichte Alexander Radistschew in Rußland Schriften mit eindeutig revolutionärer Tendenz. •Radistschew — selbst ein Adliger — hatte während seines Studiums in Leipzig die französische und deutsche Aufklärungsliteratur in sich aufgenommen. Nach seiner Rückkehr wurde er zu einem'scharfsichtigen Beobachter der russischen Wirklichkeit, wie seine Anmerkungen zur Übersetzung von Mablys griechischer Geschichte (1773) beweisen. Radistschew blieb aber nicht bei der Aufklärung stehen, sondern entwickelte, von ihr ausgehend und über sie hinauswachsend, als erster russischer Denker echte, unmittelbar gegen Selbstherrschaft und Leibeigenschaft gerichtete bürgerlich-revolutionäre Ideen. Damit wurde er im Unterschied zu den ebenfalls aus der Aufklärung hervorgehenden Vertretern des Liberalismus zum Begründer der revolutionären Richtung im russischen gesellschaftlichen Denken, die über die Dekabristen, die revolutionären Demokraten bis zur proletarisch-sozialistischen Bewegung reicht. In den achtziger Jahren kam Radistschew, indem er liberal-aufklärerische Illusionen überwandt, zu der Schlußfolgerung, daß das versklavte Volk keine Befreiung von den Machtausübenden zu erwarten habe. Er verurteilte jene, die durch Aufklärung der Monarchen das Joch zu mildern suchten, ohne es damit je abschütteln zu können. Der einzige Weg zur Freiheit 8 Politiceskij zurnal, Bd. 1, Moskau 1790, S. 8. 9 Karamzin, N. M., Pis'ma N. M. Karamzina k I. I. Dmitrievu, S. Petersburg 1866, S. 480.

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

39

sei die Volksrevolution. 1789 erschienen u. a. „Das Leben des Fjodor Uschakow" und der „Brief an einen Freund", in denen Radistschews Freiheitsliebe und sein Haß gegen jegliche Unterdrückung bereits klar ausgeprägt sind. Im Mai 1790 veröffentlichte Radistschew sein Hauptwerk, die „Reise von Petersburg nach Moskau". Das Buch erschien anonym und wurde in der Privatdruckerei Radistschews angefertigt, nachdem Radistschew den unaufmerksamen Zensor durch den harmlos erscheinenden Titel getäuscht hatte. Die Gliederung folgt den Poststationen zwischen Petersburg und Moskau. Der Autor schildert Erlebnisse, gibt Gespräche wieder und streut eigene Betrachtungen über das Gesehene und Gehörte ein. Dabei legt er die ganze Fäulnis des feudalen Rußland bloß und entwickelt Gedanken einer radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung. Radistschew reißt den Schleier eines angeblichen sozialen Friedens herunter und zeigt das wahre Gesicht der russischen Gutsbesitzer, Beamten, Unternehmer, Großkauflpute, die vor den Mächtigen des Landes liebdienern und mit barbarischer Härte gegen die Untergebenen vorgehen. Den moralisch verkommenen Vertretern des Adels stellt er die einfachen, bescheidenen russischen Bauern als die eigentlichen Schöpfer allen Reichtums gegenüber. Radistschew dringt zu den Wurzeln des Übels vor, indem er die Notlage der Bauern und die charakterlichen Gebrechen der Gutsbesitzer und der Staatsbeamten auf die Leibeigenschaft zurückführt. Aus dem Naturrecht zieht er weitreichende Schlußfolgerungen und prangert die Leibeigenschaft als ein Verbrechen an, dessen sich die ganze Adelsklasse schuldig mache. Radistschew geht so weit, den revolutionären Kampf der Bauern gegen ihre Unterdrücker und gegen das absolutistische System als berechtigt anzuerkennen. In der Ode „Freiheit", deren wichtigste Strophen er in sein Hauptwerk übernahm, preist Radistschew den Tag der kommenden russischen Revolution mit den Worten: „O herrlichster, o schönster Tag!" 10 „Ein Heer der Rächer wird erstehen, Die, von der Hoffnung jäh entflammt, Dereinst die Schande tilgen werden Im Blut des Quälers allesamt. Ich sehe scharfe Schwerter glänzen Und alle Arten Tod umkränzen Das stolze Haupt, den halben Gott. Frohlockt, Gefesselte und Knechte: Man führt kraft angebornem Rechte Den Zaren selbst auf das Schafott." 11 Das Erscheinen von Radistschews Buch bedeutete einen qualitativen Sprung im fortschrittlichen russischen Denken, das damit erstmals eine bewußt bürgerlich-revolutionäre Ausrichtung erhielt. Von da an datiert der Beginn der eigenständigen russischen revolutionären Ideologie. Hier sind die Quellen des russischen Demokratismus und Republikanismus. Obwohl nur ein kleiner Teil der Auflage in die Öffentlichkeit gelangte, erregte das Buch große Aufmerksamkeit. Für die progressiv gesinnten Zeitgenossen wurde Radisfc10 Radistschew, A. N., Reise von Petersburg nach Moskau, Berlin 1961, S. 204. 11 Ebenda, S. 198 f.

40

Rußland von 1789 bis 1825

schew, dessen Autorschaft bald bekannt wurde, zum führenden geistigen Kopf, der es vermocht hatte, ihre eigenen Gedanken und Wünsche konkret zu formulieren. In den Spitzen der Aristokratie sah man klar, welche Gefahren für das zaristische Regime von den Ideen, die der Autor propagierte, ausgingen. Katharina II., die das Buch Seite um Seite gelesen und mit Randbemerkungen versehen hatte, bezeichnete Radistschew als einen „Aufrührer schlimmer als Pugatschow" 12 . Radistschew wurde verhaftet und in einer Prozeß-Farce zum Tode verurteilt. Die Zarin hatte dem Gericht dieses Urteil suggeriert und machte anschließend in heuchlerischer Großmut von ihrem Begnadigungsrecht Gebrauch. Danach wurde Radistschew nach Sibirien verbannt. Däs Erscheinen von Radistschews Buch in einer Zeit, als die französische Revolution ihren Fortgang nahm, und die allgemein zugespitzte politische Lage im Lande führten zur Verschärfung des Polizeiterrors der zaristischen Regierung. Die „Gesellschaft der Freunde der literarischen Wissenschaften", der Radistschew und mehrere seiner Gesinnungsfreunde angehörten, wurde aufgelöst. Viele Vertreter der Intelli-' genz waren Verfolgungen ausgesetzt. Radistschews Jugendfreund Pjotr Tschelistschew, der als Schriftsteller und Übersetzer wirkte, wurde im Sommer 1790 verhaftet. Der progressive adlige Dramatiker Jakow Knjashnin wurde in der Peter-Pauls-Festung gefoltert. Der Aufklärer Iwan Rachmaninow, der Fabeldichter Iwan Krylow und andere Geistesschaffende wurden aus der Hauptstadt ausgewiesen. Katharina II. verzichtete endgültig auf ihr aufklärerisches Gebaren. Die Einfuhr ausländischer Literatur wurde streng kontrolliert, die,Zensur verschärft. 1792 wurde Nikolai Nowikow verhaftet und ohne Prozeß in eine Zelle der Festung Schlüsselburg geworfen. Radistschews „Reise von Petersburg nach Moskau" blieb über ein Jahrhundert lang (bis zur Revolution von 1905) verboten. Trotzdem kursierte sie bald in Abschriften und erwies sich für Jahrzehnte als die wichtigste kritische Schrift über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland. Radistschews Vorstellungen von der Möglichkeit einer siegreichen Bauernrevolution waren utopisch, da er nicht die sozialen Triebkräfte des Klassenkampfes und der bürgerlichen Revolution erkannte. Kleinbürgerlichillusionär war auch seine Auffassung, daß das Privateigentum des freien bäuerlichen Produzenten an Grund und Boden eine dauerhafte Quelle allgemeinen Wohlstandes sein könne. Trotz dieser Widersprüche zielte seine Theorie in der Grundrichtung auf eine entschiedene Überwindung der Feudalverhältnisse in Rußland im bürgerlichen Sinne. Auch in Deutschland fand das Werk . Radistschews Widerhall. Bereits im Oktober 1790 berichteten die „Neuen Critischen Nachrichten" aus Greifswald über das Buch und über die Verhaftung des Autors. Im Juni 1793 erschienen in der Halberstädter „Deutschen Monatsschrift" die ersten sechs Kapitel der „Reise von Petersburg nach Moskau" in deutscher Übersetzung. In verschiedenen politischen Prozessen der Zeit spielte Radistschews Werk eine Rolle, so 1793 im Prozeß gegen den russischen Freidenker Fjodor Kretschetow. Kretschetows Anschauungen waren noch durch adlig-aufklärerische Illusionen und religöse Einflüsse beschränkt. Er näherte sich aber Radistschew, indem er die revolutionäre Gewalt bejahte, falls friedliche Mittel zur Umgestaltung der Gesellschaft nicht ausreichen sollten. t Ähnliche Gedanken wie Radistschew entwickelte der deutschbaltische Publizist 12 Chrapovickij, A. V., Dnevnik A. V. Chrapovickogo s 18 jänvarja 1782 po 17 sentjabrja 1793 g. po podlinnoj ego rukopisi, Moskau 1901, S. 199.

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

41

Garlieb Merkel, dessen 1796 in Leipzig erschienenes Buch „Die* Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts" eine flammende Anklage gegen die Leibeigenschaft war. Obwohl der Autor seine Hoffnungen in den aufgeklärten Monarchen setzte, wurde das in deutscher Sprache verfaßte Buch in Rußland verboten, kursierte aber bald in Handschriften in lettischer Übersetzung. Merkel kämpfte gegen die soziale und nationale Unterdrückung der Völker der russischen Ostseeprovinzen durch die privilegierten deutsch-baltischen Barone. Er trat für die national-eigenständige Entwicklung dieser Völker und für ihr Gedeihen im Kreise der freundschaftlich zueinander stehenden Völker Rußlands und Deutschlands ein. Die sozialanklägerischen, völkerverbindenden Ideen Merkels machten ihn zum Anwalt der deutschrussisch-baltischen Völkerfreundschaft. • In dem Maße wie die Revolution in Frankreich voranschritt, wurde die feindselige Einstellung des Zarismus zu ihr immer ausgeprägter. Der Sturz der tausend Jahre alten Feudalordnung in Frankreich, dem Land des klassischen Absolutismus, stellte generell die Existenz des Feudalismus in der Welt in Frage. Mit dem internationalen Siegeszug des Kapitalismus und der fortschreitenden Zersetzung des Feudalismus in Rußland machten der russische Absolutismus und die von ihm verfolgte Außenpolitik einen Funktionswandel durch, nahmen sie reaktionäre Spätformen an. Zu den traditionellen außenpolitischen Bestrebungen des Zarismus nach Erwerb neuer Ländereien für die Adelsklasse kam auf Grund dessen noch eine weitere hinzu: der Kampf um die Erhaltung und Restauration der überlebten feudalabsolutistischen Ordnung auch außerhalb Rußlands. Der Zarismus verwandelte sich in ein Bollwerk der reaktionären Kräfte in Europa. Um mehr Einfluß auf die Vorgänge in West- und Mitteleuropa nehmen zu können, war die russische Regierung bestrebt, die von der Türkei 1787 und von Schweden 1788 begonnenen Kriege zur Rückeroberung der an Rußland verlorenen Gebiete schnell zum Abschluß zu bringen. Nach einigen Seegefechten mit der schwedischen Flotte, die zugunsten der Russen ausfielen, wurde der in Schweden unpopuläre Krieg 1790 mit dem Frieden von Werelä beendet. Der Vertrag bestätigte die früheren Gebietsgewinne Rußlands. Im Krieg mit der Türkei gestalteten sich die Kampfhandlungen ebenfalls siegreich für die russischen Truppen. Sie nahmen die Festung Otschakow in der Südukraine ein. Unter dem Kommando des Feldherrn Alexander Suworow schlugen sie die türkischen Hauptkräfte und erstürmten die Festung Ismail. Der Sieg der russischen Flotte über die. türkische bei Kap Kaliakra vor der bulgarischen Schwarzmeerküste beschleunigte den Abschluß des Friedensvertrages von Jassy (9. Januar 1792). Der Vertrag bestätigte im wesentlichen die Bedingungen des Friedens von Kutschuk-Kajnardshe. Zusätzlich erhielt Rußland die Festung Otschakow. Der Zarismus erlangte nun mehr Bewegungsfreiheit im Westen. Die russische Regierung hatte seit Beginn der Französischen Revolution offen und in großzügiger Weise die französischen Emigranten unterstützt. Sie finanzierte zu einem Teil die Kriegsrüstungen Preußens und Österreichs gegen das revolutionäre Frankreich und schloß 1791 mit Schweden ein Bündnis ab, um militärisch in Frankreich zu intervenieren. Der russische Botschafter in Paris war an der Organisierung des Fluchtversuches Ludwigs XVI. maßgeblich beteiligt. Marie-Antoinette, als deren Diener sich der französische König getarnt hatte, reiste mit einem russischen Paß auf den Namen der Baronesse Korf. Nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. brach die Zarenregierung die Beziehungen zu

42

Rußland von 1789 bis 1825

Frankreich ab. Der russische Botschafter wurde demonstrativ nach Frankfurt am Main zu Graf d'Artois entsandt, dem anerkannten Haupt der französischen Konterrevolution. Katharina II. übergab dem französischen Prinzen 2 Millionen Rubel für die Werbung von Truppen in den deutschen Fürstentümern. Zur Bekämpfung der Französischen Revolution versuchte die Zarenregierung die Gegensätze zwischen dem kapitalistischen England und dem kapitalistischen Frankreich auszunutzen. In der russisch-englischen Konvention von 1793 wurden Maßnahmen über eine Blockade der französischen Küste und eine militärische Intervention in Frankreich zur Wiederherstellung der alten Ordnung vereinbart. Sogar Aktionen der inneren Konterrevolution in Frankreich wurden aus der russischen Staatskasse finanziert. Die genaue Summe, die der Zarismus für die Bekämpfung der Französischen Revolution aufwandte, ist nie bekannt geworden. Ohne Zweifel waren es Beträge von vielen Millionen Rubeln, die aus derf werktätigen Massen Rußlands für ein ihnen völlig fremdes Ziel herausgepreßt wurden. Während der Zarismus das revolutionäre Frankreich bekämpfte, verlor er jedoch die eigenen Eroberungsabsichten keineswegs aus den Augen. Mehr noch, er versuchte die infolge der Französischen Revolution entstandene Situation zu seinen Gunsten auszunutzen. Wie gut das der Zarismus verstand, zeigte sich am Anfang der neunziger Jahre des 18. Jh., als die erste Koalition gegen das revolutionäre Frankreich geschmiedet wurde. Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich drängte Rußland die Regierungen Österreichs und Preußens zu weiteren antifranzösischen Aktionen. Diese Appelle des Zarismus an die anderen Feudalstaaten waren in ihrem reaktionären, gegen das revolutionäre Frankreich gerichteten Gehalt durchaus echt, erschöpften sich aber nicht allein darin. Zur selben Zeit (1791) erklärte Katharina II. ihrem Sekretär: „Ich zerbreche mir den Kopf, um das Wiener und Berliner Kabinett in die französischen Angelegenheiten zu verwickeln . . . Man muß sie beschäftigen, damit sie mich nicht hindern. Ich brauche freie Hand. Ich.habe noch viele unvollendete Vorhaben." 13 Eines dieser Vorhaben war die Eingliederung Polens in den zaristischen Machtbereich, da die Beherrschung dieses Staates auch eine größere Einflußnahme des Zarismus in Mitteleuropa bedeuten mußte. Als im August 1791 Kaiser Leopold II. und König Friedrich Wilhelm II. von Preußen die Pillnitzer Deklaration unterschrieben, die in provokatorischer Weise die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung für ungültig erklärte, begrüßte Katharina II. dieses Dokument öffentlich wegen seines konterrevolutionären Grundtones, der gewissermaßen schon die künftigen Handlungen der Kabinette in Wien und Berlin festlegte. Die Zarin „sah in der Revolution das Wirken feindlicher Klassenkräfte und träumte von deren rascher Unterdrückung, wollte dieses Ziel aber mit fremden Händen erreichen" 14 . Sie forderte Österreich und Preußen im Namen der Zivilisation und der Rettung der alten Ordnung auf, militärisch in Frankreich einzugreifen, und versprach für diesen Fall als erstes eine finanzielle Beihilfe. Gleichzeitig freute sie sich insgeheim über die sich damit für sie eröffnenden Aussichten gegenüber Polen. Die Siege der französischen Revolutionsarmee (z. B. bei Valmy) durchkreuzten jedoch die Pläne der österreichisch-preußischen Interventen und fanden in vielen Ländern, so auch in Polen, begeisterten Widerhall. Progressive Teile der Schlachta waren im

13 Ebenda, S. 226. 14 Istorija SSSR s drevnejsich vremen do nasich dnej, Bd. 3, Moskau 1967, S. 544.

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

43

Bündnis mit dem Bürgertum zu Reformen mit gemäßigter, bürgerlicher Tendenz übergegangen und hatten eine neue Verfassung durchgesetzt. Das zaristische Rußland, das sich trotz seiner offen revolutionsfeindlichen Einstellung kühl berechnend aus der antifranzösischen Koalition herausgehalten hatte, schritt dagegen ein und ließ in Übereinkunft mit den reaktionären polnischen Magnaten unter dem Vorwand des Kampfes gegen den „Jakobinischen Geist" seine Truppen in Polen einmarschieren. Preußen, das noch bis 1791 mit Polen gegen Rußland verbündet gewesen war, witterte in dieser Situation leichte Beute, wechselte deshalb schnell die Fronten und schloß mit Rußland den zweiten Teilungsvertrag über Polen. In diesem Vertrag hieß es, daß "Preußen einige polnische Gebiete als Belohnung für die Unkosten im Krieg gegen die „französischen Aufrührer" erhalten sollte. Dieser Judaslohn verpflichtete Preußen faktisch zu neuen Kampfhandlungen gegen das revolutionäre Frankreich, nicht zuletzt im Interesse des mehr im Hintergrund stehenden Rußlands, das auf diese Weise weiterhin größere Bewegungsfreiheit in Polen behielt. Die nationale Unterdrückung des polnischen Volkes, die schwere wirtschaftliche Lage des verstümmelten und in Teile gerissenen Landes, sowie die aufwühlenden Nachrichten aus Frankreich erzeugten in Polen eine patriotische Bewegung, die rasch um sich griff. An ihre Spitze trat Tadeusz Kosciuszko, der am 24. März 1794 von Krakau aus den allgemeinen Aufstand proklamierte. Kosciuszko, der aus einer mittleren Schlachtafamilie stammte, an der Militärakademie in Frankreich studiert und später als Freiwilliger am Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg teilgenommen hatte, sympathisierte mit den Ideen der bürgerlichen Revolution. Nach der zweiten Teilung Polens war er ins Ausland gegangen, um den Kampf für die Wiedergeburt seines Vaterlandes vorzubereiten. Am 4. April 1794 erfocht die Insurrektionsarmee unter Kosciuszko, in deren Reihen viele Bauern kämpften, bei Raclawice einen in moralisch-politischer Hinsicht bedeutsamen Sieg über eine Abteilung zaristischer Truppen. Innerhalb kurzer Zeit breitete sich der Aufstand über weite Gebiete Polens aus. In Warschau erhoben sich plebejische Teile der Stadtbevölkerung und befreiten mit Hilfe polnischer Einheiten die Stadt von russischen Truppen. Kurz darauf siegte der Aufstand in Wilna. Der Aufschwung der revolutionären Bewegung beunruhigte aber die Schlachta sowie die reiche Finanz- und Handelsbourgeoisie aufs tiefste. Das Universal Kosciuszkos, das für die Bauern die persönliche Befreiung und die Beschränkung der Feudalleistungen verlangte, wurde von der Schlachta verworfen. Die Führer des Aufstandes — selbst Angehörige der Schlachta — konnten und wollten sich ; nicht auf die Volksmassen stützen, um das Universal durchzusetzen. Es blieb faktisch unrealisiert. Die enttäuschten Bauern begannen sich vom Aufstand abzuwenden, was die Niederlage gegen die vielfach überlegenen russischen und preußischen Verbände beschleunigte. In der Schlacht bei Maciejowice am 10. Oktober 1794 wurde Kosciuszko schwer verwundet und geriet in russische Gefangenschaft. Im November 1794 erstürmten die Truppen Suworows Warschau. Die Ereignisse in Polen bewirkten, daß die reaktionären europäischen Staaten nicht ihre ganze Aufmerksamkeit dem Krieg gegen das revolutionäre Frankreich widmen konnten. Die beunruhigte preußische Regierung zog Teile ihrer Streitmacht vom westlichen Kriegsschauplatz ab, was die Erfolge der französischen Revolutionsarmee begünstigte und den Austritt Preußens aus der 1. Koalition vorbereitete. „Polen fiel" schrieb Engels, „aber sein Widerstand hatte die französische Revolution gerettet, und

44

Rußland von 1789 bis 1825

mit der französischen Revolution begann eine Bewegung, wogegen auch das Zarentum ohnmächtig war." 1 5 Die Niederlage des polnischen Aufstandes von 1794 bedeutete das Ende des polnischen Staates. 1795 erfolgte auf Vorschlag Katharinas II. zwischen Rußland, Preußen und Österreich die dritte Teilung Polens, die den übriggebliebenen polnischen Rumpfstaat liquidierte. Dieser zutiefst reaktionäre Akt war das Ergebnis der in gleichem Maße* fortschrittsfeindlichen, expansionistischen Politik aller Teilungsmächte. Die reaktionären Bande zwischen den herrschenden Klassen Rußlands, Preußens und Österreichs ergaben sich maßgeblich aus der gemeinsamen Unterdrückung des polnischen Volkes. Ethnographische Gesichtspunkte spielten bei der Teilung Polens keine Rolle. An Rußland fielen westukrainische und westbelotussische sowie litauische Gebiete. Für Belorußland bedeutete das die Vereinigung innerhalb des Russischen Staates und desgleichen auch für die Ukraine, wenn man von einigen an Österreich gefallenen Gebieten absieht. Den größten, und zwar den nördlichen Teil der polnischen Kerngebiete, einschließlich Warschau, erhielt Preußen, den südlichen Österreich. Unter dem Aspekt der zaristischen Deutschlandpolitik hatten die polnischen Teilungen vielfältige Folgen. Auch wenn das zaristische Rußland die polnische Beute vorerst noch mit Preußen und Österreich teilen mußte, hatte es sich doch weit nach Mitteleuropa vorgeschoben. Rußland war nicht nur Garantiemacht des Teschener Friedens, sondern hatte seine Truppen in noch bedrohlichere Nähe zu dem preußischen und österreichischen Streitkräften gebracht. Zudem hatten Preußen und Österreich im Unterschied zu Rußland die national-polnischen Kerngebiete erhalten, die sie nicht zu integrieren vermochten. Das Bemühen, ihren erbeuteten Besitz zu erhalten, der einen Unruheherd darstellte und in dem es außerdem unter den polnischen Adligen noch eine einflußreiche prorüssische Schicht gab, kettete beide Staaten mit starken Banden an das zaristische Rußland. Die polnische Trumpfkarte in der Hand des Zarismus erschwerte es vor allem Preußen, eine unabhängige Stellung zu bewahren, und war einer der wichtigsten Gründe für dessen damals so charakteristische Politik des Lavierens. Nachdem der polnische Staat vernichtet worden war, begann Katharina II. einen Feldzug gegen Frankreich vorzubereiten. Im Dezember 1796 sollte ein Korps von 60000 Mann den österreichischen Truppen zu Hilfe eilen. Diese Maßnahme zielte nicht nur darauf ab, die bürgerlichen Prinzipien und Errungenschaften zu bekämpfen; sie war gleichzeitig Ausdruck für -die sich auf dem Balkan zuspitzenden Gegensätze zwischen dem «zaristischen Rußland und dem nach der Thermidorverschwörung von 1794 entstandenen großbürgerlichen Frankreich. Der Tod der Zarin am 18. November 1796 vereitelte vorerst diese Pläne. Nach dem Tode Katharinas II. bestieg ihr Sohn Paul I. den Thron. In dieser Zeit erlebte Rußland, wie bereits erwähnt wurde, eine neue Welle von Bauernunruhen. Die Bauernbewegung wies einige neue Züge auf, die in den folgenden Jahren immer mehr ihr Gesicht prägten. Die Bauern verlangten nicht nur Milderung der Feudallasten und Ablösung grausamer Verwalter, sie forderten jetzt immer häufiger ihre Befreiung von der Leibeigenschaft. Die Zahl kollektiv vorgebrachter Forderungen stieg an. Der Zar erblickte in alledem Auswirkungen der „französischen Seuche" und 15 Engels, F., Die auswärtige Politik des russischen Zarentums. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 24.

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

45

ging mit brutalsten Mitteln gegen die unbotmäßigen Bauern vor. Im Gouvernement Orjol dauerte der Aufstand eineinhalb Monate. Paul I. entsandte starke Militäreinheiten mit Artillerie unter Feldmarschall Repnin, um der Lage Herr zu werdeft. Dieses Debüt des neuen Zaren ist charakteristisch für seine ganze Regierungszeit. Im Vergleich zur katharinäischen Zeit gab es unter Paul I. einige Unterschiede in den Formen der Staatslenkung, in der Atmosphäre am Hofe und in der Armee. Sie resultierten in hohem Maße aus dem extremen Naturell Pauls I., seinem Mißtrauen, seiner besonders ausgeprägten Vorliebe für Kasernenhofmethoden. Einige Anordnungen des neuen Zaren kann man durchaus als nachträgliche Trotzreaktionen gegen seine verstorbene Mutter werten, zu der er von jung an in Opposition stand. So ließ er den unter Katharina II. verbannten Radistschew in dessen Gut Nemzewo bei Malojaroslawez zurückkehren, wo er unter Polizeiaufsicht stand, und gab Nowikow und Kosciuszko die Freiheit wieder. In allen wesentlichen Fragen aber bestimmten die Interessen der russischen Adelsmonarchie, von denen er sich leiten ließ, seine Politik. Im Manifest vom Januar 1797 erhärtete Paul I. die wichtigsten Vorrechte der Adelsklasse und gebot den Bauern, im gegenwärtigen Zustand zu verharren und alle Verpflichtungen gegenüber ihren Gutsherren in Demut zu erfüllen. Das Recht der Gutsbesitzer, ihre Untertanen in die Verbannung zu schicken, wurde ausdrücklich bestätigt. Paul I. bemühte sich, die Basis der Leibeigenschaft zu verbreitern, indem er noch intensiver als seine Mutter Boden und Bauern an den Adel verteilte und die Leibeigenschaft auch auf die neuerworbenen Gebiete im Süden auszudehnen versuchte. In den vier Jahren seiner Herrschaftszeit verschenkte er etwa 600000 Staatsbauern mitsamt dem Boden als Leibeigene an Gutsbesitzer. Die reaktionäre Kontinuität ihrer Politik bewies die Regierung Pauls I. mit ihren Maßnahmen gegen die Verbreitung bürgerlicher Ideen. 1796 wurde auf Befehl Pauls I. • der Fähnrich Roshnow nach öffentlicher Auspeitschung in die Verbannung geschickt, weil er so vermessen war, zu erklären, daß die Menschen ihrer Natur nach alle gleich und die Herrscher allesamt Tyrannen seien. Um die französische revolutionäre „Seuche" auszurotten, befahl die kaiserliche Regierung die Schließung der Privatdruckereien, erließ ein Einfuhrverbot für ausländische Bücher, verschärfte die Zensur. Es ging so weit, daß der Gebrauch solcher bürgerlich anrüchiger Wörter wie „Vaterland" und „Staatsbürger" und das Tragen von Hüten und Kostümen nach französischem Muster verboten wurden. Charakteristisch für 3ie Herrschaftszeit Pauls I. war der überall obwaltende Polizeigeist und preußische Drill. Paul I. hegte besonderes Interesse für äußerliche militärische Details und strebte danach, die Armee zu einem blind gehorchenden Instrument zu machen. Als Verehrer Friedrichs II. führte er ein Dienstreglement ein, das bis in Einzelheiten der damals schon längst veralteten preußischen Heeresordnung glich. Selbst der preußische Zopf schmückte nun die Köpfe der russischen Soldaten. In der Hauptstadt herrschte ein Kasernenregime. Paraden und Wachablösungen bestimmten den Tagesrhythmus. Um 8 Uhr abends — die Zeit, in der sich der Kaiser zur Nachtruhe begab — hatten auch alle übrigen Einwohner die Lichter zu löschen. Die Mißachtung russischer Traditionen, die Willkür und Unberechenbarkeit des Zaren erzeugten Unbehagen selbst in höchsten Kreisen des Adels. Das durch den Sturz des französischen Absolutismus gesunkene Ansehen des absoluten Monarchen versuchte Paul I. dadurch zu heben, daß er seine Herrschaft

46

Rußland von 1789 bis 1825

mit einer Glorie des Überirdischen und der Selbstherrlichkeit umgab. Um die absolutistische Macht gegen revolutionäre Gefahren, aber auch gegen eine mögliche adlige Opposition zu stärken, traf er Maßnahmen zur Zentralisierung des Staatsapparates. Die Zahl der Gouvernements wurde auf 41 reduziert, was die Verwaltungsausgaben des Staates etwas senkte. Gleichzeitig schränkte Paul I. einige alte Adelsprivilegien ein. Die Adligen durften den Militärdienst erst quittieren, wenn sie einen Offiziersgrad erlangt hatten. Die administrative Kontrolle über die adligen Selbstverwaltungen wurde verstärkt. Trotz einiger durch das extreme Wesen Pauls I. bedingten Überspitzungen bedeuteten diese Maßnahmen, unabhängig vom subjektiven Wollen des Zaren, eine gewisse, in sehr engen Grenzen gehaltene Anpassung des überlebten absolutistischen russischen Staates an modernere Staatsstrukturen. Ebenso wie Katharina II. betrachtete Paul I. den Kampf gegen die Französische Revolution als eine Hauptaufgabe seiner Außenpolitik. Der antifranzösischen Politik der russischen Regierung lagen aber noch andere Motive zugrunde. Die offenkundiger werdende Expansionspolitik der französischen Bourgeoisie, das französische Vordringen in Italien und Ägypten, die Besetzung der Ionischen Inseln und Maltas durch französische Truppen stießen auf die eigenen Vormachtsbestrebungen des Zarismus in Europa und im Vorderen Orient. In diesem Zusammenhang ist die Wahl Pauls I. zum Großmeister des Malteser Ritterordens der Johanniter zu erwähnen, worin das Streben des Zaren zu überirdischer Glorie und reale Machtinteressen Rußlands im Mittelmeer sich in eigentümlichen Formen verflochten. Als Teilnehmer der 2. antifranzösischen Koalition (1798/99) warf Rußland starke Land- und Seestreitkräfte in den Kampf. Die Mittelmeerexpedition des russischen Flottenführers Uschakow, der Italienfeldzug und der Alpenübergang Suworows stellten zwar glänzende militärische Operationen dar, dienten aber eindeutig reaktionären Zielen: der Wiederherstellung feudaler Zustände, dem Expansionsdrang des Zarismus. Streitigkeiten um die Einhaltung der Bündnisverpflichtungen innerhalb der 2. Koalition veranlaßten Paul I. zu einem schroffen außenpolitischen Kurswechsel: zum Abbruch der russisch-englischen Beziehungen und zum Bündnis mit Napoleon. Die innenpolitischen Vorgänge in Frankreich, die am 9. November 1799 zur Errichtung der bürgerlich-konterrevolutionären Diktatur Napoleons führten, machten den neuen Herrscher Frankreichs im gewissen Sinne salonfähig für eine Allianz mit dem Zaren. Die Mehrheit der russischen Adelsklasse erkannte nicht gleich diese Wandlung und sah in Napoleon wie zuvor den Dämon der Revolution. Die Mißstimmung des Adels über einzelne überspitzte Maßnahmen Pauls I., über seine unelastische Politik, vor allem aber die Unzufriedenheit wegen des Verlustes des für die russischen Guts- und Manufakturbesitzer wichtigen englischen Absatzmarktes führten zu einer gegen ihn gerichteten Verschwörung, die ihren Anfang bei den Gardeoffizieren nahm. Der aus der Hauptstadt ausgewiesene englische Gesandte war an dem Komplott beteiligt. Der Thronfolger Alexander war über die sich anbahnenden Vorgänge informiert. In der Nacht zum 24. März 1801 gelangten die Verschwörer mit Hilfe von Wachoffizieren durch einen Seitengang in das von dem mißtrauischen Zaren als Festung erbaute Michailow-Schloß und erreichten das Schlafgemach Pauls I. Nachdem sie die an der Tür postierten zwei Kammerhusaren überwältigt hatten, fielen sie über den erschrockenen Zaren her, schlugen ihn nieder und erwürgten ihn. Eine schwere Tabakdose und eine seidene Offiziersschärpe sollen nach Augenzeugenberichten die Mordinstrumente gewesen sein.

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

47

Nach der Ermordung Pauls I., bestieg sein Sohn Alexander I. den russischen Thron. Der neue Zar versprach, daß er „nach dem Gesetz und im Geiste" 1 6 seiner Großmutter Katharina II. regieren werde, d. h. völlig im Interesse der Adelsklasse. Er knüpfte erneut Beziehungen zu England an, stellte die beschnittenen Adelsprivilegien wieder her, hob das Einfuhrverbot für Bücher auf, lockerte die Zensur, verfügte die Schließung der Geheimkanzlei, erlaubte Auslandsreisen usw. Die bürgerliche Geschichtsschreibung erklärt die liberale Wendung der neuen Regierung unter Alexander I. vorwiegend aus den Charaktereigenschaften des jungen Zaren. Die tieferen Gründe für die Änderungen waren jedoch anderer Art. Die sozial-ökonomischen Wandlungen seit dem ausgehenden 18. Jh., die ersten Krisensymptome des russischen Feudalismus veranlaßten einzelne Vertreter des Adels, vorsichtig nach Mitteln und Wegen zu suchen, um das absolutistische Herrschaftssystem den veränderten inneren und äußeren Bedingungen anzupassen. Durch Beruhigungsmaßnahmen nach verschiedenen Seiten hin, die zumindest teilweise den Erwartungen einzelner Gruppen des Adels entgegenkamen, sollten die politischen Spannungen gemildert werden. Alexander I. betrieb deshalb eine Politik des Lavierens und liberaler Versprechungen. Schon von Jugend an hatte er in seiner Zwiestellung zwischen der Großmutter Katharina II. und dem Vater Paul I. die Kunst des Heucheins erlernt. Bei offiziellen Anlässen und bei Geselligkeiten kehrte er ein leutseliges Wesen hervor. Zu Empfangen bereitete er sich wie ein Schauspieler vor und übte vor dem Spiegel ein huldvolles Lächeln und graziöse Bewegungen. Mit seinem Erzieher Laharpe, einem gemäßigten Schweizer Republikaner, diskutierte er über liberale Themen, um sich anschließend mit einem Eifer, der wahre Hingabe verriet, dem militärischen Drill zu widmen. Der Reaktionär Aleksei Araktschejewgehörte schon damals zu seinem engsten Freundeskreis. Ein typisches Produkt liberalisierender Politik war das „Intime Komitee". Es bestand aus den jungen Aristokraten Pawel Stroganow, Viktor Kotschubej, Nikolai NowoSilzew und Adam Czartoryski, die im Ausland konstitutionelle Einrichtungen kennengelernt hatten und dem Zaren beratend zur Seite standen. Anfangs wurde das Komitee von den Konservativen beargwöhnt. Es stellte sich aber bald heraus, daß von ihm Reformen im Sinne eines echten Liberalismus nicht zu befürchten waren. Die Reformen der staatlichen Verwaltung von 1802 waren im Komitee vorberaten worden. Im Grunde genommen führten sie nur die schon von Paul I. eingeleitete Verwaltungsänderung weiter. Anstelle der Kollegien gab es nun offiziell ein Ministerkomitee und acht Ministerien: für Landstreitkräfte, Seestreitkräfte, Inneres, Äußeres*Justiz, Finanzen, Handel und Volksbildung. Gegenüber den Kollegien stellten die Ministerien nach Befugnis, Organisation und Geschäftsführung eine höhere Stufe dar, die vor allem in der konsequenten Verwirklichung der Prinzipien der zentralen Leitung und der Einzelverantwortlichkeit ihren Ausdruck fand. Die Ressorttrennung der zentralen Verwaltungsinstanzen war damit abgeschlossen. Ministerkomitee und Ministerien waren dem Zaren gegenüber rechenschaftspflichtig und an seine Weisungen ger bunden. 1802 wurde eine Senatsreform verabschiedet. Um das monarchistische Prinzip nicht zu verletzen, wurde sie in der Praxis aber so gehandhabt, daß der Senat — nominell die höchste Reichsinstitution — nur als zentrales Justizorgan fungierte und einige 16 Kljucevskij, V. O., Soiinenija, Bd. 5, Moskau 1958, S-. 212.

48

Rußland von 1789 bis 1825

Kontrollrechte ausübte. Die Maßnahmen Alexanders I. bewirkten eine weitere Zentralisierung des Staatsapparates. Die Entwicklung der Industrie und der Verkehrswege, das Entstehen neuer Produktionszweige, aber auch die Zentralisierung und Modernisierung des Staatsapparates verlangten ausgebildete Fachkräfte: Techniker, Ingenieure, Handels- und Finanzs'pezialisten, Pädagogen, Ärzte, Beamte usw. Dem entsprachen verschiedene Maßnahmen der Regierung im Bildungswesen. ,1802 wurde das Land in sechs Lehrkreise aufgeteilt. Das neue Reglement sah vier Arten von Bildungsstätten vor: Universitäten und Gymnasien waren für Adlige bestimmt, die Kreisschulen für Kinder von Kaufleuten und des städtischen Mittelstandes, die nur einklassigen Pfarrschulen für Bauernkinder. Gerade die letzteren, für breite Schichten der Werktätigen vorgesehenen Lehrstätten blieben als unverwirklichte Projekte auf dem Papier, so daß die Frage des Analphabetentums weiterhin ungelöst war. Außerdem gründete die Regierung für Adlige das Lyzeum von Zarskoje Selo, das Demidow-Lyzeum in Jaroslawl und das Richelieu-Lyzeum in Odessa. Besondere Bedeutung erlangte das Lyzeum von Zarskoje Selo, wo best? Lehrkräfte Unterricht erteilten und eine Reihe später berühmt gewordener Persönlichkeiten ausgebildet wurden, so der große russische Nationaldichter Alexander Puschkin, die Dichter Anton Delwig, Wilhelm Küchelbecker u. a. Neben den schon bestehenden Universitäten in Moskau und Dorpat (letztere deutschsprachig) wurden drei neue eröffnet: in Kasan, Charkow und Petersburg. Die Wilnaer Universität wurde reorganisiert. Die Universitäten erhielten Selbstverwaltung. Rektoren und Dekane wurden im Professorenplenum gewählt. Die 1724 unter Peter I. gegründete Akademie der Wissenschaften, wurde, um den erhöhten Anforderungen gerecht zu werden, reorganisiert. Nach dem Akademiereglement galt sie als die wichtigste wissenschaftliche Institution des Landes, deren Hauptaufgabe in der Entwicklung der Wissenschaft und ihrer Bereicherung durch neue Entdeckungen bestand. Die Akademie war angehalten, die theoretische und forscherische Tätigkeit möglichst in der Praxis anzuwenden. Zu ihren Pflichten gehörte es, sich um die Erforschung der natürlichen Reichtümer Rußlands zu kümmern und Mittel zu ihrer Mehrung und Verwendung in Industrie und Handel zu finden. Die Wahl neuer Akademiemitglieder wurde nunmehr in die Hände der Akademie selbst gelegt, der Präsident der Akademie der Wissenschaften durfte aber wie früher nur vom Zaren eingesetzt werden. Die Rechte des Präsidenten wurden zugunsten der akademischen Versammlung eingeschränkt. Die Reformen der ersten Regierungsjahre Alexanders I. enthielten liberale Ansätze. Sie waren auf Grund der neuen sozial-ökonomischen Prozesse in Rußland objektiv notwendig geworden und förderten, ob das ihre Urheber wollten oder nicht, in einem gewissen Umfang die neuen Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft. Dennoch sollte man sie nicht überbewerten, denn gleichzeitig zielten sie darauf ab, die Vorrechte des Adels und den absolutistischen Staat zu erhalten. Zugleich widerspiegelten die Reformen teilweise die liberalen Bestrebungen in fortschrittlichen und aufgeklärten Kreisen der Gesellschaft. In der Presse wurden die liberalen Tendenzen sichtbarer, nachdem die Zensurbedingungen gelockert worden waren. In russischer Übersetzung erschienen die Schriften bedeutender Philosophen, Ökonomen und Gesellschaftskritiker des 18. und 19. Jh.: die „Untersuchung über die Natur und die Gründe des Reichtums der Nationen" von Adam Smith, die Werke

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

49

von Montesquieu, Condorcet, Kant, Bentham u. a. Eine Belebung erfuhr die Publizistik, deren linker Flügel von den Dichtern und Publizisten Wassili Popugajew und Iwan Pnin verkörpert wurde und liberale, aufklärerische Ansichten vertrat. Allerdings ließ die Regierung die Zügel nicht aus der Hand. Als Pnin 1804 seinen „Versuch über die Aufklärung im Hinblick auf Rußland" herausbrachte und darin die Leibeigenschaft verurteilte, wurde die Schrift beschlagnahmt. Nikolai Karamsin, der immer mehr zum Konservatismus neigte, begrüßte in der Zeitschrift „Westnik Ewropy" die Maßnahmen Alexanders I., warnte aber vor tiefer greifenden Veränderungen. Neben die adlige Intelligenz, die auf kulturellem Gebiet vorerst noch den Ton angab, traten immer mehr Rasnotschinzen, die in der Regel das demokratische Element verkörperten. Radistschew wurde von Alexander I. nach Petersburg zurückgerufen und in die neue Gesetzeskommission aufgenommen. Er vertrat weiterhin seine die Grundgedanken der Aufklärung revolutionär weiterentwickelnden Anschauungen, insbesondere seine Ansichten über die Beseitigung der Leibeigenschaft in Rußland. Leidenschaftlich trat er für die Freiheit ein, die er aber abstrakt als Freiheit schlechthin auffaßte. Das ihm vorschwebende Freiheitsideal war in der Französischen Revolution nicht realisiert worden und die volksfeindlichen Ergebnisse dieser bürgerlichen* Revolution waren seinem forschenden Verstand nicht verborgen geblieben. Der enttäuschte Radistschew hoffte kurze Zeit noch einmal, daß diese Freiheit durch den aufgeklärten Monarchen, namentlich durch Alexander I., zu verwirklichen wäre. Er arbeitete an einigen unvollendet gebliebenen Gesetzentwürfen, in denen er die Abschaffung der Standesprivilegien, der körperlichen Züchtigung, des Mißbrauchs der Amtsgewalt forderte. Er trat für die öffentliche Gerichtsbarkeit, die Rede- und Pressefreiheit ein. Seine Hoffnungen auf Alexander I. erwiesen sich schon bald als Illusion. Die von ihm so ernst genommene Arbeit in der Gesetzeskommission blieb ohne jegliche Auswirkungen. Die wenigen Gedichte Radistschews aus diesen letzten Lebensjahren spiegeln seid Suchen nach einem Ausweg wider. Verzweifelt, von neuen Verfolgungen bedroht, schied er 1802 aus dem Leben. Kurz vor seinem Tode hatte er noch die Worte niedergeschrieben: „Die Nachwelt wird mich rächen." 1 7 Die'Wandlungen der Zeit widerspiegelten sich auch im Schaffen anderer Vertreter des Geisteslebens. Mit Gawrila Dershawin, der mit einer bestimmten Berechtigung schon als Dichter des beginnenden Übergangs zum Realismus zu charakterisieren ist, klingt der Klassizismus in der russischen Literatur aus. Die Strömung des Klassizismus genügte in ihrer Anlehnung an antike Gestalten und Kunstformen und der vorwiegenden Orientierung auf die Bedürfnisse des einheitlichen absolutistischen Staates nicht mehr der sich ausbreitenden bürgerlichen Denkungsart. Ihre strengen Normative der Form engten die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten stark ein. Dershawins Dichtungen aus der Zeit um die Jahrhundertwende zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie noch weitgehend in klassizistischen Formen bereits neue Inhalte zum Klingen bringen. Dershawins Poesie umfaßt "sowohl die patriotische Thematik als auch lyrische Träumereien, die wiederum abgelöst werden von scharfen Satiren und realistischen, farbenfreudigen Detailschilderungen. Der Dichter scheute sich nicht, wie z. B. in der Ode „Der Würdenträger" (1794), die Grausamkeit -und

17 Biografija A. N . Radisceva napisannaja ego synov'jami, Moskau—Leningrad 1959, S. 95. 4

Straube/Zeil, Feudalismus

50

Rußland von 1789 bis 1825

Genußsucht zaristischer Beamten anzuprangern. Seine Gedichte zeichnen ein lebensnahes Bild in mehreren Bereichen der russischen Wirklichkeit. Viele Dichtungen Dershawins wurden noch zu Lebzeiten des Poeten ins Deutsche übersetzt. Der überlebte Klassizismus wurde im letzten Jahrzehnt des 18. Jh. als vorherrschende literarische Strömung vom Sentimentalismus abgelöst, der den Gefühlen und Bedürfnissen der wachsenden mittleren Stände und des liberalen Adels viel näher kam. Die Schriftsteller und Dichter wandten sich den Konflikten und Lebensproblemen des einfachen Menschen zu, was die Literatursprache lebendiger und geschmeidiger werden ließ und besonders deren Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Gefühlswelt bereicherte und verfeinerte. Führender Repräsentant des russischen Sentimentalismus war der aus dem mittleren Adel stammende Schriftsteller Nikolai Karamsin, der schon mit seinen „Briefen eines russischen Reisenden" (1791/92 und 1797—1801) durch die 'buntschillernde, mit persönlichen Empfindungen verwobene Beschreibung Westeuropas in der Zeit der Französischen Revolution Aufsehen erregt hatte. Maßstäbe für den russischen Sentimentalismus setzte er aber vor allem mit dem Werk „Die arme Lisa" (1792), einer Erzählung, in der er ähnlich wie in Rousseaus „Nouvelle Heloise" und in Goethes „Leiden des jungen Werther" die Tragik einer nicht standesgemäßen Liebe behandelt. Durch die ergreifende Schilderung der unglücklichen Liebe eines einfachen Bauernmädchens zu einem jungen Adligen gelangt Karamsin zu einer in der russischen Literatur nicht dagewesenen emotionellen Aussagekraft und sprachlichen Kunst. Ebenso wie im übrigen Europa ging in Rußland zu Beginn des 19. Jh. der Sentimentalismus in eine neue literarische Strömung, die Romantik, über. Sie wurde getragen von der Unzufriedenheit verschiedener Gesellschaftsschichten mit den Ergebnissen der bürgerlichen Revolution und wies entsprechend den sozialen und politischen Positionen dieser Schichten zwei Hauptrichtungen* auf: eine vorwärtsweisende, revolutionäre und eine konservative. Jede wandte sich in ihrer Art von der seelenlosnüchternen, nur dem Profit dienenden Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft ab und suchte die innere Befreiung in der Sphäre des Individuums und des Geistigen, wobei die Literatur vor allem um solche Bereiche wie die Stimmung, die Intuition, das Naturgefühl, das Exotische, das Ungewöhnliche überhaupt bereichert 'wurde und zugleich eine Überschreitung aller Formgrenzen stattfarid. Die russische Romantik reflektierte in ihrer ersten, etwa bis 1815 reichenden Phase vor allem die Gefühle und die Gedanken des durch die bürgerliche Revolution unsicher gewordenen Adels und zeigte deshalb deutliche konservative Züge. Ihr eigentlicher Begründer war Wassili Shukowski, der in seinen Elegien und Balladen die poetischen Ausdrucksmittel durch die Wiedergabe empfindsamer Naturstimmungen und seelischer Regungen verfeinerte. Seine Dichtungen berühren durch ihre Zartheit, Melancholie und träumerische Melodik. Seine Philosophie des Sichbescheidens, der Weltabkehr, der Hinwendung zu den Problemen des Todes und der Vergänglichkeit äußert sich neben anderen Dichtungen in der Elegie „Der Dorffriedhof" (1802), einer Bearbeitung der „Elegy written in a Country Churchyard" von Thomas Gray. Die sozialkritische Note des englischen Originals wird durch eine versöhnliche Tendenz überspielt, die Trost in der Schicksalsergebenheit und im religiösen Glauben sucht. Mit seinen Balladen „Ludmilla" (1808) und „Swetlana" (1808—12), die sich an Gottfried Bürgers „Leonore" anlehnten, belebte Shukowski auch in Rußland diese alte

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

51

erzählende Gedichtart, die es gestattete, die Volksseele in real-phantastischer historischer Einkleidung zu erfassen. Neben eigenen Balladen (z. B. „Die Äolsharfe") schenkte Shukowski dem russischen Leser eine stattliche Zahl von Übersetzungen und meisterhaften Nachdichtungen aus dem Balladenschatz von Goethe, Schiller, Uhland u. a., unter denen Goethes „Erlkönig" und Zedlitz' „Nächtliche Heerschau" besonders herausragen. Shukowskis Dichtkunst sowie seine persönlichen Beziehungen zu Goethe, Tieck, Kerner u. a. machten ihn zu einem der bedeutendsten literarischen Mittler zwischen Deutschland und Rußland. Die kulturelle Entwicklung Anfang des 19. Jh. zeugt davon, daß der Prozeß der Herausbildung der bürgerlichen russischen Nation voranschritt. Unter den Bedingungen der Leibeigenschaft, der naturalwirtschaftlichen Abgeschlossenheit vieler Landesgebiete vollzog er sich jedoch in einem verlangsamten Tempo. Sehr hemmend wirkte sich die vorherrschende feudal-klerikale Ideologie aus. Am sichtbarsten äußerte sich das Erstarken des Nationalbewußtseins im Schaffen russischer Schriftsteller und" Dichter. Die Schriftsteller Denis Fonwisin, Nikolai Karamsin, der Dichter Iwan Krylow und viele andere bemühten sich in ihren Werken, das kulturelle Niveau des Volkes zu heben, die Nationalkultur zu bereichern. Neue Erscheinungen in der national-kulturellen Entwicklung sind darin zu erblicken, daß Volkskunst und Volkstraditionen mehr gepflegt wurden. Die progressiven Schriftsteller bemühten sich, die Literatursprache zu vervollkommnen, indem sie auf das lebendige Sprachgut des Volkes zurückgriffen. Russische Volksmärchen, Sprichwörter, Lieder usw. wurden gesammelt. 1804 wurde an der Moskauer Universität die philosophische Fakultät gegründet, WQ erstmalig Vorlesungen über die russische Sprache und die Theorie der Poesie gehalten wurden. Die Suche nach altrussischen Sprachdenkmälern, die u. a. zur Entdeckung des „Lieds von Igors Heerfahrt" führte, wurde intensiviert. Das wachsende Nationalbewußtsein widerspiegelte sich auch in den bildenden Künsten, die teilweise noch mit klassizistischen Stilmitteln Themen der russischen Nationalgeschichte aufgriffen. Besonders erwähnenswert sind in dieser Hinsicht die Gemälde „Die Eroberung Kasans durch Iwan IV" und „Alexander Newskis Einzug in Pskow nach seinem Sieg über den Deutschen Orden" von Grigori Ugrjumow, das Bild „Die Heldentat eines Kiewer Jünglings" von Andrei Iwanow und das Gemälde „Dmitri Donskoi auf dem Kulikower Feld" von Orest Kiprenski. Der letztere Künstler, ein ehemaliger Leibeigener, entfaltete sein wahres Talent in der Porträtmalerei und eröffnete mit seinen emotional gehobenen Bildnissen, mit denen er in der Weise des Sentimentalismus und der Romantik die menschliche Seelenwelt zu erschließen sucht, die nationalrussische Tradition psychologischer Charaktergemälde. Volkstümlich-nationale Motive klingen verstärkt im musikalischen Schaffen an und werden im Widerstreit mit der italienischen Opernkunst zum eigentlichen schöpferischen Entwicklungselement der russischen Musikkultur. Die Oper „Der Sankt Petersburger Kaufhof" von Michail Matinski greift mit nationalem Kolorit bunte Szenen des russischen Kaufmannslebens auf. Stepan Degtjarjow begründet mit dem patriotischen Oratorium „Minin und Posharski" und einer Reihe anderer Chorwerke die russische Oratorienkunst. In der Architektur, die noch lange in klassizistischen Formen verweilte, äußerten sich die neuen Tendenzen zu Beginn des 19. Jh. im Baustil des sogenannten russischen Empire, der das Prunkhafte durch erhabene Einfachheit und das Grandiose durch Monumentalität ablöste. „In seiner Ausbildungsphase stellte dieser Stil ein progres4*

52

Rußland von 1789 bis 1825

sives ideell-künstlerisches Programm dar, das durchdrungen war vom Bürgersinn und dem Verständnis der gesellschaftlichen Funktion der Architektur, insbesondere hinsichtlich der Ideen des Städtebaus." 1 8 Zu den herausragendsten Bauwerken dieser Zeit gehörte die in der Hauptstadt des russischen Reiches errichtete „Admiralität" von Andrejan Sacharow sowie der „Kasaner S o b o r " von Andrei Woronichin. Beide Monumentalbauten erfüllten neben ihrer engeren Repräsentativ- bzw. Kultusfunktion allgemeine Aufgaben im Sinne des wachsenden Selbstbewußtseins des russischen Städtebürgers und reihten sich organisch in das Gesamtensemble von Petersburg ein. In der Gesamtsicht zeigte die russische Architektur damit, daß sie ähnlich wie auch andere Kunstgattungen in dieser Zeit dabei war, den zu nichts verpflichtenden adligen Kosmopolitismus und sein dazu gehörendes Gegenstück, den engen adligen Reichs- und Landes„patriotismus" zu überwinden. Die russische Kultur reflektierte und stimulierte somit auf recht vielfältige Weise einen hochwichtigen Prozeß in der russischen Gesellschaft: die Herausbildung einer in der Tendenz bürgerlichen Moral, die nationale Belange zum Ausdruck brachte. Das sich national ausrichtende Denken im Lande beeinflußte zumindest äußerlich selbst eine solche Domäne des Zarismus wie die russische Außenpolitik, die bei unverändert gebliebenen expansionistischen Zielen sich zunehmend nationaler Phrasen bediente. Einer der ersten außenpolitischen Schritte Alexanders I. bestand darin, die Angliederung Georgiens an Rußland zu vollziehen, wobei für die Begründung dieses Aktes auch das Argument der nationalen Interessen Rußlands ins Spiel gebracht wurde. Der Anschluß erfolgte auf Ersuchen des von Persien und der Türkei bedrohten georgischen Zaren und kam den zaristischen Expansionsbestrebungen sehr gelegen. Einerseits sicherte er Georgien vor den Vernichtungsfeldzügen solcher rückständiger Mächte wie der Türkei und Persien, beendete die inneren Feudalfehden und begünstigte die ökonomisch-kulturelle Entwicklung des Landes, andererseits brachte er dem georgischen Volk das Zarenjoch. Der Zarismus benutzte die neugewonnenen Positionen als Basis für weitere Eroberungen. 1804 und 1805 wurden die Khanate Jerewan und Baku an Rußland angeschlossen. Gleichzeitig gingen zaristische Truppen gegen Daghestan vor. Mit dem wachsenden Einfluß Rußlands in Transkaukasien verschärften sich die russischpersischen und russisch-türkischen Gegensätze. 1804 eröffnete Persien die Kampfhandlungen gegen Rußland. Der Krieg zog sich mit wechselndem Erfolg bis 1813 hin und endete mit der Anerkennung der russischen Gebietsgewinne in Daghestan und Nordaserbaidshan durch Persien. Das Schwergewicht der russischen Außenpolitik lag zu Beginn des Jahrhunderts jedoch in Europa, wo die Politik Napoleons I. als des Interessen Vertreters der französischen Großbourgeoisie immer aggressivere Züge annahm. Zunächst versuchte die russische Regierung zu einer Übereinkunft mit Frankreich zu gelangen. In dieser Orientierung deutete sich an, daß es nun nicht mehr vorrangig um die Bekämpfung der Französischen Revolution ging, sondern daß es sich um ein „normales" Ringen expansionistischer Mächte handelte, in dem auch ein Bündnis mit einem bürgerlich etablierten Frankreich und die Abstimmung mit dessen Expansionszielen durchaus im Bereich der Realpolitik lagen. Am 8. Oktober 1801 wurde mit Frankreich ein „Vertrag über Frieden, Freundschaft und gutes Einvernehmen" abgeschlossen. 18 Kratkij ocerk istorii russkoj kultury, Moskau 1967, S. 306.

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

53

In einer geheimen Zusatzkonvention vereinbarten die Vertragspartner, die anste-; henden deutschen Probleme in gegenseitiger Abstimmung zu lösen. Gerade hierin zeigte sich die zaristische Diplomatie besonders empfindlich. In einer Instruktion Alexanders I.'an den russischen Gesandten in Berlin, Baron Krüdener, vom 17. Juli 1801 hieß es: Deutschlands „Unabhängigkeit und Sicherheit sind zu sehr mit der künftigen Ruhe Europas verbunden, als daß ich dem gegenüber gleichgültig sein könnte und nicht die Möglichkeit durch die jetzige Sachlage nutzen würde, um Rußlands vorherrschenden Einfluß in den Angelegenheiten des Reiches zu konservieren." 19 Rußland übernahm in der Zusatzkonvention die Vermittlung, um den Herzog von Württemberg und den Kurfürsten von Bayern zu entschädigen, die durch Frankreich Gebietsverluste westlich des Rheins erlitten hatten. Frankreich seinerseits versprach, die Neutralität Neapels zu wahren und gemeinsam mit* Rußland die Freiheit der Meere zu sichern. Die russisch-französischen Festlegungen über die deutschen Gebietsveränderungen wurden 1803 durch den Reichsdeputationshauptschluß zum deutschen Reichsgesetz erhoben. Bald sollte sich jedoch zeigen, daß sich Napoleon nicht an die getroffenen Vereinbarungen hielt. Die großbürgerlichen Ziele seiner Außenpolitik, maßlos gesteigert durch seine Waffenerfolge, mußten zwangsläufig mit den Interessen der anderen Großmächte, insbesondere mit denen Englands und Rußlands, kollidieren. Napoleon aktivierte seine diplomatische Tätigkeit auf der Balkanhalbinsel und behandelte, gestützt auf sein militärisches Übergewicht, die deutschen Klein- und Mittelstaaten faktisch als Vasallenstaaten, ohne auf die Wünsche des zaristischen Rußlands Rücksicht zu nehmen. Diese Handlungsweise Napoleons stellte jenes instabile Kräftegleichgewicht zwischen Rußland und Frankreich in Frage, das durch die Verträge von 1801 fixiert worden war. Das Bündnis mit Frankreich verlor für den Zarismus seinen Wert, da es Rußland nicht die Möglichkeit gewährte, entscheidenden Einfluß auf den Gang der Dinge in Zentraleuropa auszuüben. Neben der diplomatischen Aktivität Napoleons auf der Balkanhalbinsel war es also vor allem sein Hegemonieanspruch in Deutschland, der mit dem analogen Vorherrschaftsstreben des Zarismus zusammenstieß und die russische Regierung zu einem Kurswechsel veranlaßte. Im Sommer 1804 orientierte sich Alexander I. schließlich auf England, das sich seit 1803 wieder im Kriegszustand mit Frankreich befand, und begann, Österreich und Preußen als Verbündete im künftigen Krieg zu werben. Die 3. Koalition setzte sich das Ziel, Italien, Norddeutschland, Holland und die Schweiz von den französischen Truppen zu befreien, Frankreich auf die Grenzen von 1792 zurückzudrängen, dort die frühere Monarchie wiederherzustellen und Garantien „gegen künftige Usurpationen" zu erhalten. Immerhin erkannte man, daß die tieferen bürgerlichen Umwandlungen in Frankreich nicht mehr rückgängig zu machen waren, weshalb man den Eigentümern versprach, daß sie die in der Revolution erworbenen Vorteile nicht aufgeben müßten. Mehr noch, es wurde sogar darauf angespielt, daß die legitimistischen Staaten unter Umständen die republikanische Regierungsform anerkennen könnten, wenn sie „mit der gesellschaftlichen Ruhe zu vereinbaren ist"20. 19 Vnesnaja politika Rossii XIX—nacala X X veka, Bd. I, Moskau 1960, S. 45. [Alexander I. an A. J. Krüdener, vom 17. 7. 1801], 20 Ebenda, Bd. II, Moskau 1961, S. 366f., [Englisch-russische Bündniskonvention über Maßnahmen zur Sicherung des Friedens in Europa, vom 11. April 1805].

54

Rußland von 1789 bis 1825

In den russischen Plänen für die 3. Koalition spielte Deutschland eine wichtige Rolle. In der Geheiminstruktion Alexanders I. für N. N. Novosilzew, den Sonderbeauftragten für die Bündnisverhandlungen mit dem Londoner Kabinett, wurde hinsichtlich der künftigen Gestaltung Deutschlands ausdrücklich vermerkt, daß Preußen und Österreich nicht sonderlich an Macht gewinnen dürften und daß man ihnen nach Möglichkeit eine Föderation deutscher Kleinstaaten als Gegengewicht entgegenstellen sollte. 21 Friedrich Engels hat demnach mit seiner Einschätzung völlig recht, wenn er schreibt, daß es sich bei Ausbruch des Krieges von 1805 „nur darum handelte, ob die Kleinstaaten einen französischen Rheinbund bilden sollten oder einen russischen" 22 . Die offen verkündeten und die geheimen Zielsetzungen des Zarismus in der 3. Koalition zeugen davon, daß im Mittelpunkt seiner Aktivitäten nicht mehr der Kampf gegen die „revolutionäre Seuche" stand, obwohl davon noch relativ viel gesprochen wurde, sondern daß man die Zerschlagung Frankreichs als eines gefahrlichen, aggressiven Staates anstrebte, der Rußland und England daran hinderte, ihre eigenen Eroberungsziele zu verwirklichen. Für die nationale bürgerliche Entwicklung Deutschlands hätte ein Sieg der 3. Koalition unter Führung Rußlands als stärkster Kontinentalmacht eindeutig reaktionäre Folgen gehabt. Die Pläne der Teilnehmer der 3. Koalition gingen jedoch nicht auf. In einem meisterhaften Feldzug zwang Napoleon zuerst die österreichischen Verbände unter Mack bei Ulm zur Kapitulation und schlug sechs Wochen später die verbündeten russischen und österreichischen Truppen in der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz aufs Haupt (2. 12. 1805). Mit dem Frieden von Preßburg (26. 12. 1805) schied Österreich aus dem, Krieg aus und Rußland stand der französischen Macht faktisch allein gegenüber. Der Zarismus gab auch unter den sich ändernden Bedingungen keine seiner Vormachtbestrebungen auf. Notgedrungen rückte angesichts der Gefahren von Seiten Napoleons jedoch die Verteidigung des eigenen Staates mehr in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Die zaristische Außenpolitik verstand es mit der für sie charakteristischen Vielgesichtigkeit und Biegsamkeit allerdings, den Kampf für die staatliche Unabhängigkeit Rußlands und den Kampf anderer Völker gegen Napoleon mit ihren traditionellen Eroberungs- und Vorherrschaftszielen zu verbinden. Die Verhandlungen zwischen Rußland und Frankreich nach der Zerschlagung der 3. Koalition machten sichtbar, daß die Expansions- und Herrschaftsbestrebungen der französischen .Bourgeoisie und ihres eben gekrönten Kaisers nicht zu mäßigen waren. Alle Maßnahmen Napoleons, der auf dem bisherigen Zenit seiner Macht stand, liefen darauf hinaus, die Vormachtstellung des großbürgerlichen Frankreichs in Europa noch weiter auszubauen. Damit verletzte er, auch wenn die Expansionspolitik damals noch von objektiv fortschrittlichen, bürgerlichen Reformen begleitet wurde, in gröblichster Weise die souveränen Rechte mehrerer Völker. Der in Paris ausgearbeitete französisch-russische Friedensvertrag regelte fast alle Streitfragen zugunsten Frankreichs; namentlich in Deutschland sollte der Zarismus auf seine alten Patronatsrechte, d. h. auf wichtige Grundlagen seines Einflusses in Zentraleuropa,

21 Ebenda, S. 142, [Geheiminstruktion Alexanders I. für N . N . Novosil'cev, vom 23. September 1804], 22 Engels, F., Die auswärtige Politik des russischen Zarentums. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 27.

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

55

verzichten. Alexander I. weigerte sich, den Vertrag zu ratifizieren, und ging mit Energie daran, eine neue antifranzösische Koalition zu schmieden. Angesichts des enormen französischen Machtzuwachses in Deutschland fiel es dem preußischen Kabinett immer schwerer, seine Politik des Lavierens zwischen den feindlichen Mächten fortzusetzen. Der Ausbau des napoleonischen Unterdrückungssystems in Deutschland hatte 1806 mit der Gründung des Rheinbundes eine neue Stufe erreicht. Als Napoleon für den Fall einer französisch-englischen Übereinkunft erwog, das soeben Preußen zugesprochene Hannover an England zurückzugeben, und er gar noch Polenpläne auf Kosten der preußischen Ostgebiete entwickelte, da näherte sich Preußen erneut dem zaristischen Rußland. Im September 1806 bildete sich die 4. antifranzösische Koalition zwischen Rußland, England, Preußen und Schweden. Napoleon kam aber einer Vereinigung der militärischen Kräfte seiner Gegner zuvor. In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt (14. 10. 1806) brachte er der preußischen Armee eine vernichtende Niederlage bei, die Preußens innere Schwäche schlagartig offenbarte. Von Berlin aus verkündete Napoleon am 21. November 1806 die Kontinentalsperre gegen England. Allen von Frankreich abhängigen Staaten wurden der Handel und jeglicher Verkehr mit den britischen Inseln verboten. Auf diese Weise versuchte Napoleon die für ihn nachteiligen Auswirkungen der verlorenen Seeschlacht von Trafalgar (21. 10. 1805), die seine Hoffnungen auf eine Landung einer französischen Armee in England zunichte gemacht hatte, zu kompensieren. Großbritannien sollte nunmehr wirtschaftlich erdrosselt werden. Die Verkündung der Kontinentalsperre stellte eine neue Stufe in der Eroberungspolitik der französischen Bourgeoisie dar, verlieh ihr noch größere Maßstäbe; denn ohne die Unterwerfung aller europäischen Staaten war es unmöglich, England ökonomisch in die Knie zu zwingen. Die französischen Truppen waren inzwischen bis Ostpreußen vorgedrungen, wo sie auf den erbitterten Widerstand der russischen Armee und der Reste des preußischen Heeres stießen. Der Kampfesmut, den die russischen Truppen an den Tag legten, belebte die Herzen der deutschen Patrioten mit neuen Hoffnungen. „Die Bravour der Russen", schrieb in jenen Tagen der fortschrittlich gesinnte preußische General Scharnhorst, „übertrifft . . . alles was Menschen tun können. Der Kaiser der Franzosen findet vielleicht bei dieser Nation endlich sein Ziel". 23 Am 14. Juni 1807 gelang es Napoleon schließlich, den russischen Truppen bei Friedland eine Niederlage zuzufügen. Die französische Armee drang bis dicht an die russische Grenze vor. In dieser Situation entschloß sich Alexander I. zu Verhandlungen mit Napoleon. Die erste Begegnung zwischen den beiden Herrschern fand auf einen speziell dafür hergerichteten Floß in der Mitte des Njemen st^tt. Die Verhandlungen verliefen unter vier Augen. „Ich werde Ihr Sekretär sein und Sie der meinige" 24 , erklärte der französische Kaiser dem Zaren. Die am 7. und 9. Juli 1807 in Tilsit abgeschlossenen Verträge sahen eine Teilung Europas in Einflußsphären vor: für Napoleon die mittelund westeuropäischen Länder, für den Zaren Osteuropa und Teile der Balkanhalbinsel. Preußen konnte nur durch das Bemühen der russischen Diplomatie als Staat gerettet werden. Der Zar mußte zustimmen, daß die Ionischen Inseln von französischen 23 Scharnhorsts Briefe, hrsg. v. Karl Lünebach, Bd. 1, München und Leipzig 1914, S. 314. 24 Martens, F., Sobranie traktatov i konvencij zakljucennych Rossiej s inostrannymi derzavami, Bd. 13, St. Petersburg 1909, S. 300.

56

Rußland von 1789 bis 1825

Truppen besetzt wurden. Außerdem schlössen Napoleon und Alexander I! ein Bündnis, das die Grundlage für die noch 1807 erfolgende Kriegserklärung Rußlands an England bildete. Auf den ersten Blick waren die Tilsiter Verträge ein großer Sieg der Napoleonischen Diplomatie. In Wirklichkeit aber verschafften sie der französischen Bourgeoisie kaum mehr als das, was die französischen Truppen ohnehin schon erkämpft hatten. Darüber hinausgehende Bestimmungen, wie der Beitritt Rußlands zur Kontinentalsperre und seine Verpflichtung zur Kriegserklärung an England, die für das zaristische Reich in der Tat schwerwiegend waren, hingen hinsichtlich ihrer praktischen Realisierung von der russischen Regierung selbst ab. Demgegenüber stellte die Erhaltung Preußens, wenn auch nur als Rumpfstaat, einen Erfolg der zaristischen Diplomatie dar, der im Endergebnis schwerer wog als die mit deutlicher Spitze gegen Rußland erfolgende Schaffung des Großherzogtums Warschau. Der wichtigste Beweggrund dafür, daß Alexander auf der Erhaltung Preußens bestand, war das Bestreben des Zaren, sich mit Preußen einen Verbündeten für die unvermeidliche künftige Auseinandersetzung mit Frankreich zu sichern. F ü r den Kampf gegen das Napoleonische System der nationalen Unterdrückung besaß die weitere Existenz Preußens, wie sich später erwies, tatsächlich außerordentliche Bedeutung. Tilsit war nämlich nicht nur der Höhepunkt der Macht des bürgerlichen Frankreichs über Europa, sondern bildete in der historischen Gesamtsicht auch jene Wende, an der die nationalen Befreiungskriege gegen das Napoleonische Joch begannen. Diese sich allgemein verstärkende bürgerlich-nationale Befreiungsbewegung war vom Zarismus natürlich nicht geplant. Unter den neuen Bedingungen bestand das objektive Ergebnis der Weiterexistenz Preußens darin, daß jenes Staatsgebilde erhalten blieb, das in ganz Deutschland die besten Möglichkeiten bot, nicht zuletzt durch bürgerliche Reformen, einen breiten nationalen Widerstand gegen das Napoleonische Joch vorzubereiten. Die Lage, in der sich Preußen nach Tilsit befand, gebot diesem Staat bei Strafe des Untergangs, den Weg bürgerlicher Veränderungen einzuschlagen, um gegen den großbürgerlichen Eroberer mit denselben Mitteln gewappnet zu sein-, die jenen stark gemacht hatten. Am schwersten wurde Rußland von der Bestimmung getroffen, der Kontinentalsperre beizutreten, da England sein wichtigster Handelspartner war. Die verderblichen Auswirkungen der Handelssperre und das gekränkte Nationalbewußtsein riefen in der russischen Öffentlichkeit starke Unzufriedenheit mit dem neuen politischen Kurs hervor. Um diese Unzufriedenheit zu dämpfen und gleichzeitig auf neuen Länderraub auszugehen, entfesselte der Zarismus im Einverständnis mit Napoleon einen Krieg gegen Schweden, der 1809 mit der Einverleibung Finnlands endete und Schweden zwang, sich der Kontinentalsperre anzuschließen. Das zaristische Rußland verfolgte insgesamt, auch gegenüber Napoleon, eine durchaus selbständige Politik. In seinem Eroberungsdrang war es jedoch durch die Niederwerfung, Schwedens zeitweilig objektiv zum Werkzeug der Napoleonischen Politik geworden. Es stärkte damit die französischen Positionen in Europa. Diese Haltung des Zarismus war für das großbürgerliche Frankreich umso wichtiger, als sich der Widerstand gegen das Napoleonische Unterdrückungssystem in West- und Mitteleuropa überall aktivierte, vor allem in Spanien. Napoleon legte Wert darauf, daß in dieser Situation durch ein Treffen mit dem Zaren die Festigkeit des französisch-russischen Bündnisses vor aller Welt demonstriert

Politisch-gesellschaftliche Entwicklung

57

wurde. So kam es im Herbst 1808 zur Erfurter Begegnung von Napoleon und Alexander I. In den internen Gesprächen der beiden Herrscher machten sich jedoch bereits die tiefen Widersprüche zwischen Frankreich und Rußland bemerkbar. Um der anhaltenden Unzufriedenheit in der russischen Öffentlichkeit zu begegnen, schlug die Regierung Alexanders I. erneut einen Scheinliberalen Kurs ein und kündigte Reformen an. Den Auftrag, einen Plan der staatlichen Neugestaltung auszuarbeiten, erhielt Michail Speranski, ein Vertrauter Alexanders I. seit dem Tilsitef Frieden. Speranski war der Sohn eines Dorfgeistlichen. Auf Grund seiner, Begabung und seines Fleißes war er an die Petersburger Geistliche Akademie gekommen, hatte rasch Karriere gemacht und war schließlich Staatssekretär geworden. Er vertrat gemäßigte liberale Ansichten, verlangte die Förderung von Wissenschaft, Handel und Industrie, um dadurch den russischen Feudalstaat den Erfordernissen der kapitalistischen Entwicklung anzupassen. Durch kleine Zugeständnisse an den Geist der Zeit hoffte er, ernste revolutionäre Erschütterungen zu verhindern. Speranskis Projekte waren im konstitutionellen Sinn gehalten. Sie sahen eine im Vierstufensystem wählbare Staatsduma mit einigen gesetzgeberischen Funktionen vor. Ein vom Zaren zu ernennender Staatsrat sollte Gesetze vorschlagen dürfen. Die Sanktion der Gesetze blieb dem Zaren vorbehalten. Das Wahlrecht sollte auch Vertretern mittlerer Stände, d. h. Händlern, selbständigen Gewerbetreibenden u. a. zugesprochen werden, sofern sie einen bestimmten Vermögenszensus nachweisen konnten. Die leibeigenen Bauern, das Dienstpersonal, die Arbeitsleute in den Manufakturen, d. h. der größte Teil der Bevölkerung Rußlands, blieb vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die Reformprojekte Speranskis besaßen trotz ihrer Halbheiten einige progressive Züge; sie schränkten unter Beibehaltung der Leibeigenschaft die Selbstherrschaft geringfügig ein, erweiterten die Rechte für bürgerliche Elemente. Freiherr vom Stein, der in Preußen etwa um dieselbe Zeit gemäßigte bürgerliche Reformen verwirklichte, beurteilte Speranskis Pläne als nützlich für die künftige Entwicklung des russischen Staates und des russischen Volkes. Den reaktionären Adligen waren aber selbst diese bescheidenen Projekte zu radikal. Systematisch arbeiteten sie auf den Sturz Speranskis hin. Man bezichtigte ihn, die Adelsprivilegien völlig beseitigen zu wollen. Zum Sprecher dieser einflußreichen reaktionärsten Kreise machte sich der zum Reichshistoriographen avancierte Schriftsteller Nikolai Karamsin. In seiner 1811 dem Zaren überreichten Schrift „Über das alte und das neue Rußland" verwarf er jegliche politischen Neuerungen als gefährlich für den Bestand der Selbstherrschaft. Speranskis Gesetzentwürfe bezeichnete Karamsin als eine Übersetzung des Code Napoleon. Die Stellung des Adels sei auf jede Weise zu erhöhen. Rußland brauche keine Verfassung, sondern lediglich fünfzig kluge, wohltätige Gouverneure. Nachdem die Reaktion derart vernehmbar ihre Meinung geäußert hatte, rückte Alexander I. von den nie ernst gemeinten Reformplänen ab. Speranski wurde fallengelassen und in die Verbannung geschickt. Die außenpolitische Entwicklung trug ebenfalls dazu bei, daß liberale Gespräche in Regierungskreisen verstummten. Im österreichisch-französischen Krieg von 1809 war Rußland seinen Bündnispflichten gegenüber Frankreich nur formal nachgekommen. Die Inaktivität der russischen Truppen im Krieg war für Napoleon ein Zeichen, daß die russische Politik in ihrem Wesen doch antifranzösisch ausgerichtet war und keine entscheidende Schwächung Österreichs zulassen wollte.

58

Rußland von 1789 bis 1825

Durch die Erweiterung des Großherzogtums Warschau und die neuen französischen Annexionen in Holland, Deutschland und der Schweiz 1810/11, die in Rußland auf Ablehnung stießen, schwächte der großbürgerliche Aggressor Frankreich spürbar die europäischen Positionen des ebenfalls expansionistischen Zarismus; mehr noch, die Napoleonischen Eroberungen begannen effektiv zu einer wachsenden Gefahr für die staatliche Unabhängigkeit Rußlands selbst zu werden. Die Absichten des französischen Kaisers bestanden darin, wie der russische Botschafter in Paris, Fürst Kurakin, im Spmmer 1811 konstatierte, Rußland in einen Zustand zu versetzen, „in dem es sich vor . . . der Regierungszeit Peters des Großen befand, mit einem Wort, es in ein reines asiatisches Land zu verwandeln, es seiner Stellung als einer der erstrangigen Mächte . . . zu berauben" 2 5 . Vor allem aber waren die wirtschaftlichen Widersprüche unüberbrückbar. „Rußland", schrieb F. Engels unter Hinweis auf die sich verstärkenden bürgerlichen Bindungen „war bereits Viel zu sehr verwestlicht, um ohne Geld leben zu können. Die Handelssperre wurde unerträglich." 26 Die russischen Häfen wurden für neutrale Schiffe, die offenkundig auch englisches Frachtgut mit sich führten, wieder geöffnet. Dabei war es durchaus nicht Rußland allein, das die Sperre verletzte. Durch den Tarif von Trianon und einige Zusatzdekrete hatte Napoleon 1810 selbst die Einfuhr einiger für Frankreich wichtiger Kolonialwaren zugelassen. Zur selben Zeit umgab er die von ihm beherrschten Gebiete Europas mit einer Zollmauer gegen alle Waren nichtfranzösischer Herkunft. Als aber die russische Regierung für 1811 eine Zollerhöhung für Luxusgegenstände verfügte, die z. T. aus Frankreich kamen, war Napoleon darob aufs höchste erzürnt. Die wirtschaftlichen Widersprüche verschärften sich. Im Frühjahr 1811 vernahm der in besonderer Mission in Paris weilende russische Oberst Alexander Tschernyschew aus dem Mund Napoleons zum ersten Mal unmißverständliche Drohungen gegen Rußland. Der'russisch-französische Gegensatz besaß einen wichtigen internationalen Aspekt. Er wirkte als indirekte Reserve für die antinapoleonische Befreiungsbewegung. Eine Bedrohung der Unabhängigkeit Rußlands war tatsächlich vorhanden, und deshalb ging es für den Zarismus in hohem Maße um gesamtstaatliche und nationale Interessen, die weitgehend mit den Interessen anderer vom großbürgerlichen Frankreich bedrohter bzw. unterdrückter Völker übereinstimmten. Angesichts der zunehmenden Kriegsgefahr unternahm die Zarenregierung alles, um die herrschende Klasse um sich zu einigen. Dazu gehörte, wie es die Mehrheit des russischen Adels verlangte, der Verzicht auf die noch so vage beabsichtigten, gemäßigten liberalen Reformen. Nach dem Sturz Speranskis erhob die Reaktion im Lande noch kühner ihr Haupt. Die Rüstungen wurden verstärkt. Rußland stand am Vorabend eines großen Krieges.

25 Vnesnaja politika Rossii, XIX—nacala X X veka, Bd. VI, Moskau 1962, S. 143. [A. B. Kurakin an N . P. Rumjancev vom 14. 8. 1811]. 26 Engels, F., Die auswärtige Politik des russischen Zarentums. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 28.

Kapitel III Vaterländischer Krieg und europäischer Befreiungskampf Die Ursachen des herannahenden Krieges Frankreichs gegen Rußland lagen nicht nur in den ökonomischen Widersprüchen zwischen den beiden Ländern begründet. Nachdem Napoleon den größten Teil des mittel und westeuropäischen Festlandes unterworfen hatte, blieben England und Rußland die Haupthindernisse bei der Verwirklichung seiner großbürgerlichen Weltherrschaftspläne. Bereits 1805 nach der Niederlage der französisch-spanischen Flotte bei Trafalgar vertrat Napoleon die Auffassung, daß England als der Hauptgegner der französischen 'Bourgeoisie nur dann niederzuringen sei, wenn vorher Rußland besiegt und unterworfen würde. Der französische Kaiser hegte den phantastischen Plan, nach der Bezwingung Rußlands über dessen Territorium den Zugang zur wichtigsten britischen Kolonie Indien zu erlangen. „In fünf Jahren werde ich die Welt beherrschen," erklärte Napoleon im Jahre 1811 dem französischen Botschafter in Warschau de Pradt — „es bleibt nur noch Rußland, doch ich werde es zerschlagen" 1 Das zaristische Rußland seinerseits konnte sich mit dem bedrohlichen Machtzuwachs Frankreichs in Europa, mit dem steigenden französischen Einfluß auf dem Balkan und im Vorderen Orient auf die Dauer nicht abfinden. In der Verflechtung der französischenglischen, französisch-russischen Widersprüche, die sich hauptsächlich durch die großbürgerliche Expansionspolitik des imperialen Frankreichs zuspitzten, lagen die Gründe für einen neuen großen Krieg. Napoleon beabsichtigte, Rußland überraschend anzugreifen. Während er eifrige Kriegsvorbereitungen traf, instruierte er den französischen Botschafter in Petersburg Armand Caulaincourt, allen etwaigen Kriegsgerüchten entschieden entgegenzutreten. In den russischen Regierungskreisen hegte man aber keine Illusionen hinsichtlich der Absichten Napoleons und bereitete sich ebenfalls auf den Krieg vor. Die diplomatische Vorbereitung der Auseinandersetzung mit Frankreich war, im ganzen gesehen, erfolgreich. Um einen Mehrfrontenkrieg zu vermeiden, bemühte sich die russische Regierung darum, den seit 1806 andauernden russisch-türkischen Krieg baldigst zu beenden. Durch das militärische und diplomatische Geschick des russischen Feldherrn Michail Kutusow konnte der Krieg zur höchsten Entrüstung Napoleons buchstäblich am Vorabend des französischen Überfalls auf Rußland mit dem Frieden von Bukarest (28. 5. 1812) zum Abschluß gebracht werden. Der Friedensvertrag bestimmte überdies die Angliederung Bessarabiens an Rußland. Mit Schweden, auf dessen Gegnerschaft zu Rußland die französische Diplomatie ebenfalls hoffte, konnte die russische Regierung 1812 sogar ein Bündnis schließen. Frankreich gelang es, durch massiven Druck Preußen und Österreich auf seine Seite zu bringen. Insgeheim hatte jedoch die russische Regierung mit den Kabinetten in Wien 1 Pradt de, Histoire de l'ambassade dans le Grand Duché de Varsovie au 1812, Paris 1815, S. 23f.

60

Rußland von 1789 bis 1825

und Berlin Verabredungen getroffen, einander im kommenden Krieg möglichst wenig Schaden zuzufügen. Diese Übereinkünfte hoben die Bündnisse Preußens und Österreichs mit Frankreich zwar nicht auf, minderten sie aber recht erheblich in ihrem Wert. Die tieferen Gründe für diese geheimen Abmachungen liegen in der Erkenntnis begründet, daß Rußland, Österreich und Preußen dem expansionistischen Frankreich gegenüber doch aufeinander angewiesen waren, daß in der gegebenen Situation vor allem die Existenz eines starken Rußlands die Garantie für das Weiterbestehen Österreichs und Preußens bot. Auf militärischem Gebiet zeigte sich allerdings die große Überlegenheit des bürgerlichen Frankreichs. Napoleon gelang es, bis zum Sommer 1812 insgesamt 614000 Mann — die bisher größte Streitmacht der europäischen Geschichte — für den Feldzug zu formieren. Ihrer nie dagewesenen p r ö ß e wegen erhielt sie die Bezeichnung „Grande armée". Der Artilleriepark dieser Armee zählte 1242 Feld- und 130 Belagerungsgeschütze. Während der Vorbereitung des Krieges erfüllte das nach dem Tilsiter Frieden gebildete Großherzogtum Warschau die Funktion eines Aufmarschgebietes gegen Rußland. Napoleon erreichte es, daß starke polnische Formationen der „Grande armée" angeschlossen wurden, indem er bei den Polen gewisse Hoffnungen auf die Schaffung eines großpolnischen Staates weckte. Die „Grande armée" war in ihrer nationalen Zusammensetzung sehr buntscheckig. Sie bestand aus Franzosen, Deutschen, Österreichern, Polen, Italienern, Holländern, Spaniern, Schweizern und Vertretern anderer Völker. Die Mehrheit war mit Gewalt in die Napoleonische Kriegsmaschinerie eingespannt worden, um im Interesse der französischen Bourgeoisie weitere Völker zu unterjochen. Die Soldaten in den blauen französischen Monturen machten nur knapp die Hälfte der Gesamtzahl der Armee aus. Aber auch sie waren längst nicht mehr dieselben wie in den Jahren von 1789 bis 1794, als sie mit Elan die Errungenschaften der Revolution verteidigten. Das feudale Rußland mit seinem schwerfalligen Rekrutierungssystem konnte bis zum Juni 1812 nur 220000 Mann gegen den Feind aufbringen, die außerdem noch in drei weit auseinanderliegende Heeresgruppierungen geteilt waren, da man die Angriffsrichtung Napoleons nicht kannte. Die 1. Armee unter Michail Barclay de Tolly, der als Kriegsminister gleichzeitig den Oberbefehl über alle russischen Streitkräfte innehatte, nahm die Linie von Rossijeny bis Lida ein, die 2. Armee unter General Pjotr Bagration stand im Raum von Wolkowysk und die 3. Armee unter General Alexander Tormassow befand sich bei Luzk. Im Morgengrauen des 24. Juni 1812 begann die „Grande armée" auf drei Brücken den Njemen zu überschreiten und betrat russisches Territorium. 35 Stunden später konnte Marschall Murat, der mehrere Kavallerieerkundungen durchgeführt hatte, berichten, daß sich die russischen Truppen überall eilig zurückzogen. Auch in den nächsten Tagen setzten sie den Rückmarsch fort. Auf Grund des großen militärischen Übergewichts der Franzosen war der russische Rückzug, wie Karl Marx einschätzend bemerkte, „keine Sache der freien Wahl, sondern der zwingenden Notwendigkeit" 2 . Napoleon stellte sich das Ziel, die russische Armee entsprechend seiner bisherigen erfolgreichen Kriegführung in einer Generalschlacht oder einigen wenigen Hauptschlachten vernichtend zu schlagen und damit den Krieg zu entscheiden. Zu diesem Zweck wählte er als Hauptstoßrichtung Moskau, versuchte eine Vereinigung der zwei 2 Marx, K.., Barclay de Tolly. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 14, Berlin 1961, S. 89.

Vaterländischer Krieg

61

russischen Armeen unter Barclay de Tolly und Bagration zu verhindern und beide Armeen einzeln zu schlagen. Von seiten Frankreichs trug der Krieg eindeutig aggressiven Charakter. Rußland, das seine Unabhängigkeit verteidigte, führte einen nationalen Verteidigungskrieg. Die Haltung der Vertreter einzelner Klassen der russischen Gesellschaft im Krieg war unterschiedlich, obgleich alle die Rettung des Vaterlandes wollten. Die von der adligen und der bürgerlichen russischen Geschichtsschreibung propagierte Ansicht, während des Krieges von 1812 habe Klassenfrieden geherrscht und alle Schichten der Gesellschaft seien einmütig gegen den auswärtigen Feind aufgetreten, entbehrte der realen Grundlage. Die feudal unterdrückten russischen Bauern versöhnten sich keineswegs mit ihren Ausbeutern, wie zahlreiche Beispiele beweisen, sie traten aber in ihrer Masse zugleich selbstlos den Eindringlingen entgegen. Die mittleren Schichten, so die Kaufleute, die selbständigen Handwerker, die Angehörigen der Intelligenz usw. bewiesen durch Spenden und freiwillige Meldungen zum Kriegsdienst zum Teil große Opferbereitschaft. Der Adel zeigte aber, abgesehen von einzelnen Vertretern und einer größeren Gruppe patriotischer Offiziere, viel Furcht und Unentschlossenheit. Als der ZTar den künftigen Dekabristen Sergej Wolkonski nach der Haltung des Adels im Krieg befragte, antwortete dieser unumwunden: „Ich schäme mich, dem Adel anzugehören, — es gab viele große Worte, aber in der Tat geschah nichts." 3 Der Krieg von 1812 verlief in mehreren sich deutlich voneinander unterscheidenden Etappen. Die erste Etappe umfaßte die Zeitspanne vom Ausbruch des Krieges bis zur Besetzung von Smolensk durch die Franzosen. In dieser Etappe konnte die strategische Absicht Napoleons, die russischen Truppen zu einer vernichtenden Hauptschlacht zu zwingen und ihre Vereinigung zu verhindern, vereitelt werden. Der Krieg nahm zum Nachteil der „Grande armée" langwierigen Charakter an. Zu Beginn des Krieges, als die französische Armee nach Osten vordrang, tauchten unter den leibeigenen Bauern Gerüchte auf, daß Napoleon gekommen sei, sie zu befreien. In einigen Gegenden Litauens und Belorußlands kam es in diesem Zusammenhang zu örtlich eindeutig gegen den feudalen Grundbesitz gerichteten Bewegungen. Die Bauern einer Reihe von Dörfern verweigerten die Frondienste und vertrieben die Gutsbesitzer. Wenn Napoleon in den Jahren unmittelbar nach der Französischen Revolution in einigen besetzten Ländern noch bürgerliche Reformen hatte verkünden lassen, so nahm er in Rußland eine völlig andere Position ein. Um dieses Riesenreich zu unterwerfen und es in politischer und ökonomischer Abhängigkeit vom kapitalistischen Frankreich zu halten, erschien dem Eroberer ein zurückgebliebenes Land lieber als ein bürgerlich reformiertes. Auch wollte er seinen Verbündeten, den polnischen grundbesitzenden Adel der russischen Westgebiete nicht durch bürgerliche Agrarreformen vor den Kopf stoßen. Der im Glorienschein seiner Herrschaft sich sonnende französische Kaiser war zudem in einem solchen Grade vom monarchistischen Geist durchdrungen, daß ihn ein Appell an das einfache Volk, den „Pöbel", ohnehin anwiderte. Napoleon glaubte seine Herrschaftspläne viel eher mit einem besiegten Zaren und den um ihren Besitz bangenden russischen Gutsbesitzern verwirklichen zu können. All seine Pläne baute er auf eine später zu erfolgende Übereinkunft mit dem Zaren. Die Unruhen unter den Bauern der westrussischen Gouvernements wurden deshalb 3 Volkonskij, S. G., Zapiski, St. Petersburg 1901, S. 193.

62

Rußland von 1789 bis 1825

mit Hilfe französischer Truppen unterdrückt. Den feudalen Gutsherren wurde ihr Besitz zurückgegeben. Die von Napoleon ins Leben gerufene Kommission der sogenannten Provisorischen Regierung Litauens verkündete, daß „alle Bauern und überhaupt -die ganze Landbevölkerung zum Gehorsam gegenüber den Gutsbesitzern, den Eigentümern und Pächtern von Gütern verpflichtet sind . . ., und sämtliche von ihnen auferlegte Arbeiten und Leistungen wie ehedem erfüllen müssen" 4 . Die politische Haltung Napoleons zur Frage der Bauernbefreiung öffnete auch denen bald die Augen, die anfangs vom französischen Kaiser einige soziale Verbesserungen erwartet hatten. Des revolutionären Mäntelchens ledig, erschien er in seiner wirklichen Gestalt: als grausamer Eroberer, der das Land verwüstete, die Bevölkerung ausplünderte und die Städte und Dörfer niederbrannte. Die Erbitterung über die fremden Eindringlinge, die Sorge um die Zukunft des Vaterlandes, der Wille zum Widerstand — all das rief unter den Volksmassen eine Reaktion hervor, die Napoleon in dem rückständigen Rußland nicht erwartet hatte. Die Bauern widersetzten sich in vielfaltiger Weise den Okkupanten und versuchten vor allem "deren Versorgung zu stören. Den französischen Fouragierern wurden Heu und Getreide verweigert. Waren die feindlichen Abteilungen zu stark, so flüchteten die Bauern in die Wälder, verbrannten aber zuvor das Getreide und das Heu und nicht selten die eigenen Wohnstätten. Sie sammelten sich zu kleinen Trupps, überfielen und töteten einzelne, vom Wege abgekommene französische Soldaten. Die spontanen Widerstandsaktionen des Volkes wuchsen sich bald zu einem regelrechten Partisanenkrieg aus. Mit dem Widerstand gegen die fremden Eroberer verstärkte sich der Kampf der leibeigenen Bauern gegen ihre eigenen Unterdrücker. Nicht nur in den westlichen Gebieten, wo es viele mit den Okkupanten paktierende polnische Gutsbesitzer gab, sondern auch in den Gouvernements Smolensk, Moskau, Kaluga, Nishni-Nowgorod u. a. häuften sich die Unruhen. Die aufbegehrenden Bauern, denen sich teilweise leibeigene Arbeitsleute aus den Manufakturen anschlössen, verlangten angesichts des Volkswiderstandes gegen den äußeren Feind immer öfter auch für sich die persönliche Freiheit. Diese Bewegung wurde gefördert durch das oft feige Verhalten der Gutsbesitzer, die den Franzosen ihre Speicher öffneten, durch die Desorganisation der Wirtschaft während des Krieges, durch den situationsbedingten Wegfall der Feudalleistungen in einigen Kampfgebieten. Die Entschlossenheit der Bauern nahm auch deshalb zu, weil ihnen in bisher nie gekanntem Ausmaße Waffen und Munition in die Hände fielen. Der Volkskampf gegen die fremden Eroberer wurde nicht schlechthin für Zar und Vaterland geführt, sondern hatte einen zum Teil deutlich wahrnehmbaren sozialen Unterton, vor dem sich die Gutsbesitzerklasse fürchtete, war verknüpft mit Hoffnungen auf persönliche Befreiung und Beseitigung der Feudallasten. Am 15. August 1812 hatten sich die beiden zurückgehenden russischen Armeen vereinigt und den Plan Napoleons, sie einzeln zu schlagen, zunichte gemacht. In der neuen Etappe des Krieges kam es nunmehr darauf an, der weiterhin vordringenden französischen Armee mit vereinten Kräften einen möglichst geschlossenen Widerstand entgegenzusetzen, die feindliche Streitmacht noch mehr zu dezimieren. In der Schlacht bei Smolensk am 16./17. August fügten die vereinigten russischen Streitkräfte den Franzo4 Sbornik Russkogo Istoriceskogo Obscestva, Bd. 128, St. Petersburg 1909, S. 150f.

Vaterländischer Krieg

63

sen die bisher größten Verluste zu. Napoleon, der frohlockte, die russische Armee um den Preis schwerer Opfer endlich gestellt zu haben, konnte nicht verhindern, daß sich diese durch einen mustergültigen Rückzug erneut vom Gegner löste. Die erbitterten Kämpfe bei Smolensk zeigten, daß die regulären russischen Armeeverbände von demselben patriotischen Geist erfüllt waren wie die Massen des Volkes. Der heroische Kampf der Soldaten und der Bevölkerung zur Verteidigung der Heimat machte den Krieg von 1812 zu einem „Vaterländischen Krieg", der bis dahin nur in dem nationalen Befreiungskampf des spanischen Volkes gegen die Napoleonischen Truppen eine Parallele gefunden hatte. In Rußland war er jedoch in seinem Ausmaß und in seinen Auswirkungen auf die fremden Eindringlinge noch gewaltiger. Die militärische Aktivität russischer Bauernhaufen, die ihre eigenen Partisanenführer wie Pötapow, Tschetwertakow, Jurin, die Dorfälteste Wassilisa Koshina und viele aridere hervorbrachten, die Aktionen der Streifkorps unter Denis Dawydow, Alexander Figner, Alexander Seslawin trugen maßgeblich dazu bei, den Feind zu zermürben. Die fortwährenden Gefechte, der Volkskrieg, die in die Länge gezogenen Kommunikationen, die Zurücklassung von Besatzungen in den Städten hatten bewirkt, daß die dreifache Überlegenheit der Franzosen dahingeschmolzen war, wenngleich sie immer noch ein starkes Übergewicht besaßen. Der langandauernde Rückzug rief in der Armee und in der Bevölkerung Unzufriedenheit hervor, obwohl Barclay de Tollys Plan des Rückzuges und der Vereinigung der russischen Armeen unter den obwaltenden Bedingungen der einzig richtige war und insgesamt gut ausgeführt wurde. Barclay de Tolly hatte sich auch Verdienste bei der Entfaltung des Volkskrieges erworben. So wies er z. B. den Kosakenataman Matwei Platow an, die Einwohner der Dörfer und der Städte zu bewaffneten Aktionen gegen den Feind aufzurufen: „Überzeugen sie die Einwohner, daß es jetzt um das Vaterland geht . . ., um das eigene Leben, um die Rettung der Frauen und Kinder." 5 Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Rückzug und die gewaltigen Ausmaße des Krieges geboten jedoch, daß an der Spitze der russischen Armee ein noch erfahrenerer und allgemein anerkannter Heerführer gestellt wurde, der das Vertrauen von Armee und Bevölkerung genoß. Im August wurde der beim Volk und unter den Soldaten beliebte Feldherr Michail Kutusow vom Außerordentlichen Regierungskomitee einstimmig zum neuen Oberkommandierenden vorgeschlagen, obwohl Alexander I. persönliche Antipathie gegen den alten General hegte. Kutusow setzte noch kurze Zeit den Rückzug fort und entschloß sich dann zu einer Hauptschlacht. Am 7. September 1812 entbrannte bei dem Dorf Borodino (110 Kilometer vor Moskau) eine der größten und blutigsten Schlachten der Weltgeschichte. Napoleon wollte mit dieser Schlacht die .endgültige Entscheidung im Krieg zu seinen Gunsten erzwingen. Kutusow wollte die Franzosen vor Moskau zum Stehen bringen und eine Wende im Krieg herbeiführen. Der Schlachtverlauf war wechselhaft und äußerst erbittert. Sämtliche Angriffe der Franzosen scheiterten an der hartnäckigen Gegenwehr der russischen Truppen. Der Plan Napoleons, das Zentrum der russischen Stellungen zu durchbrechen, die russischen Verbände zu sprengen und zu vernichten, mißlang. Tief beeindruckt von dem ungebrochenen Kampfesmut der russischen Truppen, wagte es Napoleon nicht, seine letzte Reserve, die alte Garde, in den Kampf zu werfen. Am Ende 5 Otecestvennaja vojna 1812 goda. Materialy Voenno-ucennogo archiva, Bd. 17, St. Petersburg 1911, S. 155 f.

64

Rußland von 1789 bis 1825

des Tages kehrten die Franzosen in ihre Ausgangsstellungen zurück. Die Franzosen verloren in der Schlacht über 50000 Mann an Toten und Verwundeten, darunter 47 Generale. Für die französische Armee bedeutete das eine Dezimierung ihres Gesamtbestandes um 43,3 Prozent. Besonders hart war die fränzösische Kavallerie betroffen, die 57 Prozent ihres Bestandes einbüßte. Die Verluste der Russen betrugen 44000 Mann und 23 Generale, d. h. 36 Prozent des Gesamtbestandes der Armee. „Die schrecklichste all meiner Schlachten", erklärte Napoleoh nach vielen Jahren, „ist die, die ich bei Moskau geliefert habe". 6 Die Bedeutung der Schlacht bei Borodino im Vaterländischen Krieg von 1812 ist überaus groTS, wenngleich sie nicht, wie das einige Historiker behaupteten, die endgültige Wende im Kriegsverlauf brachte und den schließlichen Sieg über die französischen Aggressoren gleichsam zwangsläufig nach sich zog. Die ins Innere Rußlands vorgestoßene Napoleonische Armee stellte immer noch, trotz des riesigen Aderlasses, den sie hinnehmen mußte, eine ernste Gefahrdung der Souveränität des russischen Staates dar. Die Schlacht bei Borodino schuf jedoch wichtige Bedingungen, die es der russischen Armee bei Ausschöpfung aller militärischen Potenzen in absehbarer Zeit ermöglichen mußten, von der Verteidigung zur Gegenoffensive überzugehen. Im Gegensatz dazu besaß Borodino in der gegebenen strategischen Gesamtsituation für die französische Armee de facto die Bedeutung einer verlorenen Schlacht. Tausende Kilometer von Frankreich entfernt, vermochte es Napoleon nicht mehr, die hohen Verluste wettzumachen. Während bei den Russen die Siegeszuversicht stieg, war der moralische Schaden, den die französische Armee erlitt, unermeßlich. Obwohl» die Franzosen nach der Schlacht immer noch ein Übergewicht behielten, was die russischen Truppen zum erneuten Rückzug und zur Preisgabe Moskaus veranlaßte, brachte ihnen die Einnahme Moskaus am 14. September nicht die erhoffte Entscheidung und konnte sie auch nicht bringen. Gleich mehrere Enttäuschungen erwarteten den französischen Kaiser in Moskau: Vergeblich wartete er am Poklonnyhügel vor den Toren der Stadt auf eine Abordnung der Moskauer Bürger, wie er es bei seinen zahlreichen Triumphzügen in fremde Hauptstädte gewohnt war. Statt dessen erhielt er die ungeheuerliche Nachricht, daß der größte Teil der Einwohner mitsamt den Truppen die Stadt verlassen habe. Totenstille, unheilverkündende Leere empfing den Eroberer Von einem Friedensangebot der Russen, deren Metropole Napoleon nun in seiner Gewalt hielt, war nichts zu vernehmen. Zudem war die russische Armee wie von der Bildfläche verschwunden. Die auf der Straße nach Rjasan den russischen Truppen nachsetzende französische Avantgarde stieß ins Leere. Es ist einmalig in der Kriegsgeschichte, daß eine fast 100000 Mann starke Armee vor den Augen des Gegners „verschwinden" konnte. Fast zwei .Wochen lang wußte Napoleon nichts über den Verbleib der russischen Armee. Inzwischen plünderten die demoralisierten französischen Soldaten die alte Hauptstadt. Durch marodierende und brandschatzende Soldaten sowie durch einzelne Racheakte der Einwohner entstand in der Stadt ein riesiger Brand, der einen Großteil der Lebensmittelvorräte vernichtete. Der Brand von Moskau, über dessen Ursachen und Folgen die Zeitgenossen sowie die Historiker vieles, zum Teil sich widersprechendes geschrieben 6 Zitiert nach: Tarle, E. V., Nasestvie Napoleona na Rossiju 1812 g. n: Tarle, E. V., Socinenija, Bd. VII, Moskau 1959, S. 580.

Vaterländischer Krieg

65

haben, wurde in seinen Auswirkungen oft überschätzt. Sicher ist auf jeden Fall, daß nicht dieser Brand es war, der die Franzosen in eine ausweglose Situation brachte. Als sich Napoleon über die Bewegung der russischen Armee endlich Klarheit verschafft hatte, sah er sich einer gänzlich veränderten strategischen Situation gegenüber. Kutusow hatte mit einem geschickten Manöver die französischen Generale in die Irre geführt und war durch einen maskierten Flaqkenmarsch von der südöstlichen Rückzugslinie auf die alte nach dem Süden verlaufende Kalugaer Landstraße abgeschwenkt, von wo er Tula, die russische Waffenschmiede, und den menschen- und materialreicherv Süden deckte. Zugleich bedrohte er aus seiner Position bei Tarutino die feindlichen Verbindungslinien zwischen Smolensk und Moskau und eröffnete günstige Möglichkeiten für die Entfalturtg von Offensivoperationen der russischen Armee und der Partisanenabteilungen. In der neuen Situation war die französische Armee in ihrer Manövrierfähigkeit entscheidend eingeschränkt. „Der alte Fuchs Kutusow", vermerkte Napoleon später einschätzend, „hat mich durch seinen Flankenmarsch in eine sehr unangenehme Lage gebracht." 7 „In dem Vermögen, sich von der französischen Armee zu lösen, sie in die Irre zu führen, in dem Vermögen, die Bewegungen der eigenen Truppen zu tarnen und das ganze Manöver des Flankenmarsches unbemerkt vom Gegner zu verwirklichen, besteht eines der Hauptverdienste des russischen Oberkommandos" 8 , schreibt der bekannte sowjetische Militärhistoriker Pawel Shilin. Der Einmarsch der Franzosen in die alte russische Hauptstadt hatte in Kreisen des Hofadels Verwirrung hervorgerufen. Maria Fjodorowna, die Mutter des Zaren, brachte die Gedanken und die Gefühle vieler Aristokraten zum Ausdruck, als sie nach der Einnahme von Moskau mit dem Ruf „Frieden! Frieden!" in Panik dürch die Säle des Winterpalais lief. Unter dem Druck der Stimmung im Lande wagte es Alexander I. jedoch nicht, mit dem französischen Kaiser zu verhandeln. Alle Friedensangebote Napoleons blieben unbeantwortet. Die zutage getretene schwankende Haltung in den höchsten Kreisen des Zarenhofes verriet übrigens, wie gänzlich falsch man hier di? militärische Situation einschätzte. Mit der Einnahme der Position bei Tarutino durch die russischen Truppen begann die nächste Etappe de's Krieges, die mit dem nachfolgenden Übergang zur Gegenoffensive aufs engste verknüpft ist. Während Napoleon in Moskau vergeblich auf das Erscheinen russischer diplomatischer Unterhändler wartete, erhielt die russische Armee frische Verstärkungen aus den östlichen und südlichen Gouvernements und wurde neu ausgerüstet. Zur gleichen Zeit beunruhigten die Partisanen und die Armeestreifkorps ununterbrochen den Feind. Die alte Hauptstadt war von ihnen praktisch eingeschlossen. Die gegnerischen Hauptkräfte waren weitgehend gefesselt. Allein die Partisanen und die Streifkorps hatten den Franzosen, seit diese N^oskau besetzt hielten, schon einen Verlust von über 20000 Mann zugefügt. Als Napoleons Beauftragter Lauriston zu Verhandlungen im russischen Hauptquartier erschien, beschwerte sich der französische Diplomat über die „barbarische'' Kriegführung der Russen. Kutusow gab dem Abgesandten Napoleons deutlich zu verstehen, daß er den Partisanenkrieg der russischen Bauern nicht nur nicht verurteile, sondern selbst billige. Auch in den Petersburger Hofkreisen stieß die Haltung des 7 M. I., Kutuzov, Materialy jubilejnoj sessii voennych akademij Krasnoj Armii, posvjascennoj 200-letiju so dnja rozdenija M. I. Kutuzova, Moskau 1947, S. 18. 8 Zilin, P. A., GibeF napoleonovskoj armii v Rossii, Moskau 1974, S. 188. 5

Straube/Zeil, Feudalismus

66

Rußland von 1789 bis 1825

russischen Oberkommandierenden zum Volkskrieg auf Ablehnung. Am meisten war man darüber beunruhigt, daß die Bauern Waffen in die Hände bekamen. Die Gouverneure erhielten aus Petersburg Anweisung, die Bauern zu entwaffnen und bei Widerstand zu erschießen. Kutusow nutzte jedoch seine unbeschränkten Vollmachten im Wirkungsfeld der russischen Hauptarmee und ließ hier keine Entwaffnung der Bauern zu. Der russische Oberkommandierende schätzte die Aktionen der Partisanen sehr hoch ein. „Die Bauern aus den dem Kriegsschauplatz angrenzenden Dörfern", schrieb er, „fügen dem Gegner einen außerordentlich hohen Schaden zu . . . Sie töten eine Vielzahl von Feinden, und die Gefangengenommenen liefern sie bei der Armee ab." 9 Kutusow ließ weitere Armeestreifkorps bilden, die sich auf den aktiven Beistand' durch die Bevölkerung stützten, und förderte damit und durch andere Maßnahmen allseitig den Partisanenkrieg. „Das von der Armee zur Zeit bezogene befestigte Lager am rechten Nara-Ufer bei Tarutino", hieß es im Journal der Kampfhandlungen, „erlaubt es, bedeutende Streifkorps abzuzweigen, denen nicht nur vorgeschrieben ist, feindliche Marodeure und Fouragiere zu vernichten und den Gegner zu beunruhigen, sondern, die durch kraftvollen Einsatz in der Lage sein müssen ihm einen spürbaren Schaden zuzufügen, der gegenwärtig umso empfindlicher sein wird, da der Gegner einen großen Mangel an Fourage und Proviant erleidet." 10 In einer Vielzahl von schriftlichen und mündlichen Befehlen gab Kutusow detaillierte Weisungen über die Aufgaben und die Kampfweise im sogenannten kleinen Krieg, der sowohl die Aktionen der Armeestreifkorps als auch die der bäuerlichen Partisanenabteilungen einschloß. Um dem Gegner wirkungsvoll schaden zu können, schrieb er, darf der Partisan „nur so lange an einem Platz verweilen, wie er benötigt, um die Menschen und die Pferde zu nähren. Der Partisan muß die Märsche im Verborgenen durchführen, auf Nebenwegen . . . Tagsüber soll man sich in Wäldern und an tiefer gelegenen Stellen verbergen. Mit einem Wort, ein Partisan muß entschlossen, schnell und unermüdlich sein." 11 Die von Kutusow in die Gesamtplanung der Kampfhandlungen bewußt einbezogene Tätigkeit der Streifkorps und der bäuerlichen Partisanen erlangte* durch ihren Charakter und ihre Ausmaße allmählich strategische Bedeutung. „Wenn man den Charakter des bewaffneten Kampfes während des Aufenthalts der russischen Armee bei Tarutino analysiert", heißt es bei Pawel Shilin, „so kann man unschwer erkennen, daß das im wesentlichen die Aktionen der regulären und der bäuerlichen Partisanenabteilungen waren. Die Armee erhielt die Möglichkeit zur intensiven Vorbereitung auf eine entschlossene Gegenoffensive. Dabei stellten die Aktionen der Partisanen keine zersplitterten Überfälle verwegener Kavalleristen dar, sondern streng durchdachte Operationen. Die Blockierung der Napoleonischen Armee in Moskau, die völlige Desorganisierung ihres Hinterlandes, die riesigen zusätzlichen Menschenvferluste des Gegners — all das ist in bedeutendem Umfang ein Ergebnis der sich aktiv entfaltenden Partisanenaktionen gewesen." 12 . In der sich ständig verschlechternden militärischen Gesamtsituation blieb den französischen Truppen schließlich kein anderer Ausweg als der Rückzug. Am 19. Oktober 9 10 11 12

Listovki Otecestvennoj vojny 1812 goda. Sbornik dokumentov, Moskau 1962, S. 50. Otecestvennaja vojna 1812 goda. Materialy Voenno-ucennogo archiva, Bd. 15, St. Petersburg 1911, S. 34. Kutuzov, M. I., Sbornik dokumentov, Bd. 4, Teil 1, Moskau 1954, S. 301. Zilin, P. A., a. a. O., S. 254.

Vaterländischer Krieg

67

1812, nach dem verlorenen Gefecht am Tschernischnja-Fluß, verließen die Franzosen Moskau. Der Versuch Napoleons, den Rückweg über den proviantreichen Süden zu nehmen, mißlang. Bei Malojaroslawez verlegte die russische Armee der französischen den Weg und fügte ihr am 24. Oktober eine schwere Niederlage zu. Das Gefecht bei Malojaroslawez nimmt in der Geschichte des Vaterländischen Krieges von 1812 einen besonders wichtigen Platz ein. Es ist als der Kulminationspunkt im Kampf um die strategische Initiative im weiteren Kriegsverlauf zu bewerten. Napoleon wollte noch einmal das Ruder des Geschehens an sich reißen, um wenigstens den Rückzug unter für seine Armee günstigeren Umständen durch die reichen und wärmeren russischen Südprovinzen zu gestalten. Der Militärhistoriker N. A. Okunew schlußfolgert zu Recht,« daß Napoleon sogar den Sieg in der Schlacht von Borodino nicht so nötig brauchte wie bei Malojaroslawez : „Zwar öffnete ihm der erstere Kampf die Tore voh Moskau, verhalf ihm dabei aber nur zu einer unnützen Trophäe, während die Rettung seiner Armee von dem zweiten abhing.'"-13 Nach dieser Niederlage sah sich Napoleon gezwungen, auf dem von seinen Truppen selbst verwüsteten alten Smolensker Weg zurückzugehen und notgedrungen alle daraus sich ergebenden weitreichenden Nachteile in Kauf zu nehmen. Damit begann die Etappe des allgemeinen Rückzugs der „Grande armée" und der entschlossenen russischen Gegenoffensive. Die russische Gegenoffensive vollzog sich in Form einer Parallelverfolgung, indem die russische Armee sich ständig in der südlichen Flanke der französischen Armee auf fast gleicher Höhe westwärts bewegte, die Franzosen nicht nach dem Süden ausweichen ließ und sie im Falle eines langsameren Rückzuges abzuschneiden drohte. Die Offensive war kombiniert mit Schlachten und zahlreichen Gefechten. Die Parallelverfolgung durch die russische Armee erlaubte den Franzosen nicht nur keine wesentliche Richtungsänderung, sie zwang sie, angesichts der ständigen Überflügelungsgefahr ein solches Tempo in den Absatzbewagungen anzuschlagen, daß sich Elend'und Bedrängnisse des Rückzugs potenzierten. Hinzu kamen noch die Aktionen der Stteifkorps und der bäuerlichen Partisanenabteilungen, so daß die französischen Verbände in zunehmendem Maße demoralisiert wurden und, allen erdenklichen Mangel leidend, rapide zusammenschmolzen. Die berittenen Verbände Platows und mehrere Armeestreifkorps hatten den Befehl, die sich rasch retirierende französische Avantgarde mindestens um einen halben Tagesmarsch zu überholen und durch Überfälle, Hinterhalte, Flankenangriffe, Errichtung künstlicher Hindernisse, Vernichtung der Brücken usw. den gesamten Rückzug der französischen Armee zu erschweren und,qualvoller zu gestalten. Die komplexe Forrft der russischen Gegenoffensive wurde somit zum wahren Verhängnis für das französische Heer. Angesichts dieser Tatsachen ist die von vielen bürgerlichen Historikern bis auf den heutigen Tag vertretene Meinung, die russische Armee unter dem Kommando Kutusows habe die Franzosen nur zaghaft verfolgt, ja habe Napoleon eine „goldene Brücke" gebaut, damit dieser unbeschadet aus Rußland hinaus gelangen könne, wissenschaftlich völlig unhaltbar. „Ein Ziel, und zwar das wichtigste Ziel all unserer Aktionen", schrieb Kutusow und variierte diesen Gedanken in vielen seiner Befehle, „ist die Vernichtung des Gegners bis zum letzten Grad des Möglichen." 14 13 Okunev, N. A., Razbor glavnych voennych operacij, bitv i srazenij v Rossii v kampanii 1812 goda, St. Petersburg 1912, S. 89. 14 Kutuzov, M. I., Sbornik dokumentov, Bd. 4, Teil 2, Moskau 1955, S. 392. 5'

68

Rußland von 1789 bis 1825

Am 3. November wurden Teile der französischen Armee bei Wjasma geschlagen. Von Malojaroslawez bis Wjasma hatten die Franzosen infolge der aktiven Kampfoperationen der russischen Armee rund 30000 Soldaten und Offiziere verloren. Auf dem Weg von Wjasma bis Smolensk mußte das Napoleonische Heer, abgesehen von den täglichen Überfällen seitens der Partisanen und der Streifkorps, drei besonders spürbare Schläge bei der Siedlung Ljachowo und während der Übergänge über die Flüsse Wop und Dnjepr hinnehmen. Noch bevor Napoleon am 11. November Smolensk erreicht hatte, war mehr als die Hälfte der Streitmacht, über die er noch in Moskau verfügte, vernichtet. Der übergroße Teil des Fuhrparks und der Pferde war auf der Strecke geblieben. Hierzu ist festzustellen, daß der erste Schnee erst am 6. November fiçl- und die ersten strengeren Fröste (bis Maximum —12 Grad) noch später eintraten, und zwar, als sich die Franzosen Smolensk schon unmittelbar näherten. Die entscheidenden Schläge, die Napoleons Armee katastrophal dezimierten und demoralisierten, wurden ihr somit jioch vor Eintritt des Winters versetzt. Die Hoffnungen, die die erschöpften französischen Truppen auf Smolensk als Ort der Erholung, dqr reichlich mit Proviant versehen sei, setzten, zerstoben bald in ein Nichts. Unter den Bedingungen des Volkskrieges gegen die Napoleonische Aggression vermochten die französischen Versorgungsbeauftragten nur geringe Lebensmittelvorräte in der Stadt anzulegen. Auch ließ die unmittelbar nachdrängende russische Armee den Franzosen gar keine Zeit, sich hier vorübergehend festzusetzen. Nach Smolensk verwandelte sich der französische Rückzug in eine regellose Flucht. Und nun folgte Schlag auf Schlag. Nach der Schlacht bei Krasnoje vom 15. bis 18. November, in der die Franzosen 26000 -Mann und fast die gesamte restliche Artillerie verloren, folgten die Kämpfe bei Polozk und Borissow und schließlich die Katastrophe an der Beresina "vom 26. bis 28. November. Das mit knapper Mühe einer Umzingelung entgangene französische Heer konnte auf drei Behelfsbrücken, die mehrmals zusammenbrachen, unter dem russischen Feuer nur noch 14000 Waffenfähige und 26000 Nachzügler über die Beresina bringen. Am 5. Dezember verließ Napoleon in Smorgon mit einem Pferdeschlitten fluchtartig die Trümmer seiner geschlagenen Armee und eilte inkognito durch Polen und Deutschland nach Paris. Die letzten Reste des Heeres, knapp 30000 Mann, von denen nur noch ein geringer Teil Waffen besaß, flüchteten in voller Auflösung über die russische Grenze. Die „Grande armée" war vernichtet. Die Niederlage war total. Die Ursache der Niederlage Napoleons in Rußland lag, wie schon aufgezeigt, primär nicht in klimatischen Faktoren. Auch andere von der bürgerlichen Geschichtsschreibung ins Feld geführte „Gründe" des französischen Mißerfolgs — etwa Versorgungs- und Organisationsschwierigkeiten — halten einer strengen Prüfung durch den betrachtenden Vergleich der Summe historischer Fakten nicht stand. Die Hauptursache des russischen Sieges lag in der Kampfkraft und dem Zusammenwirken von Volk und Armee begründet, die sich aus dem nationalen Befreiungscharakter dieses Krieges ergaben. Im engen Zusammenhang damit sind als weitere wichtige Gründe des russischen Triumphes die militärischen Qualitäten der russischen Armee sowie die Kriegskunst ihrer Anführer, insbesondere Kutusows zu sehen, der seine Strategie und Kriegführung den Bedingungen eines Volkskrieges für die nationale Unabhängigkeit anpaßte und sie schöpferisch weiterentwickelte. Die historische Bedeutung des Sieges der Völker Rußlands im Vaterländischen

Vaterländischer Krieg

69

Krieg von 1812 besteht darin, daß er die staatliche Selbständigkeit Rußlands bewahrte, den Eroberungen Napoleons ein Ende setzte und die Vorbedingungen für die Befreiung der europäischen Völker vom Napoleonischen Joch schuf. Im Ergebnis des Krieges trat eine entscheidende Wende in der militärpolitischen Lage in Europa ein. Die Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses auf dem Kontinent brachte das Herrschaftssystem! der französischen Großbourgeoisie ins Wanken. In Deutschland brachte der Ausgang des Krieges einen nie dagewesenen Aufschwung der nationalen Befreiungsbewegung, den fortschrittlich gesinnte Deutsche, die vor dem Krieg von 1812 nach Rußland emigriert waren, von dort aus vorbereiteten. Freiherr vom Stein, Ernst Moritz Arndt, Carl von Clausewitz, Carl Ludwig von Tiedemann und viele andere schufen bereits während des Krieges von 1812 ideologische und militärische Vorbedingungen für die Entfaltung des nationalen Befreiungskampfes des deutschen Volkes. Stein versuchte auf den Zaren einzuwirken, um ihn zu einer konsequenten Fortsetzung des Krieges zu bewegen. Er arbeitete mit dem deutschen Patrioten Justus von Gruner zusammen, der von Prag aus Nachrichten über den Feind sammelte und antinapoleonische Schriften in. Deutschland verbreitete. Auf Steins Initiative hin war in Rußland das „Komitee für deutsche Angelegenheiten" gegründet worden, das sich mit der Formierung einer „Russisch-Deutschen Legion" aus Emigranten sowie Überläufern und Gefangenen aus der Napoleonischen Armee befaßte. An Steins Seite wirkte der Schriftsteller und Publizist Arndt, der flammende Aufrufe zum nationalen Befreiungskampf verfaßte, die illegal nach Deutschland gebracht wurden. Mehrere seiner Proklamationen wurden ins Russische übersetzt. Seine Schriften „Geist der Zeit" und „Kurzer Katechismus für deutsche Soldaten" förderten das deutsche Nationalbewußtsein, richteten sich gegen die Entwürdigung des Menschen und formulierten Prinzipien einer echten, den Interessen des Volkes gemäßen Soldatenehre. Clausewitz nahm als russischer Generalstabsoffizier an den Kämpfen bei Smolensk und Borodino teil und diente später im Hauptquartier des Generals Wittgenstein, dessen Armee im Nordabschnitt einer französisch-preußischen Gruppierung gegenüberstand. Hier bemühte er sich besonders um die Gewinnung der preußischen Truppen unter General Johann David von Yorck für den nationalen Befreiungskampf. Zu vermerken ist, daß die Zarenregierung den deutschen Patrioten mehr Bewegungsfreiheit zur Entfaltung des Volkskrieges in Deutschland ließ als den russischen Patrioten auf eigenem Boden. Dennoch wurde das Wirken Steins und seiner Gesinnungsfreunde im Deutschen Komitee und in der Russisch-Deutschen Legion schon 1812 vom Herzog von Oldenburg und seinen Anhängern, die sich teilweise auf Alexander I. und andere zaristische Würdenträger stützten, stark gehemmt, da man die Entfaltung eines spontanen Partisanenkampfes der deutschen Bevölkerung für nicht wünschenswert hielt. Alexander I. redigierte Steins berühmten „Aufruf an die Deutschen, sich unter den Fahnen des Vaterlands und der Ehre zu sammeln" und entfernte daraus die gegen die deutschen Souveräne gerichteten Formulierungen. Diese Beschränkungen konnten jedoch nicht verhindern, daß die deutschen Patrioten durch den russischen Volkskrieg, durch gemeinsame Aktionen mit fortschrittlich gesinnten russischen Patrioten nachhaltige Impulse erhielten. Die 1812 in Rußland wirkenden deutschen Patrioten priesen die Entschlossenheit und den Mut des russischen Volkes bei der Verteidigung seines Vaterlandes und forderten das deutsche Volk auf, ebenso zu handeln. Das russische Beispiel im Befreiungskampf

70

Rußland von 1789 bis 1825

wurde zu einem der Hauptmotive der deutschen patriotischen Publizistik und Dichtung jener Zeit. „Ja, der Russ, der Russ hat's gezeigt, wie man's machen muß" — lautete der Kehrreim eines damals weit verbreiteten Volksliedes. Nach der Befreiung Rußlands von den Eindringlingen entschied sich die russische Regierung zur Fortsetzung des Krieges außerhalb der russischen Grenzen. Rußland hatte zwar erfolgreich seine Selbständigkeit behauptet, dem Expansionsdrang des bürgerlichen Frankreichs gegenüber war es jedoch nicht gesichert. Zwischen Njemen und Oder standen beträchtliche Truppenverbände der Franzosen und ihrer Verbündeten, die, wenn auch zersplittert, insgesamt zahlenmäßig stärker waren als die vordringende russische Armee. Aus Sachsen und Bayern rückten auf französischen Befehl frische Truppenteile heran. Und in Frankreich formierte Napoleon bereits eine neue große Armee. Bei der Entscheidung der russischen Regierung für die Fortsetzung des Krieges spielten aber nicht nur diese Aspekte eine Rolle. Von der unmittelbar drohenden Gefahr befreit, trachtete der Zarismus sofort danach, den über Napoleon errungenen Sieg für eigene reaktionäre Ziele auszunutzen: für neue Eroberungen in Polen, die Erringung einer Vormachtstellung in Europa und — soweit das möglich war — für die Restauration vorrevolutionärer Verhältnisse. Wie die Tatsachen eindeutig beweisen, war der Drang nach Eroberungen und zur Vergrößerung des politischen Einflusses Rußlands für die herrschenden Kreise des Zarenreiches ein wesentliches Motiv für den Auslandsfeldzug. In den von Alexander I. angeforderten Ausarbeitungen von Nikolai Rumjanzew und Karl Nesselrode zur russischen Außenpolitik nach dem Vaterländischen Krieg wurde für Rußland unumwunden die führende Rolle in der Weltpolitik beansprucht. Die dem Zaren von verschiedenen Vertretern des Adels Ende 1812/Anfang 1813 vorgeschlagenen Eroberungspläne zeugen von dem ungeheuren Expansionsstreben der herrschenden Klasse Rußlands: Nicht nur die Inbesitznahme polnischer, sondern auch preußischer Gebiete wurde wiederholt gefordert. „Die Domainen in Ost-Preußen sind, dies wird laut gesagt, ein unwiderstehlicher Reiz für hungrige Leute" 15 , berichtete der mit Scharnhorst sympathisierende hohe preußische Offizier Hermann v. Boyen über seine Petersburger Eindrücke Ende 1812. Der russische Adel streckte seine Hände gierig nach neuen Ländereien aus und pochte dabei unverblümt auf das Recht des Stärkeren. „Wer wird es wagen, Dir, Erhabener Herrscher, zu widersprechen?" hieß es in einem Schreiben an Alexander I., in dem für Rußland außer der Eroberung Polens noch die Angliederung erheblicher Gebiete auf dar Balkanhalbinsel und im Kaukasus verlangt wurde. 16 Der Zarismus konnte seine reaktionären, auf Eroberungen abzielenden Pläne jedoch nicht offen verkünden, da eine solche Politik die künftigen Verbündeten Rußlands 15 Boyen H. v., Erinnerungen aus dem Leben des General-Feldmarschalls Hermann v. Boyen, T. 2, Leipzig 1889, S. 251, 527. 16 Central'nyi Gosudarstvennyi Voenno-Istoriceskij Archiv Moskau, f. 474, d. 106, 1. 406, [A. Polev an Alexander I., vom 15. November 1812].

Vaterländischer Krieg

71

zurückgestoßen hätte. „Die Verkündung . . . meiner Absichten in bezug auf Polen", schrieb Alexander I. Anfang 1813 an Czartoryski, „würde Österreich und Preußen vollkommen in die Arme Frankreichs treiben." 17 Diese Worte machen deutlich, wie es in Wirklichkeit um die „Befreiungsziele" der russischen Selbstherrschaft bestellt war und mit welchen Hintergedanken die offiziellen russischen Stellen vom „heiligen Befreiungskrieg des Volkes" sprachen. Zur damaligen Zeit abefr schenkte man solchen Phrasen nur allzugern Glauben, und selbst ein solcher Politiker wie der Freiherr vom Stein ließ sich von den vor „Selbstlosigkeit" strotzenden Beteuerungen des Zaren täuschen. Die offizielle russische Propaganda erschien unter anderem deshalb so glaubwürdig, weil das russische Volk in seinem Befreiungskampf vor aller Welt eine beispiellose Entschlossenheit an den Tag gelegt hatte und Rußland bei der Abschüttelung des auf den europäischen Völkern lastenden Napoleonischen Jochs objektiv eing positive Rolle spielte. Die russische Selbstherrschaft beutete diesen Faktor zu ihren Gunsten aus. Die werktätige Bevölkerung Rußlands hatte mit den Expansionszielen des Zarismus nichts gemein. Die Volksmassen im Hinterland, die Soldaten sowie einzelne fortschrittliche Offiziere legten dem Krieg außerhalb der russischen Grenzen denselben Inhalt zugrunde wie dem Vaterländischen Krieg von 1812, nur daß es diesmal galt, andere Völker von nationaler Unterdrückung zu befreien. Durch die Verflechtung fortschrittlicher und reaktionärer Ziele nahm der Krieg von 1813 somit von vornherein einen zwiespältigen Charakter an. Bestimmender Faktor dafür, daß es sich bei diesem Krieg 'um einen gerechten Krieg, um einen nationalen Befreiungskrieg handelte, war die Tatsache, daß es historisch vor allem u m d f e Abschüttelung eines fremden Joches ging und daß die Volksmassen aktiv in den Kampf eingriffen. Die russische Kriegführung Ende 1812—Anfang 1813 wies einige Besonderheiten auf. Sie war darauf ausgerichtet, die Widersprüche in dem von Napoleon beherrschten Lager militärisch und politisch auszunutzen. Der direkte Kampf zur Vernichtung gegnerischer Verbände wurde mit aller Konsequenz nur gegen die nationalfranzösischen Truppenteile angewandt. Die preußischen und österreichischen Verbände sollten möglichst gewonnen oder neutralisiert, die polnischen Truppen isoliert oder vom Kriegsschauplatz abgedrängt .werden. Das erste greifbare Ergebnis dieser Kriegsführung war die Konvention von Tauroggen vom 30. Dezember 1812. Der russische General Diebitsch und der preußische General Yorck schlössen in der Poscheruner Mühle bei Tauroggen eine Konvention ab, nach der das preußische Korps die Kampfhandlungen gegen die Russen einstellte und eine militärisch neutrale Position bezog. Die Konvention, die die anschwellende antinapoleonische Stimmung in Preußen widerspiegelte, kam durch die aktive Unterstützung deutscher Patrioten im russischen Lager, namentlich Clausewitz', zustande. Auch die Tätigkeit des deutsch-baltischen Publizisten Garlieb Merkels hatte dazu beigetragen. Seine in Riga gedruckte Zeitschrift „Der Zuschauer", die über Napoleons Niederlagen Berichtete und für ein russisch-preußisches Bündnis warb, wurde durch russische Vorposten regelmäßig den preußischen Truppen zugestellt und von den Soldaten und Offizieren mit wachsender Zustimmung gelesen. Die gegen den Willen des preußischen Königs abgeschlossene Konvention von Tau17 Memuary knjazja A. Cartorizskogo i ego perepiska s imperatorom Aleksandrom, Bd. 2, Moskau 1913, S. 281 f.

72

Rußland von 1789 bis 1825

roggen wirkte wie ein Fanal. Obwohl nur eine zeitweilige Neutralität des preußischen Korps vereinbart worden war, begrüßten die Volksmassen in Preußen und in anderen Gebieten Deutschlands diese Tat bereits als einen Frontenwechsel gegen Frankreich und begannen, danach zu handeln. Die zunehmenden antinapoleonischen Aktionen der Bevölkerung begünstigten die rasche Befreiung Ostpreußens durch die russischen Truppen. Freiherr vom Stein, der mit weitreichenden russischen Vollmachten ausgestattet nach Ostpreußen kam, konnte, unterstützt durch die Volksstimmung, diese preußische Provinz zum Ausgangspunkt einer auf gesamtnationale Ziele ausgerichteten Volkserhebung machen. Er erwirkte die Aufstellung der ostpreußischen Landwehr, die sofort großen Zustrom erhielt. Diese Aktivität stieß bei der reaktionären Clique um den preußischen König auf völlige Ablehnung. Johann von Ancillon, 3er Berater Friedrich Wilhelms III., wehklagte: „Die Russen sind überall mit begeisterter Freude und mit entzückten Rufen empfangen worden; man hat vollkommen vergessen, daß der König der Verbündete ihres Feindes ist; . . . schon viele junge Leute sind in die Deutsche Legion eingetreten". 18 Im Zuge ihrer Offensive bis zur Oder überwanden die russischen Truppen den Widerstand der gegnerischen Verbände, spalteten sie auf und blockierten einen Teil von ihnen in den Festungen. Mit den Österreichern, die formell mit Frankreich verbündet waren, wurde ein Waffenstillstand erzielt; das polnische Korps unter Fürst Josef Poniatowski wurde nach Südpolen abgedrängt, und die Franzosen wurden bei Kaiisch und Posen geschlagen. Die russischen Truppen wurden von der deutschen Bevölkerung als Befreier begrüßt. Schon während der Kampfhandlungen in Ostpreußen hatte Kutusow von den russischen Soldaten ein solches Verhalten gefordert, daß sie „von den Einwohnern als Befreier betrachtet würden und keinesfalls als Eroberer" und „nicht den geringsten Anlaß zu Unzufriedenheit" böten. 19 Ohne Befehle von der preußischen Regierung abzuwarten, die aus Furcht vor Napoleon immer noch am Bündnis mit Frankreich festhielt, griff das Volk selbst in das Geschehen ein. An vielen Orten bewaffneten sich die Landbewohner und fielen über kleinere französische Truppen .und einzelne Soldaten her. Die Bevölkerung verhinderte die Zerstörung von Brücken und Straßen durch die Franzosen und erleichterte den Russen die Verfolgung des Feindes. Patriotische Einwohner überbrachten den Russen Nachrichten über den Gegner und beobachteten jede seiner Bewegungen. Sie wiesen den Befreiern die günstigsten und schnellsten Wege, warnten sie vor Gefahren und zeigten an, wo man den Feind überraschen konnte. Sie boten den russischen Soldaten Unterkunft und Nahrung, pflegten Verwundete usw. Als am 20. Februar 1813 einige hundert Kosaken einen Überfall auf die mehr als 10000 Franzosen in Berlin verübten, kämpften viele Einwohner an der Seite der Russen gegen die Okkupanten. Auch in anderen Gegenden Deutschlands gingen die durch den Vormarsch der russischen Truppen» beflügelten Volksmassen gegen das französische Militär vor. In Breslau, wo sich zu dieser Zeit der preußische König mit seinem Kabinett aufhielt, überstürzten sich die Nachrichten von den Volksaktionen in ganz Preußen. Zu Tausenden strömten Freiwillige zusammen und forderten immer ungestümer, daß man endlich gegen die Franzosen losschlage. Niemand war mehr in der Lage, die Wogen der Volks18 Zitiert nach: Stulz, P., Fremdherrschaft und Befreiungskampf, Berlin 1960, S. 230. 19 Kutuzov, M. I., Sbornik dokumentov, Bd. 5, Moskau 1956, S. 33f.

Vaterländischer Krieg

73

bewegung aufzuhalten. Sie stiegen so mächtig an, daß sie den König mitsamt den sich widersetzenden reaktionären Kräften hinwegzuspülen drohten. „Der König ist nicht mehr in der Lage, die Begeisterung zu unterdrücken, die sich beinahe aller Geister bemächtigt hat und die sich auf eine wahrhaft eindrucksvolle Art offenbart", berichtete der ehemalige englische Gesandte in Preußen, Baron von Ompteda. „Wenn der König sich weigerte, die Mitt.el zu gebrauchen, die ihm seine Untertanen, entsprechend dem allgemeinen Willen der Nation, zur Verfügung gestellt haben oder wenn er nur zögerte, die Anstrengungen zu unterstützen, die Rußland unternimmt. . . halte ich die Revolution für unvermeidlich." 20 Unter dem Eindruck des russischen Vormarsches und der Aktionen der Volksmassen sah sich der preußische König gezwungen, am 28. Februar in Kaiisch ein Bündnis mit Rußland abzuschließen und am 17. März Frankreich den Krieg zu erklären. „In Preußen", schrieb Friedrich Engels, „stand das ganze Volk auf und zwang den feigen Friedrich Wilhelm III. zum Krieg gegen Napoleon." 21 Das »Kalischer Kriegsbündnis ist als ein Sieg der russischen Waffen, der fortschrittlichen deutsch-patriotischen Partei unter Führung von Stein, Scharnhorst und Gneisenau und der Volksbewegung zu betrachten. Es bildete ein wichtiges Kettenglied bei der Schaffung der 6. Koalition. Gleichzeitig aber wär es auch ein Bündnis zwischen den herrschenden Klassen Preußens und Rußlands. Der patriotischen Volksbewegung, die durch die Nachricht vom Abschluß des Bündnisses neuen Auftrieb erhielt, wurden durch dieses Bündnis zugleich reaktionäre Beschränkungen im Sinne der herrschenden Klassen der beiden Staaten auferlegt. Innerhalb der Regierungen beider Staaten arbeiteten einflußreiche Kräfte darauf hin, den Volkskrieg einzuengen. Alexander I., der mit Befreiungsphrasen nicht sparte, unterstützte die fortschrittliche deutsch-patriotische Partei nur, soweit er es mit seinen Plänen vereinbaren konnte. Seit Ende März fochten die preußischen Truppen Seite an Seite mit den russischen gegen den gemeinsamen Feind. Zwischen den Heerführern beider Länder entwickelte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit auf militärischer Ebene. Kutusow als Oberkommandierender der verbündeten Armeen stützte sich bewußt auf die fortschrittlichpatriotischen Kräfte in Preußen, namentlich auf Scharnhorst und Blücher. Die Rüstungen des Volksheeres wurden fortgesetzt. Der Landsturm, der aus Bauern, Handwerkern und Tagelöhnern bestand, verwandelte sich dank der Opferbereitschaft der ärmeren Bevölkerungsschichten, die oft das letzte ihrer Ersparnisse hergaben, in ein schlagkräftiges Heer. Im Unterschied zu den sich opfermütig einsetzenden russischen und preußischen Soldaten, die von den Volksmassen aktiv unterstützt wurden, zeigte die Adelsklasse in Deutschland ähnlich wie die russischen Adligen 1812 wenig Bereitschaft, den Feind entschlossen zu bekämpfen. In den meisten deutschen Staaten hielten die Fürsten sogar noch zu Napoleon und stellten ihm frische Truppen zur Verfügung. In Preußen hatten die reaktionären Junker die Aufrüstung der Armee so ernsthaft behindert, daß sich im April Napoleons Armee erneut stärker erwies als die russisch-preußischen Formationen. Zudem verstarb Ende April Feldmarschall Kutusow, und der neueingesetzte Ober20 Ompteda, L. v., Zur deutschen Geschichte in dem Jahrzehnt vor den Befreiungskriegen. Politischer Nachlaß, Bd. 4, Jena 1869, S. 25. 21 Engels, F., Die auswärtige Politik des russischen Zarentums. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 28.

74

Rußland von 1789 bis 1825

kommandierende Graf Wittgenstein war seinen Aufgaben nicht gewachsen. Die Schlachten bei Großgörschen und Bautzen im Mai 1813 endeten deshalb mit einem Rückzug des verbündeten Heeres. Trotzdem konnte Napoleon seine zeitweiligen militärischen Erfolge nicht ausbauen und ersuchte im Juni selbst um einen Waffenstillstand. Die tieferen Gründe dafür liegen im Volkskrieg, der ebenso wie 1812 in Rußland bereits strategische Bedeutung erlangt hatte: Er fesselte beträchtliche Verbände des Gegners, zwang ihn, größere Garnisonen in den Städten zurückzulassen und stärkere Sicherungskräfte für die Nachschubwege aufzubringen, er zermürbte ihn in zahllosen kleinen Gefechten. Vor allem aber wirkte er moralisch zersetzend auf die große Masse der jungen französischen Rekruten, die auf den Schlachtfeldern auf den erbitterten Widerstand der russisch-preußischen Truppen stießen und im Hinterland durch tausendfache antinapoleonische Aktionen den allgemeinen Haß der Bevölkerung zu spüren bekamen. Die Desertionen und Selbstverstümmelungen unter den französischen Soldaten nahmen ein noch nie dagewesenes Ausmaß an. Die dadurch verursachten Verluste der französischen Armee wähjend des Frühjahrsfeldzuges 1813 waren fast ebenso hoch wie die Verluste in den Kampfhandlungen. Zur gleichen Zeit erhielten die russisch-preußischen Verbündeten neuen Zustrom durch frische Armee- und Landwehrverbände und durch die Bildung von Freiwilligenformationen. Die Waffenbrüderschaft zwischen den russischen Soldaten und dem deutschen Volk war von großer moralischer Wirkung. In ihr vereinigte sich gleichsam die Volksbewegung von 1812, die in den Taten der russischen Soldaten fortwirkte, mit der patriotischen Massenbewegung des deutschen Volkes. Erstmalig in der Geschichte der deutschrussischen Beziehungen war es zu derartig massenhaften Freundschafts- und Kampfaktionen gekommen, die aus tief verwurzelten gemeinsamen, gerechten Zielen erwuchsen. Darin besteht ihr bleibender Wert. Im Herbstfeldzug 1813 hat,te die zahlenmäßige Überlegenheit der Alliierten durch die Bildung der 6. Koalition (Rußland, Preußen, England, Schweden, Österreich, Spanien, Portugal) beträchtlich zugenommen-. Dadurch glaubten die Monarchen, auf die nationale Befreiungsbewegung verzichten zu können, und unternahmen alles, um sie einzuschränken. Mit dem Beitritt der Habsburger Monarchie unter Führung Metternichs verstärkten sich in der Koalition die restaurativen Züge sehr erheblich. Die mannigfaltige Tätigkeit fortschrittlicher russischer und deutscher Offiziere zur Entfaltung des Volkskrieges wurde Unterbunden. Russische Offiziere durften ohne höchste Genehmigung keine Aufrufe mehr an die deutsche Bevölkerung richten. Die Streifkorpstätigkeit, die die Entfachung des Volkskrieges besonders nachdrücklich gefördert hatte, wurde eingeschränkt. Das berühmte Lützowsche Korps, in dem viele fortschrittlich gesinnte Menschen aus allen Teilen Deutschlands kämpften, wurde an einen untergeordneten Kriegsschauplatz abgeschoben; die Landweh? wurde unter strenge Kontrolle genommen. Die im gesamtnationalen Interesse liegende Tätigkeit Steins im Zentralverwaltungsrat wurde von Metternich und Alexander I. sabotiert. Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, wenn die Heeresleitung der Verbündeten ihre militärische Überlegenheit im Herbstfeldzug nicht auszunutzen verstand und einen unentschlossenen Krieg führte. Anfang September trat ein Stillstand in den Operationen ein. Der österreichische Fürst Schwarzenberg, der das Oberkommando über die verbündeten Heere inne hatte, wagte es nicht, die in Böhmen stehende Hauptstreitmacht gegen Napoleon vorzuschicken. General Jean Bernadotte, der als schwedischer Krön-

Vaterländischer Krieg

75*

prinz die Nordarmee der Verbündeten befehligte, blieb unschlüssig im Raum zwischen Berlin und Wittenberg stehen. Nur die kleinste der verbündeten Armeen, die Schlesische, beunruhigte ständig den Feind. Die Schlesische Armee setzte sich zu zwei Dritteln aus russischen und zu einem Drittel aus preußischen Truppen zusammen und stand unter dem Befehl von Blücher und Gneisenau. In dieser Armee, in der die Patrioten den Ton angaben, herrschte der kämpferische Geist der deutsch-russischen Waffenbrüderschaft und des Volkskrieges. Soldaten und Heereskommando waren sich hier einig. Der alte Blücher wurde von den russischen und deutschen Soldaten „Marschall Vorwärts" genannt, was treffend den Kampfelan der Truppen zum Ausdruck brachte. Um der zaghaften Kriegführung des verbündeten Oberkommandos ein Ende zu bereiten, verwirklichten die Patrioten in der Schlesischen Armee entgegen den Vorstellungen der oberen Heeresleitung den Rechtsabmarsch der Armee nach Wartenburg, wo sie die Elbe überquerten und in der Nähe der rückwärtigen Verbindungen des Feindes auftauchten. Dadurch zwangen sie Napoleon zum Rückzug auf Leipzig, nahmen dem zögernden Bernadotte, den sie jetzt deckten, den Vorwand zum Stehenbleiben und veranlaßten auch die Hauptarmee zum Vormarsch. Innerhalb von elf Tagen seit dem Elbübergang der Schlesischen Armee hatten sich die verbündeten Truppen im Raum von Leipzig zusammengezogen, wohin die Franzosen mit sämtlichen Kräften zurückgewichen waren. Napoleons Feldzugsplan war damit endgültig gescheitert. Vom 16. bis zum 19. Oktober 1813 tobte um und in Leipzig die bis dahin größte Schlacht der Weltgeschichte. Sie erhielt die Bezeichnung „Völkerschlacht". Insgesamt eine halbe Million Kämpfer aus fast allen kriegführenden Staaten (Franzosen, Italiener, Belgier, Russen, Preußen, Österreicher, Schweden u. a.) waren an ihr beteiligt. Nach dem vergeblichen Versuch Napoleons, am 16. Oktober die Hauptarmee der Verbündeten südlich von Leipzig einzeln zu schlagen, nahmen die Schlesische Armee und die Nordarmee am darauffolgenden Tag das Napoleonische Heer vom Osten und Norden in die Umklammerung und besiegelten endgültig sein Schicksal. Am 18. Oktober begann unter riesigen Verlusten der französische' Rückzug. Am 19. Oktober erstürmten die verbündeten Truppen Leipzig. Die Napoleonische Armee verlor rund 80000 Mann und fast die gesamte Artillerie. Die Verluste der Alliierten betrugen rund 54000 Mann, wovon 22000 Russen, 16000 Preußen, 15000 Österreicher und 600 Schweden waren. Die Schlacht von Leipzig führte zur endgültigen Vertreibung der französischen Okkupanten aus Deutschland. Nach Bayern gingen auch die übrigen deutschen Staaten auf die Seite der Verbündeten über. Das Königreich Westfalen hörte auf zu existieren. Der Rheinbund zerfiel. Dänemark schloß sich ebenfalls der antinapoleonischen Koalition an. Auch in dem seit laqgem umkämpften Spanien erlitt Napoleons Heer schwere Rückschläge. Die Rolle Rußlands im Jahre 1813 ist vor allem nach dem Hauptergebnis des Krieges zu beurteilen: der Befreiung der Völker Mitteleuropas und speziell des deutschen Volkes vom Napoleonischen Joch. Die progressiven Ergebnisse des Krieges wurden jedoch durch die reaktionäre Politik des Zarismus und der herrschenden Kreise der anderen Koalitionsstaaten und infolge der Schwäche der fortschrittlichen Kräfte eingeschränkt. Der Zarismus benutzte den Sieg des russischen Volkes ynd der russischen Armee dazu, seine Machtpositionen in Europa zu verstärken. „Wir sind weit davon entfernt, uns von Erfolgen berauschen zu lassen", schrieb die Schwester Alexanders I. im Herbst 1813, „es ist Zeit, die Ernte einzubringen. Die von Rußland vergossenen Blutströme müssen

76

Rußland von 1789 bis 1825

meiner Meinung nach die Macht Rußlands und vor allem seine Vorherrschaft für die künftigen Jahrhunderte sichern." 22 Die nachfolgenden Ereignisse offenbarten dieses Bestreben des Zarismus verhältnismäßig deutlich. Der Feldzug von 1814 zum endgültigen Sturz Napoleons wurde auf französischem Territorium ausgetragen. Die reaktionären Ziele der Koalitionsstaaten traten während dieses Krieges noch offener zutage als 1813, was sich besonders in der Parteiergreifung Alexanders I. für die Bourbonen äußerte. Nach mehreren zum Teil noch wechselvollen Schlachten und Gefechten besetzten die Alliierten am 31. März 1814 Paris. Napoleon verzichtete in Fontainebleau zugunsten seines Sohnes auf den französischen Thron. Unter dem Druck der verbündeten Monarchen proklamierte der Französische Senat jedoch den Comte de Provence als Ludwig XVIII. zum König von Frankreich. Nach dem Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 erhielt Frankreich die Grenzen von 1792. Napoleon mußte Frankreich verlassen und bekam die Mittelmeerinsel Elba als Fürstentum zugewiesen. Im Oktober 1814 begann in Wien ein Kongreß aller am Krieg beteiligten Mächte, um eine endgültige Friedensregelung zu finden. Der Kongreß war von dem Bestreben beherrscht, die feudal-absolutistischen Zustände in Europa nach Möglichkeit erneut zu festigen. Gleichzeitig machte er die Widersprüche zwischen den Siegermächten sichtbar. Die Zarenregierung forderte den Anschluß des Herzogtums Warschau an Rußland,, Preußen verlangte die Einverleibung' Sachsens. England, Österreich und Frankreich widersetzten sich diesen Ansprüchen. Lediglich die Flucht Napoleons von Elba und seine zweite Machtergreifung in Frankreich am 20. März 1815 veranlaßten die Alliierten, sich aufs neue gegen ihn zu vereinigen, und ihn nach hundert Tagen abermals zu stürzen. Der erneut in Wien zusammengetretene Kongreß und der zweite Pariser Frieden bestimmten die Zurückführung Frankreichs in die Grenzen von 1790. Das Herzogtum Warschau wurde unter Rußland und Preußen aufgeteilt, wobei sich das zaristische Rußland mit den polnischen Kerngebieten und der Hauptstadt Warschau den Löwenanteil sicherte. Dieses zum Königreich Polen erklärte Staatsgebilde wurde durch Personalunion mit Rußland vereinigt. Die ihm mit der Geste der Großzügigkeit von Alexander I. gewährte Verfassung, die zu den liberalsten in Europa zählte, wurde durch die zaristische Regierungspraxis allerdings vielfach verletzt. Preußen erhielt die nördlichen Provinzen Sachsens. Österreich erhielt seine alten Gebiete zurück. Entgegen den Bestrebungen der bürgerlich-fortschrittlich gesinnten Kreise um Stein wurde die territorial-staatliche Zersplitterung Deutschlands nicht überwunden. Mehr noch! Der Wiener Kongreß sanktionierte bzw. restaurierte die Macht der deutschen Fürstenfamilien in 38 Mittel- und Kleinstaaten. Aus deji Geheimdokumenten der russischen Diplomatie geht eindeutig hervor, daß der Zarismus ebenso wie die anderen Hauptteilnehmer des Wiener Kongresses, an einem geeinten Deutschland nicht interessiert war. „Welche Gestaltung man für Deutschland auch ausdenken mag" schrieb der russische Diplomat Alopeus, „sie wird immer günstig für Rußland sein, wenn sie in den Händen eines einzelnen Herrschers nicht allzuviel Macht vereinigt und wenn sie dem russischen Kabinett die Möglichkeit einräumt, seine Meinung zu verkünden und Rat-

22 Russkij archiv, Moskau 1870, Sp. 1995 f.

Vaterländischer Krieg

77

schläge zu erteilen über die allgemeinen Interessen Deutschlands". 2 3 Das hieß nichts anderes als, daß dem Zarismus an einem schwachen und zerstückelten Deutschland gelegen war, welches ihm jederzeit die Möglichkeit zur Einmischung in dessen innere Angelegenheiten und ihm damit eine vorherrschende Position schuf, von der aus er seinen Einfluß auf Deutschland und Europa geltend machen konnte. Der langjährige Kampf gegen das Napoleonische Herrschaftssystem war ein in sich höchst widerspruchsvoller historischer Prozeß. Von vornherein waren hier infolge der sehr unterschiedlichen daran beteiligten Kräfte Reaktion mit Fortschritt gepaart. Das Napoleonische Frankreich war selbst konterrevolutionär im Verhältnis zur bürgerlich-demokratischen Revolution, verkörperte aber gegenüber den alten Feudalmächten eine fortschrittlichere Gesellschaftsordnung. Der räuberische Charakter des Napoleonischen Unterdrückungssystems machte den Kampf zu seinem Sturz trotz aller Zwiespältigkeit insgesamt zu einem gerechten nationalen Befreiungskampf, in dem die Völker die Hauptrolle spielten. Die Schwäche der bürgerlichen und demokratischen Elemente im Befreiungskampf brachte es mit sich, daß Adel und Dynastien die Führung an sich rissen, üm den Sieg zur feudalen Restauration auszunutzen. Rußland eroberte sich eine vorherrschende Stellung in Europa. Die Monarchen schlössen sich zur „Heiligen Allianz" zusammen, um unter Führung des Zarismus als dem Gendarmen von Europa die revolutionäre Bewegung mit vereinten Kräften zu bekämpfen. Alle Verfassungsversprechungen aus den Jahren von 1812 bis 1815 waren vergessen. Trotz dieser unmittelbaren reaktionären Folgen ist das Gesamtergebnis der stürmischen Ereignisse von 1812 bis 1815 im Sinne des historischen Fortschritts zu werten. Der Sieg über Napoleon setzte den jahrelangen Kriegen, die den Völkern Europas schweres Leid gebracht und 7 Millionen Menschenleben gekostet hatten, ein Ende. Wenn auch die Reaktion ihr Haupt erhob, so konnten die progressiven Kräfte, die im Schmelztiegel der Napoleonischen Kriege und insbesondere während des Befreiungskampfes gewachsen waren, nicht mehr von der historischen Bühne verdrängt werden. Das Nationalbewußtsein der Völker, nicht zuletzt des russischen Volkes, war gewaltig gestiegen. Der bürgerlichen Klasse boten sich günstigere Entwicklungsmöglichkeiten als zuvor Das Fortschrittliche, das in den Jahren von 1812 bis 1815 entstanden war, entsprach der Haupttendenz der 1789 eingeleiteten kapitalistischen Epoche. „Die imperialistischen Kriege Napoleons", schrieb Lenin, „dauerten viele Jahre, sie umfaßten eine ganze Epoche, sie zeigten das ungewöhnlich komplizierte Netz der sich mit nationalen Befreiungsbewegungen verflechtenden imperialistischen Beziehungen. Und das Ergebnis war, daß die Geschichte sich über diese, an Kriegen und Tragödien (Tragödien ganzer Völker) ungewöhnlich reiche Epoche hinweg zum ,freien' Kapitalismus entwickelte." 24

23 Martens, F., Sobranie traktatov i konvencij, zaklucennych Rossiej s inostrannymi derzavami, Bd. 7, St. Petersburg 1885, S. 99f. 24 Lenin, W. I., Ein unglückseliger Frieden. In: Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 35f. (Das Wort „imperialistisch" wird hier von Lenin im Sinne der Verfolgung von imperialen Weltherrschaftsplänen verwendet).

Kapitel IV Die Zeit der Dekabristen

Nach dem Triumph über das Napoleonische Frankreich in den Kriegen von 1812 bis 1815 hatte sich die Stellung der russischen Selbstherrschaft gefestigt. Ihr internationaler Einfluß war gestiegen. In der reaktionären „Heiligen Allianz" gab der Zarismus den Ton an. Friedrich Engels charakterisierte dieses auf Initiative von Alexander I. entstandene Gebilde geradezu als eine „Verschwörung aller europäischen Fürsten gegen ihre Völker unter russischem Präsidium" 1 . Den Kern der „Heiligen Allianz" bildeten das zaristische Rußland, das Habsburger Reich und Preußen. Die Hauptaufgaben des Bündnisses bestanden darin, die revolutionären und die nationalen Befreiungsbewegungen zu bekämpfen und die Einhaltung der Beschlüsse des Wiener Kongresses zu sichern. Rußland, Österreich und Preußen unterzeichneten 1820 ein Protokoll, in dem das Recht auf bewaffnete Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten verkündet wurde, wenn es darum ging, revolutionäre Bewegungen zu unterdrücken. Indem der Zarismus sich fyr diese gegen den Fortschritt gerichtete Aufgaben engagierte, entwickelte er sich in der Folgezeit zum Gendarmen Europas und wurde dabei von Preußen, Österreich sowie anderen reaktionären Mächten unterstützt. In enger Verknüpfung mit dieser Zielstellung verfolgte der Zarismus seine traditionellen Vorherrschaftspläne in Europa und im Vorderen Orient, namentlich gegenüber der Türkei, was zu Gegensätzen innerhalb des „heiligen" Bündnisses der Monarchen führte. Auch in Rußland selbst hielt die Feudalreaktion ihre Zeit für gekommen. 1814 erklärte Alexander I. in Paris: „Die äußeren Feinde sind für lange Zeit geschwächt, jetzt werden wir gegen die inneren vorgehen." 2 Das Erstarken der reaktionären Kräfte war aber nur ein Ergebnis der Napoleonischen Kriege. Viel bedeutungsvoller, wenn auch unter den Bedingungen der Restauration weniger sichtbar, waren die nicht mehr rückgängig zu machenden bürgerlichen Veränderungen in vielen Ländern, der wachsende ökonomische Einfluß der Bourgeoisie, der Drang breiter Schichten der Gesellschaft nach größeren politischen Freiheiten, das erstarkende Nationalbewußtsein der Völker. Rußland war von diesem Züg der Zeit ebenfalls ergriffen, wenngleich auf Grund seiner relativen ökonomisch-politischen Zurückgebliebenheit in geringerem Maße als die meisten west- und mitteleuropäischen Staaten. Die von den Schlachtfeldern unter das Joch der Leibeigenschaft zurückkehrenden russischen Soldaten und Landwehrmänner, deren Zahl in die Hunderttausende ging, waren mit den politischen und sozialen Verhältnissen in West- und Mitteleuropa konfrontiert worden, wo sich die bürgerliche Gesellschaft im Vormarsch befand. Sie verglichen diese Verhältnisse mit den Zuständen 1 Engels, F., Die auswärtige Politik des russischen Zarentums. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1962, S. 30. 2 Semevskij, I. I., Politiceskie i obscestvennye idei dekabristov, St. Petersburg 1909, S. 78.

Dekabristen

79

in ihrem Vaterland. Nach den Aussagen eines Zeitgenossen konnte man von den ehemaligen Soldaten nicht selten solche Worte wie diese hören: „Wir haben unser Blut yergossen, und man zwingt uns erneut unter die Fron. Wir haben die Heimat vom Tyrannen erlöst, und wir werden von den Herren tyrannisiert wie ehedem." 3 Wie eine Verhöhnung klang das nach Beendigung des Krieges verkündete Dankesmanifest des Zaren, in welchem dem Adel hohes Lob gespendet und eine Belohnung seiner Verdienste angekündigt wurde und wo sich über die opfermütigen russischen Bauern nur ein einziger Satz fand: „Die Bauern, unser treu ergebenes Volk, mögen ihren Lohn von Gott erhalten." 4 Die Lage der werktätigen Massen Rußlands, vor allem der Bauernschaft, war nach den Kriegen gegen Napoleon infolge der hohen Menschenverluste und der Verwüstung weiter Landstriche äußerst schwer. In keinem der mittel- und westeuropäischen Länder waren während der Kampfhandlungen auch nur annähernd so viele Städte und Dörfer, so viele Produktionsstätten niedergebrannt worden. Die alte Hauptstadt Moskau — ein bedeutendes Wirtschafts- und Handelszentrum Rußlands — war in Schutt und Asche gelegt worden. Die Gutsbesitzer versuchten aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten herauszukommen, indem sie die bäuerlichen Fronleistungen bzw. den Obrok erhöhten. Einen zusätzlichen Anlaß für die Gutsherren, die Abgaben und Leistungen der Bauern in die Höhe zu treiben, bildeten die nach dem Krieg angestiegenen Getreidepreise. Die gutsherrliche Ausbeutung der Bauern wurde ergänzt durch neue Staatssteuern. 1815 fand erneut eine Revision, d. h. eine der regelmäßigen Registrierungen der zu besteuernden Bevölkerungsgruppen Rußlands statt. In dieser, der 7. Revision, wurden trotz der hohen Menschenverluste im Kriege und unter Ausklammerung des Bevölkerungszuwachses durch Gebietsgewinne über eine Million Baue'rn mehr als im Vorkriegsjahr 1811 als steuerpflichtig eingestuft. Die während des Vaterländischen Krieges von 1812 und der Auslandsfeldzüge genährten Hoffnungen der Bauern auf Befreiung aus der Leibeigenschaft blieben unerfüllt. Lediglich im Baltikum wurde 1816 eine Agrarreform eingeleitet, die jedoch keine echte Freiheit brachte. Die Bauern wurden ohne Land „befreit" und sie gerieten dadurch und durch zusätzliche Beschränkungen der persönlichen Rechte, namentlich der Freizügigkeit, oft in noch größere wirtschaftliche Abhängigkeit von den Gutsbesitzern. Die der Landbevölkerung der baltischen Provinzen gewährte Freiheit bezeichnete der fortschrittliche russische Offizier und künftige Dekabrist P. I. Pestel als eine Scheinfreiheit. Die Bauern antworteten auf die Reform mit Unruhen und Aufständen. Aus außenpolitischen Erwägungen und um die besitzenden Klassen des neugebildeten Königreichs Polen an den russischen Throrf zu binden, verfolgte Alexander I. in den polnischen Angelegenheiten in den ersten Jahren nach Beendigung des Krieges eine gemäßigte liberale Politik. Alexander I. proklamierte sich zum König von Polen und gab dem Land eine verhältnismäßig liberale Verfassung. -Die Verfassung verankerte die russisch-polnische Personalunion, die Gemeinsamkeit der Außenpolitik und das Zusammenwirken der Streitkräfte im Kriegsfall. Die Regierungsgeschäfte wurden von einem Staatsrat aus polnischen Ministern unter Leitung eines Statthalters geführt. 3 Iz pisem i pokazanij dekabristov, pod red. A. K. Borozdina, St. Petersburg 1906, S. 35 f. 4 Zitiert nach: Okun', S. B., Ocerki istorii SSSR, Leningrad 1956, S. 312.

80

Rußland von 1789 bis 1825

Statthalter und Minister wurden vom König eingesetzt. Der Sejm als oberste Landesversammlung und der Staatsrat durften Gesetzesvorschläge unterbreiten. Die Legislativgewalt verblieb aber in Händen des Königs. Die Verfassung verkündete die Unantastbarkeit der Person, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Pressefreiheit. Das Wahlrecht war durch einen Vermögens- und Bildungszensus eingeengt, beschränkte sich also vorwiegend auf Angehörige der Schlachta und des wohlhabenden Bürgertums. Die 1807 verkündete persönliche Befreiung der Bauern, die den Grund und Boden allerdings bei den Gutsbesitzern beließ, blieb in Kraft, desgleichen das sich an den französischen „Code civil" anlehnende Zivilrecht. Die polnische Verfassung stand von ihrem Inhalt her gesehen im krassen Widerspruch zum Charakter der russischen Selbstherrschaft. Daraus ergab sich für Polen eine Alternativsituation : Entweder setzten sich die in der Verfassung berücksichtigten liberalen Elemente durch, was nicht ohne Auswirkungen auf Rußland bleiben konnte, oder die absolutistischen Herrschaftsformen gewannen die Oberhand. Einige Zeit nach der Konsolidierung der russischen Macht in Polen sollte sich zeigen, wie der Zarismus tatsächlich zur Verfassung stand. Der Zar setzte als Statthalter den altersschwachen General Zaj^czek ein. Der Bruder des Zaren Großfürst Konstantin als Oberbefehlshaber der polnischen Armee und sein Gehilfe Nikolai Nowosilzew waren aber die eigentlichen Machthaber, die unter Mißachtung der Verfassung im Lande schalteten uijd walteten und die Nationalgefühle der Polen verletzten. Sogar russen.freundliche Magnaten fühlten sich verpflichtet, Alexander I. auf die Willkür der zaristischen Behörden hinzuweisen. Als der Sejm den Zaren ersuchte, die Zensur aufzuheben und einige andere im Grundgesetz vorgesehene Maßnahmen zu treffen, lehnte Alexander I. die Vorschläge ab. Die Verfassung, bemerkte er, räumt dem Sejm keineswegs das Recht ein, die Handlungen der Regierung zu kritisieren. Das reaktionäre Wesen des Zarismus kaiji auch in einer Reihe anderer von ihm in diesen Jähren verwirklichter Maßnahmen zum Ausdruck. 1816 ging die russische Regierung dazu über, bei Nowgorod'und später bei Mogilew, Charkow, Cherson und Jekaterinoslaw Militärkolonien einzurichten. Die Militärkolonien stellten eine besondere Organisation von Truppen dar, die sich hauptsächlich aus Staatsbauern im Alter von 18 bis 45 Jahren rekrutierten und die neben dem Militärdienst sich mit ihren Familien landwirtschaftlich betätigen mußten, um sich selbst zu unterhalten. Mit dem ausgeklügelten System war beabsichtigt, eine besondere vom Volk isolierte Militärschicht zur Unterdrückung von Freiheitsbewegungen zu schaffen, die unter Einsparung von Staatsmitteln zugleich eine ständige Reserve ausgebildeter Truppen abgeben sollte. Die Gesamtzahl der Militärkolonisten betrug fast eine Million Menschen. Das ganze Leben in den Kolonien, selbst der Tagesablauf für die Frauen und die Reservisten, war strengstens reglementiert. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Militärkolonien waren nicht selten noch schlechter als die unter der Fronherrschaft der Gutsbesitzer, da zu den schweren Arbeitsleistungen noch der bedrückende militärische Dienst, der Drill, die Schikanen der Offiziere, alle möglichen Strafen usw. hinzukamen. Gegen Bauern, die sich der Einstufung als Kolonisten widersetzten, wurde mit brutalsten Mitteln vorgegangen. Hauptinitiator der Einrichtung von Militärkolonien war Graf Aleksei Araktschejew, der Vorsitzende des Militärdepartements des Staatsrats und erster Vertrauter des Zaren. Seit 1815 konzentrierte er in seiner Hand faktisch die Leitung des Staatsrats, des Ministerkomitees und der Persönlichen Kaiserlichen Kanzlei. Seine ultrareak-

Dekabristen

81

tionäre, militärisch-despotische Politik, die sich auf alle Bereiche der innerstaatlichen Tätigkeit erstreckte und dementsprechend die ganze politische Atmosphäre im Lande beeinflußte, fand die volle Billigung Alexanders 1. Sie ging unter dem Namen Araktschejewtum in die Geschichte ein. Die reaktionäre Innenpolitik des Zarismus widerspiegelte sich in seiner Außenpolitik und entsprach in ihrem Wesen dem ganzen System der „Heiligen Allianz". Doch weder Araktschejewtum noch „Heilige Allianz" konnten auf die Dauer die bürgerliche Entwicklung und die Freiheitsbestrebungen der Völker aufhalten. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse breiteten sich weiter aus und progressierten sogar in Rußland. Die von England ausgehende industrielle Revolution hatte nicht nur in Frankreich große Fortschritte gemacht, sie bahnte sich auch in Deutschland und einer Reihe anderer Staaten in Europa und Übersee an. Und schließlich bewirkte der von den Regierungen ausgehende reaktionäre Druck einen revolutionären Gegendruck der Völker. Auf dieser Grundlage kündigte sich ein neuer Aufschwung der revolutionären Bewegung an. In verschiedenen Teilen Italiens aktivierten die Karbonari ihre Tätigkeit gegen die wiedereingesetzte Habsburger Dynastie, gegen die Bourbonen und die kleinen feudalen Splittermächte. In Spanien bildeten sich neue Geheimbünde. In England und Frankreich verkündeten Owen und Saint-Simon utopisch-sozialistische Ideen. An den deutschen Universitäten waren die Studenten in Bewegung gekommen. Am 17./18. Oktober 1817 hatten die Burschenschaften auf dem Wartburgfest öffentlich ihre Ziele proklamiert: Einheit Deutschlands, Souveränität des Volkes, Kampf den Adelsprivilegien, Kampf gegen die Leibeigenschaft. Auf dem Aachener Kongreß der „Heiligen Allianz" im Jahre 1818 wurde auch die deutsche Frage erörtert. Alexander I. ließ auf dem Kongreß eine von ihm veranlaßte „Denkschrift über den gegenwärtigen Zustand Deutschlands" verteilen, in der die liberal^ Gärung in den gefährlichsten Farben geschildert und die Vision einer deutschen Revolution beschworen wurde. Harte Maßregeln, u. a. gegen die Pressefreiheit, wurden empfohlen. Nachdem die Schrift in der Öffentlichkeit bekannt geworden war, steigerte sich die Erregung unter den Studenten noch mehr. Der Haß richtete sich besonders gegen den Zaren, in dem man mit Recht einen Feind jfeder demokratischen Entwicklung und der Bewegung für die Einheit und Unabhängigkeit Deutschlands erblickte. Als der Burschenschaftler Karl Sand 1819 den reaktionären, in den Zarendienst getretenen Schriftsteller August Kotzebue ermordete, galt diese Tat sowohl der feudalen Reaktion in Deutschland, als auch ihrem mächtigsten Verbündeten, dem zaristischen Rußland. Der terroristische Akt hatte natürlich keine Änderung erzwingen können und gab den Fürsten nur Anlaß zu neuen Verfolgungen und zu den Karlsbader Beschlüssen von 1819 mit ihrem Verfassungsverbot für die deutschen Staaten. Sand wurde 1820 hingerichtet. Immerhin erregte seine Tat die Gemüter weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. In dem Gedicht „Der Dolch" feierte der russische Dichter Alexander Puschkin den Jüngling Sand als Märtyrer und wies auf die Gemeinsamkeit der Freiheitsbestrebungen in Deutschland und in Rußland hin. Während der Zarismus die revolutionäre Bewegung in Westeuropa bekämpfte, mehrten sich auch in Rußland die antifeudalen Aktionen, vor allem unter den Bauern, den Arbeitsleuten und in den neugeschaffenen Militärkolonien. In den Jahren von 1816 bis 1820 wurden auf dem Lande über hundert zum Teil recht ausgedehnte Unruhen verzeichnet. Besonders lang und hartnäckig war die Bauernbewegung am Don (1818—1820), wo die Zahl der aktiven Teilnehmer 45000 Mann erreichte. Die 6

Straube/Zeil, Feudalismus

82

Rußland von 1789 bis 1825

Bauern verweigerten die Arbeit für die Gutsbesitzer, wählten eigene Anführer, traten den zaristischen Strafexpeditionen offen entgegen. Nur unter Einsatz starker Militärverbände konnte der Widerstand gebrochen werden. In einigen Fällen verschmolz die Bauernbewegung mit Unruhen unter den Arbeitsleuten der Manufakturen und Fabriken. Häufig forderten die leibeigenen Arbeitsleute, daß man sie wieder in den Bauernstand zurückversetze. Doch des öfteren verlangten sie schon Lohnerhöhungen, Absetzung verhaßter Meister, Verbesserung der Wohnbedingungen und der Versorgung, was teilweise bereits Forderungen waren, wie sie für das künftige Proletariat typisch werden sollten. Ihren Forderungen verliehen sie durch schriftliche Eingaben an höhere Instanzen und zuweilen auch durch Streiks Nachdruck. 1816 kam es in der Petersburger Glashütte des Fabrikanten Bataschew zu Arbeitsniederlegungen wegen zu geringer Löhne. Dem Streik waren Versammlungen der Arbeitsleute vorausgegangen, in denen sie den Schwur ablegten, zusammenzuhalten und sich gegenseitig nicht zu verraten. Ernstere Unruhen fanden in den Eisengießereien des Gouvernements Wladimir statt. In den Bergbaubetrieben Rastorgujews im Ural rebellierten 1822 die Arbeitsleute gegen Lohnkürzungen und Schikanen der Verwalter. Die Aufständischen verjagten die Vorsteher, schufen sich eine eigene Verwaltung, verlangten die Befreiung aus der Leibeigenschaft. Der Schmied Klim Kosolapow leitete den von den Bauern der umliegenden Dörfer unterstützten Aufstand. Die Zahl der Beteiligten betrug mehr als 8000 Mann. Erst nach mehr als zwei Monaten konnten die Unruhen mit militärischer Gewalt unterdrückt werden. Mehrere Aufstände brachen in den Militärkolonien aus. Der bedeutendste ereignete sich im Sommer 1819 in Tschugujew am Nördlichen Donez. Die Kolonisten empörten sich gegen die harten Arbeitsbedingungen, gegen die Araktschejewschen Ausbildungsmethoden, gegen die Willkür der Offiziere. Sie vertrieben die Vorgesetzten, forderten die Auflösung der Militärsiedlungen und die Rückgabe der von ihnen früher .einzeln bearbeiteten Bodenanteile. Araktschejew selbst leitete die Unterdrückungsaktion. Durch den Einsatz von Feldartillerie, 4 Infanterieregimentern und 18 Kavallerieschwadronen wurde ein wahres Blutbad angerichtet, das tiefe Empörung in der fortschrittlichen russischen Öffentlichkeit hervorrief. Die Unzufriedenheit mit den politischen und sozialen Zuständen in Rußland ging weit über die Bauernschaft hinaus. Viele fortschrittliche Offiziere quittierten aus Protest gegen das Araktschejewregime demonstrativ den Militärdienst. Der Dichter Kondrati Rylejew begründete wie folgt sein Ausscheiden aus der Armee: „Ich habe dem Vaterland gedient, als es den Dienst seiner Bürger brauchte, und ich war nicht mehr gewillt den Dienst fortzusetzen, als ich erkannte, daß ich nur den Launen, eines selbstherrlichen Despoten dienen werde." 5 Der Offizier Wladimir Rajewski erzählte rückblickend: „Die eisernen blutigen Krallen Araktschejews machten sich schon überall bemerkbar. Der Dienst wurde schwer und verletzte das Ehrgefühl. Der grobe Ton der neuen Kommandeure und die erniedrigende Kriecherei vor den jungen Korpsoffizieren war widerlich . . . Im Dienst wurde kein Edelmut verlangt, sondern sklavische Gefügigkeit. Ich nahm meinen Abschied." 6 Die progressiven Offiziere verurteilten die gesellschaftliche Stagnation im Inneren des Landes und die reaktionäre

5 Vospominanija Bestuzevych, Moskau—Leningrad 1951, S. 10. 6 Scegolev, P. E., Dekabristy, Moskau—Leningrad 1926, S. 13.

Dekabristen

83

Außenpolitik. In aufgeschlossenen Kreisen des Adels und unter der adligen und bürgerlichen Intelligenz stellte man immer öfter die Frage nach den Ursachen für das allgemeine Unbehagen. Die internationalen Ereignisse der letzten Jahrzehnte gaben den Zeitgenossen genug Denkanstöße, um auch radikale Lösungen vorzuschlagen. Die Ideen Voltaires, Rousseaus, Montesquieus-gewannen neue Anhänger. Radistschews Werk „Die Reise von Petersburg nach Moskau" wurde in Handschriften verbreitet. Fonwisins Satiren und Knjashnins Komödien, die den Despotismus geißelten, gingen von Hand zu Hand. Die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege hatten die Vergänglichkeit der Dynastien und Throne vor aller Augen geführt. Der Sieg über den Aggressor im Jahre 1812 hatte das Nationalbewußtsein des Volkes auf eine neue Stufe gehoben. Der Stolz über die patriotische Tat für das Vaterland und die dazu in Kontrast stehende erbärmliche Wirklichkeit der Leibeigenschaft ließen nicht nur unter gebildeten Menschen Gedanken nach politischen Veränderungen reifen. Von überall her kamen unaufhörlich neue Nachrichten, die die Herzen und die Hirne der Menschen bewegten. Auf die Kunde von unterdrückten Bauernrevolten und Soldatenaufständen aus dem Inneren Rußlands folgten Meldungen über Studentenbewegungen in Deutschland, über republikanische Verschwörungen in Italien und Spanien. Aus Übersee erfuhr man, daß selbst die Kolonialsklaven begannen, ihre Ketten abzustreifen. Mit Argwohn verfolgten fortschrittlich gesinnte Adlige und Vertreter der Intelligenz die Unterdrückungsaktionen der „Heiligen Allianz" und besonders die für patriotische Russen so beschämenden Aktivitäten der russischen Diplomatie, die mit 'den nationalen Interessen des russischen Volkes nichts zu tun hatten. Verschiedene Lehranstalten waren allmählich zu Stätten liberaler Ideen geworden, unter denen das Lyzeum von Zarskoe Selo und die Moskauer Universität besonders zu erwähnen sind. Eine Reihe fortschrittlicher Professoren vermittelte das bürgerliche Ideengut an die wißbegierige Jugend. Hervorragende Persönlichkeiten wie Alexander Puschkin, Wilhelm Küchelbecker, Alexander Gribojedow u. a. waren durch die Pforten dieser Lehranstalten gegangen. In heißen Diskussionen wurde Kritik an der Leibeigenschaft geübt, wurde darum gerungen, einen Weg in die Zukunft zu finden. In dieser Atmosphäre gesellschaftlicher Gärung entstanden die ersten revolutionären Organisationen Rußlands. Fortschrittliche Vertreter des Allels schickten sich an, von der Verurteilung der Leibeigenschaft zur revolutionären Tat überzugehen. Die Entstehung von Offizierszirkeln und später der ersten revolutionären Geheimgesellschaft in Rußland gerade in dieser Zeit und unter-diesen gesellschaftlichen Verhältnissen war deshalb keineswegs ein historischer Zufall, sondern eine gesetzmäßige Folge der Gegensätze der Zeit, die nach einer Lösung drängten. Auf der Tagesordnung der Weltgeschichte — und Rußland war davon nicht ausgeschlossen — standen die Aufgaben der bürgerlichen Revolution. In ganz Europa und in mehreren überseeischen Ländern reifte, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, eine revolutionäre Situation heran. Doch in Rußland verlief dieser Prozeß langsamer und qualvoller als in Mittel- und Westeuropa und wies gleichzeitig einige Besonderheiten auf. „Die Feudalordnung mußte auf dem Territorium eines riesigen Landes zerbrochen werden, unter den Bedingungen einer seit langen Jahren fest verankerten Leibeigenschaft und eines starken zentralisierten selbstherrschaftlichen Staates und beim Nichtvorhandensein einer 6*

84

Rußland von 1789 bis 1825

revolutionären Bourgeoisie." 7 Unter den ausgebeuteten Klassen Rußlands fand sich zu Beginn des 19. Jh. ebenfalls keine gesellschaftliche Kraft, die in der Lage gewesen wäre, im Kampf gegen die Feudalordnung die Führung zu übernehmen. Die Bauernschaft kämpfte spontan und unorganisiert. Eine selbständige Arbeiterklasse existierte nicht. Der Prozeß der Formierung der Arbeiterklasse hatte gerade erst begonnen, und die Arbeiter ragten noch nicht aus der Masse der übrigen Werktätigen heraus. Die Schwäche des noch im Entstehen begriffenen russischen Bürgertums, das keine eigenen revolutionären Traditionen besaß, und das Nichtvorhandensein einer anderen revolutionären gesellschaftlichen Kraft, trugen dazu bei, daß fortschrittliche Teile des Adels sich als erste für eine soziale Umgestaltung Rußlands einsetzten. Analoge Erscheinungen adliger revolutionärer Aktivität hat es in den antifeudalen Bewegungen vieler Länder gegeben, so in der Englischen Revolution des 17. Jh., in der revolutionären Bewegung in Spanien und besonders in der polnischen Befreiungsbewegung des 19. Jh. Rußland stellte in dieser Beziehung keinen Sonderfall Bar. Die objektiv heranreifenden Aufgaben der historischen Entwicklung fanden in den fortschrittlichsten Vertretern des Adels ihre Widerspiegelung und zugleich ihre Träger. Im Februar 1816 gründeten die jungen Offiziere Alexander Murawjow, Nikita Murawjow und Sergei Trubezkoi die Geheimgesellschaft „Rettungsbund". Vorläufer des Bundes waren verschiedene Offizierszirkel, in denen über brennende Fragen der russischen Gegenwart diskutiert wurde. Die Gesellschaft formierte sich endgültig mit dem Beitritt Pawel Pesteis im Herbst 1816. Ihr gehörten etwa 30 Mitglieder an. Pestel stammte aus einer hohen zaristischen Beamtenfamilie. Er hatte von 1805 bis 1809 in .Deutschland studiert, war Teilnehmer des Vaterländischen Krieges von 1812 und der'Auslandsfeldzüge (1813/14). Als glühender Patriot und als eine Persönlichkeit von umfassender Bildung und scharfem Verstand übernahm er es, die Ziele des Bundes zu formulieren. Sie gipfelten in der Forderung, die Leibeigenschaft zu beseitigen und eine konstitutionelle Monarchie zu errichten. Nach dem von Pestel entworfenen Statut erhielt der Bund den Namen „Gesellschaft der wahren und treuen Söhne des Vaterlandes". Im organisatorischen Aufbau lehnte sich der Bund an einige ausländische Geheimbünde, namentlich an den freimaurerischphilanthropischen Illuminaten-Orden, an. Ein komplizierter hierarchischer Aufbau und strenge Aufnahmebedingungen begrenzten den Mitgliederkreis. Jeder Neuling mußte Schwüre über Treue und Verschwiegenheit ablegen. Einige Mitglieder der Gesellschaft hatten sich auch mit den Statuten des Anfang des 19. Jh. in Preußen wirkenden Tugendbundes und seiner patriotischen Erziehungstätigkeit befaßt, um daraus Anregungen zu erhalten. Wenn über die Ziele der Gesellschaft in den Hauptzügen Einmütigkeit bestand, so war man sich hinsichtlich des Weges zu ihrer Verwirklichung jedoch im unklaren. Die Taktik des Zarenmordes wurde von der Mehrheit verworfen. Für die erste Zeit wurde lediglich empfohlen, die Ideen des Bundes zu propagieren. Die Schwäche der Organisation und die Unklarheit in taktischen Fragen veranlaßten die Mitglieder schließlich, den Bund aufzulösen und neue Wege zu suchen, um dem erstrebten Ziel näherzukommen. Nachfolger des „Rettungsbundes" wurde der von demselben Personenkreis Anfang 1818 gegründete „Wohlfahrtsbund". Unter Beibehaltung der Grundziele wurden 7 Neckina, M. V., Dvizenie dekabristov, Bd. 1, Moskau 1955, S. 80.

Dekabristen

85

einige wesentliche Änderungen vorgenommen. Vor allem war man bestrebt, der Organisation eine breitere Basis zu geben. Zu diesem Zwecke hatte man die Aufnahmebedingungen erleichtert und neben der zentralen Leitung örtliche Leitungen bzw. Filialen geschaffen. Das Programm hatte man aus konspirativen Gründen zweigeteilt, und nur der eine Teil („Das grüne Buch") wurde allen Mitgliedern zur Kenntnis gebracht. Der für die Führungsspitze bestimmte zweite Teil des Programms enthielt die Aufgaben für den politischen Umsturz und das taktische Vorgehen. Die Geheimgesellschaft orientierte sich darauf, die Mehrheit des Adels und der Intelligenz, d. h. jener Schichten zu gewinnen, die nach damaligen Vorstellungen die öffentliche Meinung bildeten und denen man in Anlehnung an die Philosophie der Aufklärung eine gesellschaftliche Allmacht zusprach. Bis 1819 hatte sich die Zahl der Mitglieder des „Wohlfahrtsbundes" auf 200 erhöht, und in Petersburg, Moskau, in der Ukraine und einigen andteren Städten und Gebieten waren Filialen gebildet worden, die sich bemühten, die Stimmung der Öffentlichkeit im Sinne des Bundes zu beeinflussen. Darüber hinaus war man bestrebt, Verbindungen zu Gesinnungsfreunden zu knüpfen, die in philanthropischen und literarischen Gesellschaften vereinigt waren. Von den letzteren ist vor allem die Petersburger literarische Gesellschaft „Grüne Lampe" zu nennen, in der auch Puschkin wirkte. Nach Eroberung der öffentlichen Meinung sollten die örtlichen Leitungen aus der Illegalität heraustreten und die Aktionen für den politischen Umsturz unterstützen. Um die öffentliche Meinung zu gewinnen und den Umsturz vorzubereiten, rechnete man mit einem Zeitraum von 20 Jahren, schob also die Realisierung der Ziele weit hinaus. Die Mehrheit der Mitglieder hielt es in der gegebenen politischen Situation für unmöglich, den Kampf zur Umgestaltung Rußlands zu beschleunigen. Unterdessen vollzogen sich inner- und außerhalb Rußlands Ereignisse, die von einer. neuen Welle im antifeudalen und nationalen Befreiungskampf der Völker kündeten und die von den Monarchen mit drakonischen Gegenmaßnahmen beantwortet wurden. Im Januar 1820 entflammte in Spanien die Revolution. Die Aufständischen unter Führung Rafael Riegos stellten die 1814 aufgehobene bürgerliche Verfassung von 1812 wieder her und ließen eine Volksvertretung wählen. Im Juli desselben Jahres brach die Revolution in Neapel und im August in Portugal aus. Es kam zu revolutionären Erhebungen in Brasilien und auf Haiti. Ihrem Charakter nach handelte es sich um bürgerliche Revolutionen. Sie richteten sich gegen die Restauration der feudalabsolutistischen Ordnung und oft auch gegen fremdländische Unterdrückung. Die italienischen Revolutionäre kämpften für die nationale Einheit ihres Landes und gegen das österreichische Joch. Die Nachrichten von den revolutionären Ereignissen in verschiedenen Teilen der Welt gelangten schnell nach Rußland. Vor allem unter der Rasnotschinzen-Intelligenz und in Kreisen progressiv gesinnter Offiziere wurden lebhafte Diskussionen geführt. Die innere Verwandtschaft der russischen revolutionären Bewegung mit der des Auslandes widerspiegelte sich besonders auf literarischem Gebiet. Gerade in diesen Jahren entfaltete sich das dichterische Genie des jungen Alexander Puschkin, des Begründers der neuen russischen Literatur, der zusammen mit anderen Dichtern die revolutionäre Romantik zur Blüte brachte. Die revolutionäre Romantik als geistig-künstlerische Strömung fand in Rußland ebenso wie in anderen Ländern ihre sichtbarste Ausprägung in der Literatur. Nach den bewegenden Ereignissen des Vaterländischen Krieges von 1812 und den Aus-

86

Rußland von 1789 bis 1825

landsfeldzügen (1813/1814), die bisher ungeahnte Kräfte der Völker spüren ließen, klangen in der Literatur wieder hellere, optimistischere T ö n e an. Die Resignation, die Vereinsamung, die Zurückhaltung, die traurig-elegischen Stimmungen,- die das Schaffen der konservativen Romantiker auszeichnen, wurden als überholt und nicht zeitgemäß empfunden. Die Dichter und Schriftsteller gewannen eine aktivistische Einstellung zu den Problemen der Gegenwart, fühlteil sich für ihr Volk verantwortlich und dazu berufen, ihre Dichtungen bewußt tätig als W a f f e gegen die Feinde des Fortschritts einzusetzen. „Diese einschneidenden Wandlungen berechtigen uns, von der Phase der progressiven Romantik zu sprechen, die selbst revolutionärem Wollen Ausdruck geben kann. Sie prägt sich besonders deutlich aus in den Dichtungen der Dekabristen und des jungen Puschkin." 8 Im Gegensatz zur weltflüchtlerischen empfindsamen bzw. konservativen Romantik wandte sie sich den anstehenden politisch-gesellschaftlichen Gegenwartsfragen zu und versuchte sie im Geiste der Ideen des antifeudalen Kampfes und der nationalen Befreiungsbewegungen der Zeit zu lösen. Diese Romantik war ihrem Wesen nach revolutionär und in die Zukunft weisend, wodurch sie den W e g für die spätere literarische Strömung des Realismus vorbereitete. Im Unterschied zu West- und Mitteleuropa, w o die Strömung der revolutionären Romantik vorwiegend von progressiv-bürgerlichen Vertretern des Geisteslebens getragen wurde (z. B. dem jungen Heinrich Heine in Deutschland), kamen in Rußland infolge der Schwäche und des Konservatismus des russischen Bürgertums ihre Repräsentanten hauptsächlich aus den Reihen fortschrittlicher Adliger, d. h. aus jenem Kreis, aus dem auch die Adelsrevolutionäre, die Dekabristen, selbst hervorgingen. Schon in den viel beachteten „Briefen eines russischen Offiziers" (1808 und 1815/16) von F j o d o r Glinka, eines Teilnehmers der Kriege gegen Napoleon und Mitglieds des „Wohlfahrtsbundes", werden in patriotisch-volkstümlichem T o n Saiten angeschlagen, die für die russische revolutionäre Romantik typisch werden sollten. In der „Abhandlung über die Notwendigkeit, eine Geschichte des Vaterländischen Krieges von 1812 zu besitzen" (1813—15) bezeichnet Glinka das Volk und die einfachen Soldaten als die eigentlichen Retter Rußlands, die, von allem anderen abgesehen allein deshalb ein sozial menschenwürdigeres Schicksal verdienen. D i e Freiheit für das Volk stellte sich Glinka jedoch nicht als eine von oben gewährte Gabe vor, sondern als ein vom patriotisch-selbstbewußten Volk zu erkämpfendes Ziel. Das Thema des Volkskampfes behandelte er In mehreren seiner Dichtungen, so in der Tragödie „Welsen oder Das befreite H o l l a n d " (1810). Ein echter Jünger der revolutionären Romantik war auch Pawel Katenin, der wegen seiner radikalen Auffassungen, die sich in seinen Dichtungen widerspiegelten, den Armeedienst quittieren mußte und aus Petersburg ausgewiesen wurde. 1818 übersetzte er aus der Tragödie „ C i n n a " von Pierre Corneille den M o n o l o g des Titelhelden, in dem der Tyrannenmord als eine Notwendigkeit und als Wohltat für das Volk verherrlicht wird. Eines seiner Gedichte, das als Lied gesungen wurde, enthält die unmißverständlichen W o r t e :

8 Russische Literatur im Überblick, Leipzig 1974, S. 102.

87

Dekabristen

„Das Vaterland duldet, du Übeltäter, dein Joch allzulange schon! Fort mit den Despoten und Volksverrätern! Wir stürzen den Zaren vom Thron!" 9 Tiefe Liebe zum Volk und ungebrochener Glaube an seine endliche Befreiung spricht aus den Gedichten von Wladimir Rajewski, eines Mitglieds des „Wohlfahrtsbundes" und später des „Südbundes". Wegen revolutionärer Aufklärungstätigkeit unter den Soldaten wurde er 1822 in den Kerker geworfen, was ihm den Ehrennamen des „ersten Dekabristen" einbrachte. In der „Stimme der Wahrheit" (1814—16) und in der „Satire auf die Sitten" (1818—21) geißelte er die moralische Verkommenheit des Adels. In der Satire „Ich lache und weine"*(1821) wandte er sich gegen die entwürdigenden Verhältnisse der Leibeigenschaft.. Zu den besten Früchten seiner vom Freiheitsgeist durchwehten Poesie gehören die während der schweren Haftzeit geschriebenen Gedichte „An die Freunde in Kischinjow" (1822) und „Der Säftger im Kerker" (1822). In dem letzteren, tiefaufwühlenden Gedicht schweift Rajewskis Blick über sein eigenes Schicksal als Freiheitskämpfer und über das seines gequältSn und niedergedrückten Volkes. Es klingt aus mit den Worten: „Erloschen, nah des Grabes Rand seh ich nlein Volk, schicksalsergeben . . . Doch kommt der Tag; da sich's ermannt und aufersteht zu neuem Leben !" 10 Revolutionäres Pathos atmen die Dichtungen Kondrati Rylejews, eines der aktivsten Köpfe der adligen Geheimbünde. Rylejew nimmt als Vertreter der revolutionären Romantik Rußlands in der Dichterschar der Dekabristen einen herausragenden Platz ein. Seine ganze Haltung und sein Schaffen sind geprägt von der völligen Übereinstimmung seiner Bestrebungen als Künstler, als Patriot und als politisch handelnder Mensch. Kurz nach den Befreiungskriegen schied er, wie bereits erwähnt, aus Protest gegen die entwürdigenden Kasernenhofmethod'en Araktschejews aus der Armee aus und widmete sich neben seiner beruflichen Tätigkeit als Gerichtsbeisitzer voll und ganz der Dichtkunst. Folgerichtig entwickelte er sich später zu einem der Führer des radikalen.Flügels der Dekabristenbewegung. In dem satirischen Gedicht „An den Günstling" (1820), das faktisch einer Kampfansage an das bestehende Regime gleichkam, greift Rylejew furchtlos den allgewaltigen Araktschejew als hinterhältigen Schmeichler, Schurken und'Tyrannen an und verurteilt ihn im Namen des »Volkes und der Geschichte: „Das Volk, das du durch Zins und Fron hast arm gemacht, in dessen Wohnstätten du Elend nur gebracht, das Volk, das du in seinen kargen Freiheitsrechten willkürlich noch bekürzt hast, um es ganz zu.knechten, hält es Gericht, dann — glaube mir! — ist's fürchterlich. Es rast und fegt hinweg die Tyrannei und — dich!" 1 1 9 Die Dekabristen. Dichtungen und Dokumente, hrsg. v. G. Dudek, Leipzig 1975, S. 16. 10 Ebenda, S. 25. 11 Ebenda, S. 27.

88

Rußland von 1789 bis 1825

In dem bedeutendsten Werk Rylejews, dem Poem „Woinarowski" (1823), fand der Freiheitswille der Adelsrevolutionäre, ihr patriotischer Kampf gegen die Despotie eine meisterhafte literarische Widerspiegelung. Der Dichter zeigt den Helden des Poems, Woinarowski, als einen Streiter gegen die Selbstherrschaft, der dem Volk grenzenlos ergeben ist und selbst in der Verbannung von nichts anderem erfüllt ist als von dem leidenschaftlichen Wunsch, seinen geknechteten Brüdern in der Heimat zu helfen. Das beherrschende Motiv aller Gedichte, Lieder und Poeme Rylejews ist das der tätigen, zur revolutionären Aktion gegen soziale Unterdrückung und Tyrannei drängenden Vaterlandsliebe. Ihr opferte er alles: seine Karriere, seine Liebe und, wie er es später bewies, auch sein Leben. „Auf Liebe hab ich drum verzichtet, hab Wichtigeres jetzt zu tun. Auf Kampf nur ist mein Sinn gerichtet, und dieser Kampf läßt mich nicht ruhn. Verzeih, wenn ich dies nicht verhehle: Zu lieben sträubt mich mein Verstand. Nach Freiheit nur ruft meine Seele, solang in Not mein Vaterland." 1 2 Einen würdigen Platz in der russischen Literatur nimmt Alexander Gribojedow ein, der den Adelsrevolutionären geistig nahe stand, ohne nachgewiesenermaßen Mitglied ihrer Organisation gewesen zu sein. In seinem Hauptwerk, der Komödie „Verstand schafft Leiden" (1824) reflektiert sich der historische Konflikt innerhalb des russischen Adels nach den Napoleonischen Kriegen: der unvermeidliche Kampf zwischen den von der Selbstherrschaft unterstützten Konservativen und den gegen Leibeigenschaft und absolutistische Willkür auftretenden progressiven Adligen. Gribojedow verurteilt die konservative russische Adelsgesellschaft mit ihrer Borniertheit, Korruption und geistigen Enge und nimmt durch den Helden der Komödie Partei für die Kräfte des Fortschritts. Auch wenn das Dunkelmännertum noch obsiegt, schafft die Komödie Gewißheit, daß die progressiven bürgerlichen Ideen schließlich triumphieren werden. Er war es auch' der als erster Teile von Goethfes „Faust" für den russischen Leser übersetzte,- wobei er dafür bezeichnenderweise die gesellschaftskritischen Passagen des „Vorspiels auf dem Theater" auswählte. Die patriotische und freiheitsliebende Richtung innerhalb der russischen Literatur dieser Jahre hat noch andere Namen aufzuweisen: Pjotr Wjasemski, den Verfasser * des berühmten „Troika"liedes und des Gedichts „Empörung" (1820); Nikolai Jasykow mit seinen Freiheitsgesängen und der Elegie „Noch hüllt sich Rußlands Geist in Schweigen" (1824); Alexander Odojewski — Autor des „Gebetes eines russischen Bauern" (vor 1820); Iwan Koslow mit seinem Gedicht „Ein Grieche im Kerker" (1821/22); Jewgeni Baratynski — Verfasser des aufrüttelnden Gesangs vom „Sturm" (1824). Als Mittler zwischen russischer und westeuropäischer Literatur betätigte sich Wilhelm Küchelbecker, der deutscher Herkunft war, sich aber durch seine Erziehung als Russe bekannte. 1820 besuchte er Goethe und Tieck, mit denen er Probleme der 12 Ebenda, S. 49.

Dekabristen

89

deutschen und russischen Literaturentwicklung erörterte. In dem Gedicht „An Prometheus" (1820) feierte er Goethe als Sänger der menschlichen Seele und der Natur. Aus dem M u n d e Küchelbeckers hörte man 1821 in Paris den ersten freien Bericht über das andere, das kämpfende revolutionäre Rußland. In einer eindrucksvollen Rede zeigte er, d a ß die flammenden Ideen der Zeit nicht nur von den Jünglingen beiderseits des Rheins verstanden wurden, sondern auch an den Ufern der Newa und der Moskwa. Angesichts der „Heiligen Allianz" der Monarchen, rief er die Revolutionäre Europas auf, ihre Kräfte zu vereinigen. Küchelbecker verurteilte die Eroberungspolitik des Zarismus, die mit den wahren Interessen des Volkes nichts gemein habe. „Die Russen", so sagte er, „werden der Geschichte andere Ruhmesblätter vererben als den Ruhm, Eroberer und Zerstörer zu sein." 1 3 Durch sein mutiges Auftreten zog sich Küchelbecker den Zorn der Zarenregierung zu, die ihn nach Rußland zurückbeorderte und in Petersburg unter Polizeiaufsicht stellte. Puschkin hatte gleichfalls die Gewalt des zaristischen Polizeistaates zu spüren bekommen. Die im Publikum kursierenden Gedichte und Epigramme des Poeten gegen den Zaren und hohe Würdenträger hatten zu Wutausbrüchen Alexanders I. geführt, der ihn nach Sibirien oder ins Kloster verbannen wollte. Nur der Fürsprache einflußreicher Freunde war es zu verdanken, d a ß Puschkin an einen günstigeren Verbannungsort, nach Jekaterinoslaw, geschickt wurde. Der große russische Dichter Alexander Puschkin fühlte sich mit den Ideen und dem künstlerischen Schaffen der Dekabristendichter, die er zum größten Teil persönlich kannte, aufs engste verbunden. Die gegenseitigen geistig-schöpferischen Inspirationen, die dieser Kreis erzeugte, bildeten für den genialen Poeten ein außerordentlich günstiges Entwicklungsmedium. In einer Vielzahl von Gedichten prangerte er ebenso wie seine Gesinnungsfreunde die Leibeigenschaft, und die Tyrannei an und machte die Forderung nach politischer und geistiger Freiheit zum überragenden Thema seiner revolutionär-romantischen Lyrik. Anfang der zwanziger Jahre des 19. Jh. brachte er mit dem Märchenpoem „Ruslan und Ludmilla" und den „Südlichen Poemen" die revolutionäre Romantik in Rußland zur höchsten Entfaltung. Die irdische Lebenslust und Sinnesfreude, die Dynamik, die Wirklichkeitsnähe, das reale Lokalkolorit, die in diesen Poemen spürbar werden, stehen der elegisch-sentimentalen Romantik diametral entgegen. Sie weisen aber schon in deutlichen Ansätzen über die Romantik selbst hinaus. Das erste realistische Werk in russischer Sprache schuf Puschkin mit seiner historischen Tragödie „Boris Godunow".(1825), einem Drama, in dem die Persönlichkeit des Boris im Gesamtzusammenhang der Epoche und das Volk als der eigentliche Schöpfer der Geschichte gezeigt werden. Ein solches Herangehen ist insofern bemerkenswert, als dies zu einer Zeit geschah, als die Adelsrevolutionäre unmittelbar Kurs auf den Aufstand nahmen und die Frage nach der Rolle des Volkes in der Geschichte an Bedeutung gewann. „Neu und zudem dramaturgisch bahnbrechend war aber auch, daß ein Autor hier zum erstenmal die Geschichte nicht nur als den Kampf großer Individuen oder bestimmter moralischer, ideologischer Prinzipien allein gesehen hatte, sondern daß er mitten in der romantischen Epoche die Abhängigkeit des einzelnen von der Gesellschaft gezeigt hatte, den einzelnen somit als Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen sah." 1 4 13 Literaturnoe nasledstvo, Bd. 59, Moskau 1954, S. 380. 14 Russische Literatur im Überblick, Leipzig 1974, S. 118.

90

Rußland von 1789 bis 1825

1825, einige Monate bevor die Adelsrevolutionäre zum Aufstand schritten, entstand Puschkins „Baccantisches Lied". Es ist optimistisch und voller Glauben an die Macht der Vernunft. Gedichtet in der Zeit finsterer Reaktion und Unterdrückung, klingt es aus in dem zuversichtlichen und fordernden Ruf: „Es lebe die Sonne, es schwinde die Nacht!" 1 5 Die Entwicklung der freiheitsliebenden russischen Literatur, deren künftigen hohen Aufflug die Dekabristendichter mit Rylejew, Gribojedow und dem jungen Puschkin ankündigten, rief im Regierungslager Beunruhigung hervor. Um die Verbreitung revolutionärer Schriften zu verhindern, verschärfte die Regierung die ohnehin drückenden Zensurvorschriften. Mißtrauisch schnüffelte man» in Puschkins neuen Werken herum und merzte in kleinlicher Weise allt irgendwie verdächtigen Stellen aus. Gribojedows „Verstand schafft Leiden" durfte weder gedruckt noch aufgeführt werden. Für politische Themen galten strenge Tabus. Seit 1816 stand dem Ministerium - für Volksbildung, das man sinnigerweise mit dem vor, den Puschkin als „Verderber der Bildung" charakterisierte. 1820 wurden mehrere fortschrittliche Professoren, unter ihnen der Statistiker, Geograph und Historiker Ministerium für geistliche Angelegenheiten vereinigt hatte, Fürst Alexander Golizyn Konstantin Arsenjew, der Statistiker Karl Hermann, der Rechtswissenschaftler Alexander Kunizyn, wegen Verbreitung der Lehren von Marat und Robespierre vor Gericht gezerrt. Besonders ereiferte sich der Obskurant Magnizki. Als Kurator des Kasaner Lehrkreises machte er den ungeheuerlichen Vorschlag, die Universität Kasan als schädliche Einrichtung zu liquidieren. Er verordnete, daß selbst der Mathematikunterricht mit der christlichen Lehre zu verknüpfen sei. Naturwissenschaftliche Vorlesungen waren auf seine Anordnung hin mit Gebeten und religiösen Sprüchen zu verbinden. Den Medizinern wurde verboten, Leichen zu sezieren, und vorhandene anatomische Präparate mußten in „geweihter Erde" beigesetzt werden. Magnizki untersagte der Kasaner Universität den Erwerb wissenschaftlicher Literatur und ließ statt dessen für zehntausend Rubel Bibeln und Evangelien anschaffen. Viele Anordnungen Magnizkis wurden auf andere Universitäten und Lehranstalten ausgedehnt. Die 1812 entstandene „Bibelgesellschaft" aktivierte ihre Tätigkeit und wurde zum Zentrum mystizistischer Propaganda. Derartiges geschah zu einer Zeit als Nikolai Lobatschewski an der nämlichen Kasaner Universität die Grundlagen der nichteuklidischen Geometrie entwickelte und andere russische Wissenschaftler auf verschiedenen Gebieten, so z. B. Michail Lasarew und Faddej Bellinshausen in der Polarforschung, wichtige Erfolge erzielten. Der Gesinnungsterror gegen liberales Denken wurde ergänzt durch das Wüten der Geheimpolizei, die ihr weitverzweigtes Netz zu geistigen Schnüffeleien und Verfolgungen einsetzte. Sowohl das Ministerium des Innern als auch Graf Araktschejew und der Petersburger Generalgouverneur besaßen ihren eigenen Spitzelapparat. Die Unterdrückungsmaßnahmen steigerten die Empörung gegen das Terrorregime der Selbstherrschaft nur noch mehr. Im Oktober 1820 kam es in Petersburg zu Unruhen im Semjonowregiment, einer der berühmtesten und ältesten Formationen 15 Geschichte der klassischen russischen Literatur, hrsg. v. W. Düwel u.a., Berlin und Weimar 1965, S. 230.

Dekabristen

91

der kaiserlichen Leibgarde. Der Zar hatte zur Austreibung freiheitlicher Gesinnungen unter den Soldaten und Offizieren einen neuen Regimentskommandeur eingesetzt, der ganz in Araktschejewscher Manier „Ordnung" schaffen wollte. Schikanen aller Art und Spießrutenlaufen waren an der Tagesordnung. Nachdem eine Kompanie offen ihren Protest gegen die unmenschliche Behandlung vorgebracht hatte und dafür in die Kasematten der Peter-Paul-Festung geworfen worden war, erhob sich das ganze Regiment. Die Soldaten unterstützten den Protest ihrer Kameraden und verweigerten den Gehorsam. Am nächsten Tag gelang es, die Soldaten zu entwaffnen und ebenfalls unter Arrest zu nehmen. Trotz des relativ harmlosen Verlaufs war die Regierung aufs äußerste beunruhigt. Es zeigte sich nämlich, daß die Forderungen der Soldaten in der ganzen Garnison begrüßt wurden. Bei der Untersuchung wurde bekannt, daß sogar eine Proklamation kursierte, die sich gegen den Zaren, die Selbstherrschaft und die Leibeigenschaft richtete. Die Nachricht von den Unruhen im Semjonowregiment erreichte den Zaren auf dem Kongreß der „Heiligen Allianz" in Troppau, wo die Monarchen über Maßnahmen gegen die Revolution in Italien berieten. Die innenpolitische Situation in Rußland, der Schock über die „Semjonowaffare" und die revolutionären Ereignisse in Westeuropa veranlaßten Alexander I., auch in außenpolitischen Fragen auf den letzten liberalen Schein zu verzichten. Im März 1821 war in Piemont die Revolution ausgebrochen und kurz daraufhatten sich die Griechen gegen das türkische Joch erhoben. Aus Furcht vor der umsichgreifenden revolutionären Bewegung machte der Zar das Angebot, die österreichische Interventionsarmee durch 100000 Mann russischer Truppen zu verstärken. Den griechischen Freiheitskämpfern versagte er gemäß den legitimistischen Prinzipien der „Heiligen Allianz" jegliche Hilfe. Die Politik der Zarenregierung gegenüber dem nationalen Befreiungskampf des griechischen Volkes trug den Stempel der Zwiespältigkeit. Ein einheitlicher griechischer Nationalstaat war der Zarenregierung nicht sonderlich sympathisch, weil er später ein Hindernis für das russische Vordringen auf dem Balkan hätte werden können. Andererseits bot sich gerade der griechische Befreiungskampf als günstige Gelegenheit, die Türkei zu schwächen und dadurch Rußlands Einfluß auf dem Balkan und im Vorderen Orient zu verstärken. Diese letztere, verlockende Perspektive verlor der Zarismus nie aus den Augen, und Alexander I. war nicht abgeneigt, sich im geeigneten Augenblick als Patron christlicher Völker aufzuspielen. Angesichts der sich häufenden revolutionären Krisenzeichen inner- und außerhalb Rußlands erschien dem Zaren ein einheitliches Vorgehen der internationalen Reaktion gegen die verschiedenen Befreiungsbewegungen in Europa jedoch vorerst wichtiger. Aus diesem Grunde verurteilte die zaristische Diplomatie auch 18*22 auf dem Kongreß in Verona die griechische Befreiungsbeweguhg und wies ihre Abgesandten zurück. Zwei Jahre später machte Alexander I., während die griechischen Patrioten in schwere Kämpfe verwickelt waren, den perfiden Vorschlag, drei griechische Kleinstaaten unter türkischer Oberherrschaft zu bilden. Damit hoffte er, die Türkei zu schwächen, ohne den Preis zahlen zu müssen: Die Schaffung eines unabhängigen griechischen Nationalstaates. Das fortschrittliche Rußland bezog eine andere Stellung zum Befreiungskampf des griechischen Volkes. Die adligen Revolutionäre, die Dichter Puschkin, Rylejew, Küchelbecker grüßten begeistert das aufständische Griechenland.

92

Rußland von 1789 bis 1825

„O Freunde! Hellas' Söhne warten. Wer leiht uns Schwingen? Fliegen wir!" 1 6 — rief Küchelbecker. In den Gedichten „An A. P. Jermolow" (1821). „Auf den Tod Byrons" (1824) und anderen sprach Rylejew seine Sympathien für die Freiheitskämpfer aus. Aus Puschkins Lyrik dieser Jahre ist das Thema Griechenland nicht hinwegzudenken. In dem Gedicht „Du treue Griechin, weine nicht . . ." (1821) ehrt der Poet die Opfer für die gerechte, heilige Sache. In seinem Kischinjower Tagebuch ist zu lesen: „Ich bin fest überzeugt, daß Griechenland triumphieren wird und die 2500000 Türken das blühende Land Hellas den rechtmäßigen Erben Homers und Themistokles überlassen werden müssen." 1 7 In ihren heißen Sympathien für das um seine Freiheit kämpfende griechische Volk wußten sich die russischen Adelsrevolutionäre eins mit den fortschrittlichen Geistern in ganz Europa. Einer der Gründe, warum die Adelsrevolutionäre ein so lebhaftes Interesse für den griechischen Befreiungskampf bekundeten, bestand darin, daß er eng mit dem Wirken von Geheimgesellschaften verknüpft war. Die führende revolutionäre Organisation der Griechen am Vorabend des Aufstandes, die „Philike Hetairia" („Gesellschaft der Freude") war 1814 von griechischen Patrioten in Odessa gegründet worden. Sie hatte maßgeblichen Anteil an der Auslösung der griechischen nationalen Befreiungsbewegung. Die Adelsrevolutionäre Pestel, Orlow, Rajewski, Ochotnikow und andere unterhielten in Odessa und Kischinjow Kontakt mit den griechischen Revolutionären, namentlich mit den Gebrüdern Ypsilanti. Als 1821 in der Walachei ein Volksaufstand gegen die örtlichen Feudalherrn und das türkische Joch ausbrach, überschritt Alexander Ypsilanti von Rußland kommend mit einer bewaffneten Schar den Pruth, um den Walachen Beistand zu leisten und den Aufstand nach Griechenland weiterzutragen. Pestel begab sich in diesem Jahr dreimal als Kundschafter in die vom Aufstand erfaßten Gebiete der Donaufürstentümer und machte sich detailliert mit der Organisation der Hetairia und der aufständischen Walachen sowie dem Verlauf der Kampfhandlungen vertraut. Die stürmischen Ereignisse in West- und Südeuropa, aber vor allem die Zuspitzung der Lage im eigenen Lande, die Bauernbewegung am Don, die Unruhen in den Militärkolonien zeigten den Adelsrevolutionären, daß ihr Plan einer langsamen Gewinnung der öffentlichen Meinung von den Ereignissen selbst überholt wurde. Eins wurde vor allem unmer klarer: Welche Verbitterung über das Terrorregime Araktschejews auch herrschte, welche flammenden Gedichte man gegen die Selbstherrschaft auch schrieb — damit allein war die Leibeigenschaft nicht zu vernichten. Anfang 1820 fand in Petersburg eine Sitzung der Hauptleitung des „Wohlfahrtsbundes" statt. Pestel hielt einen Vortrag, in dem er die republikanische .Regierungsform der monarchischen gegenüberstellte. Im Ergebnis der Diskussion wurde von der Mehrheit beschlossen, die Selbstherrschaft in Rußland zu stürzen und die republikanische Ordnung zu errichten. Der politische Umsturz sollte durch eine Militärrevolution erreicht werden. Die Zielsetzung, in Rußland eine Republik zu errichten, stellte eine neue Qualität in der ideologischen Evolution der Adelsrevolutionäre dar. Der Übergang von der 16 Zitiert nach Sparo, O: B., Osvobozdenie Grecii i Rossija, Moskau 1965, S. 109. 17 Puskin, A. S., Polnoe sobranie socinenij v desjati tomach, Bd. 8, Moskau 1965, S. 17.

Dekabristen

93

einfachen Aufklärungsarbeit zur Taktik der Militärrevolution war gleichfalls ein wesentlicher Schritt nach vorn. Allerdings war die Idee einer Militärrevolution selbst wieder Ausdruck für die Klassenbeschränktheit der Adelsrevolutionäre: Der revolutionäre Umsturz im Interesse des Volkes sollte ohne Beteiligung des Volkes vollzogen werden. Das rücksichtslose Vorgehen der Reaktion gegen die Volksbewegungen inner- und außerhalb Rußlands in den zwanziger Jahren war einer der Hauptgründe, warum die Mehrheit der Dekabristen sich für die Republik als die künftige Regierungsform in Rußland entschied. Die blutige Unterdrückung der Revolutionen, die Einkerkerung und Hinrichtung von Freiheitskämpfern, die Verfolgung der liberalen Presse ließen es offenkundig werden, daß die Monarchen alles daran setzten, das Volk in Unmündigkeit zu halten, seine Rechte zu beschneiden und bereits erkämpfte demokratische Errungenschaften wieder rückgängig zu machen. Die historischen Erfahrungen sprachen dafür, daß auch die konstitutionelle Monarchie nicht ausreichte, um die Rechte und Freiheiten der Staatsbürger dauerhaft zu sichern, geschweige denn sie weiter auszubauen. Der zaristische Despotismus bot in dieser Beziehung erst recht keine Gewähr, Hoffnungen keimen zu lassen. Die monarchistischen Illusionen unter den Adelsrevolutionären verloren deshalb gerade in den zwanziger Jahren Zusehens an Boden, wenngleich sie bei einzelnen Dekabristen nie völlig verschwanden. Die Taktik der Militärrevolution, zu der sich die Dekabristen durchgerungen hatten, hing gleichfalls aufs engste mit den politischen Ereignissen dieser Jahre zusammen. In die Zeit nach der Petersburger Sitzung des „Wohlfahrtsbundes" fallen die bereits erwähnten Unruhen im Semjonowregiment. Diese Vorgänge, die brodelnde Unzufriedenheit unter den Militärkolonisten sowie die Teilerfolge der Militäraufstände in Spanien und Italien schienen den Revolutionären einen Fingerzeig zu geben, welche'r Weg beschritten werden könne, um die Ziele des Geheimbundes zu verwirklichen. Wassili Dawydow und Pjotr Swistunow bestätigen, daß sich die Mitglieder des „Wohlfahrtsbundes" in-den Diskussionen oft auf die spanische Revolution und andere ähnliche Ereignisse bezogen, um die Zweckmäßigkeit eines Militäraufstandes zu begründen. Die Diskussionen über die Taktik nahmen in diesem Zusammenhang immer konkretere Formen an. Radikale Mitglieder des Bundes, unter ihnen Pestel, forderten den Zarenmord, der unerläßliche Bedingung sei für den sicheren Bestand der Republik mit einer Verfassung und einem wählbaren Präsidenten. An den Fragen Republik, Zarenmord, konstitutionelle Monarchie schieden sich die Mitglieder des „WoHlfahrtsbundes" in mehr oder weniger Gemäßigte und in Radikale. Die Annahme eines republikanischen Programms und einer neuen, auf den Militäraufstand orientierten Taktik machte eine Reorganisation des Geheimbundes notwendig. Als die gemäßigten Elemente 1821 ein deutliches Mißbehagen gegenüber den republikanischen Forderungen zeigten, wurde der Beschluß gefaßt, den „Wohlfahrtsbund" aufzulösen. Auf diese Weise konnte man sich am besten von den schwankenden und unzuverlässigen Elementen trennen. Die Auflösung des „Wohlfahrtsbundes" war demnach nicht das Ende der Geheimgesellschaft der adligen Revolutionäre, sondern ein bedeutsamer Schritt für die Fortsetzung ihrer Tätigkeit in neuen Formen. Die neue Organisation wurde in der Folge zweigeteilt: in einen „Nordbund" mit dem Zentrum in Petersburg und in einen „Südbund" im Bereich der Garnisonen der 2. Armee in der Ukraine. Beide Bünde stellten nichtsdestoweniger ein Ganzes dar und waren darauf ausgerichtet, eng koordiniert zusammenzuwirken. Die Bildung von zwei Schwerpunkten diente lediglich den praktischen Bedürfnissen eines beweglichen, operativen Vorgehens

94

Rußland von 1789 bis 1825

und brachte bereits zum Ausdruck, wo die Dekabristen ihre Hauptschläge gegen die Selbstherrschaft anbringen wollten: in der Hauptstadt des Russischen Reiches und im Bereich einer der wichtigsten Armeegruppierungen. Im März 1821 würde in dem ukrainischen Städtchen Tultschin der „Südbund" gegründet. Er stand unter' der Leitung eines „Direktoriums", dem Pestel, Aleksei Juschnewski und der in Petersburg lebende Nikita Murawjow angehörten. Allgemein anerkannter führender Kopf des „Südbundes" war Pestel. Etwa später, im Herbst 1822, entstand in Petersburg der „Nordbund" mit dem Führungskern aus Nikita Murawjow, Nikolai Turgenjew und Sergej Trübezkoi. 1823 hatte sich in der Stadt Nowograd-Wolynsk im Gebiet von Shitomir eine weitere Geheimgesellschaft der Adelsrevolutionäre gebildet: die „Gesellschaft der vereinten Slawen". Sie lehnte sich in der Zielsetzung und in ihren Aktionen an den „Südbund" an. Im „Südbund" wurde Pestel mit der Abfassung eines Verfassungsentwurfs'beauftragt, der das künftige Antlitz Rußlands zeichnen sollte. Im „Nordbund" übernahm es Nikita Murawjow, einen solchen Entwurf fertigzustellen. Der von Pestel vorgelegte und von den Mitgliedern mehrmals gründlich diskutierte Entwurf wurde durch Abstimmung zum programmatischen Dokument des „Südbundes" erklärt. Er erhielt den Namen „Russkaja Prawda" zur ehrenden Erinnerung an die alte Gesetzessammlung der Kiewer Rus. In seiner „Russkaja Prawda" forderte Pestel die Errichtung der Republik, die sofortige völlige Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft ohne Lösegeld und mit einer Zuteilung von Land. Die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche Rußlands sollte in zwei Teile aufgeteilt werden: in den gesellschaftlichen Boden und in den privaten. Der gesellschaftliche Boden sollte unveräußerlich und nicht vererbbar sein. Er sollte den Fonds des sogenannten „notwendigen Produktes" ausmachen, aus dem ein jeder Bürger in der Wolost, wo er ansässig war, kostenlos einen Bodenabschnitt zur unbefristeten Nutzung erhalten konnte. Damit dachte Pestel einem jeden Bürger ein sicheres Existenzmittel in F o r m von Grund und Boden zur Verfügung zu stellen, dessen er nicht verlustig gehen konnte und das ihm eben deshalb mindestens das „notwendige Produkt" gewährleistete. Der private Boden hingegen sollte nach den Vorstellungen Pesteis frei veräußerlich sein. Man durfte ihn vererben, verschenken, verkaufen, verpachten usw. Jeder Bürger durfte ihn über seinen gesellschaftlichen Bodenabschnitt hinausgehend je nach seinen Wünschen und wirtschaftlichen Möglichkeiten hinzuerwerben können. Er sollte somit der Produktion des „Überflusses" dienen. Woher sollte jener Grund und Boden kommen, der in gesellschaftliche und private Ländereien zu unterteilen war? Der Revolutionär Pestel bestimmte hierfür folgerichtig die Staats-, Krön-, Kloster- und Gutsbesitzerländereien. Der Grund und Boden, der dem Staat, .der Krone und den Klöstern gehörte, sollte sofört in dem genannten Sinne geteilt werden. Die Gutsbesitzer sollten dafür die Hälfte ihrer gesamten Ländereien abtreten, wobei für die mittleren und die kleineren unter ihnen eine partielle Entschädigung vorgesehen war. Das Agrarprojekt Pesteis sah somit eine sehr einschneidende Dezimierung, aber doch nicht völlige Liquidierung des Gutsbesitzerlandes vor, worin sich eine der größten Inkonsequenzen dieses Plans des adligen Revolutionärs äußerte. Dieses Vorhaben, das Gutsbesitzerland kurzerhand um die Hälfte -zu reduzieren und den größten Teil dieser Bodenmenge an die Bürger, d. h. an die von der Leibeigen-

Dekabristen

95

schaft-befreiten Bauern, zur kostenlosen Nutzung zu verteilen, hätte aber dennoch das Antlitz des russischen Dorfes grundlegend umgewandelt. Der Charakter des Eigentums an Grund und Boden hätte siCh völlig geändert. Das Land, das der Bauer bislang bearbeitet hatte und das Feudaleigentum "des Gutsherrn gewesen war, hatte die Basis der feudalen Ausbeutung gebildet. Das Land, das der Bauer zur Nutzung erhalten sollte, würde gesellschaftliches Eigentum sein und zumindest zu einem Teil eine materielle Grundlage für die ökonomische Selbständigkeit des unmittelbaren Produzenten darstellen. Die privaten Böden wären infolge wirtschaftlicher und persönlicher Unabhängigkeit der Bauern sowohl bei den Bauern als auch bei den Gutsbesitzern zu bürgerlichem Eigentum geworden. Die Tatsache, daß eine Verwirklichung des PeStelschen Agrarprojekts die russische Landwirtschaft auf bürgerliche Gleise gestellt hätte, ist unbestreitbar. Allerdings wäre das keine kleinbürgerliche Landwirtschaftsidylle geworden, wie es bürgerliche Historiker zuweilen dem Verfasser der „Russkaja Prawda" als Absicht unterstellen. Pestel war sich durchaus im klaren darüber, daß die käuflich erwerbbaren privaten Böden zum großen Teil nicht in den Besitz der armen Bauern gelangen würden. Beim Erwerb dieser Böden hätten naturgemäß die nunmehr kapitalistisch wirtschaftenden Grundbesitzer und die Großbauern an erster Stelle rangiert. Die soziale Differenzierung der auf bürgerliche Geleise gestellten Landwirtschaft, verbunden mit der Bevölkerungszunahme, hätte ferner zur Lösung des Problems des Arbeitskräftemarkts im kapitalistischen Sinne beigetragen, indem arme Bauern und deren Kinder zunehmend das Reservoir bäuerlicher, aber auch industrieller Lohnarbeiter gespeist hätten. Bis zu dieser Konsequenz konnten Pesteis Gedanken allerdings nicht vordringen; und wenn sie in dieser Richtung liefen, sträubten sie sich dagegen, weil sie den historischen Fortschritt für Rußland nicht in den Gegensätzen wünschten, die dem Kapitalismus eigen sind. Insofern hafteten dem Agrarprogramm der „Russkaja Prawda", das unabhängig von der Absicht seines Verfassers dem Klassenwesen nach eindeutig bürgerlich war, gewisse utopische Züge an. Die „Russkaja Prawda" sah gleichzeitig eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung von Industrie und Handel vor, so die Gewährung unbeschränkter Betätigungsfreiheiten für ausnahmslos alle Bürger in den Sphären von Industrie, Handwerk und Handel. Die Gilden und Zünfte mit ihren die Wirtschaft hemmenden Beschränkungen sollten liquidiert werden. Ausgewogene Tarifzölle sollten die russische Industrie vor dem Ruin durch ausländische Importe schützen, aber nicht den Ansporn zu fördernder Konkurrenz unterbinden. Der Unternehmergeist der in der Wirtschaft Tätigen sollte durch ein vorbildliches Erfindungs- und Patentwesen angespornt werden. Nach den Bestimmungen der „Russkaja Prawda" sollten in der Republik Rußland politisch-gesellschaftliche Bedingungen geschaffen werden, die eine Wiederherstellung der Selbstherrschaft für ewig ausschlössen, denn diese habe „zur Genüge ihre feindseligen Gefühle gegenüber dem russischen Volke bewiesen" 18 . Aus diesem Grunde, de geben können, bestehe die erste und wichtigste Notwendigkeit für Rußland darin, so schlußfolgerte Pestel, und damit es nie wieder eine Herrschaft einer Einzelperson wer„die Staatsordnung und die staatlichen Einrichtungen vollkommen umzugestalten" 19 . 18 „Russkaja Pravda" P. I. Pestelja i soeinenija, ej predsestvujuscie. In: Vosstanie dekabristov. Dokumenty, Bd. VII, Moskau 1958, S. 118. 19 Ebenda.

96

Rußland von 1789 bis 1825

Die oberste Repräsentanz des Volkes sollte das Volkswetsche sein, eine parlamentarische Vertretung der gesamten Bevölkerung Rußlands, hervorgegangen aus einer allgemeinen Wahl aller gleichberechtigten Bürger männlichen Geschlechts, vom 20. Le« bensjahre an. Das Volkswetsche stellt1 nach den Worten von Pestel „den Willen im Staat dar, die Seele des Volkes" 20 , und kann von niemanden je aufgelöst werden. Das-Wetsche sollte allein die gesamte gesetzgebende Gewalt besitzen, Krieg erklären und Frieden schließen können, jedoch nicht die Befugnis, haben, die Verfassung zu-ändern. Sollten sich solche Grundgesetzänderungen als notwendig erweisen, dann würden die Entwürfe dazu publiziert, in der Öffentlichkeit diskutiert und anschließend durch Volksabstimmung entschieden werden. Das oberste exekutive Staatsorgan-sollte die Reichsduma aus fünf vom Volkswetsche gewählten Mitgliedern sein. Ihr unterstanden die Ministerien. In analoger Weise war vorgesehen, auf den unteren Ebenen wählbare Exekutivorgane der Gouvernements, der Gebiete, der Ujesde und der Wolosti zu schaffen, die entsprechend den Weisungen der Duma tätig sein sollten. Ein Oberster Sobor, ein vom Volkswetsche eingesetztes Gremium besonders vertrauenswürdiger Persönlichkeiten, sollte als Kontroll- und Aufsichtsorgan fungieren. Die „Russkaja Prawda" verkündete die wichtigsten bürgerlichen Grundrechte: die Freiheit der Person, des Wortes, der Presse, des Glaubens, die öffentliche Gerichtsbarkeit, die Freizügigkeit u. a. Der von Murawjow vorgelegte Verfassungsentwurf, auch „Konstituzija" genannt, war weniger detailliert und, was noch viel wichtiger ist, weniger konsequent revolutionär als die „Russkaja Prawda" Pesteis. Er verkündete die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Liquidierung der Stände und eine Teilenteignung der Gutsbesitzer. Die Staatsbauern sollten den gesamten Boden als Eigentum erhalten, den sie in Nutzung hatten. Den Gutsbauern wurden jedoch nur zwei Hektar Land pro Hof zugesprochen. Die geplante Landzuteilung war recht bescheiden und hätte die so befreiten Bauern gegenüber den nach wie vor wirtschaftlich dominierenden Gutsbesitzern schwer benachteiligt. Im Vergleich zu der späteren von oben durchgeführten Agrarreform von 1861 muß allerdings auch gesehen werden, daß keine die Bauern belastende Entschädigung, kein Loskauf vom Gutsherrn vorgesehen war. Objektiv hätte eine solche Lösung der Agrarfrage das Tor zur kapitalistischen Entwicklung in der Landwirtschaft aufgestoßen, dabei jedoch wichtige Elemente des „preußischen Entwicklungsweges" hervorgebracht, für den starke feudale Hemmnisse typisch waren. Der Verfassungsentwurf Murawjows sah zur sozialökonomischen Umgestaltung Rußlands auch verschiedene Maßnahmen im nichtagrarischen Sektor der Wirtschaft vor, wie die Beseitigung der Zünfte und der Gilden, die Freiheit jeglicher gewerblicher Tätigkeit u. a. In jenen Teilen der „Konstituzija" Murawjows, die die staatspolitische Ordnung betreffen, wird Rußland als konstitutionelle Monarchie mit föderativer Struktur ausgewiesen. Gleich zu Beginn wird verkündet: „Das freie und unabhängige russische Volk ist und kann nicht Eigentum einer Person oder einer Familie sein. Die oberste Gewalt geht vom Volk aus, dem das ausschließliche Recht gehört, sich die Hauptgeset/e selbst zu geben." 21 Die oberste Legislative, das Volkswetsche, sollte aus zwei 20 Ebenda, S. 214. 21 Murav'ev, N. M., Proékt konstitucii. In: Izbrannye social'no-politiceskie i filosofskie proizvedenija dekabristov, Bd. 1, Moskau 1951, S. 299f.

Dekabristen

97

Kammern, der Obersten Duma und der Kammer der Volksvertreter, bestehen, für deren Wahl ein hoher Vermögenszensus vorgesehen war. Der Monarch wird zwar nur als oberster Beamter bezeichnet, aber nach dem Entwurf von Murawjow vereinigt er in seiner Person die gesamte exekutive Gewalt, kann Minister ernennen und ist außerdem der oberste Chef der Land- und Seestreitkräfte. In den Kritiken anderer Dekabristen am Verfassungsentwurf Murawjows wird gerade dieser Passus besonders angegriffen. In einer Randbemerkung des Dekabristen Wladimir Steingel lesen wir an dieser Stelle: „Es ist von Übel, einem Menschen, mit dem man ununterbrochen wird kämpfen müssen, eine solche Macht anzuvertrauen". 22 Wie im Kontrast dazu verkündet Murawjow in seinem Verfassungsentwurf eine imposante Palette bürgerlicher Rechte und Freiheiten: Gleichheit der Bürger vor Gesetz und Gericht, Redefreiheit, Pressefreiheit, Gewissens- und Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, die Freiheit, Gesellschaften und Vereine zu gründen, das Petitionsrecht, das Recht zur freien Wahl des Wohnsitzes, di« Wählbarkeit der Polizeiund Gefangnisbeamten durch die Bürger u. a. m. Vergleichen wir die beiden Programmschriften von Murawjow und Pestel, so müssen wir feststellen, daß der Verfassungsentwurf Murawjows in allen wichtigen Bereichen — im agrarischen, im wirtschaftlich-industriellen, im staatspolitischen und im staatsbürgerlichen Sektor — hinter der „Russkaja Prawda" zurückblieb. Bei Murawjows Lösung der Agrarfrage sollten die Gutsbesitzer fast ihr ganzes Land behalfen und die Bauern nur einen kleinen Bodenabschnitt bekommen. Die Beseitigung der Leibeigenschaft konnte unter dieser Bedingung nicht so weitreichende Folgen haben, wie sie bei Pesteis Vorschlag zu erwarten gewesen wären. Die "Von Murawjow vorgesehenen Maßnahmen zur Entwicklung von Industrie und Handel waren ebenfalls wesentlich zurückhaltender. Im staatspolitischen Teil strebte Pestel eine demokratische Republik an, Murawjow dagegen eine konstitutionelle Monarchie. Die vielen bedeutenden demokratischen Bürgerrechte, die Murawjow in seiner „Konstituzija" verkündete, wären durch Vermögens- und Bildungszensus wieder geschmälert worden, während Pesteis Programm solche Beschränkungen nicht kannte. Trotzdem gilt auch von der „Konstituzija" Murawjows, daß sie bei einer Verwirklichung den russischen Feudalabsolutismus aufs schwerste getroffen und entscheidend zu seinem schließlichen Untergang beigetragen hätte. Die Ablösung feudaler durch bürgerliche Verhältnisse wäre nach dem politischen Umsturz jedoch zweifellos langsamer und qualvoller verlaufen. Trotz aller adligen Klassenbeschränktheit ist die „Konstituzija" Murawjows für die gesellschaftlichen Verhältnisse Rußlands im ersten Drittel des 19. Jh. jedoch als fortschrittlich einzuschätzen. Bei dem Vergleich beider Programme dürfen also weder ihre Unterschiede bagatellisiert bzw. auf „Nuancen" reduziert werden noch ihre Gemeinsamkeiten, die ihr Wesen ausmachen, übersehen werden. „Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Dekabristenbewegung fügten den Grundlagen der bestehenden Ordnung Schläge von unterschiedlicher Stärke zu, doch die Richtung des Schlages war bei ihnen dieselbe." 23 Beide Strömungen, fixiert in den beiden Programmen, hätten Leibeigenschaft und Selbstherrschaft beseitigt und — wenn auch in unterschiedlichem Grad — dem Kapitalismus in Rußland den Weg geebnet. 22 Zitiert nach: Neckina, M. V., Dvizenie dekabristov, Bd. 2, Moskau 1955, S. 63. 23 Ebenda, S. 87. 7

Straube/Zeil, Feudalismus

8

Rußland von 1789 bis 1825

Die Adelsrevolutionäre in Petersburg und in den südlichen Teilen des Landes waren sich über die grundsätzliche Übereinstimmung ihrer Ziele bewußt und strebten danach, ihre Aktionen gegen den gemeinsamen Feind aufeinander abzustimmen. 1825 beschlossen sie einen konkreten Aktionsplan. Durch zwei gleichzeitige Militäraktionen in der Hauptstadt und in der Ukraine wollten sie im Mai 1826 die Selbstherrschaft zu Fall bringen und die Voraussetzung schaffen für die öffentliche Annahme einer neuen, ihren Zielen entsprechende Verfassung. Die Ereignisse nahmen jedoch einen anderen Verlauf. Am 1. Dezember 1825 starb unerwartet, ohne Nachkommen zu hinterlassen, Zar Alexander I. Von den beiden kaiserlichen Brüdern, Konstantin und Nikolaus, hatte der ältere Bruder Konstantin schon früher zugunsten des jüngeren auf den Thron verzichtet. Da diese Regelung geheim gehalten worden war, wurde die Beamtenschaft, die Armee und die Bevölkerung auf Konstantin vereidigt. Konstantin nahm den Thron jedoch nicht an, und der Thronanwärter Nikolaus verhielt sich zunächst zögernd, wodurch ein dreiwöchiges Interregnum entstand. Diese eigentümliche „Krise der Oberschicht" beschlossen die adligen Revolutionäre zu nutzen, zumal der Regierung wichtige Verbindungen der Geheimgesellschaften bekannt geworden waren und die Zeit deshalb drängte: Am 25. Dezember 1825 war Pestel in Tultschin verhaftet worden. Die Mitglieder des „Nordbundes" ergriffen daraufhin die Initiative. Sie entschlossen sich, die auf den 26. Dezember 1825 festgelegte neue Eidleistung, diesmal für Nikolaus, zu verhindern und mit Waffengewalt den Senat in Petersburg zu zwingen, eine Volksvertretung einzuberufen. Nikolaus sollte festgenommen oder getötet werden. Der Offizier Alexander Bestushew wandte sich im Auftrag des „Nordbundes" in den Morgenstunden des 26. Dezember 1825 an die Soldaten des Moskauer Garderegiments mit der Aufforderung, den Eid für Nikolaus zu verweigern. Die Soldaten gehorchten den Weisungen des beliebten Offiziers, formierten ihre Reihen und marschierten im Laufschritt unter wehender Regimentsfahne auf die Gorochowa-Straße. Das Regiment strebte dem Senatsplatz zu, dem Sammelplatz der Aufständischen, wo es am ehernen Reitermonument Peters I. Kampfaufstellung nahm. Die Nachricht von dem Vorgefallenen durchflog in Windeseile die Stadt, und die werktätige Bevölkerung Sankt Petersburgs — Handwerksmeister, Gesellen, Bauern, leibeigene Dienstleute, Angestellte, kleine Beamte, Studenten — begann herbeizuströmen. Zur selben Zeit traten revolutionäre Offiziere mit flammenden Reden in anderen Truppenteilen auf, um die Soldaten für den Aufstand zu gewinnen. Dem Augenblick Rechnung tragend, fcprderten sie die Soldaten auf, den Treueid für den als Usurpator hingestellten Nikolaus zu verweigern. Die Ansprachen der revolutionären Offiziere, die auch das Soldatenschicksal zu erleichtern und insbesondere die 25jährige Militärdienstpflicht abzuschaffen versprachen, fanden Widerhall unter den Soldaten. Als sich das Moskauer Regiment erhob, war die Lage Kaiser Nikolaus bedenklich, da er nur über ein Bataillon des Preobrashenski-Regiments verfügte. Doch nun zeigte sich die taktische Schwäche dieser Militärverschwörung, die so angelegt war, daß Aktionen der Volksmassen ausgeklammert blieben. Solange Verstärkungen durch weitere aufständische Truppen ausblieben, konnte m"an sich zu keiner aktiven Handlung entschließen, zumal auch der gewählte militärische Führer der Aufständischen, Fürst Trubezkoi nicht auf dem Platz erschienen war. Inzwischen waren Staatsrat und Senat auf den neuen Kaiser vereidigt und Nikolaus zog weitere Einheiten heran. Aber erst gegen zwei Uhr nachmittags gelang es den Regierungstruppen, die Aufständischen,

Dekabristen

99

die zuvor Verstärkung erhalten hatten und zu denen auch danach neue Abteilungen revolutionärer Truppen — Leibgardisten und Matrosen — durchbrachen, einzukreisen. Die Zahl der Aufständischen war auf 3000 angestiegen. Die kaiserliche Garde-Kavallerie hatte mehrere Attacken gegen das Karree der Aufständischen geritten, war aber stets zurückgeschlagen worden, nicht ohne Unterstützung durch die erregte Volksmenge, die den Pferden Bretter und Balken vor die Hufe warf. Zu einer gemeinsamen Aktion mit dem Volk konnten sich die adligen Revolutionäre j e d w h nicht aufraffen. Als die frühe Petersburger Winterdämmerung einsetzte, griff der Zar, der mit Eintritt der Dunkelheit eine erhöhte Aktivität der Volksmassen befürchtete, zur Artillerie als dem letzten Mittel. In einem verheerenden Direktbeschuß mit Kartätschen brach die erste revolutionäre Erhebung gegen die russische Selbstherrschaft zusammen. Mehrere Hunderte^Tote und Verwundete waren die blutige Ernte. Auf die Nachricht von den Petersburger Ereignissen griffen auch die Adelsrevolutionäre des „Südbundes" zu den Waffen. Der von den Offizieren Sergei Mrawjow-Apostol und Michail Bestushew-Rjumin geleitete Aufstand des Tschernigow-Regiments konnte sich jedoch nur fünf Tage halten, isoliert vom Volk und ohne Beistand durch andere Truppen. Zar Nikolaus I. rächte sich bitter an den Männern vom Dezemberaufstand, den Dekabristen 24 , wie man sie seitdem nannte. Pestel, Rylejew, Murawjow-Apostol, Bestushew-Rjumin, Kachowski wurden gehenkt. 121 D'ekabristen verurteilte man zu Zwangsarbeit und Deportation nach Sibirien, Fast keine der Petersburger Adelsfamilien blieb verschont. Hunderte von Soldaten mußten Spießruten laufen, wurden verbannt oder zu den kämpfenden Einheiten in den Kaukasus geschickt. Aber auch nach der Vollstreckung der *Todesurteile und den Deportationen nach Sibirien sah sich der Zarismus gezwungen, gegen die Dekabristen und die von ihnen angestrebten Ziele zu kämpfen. Da man die Ziele der Adelsrevolutionäre als reale Gefahr ansah, war man im Regierungslager bestrebt, diese Gefahr als nichtexistent dazustellen. Nikolaus I. gab die Anweisung, aus der öffentlichen „Mitteilung" der Untersuchungskommission alles auszumerzen, was die Entwürfe zur Abschaffung der Leibeigenschaft, zur Aufteilung des Bodens, zur Beschränkung der Militärdienstzeit und andere Forderungen betrifft, d. h. gerade jene Forderungen, die aus den gesellschaftlichen Bedürfnissen Rußlands erwuchsen und für den Zarismus bedrohlich waren. Der Regierung kam es darauf an, die Dekabristen als Einzelgänger, als moralisch verkommene Individualisten darzustellen, die im russischen Volk nicht verwurzelt und ausländischen Einflüssen erlegen wären. Im zaristischen Manifest vom 13. Juli 1826 hieß es über die Bestrebungen der Dekabristen: „Dieses Vorhaben entsprach nicht den Eigenschaften und der Sittlichkeit der Russen. Von einer Handvoll Scheusale ausgedacht, hat es ihre nähere Umgebung, unzüchtige Seelen, die von verwegener Schwärmerei erfüllt waren, angesteckt, — ist aber trotz jahrzehntelanger boshafter Bemühungen nicht tiefer eingedrungen, konnte nicht tiefer eindringen. Das Herz Rußlands blieb dafür uneinnehmbar und wird es immer bleiben." 25 Wie tief in Wirklichkeit die Tat der Dekabristen die russische Gesellschaft berührte, zeigen sowohl die Ereignisse unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes als auch die ganze nachfolgende Geschichte Rußlands. Die Wirkung des Dekabristen24 Nach dem russischen Wort dekabr-Dezember. 25 Dekabristy i tajnye obscestva v Rossii, Moskau 1906, S. 109. 7*

100

Rußland von 1789 bis 1825

aufstandes blieb nicht auf die Vorgänge um den Senatsplatz beschränkt. Der Eindruck in ganz Rußland war gewaltig, die Sympathien des Volkes waren bei den Geschlagenen. Die weitestblickenden unter den Zeitgenossen sahen in ihnen und den Trägern ihrer Ideen die Sieger von morgen. In der fernen sibirischen Verbannung blieben die Dekabristen unter schwersten Bedingungen, ihren Idealen treu. Nicht wenige der Dekabristenfrauen folgten aus Liebe und Opfermut ihren Männern in die Verbannungsorte nach, um deren Schicksal zu erleichtern, und ihr heldenhaftes Ausharren bei den von der Selbstherrschaft verurteilten politischen Gegnern des Zaren empfanden viele als Demonstration gegen das herrschende Regime. Die Kunde vom Aufstand drang auch ins Ausland und ließ erkennen, daß der Atem der Zeit auch im Osten wehte und Rußland nicht nur Hort der finstersten Reaktion, Völkergefängnis und Gendarm Europas war. Mit dem Zyklus „Die Verbannten" von Adalbert Chamisso fand die Dekabristenbewegung auch in der deutschen Dichtung ihren Niederschlag. Der Dekabristen-Aufstand unterschied sich wesentlich von allen bisherigen Erhebungen in Rußland. Er hatte die Zarenideologie der Bauernaufstände abgestreift, ihrer Spontanität abgesagt, richtete sich von vornherein gegen die Selbstherrschaft. Die Bewegung der Dekabristen war ausgerüstet mit einem sozialen Programm, das in den wichtigsten Forderungen den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Zeit entsprach und auf eine bürgerliche Veränderung der politischen und sozialökonomischen Verhältnisse Rußlands hinauslief. Die adlige Klassenbeschränktheit der Dekabristen war eine wichtige Ursache für ihre Niederlage. W. I. Lenin schrieb: „Eng ist der Kreis dieser Revolutionäre. Furchtbar fern stehen sie dem Volk". 26 Eine weitere Ursache für die Niederlage der Dekabristenbewegung, die objektiv in der historischen Entwicklung selbst begründet ist, waren die trotz aller Wandlungen zum Neuen immer noch sehr rückständigen gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland. Die revolutionäre Situation Anfang der zwanziger Jahre des 19. Jh. als gesamteuropäische Erscheinung war in Rußland nicht zum Ausreifen gekommen. Die Zeit selbst war noch nicht reif für eine bürgerliche Revolution in Rußland. Auch wenn die Dekabristen den Werktätigen noch fernstanden, objektiv wirkten sie für das Volk, halfen, es wachzurütteln. Ihre Tat war nicht vergebens. Das patriotische Wirken der Männer vom Senatsplatz bildete deshalb den Anfang der russischen revolutionären Bewegung. Nach der Niederlage der Dekabristen vergingen noch neun Jahrzehnte, bis die werktätigen Massen Rußlands unter Führung einer entschlossenen proletarischen Kampfpartei zum Generalsturm auf den Zarismus ansetzten. W. I. Lenin betonte die Kontinuität zwischen den Dekabristen und den Bolschewiki. Die Leninsche Zeitung „Iskra", die eine entscheidende Rolle bei der Schaffung dieser Partei spielte, trug auf ihrer Titelseite die zuversichtlichen Worte des Dekabristen Odojewski, der aus der fernen sibirischen Verbannung seinen Zeitgenossen und der Nachwell zugerufen hatte: „Aus dem Funken wird die Flamme schlagen!" 27

26 Lenin, W. I., Dem Gedächtnis Herzens. In: Werke, Bd. 18, Berlin 1967, S. 15. 27 Izbrannye social'no-politiöeskie i filosofskie poizvedenij^ dekabristov, Bd. 3, Moskau 1951, S. 248.

Kapitel V Die Krise der feudalen Wirtschaft Rußlands im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts und die Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse Rußland war am Ende der fünfziger Jahre hinsichtlich der territorialen Ausdehnung und der Bevölkerungszahl der größte Staat Europas. Nach Angaben der zehnten Revision von 1858/59 betrug seine Bevölkerung 74,1 Millionen gegenüber 52,3 Millionen im Jahre 1825. Davon lebten nur 5,7 Millionen oder 7,7 Prozent in Städten. Dennoch wuchs auch die Stadtbevölkerung im Vergleich zum ersten.Viertel des 19. Jh. beachtlich, in den Jahren von 1825 bis 1840 beispielsweise um 40 Prozent. In Petersburg nahm allein die Zahl der Einwohner aus dem Bauernstand (ohne das Gesinde) von 1821 bis 1857 um 88 Prozent zu und machte 1857 ca. 203000 aus. Das waren Obrokbauern, die sich vor allem als Händler und als Lohnarbeiter ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Zunahme der Bevölkerungszahl Rußlands war allerdings nicht ausschließlich auf den natürlichen Zuwachs, sondern auch auf Gebietserwerbungen zurückzuführen. Die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in Industrie und Landwirtschaft als Grundtendenz der Geschichte Rußlands zwischen 1825 und 1861 verlief seit den dreißiger Jahren mit regionalen Unterschieden schneller als in den vorangegangenen Jahrzehnten. Kennzeichen dieser Tendenz waren neben der weiteren Zersetzung der Naturalwirtschaft und der zunehmenden Entfaltung der Ware-Geld-Beziehungen sowie der damit verbundenen stärkeren Differenzierung der Bauernschaft und der Lösung eines Teils der Bauern von der feudalen Wirtschaft der allmählich beginnende Übergang von der Manufaktur zur Fabrik, d. h. die Vorbereitungsphase der industriellen Revolution, die Zunahme der Lohnarbeit in Industrie und Landwirtschaft, die weitere Entwicklung der einfachen Warenproduktion und gewisser Übergangsformen von der einfachen zur kapitalistischen Warenproduktion, das weitere Anwachsen des Binnenund des Außenhandels und die stärkere Eingliederung Rußlands in das System des sich erweiternden kapitalistischen Weltmarktes. Diese Zeichen neuer Entwicklungen — eine Alternative zur überlebten Feudalordnung — dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Rußland die Feudalverhältnisse sowohl im Wirtschaftsleben als auch in der Klassen- und Sozialstruktur und im gesellschaftspolitischen System damals noch vorherrschten und die weltgeschichtlich auf der Tagesordnung stehende kapitalistische Entwicklung hemmten bzw. deformierten. Die Hauptklassen der russischen Gesellschaft waren noch nicht — wie in den fortgeschrittensten Staaten Westeuropas — Proletariat und Bourgeoisie, sondern nach wie vor die Klasse der Bauern und die des grundbesitzenden Adels. Rußland war ein vom Adel beherrschtes Agrarland. Charakteristisch für die dreieinhalb Jahrzehnte zwischen dem Dekabristenaufstand 1825 und Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 war ein anfangs relativer und später auch absoluter Rückgang der Zahl der Leibeigenen. Bei der siebenten Revision (1815) wurden 20,8 Millionen leibeigene Gutsbauern, d. h. 46,2 Prozent der Gesamtbevölkerung gezählt. Bei der zehnten Revision (1858/59) betrug ihre Zahl 22,7 Millionen, d. h.

102

Rußland von 1825 bis 1861

bezogen auf die inzwischen gestiegene Bevölkerungszahl nur noch 30,7 Prozent. Der Anteil der Bauern in den zentralen landwirtschaftlichen Gouvernements verringerte sich insgesamt um 2,6 Prozent auf 45 Prozent der Gesamtbevölkerung. In absoluten Zahlen waren das 173 100 Menschen. In den Gouvernements der Ukraine links des Dnjeprs nahm der Prozentsatz der leibeigenen Bauern um 1,1 Prozent, in absoluten Zahlen um 22600 Menschen ab. Bei den Leibeigenen männlichen Geschlechts sank auch die absolute Zahl. Nach der neunten Revision \>on 1851 machte sie 10,7 Mill., nach der zehnten Revision von 1858/59 nur noch 10,6 Mill. aus. Die Abnahme der relativen und der absoluten Zahl der leibeigenen Bauern war nicht nur auf den Freikauf der Bauern und ihren Übergang in andere Stände, sondern vor allem auf die Befreiung aus der Leibeigenschaft durch Militärdienst, auf Umsiedlungen und Fluchtbewegungen zurückzuführen. Von einer Verringerung des natürlichen Zuwachses der leibeigenen Bevölkerung oder von einem Aussterben kann ebensowenig die Rede sein wie sich aus dem Rückgang der relativen und der absoluten Zahl der Leibeigenen eine grundsätzliche Veränderung der sozialökonomischen Verhältnisse und der Sozialstruktur ableiten läßt. Den höchsten Prozentsatz an leibeigenen Bauern gab es in den westlichen und den zentralen Gouvernements des Reiches. In Neurußland — dem nördlich des Schwarzen Meeres zwischen der Mündung der Donau und des Kuban gelegenen Gebiet der Donkosaken, dem Vorland des Kaukasus und den damit eng verbundenen Gebieten am Unterlauf der Wolga — war der Prozentsatz der leibeigenen Bauern — mit regionalen Unterschieden — wesentlich niedriger. Hier waren somit, wie die sowjetische Historikerin Drushinina nachgewiesen hat 1 , die Voraussetzungen für das Leben der Bauern im Vergleich zu den westlichen und zentralen Gouvernements günstiger. Neben dem Reichtum an Brachland, der ständigen Nachfrage nach Produkten der russischen Landwirtschaft im Ausland, den Möglichkeiten, die die Schwarzmeerhäfen boten, und der Nachbarschaft der in industrieller Hinsicht fortgeschritteneren Gouvernements, die die Randgebiete mit Textilien, Geschirr, Werkzeugen und anderen Manufakturprodukten sowie mit Handwerkern und qualifizierten Arbeitern versorgten; hatte das freiere soziale Leben für die relativ schnelle Entfaltung kapitalistischer Verhältnisse im Süden des Landes und damit für Genesis und Entwicklung des Kapitalismus in Rußland überhaupt eine große Bedeutung. Die leibeigene Landbevölkerung des russischen Reiches gliederte sich auch in den Jahrzehnten vor den Reformen in zwei scharf voneinander geschiedene soziale Schichten : in Bauern, die eigene Wirtschaften besaßen, deren Land jedoch nach dem geltenden Recht den Großgrundbesitzern gehörte, und in Bauern, die über kein Land und keinerlei Produktionsmittel verfügten. Die Zahl dieser Kategorie war in der Zeit zwischen 1835 und 1858 von ca. 91400 auf ca. 1467000 angewachsen. Ihr Anteil machte gegenüber 4,14 Prozent aller Leibeigenen am Anfang dieses Zeitraumes ungefähr 6,79 Prozent an dessen Ende aus. Ihren größten Teil bildete das Hofgesinde. Der Frondienst (Barstschina) war nach wie vor die dominierende Form der feudalen Ausbeutung der Gutsbauern. Er herrschte besonders in den Gouvernements des

1 Druzinina, E. I., Die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in den südlichen und südöstlichen Gebieten des europäischen Rußlands. In: Genesis und Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, Studien und Beiträge, hrsg. v. P. Hoffmann u. H. Lemke, Berlin 1973, S. 178 ff.

Krise der feudalen Wirtschaft

103

Schwarzerdegebietes vor, in denen es vor allem dank der relativ hohen Bodenfruchtbarkeit für den Gutsbesitzer vorteilhafter war, die Arbeitskraft der Bauern auszubeuten als von ihnen den Obrok zu verlangen. Die zunehmende feudale Ausbeutung durch den grundbesitzenden Adel, Einschränkung der bäuerlichen Bodenanteile, Vertreibung der Bauern von ihrem Grund und Boden, Kauf und Verkauf sowie Umsiedlung von Bauern und schließlich Epidemien führten in verschiedenen Gebieten des Reichs zu einer Verarmung eines Teils der leibeigenen Bauern. Lenin hat darauf hingewiesen, daß „auch die dem Kapitalismus vorangehende Gesellschaftsformation, die feudale, fronwirtschaftliche Ordnung, eine ihr eigene Armut (schuf), die sie dann dem Kapitalismus als Erbe hinterließ" 2 . Selbst der Liberale Kawelin schrieb im Jahre 1858, daß die materielle Lage eines Teils der leibeigenen Bauern bedeutend schlechter geworden sei. Frondienst, Geldabgaben und andere Leistungen hätten sich in den letzten zehn bis zwanzig Jahren verdoppelt oder sogar verdreifacht. 3 Das Recht war grundsätzlich auf Seiten der' Gutsbesitzer, wie aus dem „Swod sakonow o sostojanii ljudej w gosudarstwe" eindeutig hervorgeht. Die in ihm enthaltenen Gesetze verpflichteten einerseits die Bauern zu Gehorsam gegenüber ihren Grundherren, gaben ihnen andererseits aber keinerlei Schutz und Garantie ihrer elementaren Rechte, wenn der Grundherr diese verletzte. Die Armut eines Teils der leibeigenen Bauern untergrub nicht nur dadurch die Grundlagen des Feudalismus, daß sie den sozialen Zündstoff für die Klassenauseinandersetzungen in Rußland in den Jahrzehnten vor der Aufhebung der Leibeigenschaft vermehrte, sondern auch dadurch, daß sie die durch Erhöhung der Steuern und, während des Krimkrieges (1853—56), durch gesteigerte Anforderungen des Militärdienstes ohnehin stark beeinträchtigte wirtschaftliche Entwicklung Rußlands behinderte. In zunehmendem Maße begann sich bereits vor der Aufhebung der Leibeigenschaft das Obroksystem zu verbreiten, das in einigen Gebieten unter dem Einfluß der Marktbeziehungen die Fronarbeit allmählich in den Hintergrund drängte. Eine scharfe Trennung zwischen beiden Formen der feudalen Ausbeutung gab es nicht. Das Obroksystem herrschte im Norden des Reichs und im zentralen Industriagebiet vor. Die Lage der Obrokbauern war in vielen Fällen etwas besser als die der Fronbauern, die in der Regel kleinere Wirtschaften als jene besaßen. Die Höhe des Obroks war nicht von der Größe der bäuerlichen Wirtschaft abhängig, sondern wurde sehr willkürlich festgelegt. Auf Grund ihrer privilegierten rechtlichen Stellung konnten die Gutsbesitzer nicht nur den Obrok nach Belieben erhöhen, sondern auch Abgaben in Naturalien fordern, die nicht selten auf dem Markt für mehr Geld, als die Bauern dafür erhalten hätten, verkauft wurden, und die Bauern noch auf anderen Wegen finanziell ausbeuteten. Das Obroksystem hatte unter anderem dadurch einen Einfluß auf den allmählichen Zerfall der feudalen Wirtschaft, daß es den Bauern ermöglichte, die Erzeugnisse ihrer Wirtschaft selbst auf dem Markt zu verkaufen, wodurch sie immer stärker in die Sphäre der Ware-Geld-Beziehungen einbezogen wurden. Die wirtschaftliche und rechtliche Lage der Staatsbauern, deren Zahl in der ersten Hälfte des 19. Jh. 8 bis 9'Millionen betrug, war im allgemeinen besser als die der Gutsbauern. Die Staatsbauern zahlten weniger Obrok und hatten größere Bodenanteile,

2 Lenin, W. I., Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung. In: Werke, Bd. 1, Berlin 1968, S. 472. 3 Kuznecov, I. V., Istorija SSSR. ßpocha kapitalizma (1861 —1917 gg.), Moskau 1971, S. 11.

104

Rußland von 1825 bis 1861

konnten ihre Wirtschaft selbständiger führen, ohne Erlaubnis des Grundherrn heiraten und Verträge abschließen, in höherem Maße Handel und'Gewerbe .treiben, nichtbesiedeltes Land kaufen wie überhaupt unbewegliche und bewegliche Habe besitzen. Auf verschiedenen Wegen wohlhabend gewordene Staatsbauern hatten größere Möglichkeiten als reiche Gutsbauern, in andere Stände überzuwechseln. Dennoch hatten auch bei den Staatsbauern die Abgaben an den Staat, die Zunahme der Kopfsteuer auf das Zweieinhalbfache, die hin und wieder geforderten Frondienste, die vorkommende Einschränkung der Bodenanteile und der Militärdienst sowie die Willkür der Beamten, Verwalter und Pächter einen nachteiligen Einfluß auf ihre Lage. Die Zahl der Kronbauern, die als Besitz der Romanows galten, belief sich nach der Revision von' 1858/59 auf etwa 2 Millionen. Sie bewohnten vor allem die Gouvernements Simbirsk und Samara. Ihre rechtliche Lage was schlechter als die der Staatsbauern. Aber sie hatten immerhin noch größere Bodenanteile als die Gutsbauern. Auch bei ihnen gab es Fälle einer teilweisen Vertreibung der unmittelbaren Produzenten von ihrem Land. In dert Jahrzehnten vor der Aufhebung der Leibeigenschaft und den anderen bürgerlichen Reformen vertiefte sich unter dem Einfluß der. Entwicklung der Ware-GeldBeziehungen der vom Fortbestand der Leibeigenschaft und der nur langsam zerfallenden Naturalwirtschaft behinderte Prozeß der Vermögensdifferenzierung der Bauernschaft Rußlands. Er war unter den Obrokbauern weiter fortgeschritten als unter den Fronbauern. Nach Forschungsergebnissen des sowjetischen Historikers Kowaltschenko befanden sich in den Jahren von 1831 bis 1860 iin Schwarzerdegebiet 58 Prozent der nur im Agrarsektor tätigen leibeigenen Bauern in einer mittleren Vermögenslage, während 30 Prozent als relativ wohlhabend und 12 Prozent als arm eingestuft wurden. Im Nichtschwarzerdegebiet betrugen für den gleichen Zeitraum die entsprechenden Zahlen 61, 24 und 15 Prozent und bei den Bauern, die neben der agrarischen Produktion Handel und Gewerbe trieben, 40, 20 und 40 Prozent. Bei allen Bauern und in allen Gebieten blieb die Differenzierung der nur im Agrarsektor tätigen Bauernschaft hinter der der zusätzlich Handel und Gewerbe treibenden Bauernschaft zurück. 4 Die Vermögensdifferenzierung der Bauernschaft hatte vor allem zwei Seiten : Einerseits trag sie mit zur Erhöhung der Zahl der armen Bauern bei, deren Arbeitskraft zur Ware wurde. Andererseits bildete sich in einigen Gebieten allmählich eine dünne Schicht relativ wohlhabender Bauern heraus. Ging die erste Kategorie entweder als Lohnarbeiter in die Manufakturen und in die Fabriken oder verdingte sich als Hofgesinde, so kauften sich einige Bauern der zweiten Kategorie gçgen eine beträchtliche Summe Geldes von ihren Grundherren los und wurden selbst Gutsbesitzer, die auf ihren Wirtschaften Lohnarbeiter beschäftigten, oder Händler und Wucherer oder auch kapitalistische Industrieunternehmer, die sich nun ihrerseits durch die Ausbeutung fremder Arbeitskraft bereicherten. Obwohl viele wohlhabende Bauern nach wie vor ebenso wie die ärmsten Bauern als Leibeigene der feudalen Ausbeutung ausgesetzt waren und die Einheit der Bauernschaft als Klasse der Feudalgesellschaft vor 1861 im wesentlichen noch erhalten blieb, begann doch der Prozeß der Vermögensdifferenzierung der Bauernschaft bereits vor den Reformen den Charakter einer Klassendifferenzierung anzunehmen. Der unter den Bedingungen der Leibeigenschaft langsam verlaufende komplizierte Prozeß der Klassen-. 4 Koval'cenko, I. D., Russkoe krepostnoe krest'janstvo v pervoj polovine XIX v., Moskau 1967, S. 349.

Krise der feudalen Wirtschaft

105

differenzierung der Bauernschaft vollzog sich in den Gebieten am schnellsten, in denen Handel und Gewerbe der Bauern am stärksten entwickelt waren, d. h. im zentralen Industriegebiet, denn er hing von der Erweiterung der Reproduktion der bäuerlichen Wirtschaft ab. In den Gebieten hingegen, in denen die Bauern vorwiegend im Agrarsektor tätig waren, erwies sich die Tendenz der Entwicklung der Vermögensdifferenzierung zu einer Klassendifferenzierung als schwächer ausgeprägt. 5 Der Prozeß der Klassendifferenzierung der Bauernschaft, der die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in der Landwirtschaft beeinflußte, wurde durch die Entfaltung der Produktivkräfte in der bäuerlichen Wirtschaft gefördert, die zur Erhöhung des Mehrproduktes beitrug und der entstehenden Dorfbourgeoisie und der Handelsbourgeoisie die Möglichkeit bot, sich einen Teil dieses Mehrproduktes anzueignen. Gleichzeitig wurde er durch die Entwicklung von Industrie, Handel und Transportwesen, den Aufschwung der Städte, die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die einfache Warenproduktion, die Anfänge einer kapitalistischen Warenproduktion und die wirtschaftliche Spezialisierung der Gebiete, die das Dorf immer stärker in die Ware-Geld-Beziehungen einbezogen, stimuliert. Grundlegend für die künftige Entwicklung Rußlands waren die Fortschritte, die der Prozeß der allmählichen Herausbildung des Proletariats und der Bourgeoisie als antagonistische Klassen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung machte. Die meisten Lohnarbeiter jener Zeit waren allerdings noch keine Proletarier im eigentlichen Sinne des Wortes. Sie waren vor allem „Lohnarbeiter mit Bodenanteil" 6 , wie Lenin es formulierte, d. h. leibeigene Bauern, die nur mit Zustimmung ihrer Grundherren ein Arbeitsverhältnis in einer Manufaktur oder Fabrik eingehen konnten, um Lebensunterhalt, Staatssteuer und Obrok zu verdienen. Die Manufakturen und Fabriken waren ihrerseits bei dem beschränkten Arbeitskräftemarkt Rußlands,, auf diese Bauern angewiesen, die somit auf dem Markt als Verkäufer ihrer Arbeitskraft auftraten, ehe sie „aufgehört hatten, an die Scholle gefesselt und einer anderen Person leibeigen oder hörig zu sein" 7 . Es handelte sich hier um eine feudal deformierte Lohnarbeit, die eindeutig zur kapitalistischen Lohnarbeit tendierte und die Trennung des unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln, d. h. von der feudalen Wirtschaft, verstärkte. Ein Teil der Bauern ließ sich für immer in der Nähe der Manufakturen und Fabriken nieder. Damit bildete sich namentlich im zentralen Industriegebiet in den kapitalistischen Betrieben, in erster Linie der verarbeitenden Industrie, allmählich eine Schicht ständiger Lohnarbeiter heraus, die sich im Grunde bereits von der feudalen Wirtschaft gelöst hatte und damit deren Zersetzung und die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse wesentlich beschleunigte. 8 Aus dieser Schicht sowie aus den relativ schwachen Schichten ehemals selbständiger, im Laufe der Zeit aber verarmter, auf den Verdienst durch Fabrikarbeit angewiesener kleiner Warenproduzenten und verschiedenen Gruppen von Rasnotschinzen, die mit den anderen Arbeitsleuten zum Bestand der „freien" Lohnarbeiter verschmolzen, rekrutierte sich dann das werdende russische Industrieproletariat. 5 Fedorov, V. A., Pomescic'i krest'jane central'na-promyslennogo rajona Rossii konca XVIII-pervoj poloviny X I X v., Moskau 1974, S. 254. 6 Lenin, W. I., Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, In: Werke, Bd. 3, Berlin 1968, S. 172. 7 Marx, K., D a s Kapital. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 743. 8 Isaev, G. S., Rol' tekstil'noj promyslenrtosti v genezise i razvitii kapitalizma v Rossii Leningrad 1970, S. 7 und 314ff.

1760—1860,

106

Rußland von 1825 bis 1861

Die Lage der Mehrheit der Manufaktur- und Fabrikarbeiter war sehr schwer. Der Lohn war niedrig, die Arbeitszeit praktisch nicht begrenzt, Arbeitsschutz gab es nicht. Frauen und Kinder, vor allem Waisenkinder, wurden — wie in anderen Ländern so auch in Rußland für einen geringeren Lohn — in höherem Maße in den Produktionsprozeß der verarbeitenden Industrie einbezogen, als dies in der Manufaktur der Fall war. Die allgemein bekannten entsetzlichen Zustände, die in dieser Beziehung im damaligen England herrschten, die unmenschliche Ausbeutung und das große Elend der werktätigen Bevölkerung, das Friedrich Engels in seiner Arbeit „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" 1845 dokumentarisch festgehalten hat, waren wie für andere Länder so auch für Rußland symptomatisch. Die Regierung sah sich zwar wiederholt zu Versuchen gezwungen, die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern durch Gesetze zu regeln, um Arbeiterunruhen vorzubeugen, doch wirkliche Erleichterungen konnte und wollte sie den Werktätigen nicht verschaffen. Bei der Herausbildung der Dorfbourgeoisie aus den Reihen der wohlhabenden Bauern spielte neben der bäuerlichen Wirtschaft und dem zusätzlich betriebenen Gewerbe der Aufkauf von Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten sowie von Erzeugnissen des Kustargewerbes eine Rolle. Die Aufkäufer traten zunächst als Vermittler im bäuerlichen Handel auf. Später gingen sie dazu über, die Bauern dadurch von sich abhängig zu machen, daß sie ihnen Geld liehen oder Rohstoffe zur Verfügung stellten und sie dann für sich arbeiten ließen. Die Zahl der wohlhabenden Bauern, die über Aufkauf und Verkauf, Wucher und Spekulation zu Dorfbourgeois geworden waren und sowohl die armen als auch die Mittelbauern ausbeuteten, war noch klein, aber ihre wirtschaftliche Bedeutung im russischen Dorf ist nicht zu übersehen. Darauf haben sowjetische Historiker wiederholt hingewiesen. 9 Im Zuge der Klassendifferenzierung der Bauernschaft als Ausdruck der Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf dem Lande entfaltete sich neben dem 1801 gesetzlich geregelten freien Handel mit nicht von Leibeigenen besiedeltem Grund und Boden auch die Bodenpacht, wobei es zu verschiedenen Abhängigkeitsformen kam. Es gab Fälle, in denen landarme oder landlose Bauern Land von wohlhabenden Bauern oder Gutsbesitzern, pachteten, wodurch sich die feudale Abhängigkeit verstärkte. Vor allem pachteten aber wohlhabende Bauern, Unternehmer und Kaufleute Land von Gutsbesitzern, vom Staat oder auch von armen Bauern, nutzten es unter Ausbeutung fremder Arbeitskräfte zur Verbesserung ihrer Wirtschaft, zur Errichtung von Handelsunternehmen bzw. verpachteten es mit großen Profiten weiter. So förderte die Bodenpacht in erster Linie die Stärkung der Dorfbourgeoisie. Adlige Grundbesitzer verpachteten nicht nur, sondern verkauften auch Boden an Käufer nichtadliger Herkunft. So entstand bürgerliches Eigentum an Grund und Boden. 1858 gab es in 33 Gouvernements Rußlands fast 269000 Bauern, die auf Grund des Ukases von 1801 und anderer Verordnungen Eigentümer von über 1 Million Desjatinen Land waren. 10 Um 1861 gehörten schon etwa 6 Millionen Desjatinen Land Kaufleuten und wohlhabenden Bauern, besonders Staatsbauern, unter denen die Vermögensdifferenzierung bereits größere Fortschritte gemacht hatte. Solche Erscheinungen wie die Entstehung bürgerlichen Grundbesitzes, die Verbreitung von Bodenpacht und Lohn-

9 Vgl. z. B. Fedorov, V. A., a. a. O., S. 252. 10 Vesnjakov, V., Krest'jane sobstvenniki v Rossii, Petersburg 1858, S. lOf.

Krise der feudalen Wirtschaft

107

arbeit sowie die Herausbildung von Zentren des bäuerlichen Handels zeugen davon, daß sich vor allem in den industriell entwickelten Gebieten auch im Agrarsektor kapitalistische Verhältnisse entfalteten. In der großen Bedeutung, die der Handelsbourgeoisie im Wirtschaftsleben zukam, offenbart sich die Schwäche des Kapitalismus Rußlands. Das Kaufmannskapital festigte sich in Rußland durch Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten. Seine Vertreter eigneten sich einen Teil des Mehrproduktes an, das aus der Arbeit der feudalabhängigen Bauern kam, und beuteten das städtische Kleingewerbe aus. Die Industrie- und Finanzbourgeoisie stand vor den bürgerlichen Reformen noch ganz im Schatten der Handelsbourgeoisie. Die Industriebourgeoisie, die in Städten und Dörfern, eine nur langsam zunehmende Rolle zu spielen begann, entwickelte sich aus der wohlhabenden Bauernschaft sowie aus den Reihen kleiner Warenproduzenten und adliger Unternehmer, vor allem aber aus der Handelsbourgeoisie, die im Binnen- und Außenhandel Kapital akkumuliert hatte »und es in Industrieunternehmen anlegte. Sie zeichnete sich trotz ihrer relativ schwachen Entwicklung durch einen ausgeprägten Unternehmergeist aus und hatte einen guten Überblick über die sich wandelnden Marktverhältnisse. Ihre Formierung als Klasse wurde aber erst nach 1861 von der sich durchsetzenden und sich voll entfaltenden industriellen Revolution beschleunigt. Diese gab ihr größere Möglichkeiten zur Kapitalakkumulation, die vor 1861 auch durch die beherrschende Stellung der Staatsbank im russischen Finanz- und Kreditwesen und den Mangel an Privatbanken erschwert wurde. Die in der Staatsbank angehäuften Kapitalien konnten von der Bourgeoisie nicht genutzt werden. Sie wurden dem grundbesitzenden Adel in Form von Anleihen zur Verfügung gestellt und von diesem im allgemeinen nicht für produktive Zwecke verwendet, d. h. sie dienten nicht der Industrie des Landes. Auf diese Weise wirkte der Staatsapparat retardierend auf die Entwicklung des Kapitalismus ein, obwohl er sonst aus mehreren Gründen bemüht war, die Industrie zu fördern. Die beherrschende Stellung des Staates im Finanzund Kreditwesen und der Mangel an Privatbanken verzögerten auch die Entstehung einer Finanzbourgeoisie. Infolge der verspäteten, durch zahlreiche im zaristischen Herrschaftssystem stark verankerte feudale Relikte gehemmten Entwicklung des Kapitalismus in Rußland war die russische Bourgeoisie in wirtschaftlicher Hinsicht noch schwach. Die Vorrechte der Adligen, ihre Leibeigenen in eigenen Industriebetrieben auszubeuten, verschaffte ihnen gegenüber nichtadligen Unternehmern große Vorteile. Auch dadurch wurde der entstehenden Bourgeoisie bis 1861 die Kapitalakkumulation erschwert und ihr Aktionsradius eingeengt. Zudem war die Bourgeoisie durch vielfältige Bindungen an den zaristischen Staatsapparat gefesselt und daher in politischer Hinsicht konservativ, so daß sie sich nicht zu einer revolutionären Klasse entwickelt? konnte. Die wirtschaftlichen Bedürfnisse Rußlands und die vielfaltigen Bindungen an den Weltmarkt trieben das Land auf den Weg des Kapitalismus. Das zeigte sich am deutlichsten in der Industrie. In der Entstehung und Entwicklung auf kapitalistischer Grundlage arbeitender Manufakturen und Fabriken fand die Entfaltung neuer Produktionsverhältnisse im Schöße der alten, feudalen Gesellschaftsformation besonderen Ausdruck. Für Rußland am Vorabend der Aufhebung der Leibeigenschaft charakteristische Erscheinungen waren allerdings auch der weitere Aufschwung der einfachen Waren-

108

Rußland von 1825 bis 1861

Produktion, z. B. des Kustargewerbes, in Dörfern und Städten und die Herausbildung gewisser Übergangsformen von der einfachen zur kapitalistischen Warenproduktion. Dabei zeichnete sich eine zunehmende wirtschaftliche Spezialisierung einzelner Gebiete des Reiches ab. Verbreitung und Entwicklungsniveau des bäuerlichen Kustargewerbes hingen in der Regel von der Form der feudalen Ausbeutung- ab. Besonders verbreitet und entwickelt war es bei den obrokpflichtigen Staats- und Gutsbauern des zentralen Industriegebietes, während es im zentralen Schwarzerdegebiet und in anderen Teilen Rußlands, in denen der Frondienst dominierte, weniger verbreitet und entwickelt war. In den Gouvernements Moskau, Wladimir und Jaroslawl beispielsweise gab es bäuerliche, aber auch kleinbürgerliche Unternehmen, die mit relativ einfachen Geräten Tuche, Seiden- und Baumwollgewebe, Hüte, Leder, Seife, Kerzen und Farbstoffe herstellten und sich mit der Färberei befaßten. In Iwanowo wurde daneben das Gewerbe der Leinwanddruckerei betrieben und andernorts der Beruf des Goldund Silberschmieds oder des Ziseleurs ausgeübt. Unter den Kustaren vertiefte sich der Prozeß der Vermögensdifferenzierung, die allmählich den Charakter ein'er Klassendifferenzierung anzunehmen begann. Einige Kustare wurden reich und gründeten größere Unternehmen, andere verarmten, verloren ihre relative Selbständigkeit, gerieten in eine immer stärkere Abhängigkeit von Unternehmern und Aufkäufern und wurden schließlich Lohnarbeiter. Die weitere Entwicklung der einfachen Warenproduktion der Bauern war ein wesentlicher Zug der sozialökonomischen Prozesse im russischen Dorfe in den dreißiger bis fünfziger Jahren. Sie vollzog sich unter dem Einfluß der Ware-Geld-Beziehungen und untergrub die Naturalwirtschaft, die ihrerseits eine Voraussetzung für den Fortbestand des Feudalsystems war. Eine stärkere Entfaltung der einfachen Warenproduktion der Bauern und ihr Übergang zur kapitalistischen Warenproduktion wurden von der Leibeigenschaft verhindert. Die einfache und die kapitalistische Warenproduktion sowie die kapitalistische Manufaktur erwiesen sich als eine notwendige Voraussetzung für den Übergang von der Handarbeit zur Maschine, der zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität und zu einer Ausweitung der Produktion und des Marktes, d. h. zur weiteren Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse führte. Wie in anderen Ländern Europas begann er auch in Rußland in der Baumwollindustrie, in der bereits zu Beginn des 19. Jh. die produktivere Lohnarbeit dominierte. Schon 1825 waren in der Baumwollindustrie 94,7 Prozent aller Beschäftigten „freie" Lohnarbeiter, in der Lederindustrie waren es 93 Prozent und in den Seilereien 92 Prozent. Ende des 18. Jh. entstanden, behauptete die Baumwollindustrie von der Mitte der dreißiger Jahre'bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft ihre führende Position nicht nur in der Textil-, sondern in der gesamten verarbeitenden Industrie. In ihr verlief die •technische Umwälzung viel stürmischer als in den anderen Produktionszweigen. Mitte der dreißiger Jahre wurden in Petersburg drei große private Baumwollspinnereien gegründet, wodurch die Stellung der Hauptstadt als eines Zentrums der Baumwollspinnereien gestärkt wurde. Jede von diesen Baumwollspinnereien hatte eine weit größere Produktionskapazität als die Aleksandrow-Manufaktur. Auch im Gouvernement Moskau wurden zu dieser Zeit Baumwollspinnereien gegründet. In den vierziger Jahren folgten weitere Gründungen durch Besitzer großer Webereien. Diese legten damit den Grundstein für Textilkombinate, die für die spätere russische Baumwollindustrie charakteristisch waren. Die Erweiterung der Kapazität der Baumwollspinnereien führte dazu, daß Rußland seit 1845 mehr Baumwolle als Garn impor-

Krise der feudalen Wirtschaft

109

tierte. Bereits 1850 überstieg die Baumwolleinfuhr den Garnimport um das Siebenfache. Die Baumwollweberei behielt bis 1861 im wesentlichen die Technik der Manufakturperiode bei. Der mechanische Webstuhl setzte sich seit Mitte der dreißiger Jahre nur sehr langsam durch. Ende der fünfziger Jahre gab es in Rußland 10400 mechanische Webstühle, die verwiegend in den Webereiabteilungen der Baumwollspinnereien aufgestellt waren. Insgesamt wurde auf mechanischen Webstühlen kurz vor 1861 nur etwa ein Fünftel der Gesamtproduktion erzeugt. " Der Kattundruck wurde seit Mitte der, dreißiger Jahre in größerem Umfang mechanisiert. Bereits im zweiten Jahrzehnt des 19. Jh. wurden die ersten Maschinen benutzt. Sie verdrängten den Handdruck im wesentlichen zwischen 1835 und 1855. Seinen Abschluß fand dieser Prozeß allerdings erst nach 1861. Die Zahl der Arbeiter in der Baumwollindustrie stieg von 1830 bis 1860 von etwa 76200 auf ungefähr 152200. Das waren mehr als die Hälfte aller in der Textilindustrie und über ein Viertel aller in der verarbeitenden Industrie überhaupt beschäftigten Arbeiter, deren Zahl sich um 1860 auf ca. 565100 belief. Die Zahl der Betriebe der verarbeitenden Industrie erhöhte sich in den Jahren von 1826 bis 1849 von etwa 5000 auf 9000. Die Fabriken und Werke gehörten auch Personen nichtadliger Herkunft, wie Kayfleuten und wohlhabenden Bauern. Viele Fabrikanten und zahlreiche Kaufleute waren damals deutscher Herkunft. Eine wesentliche Unterstützung der Baumwollindustrie, die von der Regierung nicht durch, finanzielle Zuwendungen begünstigt wurde, war die Zollpolitik des Zarismus. Durch hohe Besteuerung des Imports von Baumwollwaren und Begünstigung der Garneinfuhr durch niedrige Zölle verschaffte sie den Baumwollwebereien Rußlands im Konkurrenzkampf mit den anderen Zweigen der Textilindustrie gute Entwicklungsbedingungen. An der strengen Schutzzollpolitik hielt die Regierung bis 1850 fest. Die in diesem Jahr erfolgte Herabsetzung der Einfuhrtarife für Garn und Baumwollgewebe führte zwar zu einem Ansteigen des Imports, konnte die Entwicklung der russischen Baumwollindustrie aber nicht wesentlich beeinflussen. Auch in der Papierherstellung und vor allem in der zu Beginn des 19. Jh. entstandenen Zuckerrübenve^arbeitung, bei der noch vorwiegend mit Leibeigenen gearbeitet wurde, führte der Einsatz von Dampfmaschinen vor 1861 zu einer Produktionssteigerung und zur Erhöhung ihrer Bedeutung im Rahmen der gesamten Wirtschaft. Den Siegeszug der maschinellen Produktion in der Zuckerindustrie veranschaulichen folgende Zahlen : 1848/49 stellten die mit Dampfmaschinen ausgerüsteten Betriebe 44 Prozent der Gesamtproduktion her, 1853/54 wuchs diese Zahl auf 56 Prozent an und 1860/61 betrug sie 85 Prozent. In den anderen Zweigen der verarbeitenden Industrie vollzog sich hauptsächlich aus Mangel an freien Arbeitskräften und infolge von Kapitalknappheit der Übergang von der Manufaktur zur Fabrik wesentlich langsamer. Rußland gehörte zu den hinsichtlich der technischen Ausrüstung der Betriebe wie der Arbeitsproduktivität und des Produktionsvolumens rückständigen Ländern Europas. Ein Teil seiner Unternehmer konnte sich nicht für die Einführung kapital-intensiver rentabler technischer Neuerungen entschließen, solange noch die Möglichkeit bestand, die zwar unrentable, aber billigere Arbeitskraft der Leibeigenen auszubeuten. Die feudale Produktionsweise verzögerte in hohem Maße die Entwicklung einer leistungsfähigen kapitalistischen Industrie, so daß Rußland hinter den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern weit

110

Rußland von 1825 bis 1861

zurückblieb. Von den fünf mächtigsten Staaten der Welt, England, den USA, Preußen, Frankreich und Rußland, hatte Rußland 1855 einen Anteil von 4,8 Prozent an der Roheisengewinnung, von 3,8 Prozent an der Verarbeitung von Baumwolle und von 2,2 Prozent am Eisenbahnnetz. Die kapitalistischen Manufakturen und Fabriken waren in erster Linie im zentralen Industriegebiet und im Ural, und zwar .nicht nur in Städten, sondern auch in Dörfern, konzentriert. In den übrigen Gebieten, namentlich in den unterentwickelten Randgebieten des Reiches, gab es entweder noch gar keine Industrie,- oder die Manufakturund Industrieentwicklung hatte ein wejt niedrigeres Niveau bzw. machte viel geringere Fortschritte, jedenfalls dominierte dort noch das vorkapitalistische Kustargewerbe. Ein Teil der erforderlichen Maschinenausrüstung für die entstandenen Fabriken Rußlands wurde am Vorabend der bürgerlichen Reformen bereits im Lande selbst hergestellt. Der Bedarf der Wirtschaft an Maschinen für Industrie und Transportwesen führte auch in Rußland zur allmählichen Entstehung eines neuen Produktionszweiges — des Maschinenbaus. Hauptsächlich in Petersburg, ferner in Moskau, Nishni-Nowgorod und anderen Städten wurden Maschinenbaubetriebe errichtet. Ihre Zahl war vorerst allerdings noch sehr niedrig, da dieser Industriezweig hohe Investitionen und Fachkräfte erforderte. §o gab es nach offiziellen Angaben 1845 nur 14 Maschinenfabriken, deren Zahl bis 1851 lediglich auf 19 anstieg. Erst im Laufe der fünfziger Jahre wuchsen sie auf 100 an. Die Industrieunternehmer zogen es vor, zunächst noch Maschinen aus dem Ausland — aus Belgien und nach der Aufhebung des in England bestehenden Ausfuhrverbotes für Maschinen 1843 vor allem aus England — zu importieren, anstatt die eigene Produktion zu stimulieren. Zwischen 1831 und 1860 wurden für fast 64 Millionen Rubel Maschinen eingeführt und nur für 44 Millionen Rubel Maschinen im Lande selbst hergestellt. In den Jahren 1850 bis 1853 sanken die entsprechenden Durchschnittszahlen sogar auf 3 042000 und 1387 000 Rubel. In einzelnen Betrieben des Berg- und Hüttenwesens, in dem sich die Entwicklung zum Großbetrieb bereits vollzogen hatte und dessen wichtigstes Zentrum nach wie vor der Ural war, ging man von den dreißiger Jahren an — freilich nur sehr langsam — zu neuen Produktionsmethoden über. Es wurde in etwas stärkerem Maße als zuvor der Puddelofen dem Frischofen vorgezogen. 1860 wurde die Anwendung des Puddelverfahrens im Vergleich zu 1851 fast vervierfacht. Walzstraßen und Gebläsevorrichtungen fanden Verbreitung, das Eisenwalzverfahren wurde angewandt sowie einige andere Verbesserungen, vor allem der Dampfantrieb eingeführt. Dennoch befanden sich die Betriebe des Berg- und Hüttenwesens Rußlands in jenen Jahrzehnten nach vertraulichen Äußerungen Alexander von Humboldts, der einige auf seiner Sibirienreise 1829 kennengelernt hatte, im Vergleich zu denjenigen Deutschlands in einem jämmerlichen Zustand. Im sächsischen Freiberg sollen 1000 Arbeitskräfte dasselbe geschafft haben wie 50000 in den Bergwerken von Kolywan. Ein Vergleich der Roheisengewinnung in Rußland und in England zeigt, daß das Berg- und Hüttenwesen Rußlands, das im 18. Jh. Eisen nach England und in andere Länder exportierte, sehr zurückgeblieben war. Wurden 1800 in Rußland 10,2 Millionen Pud Roheisen gewonnen, so waren es 1860 17,6 Millionen Pud. (1 Pud = ca. 16,4 kg.) Zur gleichen Zeit war in England, wo Ende des 18. Jh. 10 Millionen Pud Roheisen gewonnen worden waren, infolge der stürmisch verlaufenden industriellen Revolution

Krise der feudalen Wirtschaft

111

die Produktion von Roheisen auf 240 Millionen Pud gestiegen. Auf die Leibeigenschaft als Hauptgrund für diese Situation des Berg- und Hüttenwesens im Ural wies Lenin hin, als er.schrieb: „Aber dieselbe Leibeigenschaft, die in der Epoche der embryonalen Entwicklung des europäischen Kapitalismus dem Ural dazu verhalf, so hoch zu steigen, war auch die Ursache, die den Niedergang des Urals in der Blütezeit des Kapitalismus herbeiführte." 1 1 Neue Betriebe des Berg- und Hüttenwesens entstanden in Rußland nur wenige. Aber die bestehenden konnten durch Einführung neuer Methoden ihre Produktion etwas erweitern und deren Qualität verbessern. In dem 1795 gegründeten Betrieb zu Lugansk am Donez wurde zu Beginn der dreißiger Jahre der Bau eines Hochofens zum Schmelzen von Roheisen auf Steinkohle beendet, womit eine er$te Bresche in die noch dominierende Verhüttung mit Holzkohle geschlagen wurde. Der Stand der Schmelztechnik war aber im allgemeinen niedrig. Einmal war der Bedarf noch kein genügender Stimulus zu Verbesserungen. Zum anderen verfügten die russischen Meister noch nicht über die notwendigen Fertigkeiten für die Arbeit mit den neuen Anlagen. 1834 wurden daher einige von ihnen zum Studium der neuen Verfahren in der Roheisengewinnung nach Schlesien gesandt, in dessen Berg- und Hüttenwesen sich bis zu den vierziger Jahren des 19. Jh. eine ganze Reihe kapitalistisch betriebener Unternehmen entwickelt hatte. Mit der Erhöhung der Beschäftigtenzahl in der verarbeitenden Industrie auf ungefähr das Zweieinhalbfache, von ca. 211000 im Jahre 1825 auf etwa 565100 im Jahre 1860, ging eine Zunahme der Lohnarbeit Hand in Hand, die die Leibeigenenarbeit nach und nach verdrängte. Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, daß die erzwungene Arbeit der Leibeigenen in Industrie und Landwirtschaft im Vergleich zur freien Lohnarbeit höchst unproduktiv war und nicht den wirtschaftlichen Fortschritt bringen konnte, den Rußland benötigte, um sich als Großmacht zu behaupten. Betrug der Anteil der Lohnarbeiter an der Gesamtzahl der in der verarbeitenden Industrie Rußlands Beschäftigten 1825 erst 54,4 Prozent, so stieg er 1860 auf 87 Prozent an. Dennoch war die Leibeigenenarbeit noch weit verbreitet. Im Berg- und Hüttenwesen, in der Zucker-, Branntwein-, Salpeter-, Pottasche- und Tuchindustrie herrschte sie deutlich vor. Bis 1861 stieg die absolute Zahl der leibeigenen Arbeiter sogar noch an, obwohl sich die Relation zwischen Lohnarbeitern und leibeigenen Arbeitern zugunsten der Lohnarbeiter veränderte. Zu Beginn der sechziger Jahre waren immerhin noch 44 Prozent aller Beschäftigten Leibeigene. Der Mangel an freien Arbeitskräften als Folge der Leibeigenschaft war neben der niedrigen Kaufkraft von Millionen leibeigener Bauern, die zu einer Einengung des Binnenmarktes führte, das Haupthindernis für die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse in der Industrie. Dennoch kann man schon für die Jahrzehnte vor den Reformen auch in den Zweigen, in denen die Leibeigenenarbeit noch vorherrschte, zumindest von einer verstärkten Tendenz zur Anwendung der Lohnarbeit sprechen. Deutliche Fortschritte konnten in den vierziger und fünfziger Jahren jedoch nur in der auf kapitalistischer Grundlage arbeitenden Industrie erzielt werden, während die auf feudaler Grundlage arbeitende Industrie keine wesentliche Weiterentwicklung zeigte oder sogar verfiel. Insgesamt gesehen konnte die russische Industrie vor 1861

11 Lenin, W. I., Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, a. a. O., S. 498.

112

Rußland von 1825 bis 1861

infolge der hemmenden Wirkung der feudalen Produktionsweise die zunehmenden Bedürfnisse des Landes nicht befriedigen,- geschweige denn mit der Entwicklung des Industriepotentials in den fortgeschrittenen Ländern Schritt halten. Neben dem Wachstum der Bevölkerung waren die Entwicklung von Industrie und einfacher Warenproduktion, die zunehmende Vermögensdifferenzierung der Bauernschaft und die Aktivitäten der Bourgeoisie sowie die wirtschaftliche Spezialisierung einzelner Gebiete des Landes die wichtigsten Faktoren, die — freilich in den von der Leibeigenschaft gezogenen engen Grenzen — die Entfaltung des Binnen- wie auch des Außenhandels förderten. Der gesamtrussische Markt, dessen Herausbildung bereits im 17. Jh. begonnen hatte, entwickelte sich weiter. Der Binnenhandel erreichte in den fünfziger Jahren einen Umsatz von ungefähr 1 Milliarde Rubel. Ein Zentrum des gesamtrussischen Handels war die Messe von Nishni-Nowgorod — die größte Messe Rußlands —, die alljährlich im Sommer stattfand. Noch in den zwanziger Jahren des 19. Jh. galt sie als Umschlagplatz für den Handel Rußlands mit Asien, namentlich für den mit China betriebenen Handel, dessen Hauptobjekte Tee und Pelzwaren waren. Später nahmen Erzeugnisse der russischen Industrie, besonders der russischen Textilindustrie, einen immer größeren Raum ein und verwiesen den Teehandel auf den zweiten Platz. Haupthändler auf der Messe in Nishni-Nowgorod waren russische Bauern und Kaufleute. Neben ihnen fanden sich chinesische, englische, deutsche, türkische und iranische Kaufleute sowie Kaufleute aus Buchara ein.. Am Zusammenfluß von Oka und Wolga gelegen, verfügte Nishni-Nowgorod über eine ideale Lage, für seine weitere Entwicklung zu einem bedeutenden Handelszentrum. Betrugen die Umsätze 1817 noch 19,8 Millionen, 'so erreichten sie 1841 schon 41,7 Millionen; 1851 stiegen sie auf 52,9 Millionen und 1861 auf 83,6 Millionen Rubel. Neben der Erweiterung des Binnenhandels stieg auch die Bedeutung des Außenhandels. Von 1826 bis 1830 betrug sein Jahresumsatz 153,62 Millionen Rubel; von 1841 bis 1845 wuchs er auf 252,18 Millionen Rubel an. Das zeugt davon, daß Rußland stärker in den sich erweiternden kapitalistischen Weltmarkt einbezogen wurde, wobei freilich nicht übersehen werden darf, daß der Anteil Rußlands am Welthandel nur 3,6 Prozent betrug. Im Handel Rußlands mit anderen europäischen Ländern machte in den vierziger Jahren die Ausfuhr von Getreide, von Rohstoffen und in geringerem Umfang von Halbfabrikaten 96 Prozent, die von Industrieerzeugnissen jedoch nur 4 Prozent aus. In ihm nahm England den ersten, Preußen den zweiten und Frankreich den dritten Platz ein. Im Asienhandel Rußlands, in dem die Handelsverbindungen mit China besonders große Bedeutung hatten, belief sich die Ausfuhr von Industrieerzeugnissen auf 60 Prozent. Überwog im Handel Rußlands mit den Staaten Asiens der Industriesektor, so dominierte im Handel mit europäischen Staaten eindeutig der Agrarsektor. Die Produktion der russischen Manufakturen und Fabriken konnte mit der west- und mitteleuropäischen keineswegs konkurrieren. Die Steigerung des Exports landwirtschaftlicher Produkte bedeutete aber eine Zunahme der Kaufkraft der exportierenden Gebiete und damit unter anderem eine Erhöhung der Nachfrage nach Erzeugnissen der russischen Industrie. Auf diese Weise förderte der Export indirekt die einheimische Industrieproduktion. Einführen mußte Rußland neben verschiedenen Luxusartikeln vor allem Rohbaumwolle, Baumwollgarn, Baumwoll- und Ledererzeugnisse, Chemikalien und Instrumente sowie die für den beginnenden Übergang von der Manufaktur zur Fabrik und

Krise der feudalen Wirtschaft

113

für das Transportwesen erforderlichen Maschinen, soweit sie nicht im Lande selbst hergestellt werden konnten. Die Erweiterung von Produktion und Handel erforderte eine Verbesserung von Transportwesen und Verkehrsnetz, die beide den Anforderungen der Wirtschaft keineswegs entsprachen, im Gegenteil ihre Entwicklung behinderten. Ihr mangelhafter Zustand erhöhte nicht nur den Preis, sondern verhinderte oft auch den Absatz der Waren und verlangsamte dadurch den notwendigen Kapitalumlauf. Der Zustand von Transportwesen und Verkehrsnetz war so schlecht, daß beispielsweise das Getreide aus dem Gebiet der unteren Wolga oft erst zwei Jahre nach der Ernte in Petersburg eintraf. Die Regierung trug im allgemeinen wenig dazu bei, diesen Mangel zu beseitigen. Ihre Maßnahmen erwiesen sich als völlig ungenügend. Der Ausbau der Verkehrswege machte in Rußland nur langsam Fortschritte. Er konzentrierte sich vor allem auf die Umgebung von Petersburg, Moskau und Warschau. Die Entwicklung des für Rußland wichtigen Wasserstraßennetzes durch die Schaffung von Kanälen, die bereits im 18. Jh. einsetzte, wurde zwar gefördert, aber die notwendige Weitsicht und Aktivität fehlten. Auch der Mechanisierung des Schiffsverkehrs wurde eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt. Dennoch spielten die Treidler nach wie vor eine wichtige Rolle. In der Schiffahrt nahm der Dampfschiffverkehr nur langsam zu. Auf der Ostsee, auf dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer sowie auf Newa, Wolga und Dnepr wurden in den dreißiger, vor allem aber in den vierziger und fünfziger Jahren Dampfschiffverbindungen eingerichtet. Bereits Anfang der dreißiger Jahre war eine Dampfschifffahrtsgesellschaft gegründet worden, die Petersburg und Lübeck verband. Sie brachte so reichen Ertrag, daß ihre Aktien, die zum Kurs von 500 Rubeln ausgegeben worden waren, im März 1835 auf 1450 und bald auf 1800 stiegen. 1849 nahm bei NishniNowgorod das erste bedeutende Maschinenbauunternehmen seine Tätigkeit auf, in dem auch Aufträge zum Bau von Dampfschiffen ausgeführt wurden. Gegen 1850 verfügte Rußland über ungefähr'100 Dampfer, am Vorabend der Reformen waren es 200. Für den großzügigen Bau von Eisenbahnen fehlte der Regierung vor allem das notwendige Kapital. Trotzdem wurde Mitte der dreißiger Jahre wie in anderen Ländern Europas und in Amerika mit dem Bau von Eisenbahnen begonnen. Von 1835 bis 1837 entstand die knapp 27 Kilometer lange Eisenbahnlinie zwischen Petersburg und Zarskoje Selo, deren ganze Ausrüstung, einschließlich Schienen und Lokomotiven, aus England eingeführt wurde. Der Bau war einer von dem österreichischen Ingenieur Gerstner gegründeten Aktiengesellschaft zu verdanken, an der auch der russische Adel beteiligt war. 1848 und 1859 folgten die Strecken Warschau—Wien und Petersburg—Warschau. Gerstner legte auch die Pläne für den Bau der Eisenbahnverbindung zwischen Petersburg und Moskau vor. Sie sollte die Transporte, für die bis dahin vier Wochen benötigt wurden, in drei Tagen verwirklichen. 1851 wurde der reguläre Verkehr auf der Strecke Petersburg—Moskau aufgenommen, deren Bau bereits 1843 begonnen worden war. Die Strecke Petersburg—Moskau war für die russische Volkswirtschaft wichtig, da sie vor allem die Verbindung zu einem wichtigen Ostseehafen herstellte. 1861 betrug damit die Gesamtlänge des russischen Eisenbahnnetzes ohne die Strecke Warschau—Wien ca. 1600 Kilometer, während sie sich in Deutschland auf etwa 10700 Kilometer und in England sogar auf ungefähr 16000 Kilometer belief. In den riesigen Weiten des Landes, in denen dem Ausbau des Eisenbahnnetzes 8

Straube/Zeil, Feudalismus

114

Rußland von 1825 bis 1861

eine besonders große Bedeutung zukam, nahmen sich diese etwa 1600 Kilometer wie ein Tropfen auf den heißen Stein aus. Die Entfaltung von Industrie und Handel sowie die Bevölkerungszunahme mit ihrer erhöhten Nachfrage nach Lebensmitteln stellten an die Landwirtschaft — den wichtigsten Sektor der russischen Wirtschaft — in zunehmendem Maße höhere Anforderungen. Die Durchsetzung des Kapitalismus im Dorf war vom Ausbau der Marktbeziehungen der Bauern und der Gutsbesitzer abhängig: Die Bemühungen eines großen Teils der Gutsbesitzer um-einen Anschluß an den Markt zur Gewinnung des notwendigen Bargeldes führten dazu, daß die Agrarproduktion sich fester mit dem Binnen- und Außenhandel verband und deutlich ausgeprägten Warencharakter annahm. Die Gutswirtschaften lieferten 90 Prozent des Getreides auf den Markt. Die Folge der weiteren Entwicklung der Ware-Geld-Beziehungen war eine rascher fortschreitende Zersetzung des Feudalsystems in der Landwirtschaft. Lenin wies darauf hin, daß die „Getreideproduktion der Gutsherren für den Verkauf, die sich in der letzten Zeit der Leibeigenschaft besonders entwickelte", bereits ein „Vorbote des Zerfalls des alten Regimes" war 1 2 und den inneren Markt für den Kapitalismus schuf. Vom Grad der Durchsetzung des Kapitalismus im Dorf hing es wiederum ab, inwieweit der Bauer als Käufer von Industrieerzeugnissen in Erscheinung treten konnte. Die Absatzmöglichkeiten der russischen Industrie auf dem Binnenmarkt spiegelten somit die Fortschritte oder Hemmnisse der kapitalistischen Produktionsweise in der Landwirtschaft wider. Die Umteilungsgemeinde, die dem Bauern einerseits Schutz vor völliger Verarmung bot, erwies sich andererseits als ein Hindernis für die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft. Ihr Fortbestand behinderte die Intensivierung und Rationalisierung des bäuerlichen Wirtschaftsbetriebes, erschwerte wegen der periodisch wiederkehrenden Umteilungen des Ackerlandes eine Entfaltung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft und eine Steigerung der. landwirtschaftlichen Produktion. Bot sie doch einen geringeren Anreiz, durch Düngung, Bewässerung und andere Meliorationen die Fruchtbarkeit des Bodens zu erhöhen. Der Bauer, der mit der Möglichkeit rechnen mußte, das von ihm bestellte Land bei der nächsten Umteilung an andere abgebeA zu müssen, war oft nicht gewillt, größere Investitionen für eine Steigerung der Erträge zu machen. Auch die gemeinsame Haftpflicht der Gemeinde wirkte hemmend, da der einzelne befürchten mußte, für Zahlungen anderer herangezogen zu werden. Als nachteilig für eine rationelle, der kapitalistischen Wirtschaftsweise entsprechende Bewirtschaftung erwies sich die Umteilungsgemeinde ferner durch die Zersplitterung der Landanteile. Bei der Aufteilung des Anteillandes ging man, da die armen Gemeindemitglieder das nötige Geld nicht aufbringen konnten, zu einer die Leistungkraft des Hofes mit berücksichtigenden Umteilung über. Die wohlhabenden Bauern, mitunter auch die stärkeren Mittelbauern, erhielten mehr Land. Durch Neuumteilung des Anteillandes sollte die Aufbringung der Gelder, die abzuführen waren, erleichtert werden. Da die materielle Situation der einzelnen Höfe Schwankungen unterworfen war, erwiesen sich häufige Umteilungen als notwendig. Die Regierung begünstigte diese Praxis und hielt an der Umteilungsgemeinde fest, weil die gemeinsame Haft größere Sicherheit bot, daß die Gelder tatsächlich eingingen. 12 Ebenda, S. 186.

Krise der feudalen Wirtschaft

115

Die wichtigste Aufgabe der Gutsbesitzer unter den Bedingungen der verstärkten Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten und der Erweiterung der Marktbeziehungen wäre die Erhöhung der Arbeitsproduktivität und der Rentabilität ihrer Güter gewesen. Trotz der grundsätzlichen Einsicht in die Notwendigkeit einer Steigerung der Marktproduktion erkannten nur wenige Großgrundbesitzer vor allem in den baltischen Gouvernements und teilweise auch im zentralen Industriegebiet, daß neben der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Einführung der freien Lohnarbeit die Verbesserung der landwirtschaftlichen Technik und die Anwendung vollkommenerer, rationellerer Methoden die Voraussetzung dafür waren. Auf der Suche nach Mitteln zur Erweiterung der Warenproduktion unternahmen sie nach dem Beispiel Westeuropas Versuche, durch Übergang zum intensiven Ackerbau, durch Einsatz von modernen landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten, durch neue Verfahren der Bodenbearbeitung und -nutzung, durch Einstellung ausgebildeter Ökonomen sowie durch bewußte Bevorzugung der produktiveren freien Lohnarbeit ihre Wirtschaften zu rationalisieren. Das beweisen u. a. die landwirtschaftlichen Ausstellungen, die seit 1843 auf Initiative von Gutsbesitzern und wohlhabenden Bauern in verschiedenen landwirtschaftlichen Gebieten veranstaltet wurden und auf denen vervollkommnete landwirtschaftliche Geräte sowie Muster verbesserter oder neugezüchteter Getreidesorten und anderer Kulturen ausgestellt wurden. Kennzeichnend für das Streben einzelner nach einer gewissen Vervollkommung der Landwirtschaft war auch die Gründung besonderer Fabriken für die Herstellung eigener landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte, um den Import einschränken und einen höheren Profit erzielen zu können. Die 1830 unter der Ägide der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft erfolgte Gründung der Fabrik der Gebrüder Butenop in "Moskau war ein Markstein in der Entwicklung dieses Industriezweiges. Zwischen 1833 und 1846 wurden in dieser Fabrik Maschinen im Werte von 3,6 Millionen Rubeln hergestellt. Um 1850 gab es nach offiziellen Regierungsberichten 19 solcher Fabriken in verschiedenen Gouvernements Rußlands. Quellen aus den vierziger und fünfziger Jahren enthalten Hinweise auf neue Geräte und Maschinen, besonders Dreschmaschinen, die auf einigen Gutswirtschaften Anwendung fanden. Alte, zum Teil mit der Entwicklung der Industrie aufs engste verbundene Zweige von Ackerbau und Viehzucht, wie der Zuckerrüben- und der Tabakanbau, wurden erweitert und neue, wie die Anlage von Maulbeerbaumplantagen sowie die Merinoschaf* und Seidenraupenzucht, entstanden. Die wirtschaftliche Erschließung von Neuland, vor allem im Süden und Südosten Rußlands, aber auch in Sibirien, ging voran. Für den Fortschritt in der Landwirtschaft aufgeschlossene Gutsbesitzer ergriffen in den dreißiger bis fünfziger Jahren in ihrem eigenen Interesse die Initiative zur Gründung neuer landwirtschaftlicher Gesellschaften. Ihr Ziel bestand darin, gemeinsam mit der „Freien Ökonomischen Gesellschaft" Maßnahmen zur Hebung der Agrarproduktion zu erarbeiten und zu propagieren. Einige dieser Gesellschaften gaben landwirtschaftliche Fachzeitschriften heraus, in denen Fragen der Intensivierung der Landwirtschaft behandelt wurden. Diese Gesellschaften und die von ihnen herausgegebenen landwirtschaftlichen Zeitschriften spiegeln freilich nur die Interessen jener Minorität der Gutsbesitzerklasse wider, die auf ihren Gütern moderne Geräte und Maschinen sowie Methoden einer besseren Bodenbearbeitung und -nutzung einführte. Für einen breiten Vorstoß in dieser Richtung fehlten vor allem das nötige Betriebskapital und die erforderlichen freien Lohnarbeiter.

116

Rußland von 1825 bis 1861

Alle Erfolge in Richtung auf die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse in der Landwirtschaft gingen jedoch noch immer in derem rückständigen Gesamtsystem unter, in dem nach wie vor veraltete Methoden der Bodenbearbeitung und -nutzung sowie eine primitive landwirtschaftliche Technik dominierten und für das folglich niedrige Ernteerträge charakteristisch waren, die nach Naturkatastrophen und Mißernten immer wieder zu Hungersnot führten. Die große Masse der Gutsbesitzer dachte gar nicht daran, die Technik und die Methoden in der Landwirtschaft zu verbessern. . Ein Teil von ihnen lebte in der Regel nicht auf seinen Besitzungen und besaß daher oft keinen genauen Überblick über seine Einnahmen und Ausgaben. Die Einkünfte aus den unrentabel wirtschaftenden Gütern des grundbesitzenden Adels verringerten sich immer mehr, so daß dessen Vermögenslage sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verschlechterte. Wenn das Geld für eine parasitäre Lebensweise nicht reichte, dann verpfändeten die Gutsbesitzer ihre Güter und ihre Leibeigenen an die Banken Rußlands oder borgten sich Geld von Privatwucherern. 1859 waren von 10 Millionen männlichen Leibeigenen 66,3 Prozent in Pfandlisten russischer Banken eingetragen. Auch verkauften die Gutsbesitzer bisweilen ihre leibeigenen Bauern ohne Land. Aber selbst der Verkauf leibeigener Bauern brachte nicht mehr den früheren Gewinn, da die Preise schnell fielen. Verarmte Gutsbesitzer gaben ihre immer mehr verfallenden Wirtschaften oft ganz auf und zogen auf gut Glück in die Stadt, wo sie sich um Beamtenposten bemühten. So machten kurz vor der Aufhebung der Leibeigenschaft die Gutsbesitzer, die ihre Wirtschäften zu rationalisieren suchten, ganze 3—4 Prozent aus. Eine allmähliche Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion und damit ihrer Einkünfte suchte die Mehrheit der Gutsbesitzer nicht auf intensivem, sondern auf extensivem Wege zu erreichen, also nicht durch Rationalisierung, sondern durch Erweiterung der Anbauflächen und durch wirtschaftliche Erschließung neuer, dünn besiedelter Gebiete. Voraussetzung für eine Erweiterung der Aussaatflächen waren zugängliche Landreserven, die in größerem Umfang nur in den südlichen und südwestlichen Gebieten des Landes vorhanden waren. Nicht selten griffen die Gutsbesitzer zu den traditionellen Mitteln: zur Erhöhung der Fron zum Teil auf fünf oder sogar sechs Tage in der Woche oder zur Heraufsetzung des Geldobroks. Eine weitere Methode der Gutsbesitzer zur Steigerung der Produktion für den Markt und zur Erhöhung der Einkünfte waren die Erweiterung der Anbauflächen um Bauernland, d. h. die Einschränkung der bäuerlichen Bodenanteile, und die Verdrängung von Bauern von ihrem Grund und Boden, was besonders in den fruchtbaren Schwarzerdegouvernements vorkam. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß die Bodenanteile der Bauern infolge der Zunahme der Landbevölkerung und die der armen Bauern infolge der ungerechten Umverteilungen ohnehin schon immer kleiner wurden. Natürlich zog die Vergrößerung des' Gutsareals auf Kosten des Bauernlandes eine Erweiterung und Intensivierung der Frondienste bzw. anderer Leistungen nach sich. Die Mehrheit der Bauern allerdings konnte die Zunahme der feudalen Abgaben mit ihren wachsenden materiellen Möglichkeiten kpmpensieren. 13 „Die Erhöhung der Produktivität der bäuerlichen Wirtschaften erwies sich als groß genug", schrieb der sowjetische Historiker Ryndsjunski, „um der wachsenden Begehrlichkeit der aus13 Koval'cenko, I. D./Milov, L. V., Ob intensivnosti ekspluatacii obrocnych krest'jan Central'noj Rossii v konce XVIII — pervoj polovine XIX veka. In: Istorija SSSR (1966), Nr. 4, S. 55ff.; dieselben , Esce raz o metodike izucenija intensivnosti ekspluatacii obroönogo krest'janstva, ebenda (1967), Nr. 2, S. 223ff.

Krise der feudalen Wirtschaft

117

beutenden Gutsbesitzer zu begegnen und die Lebensbedürfnisse der Bauern zu befriedigen; ja zeitweise reichte sie sogar aus, den sich herausbildenden kapitalistischen Wirtschaftsbetrieb mit Anfangskapital zu versorgen." 14 „Die Produktivitätssteigerung der bäuerlichen Wirtschaft war durch deren innere Umstrukturierung bedingt: durch die Verstärkung der Marktbeziehungen, durch die Vergrößerung der bäuerlichen Handels- und Gewerbetätigkeit, durch die Verdingung der Bauern als Lohnarbeiter über einen langen Zeitraum an weit entlegenen Orten und durch die Verstärkung ihrer Beziehungen zur Stadt." 15 War eine Weiterentwicklung der Industrie Rußlands nur auf kapitalistischer Grundlage möglich, so konnte im Agrarsektor eine beachtliche Steigerung der Produktion trotz Verstärkung der feudalen Ausbeutung der Bauern und anderer Hemmnisse nur in der bäuerlichen Wirtschaft erzielt werden, während die auf feudaler Grundlage betriebene Gutswirtschaft eine Zeit der Stagnation und des Verfalls erlebte. Die vierziger und fünfziger Jahre waren durch die intensivste Produktivitätssteigerung der bäuerlichen Wirtschaft Rußlands in der ganzen Epoche des Feudalismus gekennzeichnet. Die Entwicklung der bäuerlichen Wirtschaft, in der die Arbeitskraft der ganzen Familie immer stärker ausgenutzt wurde, um die zunehmende feudale Ausbeutung zu kompensieren, nimmt unter den Faktoren, die die Aufhebung der Leibeigenschaft bewirkten, einen bedeutenden Platz ein. Die Leibeigenschaft erwies sich als das Haupthindernis für die gesamte Entwicklung Rußlands. Der Kampf gegen diese Institution war der wichtigste Bestandteil des übergreifenden Ringens um eine bürgerlich-demokratische Umgestaltung Rußlands. Er war denn auch das Kernstück aller antifeudalen Massenbewegungen und aller politisch-ideologischen Auseinandersetzungen zwischen dem Zarismus und seinen Gegnern in den Jahrzehnten vor den Reformen. Ein weiteres Festhalten an der überlebten feudalen Produktionsweise, deren Existenz an die Vorherrschaft der Naturalwirtschaft, an die Ausstattung des unmittelbaren Produzenten mit Produktionsmitteln überhaupt und mit Boden im besonderen, an die persönliche Abhängigkeit des Bauern vom Grundherren sowie an „eine äußerst niedrige und zur Routine erstarrte Technik"1® geknüpft war, mußte unter den Bedingungen der schnellen Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab sowie des Wachstums kapitalistischer Verhältnisse in Industrie und Landwirtschaft und der sozialen Wandlungen in Rußland zwangsläufig zu einer Verschärfung der Krise des Feudalismus führen. Diese Krise, die durch die Ungleichmäßigkeit der sozialökonomischen Entwicklung des Riesenreiches mit dem unterschiedlichen kulturellen Niveau seiner Völker kompliziert wurde, umfaßte Basis und Überbau. Wir haben es also mit einer umfassenden Krise des gesamten Feudalsystems zu tun. Bereits in den dreißiger und vierziger Jahren hatte sich gezeigt, daß auf der Grundlage der welthistorisch überlebten Feudalordnung die notwendige Entfaltung der Produktivkräfte Rußlands nicht mehr möglich war. Zwischen dem erreichten Stand der Produktivkräfte und der weiteren Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse einer14 Ryndzjunskij, P. G., Einige Probleme der sozialökonomischen Entwicklung Rußlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Genesis, a . a . O . , S. 243; derselbe, Ob opredelenii intensivnosti obrocnoj ekspluatacii krest'jan Central'noj Rossii v konce XVIII — pervoj polovine XIX v. In: Istorija SSSR (1966), Nr. 6, S. 44ff. 15 Derselbe, Einige Probleme, a. a. 0.,"S. 243. 16 Lenin, W. I., Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, a. a. O., S. 186f.

118

Rußland von 1825 bis 1861

seits und den noch vorherrschenden feudalen Produktions- und reaktionären Machtverhältnissen andererseits klaffte ein tiefer Widerspruch. Seine Lösung, die zur Herausbildung einer neuen Klassen- und Sozialstruktur und zu Veränderungen im gesellschaftspolitischen System führen mußte, stand auf der Tagesordnung. Die revolutionäre Situation von 1859 bis 1861, in der die umfassende Krise des Feudalsystems in Rußland kulminierte, machte dies besonders deutlich. „Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus vollzog sich nirgends synchron, gleichlaufend; einige Länder stürmten auf Grund ihrer günstigen wirtschaftlichen Entwicklung voran, andere blieben zurück". 1 7 Dieser vielschichtige Prozeß wies bei aller Gleichartigkeit seiner Hauptetappen in allen Ländern dennoch in jedem Land Eigentümlichkeiten auf, „entsprechend den jeweiligen natürlichen, bevölkerungsmäßigen und gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen" 18 . Die Geschichte Rußlands in der Übergangszeit 1789—1861 bestätigt dies. Die fortschrittliche Rolle der bäuerlichen Wirtschaft in der sozialökonomischen Entwicklung und die Hindernisse, die die Leibeigenschaft ihrer weiteren Entfaltung in den Weg legte, waren, wie Kowaltschenko nachgewiesen hat, die objektive Grundlage dafür, daß in . Rußland die Lösung" der Agrarfrage zur Hauptfrage des gesellschaftlichen Lebens wurde. 19 Die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 war deshalb ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung Rußlands, die sich im Sinne der welthistorischen Gesetzmäßigkeit der Ablösung einer ökonomischen Gesellschaftsformation durch die andere vollzog. Sie war die Scheidewand zwischen Feudalismus und Kapitalismus in Rußland.

17 Druzinin, N. M., Besonderheiten der Genesis des Kapitalismus in Rußland. In: Genesis, a. a. O., S. 37. 18 Ebenda. 19 Koval'cenko, I. D., Russkoe krepostnoe krest'janstvo, a. a. O., S. 385.

Kapitel VI Das nikolaitische Regime und der antifeudale Kampf der Volksmassen Rußlands Die harte Abrechnung Nikolaus' I. mit den Dekabristen war der Beginn einer sich über ganz Rußland ausbreitenden verstärkten Reaktion in allen Bereichen. Seine innenpolitische Hauptaufgabe sah der Zarismus darin, seine Stellung weiter zu festigen, die zunehmende Massenbewegung der Bauern einzudämmen und alle revolutionären Tendenzen, die eine Gefahr für den Bestand des Regimes bedeuten konnten, mit den Wurzeln auszurotten. Das Regime Nikolaus' I. (1825—1855) stellte keinen qualitativ neuen Abschnitt in der Innenpolitik Rußlands dar. Es war vielmehr die Fortsetzung der vorangegangenen Regietungen, aber eine „vervollkommnete", in ein System gebrachte Fortführung, die sich auf eigens zu diesem Zweck geschaffene Institutionen und erlassene Verfügungen gründete. Das erneuerte und verfeinerte System der Innenpolitik Nikolaus' I. unterschied sich auch dadurch von dem seiner Vorgänger, daß in ihm weder ein Araktschejew noch ein anderer Favorit eine dominierende Rolle spielen konnten. An der Spitze des ungewöhnlich verzweigten und komplizierten Staatsapparates stand nur der Zar. Die Autokratie erfuhr in diesen drei Jahrzehnten ihre höchste Ausformung. Sie stützte sich auf Polizei, Bürokratie und Militär. Die Außenpolitik Nikolaus' I., die unter der Flagge des „Legitimismus" betrieben wurde, sollte der Erhaltung der Großmachtstellung Rußlands dienen. Im Geiste der „Heiligen Allianz", als deren treuester Willensvollstrecker sich Nikolaus I. fühlte, orientierte sie grundsätzlich auf die Bekämpfung liberaler Regungen, nationaler Befreiungsbewegungen und revolutionärer Erhebungen sowie auf die Konsolidierung aller reaktionären Kräfte, um den Siegeszug der bürgerlich-demokratischen Revolution in Europa auf- oder zumindest von Rußland fernzuhalten. Der republikanischliberal gesinnte französische Schriftsteller Alexandre Dumas der Ältere, der 1858—1859 eine Reise durch Rußland und den Kaukasus unternahm, gab eine sehr treffende Charakteristik von Nikolaus I. und seinem Regime: „Keiner glaubte mehr als er an sein Herrscherrecht, keiner unterzog sich mehr als er der Pflicht, das Königtum in allen Teilen Europas zu verteidigen. Während der dreißig Jahre seiner Regierung hielt er unablässig Wache. Er wachte über die europäische Legitimität wie die Brandwächter, die in allen Städten seines Reiches das Signal geben, wenn ein Feuer ausgebrochen ist. Er gab nicht nur das Signal, das die Revolution anzeigte, sondern hielt sich auch stets in Bereitschaft, sie zu ersticken — sei es im eigenen Land, sei es anderwärts." 1 Der Vaterländische Krieg Rußlands und die folgenden Jahre hatten in dem 1796 geborenen Nikolaus die Überzeugung gefestigt, daß das russische Reich alle anderen Staaten an Größe und Macht weit überrage. Eine Reise des Zwanzigjährigen durch 1 Dumas, A., Reise durch Rußland, (2. Aufl.) Berlin (1970), S. 2661.

120

Rußland von 1825 bis 1861

Rußland und Westeuropa, die die Krönung seiner Ausbildung sein sollte, hatte ihn in dieser Überzeugung bestärkt. Von England, wo er sich drei Monate aufhielt, brachte er eine tiefe Antipathie gegen das parlamentarische Regierungssystem mit dem konstitutionellen Monarchen an der Spitze mit, die ihm zeitlebens eigen blieb. Seine Lehrer erzogen ihn im Geiste des Hasses gegen die Französische Reyolution und ihre Auswirkungen sowie gegen die republikanische Staatsform und weckten in ihm die Ehrfurcht vor der Militärdisziplin und der militärisch-politischen Organisation des preußischen Staates. Mit dem König von Preußen, Friedrich Wilhelm III., dessen Tochter, Prinzessin Charlotte, Nikolaus 1817 geheiratet hatte, verband ihn neben den verwandtschaftlichen Beziehungen eine Gesinnungsverwandtschaft, die sich auch in mehreren Besuchen des Zaren in Berlin kundtat. Eiserne Zucht und blinder Gehorsam waren die Devise Nikolaus'. „Unter diesem Gesichtspunkt", schreibt Dumas, „stand er gewissermaßen dreißig Jahre lang Gewehr bei Fuß und sah sich als den Soldaten Rußlands, alle Russen aber als Soldaten an und dehnte den Gamaschendienst ins Maßlose aus. Seine Herrschaft war eine reine Soldatenherrschaft. Jeder in Rußland war Soldat, und wer keine Achselstücke trug, wurde vom Kaiser und von jedermann verachtet." 2 Ein anderer Franzose, der konservative Marquis de Custine, der bereits 1839 Rußland bereiste und ein sehr negatives-Urteil über das „düstere und einförmige" Land fällte, stellte fest, daß dort „das Prinzip des Despotismus immer mit einer mathematischen Strenge (wirkt) und das Resultat dieser äußersten Consequenz . . . eine äußerste Unterdrückung (ist)". 3 Der Zar zog die Zügel nicht nur in der Armee, sondern im ganzen Leben des Staates immer straffer an. Ihm schwebte ein Polizeistaat, ein uniformierter Staat in des Wortes doppelter Bedeutung vor. Die wichtigsten Verwaltungsposten an der Spitze der Gouvernements wurden mit Militärs besetzt. Die Reise des Zaren durch das Reich, die jedes Jahr einige Monate seiner Zeit in Anspruch nahmen, sollten der Kontrolle der „Ordnung", wie er sie verstand, dienen. Kritisches Denken und selbständige Mitarbeit riefen sogleich seinen Argwohn hervor. Kritik wurde mit Unrecht identifiziert. Tausende von Menschen wurden auf den geringsten Verdacht hin verhaftet. Ungehorsame wurden nach Sibirien verbannt oder mußten Spießruten laufen, wobei sie nicht selten zu Tode geprügelt wurden. Eine gewisse Rolle in der Politik Nikolaus' I. spielten die Gegensätze zwischen der russischen und der deutschen „Partei" in Petersburg. Der Zar zeigte eine deutliche Sympathie für die Deutschen seiner Umgebung, die zumeist aus einer der drei Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland stammten. Sie hatten bedeutende Posten in der Armee inne und verfügten über feinen starken Einfluß in den Ministerien, vor allem im Finanz- und im Außenministerium. Das prozentuale Verhältnis im Mitarbeiterstab des Zaren war mit zwei Dritteln für die Deutschen sehr günstig. Charakteristisch für die Regierungszeit Nikolaus' I. war das Streben nach äußerster Zentralisation der Tätigkeit in den Ministerien. Seiner Kaiserlichen Majestät Höchsteigene Kanzlei, die Ende des 18. Jh. entstanden war, wurde zu einem Organ umgebildet, das alle Bereiche der Verwaltung der persönlichen Kontrolle des Zaren unterordnete. In den Jahren von 1826 bis 1842 wurden sechs Abteilungen dieser Kanzlei gegründet. Zu den ersten Maßnahmen Nikolaus' I. gehörte die Reorganisation der 2 Ebenda, S. 267. 3 Custine, Rußland im Jahre 1839, dt. v. A. Diezmann, Bd. 1, Leipzig 1847, S. 211, Bd. 3, Leipzig 1847, S. 393.

Nikolaitisches Regime und antifeudaler Kampf

121

politischen Polizei. Mit dem Ukas vom 3. Juli 1826 wunde die berüchtigte und gehaßte „Dritte Abteilung seiner Kaiserlichen Majestät Höchsteigener Kanzlei" geschaffen, die dem Zaren direkt unterstellt war und mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet wurde. Zum Leiter dieser Institution und zum Chef der gesamten Gendarmerie wurde ein Vertreter des baltischen Adels, Graf Alexander Benckendorff, ernannt. Die Hauptaufgabe der Dritten Abteilung bestand in der geheimen Kontrolle nicht nur verdächtiger Personen und Personengruppen, sondern auch staatlicher Einrichtungen, in der Überwachung des gesamten geistig-kulturellen Lebens sowie in der Aufspürung und Vernichtung aller oppositionellen Strömungen und Tendenzen, vor allem der gefürchteten Geheimgesellschaften. Literatur und Bildungswesen waren nach Meinung Nikolaus' die gefahrlichsten Brutstätten staatsfeindlicher Ideen. Er hielt es für notwendig, seine Untertanen vor jedem Einfluß „verderblicher" Gedanken „väterlich" zu schützen. Diese Aufgabe fiel neben der Dritten Abteilung der 1826 geschaffenen weitverzweigten Zensurbehörde und dem 1828 entstandenen Hauptzensuramt zu. Die 1826 bestätigte neue Zensurordnung war im Geiste äußerster Intoleranz gegenüber jeder freien Äußerung fortschrittlicher Meinungen abgefaßt. Sie führte zu ganz unerträglichen Zuständen. „Alles Gedruckte, Typographierte, Gezeichnete, Gemalte und in Noten Gesetzte, was innerhalb des russischen Reiches erschien, unterlag der Zensur, deren Pflicht es war, die Heiligtümer, den Thron, die von ihm gesetzte Obrigkeit, die vaterländischen Gesetze, die Sitten und die Ehre des Volkes und jedes einzelnen zu schützen, nicht nur vor böswilliger und verbrecherischer, sondern auch vor unbeabsichtigter Schädigung, wobei natürlich alles auf die Interpretation ankam, die diese Begriffe fanden." 4 Die Zensur hatte das Recht, Worte der Verfasser durch andere zu ersetzen und einzelne Ausdrücke zu streichen. Alljährlich wurde der Polizei sowie allen Buchhändlern und Bibliotheken ein Verzeichnis verbotener Bücher zugesandt. Verboten war u. a. die Verbreitung von „spekulativen Werken über Gesetz und Recht" sowie von Schriften, die „schädliche neuzeitliche Philosophien" enthielten, worunter vor allem progressives Gedankengut zu verstehen war. Nur die Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften, an deren Spitze der 1833 zum Volksbildungsminister ernannte Uwarow stand, und des Ministeriums des Auswärtigen wurden nicht zensiert. Die Einfuhr von Neuerscheinungen des mittel- und westeuropäischen Büchermarktes wurde durch eine besondere Abteilung für ausländisches Schrifttum streng überwacht. Gegen Ende der Regierungszeit Nikolaus' I. gab es nicht weniger als ein Dutzend Zensurinstanzen, von denen jede ein Spezialgebiet betreute. So kann man ermessen, daß nicht nur der Literatur und Publizistik, sondern dem ganzen geistig-kulturellen Leben und dem schöpferischen Denken sehr enge Grenzen gesetzt waren. „Man muß in dieser Einsamkeit ohne Ruhe, in diesem Kerker ohne Muße, den man Rußland nennt, gelebt haben", schreibt Custine, „um ganz die Freiheit zu fühlen, die man in den andern Ländern Europas genießt, welche Regierungsform sie auch haben mögen . . . In Rußland fehlt Allem und überall die Freiheit." 5 Diese Kritik eines Mannes, der alles andere als ein Revolutionär war, traf dennoch den Kern der Innenpolitik Nikolaus' I. An der Spitze des Ministeriums für Volksbildung standen ausgesprochene Reak4 Schiemann, Th., Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bd. 2, Berlin 1908, S. 93 f. 5 Custine, Rußland im Jahre 1839, a. a. O., Bd. 3, S. 394.

122

Rußland von 1825 bis 1861

tionäre wie Schischkow, Lieven und Uwarow, die im Interesse der herrschenden Klasse versuchten, der Entwicklung des russischen Volksbildungswesens möglichst enge Grenzen zu setzen. Das zeigt sich u. a. in der Finanzstatistik. Nach Angaben vom Jahre 1842 beispielsweise wurden bei einem Etat von 173 Millionen Rubeln 82 Millionen Rubel dem Kriegs- und Marineministerium und nur 2,7 Millionen Rubel für Bildungszwecke zur Verfügung gestellt. 1855 betrugen die Ausgaben für die Volksbildung gar nur 0,6 Prozent des Etats. 6 Die Folge war, daß trotz gewisser Fortschritte, die im Bildungswesen gegenüber dem 18. Jh. erreicht wurden, der Prozentsatz der Personen, die lesen und schreiben konnten, noch immer äußerst gering war. Bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde die Zeit Nikolaus' L von bürgerlichen Historikern als „traurige und finstere Seite in der Geschichte der russischen Schule" 7 bezeichnet. Die russische Schule sollte vor allem gehorsame Untertanen des Zaren und der orthodoxen Kirche erziehen. Die neue Schulordnung, die 1828 erlassen wurde, änderte an den Regierungsmaßnahmen von 1802 prinzipiell nichts. Nach wie vor blieben den unteren Schichten in der Regel alle Aufstiegsmöglichkeiten verschlossen. Die Universitäten und die siebenklassigen Gymnasien waren 'in erster Linie Kindern des Adels zugänglich. Für Angehörige des Kleinbürgertums waren dreiklassige Kreis- und Stadtschulen, deren Abschluß keine weiteren Bildungsmöglichkeiten bot, für „Leute niederen Standes" nur einklassige Gemeindeschulen vorgesehen. Einer analogen „Reform" wie die Schulen wurden auch die russischen Universitäten unterworfen. Durch Ukas vom 5. Dezember 1833 wurden „Inspektoren" beauftragt, die Studenten allen „schädlichen" gesellschaftlichen und politischen Einflüssen zu entziehen. Sie hatten die Aufgabe, „wachsam, unablässig und zugleich vernünftig in der Universität eine moralische und polizeiliche Aufsicht zu üben", und sollten „ohne jede Unterbrechung das Verhalten der Studenten beobachten, ihre Denkweise erforschen und gleichsam die Seele aller ihrer Bewegungen sein, auch bei ihnen nicht nur zu bestimmten Zeiten, sondern stets erscheinen, wenn die Umstände es erforderten". 8 Eine Folge dieses Ukases war die Uniformierung der Studenten, die als eine unerträgliche Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden wurde. Die „Verordnung über Lehrbezirke" und das neue Universitätsstatut von 1835, das Professoren und Studenten einer noch stärkeren politischen Kontrolle unterwarf, beseitigten die Autonomie der Universitäten selbst in den geringsten Fragen, schränkten die Kompetenz der Universitäten in der Leitung der Bezirkslehreinrichtungen ein, entzogen ihnen die Aufsicht über das niedere Schulwesen und erweiterten die Macht der Rektoren, Kuratoren und Inspektoren sowie des Volksbildungsministers. Die Lehrpläne wurden erheblich gekürzt und die Studiengebühren erhöht. Nach der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 in West- und Mitteleuropa wurden einige Disziplinen, wie das Staatsrecht europäischer Staaten und die politische Ökonomie, verboten, andere, wie die Philosophie, stark beschnitten, um einer Verbreitung der revolutionären Ideen in Rußland vorzubeugen. Einer der beliebtesten Professoren der Moskauer Universität, der Historiker Granowski, durfte seine Vorlesungen über 6 Fal'bork, G./Carnoluskij, V., Narodnoe obrazovanie v Rossii, Petersburg 1896, S. 34. 7 S. A. Knjazkov/N. I. Serbov, Ocerk istorii narodnogo obrazovanija v Rossii do epochi reform Aleksandra II, Moskau 1910, S. 237. 8 Schiemann, Th., Geschichte Rußlands, a. a. O., Bd 3, Berlin 1913, S. 226.

Nikolaitisches Regime und antifeudaler Kampf

123

die Reformation nicht mehr halten. Die Möglichkeiten zu Studienreisen ins Ausland wurden eingeschränkt. Die gleichen Beschränkungen galten auch für die Akademie der Wissenschaften, deren materielle Lage sich stark verschlechterte. Die Universitäten ganz abzuschaffen, was Nikolaus I. zunächst vorschwebte, erwies sich als unmöglich, denn Verwaltung, Wirtschaft und Militär konnten ohne Universitätsabsolventen nicht auskommen. Aber ein eigens gebildetes Sonderkomitee unter dem Vorsitz des Grafen Buturlin schrieb einen Numerus clausus von je 300 Hörern vor. Der Zarismus hoffte, damit die „Erziehung treuer Söhne für die orthodoxe Kirche, ergebener Untertanen für den Zaren sowie guter und nützlicher Bürger für das Reich" zu fördern. Darin sah er die Aufgabe der Universitäten. Wie sehr er sich irrte, zeigt die Tatsache, daß die Universitäten trotz aller Unterdrückungsversuche der Regierung auch unter Nikolaus I. bedeutende Kulturzentren und Mittelpunkte der revolutionären Bewegung im russischen Reich waren. Selbst in dem geschlossenen Kreis der Mitglieder der Akademie, die sich an den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen nicht beteiligte, wuchs die Opposition gegen die akademische Ordnung und „begannen sich bald liberale Stimmungen zu regen", die sich in den fünfziger Jahren immer stärker ausprägten. 9 Über die traurige Situation des russischen Bildungswesens unter Nikolaus I. können diese Entwicklungen aber ebenso wenig hinwegtäuschen wie gewisse Zugeständnisse des Zarismus, zu denen ihn die Bedürfnisse der wachsenden städtischen Bevölkerung, der Aufschwung von Industrie und Handel sowie der weitere Ausbau des Verwaltungsapparates und der Armee zwangen. In ihrem eigenen Interesse organisierte die zaristische Regierung öffentliche Vorträge, ermöglichte einigen wenigen Studenten ein Auslandsstudium, erhöhte die Zahl der Gymnasien von 48 auf 74, schuf Realklassen bei den Gymnasien, in denen seinst Religion, Griechisch und Latein die Hauptfacher waren, und gründete eine Reihe neuer Lehranstalten, wie das Technologische Institut in Petersburg, das Forstinstitut und die Handwerkerschule in Moskau sowie Zeichenschulen in Moskau und Petersburg. Nach der Schließung der Universitäten Warschau und Wilna 1832 im Zusammenhang mit dem polnischen Aufstand von 1830/31 wurde 1834 die Universität Kiew eröffnet. Wenn die Regierung dabei auch immer bpstrebt war, die Interessen des Adels zu wahren, und daher nur ein unbedeutender Teil der Bevölkerung von diesen Bildungsmöglichkeiten profitieren konnte, so spielten diese Maßnahmen objektiv doch eine positive Rolle, indem sie zur Heranbildung einer Intelligenzschicht in Rußland beitrugen. Die Kirchenpolitik Nikolaus' I. 10 orientierte auf die kirchliche Einheit durch Stärkung der vom Staate abhängigen und von ihm beherrschten russisch-orthodoxen Kirche, die sich als wichtiger und einflußreicher Bestandteil und als Stütze seines ganzen Herrschaftssystems erwies. Religiöse Toleranz war nicht das Programm Nikolaus' I. Im Gegenteil, seine Kirchenpolitik, die von 1836 bis 1855 unter der energischen Leitung des Grafen Protassow, eines früheren Kavalleriegenerals, als Oberprokuror des Synods stand, war grundsätzlich gegen alle Nichtorthodoxen gerichtet. Nach außen verfolgte sie das Ziel, alle außerhalb des russischen Reiches lebenden Orthodoxen, namentlich die orthodoxen Slawen, mit dem Zarenreich zu verbinden. Unter 9 Komkov, G. D., Levsin, B. V., Semenov, L. K.., Akademija nauk SSSR. Kratkij istoriceskij ocerk, Moskau 1974, S. 161. 10 Vgl. Winter, E., Rußland und das Papsttum, T. 2: Von der Aufklärung bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Berlin 1961, S. 233ff.; 248ff.

124

Rußland von 1825 bis 1861

dieser Politik hatten die Unierten, die Lutheraner der Ostseeprovinzen und die Juden in gleicher Weise wie die Raskolniki oder Altgläubigen zu leiden, die harten Verfolgungen ausgesetzt waren und von denen viele nach Sibirien verbannt wurden. Die seit der Union von Brest 1596 mit Rom Unierten in der Ukraine, in Litauen und in Belorußland wurden in ihrer Mehrheit mit der russisch-orthodoxen Kirche vereinigt. Diese Rückführung der Unierten zur russischen Staatskirche betrachtete Nikolaus als eine politische Notwendigkeit, wollte er doch die westlichen Gouvernements, in denen die Union heimisch war, besonders an das russische Reich binden. Diesem Plan stand die Union im Wege, die nach seiner Meinung die erstrebte Einheit des Volkes zerriß. Am 1. Januar 1837 wurden die Unierten dem Heiligen Synod unterstellt, obwohl nicht nur rituelle, sondern auch dogmatische Unterschiede zwischen beiden Kirchen bestanden. 1839 war die linierte Kirche Rußlands dem Einfluß des Papsttums weitgehend entzogen, das in ihr den Ausgangspunkt einer Union der gesamten russisch-orthodoxen Kirche mit der römisch-katholischen erblickte. Seine aus einem tiefen Mißtrauen gegen die polnische katholische Geistlichkeit erwachsene starke Abneigung gegen den Katholizismus, die durch den Aufstand der Polen von 1830/31 neue Nahrung erhielt, manifestierte der Zarismus in vorsichtigen, aber doch wirksamen Maßnahmen. Neben der Rückführung der Unierten zur orthodoxen Kirche wurden bereits in den dreißiger Jahren zahlreiche katholische Klöster geschlossen und „Mischehen" verboten. Weitere Schritte gegen die Katholiken wagte der Zar vorerst nicht zu unternehmen. Sie hätten zu einem Bruch mit dem Papsttum und zu einer Gefährdung der konservativen Allianz mit der Habsburgermonarchie geführt. Beides konnte sich das zaristische Rußland nicht leisten. Von dieser Einsicht geleitet, bemühte sich Nikolaus I. in den vierziger Jahren gegen die Pläne des österreichischen Kanzlers Metternich, der die Vermittlung zwischen Rußland und dem Heiligen Stuhl in den Händen behalten wollte, um eine direkte Kontaktaufnahme zum Papst, wie sein Besuch in Rom 1845 zeigte. Nach langen Verhandlungen kam es 1847 zum „Russischen Konkordat", das die Beziehungen zwischen Rußland und dem Heiligen Stuhl klären sollte. Es regelte die Umschreibung der einzelnen Diözesen und den Modus der Ernennung von Bischöfen. Die Bischöfe erhielten größere Macht als bisher. Ihnen wurden nicht nur die Konsistorien, sondern auch die von den katholischen Kirchengemeinden unterhaltenen Schulen unterstellt. Der Metropolit von Mogiljow führte die Aufsicht über die römisch-katholische Akademie in Petersburg. Die Ratifizierung des Konkordats wurde allerdings erst unter dem Eindruck der Revolution von 1848 erreicht, die die beiden reaktionären Kräfte, den Zarismus und das Papsttum, zusammendrängte. Das Konkordat konnte jedoch trotz der Annäherung beide Kontrahenten nicht befriedigen und die Gegensätze zwischen ihnen nicht überwinden. Das „eherne Zeitalter" des nikolaitischen Regimes lastete schwer auf dem russischen Reich. Die großen Ereignisse, mit denen die dreißiger Jahre eingeleitet wurden, die Julirevolution in Frankreich, die Revolution in Belgien und der Aufstand in Kongreßpolen, hatten Nikolaus I. für die Stimmungen in der russischen'Gesellschaft sehr hellhörig gemacht. Mit wachsendem Mißtrauen verfolgte er die Symptome, die darauf hinwiesen, daß es im Reich zu gären begann und daß die revolutionären Ideen Westund Mitteleuropas in Rußland auf fruchtbaren Boden fielen. Die Bauernunruhen verdeutlichten, daß die bäuerliche Landbevölkerung die Gutsbesitzer und Beamten als Ausbeuter haßte und daß dieser Haß letztlich einer — wenn auch oft noch

Nikolaitisches Regime und antifeudaler Kampf

125

spontanen — Ablehnung der ganzen Feudalordnung gleichkam. Unterstützt wurde diese bäuerliche Opposition von der bewußten Frontstellung fortschrittliche! Kräfte des Adels und der Rasnotschinzen gegen das Feudalsystem in Rußland. So sah sich der Zarismus zwei großen antifeudalen Strömungen gegenüber. Polizeiliche Repressalien, Zensurschikanen und Bildungsmanipulationen genügten dem Zarismus nicht mehr. In seinem Bemühen, jede freiheitliche Regung zu unterdrükken, schuf er die Ideologie der „offiziellen Volksverbundenheit", deren Hauptprinzipien die „schützenden Grundsätze der Rechtgläubigkeit, der Selbstherrschaft und der Volksverbundenheit" waren. Ihr Ziel bestand in der Unterordnung des russischen Volkes unter Zar und Kirche. Volksbildungsminister Uwarow legte sie der gesamten Kultur- und Bildungsarbeit zugrunde. Uwarow war zwar ein Mann von klassischer Bildung, richtete aber durch seine intolerante und doktrinäre Kulturpolitik sehr viel Schaden an. Einst hatte er mit Freiherrn vom Stein, Goethe und Wilhelm von Humboldt verkehrt und anderen Koryphäen der deutschen Kultur nahegestanden, als zaristischer Minister jedoch versäumte er keine Gelegenheit, sich mit allen Mitteln beim Zaren lieb Kind zu machen. Das zeigt auch sein Festhalten an der Theorie der „offiziellen Volksverbundenheit", zu der Pogodin, Professor für Geschichte an der Moskauer Universität und neben Schewyrjow der bedeutendste Ideologe des reaktionären Lagers, 1832 in der Einführung zu seinem Vorlesungszyklus über die russische Geschichte die „wissenschaftliche" Begründung gab. Die Orthodoxie war nach dieser Theorie das Unterpfand für das Glück der Gesellschaft und der Familie, die Autokratie die wichtigste Voraussetzung für die politische Existenz Rußlands, und die Volksverbundenheit, die inhaltlich mit Panrussismus identisch war, wurde als grenzenlose Zarentreue der Völker des Reichs interpretiert und war in der Deutung Uwarows mit der bestehenden Leibeigenschaft durchaus vereinbar. Die Schöpfer und Anhänger dieser Theorie suchten nicht zuletzt unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Europa zu beweisen, daß Rußland eine andere, eigenständige Entwicklung nehme, der revolutionäre Ideen fremd seien. Um zu verhindern, daß diese von außen nach Rußland hineingetragen wurden, setzten sie sich in der Praxis mit Nachdruck für die „Vermehrung der geistigen Dämme" ein, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß. Rußland sollte von dem fortschrittlichen bürgerlichen Gedankengut des übrigen Europa so weitgehend wie möglich isoliert werden. Das war ein Grundzug der Politik Nikolaus' I. Diese offizielle Ideologie und alle Maßnahmen der zaristischen Regierung wurden von der reaktionären Publizistik Rußlands eifrig unterstützt und propagiert. Die einflußreichsten Apologeten der verbindlichen Staatsideologie in der russischen jQurnalistik waren Gretsch und Bulgarin. Die Zeitung „Sewernäja Ptschela" („Die Biene des Nordens") und die Zeitschrift „Syn otetschestwa" („Sohn des Vaterlandes"), deren Herausgeber und Redakteure Gretsch und Bulgarin waren, fungierten als Sprachrohr der Regierung. Die literarisch-politische Monatsschrift „Otetschestwennye Sapiski" („Vaterländische Annalen") sowie die von Puschkin begründete literarische und gesellschaftlich-politische Zeitschrift „Sowremennik" („Der Zeitgenosse") hingegen waren die einflußreichsten fortschrittlichen Periodika Rußlands und standen in der vordersten Front der politisch-ideologischen und geistig-kulturellen Auseinandersetzungen um die Verbreitung und Durchsetzung bürgerlich-demokratischen Gedankenguts, das auf die notwendigen Veränderungen im gesellschaftlichen ¿ x b e n hinwirken sollte. Noch straffer wurden die Zügel in den Revolutionsjahren 1848/49 angezogen. Niko-

126-

Rußland von 1825 bis 1861

laus I. beabsichtigte eine hermetische Abschließung seines Reiches vom Auslafid. Obwohl das zaristische Rußland keine Revolution erlebte, blickte Nikolaus I. besorgt um den Bestand seines Regimes nach Westen. Als in Berlin die Revolution ausbrach, Straßenkämpfe tobten und der preußische König seine Truppen aus der Hauptstadt zurückzog, fürchtete der Zar ein Übergreifen der Revolution auf polnisches und russisches Gebiet. Er erließ am 14. März 1848 ein pathetisches Manifest an seine Völker, in dem es unter anderem hieß: „Nach den Segnungen eines langjährigen Friedens ist Westeuropa jetzt plötzlich durch Unruhen erregt, welche die gesetzlichen Gewalten und alle gesellschaftliche Ordnung umzustürzen drohen. Von Frankreich ausgehend, sind Aufruhr und Anarchie schnell auf das benachbarte Deutschland übergegangen und indem sie allseitig mit einer Frechheit sich verbreiteten, die im Verhältnis zur Nachgiebigkeit der Regierungen wuchs, berührte ihr zerstörender Strom endlich auch Unsere Verbündeten, das Kaisertum Österreich und das Königreich Preußen. Jetzt bedroht die alle Grenzer^ überschreitende Verwegenheit in ihrem Unverstände auch Unser Uns von Gott anvertrautes Rußland. Aber das soll nicht sein!" 11 Der Zar ließ Truppen nach der Westgrenze des Reiches vorrücken. Er wußte, daß die Ruhe in seinem Reiche nur eine scheinbare war und daß die Mehrheit der Bevölkerung sein Regime und die Gesellschaftsordnung ablehnte. Berichte und Meldungen der Gouverneure über die zunehmende Aktivität der Bauern und der fortschrittlichen Intelligenz Rußlands bestärkten ihn in seiner Auffasung. Graf Sakrewski, der ehemalige Generalgouverneur von' Finnland, wurde als Generalgouverneur von Moskau eingesetzt und beauftragt, alle Symptome revolutionärer und überhaupt fortschrittlicher politischer Regungen zu bekämpfen. Sakrewski hat sich dieser Aufgabe mit brutaler Gewalt und mit allen Mitteln administrativer Willkür entledigt. Nikolaus I. und seine Berater verfolgten die revolutionären Ereignisse in West- und Mitteleuropa mit größtem Mißtrauen und mit Furcht vor ihren Auswirkungen auf Rußland. Erwies sich die Julirevolution 1830 in Frankreich als eine wichtige Wende in der historischen Entwicklung ganz Europas, indem sie das restaurative Herrschaftssystem der europaischen Großmächte bis in die Grundfesten erschütterte und die revolutionären Bewegungen der dreißiger Jahre auslöste, zu deren Brennpunkten Polen gehörte, so gingen auch 1848 von Frankreich entscheidende Impulse für die ganze europäische revolutionäre Bewegung aus. „Der Sturz der Bourgeoisie in Frankreich", schrieb Karl Marx, „der Triumph der französischen Arbeiterklasse, die Emanzipation der Arbeiterklasse überhaupt ist also das Losungswort der europäischen Befreiung." 12 In Rußland führten die Einflüsse des revolutionären Geschehens in West- und Mitteleuropa, von dem die Bevölkerung des Reichs auf verschiedenen Wegen Kenntnis erhielt (z. B. durch entstellte und im Sinne des Zarismus gefärbte Nachrichten in der offiziellen Presse, durch Augenzeugen und durch Privatkorrespondenz), zu einer stärkeren Polarisierung der gesellschaftlichen Bewegung. Nikolaus I. und seine Berater reagierten mit einer noch rücksichtsloseren Unterdrückungspolitik auf allen Gebieten, die als die „düsteren sieben Jahre" in die Geschichte eingegangen ist. Es war eine besonders schwere Zeit für alle Fortschrittlichgesinnten, eine Zeit verstärkter Unterdrückung jeder freiheitlichen Regung. Die Methoden wurden verfeinert, die Zensurvorschriften weiter verschärft. Selbst Männer, die früher zu den Stützen der Reaktion zählten, wie Bul11 Schiemann, Th., Geschichte Rußlands, a. a. O., Bd. 4, Berlin—Leipzig 1919, S. 143. 12 Marx, K., Die revolutionäre Bewegung. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 6, Berlin 1959, S. 149.

Nikolaitisches Regime und antifeudaler Kampf

127

garin und Pogodin, wurden als Revolutionäre verdächtigt. Andere, wie Uwarow, mußten, da sie sich als zu wenig reaktionär erwiesen, reaktionäreren Ideologen weichen. Auf einem Ministerbericht, der mit dem Wort „Fortschritt" endete, bemerkte der Zar: „Fortschritt? Was für ein Fortschritt? Dieses Wort aus der offizielle^ Sprache ausmerzen." 1 3 Mit Raffinesse und Terror wurde versucht, den äußeren Glanz des nikolaitischen Regimes aufrechtzuerhalten, das in Wirklichkeit durch die Krise des Feudalismus in Rußland bereits unterhöhlt war. Nikolaus errichtete eine Gewältherrschaft, die den endgültigen Zusammenbruch seines Regimes aber nur für kurze Zeit aufhalten konnte. Die zaristische Regierung und die .herrschende Klasse hatten, bei all ihrem Streben nach Konservierung des Alten, doch die Notwendigkeit gewisser Zugeständnisse an die kapitalistische Entwicklung Rußlands erkannt. Tiefergehende Reformüberlegungen mußten allerdings an der Rücksichtnahme auf die Interessen des grundbesitzenden Adels scheitern. 1826 wurde das Geheimkomitee des 6. Dezember gegründet, dessen Vorsitzender Kotschubei war und in dem Speranski mitarbeitete. Die Aufgabe dieses Komitees bestand darin, vorliegende Reformprojekte aus früherer Zeit zu beurteilen und weitere Vorstellungen über notwendige politische Reformen zu erarbeiten. In ständiger Verbindung mit dem Zaren begann das Komitee seine Arbeit mit der Durchsicht und Prüfung der sich auf eine Reform der drei Zentralbehörden — Ministerkomitee, Reichsrat und Senat — beziehenden Projekte und ging dann zur Organisation der Gouvernementsverwaltung über. Die Hauptarbeit verwendete das Komitee auf die Ausarbeitung eines neuen Ständerechts. Das vor allem auf Initiative Speranskis vorbereitete Projekt einer allgemeinen Ständereform tastete freilich Selbstherrschaft und Leibeigenschaft als unerschütterliche Pfeiler nicht an. In ihm kam im Gegenteil die Ständehierarchie noch deutlicher zum Ausdruck. Sein Ziel bestand darin, die besondere Stellung des Adels als erblichem Stand, dessen Grundinteressen Nikolaus I. zur Festigung der sozialen Basis der Selbstherrschaft förderte, im Reich zu sichern und das Eindringen fremder Elemente in den Kreis der Adelsgeschlechter zu verhindern. Die stärkere Einbeziehung des Adels in die örtlichen und zentralen Organe des Staatsapparates war ein wesentliches Kennzeichen der nikolaitischen Politik. Des weiteren sollten die Lage und das Bildungsniveau der Geistlichkeit verbessert, das Bürgertum nach oben wie nach unten stärker abgegrenzt werden. Der Bauernstand sollte durch bessere Verwaltung auf den Krongütern und durCh Kontrolle der Gutsbesitzer etwas geschützt werden. Einen kleinen Schritt in Richtung auf eine Milderung der Leibeigenschaft unternahm das Projekt insofern, als es eine Regelung der Frondienste, eine genauere Festlegung der Pflichten und Rechte der Gutsbauern sowie ein Verbot des Verkaufs einzelner Bauern und überhaupt von Bauern ohne Land ins Auge faßte. Neben der Erörterung verschiedener Projekte von Teilreformen arbeitete das Geheimkomitee an der Kodifizierung der russischen Gesetze. Diese Arbeit der Zweiten Abteilung wurde im Auftrage des Zaren von Speranski geleitet. Das Ergebnis war die 1830 erfolgte Herausgabe der 45 Bände umfassenden ersten Serie der Gesetzessammlung „Polnoje Sobranije Sakonow Rossijskoi Imperii" („Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches"), die über 30000 Verordnungen — vom Uloshenie des Zaren Aleksei Michailowitsch von 1649 bis einschließlich der Gesetze vom 12. Dezember 1825 13 Masaryk, Th. G., Rußland und Europa. Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie, Bd. 1, 'Jena 1913, S. 98.

128

Rußland von 1825 bis 1861

— enthält. Der anspruchsvolle Titel entspricht allerdings nicht ganz der Wirklichkeit. Bei der Auswahl wurde sehr willkürlich verfahren. Alles, was nicht aufgenommen wurde, galt als nicht existent. Die „Vollständige Sammlung" wurde in der Folgezeit fortgesetzt. Diese Gesetzessammlung, der trotz ihrer Unvollständigkeit als Geschichtsquelle noch heute eine große Bedeutung zukommt, wurde Ausgangspunkt der modernen Rechts 1 Wissenschaft Rußlands. Parallel zu ihrer Fortsetzung erschien in erster Auflage eine 15 Bände umfassende Gesetzessammlung „Swod Sakonow Rossijskoi Imperii" („Gesetzbuch des Russischen Reichs"), die geltende Gesetze enthielt. Was seit Peter I. immer wieder vergeblich versucht worden ist, war damit erreicht. 1845 wurde außerdem ein neues Strafrecht erlassen: „Uloshenije o nakasanijach ugolownych i isprawitelnych". All das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß die von Speranski schon früher beabsichtigte Ausarbeitung eines neuen Gesetzbuches und somit eine wahre Reform auch in legislativer Hinsicht unterblieben. Auch zur Förderung der Wirtschaft führte die Regierung Nikolaus' I. einige Maßnahmen durch. Die effektivste unter den Bedingungen der Feudalordnung war die Schutzzollpolitik des Zarismus. Das bereits 1822 eingeführte harte Schutzzollsystem, das mit einigen unwesentlichen Veränderungen bis 1850 in Kraft blieb, bedeutete für die Industrieentwicklung eine wesentliche Unterstützung. Hohe Einfuhrzölle schützten die Industrie vor der ausländischen Konkurrenz, und niedrige Ausfuhrzölle förderten die einheimische Produktion. Insgesamt half das Schutzzollsystem Rußland, das Niveau seiner Industrieerzeugung zu heben, sicherte die Entstehung neuer Industriezentren und trug indirekt zur allmählichen Herausbildung einer Schicht ständiger Arbeiter bei, was objektiv das Wachstum der kapitalistischen Produktion förderte. Das neue, gemäßigtere Schutzzollsystem von 1850 entsprach vor allem mehr den Interessen der Gutsbesitzer, die sich um eina Belebung des für sie günstigen Handels mit England bemühten. Aber auch die russisch-preußischen Handelsbeziehungen erlebten dadurch einen Aufschwung. Dabei machte sich besonders in der Ausfuhr Preußens nach Rußland ein qualitativer Wandel bemerkbar, indem immer mehr Industrieprodukte exportiert wurden, während vorher z. B. Kaffee, Zucker, Tabak und Seide dominierten. Neben dem Schutzzollsystem traf die Regierung noch weitere Maßnahmen, die die Entwicklung der Industrie förderten. Es wurden ein Manufaktur- und Kommerzrat gegründet, Fachlehranstalten'eröffnet, Fachzeitschriften und -Zeitungen herausgegeben und seit 1829 russische Industrieausstellungen veranstaltet. In den Jahren von 1835 bis 1840 wurden einige Ukase erlassen, die günstigere Bedingungen für die Entwicklung großer Industriebetriebe schufen. Auch das bäuerliche Kustargewerbe erfuhr zeitweilig eine gewisse Unterstützung durch die Regierung. Diese erblickte in der Entwicklung der einfachen Warenproduktion u. a. eine Möglichkeit, die patriarchalische Lebensweise der Bauern zu erhalten und dem „Pauperismus" in Rußland vorzubeugen. Zu den Maßnahmen, die Industrie und Handel im Interesse des Zarismus und der herrschenden Klasse unterstützten, gehörte auch die Finanzreform Cancrins (1839 bis 1843). Sie trug der kapitalistischen Entwicklung Rußlands Rechnung und förderte sie. Durch diese Reform wurde der Silberrubel zur Münzeinheit. Die Papierassignaten erhielten einen festen Kurs, der mit 3 Rubel 60 Kopeken zu 1 Silberrubel festgesetzt wurde, so daß das Wucherunwesen des Aufgeldes beim Wechseln der Assignaten in Münzen beseitigt wurde. Diese vom 1. Januar 1839 datierende Reform mündete am 1. Januar 1840 in die Eröffnung einer Depositenkasse zur Annahme von Münzen gegen

Nikolaitisches Regime und antifeudaler Kampf

129

Depositenscheine, die aüf 3, 5, 10 und 25 Rubel in Silbervaluta lauteten. 1841 wurden „Kreditbriefe" herausgegeben, die man zum Kurs 1:3,6 gegen Silbergeld eintauschen konnte. Durch die im Anschluß an frühere Maßnahmen Speranskis durchgeführte Finanzreform Cancrins konnte der Rubel stabilisiert und ihm schließlich das internationale Vertrauen allmählich zurückgewonnen werden, ohne die Grundpfeiler des feudalen Wirtschaftssystems anzugreifen. Einerseits traf die Regierung also Maßregeln, die der Entfaltung von Industrie und Handel dienten, andererseits erwiesen sich jedoch viele ihrer Grundsätze der Industrieund Handelsgesetzgebung, an denen sie festhielt, wie das überholte Standesprinzip, eindeutig als ernste Hindernisse für die sozialökonomische Weiterentwicklung Rußlands. Dies zeigte sich besonders deutlich in der Gildenreform Cancrins von 1824, die einmal mehr die Widersprüchlichkeit nicht nur dieses Politikers, sondern des ganzen zaristischen Regierungssystems offenbarte. Sie schützte die Privilegien' der Gildenkaufmannschaft und beschränkte die Tätigkeit kleinbürgerlicher und bäuerlicher Unternehmer, Gewerbetreibender und - Kaufleute zum Nachteil der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse. Daher stieß sie auf den hartnäckigen Widerstand vor allem der gewerbetreibenden städtischen und ländlichen Bevölkerung. Aber auch bedeutende, Staatsmänner Rußlands gehörten zu ihren Kritikern. Es sei nur Speranski genannt, der die Entwicklung der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Handels- und Gewerbetätigkeit für eine unvermeidliche und historisch progressive Erscheinung hielt und ihren Nutzen für die industrielle Entwicklung Rußlands erkannt hatte, als er feststellte, daß ohne sie die russische Industrie über keine ausreichenden Kapitalien verfügen würde. Eine reaktionäre Politik zugunsten der herrschenden Klasse der Gutsbesitzer betrieb die Regierung Nikolaus' I. auch in der Frage der Gründung von Privatbanken. Kapitalien konnten fast ausschließlich in der Staatsbank angelegt werden, die nur den Gutsbesitzern, oft gegen Verpfändung von Gütern mit Leibeigenen, entsprechend der Zahl der Leibeigenen Kredite und Anleihen gewährte, während die Bourgeoisie die in der Staatsbank akkumulierten Kapitalien nicht nutzen konnte. Die Gutsbesitzer verschwendeten das Geld jedoch unproduktiv für persönliche Zwecke, so daß die Volkswirtschaft keinen Gewinn davon hatte. Die dominierende Stellung der Staatsbank im russischen Finanz- und Kreditwesen und der Mangel an Privatbanken erschwerten der Industriebourgeoisie die Kapitalakkumulation und verzögerten die Entstehung einer eigentlichen Finanzbourgeoisie. So kam es in der Wirtschaftspolitik des Zarismus zu ernsten Widersprüchen. Die wirtschaftlichen Interessen des russischen Staates und der russischen Unternehmer standen den politischen und sozialen Bedenken und entsprechenden Maßnahmen der Regierung Nikolaus' I., seiner Polizei und Verwaltung sowie großen Teilen des grundbesitzenden Adels gegenüber. Einerseits war die zaristische Regierung an einer Förderung der. Industrie interessiert, andererseits erkannte sie, daß die Entstehung von Großbetrieberf und die Konzentration der Industrie die Herausbildung und Entwicklung der Arbeiterklasse begünstigte. Finanzminister Cancrin sprach mit Bedauern vom Zusammenbruch der alten Wirtschaftsordnung, in der Kleingewerbe und patriarchalische Verhältnisse herrschten. Mit Unruhe blickte er auf die große Fabrikproduktion in West- und Mitteleuropa, vor deren Folgen er erschrak und deren weite Verbreitung in Rußland er befürchtete. Die Regierung Nikolaus' I. war bestrebt, eine Zusammenballung von Arbeitermassen zu vermeiden, um Arbeiterunruhen vorzubeugen. Diese konnten im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Bewegung in Rußland und mit 9

Straube/Zeil, Feudalismus

130

Rußland von 1825 bis 1861

den revolutionären Ereignissen in Mittel- und Westeuropa eine Gefahr für sie darstellen. Die Bauernfrage, die in den Jahrzehnten vor 1861 immer akuter wurde und daher im Mittelpunkt heftiger Diskussionen in den verschiedensten Kreisen stand, erwies sich als das wichtigste Problem der Innenpolitik des nikolaitischen Regimes. An Gedanken dazu und an Lösungsvorschlägen hat es wahrlich nicht gefehlt. Es war nicht nur die Furcht vor einem neuerlichen Pugatschow-Aufstand, es waren auch wirtschaftliche Beweggründe, die die herrschenden Kreise veranlaßten, sich mit der Bauernfrage zu befassen. Bereits 1827 wurde das Recht der Gutsbesitzer, arbeitsunfähige Bauern nach Sibirien abzuschieben, eingeschränkt. Im gleichen Jahr verbot ein Ukas den Kauf von Leibeigenen, wenn der Käufer diese nicht mit Land ausstatten konnte. Auch das Komitee des 6. Dezember legte 1828 dem Zaren einen Bericht vor, der mit Nachdruck darauf hinwies, daß in den Beziehungen zwischen Gutsbesitzern und Bauern eine Veränderung herbeigeführt werden müsse. Unmittelbar nach den revolutionären Ereignissen von 1830 in West- und Mitteleuropa sowie im Königreich Polen erschien Nikolaus zunächst jede soziale Reformtätigkeit als unvereinbar mit dem Interesse an der Erhaltung und Stärkung des Reiches. Erst 1833 folgte eine weitere Verordnung zur Verbesserung der Lage der leibeigenen Bauern. Es wurde verboten, die Mitglieder einer Leibeigenenfamilie beim Verkauf eines Gutes voneinander zu trennen. 1840 schließlich wurde ein Gesetz über die allmähliche Liquidierung der Possessionsmanufakturen erlassen, das letzten Endes eine gewisse Beschränkung extremer Formen der Leibeigenschaft bedeutete. Auch zahlreiche Gutsbesitzer hatten erkannt, daß es- besser war, die leibeigenen Bauern zu befreien. Einmal war die Arbeitsproduktivität der Leibeigenen äußerst gering, zum anderen mußte ständig mit ihrem Widerstand gegen die Forderungen der Gutsbesitzer gerechnet werden, und schließlich lagen die nach den häufigen Mißernten verarmten Bauern den Gutsbesitzern auf der Tasche, die letztlich für deren Unterhalt verantwortlich waren. Alle Ukase der Regierung erwiesen sich aber letzten Endes doch als unbedeutend. Das gleiche gilt von der Arbeit der zur Lösung der Bauernfrage neben der besonderen Fünften Abteilung nach der Auflösung des Komitees des 6. Dezember nacheinander geschaffenen 8 Geheimkomitees. Zu durchgreifenden Maßnahmen kam es nicht. Die gesamte Tätigkeit der Geheimkomitees, von denen 5 in den vierziger Jahren gegründet wurden, konnte zu keiner entscheidenden Änderung der Lage der Volksmassen führen, da das Hauptanliegen der Mitglieder aller Komitees im Sinne des Zaren darin bestand, die Grundlagen des Feudalsystems nicht anzurühren. Das tiefere Interesse des Zaren gehörte nicht der Lösung sozialer Fragen, sondern ganz anderen Problemen, vor allem militärischen Angelegenheiten, so einer Reorganisation von Heer und Flotte, die unter seiner direkten Anteilnahme in kurzer Frist vollendet wurde. In den vierziger Jahren wurde vor allem unter dem Druck der Entwicklung in Rußland die „Reformtätigkeit" fortgeführt. Die feudale Gutswirtschaft war àn einem, kritischen Punkt angelangt : Sie stagnierte und verfiel teilweise. Viele Gutsbesitzer waren gezwungen, ihre Güter und Leibeigenen in der, Staatsbank zu verpfänden. Der Mangel an Kapital machte ihnen jede größere Aufwendung für ihre Bauern unmöglich. Die Armut eines Teils der bäuerlichen Landbevölkerung nahm zu. Soziale Spannungen zwischen den durch den Frondienst ausgebeuteten Bauern und ihren Grundherren oder deren Verwaltern führten zu Bauernunruhen, die der Regierung zeigten, daß etwas Eingreifendes geschehen mußte. Bedeutung haben die Kisseljowschen Reformen er-

Nikolaitisches Regime und antifeudaler Kampf

131

langt. Der russische Staatsmann General Graf Kisseljow hatte schon 1816 unter Alexander I. Vorschläge zu einer allmählichen Befreiung der Bauern von feudaler Abhängigkeit eingereicht. In der Regierungszeit Nikolaus' I. setzte er sich für eine gesetzliche Beschränkung der Macht der Gutsbesitzer über ihre Bauern ein, was letztlich auf eine stufenweise Aufhebung der Leibeigenschaft hinauslief. In diesem Geiste führte er in den 1829 besetzten Donaufürstentümern Moldau und Walachei Agrarreformen durch. Ähnliche Maßnahmen suchte er als Vorsitzender eines Geheimkomitees, als Chef der Fünften Abteilung und schließlich als Domänenminister auch in Rußland zu realisieren. Aber er fürchtete sowohl die volle Befreiung der Bauern mit Land, da sie zur Einschränkung der Selbständigkeit des Adels und zur Demokratisierung führen mußte, als auch die in den Ostseeprovinzen hereits realisierte Befreiung der Bauern ohne Land, deren Ergebnis die Umwandlung eines Teils der Bauern in freie Proletarier war, die mit einem Anwachsen der revolutionären Potenzen der russischen Bauernschaft gleichzusetzen war. Seiner Meinung nach war es notwendig, die erblichen Rechte des Adels auf Grundbesitz aufrechtzuerhalten. Von diesem sollte ein Teil den Bauern zur Nutzung gegeben werden. Die Bauern sollten die Freiheit erhalten und dafür bestimmte Abgaben, eventuell auch Dienste, leisten. Es war vorgesehen, daß die Gemeinden unter der Kontrolle von Gutspolizei und Staatsbeamten für die von den Bauern zu erbringenden • staatlich geregelten Abgaben und eventuellen Dienste unter Gesamtbürgschaft haften. Selbst diese gemäßigten Vorschläge stießen auf den Widerstand der Gutsbesitzer, die in ihnen eine direkte Gefahr für ihren Bestand als Klasse sahen. Einer derjenigen, die jeder Bauernbefreiung mit aller Entschiedenheit entgegentraten, war Volksbildungsminister Uwarow. Er warnte davor, die Rechte des Adels zu schmälern, weil dies nur zu Unzufriedenheit-und Kompensationsforderungen führe. Die Leibeigenschaft könne nicht ohne Erschütterung der Machtstellung Rußlands beseitigt werden. Auch Außenminister Nesselrode vertrat 1843 die Auffassung, daß alle Pläne Kisseljows zur Befreiung der Bauern nur zu Bauernunruhen führen und den Adel ruinieren würden. Er warnte davor, den Bauern die Freiheit zu geben, da sie von ihr schlechten Gebrauch machen würden. Zahlreiche Vertreter des grundbesitzenden Adels — in getreidereichen und dichtbesiedelten Gouvernements wie Tula und Rjasan — waren jedoch für die Aufhebung der Leibeigenschaft. Sie gaben der freien Lohnarbeit bewußt den Vorzug, wollten aber den gesamten Boden und das Verfügungsrecht in der Bewirtschaftung für sich behalten. Die Mehrheit des Adels vertrat jedoch noch die Auffassung, daß die Leibeigenschaft eine notwendige Voraussetzung für ihre eigene Position und für das Wohlergehen des Staates war. In dem 1840/41 eingesetzten Komitee zur Prüfung der Vorschläge Kisseljows befanden sich Persönlichkeiten, deren materielles Interesse mit dem Fortbestand der Leibeigenschaft in der bisherigen Form eng verbunden war. Fürst Menschikow, der 1820 von der Richtigkeit einer allmählichen Aufhebung der Leibeigenschaft überzeugt war, erwies sich jetzt als der Hauptgegner Kisseljows in diesem Komitee. Er veranlaßte ihn zur Abänderung wichtiger Punkte des Reformprogramms, das dennoch seine Bedeutung nicht verlor. Eine gewisse Verbesserung der Lage der Staatsbauern brachte die Kisseljowsche Reform der Verwaltung der Staatsdörfer 14 , die der Entspannung der Atmosphäre auf dem Lande dienen sollte. Die spontanen Unruhen unter den Staatsbauern im Ural 14 Vgl. Druzinin, N. M., Gosudarstvennye krest'jane i reforma P. D . Kiseleva, Bd. 1—2, Moskau 1946-1958. 9*

132

Rußland von 1825 bis 1861

1834/35 waren der unmittelbare Anlaß dafür, daß die Fünfte Abteilung von 1837 bis 1841 eine Neuordnung der Verwaltung der Staatsdörfer durchführte, die die wirtschaftliche und rechtliche Lage der Staatsbauern weiter verbesserte. Bei aller Beschränktheit trug diese Reform durch einige konkrete Maßnahmen zur Entwicklung des Kapitalismus in Rußland bei. Die Staatsbauern erhielten das Recht, ihre Gemeindeverwaltung und das Amtsgericht zu wählen. Allerdings wurde die Tätigkeit dieser Selbstverwaltungsorgane von zaristischen Beamten kontrolliert, und die von den Bauern gewählten Personen wurden oft zu Dienern der Adelsbürokratie. Bodenanteile und Pflichten der Staatsbauern wurden durch besondere Statuten detailliert festgelegt. Das Problem der Bodenanteile wurde durch Zuteilung unvermessenen Staatsbodens an Landarme und umfassende Umsiedlungen aus landarmen Gouvernements in landreiche zu lösen versucht. Die Bodenanteile der Staatsbauern waren gegen Ende der fünfziger Jahre größer als die der Gutsbauern und ihr Obrok niedriger. Die Steuern sollten dem Bodenanteil und den Einkünften der Bauern aus Handel und Gewerbe angepaßt werden. Ferner besaßen die Staatsbauern das Recht der freien Berufswahl und durften Land als Eigentum erwerben. Die Agrartechnik wurde etwas verbessert sowie der Bau von'Krankenhäusern und Grundschulen gefördert. Mit der Errichtung von Grundschulen begann vereinzelt sogar ein regelmäßiger Elementarunterricht. Trotz der Zuteilung unvermessenen Staatsbodens und der Umsiedlungen litten auch die Staatsbauern unter der zunehmenden Landarmut. Eine befriedigende Lösung der Landfrage stand weiterhin aus. Zudem ergaben sich durch die Schaffung eines kömplizierten Systems bürokratischer Einrichtungen, das die alte Grundlage der Dorfgemeinde fast ganz zu überwuchern drohte und einen ausgedehnten, auf den Bauern lastenden Beamtenapparat erforderte, zahlreiche neue Mißstände, die zu weiteren Unruhen der Staatsbauern führten. In den Jahren von 1841 bis 1845 erfaßten diese einige Gouvernements. Besonders heftige Formen nahmen sie wieder im Ural an. 1842 erließ die Regierung auf Empfehlung Kisseljows außerdem die Verordnung über die „zeitverpflichteten Bauern", die jedoch nichts anderes darstellte als eine nur geringfügig verbesserte Neuauflage des Ukases über die „freien Ackerbauern" von 1803. In dieser Verordnung wurden rechtsgültige Verträge zwischen den Grundherren und den Bauern für zulässig erklärt. Die Gutsbesitzer konnten ihre Bauern befreien und ihnen Land zur Nutzung geben, das Eigentum des Adels blieb. Die Bauern mußten dafür Abgaben oder andere Leistungen erbringen. Damit erwarben sie Besitzrechte und die Möglichkeit, Grund und Boden zu pachten. Obwohl ihre Rechtslage dadurch nicht verändert wurde und die Verordnung in der Praxis wenig Anwendung fand, trug diese Maßnahme der Regierung doch zu einer gewissen Entspannung bei. Die hohe Adelsbürokratie Rußlands war ein entschiedener Gegner der Befreiung der Bauern ohne Land, während zahlreiche Vertreter des grundbesitzenden Adels1 bereits dafür waren. Bei ihnen war die Verordnung über die „zeitverpflichteten Bauern" unpopulär. Sie bevorzugten einmal den Ukas vom 12. Juni 1844 über die Befreiung des Gesindes durch Verträge. Dieser Ukas bahnte der Befreiung der Bauern ohne Land den Weg und sah eine schnelle und unbürokratische Trennung der Freigelassenen von ihrem Grundherrn vor. Zum anderen überführten sie in den vierziger Jahren die Bauern in die Kategorie des Gesindes. Dies war eine vorbereitende Maßnahme für die Befreiung der Bauern ohne Land. 1847 wurden in der Ukraine und danach auch in Litauen, Belorußland und Polen zur rechtlichen Klärung der Beziehungen zwischen den Gutsbesitzern und den Leib-

Nikolaitisches Regime und antifeudaler Kampf

133

eigenen und damit zur legislativen Beschränkung der Macht der Gutsbesitzer die „Inventarregeln" erlassen. Es wurde das Bauernland aufgenommen und den Gutsbesitzern verboten, dieses einzuschränken. Die Relation zwischen Gutsar,eal und Bauernland blieb somit unverändert. Die Bauern erhielten nach diesen „Inventarregeln" nur das Land zugesprochen, das sie zur Zeit der Bestandsaufnahme des betreffenden Gutes bereits nutzten. Die Fron, die die Bauern für die Nutzung des Landes zu leisten hatten, wurde genau festgelegt, und den Gutsbesitzern wurde untersagt, von den in den „Inventarregeln" festgesetzten Normen für die bäuerlichen Pflichten abzuweichen. Diese „Inventarregeln" sollten jedoch in erster Linie nicht der Unterstützung der Bauern dienen, sondern diese im Kampf gegen die polnische nationale Befreiungsbewegung auf die Seite der Regierung ziehen. Sie waren also gegen die polnischen katholischen Gutsbesitzer, die nach dem polnischen Aufstanfl 1830/31 die Gunst Petersburgs verloren hatten, gerichtet und riefen daher deren Unzufriedenheit hervor. Trotz der positiven Veränderung gegenüber der vorangegangenen Periode erfüllten sie auch die Hoffnungen der Bauern in keiner Weise, da sie in der Praxis einseitig im Interesse der Gutsbesitzer realisiert wurden. So kam es als Reaktion darauf zu neuen Unruhen. Andere Zugeständnisse an die Bauern, wie das Recht der Leibeigenen auf den Kauf von Grund und Boden, die 1847 gegebene Erlaubnis, sich bei Versteigerungen von Gütern verschuldeter Gutsbesitzer freizukaufen, und das Dekret von 1844, das den Bauern die Möglichkeit gab, sich vom Hofdienst freizukaufen, hatten entweder keine größere praktische Wirkung, weil die Gutsbesitzer die Bestimmungen? paralysieren bzw. zu eigenem Vorteil ausnutzen konnten, oder gerieten dann unter dem Eindruck der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 im allgemeinen in Vergessenheit. Diese Zeit revolutionärer Erhebungen in West- und Mitteleuropa bildete eine Zäsur in der wenn auch noch so bescheidenen Reformpolitik Nikolaus' I. Nach Empfang der ersten Nachrichten über die Februarrevolution in Frankreich verzichtete der Zar vorläufig auf alle Maßnahmen zur Einschränkung der Leibeigenschaft und auf alle Veränderungen der bestehenden Ordnung. 1853 jedoch sah sich die Regierung bereits wieder gezwungen, nach Wegen zur Beseitigung der Anlässe von Bauernunruhen zu suchen. Dem grundbesitzenden Adel wurde nahegelegt, alle ihm vom Gesetz übertragenen Pflichten gegenüber seinen Bauern mit der gebührenden Fürsorge zu erfüllen. 15 In einem Rundschreiben des Innenministers wurde darauf hingewiesen, daß ein Gutsbesitzer, wenn er nach einem Verweis seine Bauern weiterhin ungerecht behandelt, des Gouvernements verwiesen werden konnte. Es gab Vorschriften, die die Fron der Bauern auf drei Tage der Woche begrenzten und eine gewisse Beschränkung der Willkür der Gutsbesitzer vorsahen. Ferner wurde ein Gesetz angenommen, das die Verpachtung von Gütern mit Leibeigenen verbot. Aber alle Instruktionen und Rundschreiben der Ministerien wurden in der Praxis im allgemeinen nicht eingehalten, und die Inkraftsetzung der Verfügung von 1853 wurde im Zusammenhang mit dem Beginn der Kriegshandlungen im Krimkrieg „zeitweilig" verschoben. Die Maßnahmen der Regierung zeigen aber doch ihre Unruhe und Furcht vor einer Ausweitung der Bauernbewegung. Trotz der wachsenden antifeudalen Bewegung der Volksmassen des Reiches und der dadurch bedingten Einsicht der Regierung in die Notwendigkeit von Zugeständnissen ging Nikolaus I. in der zentralen Frage der Zeit, in der Bauernfrage, keinen entscheiden15 Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1850—1856 gg. Sbornik dokumentov, Moskau 1962, S. 22.

134

Rußland von 1825 bis 1861

den Schritt vorwärts. Wie in der gesamten widersprüchlichen Reformpolitik, die einerseits auf eine gewisse Förderung der kapitalistischen Entwicklung im Interesse der herrschende^ Klasse und der zaristischen Autokratie orientierte, andererseits aber die Grundlagen der Feudalordnung in demselben Interesse nicht antasten wollte, widersetzte sich der Zarismus auch in der Bauernfrage zum Nutzen und unter dem Druck der herrschenden Klasse des grundbesitzenden Adels überall hartnäckig jeder radikalen Veränderung. Rußland blieb ein Adelsimperium, dessen gesamte Innenpolitik durch die Klasseninteressen des grundbesitzenden Adels bestimmt war. Selbst Custine konstatierte nach seiner Rußlandreise deprimiert: „Wenn ich diese Thatsache (Verbannung der Bauern — W. Z.) und eine Menge anderer mehr oder minder geheimer Grausamkeiten bedenke, welche täglich in diesem unermeßlichen Reiche vorkommen, wo die Entfernungen die Empörung wie die Unterdrückung begünstigen, wird mir das Land, die Regierung und das ganze Volk verhaßt, ich fühle ein unbeschreibliches Mißbehagen und wünsche nichts sehnlicher, als wieder fortzukommen." 16 Gegen die Klasseninteressen des grundbesitzenden Adels und ihre Grundlagen in der sozialen und politischen Entwicklung des Landes richteten sich letztlich alle Angriffe der Bauernbewegung Rußlands in den Jahrzehnten vor 1861. Ihre Höhepunkte waren neben der Entfaltung der revolutionärdemokratischen Ideen in fortschrittlichen Kreisen des Adels und vor allem der Rasnotschinzen ein besonders sichtbarer Ausdruck der Krise des Feudalsystems. Das wichtigste Kennzeichen dieser Bewegung ist darin zu sehen, daß sie sich immer mehr gegen die Institution der Leibeigenschaft bzw. der feudalen Abhängigkeit richtete, deren Aufhebung eine objektive Notwendigkeit war. Lenin wies zu Recht daraufhin, daß damals, als siph „die neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse und ihre Widersprüche . . . noch im Embryonalzustand" befanden, „sämtliche gesellschaftlichen Fragen auf den Kampf gegen die Leibeigenschaft und ihre Überreste hinausliefen". 17 Die Aufhebung der Leibeigenschaft stand in den Jahrzehnten-vor 1861 im Mittelpunkt aller sozialen Auseinandersetzungen. Die Bauernschaft Rußlands erwies sich in jener Zeit, da es infolge der verspäteten Entwicklung des Kapitalismus in Rußland keine revolutionäre Bourgeoisie gab, weiterhin als diejenige Klasse der russischen Gesellschaft, die objektiv die Hauptkraft des Kampfes gegen-den Feudalismus war. Ihre spontane, aber ununterbrochene Protestbewegung gegen die bestehende Ordnung wies mehrere Höhepunkte auf, die vor allem in die Jahre 1826 (178 Bauernunruhen), 1830/31 (149 Bauernunruhen), 1833/34 (137 Bauernunruhen), 1845 (116 Bauernunruhen) fielen und schließlich mit 202 Bauernunruhen im Jahre 1848 einen gewissen Kulminationspunkt erreichten. Nach neueren sowjetischen Untersuchungen kam es in den Jahren 1826 bis 1849 zu insgesamt 1904 in ihrem Charakter sehr unterschiedlichen Protesten und Aufständen der Bauern in den verschiedensten Gebieten des Reiches.18 Damit erhöhte sich die Zahl der Bauernuñruhen im Vergleich zum ersten Viertel des 19. Jh. auf mehr als das Doppelte. Viele von ihnen waren rein lokale Angelegenheiten, die schon durch Verhaftung und Auspeitschung der Anführer oder durch beruhigende Worte und Versprechungen unterdrückt werden konnten. Einige nahmen aber den Charakter von Massenunruhen an, an denen zuweilen Zehntausende von Bauern, manchmal auch die Bevölkerung ganzer 16 Custine, Rußland im Jahre 1839, a. a. O., Bd. 1, S. 221. 17 Lenin, W. I., Auf welches Erbe verzichten wir?. In: Werke, Bd." 2, Berlin 1966, S. 517. 18 Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1826—1849 gg. Sbomik dokumentov, Moskau 1961, S. 817.

Nikolaitisches Regime und antifeudaler Kampf

135

Gebiete teilnahmen und zu deren Niederschlagung oft Truppen eingesetzt werden mußten. Sicher hatte die oppositionelle Stimmung unter der Intelligenz Rußlands, die wiederum mit der antifeudalen Bewegung der Volksmassen rechnete und sich auf sie stützte, auf diese einen gewissen Einfluß. Aber die Anlässe der Unruhen und Aufstände waren anderer Art. Es waren neben Naturkatastrophen und Epidemien einmal die kursierenden Gerüchte von einer bevorstehenden Bauernbefreiung — Gerüchte, die von der Bauernschaft, die nach voller persönlicher Befreiung strebte, gierig aufgenommen wurden, zum anderen die Unzufriedenheit der Bauern mit ihrer sozialen Lage, die Willkür, die harte Behandlung von seiten der Gutsbesitzer und Verwalter, die Verstärkung der feudalen Ausbeutung, die rücksichtslose Eintreibung von Steuerrückständen, die zwangsweise Umsiedlung von Bauern und die Verkleinerung ihrer Bodenanteile bzw. die völlige Vertreibung von Bauern von ihrem Grund und Boden sowie, dadurch bedingt, die Verarmung eines Teils der Bauern. Seit 1829 folgte eine Mißernte der anderen. 1833 kam es'zu einer Hungersnot, die sich über die Gouvernements Pensa, Tambow, Archangelsk, Orenburg, Poltawa, Olonez, Nishni-Nowgorod, Bessarabien und das Gebiet der Donkosaken erstreckte. Überall war die Landbevölkerung yi große Not geraten. Die Bewohner zahlreicher Ortschaften waren vom Hungertod bedroht. Hilfe kam spät, und sie war unzureichend. Die Berichte der Generäle und Flügeladjutanten, die der Zar in diese Gebiete gesandt hatte, zeichneten trotz aller Beschönigungen ein entsetzliches Bild. Es ist charakteristisch, daß Nikolaus seine militärischen Berater mit diesen wirtschaftlichen und administrativen Aufgaben betraute. Sie waren die Elemente, denen er sein Vertrauen schenkte und die ihm für Ruhe und Ordnung bürgten. Aber auch sie konnten nicht kaschieren, daß es unter den Bauern gärte. Der Getkinke, daß ein in diese Massen geschleuderter Funke zur Flamme warden könnte, hat Nikolaus bis an sein Ende verfolgt.19 Die üblichen Formen des Protestes waren Weigerung der Bauern, Fron zu leisten, den Obrok abzuführen und sich dem Grundherrn unterzuordnen, Brandstiftung auf den Gutswirtschaften, Überfalle auf Gutshöfe, Inbesitznahme von Land, Ernte und Vermögen des Grundbesitzers, Waldfrevel, Verprügelung und Ermordung von Gutsbesitzern und Verwaltern, gerichtliche Klagen gegen ungesetzliche Willkürakte der Gutsherren und Verwaltet, Bittschriften, Widerstand gegen Behörden und Militär und Flucht leibeigener Bauern sowie als höchste Form des antifeudalen Kampfes der Volksmassen in Stadt und Land die Aufstände. Der erste Höhepunkt der Bauernbewegung in der Regierungszeit Nikolaus' I. fiel in das Jahr 1826. Die Bauern verbanden mit der Thronbesteigung des Zaren neue Hoffnungen auf Veränderungen und gaben diesen Hoffnungen in Unruhen als Zeichen der Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung Ausdruck. Die Antwort des Zaren war sein Manifest vom 12. Mai 1826, in dem die Gerüchte über eine Befreiung der Staatsbauern von Abgaben und der Gutsbauern von der Gewalt ihrer Grundherren dementiert wurden. Nach dem ersten Höhepunkt der Bauernbewegung im Jahre 1826 kam es 1830 und 1831 infolge der weiteren Zuspitzung der Klassengegensätze im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen in Europa zu einem neuerlichen Anstieg der Zahl der Bauerdunruhen. Von den in offiziellen Berichten als „Choleraaufstände" bezeichneten Volksunruhen waren die in Tambow 1830 und in Petersburg 19 Schiemann, Th., Geschichte Rußlands, a. a. O., Bd. 3, Berlin 1913, S. 229f.

136

Rußland von 1825 bis 1861

1831 die bedeutendsten. Bei dem Aufstand in Tambow eilten der fünftausendköpfigen aufständischen Menge 2000 mit Heugabeln, Sensen und Äxten bewaffnete Bauern aus dem nahegelegenen Dorf Nikolskoje zu Hilfe, die aber von den Truppen vor den Toren der Stadt zurückgehalten wurden. Nach der Unterdrückung des Aufstandes wurden über 200 Menschen dem Kriegsgericht übergeben. Unmittelbarer Anlaß der Unruhen waren die Ausbreitung der Cholera im europäischen Teil Rußlands sowie die zahlreichen Mißbräuche wie Erhöhung der Steuern und überhaupt die Willkür der Beamten und Gutsbesitzer bei der Durchführung der Quarantänemaßnahmen. Ihre Hauptursache aber war die Unzufriedenheit der Werktätigen in Stadt und Land mit ihrer sozialen Lage, die sich in die Petersburger Akademie der Wissenschaften. Fortschrittliche Mitglieder dieser Institution widmeten in den dreißiger bis fünfziger Jahren trotz ungünstiger Bedingungen ihre Aufmerksamkeit u. a. auch der Erforschung aktueller Probleme der volkswirtschaftlichen Praxis. Viele Erfindungen, Entdeckungen und wertvolle Forschungsergebnisse sind mit ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit verbunden. 8 Eine größere Bedeutung kam aber den Universitäten des Landes zu. Lobatschewski, Professor an der Kasaner Universität, begründete die nichteuklidische Geometrie. Es ist bezeichnend für den Geist der herrschenden Klasse in Rußland, daß der Metropolit Filaret die Erkenntnisse Lobatschewskis als Häresie abqualifizierte und 6 Kratkaja Istorija SSSR, Teil 1, Leningrad 1972, S. 239. 7 Lejkina-Svirskaja, V. R., Formirovanie raznocinnoj intelligencii v Rossii. In: Istorija SSSR, 1958, Nr. 1, S. 83 ff. 8 Komkov, G. D., Levsin, B. V., Semenov, L. K., Akademija nauk SSSR. Kratkij istoriceskij ocerk, Moskau 1974, S. 161.

Russische Kultur auf dem Wege zur Weltgeltung

173

die von Uwarow geleitete Akademie der Wissenschaften ihn einer Beachtung nicht für würdig hielt, d. h. faktisch die Arbeiten des Gelehrten zu ignorieren suchte. Dabei hatten die Arbeiten Lobatschewskis eine große Bedeutung für die Entfaltung der Naturwissenschaften und. d e r Technik. Von Zeitgenossen wurde er als Kopernikus der Geometrie bezeichnet. Er war nicht nur ein genialer Mathematiker, sondern hat auch viel für das Hochschulwesen und die Wissenschaftsorganisation getan. Zwanzig Jahre lang war er Rektor der Kasaner Universität. Unter seiner Leitung wurde sie neben der Universität Moskau und der Akademie der Wissenschaften zu einem bedeutenden wissenschaftlichen Zentrum. An der Kasaner Universität erhielten auch die chemischen Forschungen Impulse und Unterstützung. Sie sind in Rußland vor allem mit dem Namen Sinins, des Begründers einer Schule russischer Chemiker, verknüpft. Sinin gelang 1842 als erstem Russen die chemische Synthese des Anilins. Seine wissenschaftlichen Arbeiten haben zur Entwicklung der theoretischen und der angewandten Chemie beigetragen. Sie bestimmten für mehrere Jahre die Entwicklungsrichtung der organischen Chemie und dienten als Grundlage für die Entfaltung der pharmazeutischen Industrie und der Herstellung von Sprengstoffen. In der Physik ragte Petrow hervor. Schon zu Beginn des 19. Jh. hatte er den Lichtbogen sowie die elektrische Entladung in einem verdünnten Gas und in einem Vakuum untersucht und auf die Möglichkeiten ihrer Anwendung zur Beleuchtung und beim Schmelzen von Metallen hingewiesen. So schuf er Grundlagen für die praktische Anwendung der Elektrizität im täglichen Leben und in der Volkswirtschaft. Durch seine Feststellung einer der wichtigsten Gesetzmäßigkeiten im Stromkreis, der Abhängigkeit der Stromstärke vom Querschnitt des Leiters, wurde Petrow einer der Vorläufer des deutschen Gelehrten Ohm, der 1826 das nach ihm benannte „Ohmsche Gesetz" formulierte. Die stärkere Konzentration großer Menschenmassen in den Städten und die Vergrößerung der Armee machte einen Ausbau des Gesundheitswesens nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht dringend erforderlich. Fortschrittliche Ideen in der Medizin entwickelte und verbreitete der bedeutende Chirurg und Anatom Pirogow, der seit 1841 an der Petersburger Medizinisch-chirurgischen Akademie tätig war. Er bezeichnete das Experiment und die Erfahrung als die wichtigsten wissenschaftlichen Mittel zur Erforschung der Natur und des Menschen. Seine Arbeit „Topographische Anatomie" sowie seine Forschungen auf dem Gebiet der Anästhesie trugen ihm Weltruhm ein. Pirogow war auch ein hervorragender Pädagoge. Darüber hinaus erwarb er sich große Verdienste um die Organisation des Sanitätsdienstes, deren Notwendigkeit ihm bei seiner Tätigkeit auf zahlreichen Kriegsschauplätzen bewußt wurde. Neben der Astronomie, die in dem 1839 von Struwe in Pulkowo bei Petersburg gegründeten ersten russischen Observatorium eine bedeutende Heimstätte erhielt, erlebte die Geographie einen Aufschwung. Ihr wurden durch Expeditionen russischer Gelehrter wichtige Impulse zuteil. Bedeutende geographische Entdeckungen sind mit dem Namen des Admirals Golownin verbunden, der die Welt mehrmals umschiffte und darüber interessante Reiseberichte geschrieben hat. Schüler und Anhänger Golownins war Friedrich von Lütke, unter dessen Leitung von 1826 bis 1829 die vierte russische Weltumseglung stattfand, auf der reiches Material zur Ozeanographie, Ethnographie, Zoologie und Botanik gesammelt wurde und mit der die Entdeckung von zwölf Inseln

174

Rußland von 1825 bis 1861

im Karolinen-Archipel verbunden ist. Lütke war Hauptorganisator der Gründung der Russischen Geographischen Gesellschaft im Jahre 1845, die in der Entwicklung der Geographie eine große Rolle spielte. Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Meere des Fernen Ostens steuerte Newelskoi bei. Er entdeckte die Amurmündung, die Meerenge zwischen dem Festland und Sachalin und wies nach, daß Sachalin keine Halbinsel, wie man bis dahin annahm, sondern eine Insel ist. Die kultur- und wissenschaftspolitische Kurzsichtigkeit und Borniertheit des russischen Zarismus und seiner Bürokraten sowie die überwiegend religiös-mystische Weltanschauung führender Kreise dg- herrschenden Klasse waren daran schuld, daß Wissenschaft und Technik keine wesentliche Förderung erfuhren, ja teilweise sogar behindert wurden, und daß für die praktische Anwendung von Forschungsergebnissen und Erfindungen russischer Wissenschaftler und Techniker zum Wohle des Volkes kein oder nur sehr wenig Geld zur Verfügung gestellt wurde, so daß sie in ihrer Zeit im Inund im Ausland nur in geringem Maße bekannt wurden. Die progressive Tradition der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen fand u. a. im Wirken eines Friedrich von Lütke, Moritz Hermann von Jacobi, Paul von Schilling-Canstadt, Karl Ernst von Baer, Georg Adolf Erman in Petersburg sowie eines, Alexander von Humboldt ihre Fortführung. Der 1837 nach Petersburg berufene Jacobi wurde durch die Erfindung der Galvanoplastik berühmt. In Petersburg studierte er mit dem seit 1836 an der dortigen Universität wirkenden Heinrich Friedrich Emil Lenz die Verwendung elektromagnetischer Maschinen zum Antrieb von Fahrzeugen sowie Erscheinungen des Lichtbogens. 1839 wurde das erste elektrisch betriebene Schiff der Welt auf der Newa vom Stapel gelassen. Es war das Werk Jacobis, dessen Verdienste in dieser Beziehung von Faraday anerkannt wurden. Die Arbeiten Jacobis hatten schon damals große volkswirtschaftliche Bedeutung. Schilling-Canstadt, der 1812 durch galvanischen Strom quer durch die Newa Minen gesprengt hatte, benutzte 1832, noch ehe Morse mit einer ähnlichen Erfindung hervortrat, den Elektromagnetismus zur Konstruktion eines Telegraphen mit beliebig nach rechts und links ablenkbaren Magnetnadeln. Er verlegte auf dem Boden des Finnischen Meerbusens eine Telegraphenleitung zwischen Kronstadt und Petersburg. Baer hat sich besonders um die Entwicklungsgeschichte der Tiere verdient gemacht. Er gilt als der Begründer der neueren wissenschaftlichen Embryologie. Über seine Forschungsreisen durch Rußland veröffentlichte er ein vierbändiges Werk (1857—1859). Mit Gregor von Helmersen gab er von 1839 bis" 1876 in 26 Bänden „Beiträge zur Kunde des russischen Reichs" heraus. Der Physiker Erman hat sich als Herausgeber des „Archivs für die wissenschaftliche Kunde von Rußland" (1841 — 1865, 25 Bände) große Verdienste um die deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen erworben. Humboldt unternahm 1829 mit Christian Gottfried Ehrenberg und Gustav Rose eine Expedition nach dem Ural und an das Kaspische Meer, auf der er seine Kenntnisse von Rußland wesentlich bereicherte.9 Der Tätigkeit deutscher Gelehrter in Rußland und der Kooperation zwischen deutschen und russischen Wissenschaftlern haben die Wissenschaft und das wissenschaftliche Denken somit wertvolle Ergebnisse und nachhaltige Impulse zu verdanken. Im Bereiche der Gesellschaftswissenschaften nahmen Orientalistik und Slawistik einen beachtlichen Aufschwung. Die russische Orientalistik fand in dem 1814 in Moskau eröffneten Lasarew-Institut für orientalische Sprachen ihre Heimstätte. Zu den Begrün9 Vgl. Perepiska Aleksandra Gumbol'dta s ucenymi i gosudarstvennymi dejateljami.Rossii, Moskau 1962.

Russische Kultur auf dem Wege zur Weltgeltung

175

dem der russischen Sprachwissenschaft gehört Wostokow, der die internationale Slawistik durch die Herausgabe altslawischer und altrussischer Literaturdenkmäler, zum Beispiel des Ostromirevangeliums (1843), sowie durch solche Standardwerke wie „Slowar zerkowno-slawjanskogo jasyka" (1858/61, 2 Bände) und „Grammatika zerkowao-slawjanskogo jasyka" (1863) wesentlich bereichert hat. Eine bedeutende Entfaltung erlebte auch die Geschichtsschreibung. Sie spielte eine besondere Rolle in den geistigen Auseinandersetzungen der Zeit. Die reaktionäre offizielle Historiographie der dreißiger bis fünfziger Jahre, zu deren führenden Vertretern Pogodin und Ustrjalow gehörten, stellte Rußland und Westeuropa als prinzipielle Gegensätze einander gegenüber, um sich von den westeuropäischen revolutionären Ideen deutlich abzugrenzen, idealisierte Selbstherrschaft und Leibeigenschaft, leugnete den Klassenkampf in Rußland und ignorierte die Rolle des Volkes in der Geschichte. Neben der offiziellen Richtung in der russischen Historiographie war die Ideologie der Slawophilen ein ernstes Hindernis für die weitere Entwicklung der Geschichtsschreibung. Die These der Slawophilen von der Eigenart der russischen Geschichte und vom besonderen Weg des russischen Volkes war in ihrer Grundtendenz ebenso reaktionär wie ihre offene Feindschaft gegen die revolutionäre Bewegung in Westeuropa, mit der sie sich den Weg zur Erkenntnis der objektiven Entwicklungsgesetzmäßigkeiten verbauten. Verdienstvoll war ihre Sammlung vo'n Volksüberlieferungen. Der Begründer und führende Vertreter der sich herausbildenden bürgerlich-liberalen Historiographie war Solowjow, der 1850 Ordinarius für Geschichte an der Moskauer Universität wurde, wo er Pogodin ablöste. Er schenkte den zentralen politischen und sozialen Fragen seiner Zeit große Aufmerksamkeit. Das zeigten seine Kritik am nikolaitischen Regime, das er eine dreißigjährige Unterdrückung alles Geistigen, eine Unterjochung der Volkskräfte, eine Verwandlung der russischen Menschen in Stöcke nannte, und sein Protest gegen die Leibeigenschaft, die er als eine Schande bezeichnete, die auf Rußland laste und es aus der Gemeinschaft der zivilisierten Völker Europas ausschließe. Die Teilnahme Solowjows an den bürgerlichen Reformen Alexanders II. war die logische Konsequenz seiner sozialen und politischen Haltung als Repräsentant der liberalen Bourgeoisie. Solowjows Geschichtskonzeption reifte in kritischer Auseinandersetzung mit der adligen Historiographie und Ideologie sowie unter dem Einfluß französischer und deutscher Historiker und der Auffassungen Hegels, besonders seiner „Philosophie der Weltgeschichte". Die Vorlesungen Solowjows erfreuten sich durch ihre fundierte Sachlichkeit großer Beliebtheit. Größere Bedeutung hatte die Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse. Sein wissenschaftliches Werk, in dem er eine Reihe neuer Probleme aufwarf, umfaßt 140 Titel. Es ist das Resultat einer imponierenden Arbeitsleistung, die im Vergleich zu den Auffassungen anderer bürgerlicher sowie der adligen Geschichtsschreiber seiner Zeit und vor allem früherer Epochen ein beachtlicher Fortschritt war. Große Verdienste erwarb sich Solowjow auf dem Gebiet der Quellenkritik und bei der Erweiterung der Quellenbasis der Geschichtsschreibung, wobei ihm der breite Aufschwung der quellenkundlichen und archäographischen Arbeit in Rußland zugute kam. Den historischen Auffassungen Solowjows lag die Vorstellung von der Geschichte als einem einheitlichen, gesetzmäßigen Prozeß zugrunde, den er allerdings idealistisch auffaßte. Angelpunkt seines Systems war sein Europabegriff, der sich auf die damals gerade aufblühende neue Wissenschaft der Indogermanistik stützte. Für Solowjow stand die Zugehörigkeit der Slawen zu Europa außer Zweifel. Dennoch war er bemüht,

176

Rußland von 1825 bis 1861

die Eigenart der historischen Entwicklung Rußlands zu beweisen. In Rußland gab es seiner Meinung nach im Unterschied zu den Staaten Westeuropas keinen Feudalismus und keine Kirche, die danach strebte, sich die Staatsmacht Untertan zu machen. Als Haupttriebkraft der Geschichte bezeichnete Solowjow den Staat und die Regierung, die, wie ihre Form auch sein mag, ihr Volk vertritt. Im Gegensatz zur adligen Geschichtsschreibung verneinte er die These von der Autochthonie der Selbstherrschaft in Rußland und versuchte die Herausbildung des Staates historisch zu betrachten. Solowjow berücksichtigte aber zu wenig die sozialökonomischen Verhältnisse, den Klassenkampf als Triebkraft der Geschichte und den Klassencharakter der Staatsmacht. 1851 begann seine „Geschichte Rußlands seit der ältesten Zeit" zu erscheinen, die er fast bis zum Ende des 18. Jh. führte. Das 29bändige Geschichtswerk ist die umfangreichste und gründlichste, zudem ganz aus den Quellen erarbeitete Gesamtdarstellung der Geschichte Rußlands, die aus der Feder eines einzelnen Verfassers stammt. Sie hat durch den Reichtum des gesammelten Quellenmaterials ihren Wert bis heute erhalten. Neben Solowjow beherrschte Granowski das Feld der bürgerlich-liberalen Geschichtsschreibung. Er war Schüler Rankes, Ritters und Savignys. Seit 1839 hatte er den Lehrstuhl für allgemeine Geschichte an der Moskauer Universität inne. Granowski schuf die Grundlagen für die Erforschung der Geschichte der west- und mitteleuropäischen Länder in Rußland. Seine von humanistisch-demokratischem Geist erfüllten Vorlesungen, öffentlichen Vorträge und Werke vor allem über die mittelalterliche Geschichte Englands und Frankreichs, in denen er die Rolle der Volksmassen in der Geschichte hervorhob und sich auch um eine selbständige Lösung theoretischer Fragen bemühte, erregten großes Aufsehen und übten einen starken Einfluß auf die progressive Intelligenz seines Landes aus. Ihnen lag die Auffassung von der Einheit der Weltgeschichte und von der gesetzmäßigen Aufwärtsentwicklung der menschlichen Gesellschaft zugrunde. Sie richteten sich damit in gleicher Weise gegen die historische Konzeption der Slawophilen wie der offiziellen Historiographie. Vor allem waren sie von Mitgefühl für' die unterdrückten Bauern durchdrungen und deuteten an, daß Granowski die Leibeigenschaft für eine vorübergehende Erscheinung hielt. Die Ideen Granowskis, der die Bestimmung der Geschichtsschreibung in der Anregung zu praktischer Tätigkeit erblickte, weckten das kritische Denken seiner Zuhörer und Leser und bildeten durch ihre bürgerlich-demokratische Grundtendenz zahlreiche Gegner des Feudalsystems heran. In seinen Vorlesungen unterstrich Granowski 1845, daß historische Perioden, in denen die Widersprüche nur durch Gewalt gelöst werden können, unvermeidlich seien. Revolutionäre Aktionen der Volksmassen lehnte er jedoch ab. Er war ein fortschrittlicher Liberaler, der über seine bürgerlich-liberalen ideologischen Grenzen noch nicht hinauszugehen vermochte. Ende der vierziger Jahre, unter den Bedingungen der Entfaltung der gesellschaftlichen Bewegung in Rußland und unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Westund Mitteleuropa, erlebte Granowski einen schöpferischen Aufschwung. Er empörte sich über die Abrechnung der Reaktion mit dem französischen Proletariat 1848. Der polemische Charakter seiner Vorlesungen prägte sich stärker aus, sein Interesse für Probleme der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie für das Volk als Schöpfer aller Reichtümer, al3 Kämpfer gegen soziale, politische und nationale Unterdrückung vertiefte sich noch. Mit besonderem Nachdruck setzte er sich für die leibeigenen Bauern ein und sprach sich gegen die Erniedrigung der menschlichen Persönlichkeit und gegen die Verfolgung progressiver Gedanken aus. Der Lehrstuhl Granowskis entwickelte

Russische Kultur auf dem Wege zur Weltgeltung

177

sich zu einer Tribüne des gesellschaftlichen Protestes. Der Erfolg seiner Vorlesungen und öffentlichen Vorträge in den vierziger und fünfziger Jahren war so groß, daß sein Wirken von der Dritten Abteilung aufmerksam verfolgt wurde. Die Möglichkeiten seiner öffentlichen Tätigkeit wurden immer weiter eingeengt. Schließlich wurde er 1851 gezwungen, seinen Vorlesungszyklus zu kürzen. Die russische Journalistik spielte gleichfalls in dem Kampf zwischen progressiven und reaktionären Anschauungen eine große Rolle. Die Zahl der Zeitungen und Zeitschriften hatte sich gegenüber dem 18. Jh. bedeutend erhöht. Ebenso hatte die Leserschaft zugenommen. Auch die soziale Zusammensetzung der Leserschaft hatte sich verändert: Neben Adligen gehörten jetzt zahlreiche Rasnotschinzen zu den Abonnenten der Zeitschriften und Zeitungen. Außerdem war die Auflagenhöhe gestiegen und hatte sich das Spektrum der in den Zeitschriften und "Zeitungen erörterten Fragen erweitert. Von den reaktionären Zeitungen wie „Sewernaja Ptschela" von Gretsch und Bulgarin und reaktionären Zeitschriften wie „Moskowski Westnik" von Pogodin und „Moskowski Nabljudatel" von Schewyrjow grenzten sich nicht nur die progressiven Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch schon bürgerlich-liberale Zeitschriften wie „Moskowski Telegraf und „Teleskop" ab. Die bedeutendsten fortschrittlichen Zeitschriften waren der „Sowremennik" und die „Otetschestwennye Sapiski". Begründer des „Sowremennik" war Puschkin. Nach dem Tode Puschkins 1837 verlor die Zeitschrift allerdings vorübergehend ihren kämpferischen Charakter. Erst 1847 unter der Leitung von Nekrassow und Panajew befaßte sie sich wieder mit aktuellen Fragen des literarischen und gesellschaftlichen Lebens. Ideologischer Führer des „Sowremennik" wurde Belinski. Großen Einfluß auf die Redaktion der Zeitschrift hatten Herzen und Ogarjow. Von Mitte der fünfziger Jahre an waren Tschernyschewski und Dobroljubow Mitglieder des Redaktionskollegiums. Am Vorabend der Reformen wurde der „Sowremennik" das Kampforgan der russischen revolutionären Demokratie. Auch auf die „Otetschestwennye Sapiski" übten die Führer der revolutionär-demokratischen Intelligenz einen bestimmenden Einfluß aus. Als 1842 Belinski die Leitung der kritischen Abteilung übernahm, wurde die Zeitschrift zur Tribüne der fortschrittlichen Publizistik. Sie genoß große Popularität, insbesondere unter der fortschrittlichen Studentenschaft. Nach dem Tode Belinskis 1848 begann im Zusammenhang mit der zunehmenden politischen Reaktion in den sogenannten sieben düsteren Jahren mit ihren verschärften Zensurbedingungen und ihrer gesteigerten Verfolgung des kulturellen Fortschritts der Einfluß der „Otetschestwennye Sapiski" merklich nachzulassen. Die Belletristik hatte unter dem Regime Nikolaus' I. und unter der 1826 bestätigten neuen Zensurordnung besonders zu leiden. Trotz aller Restriktion wurde die demokratische Literatur, die von allen Bereichen der Kultur die größte Wirksamkeit auf die russische Öffentlichkeit erlangte, dank dem besonderen Geschick ihrer fortschrittlichen Repräsentanten, ihre Gedanken in eine unverdächtige und nichtanstößige Form zu kleiden, neben Literaturkritik und Publizistik zum einzig möglichen Forum feiner freiheitlichen Opposition unter den Bedingungen der nikolaitischen Reaktion. 10 Ende der dreißiger und in den vierziger Jahren legten Belinski und Herzen den Grundstein zu einer.neuen, der revolutionär-demokratischen Entwicklung der russischen Literatur und bahnten dem kritischen Realismus den Weg. In ihren literarischen und kunstkritischen Arbeiten forderten sie von den Schriftstellern und Künstlern eine 10 Herzen, A., Rußlands soziale Zustände, Leipzig (1948), S. 82. 12

Straube/Zeil Feudalismus

178

Rußland von 1825 bis 1861

wahrheitsgetreue Darstellung des Lebens des Volkes. Der Literaturkritiker Belinski war der Überzeugung, daß die anspruchsvolle Literatur des kritischen Realismus sich durchsetzen und entfalten werde. Er verwandelte die Literaturkritik in ein Mittel zur Propagierung revolutionär-demokratischer Ideen. Zu seinen bedeutendsten literaturkritischen Aufsätzen gehören die Arbeiten „Über die russische Erzählung und die Erzählungen des Herrn Gogol" (1835) und „Die Werke Alexander Puscftkins" (1843—1846). Großen positiven Einfluß auf das literarische Leben Rußlands hatte auch das schriftstellerische Schaffen Herzens. Seine schöngeistigen Werke „Wer ist schuldig?" (1847), einer der ersten sozialpsychologischen Romane der russischen Literatur, „Die diebische Elster" (1846) und „Doktor Krupow" (1847) sowie seine Memoiren „Erlebtes und Gedachtes" (1868) nehmen in seinem Schaffen und in der russischen Literatur einen bedeutenden Platz ein, obwohl sich Herzens schriftstellerisches Talent in der kämpferischen Publizistik am meisten entfaltete. Belinski und Herzen haben wesentlich dazu beigetragen, daß die russische Literatur das geworden ist, was wir an ihr bewundern, eine politische und soziale Kraft, die gegen Ausbeutung und Leibeigenschaft, gegen die Unterdrückung der Persönlichkeit gerichtet war. Sie propagierte direkt oder indirekt eine bürgerliche Denkweise, die auf eine grundlegende Reform der sozialen Struktur hinwirken mußte. Treffend stellte Rosa Luxemburg fest, daß die russische Literatur „von Anbeginn ihrer Laufbahn, seit Anfang des 19. Jahrhunderts, nie die soziale Verantwortlichkeit verleugnet, nie den zernagenden, qualvollen Geist der gesellschaftlichen Kritik vergessen" 11 habe. Ihre Träger seien von sozialem Mitgefühl erfüllt gewesen. Dieses soziale Mitgefühl sei es, „was die Eigenart und künstlerische Größe der russischen Literatur bedingt. Ergreifen und erschüttern kann nur-, wer selbst ergriffen und erschüttert ist." 12 Und alle großen Schriftsteller und Dichter Rußlands in den Jahrzehnten vor 1861 waren ergriffen und erschüttert von der sozialen und politischen Ungerechtigkeit, von der maßlosen Unterdrückung der Persönlichkeit, besonders in Form der Leibeigenschaft, und von der Verfolgung des Fortschritts durch die zaristische Reaktion. Das Ergebnis war eine enge Verbindung der Literatur mit der revolutionären Bewegung. Diese Verbindung bestimmte das Wesen der russischen Literatur: ihren hohen Ideengehalt, ihren demokratischen Geist und ihre Volksverbundenheit. Man wird der Feststellung Rosa Luxemburgs zustimmen müssen, daß die russische Literatur, die die historische Entwicklung des Volkes, die Besonderheiten und den Charakter des Klassenkampfes, die Kraft und die Leidenschaft der Bewegung der Volksrriassen Rußlands widerspiegelt, „mitten in dem großen Gefängnis, in der.materiellen Armut des Zarismus ein eigenes Reich geistiger Freiheit und üppiger Kultur geschaffen (hat), in dem man atmen und an den Interessen und geistigen Strömungen der Kulturwel't teilnehmen konnte", und daß sie es dadurch vermochte, „eine soziale Macht in Rußland zu bilden, Generationen um Generationen zu erziehen und für die Besten . . . zur wahren Heimat zu werden." 1 3 Bereits der Sentimentalismus des ausgehenden 18. Jh. hatte in Rußland als Wider-1 part des Klassizismus objektiv eine positive Rolle gespielt, indem seine Repräsen11 Luxemburg, R., Die Seele der russischen Literatur. In: Rosa Luxemburg, Schriften über Kunst und Literatur, Dresden 1972, S. 57. 12 Ebenda, S. 60. 13 Ebenda, S. 66.

Russische Kultur auf dem Wege zur Weltgeltung

179

tanten zur Demokratisierung der Kultur beitrugen. Einen weiteren Schritt vorwärts bedeutete die kämpferische, revolutionäre Romantik der Dekabristen, die sich von der passiven, kontemplativen Romantik eines Shukowski deutlich abgrenzte. Geprägt wurde die russische Literatur in den dreieinhalb Jahrzehnten nach dem gescheiterten Dekabristenaufstand aber in erster Linie von der künstlerischen Methode des kritischen Realismus, der sich nicht nur in Rußland, sondern auch in Frankreich und in England durchsetzte. Seine Formen und nationalen Varianten waren sehr vielfältig und das von ihm verarbeitete Material ist ungemein reich und vielschichtig. Die gesellschaftliche Wirklichkeit stand im Mittelpunkt, die enge Verbindung zum progressiven sozialen und politischen Denken der Zeit sowie zum Befreiungskampf der Völker war für ihn bezeichnend.' In Rußland verhalf ihm der reife Puschkin zum Durchbruch, Lermontow und Gogol folgten. Sie verschafften dem kritischen Realismus in der russischen Literatur etwa zur gleichen Zeit Geltung wie Balzac und Stendhal in Frankreich sowie Dickens in England und begründeten damit den Weltruf der russischen Literatur. Die Entstehung des kritischen Realismus als einer qualitativ neuen Erscheinung in der russischen Literatur ist mit der Vertiefung der bewußt kritischen Einstellung der fortschrittlichen Kräfte der russischen Gesellschaft zum Feudalsystem in Rußland verbunden. In den Mittelpunkt des Interesses rückten immer mehr die schöpferische Rolle des Volkes im historischen Prozeß und die Frage nach den Perspektiven des revolutionären Kampfes um eine Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse. Das Streben nach Erfassung des Wesens von sozialen Erscheinungen, die Gestaltung des Typischen, die historische Betrachtungsweise, die Volkstümlichkeit im Sinne einer Parteinahme für die Interessen des Volkes, die Wahl gewöhnlicher Menschen als literarische Helden, die Vorliebe für alltägliche Lebenssituationen, die allseitige Charakterzeichnung und die objektive, bildhafte Widerspiegelung der Wirklichkeit gehören zu den charakteristischsten Merkmalen der neuen literarischen Methode des kritischen Realismus.14 Der Prozeß der Herausbildung des kritischen Realismus in der russischen Literatur ist vor allem mit der Persönlichkeit Alexander Puschkins verbunden. Puschkin kehrte 1826 aus der Verbannung zurück und nahm trotz der Überwachung durch die Polizei wieder aktiv am geistigen Leben Rußlands teil. 1825 bereits hatte er sein Volksdrama „Boris Godunow" vollendet, das in der Vertonung von Mussorgski (1872) weltweit wirkte. In diespm Werk hat Puschkin ein Beispiel realistischer Geschichtsdarstellung gegeben. Es ist das erste dramatische Werk der russischen Literatur, in dem nach der Rolle des Volkes bei politischen Umwälzungen gefragt wird. Diese Frage war nach der Niederlage des Dekabristenaufstandes besonders aktuell. Den verbannten Helden dieses Aufstandes widmete Puschkin sein berühmtes „Sendschreiben nach Sibirien" (1827), in dem er sich zu den progressiven Zielen der Dekabristen bekannte und die fortschrittliche Jugend Rußlands in ihrem Glauben an den Sinn ihres Kampfes gegen die Selbstherrschaft bestärkte. 1830 lag Puschkins Hauptwerk „Eugen Onegin" vor, in dem die realistische Methode des Dichters den Höhepunkt erreichte. In diesem Roman in Versen entwarf Puschkin ein eindrucksvolles Gemälde der russischen Gesellschaft seiner Zeit. Auf dem 14 Literaturen der Völker der Sowjetunion, Leipzig 1968, S. 27; vgl. auch: Geschichte der klassischen russischen Literatur, Berlin—Weimar 1965, passim. 12»

180

Rußland von 1825 bis 1861

Hintergrund des Lebens des Adels in Petersburg, in Moskau und in der Provinz machte er die Krise der russischen Adelsjugend deutlich und gestaltete ihre Suche nach einer neuen Lebensweise. In Onegin schuf er die erste realistische Verkörperung jenes Typs, der als „überflüssiger Mensch" — zeitgenössisch modifiziert — noch in der russischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu finden war. Gebildete, fortschrittliche Adlige wie Onegin, die ihre Klasse geistig weit überragten, lehnten die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit entschieden ab. Sie empfanden die Tragik, ihre Energie und ihren Verstand, ihre Kräfte und ihr Wissen nicht zum Wohle der Gesellschaft einsetzen zu können. Euerseits wandten sie sich von der Gesellschaft des zaristischen Rußland ab, in der sie keinen sie befriedigenden Platz fanden, weil in ihr selbständiges Denken und weltoffenes Handeln nicht geduldet wurden. Andererseits waren sie aber nicht imstande, eine soziale Alternative zu entwickeln: Sie fühlten sich isoliert und betrachteten ihr Leben als nichtig, sinnlos. Die Krankheit Onegins, so ließ Puschkin deutlich werden, war ein in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit wurzelndes Leiden. „Eugen Onegin" begründete den Weltruhm Puschkins, wozu auch die spätere Vertonung von Tschaikowski (1878) beigetragen hat. Immer wieder fühlte sich Puschkin als unversöhnlicher Feind der Leibeigenschaft zu Themen der antifeudalen Bewegung der Bauern hingezogen. Der Bauernkrieg in Rußland im 18. Jh. interessierte ihn so, daß er spezielle Archivstudien trieb und Reisen in die östlich der Wolga gelegenen Steppen unternahm, um Material für eine wissenschaftliche Untersuchung zu sammeln, deren Titel „Geschichte Pugatschows" vom Zaren in „Geschichte des Pugatschowschen Aufruhrs" umgeändert wurde. Der antifeudale Aufstand Pugatschows in den 70er Jahren des 18. Jh. bildet auch den Handlungsraum des historischen Romans „Die Hauptmannstochter" (1836), der auf Grund eingehender Milieu- und Quellenstudien entstand. Ein beredtes Zeugnis für die Beliebtheit des Lyrikers Puschkin und für die Ausstrahlungskraft seiner Lyrik ist die Tatsache, daß etwa 150 seiner Gedichte vertont wurden. Von seinen großen Dichtungen lieferten mehrere den Stoff zu Opern, so Ruslan und Ludmilla, Eugen Onegin, Pique Dame und Boris Godunow. Puschkin gilt zu Recht als der Begründer der neueren russischen Literatur, einer wahrheitsgetreuen, volksverbundenen, sozialkritischen und nationalen Literatur, und als Reformator der russischen Literatursprache. Er ist der russische Nationaldichter, der in seinen Fragestellungen und künstlerischen Lösungen weit über seine Zeit hinausweist. Mit Puschkin, der anerkannte Maßstäbe für ganze Künstlergenerationen nach ihm gesetzt hat, ist der Aufstieg der russischen Literatur zur Weltgeltung verbunden. Sein früher Tod in einem von der Reaktion angezettelten sinnlosen Duell 1837, das in einer Atmosphäre der Feindschaft und Verleumdung stattfand, war ein schwerer Verlust nicht nur für die russische Literatur, sondern für die Weltliteratur. Auch auf die fortschrittliche deutsche Öffentlichkeit wirkte er als ein soziales und politisches Ereignis. Das Schaffen des Dichters hat in Deutschland große Resonanz gefunden. 15 Noch zu Lebzeiten Puschkins wurden mehrere seiner Werke in deutscher Sprache veröffentlicht. Die formal ansprechenden, dem Ideengehalt aber meist nicht ganz gerecht werdenden Übersetzungen Bodenstedts, dessen dreibändige Puschkinausgabe 1854/55 erschien, machten Puschkin in Deutschland bekannter. Eine hervorragende Puschkin15 Vgl. Geschichte der klassischen russischen Literatur, a. a. O., S. 234ff.

Russische Kultur auf dem Wege zur Weltgeltung

181

Interpretation, die bis heute ihren Wert behalten hat, verdanken wir dem fortschrittlichen deutschen Literaturkritiker und Publizisten Varnhagen v.on Ense. In seiner 1838 in den Berliner „Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik" erschienenen Rezension von Werken Puschkins schätzte er diesen vor allem als. nationalen Dichter Rußlands. Sein Werk war für ihn ein „treuer Spiegel des russischen Lebens". Puschkins Lyrik würdigte er als „Ausdruck einer mutigen, frei gesinnten und unbezwinglichen Seele". Im Werk Puschkins sah er den Höhepunkt der bisherigen Entwicklung der russischen Literatur. Die Begeisterung Varnhagens für Puschkin, aber auch für Lermontow, war kein Zufall. Beide waren für ihn Bundesgenossen im Kampf für den Realismus sowie gegen die soziale, politische und geistige Reaktion. Seine Rezension hatte für die Einschätzung der russischen Literatur in Deutschland bahnbrechende Bedeutung. Varnhagen wies als einer der ersten auf die fortschrittlichen Kräfte und Potenzen der russischen Kultur hin: „Rußland schreitet unaufhaltsam zu Entwicklungen fort, deren künftige Gestalt, wie riesenhaft auch' schon jetzt vieles dazu sich anläßt, in vollem Umfange zu ermessen selbst der kühnste Seher nicht unternehmen darf; wir sind überzeugt, daß diese Entwicklungen auch einen großen Teil unseres deutschen Lebens angehen und bedingen werden, da noch viele Gemeinschaft und die tätigste Wechselwirkung beiden Völkern beschieden sei." 1 6 'Damit war ein wesentlicher Grundstein für eine echte Wechselseitigkeit zwischen der. deutschen und der russischen Kultur gelegt. Als der bedeutendste künstlerische Erbe Puschkins gilt Lermontow. Neben den sozialökonomischen und politischen Verhältnissen in Rußland haben Schiller, Heine, Byron, Puschkin und die Dekabristen, aber auch Chateaubriand, seine Weltanschauung geformt. Er gehörte einer Generation an, auf der der Druck der nikolaitischen Reaktion besonders schwer lastete. So sind auch die jugendliche Begeisterung Lermontows für die französische Revolution 1830, die in seinem Gedicht „Der 30. Juli" (1830) Ausdruck findet, und die Vision des Dichters vom Ende des Zarismus in seinem Gedicht „Prophezeiung" (1830) von Pessimismus überschattet. Lermontow hatte nur wenig Hoffnung, die Verwirklichung seiner revolutionären Träume im eigenen Vaterland selbst zu erleben. Aber trotz seiner Verbitterung und seiner Gefühle der Einsamkeit ist er im letzten kein Dichter der Resignation, sondern der Auflehnung, des Protestes, der Herausforderung, Schöpfer einer streitbaren Lyrik. Ein Höhepunkt in der Auseinandersetzung Lermontows mit dem zaristischen Regime war sein Gedicht „Der Tod des Dichters" (1837), das ihn in der Öffentlichkeit bekannt machte. Dieses Gedicht, in dem Lermontow im Namen aller fortschrittlichen Kräfte Rußlands die am Tode Puschkins schuldigen Hofkreise als „Henker des Genies — des Ruhms, der Freiheit Schergen" 17 anklagte, war weit mehr als ein Nachruf. Es war ein revolutionärer Aufruf. Die dem Gedicht immanente Kritik am Regime veranlaßte Nikolaus I., den Verfasser in den Kaukasus zu verbannen. Dort traf Lermontöw mit verbannten Dekabristen und fortschrittlichen georgischen Intellektuellen zusammen. Die Verarbeitung ihrer Ideen sowie des Erlebnisses der

16 Varnhagen von Ense, K. A., Werke von Alexander Puschkin, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Stuttgart-Tübingen, Jg 12 (1838), Nr. 61 (Oktober), Spalte 482f. 17 Deutsch von Tutenberg, B., in: Solang es dich, mein Rußland, gibt, 3. Aufl., Leipzig 1967, S. 29.

182

Rußland von 1825 bis 1861

Bekanntschaft mit dem Leben der freiheitsliebenden Bergvölker und mit der Landschaft des Kaukasi^s bedeutete eine wesentliche Bereicherung seines Schaffens. Die russische Literatur und die Weltliteratur verdankt Lermontow neben meisterhaften Gedichten und großartigen Poemen vor allem den berühmten Roman „Ein Held unserer Zeit" (1840), den ersten psychologischen Gesellschaftsroman der russischen Literatur. Als eines der bedeutsamsten Prosawerke der russischen Literatur stellt er einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung des russischen realistischen Romans dar. In ihm gestaltet Lermontow die Tragödie eines „überflüssigen Menschen". Der „Held" des Romans, der junge Adlige Petschorin, ein mutiger und entschlossener Mann, ist kein Held im Sinne eines Vorbildes, er ist eine gebrochene Persönlichkeit, ein typischer Repräsentant der skeptischen, oft zynischen Jugend der Zeit nach 1825. Gleichzeitig ist er aber auch der personifizierte Protest gegen eine morbide Gesellschaft, die wertvolle menschliche Kräfte gewissen- und gedankenlos zugrunde richtete und die Freiheit der Persönlichkeit in den Schmutz trat. Es' ist kein Zufall, daß Nikolaus I. diesen Roman als „abscheuliches" und „klägliches" Buch bezeichnete, „das eine große Verderbtheit des Verfassers anzeigt", und hervorhob, daß solche Bücher mit ihrer „übertriebenen Schilderung verächtlicher Charaktere" die Sitten und den Charakter der Menschen verderben. 18 Bei aller Distanz Lermontows von seinem „Helden" hing er doch an dieser Persönlichkeit, in deren Schicksal er seine eigenen Lebenserfahrungen künstlerisch gestaltet hat. Das Schaffen Lermontows ist ein wichtiges Kettenglied zwischen dem Werk der Dekabristen und Puschkins und dem der revolutionären Demokraten. Seiner Poesie und Prosa liegen fortschrittliche Auffassungen zugrunde: Empörung über die Leibeigenschaft, Haß gegen die zaristische Selbstherrschaft, Protest gegen jede Form der Bevormundung und gegen die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Am 5. Mai 1842 trug man die vom Kaukasus übergeführte sterbliche Hülle des wie Puschkin in einem Duell ums Leben gekommenen Lermontow zu Grabe. Zwei Wochen später erschienen die ersten Exemplare eines in ganz Rußland Aufsehen erregenden Werkes — des Romanes „Tote Seelen". Das Hautverdienst seines Verfassers, Gogols, besteht darin, die satirisch-kritische Richtung zu einem festen Bestandteil der russischen Literatur gemacht zu haben. Gogols Schaffen, an das zeitgenössische und spätere Schriftsteller Rußlands anknüpften, stellt eine Weiterführung der besten Traditionen der klassischen russischen Literatur dar. Mit ihm vollzog sich die endgültige Wende der russischen Dichtkunst zur realistischen Prosa. Gogol deckte die Klassengegensätze in Rußland schonungslos auf. Er sah und gestaltete die russische Gesellschaft mit den Augen des einfachen Volkes in Stadt und Land. Damit folgte er einer allgemeinen Tendenz der russischen Literatur, der durch die literarische Bewegung der Romantik mit ihrem ausgeprägten Sinn für das künstlerische Schaffen des Volkes bedeutende Förderung zuteil geworden war. Gogol gab die parasitäre Lebensweise der herrschenden Klasse der Lächerlichkeit preis und wies in seinen Werken darauf hin, daß sich das Feudalsystem überlebt hatte. Er trug wesentlich zur weiteren Demokratisierung der russischen Literatur bei und wurde zum Vorbild der sogenannten Natürlichen Schule, „die in den vierziger Jahren im Mittelpunkt des literarischen Prozesses stand. Schwerpunkte seines Schaffens bildeten 18 Istorija SSSR, Bd. IV, Moskau 1967, S. 648; Th. Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bd. 3, Berlin 1913, S. 411 f.

Russische Kultur auf dem Wege zur Weltgeltung

183

das Leben einfacher Menschen, denen seine ganze Sympathie galt, sowie die Banalität und die innere Leere des Daseins der privilegierten Schichten dei" russischen Gesellschaft. Große Bedeutung für das Leben und Schaffen Gogols hatte seine Freundschaft mit Puschkin. Dieser riet ihm, volkstümliche Geschichten aus seiner ukrainischen Heimat aufzuzeichnen. Aus reichem ethnographischen Material gestaltete Gogol ukrainische Meistererzählungen, die den Geist der progressiven, volkstümlichen und volksverbundenen Romantik atmen („Die Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka", 1831/32) bzw. deutlich machen, daß. innerlich hohle, lebensuntüchtige und kleinliche Gutsbesitzer in der x ukrainischen Provinz den Ton angeben und die lebensbejahenden, freiheitsliebenden Kräfte des Volkes beherrschen („Mirgorod", 1835). Hervorgehoben zu werden verdient die Erzählung „Taras Bulba", in der Gogol den nationalen Befreiungskampf des ukrainischen Volkes gegen die polnische Herrschaft im 16. Jh. gestaltet, wobei er das Volk als den eigentlichen Helden des Geschehens darstellt. Die Auseinandersetzung Gogols mit der feudalen Gesellschaftsordnung und ihrem aristokratisch-bürokratischen System erreichte in den „Petersburger Erzählungen" (1835—1842), aus denen die Erzählung „Der Mantel" besonders hervorragt, eine neue Stufe. Auf dem Hintergrund der bedrückenden Großstadtatmosphäre werden die Lebensschicksale „kleiner Leute" dargestellt. Mit der künstlerischen Ausleuchtung ihrer Stellung in der russischen Gesellschaft und ihres Kampfes um die elementarsten Lebensrechte drang der Schriftsteller zur Gestaltung der grundlegenden gesellschaftlichen Konflikte seiner Zeit vor. Korruption, Intrigen und Ignoranz unter den Beamten einer russischen Provinzstadt als Symbol des ganzen zaristischen Systems bilden den Inhalt der auch heute noch gespielten köstlichen-Komödie „Der Revisor" (1836), die Gogol auf Anregung Puschkins verfaßte. Sie bildet einen Höhepunkt der russischen realistischen Dramatik der ersten Hälfte des 19. Jh. Mit erschütternder Komik kritisierte Gogol schonungslos die zaristische Bürokratie als eine der Stützen des Zarismus. 1836 verließ Gogol Rußland und hielt sich in Deutschland, Frankreich und Italien auf. In dieser Zeit arbeitete er an seinem größten Werk, dem Roman „Tote Seelen", den er auf Anraten Puschkins begonnen hatte und der das reifste Werk des Gogolschen Realismus wurde. Das erste Buch, das Teil eines größeren Werkes sein sollte, erschien 1842. In ihm vermittelt der Verfasser ein in unbarmherziger Wahrheitstreue gezeichnetes Gesamtbild des zeitgenössischen Rußland. Dieser Roman ist eine Anklage gegen das Rußland der Gutsbesitzer, eine Art Grabrede auf die überlebte Feudalordnung. Als tote Seelen erwiesen sich letztlich nicht nur die verstorbenen Leibeigenen, sondern auch all die sinnlos lebenden Herren und Damen, denen der Kollegienrat und Gutsbesitzer Tschitschikow, die Verkörperung des heraufziehenden Kapitalismus, seine Aufwartung macht. Der Gesamteindruck vom zeitgenössischen Rußland ist deprimierend. Ganz Rußland ersteht vor dem Leser als ein Land der Fäulnis und der Zersetzung. Das Werk ist aber zugleich auch ein Bekenntnis Gogols zum einfachen russischen Volk. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre geriet Gog®l unter den Einfluß seiner Freunde aus dem Kreise der Slawophilen. Seine „Ausgewählten Stellen aus meinem Briefwechsel mit Freunden", die — wie bereits erwähnt — Anlaß zu einer heftigen Kontroverse mit Belinski wurden, zeigen die Widersprüche in der damaligen Entwicklung des Schriftstellers. „Gogol erkannte und verurteilte sehr richtig die sozialen

184

Rußland von 1825 bis 1861

Widersprüche in denjenigen westeuropäischen Ländern, die den kapitalistischen Weg bereits beschritten hatten, zog aber fälschlicherweise den Schluß, Rußland könne auf Grund der patriarchalischen Besonderheiten seiner Gesellschaftsform diesen Weg vermeiden und eine eigene Entwicklung durchlaufen." Er verkündete „die innere Wandlung der Gütsbesitzer und die allgemeine Versöhnung zwischen leibeigener Bauernschaft und Adelsklasse, was einer Rechtfertigung des Zarismus und der Leibeigenschaft gleichkam" 19 . Der Appell Belinskis an Gogol blieb ohne Widerhall. Gogol unterlag immer häufiger religiös-mystischen Stimmungen und Depressionen und vernichtete u. a. auch das zweite Buch seines großen Romans. Er hatte eingesehen, „daß die von ihm geschaffenen Idealgestalten aus den Kreisen des russischen Adels nicht der Wirklichkeit entsprachen" 2 0 . Als Dichter, der für Jahrzehnte das Gesicht der russischen Literatur mit geprägt hat, wurde Gogol schon zu, seinen Lebzeiten auch in Deutschland bekannt. 21 Sein Werk und die widerspruchsvolle Entwicklung in seinen letzten Lebensjahren spielten in den literarischen Polemiken Deutschlands eine nicht unwesentliche Rolle. Bereits seit den dreißiger Jahren erschienen deutsche Übersetzungen von Werken Gogols. Um die Gogol-Interpretation hat sich vor allem August von Viedert große Verdienste erworben. In der „Illustrierten Zeitung" machte er 1852 auf Gogols „durchdringenden Tiefblick" und auf seine „allgewaltige Fassungskraft" sowie auf die realistische Ausleuchtung der von ihm geschaffenen Charaktere aufmerksam. 2 2 In den vierziger und fünfziger Jahren erschienen u. a. auch die ersten Werke der großen kritischen Realisten, die dann in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die russische Literatur prägten: Dostojewskis, Saltykow-Stschedrins, Gontscharows, Turgenjews, Ostrowskis und Nekrassows. Sie runden das Bild der literarischen Entwicklung Rußlands in jener Zeit ab, in der — allen Prognosen der ideologischen Gegner des kritischen Realismus zum Trotz — gerade diese Richtung sich durchsetzte. Als Fortsetzer Belinskis hatten in den fünfziger Jahren Dobroljubow und Tschernyschewski einen großen Einfluß auf die russische Literatur. Dobroljubow hat sich als Philosoph und Literaturkritiker einen Namen gemacht. 1856 lernte er Tschernyschewski persönlich kennen und wurde dessen nächster Kampfgefährte als aktiver Mitarbeiter am „Sowremennik". Friedrich Engels nannte ihn und Tschernyschewski später „zwei sozialistische Lessings" 23 . Außer Rezensionen und anderen kritischen Artikeln, auch über deutsche Literatur, hinterließ Dobroljubow zahlreiche Gedichte und einige Prosawerke. Besonders wertvolle Beiträge zur russischen revolutionären Publizistik, zur realistischen Literaturkritik und zur materialistischen Philosophie sind zum Beispiel „Was ist Oblomowtum?" (1859), „Das finstere Reich" (1859), „Ein Lichtstrahl im finsteren Reich" (1860), „Wann endlich kommt der Tag?" (1860). Dobroljubow kämpfte für einen lebensnahen Realismus in einer volksverbundenen Literatur und Kunst, die zur Umgestaltung der Gesellschaft beitragen sollte. Mit seinen utopischsozialistischen Forderungen und den starken dialektischen Elementen seines Denkens, mit seiner Bejahung des aktiven Kampfes der Volksmassen sowie der wissenschaft-

19 20 21 22 23

Geschichte der klassischen russischen Literatur, a. a. O., S. 309. Ebenda, S. 310. Ebenda, S. 328 f. Gogol, Nicolai. In: Illustrierte Zeitung (Leipzig), 30. 10.1852, Nr. 487. Engels, F., Flüchtlingsliteratur, III. In: Marx, K./F. Engels! Werke, Bd. 18, Berlin 1962, S. 540.

Russische*Kultur auf dem Wege zur Weltgeltung

185

liehen Fundierung und Begründung seiner literarischen Kritik näherte er sich marxistischen Einsichten. Zu den besten Arbeiten Tschernyschewskis gehören „Skizzen zur Gogolschen Periode der russischen Literatur" (1855/56) und „Lessing, seine Zeit, sein Leben und seine Tätigkeit" (1856/57) sowie Aufsätze über Puschkin und Lew Tolstoi. Die wichtigsten Prinzipien seiner ästhetischen Theorien waren Realismus und Verbundenheit mit der Literatur und Kunst des Volkes. Von materialistischen Positionen aus stellte er die Grundfrage der Ästhetik nach dem Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit. Statt einer einfachen, teilnahmslosen Reproduktion der Wirklichkeit forderte er eine kritische, aktive und persönliche Stellungnahme. Kunst und Literatur sind dazu bestimmt, die vielschichtige Wirklichkeit, das gesellschaftliche Leben und die sittliche Welt des Menschen in künstlerischen. Bildern widerzuspiegeln und damit einen entscheidenden Beitrag zur Erziehung der Menschen zu leisten. Diese Gedanken hat Tschernyschewski vor allem in seiner Arbeit „Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit" (1855) niedergelegt. Tschernyschewski wurde 1862 verhaftet und in der Peter-Pauls-Festung in Petersburg eingekerkert. Dort schrieb er seinen berühmten Roman „Was tun?" (1863), der einen großen Einfluß auf die Revolutionäre Rußlands und anderer Länder ausübte. In Deutschland erhielt man von Tschernyschewski erst Kenntnis, als er ein Öpfer der zaristischen Willkür geworden war. „Es waren vor allem die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und weitere Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung, die den Namen Tschernyschewskis in Deutschland bekannt gemacht und die Verdienste des großen revolutionären Denkers gewürdigt haben." 2 4 Die klassische russische Literatur der ersten Hälfte des 19: Jh. gehört zu den Schätzen der Weltkultur. „Im 19. Jahrhundert anfangs in ihrer internationalen Wirkung noch überschattet vom Ruhm der französischen, englischen und deutschen Literatur, wuchs sie unaufhaltsam zu immer umfassenderer Bedeutung, bis die Welt gegen Ende des Jahrhunderts gewahr wurde, welche grandiosen Kulturleistungen auf dem Boden Rußlands gewachsen waren." 2 5 Rosa Luxemburg hat die Bedeutung der klassischen russischen Literatur für Rußland selbst und für die Welt treffend zu würdigen verstanden. Sie sei aus Opposition zu dem herrschenden Regime, aus Kampfgeist geboren worden.. „Daraus erklärt sich der Reichtum und die Tiefe ihres geistigen Gehalts, die Vollendung und Originalität ihrer künstlerischen Form, namentlich aber ihre schöpferische und bewegende soziale Kraft." Die klassische russische Literatur sei es gewesen, die Rußland einen Platz in der Weltkultur erobert, und eine Brücke zum Westen geschlagen habe, „um hier nicht nur als Nehmende, sondern auch als Gebende, nicht bloß als Schülerin, sondern auch als Meisterin zu erscheinen." 26 Vor allem übten die russische Literatur wie das gesamte geistig-kulturelle Leben des russischen Volkes auf die Kulturen der anderen Völker des russischen Reiches einen nachhaltigen Einfluß aus, erhielten aber von diesen auch wesentliche Impulse, was beispielsweise an Entwicklung und Ausstrahlungskraft der ukrainischen Literatur zu sehen ist. Als Begründer des kritischen Realismus in der ukrainischen Literatur und als Schöpfer der ukrainischen Literatursprache gilt Schewtschenko. Echte Volks24 Geschichte der klassischen russischen Literatur, a. a. O., S. 597. 25 Ebenda, S. 9. 26 Luxemburg, R., Die Seele der russischen Literatur, a. a. O., S. 56.

186

Rußland von 1825 bis 1861

tümlichkeit, Liebe zur Heimat und zu ihren unterdrückten Bauern, deren hartes Los er als Sohn eines Leibeigenen besonders tief nachzuempfinden vermochte, sowie Verbundenheit mit der Natur sind die herausragenden Eigenschaften seiner sich durch Bildhaftigkeit und Wohlklang der Verse auszeichnenden Dichtungen, in denen er die Empfindungen und Hoffnungen der ukrainischen Bauern sowie ihren Kampf gegen die Unterdrückung künstlerisch zum Ausdruck bringt. In seinem bedeutendsten Werk, der Gedichtsammlung „Der Kobsar" (1840), gestaltet Schewtschenko die vielschichtige Welt des ukrainischen Dorfes. Das Kernstück dieser Gedichtsammlung ist das große historische Poem „Die Haidamaken" (1841), in dem er ein eindrucksvolles Bild vom heldenhaften Aufstand der ukrainischen Bauern im Jahre 1768 zeichnet. Unübersehbar ist hier das Anliegen des Dichters, durch die Gestaltung der revolutionären Traditionen der ukrainischen Geschichte die kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart anzuregen. Das dichterische Werk Schewtschenkos erweist sich als großartige Synthese tiefer philosophischer Gedanken, progressiver Ideale und hoher künstlerischer Meisterschaft. Es bedeutet einen Höhepunkt der ukrainischen Literatur des 19. Jh. und bestimmte maßgeblich die weitere Entwicklung der ukrainischen Literatur und Kultur. Die Weltgeltung Schewtschenkos fand in den Übersetzungen seiner Werke in alle modernen Weltsprachen ihren Ausdruck. Realismus oder kritischer Realismus, Demokratisierung und echte Volksverbundenheit waren auch in allen anderen Bereichen der Kunst Rußlands die Grundtendenz. Das reiche klassische Musikschaffen Rußlands fand in Glinka seinen ersten großen Vertreter. Glinka stand mit dem geistigen Leben Deutschlands in enger Verbindung. Lange Aufenthalte in Deutschland, vor allem in Berlin, wo er 1857 starb, aber auch in Italien, Frankreich und Spanien dienten der Vervollkommnung seiner musikalischen Bildung. Stets interessierte ihn das Musikschaffen anderer Völker. Mit den klassischen Werken Bachs, Glucks, Mozarts, Beethovens und anderer Komponisten des Auslands machte er sich bereits in der Jugend bekannt. Über das Studium der Musik Bachs bei dem Musiktheoretiker Dehn in Berlin gelangte er schließlich zu eigenem Schaffen, das sich durch tiefe Volkstümlichkeit und echt nationalen Charakter auszeichnet. Liebe zur Heimat, Preisung der Taten des einfachen Volkes, seiner Schönheit und Größe sind die Hauptthemen des Glinkaschen Schaffens. Von Glinka stammen die bemerkenswerten Worte: „Das Volk schafft die Musik, und wir, die Künstler, arrangieren sie nur." 27 Seit seiner Kindheit lauschte er russischen Volksliedern und beobachtete russische Bauerntänze. In Anlehnung an die russische Volksmusik schuf der Komponist mit seinen klassischen Opern „Iwan Sussanin" (1836) und „Ruslan und Ludmilla" (1842) eine nationale russische Musik von europäischer Ausstrahlungskraft. In der Oper „Iwan Sussanin", die einen Stoff aus dem Kampf des russischen Volkes gegen die polnischen Interventen zu Beginn des 17. Jh. behandelt, wagte es Glinka, den russischen Bauern als patriotischen Helden in den Mittelpunkt eines musikdramatischen Werkes zu stellen. Auf Anordnung des Hofes konnte es allerdings nur unter dem Titel „Das Leben für den Zaren" aufgeführt werden. Der Oper „Ruslan und Ludmilla" liegen Motive, des gleichnamigen Poems von Puschkin zugrunde. Auf Gedichte Puschkins komponierte Glinka auch eine Reihe von Romanzen, die die Verwandtschaft seines musikalischen Stils mit der Lyrik Puschkins zeigen. „In vielerlei Hinsicht", schrieb der Kunstwissen27 Istorija SSSR, Bd. IV, a. a. O., S. 654.

Russische Kultur auf dem Wege zur Weltgeltung

187

schaftler Stassow, „hat Glinka für die russische Musik die gleiche Bedeutung wie Puschkin für die russische Poesie. Beide sind große Talente, beide sind Begründer eines neuen russischen Kunstschaffens, beide erweisen sich als zutiefst national, beide schöpfen ihre Kräfte direkt aus ihrem Volke, beide schufen' eine neue russische Sprache — der eine in der Poesie, der andere in der Musik." 2 8 Das geniale Schaffen Glinkas, das Romanzen, symphonische Werke ynd Opern, die noch heute Weltruf genießen, umfaßt, brachte der russischen Musik internationale Anerkennung. Das von Glinka Begonnene führte Dargomyshski mit seinen Opern „Russalka", „Der steinerne Gast" Und mit seinen Romanzen fort. Er verarbeitete kühn Sujets aus dem täglichen Leben und wählte einfache Menschen als Helden seiner musikalischen Werke, in denen er in reichem Maße auf Volksmelodien zurückgriff. Die russische demokratische Intelligenz begrüßte stürmisch die Oper „Russalka" (1856), die das bittere Los eines von einem Fürsten betrogenen Bauernmädchens schildert. Ein solches Werk entsprach ganz den gesellschaftlichen Stimmungen in den Jahren vor den Reformen. Eine große Bedeutung für das kulturelle Leben Rußlands hatte das dramatische Theater, dessen Entwicklung im Zeichen des Ringens um einen nationalen Inhalt, um echte Volksverbundenheit und um eine realistische Darstellungsweise stand. Zur Stärkung des Theaters als Mittel zur moralischen Erziehung und zur Festigung des Selbstbewußtseins trug vor allem die Literatur bei, die ihm realistische Stücke von Gribojedow, Gogol und Ostrowski schenkte. Hervorragende Schauspieler taten das ihre, um die Entwicklung des Theaters von einem Platz des Vergnügens für Adlige zu einer Bildungsstätte und einer Tribüne zu fördern, von der herab die Ideen der Freiheit sowie der Liebe zu Heimat und Volk verkündet werden konnten. Das Verdienst, die realistische Schule in der Schauspielkunst geschaffen und damit einen besonderen Beitrag zur Entwicklung der fortschrittlichen Theaterkunst geleistet zu haben, gebührt Stschepkin. Als ehemaliger Leibeigener unterhielt er zeitlebens enge Verbindungen zum russischen Volke sowie zu progressiven Repräsentanten der russischen Kultur und Sozialkritik wie Puschkin und Gogol, Belinski und Herzen, die ihm halfen, die Bedeutung des Theaters für die Erziehung der Gesellschaft zu begreifen. Der ständischen Begrenztheit des Klassizismus stellte Stschepkin die Idee der Demokratisierung des Theaters gegenüber, der blinden Nachahmung antiker Vorbilder die Notwendigkeit, den Zuschauer mit wichtigen aktuellen Fragen zu konfrontieren. Das Wirken Stschepkins ist ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte des Moskauer Kleinen Theaters, in dem er vierzig Jahre lang spielte. Dieses Theater hat nicht zuletzt unter Stschepkins Einfluß in bedeutendem Maße dazu beigetragen, den ästhetischen Geschmack wie auch das soziale und politische Bewußtsein des russischen Publikums zu entwickeln. Die Kaiserliche Akademie der Künste, die um die Mitte des 18. Jh. in Petersburg gegründet worden war, erwies sich noch in den Jahrzehnten vor den Reformen als ein Bollwerk des wirklichkeitsfremden Klassizismus und wurde allmählich zu einem Hemmnis für die Weiterentwicklung der bildenden Künste. Ein Schüler dieser Akademie, der europäischen Ruhm genoß, war Brüllow. 29 Seine Gemälde gehören schon einer neuen Etappe in der Entwicklung der bildenden Kunst an. 1833 vollendete er in 28 Ebenda, S. 656. 29 Zur Entwicklung der russischen Kunst in den zwanziger bis fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Vgl. Geschichte der russischen Kunst. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Dresden 1975, S. 219fT., 237ff.

188

Rußland von 1825 .bis 1861

Rom sein Hauptwerk „Der letzte Tag von Pompeji" (1830—1833), das von der ganzen Stadt bewundert wurde. Anschließend wurde das Gemälde in Frankreich gezeigt und erst später nach Rußland gebracht. Die künstlerische Darstellung der Tragödie dieser alten Stadt, die unter Lava und Asche des ausgebrochenen Vesuvs begraben wurde, ist dem Maler großartig gelungen. Dieses Gemälde ist aber auch von hohen humanistischen Idealen durchdrungen. Es zeigt den Edelmut der Menschen und ihre Selbstlosigkeit, die sie während der Katastrophe an den Tag legten. Es ist kein Zufall, daß sich Brüllow diesem Thema zugewandt hat. Die auf dem Bild wiedergegebene Stimmung entsprach jener gespannten Erwartung großer sozialer Umwälzungen, die für die russische Gesellschaft dieser Jahrzehnte so bezeichnend war. Brüllow fühlte sich aber bald von der Willkür des Zarismus, die ihn zu Kompromissen in seinem Schaffen zwang, derart bedrückt, daß er die Historienmalerei aufgab und sich auf die Porträtkunst beschränkte, in der er es zu großer Meisterschaft brachte. Neue fortschrittliche Tendenzen in der russischen Malerei kamen aber vor allem außerhalb der Akademie der Künste auf. Wenezianow widmete sein Schaffen der künstlerischen Darstellung des Lebens auf dem Lande, das er allerdings noch stark idealisierte, womit er dem herrschenden Sentimentalismus Tribut zollte. Aber seine der realistischen Darstellungsweise sich nähernden Bilder „Auf der Tenne", „Ernte", „Auf dem Acker" und „Bäuerin mit Kornblumen" stellen die Schönheit und den Edelsinn des einfachen russischen Menschen dar und machen die Auffassung des Malers deutlich, daß die Würde des Menschen nicht von seiner sozialen Stellung abhängt. Dem kritischen Realismus stand Wenezianow allerdings noch fern, doch ebnete sein Schaffen der weiteren Entwicklung der realistischen Malerei den Weg. In den Jahrzehnten vor den Reformen wirkte auch Iwanow, der sein ganzes schöpferisches Leben der Idee der geistigen Erweckung seines Volkes gewidmet hat. In einem Gemälde „Erscheinung Christi vor dem Volke", an dem er zwanzig Jahre arbeitete und das nach Meinung Repins das volkstümlichste russische Bild ist 30 , hat er diese Idee künstlerisch gestaltet. Es ist dies letztlich eine Darstellung des sich nach Freiheit sehnenden unterdrückten Volkes. Die Freundschaft mit Gogol sowie Begegnungen mit Herzen und Ogarjow hatten einen großen Einfluß auf Iwanow, der in seinem Gemälde das Wissen um die Unvermeidlichkeit von Umwälzungen und um die Nähe entscheidender Veränderungen im Schicksal des Volkes zum Ausdruck bringt. „Wir leben in einer Epoche, in der sich ein besseres Leben der Menschheit vorbereitet", schrieb Iwanow. 31 Das heißt allerdings noch nicht, daß der Künstler selbst revolutionären Idealen nahestand, aber sein realistisches Gemälde trug objektiv zur Verbreitung humanistischer Ideen unter der russischen Intelligenz bei. Der erste große Maler des russischen kritischen Realismus war Fedotow. Mit seinem Werk begann eine neue Etappe in der Geschichte der russischen Malerei. Fedotow wandte sich vorwiegend gesellschaftskritischen Themen zu, deren meisterhafte Gestaltung deutlich zeigt, daß er ein offenes Auge für die Mängel der Gesellschaft in seiner Zeit hatte, die er mutig aufdeckte. In den Genrebildern hielt er Alltagsszenen fest und schuf typische Gestalten aus den Reihen der Kaufleute, der Beamten, der Militärs und der Spießbürger. Seine nach der Wirklichkeit geschaffenen Bilder sind eine Anklage der sozialen und politischen Ordnung in Rußland. Sie sind unge30 Repin, I. E. i Stasov, V. V., Perepiska, Bd. 1, M o s k a u ^ Leningrad 1948, S. 38. 31 Istorija SSSR, Bd. IV, a. a. O., S. 660.

Russische Kultur auf dem Wege zur Weltgeltung

189

schminkte Darstellungen der Enge des städtischen Lebens im Rußland vor den Reformen. Sein Bild „Brautwerbung eines Majors" (1848) zog .die Aufmerksamkeit von Zeitgenossen in besonderem Maße an. An einer Episode aus dem Alltagsleben einer Kaufmannsfamilie verstand es der Künstler, die Krämermoral der Ausbeutergesellschaft zu zeigen, in der selbst die Ehe ein Geschäft ist. Dieses Bild ist ein Meisterwerk des kritischen Realismus., Kramskoi hat später treffend festgestellt, daß die Kunst Fedotows die Widerspiegelung der literarischen Werke Gogols sei, die sich die Entlarvung der Gebrechen der Zeit zum Ziel setzten 32 . In den Bildern Fedotows kommt die demokratische Haltung des Künstlers zum Ausdruck. In einigen Arbeiten zeigt er die Tragödie des kleinen Mannes, den materielle Not und soziale Ungerechtigkeit peinigen. Eigenes Erleben Fedotows, der selbst unter der Armut, der Einsamkeit und dem Bewußtsein seiner Machtlosigkeit im Kampf gegen die Reaktion in der Kunst litt, verdichtete sich hier zu überzeugenden künstlerischen Leistungen. Fedotow gilt zu Recht als Vorläufer der „Genossenschaft der Wanderaussteller", aus der bedeutende kritische Realisten hervorgegangen sind. In ihrem Schaffen erfuhr sein Werk eine Weiterentwicklung. Einen Aufschwung erlebte in den Jahrzehnten zwischen dem Dekabristenaufstand und der Aufhebung der Leibeigenschaft auch die Entwicklung der Volkskunst und der Volksdichtung. Bekannt sind vor allem die Holzschnitzerei und Malerei russischer Bauern, die wir noch heute bewundern. In der Volksdichtung kommen der Kampf der Volksmassen gegen soziale Ungerechtigkeit, ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben und ihre Hoffnung auf einen baldigen Wandel ihrer sozialen Lage zum Ausdruck. Besonders populär waren Märchen, deren zentrales Thema der Konflikt zwischen Gutsbesitzern und abhängigen Bauern war. Auch Volkssprichwörter und Volksredewendungen sind von Haß auf die Gutsherren und die ihnen dienenden Beamten sowie auf die Geistlichkeit durchdrungen. In den von revolutionärem Optimismus erfüllten Volksliedern wurde die Erinnerung an die russischen Bauernkriege wachgehalten. Ein Novum in der russischen Folklore der ersten Hälfte des 19. Jh. war die Verurteilung der Politik der Regierung in der Bauernfrage. Der Zar selbst war nicht Zielscheibe der Angriffe. Die monarchischen Illusionen hinderten die Bauern Rußlands daran, zu dieser Konsequenz vorzudringen. Bei aller Widersprüchlichkeit des Volksschaffens verstärkten sich in den Jahrzehnten vor den Reformen seine sozialen Motive und fortschrittlichen Tendenzen. Das zeigt, daß in der Weltanschauung gewisse Wandlungen vor sich gingen. Die Zunahme der kritischen Äußerungen von Freidenkern aus dem Volke über die Politik des Zarismus 3 3 deutet darauf hin, daß allmählich auch politisches Gedankengut in die breiten Volksmassen einzudringen begann. Die dreieinhalb Jahrzehnte zwischen dem Dekabristenaufstand und der Aufhebung der Leibeigenschaft waren son\it nicht nur im sozialen und politischen Bereich, sondern auch auf geistig-kulturellem Gebiet durch die qualvolle Suche der fortschrittlichen Exponenten Rußlands nach gangbaren Wegen der Veränderung fler bestehenden Verhältnisse und der Erneuerung Rußlands auf demokratischer Grundlage gekennzeichnet. Auf dieser Suche gelangte die progressive russische Kultur in ständiger Auseinandersetzung mit konservativen und reaktionären Auffassungen und in fruchtbarer 32 Ebenda, S. 662. 33 Vgl. Kogan, L. A., Krepostnye vol'nodumcy (XIX' vek), Moskau 1966.

190

Rußland von 1825 bis 1861

Wechselbeziehung mit dem fortschrittlichen Kulturleben anderer Völker zu einem beachtlichen Niveau. .Trotz der engstirnigen Kulturpolitik des Zarismus haben russische Gelehrte und Denker, Dichter, Schriftsteller und Künstler große Leistungen vollbracht. Der Hauptinhalt der fortschrittlichen russischen Kultur, die sich verantwortlich fühlte für die schreienden sozialen und politischen Zustände und sich in diesem Verantwortungsbewußtsein durch Gedankenreichtum und in die Zukunft weisende Zielstellungen auszeichnete, war der Kampf gegen die zaristische Unterdrückungspolitik auf allen Gebieten des Lebens, war das Ringen um die Freiheit der Persönlichkeit als Voraussetzung für die angestrebte Freiheit des ganzen Volkes, war die logische Orientierung auf die Umgestaltung der Gesellschaftsordnung auf der Grundlage von Gleichheit und Brüderlichkeit. Auf diesen Hauptinhalt der fortschrittlichen russischen Kultur, in dem sich ihr „fein vibrierendes soziales Gewissen" 34 reflektiert, auf ihr Ringen um humanistische Ideale, auf das über das Nationale und Zeitgebundene Hinausweisende der russischen Kultur, auf ihren Optimismus und kämpferischen Humanismus sind ihr Platz in der Weltkultur, ihre Weltgeltung, ihre internationale Ausstrahlungskraft und ihre beginnende Einflußnahme auf andere Kulturen zurückzuführen.

34 Luxemburg, R., Die Seele der russischen Literatur, a. a. O., S. 61.

Kapitel IX Die nikolaitische Außenpolitik bis zum Krimkrieg

Die zaristische Außenpolitik der zwanziger bis fünfziger Jahre konzentrierte sich vor allem auf zwei eng miteinander verbundene Interessensphären : auf Mittel- und Westeuropa sowie auf den Balkan und den Nahen Osten. Zwei Grundtendenzen zeichneten sich in ihr deutlich ab: die Erhaltung der monarchistischen Regime und der Zusammenschluß aller reaktionären Kräfte sowie die Fernhaltung aller liberalen und revolutionären Bewegungen in West- und Mitteleuropa von Rußland und ihre Unterdrückung im Geiste des „Legitimismus" einerseits und andererseits das traditionelle Bestreben, die „orientalische Frage" zugunsten des Zarismus zu lösen. An der Spitze des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten stand von 1816 bis 1856 Nesselrode als williges Instrument des Zaren. Er war der Sohn eines verarmten deutschen Adligen und einer reichen Jüdin, der Tochter eines Frankfurter Bankiers. Von Kindheit an verehrte er den preußischen Absolutismus. Diese Gesinnung verband ihn aufs engste mit dem Zaren. Als junger Attaché hatte Nesselrode die Schule politischer Erziehung unter Leitung Metternichs absolviert und im napoleonischen Paris geheim mit Talleyrand zusammengearbeitet. Die Treue zu den Prinzipien des „Legitimismus" und die enge Zusammenarbeit mit den Monarchen Preußens und Österreichs hielt er stets für die Eckpfeiler der Außenpolitik des Zarismus. Als sein künftiger Nachfolger Fürst Gortschakow in einem Bericht den Ausdruck „Monarch und Rußland" gebrauchte, soll Nesselrode unzufrieden bemerkt haben: „Wir kennen nur einen Zaren . . ., mit Rußland haben wir nichts zu tun." 1 Es versteht sich von selbst, daß Nesselrode sich in seinem einflußreichen Amt nur mit Gleichgesinnten umgab, die wie er die Interessen der Völker den machtpolitischen Ambitionen des Zarismus rücksichtslos unterordneten. In Mittel- und Westeuropa forderten die Interessen der zaristischen Regierung eine Aufrechterhaltung der für sie vorteilhaften politischen und territorialen Verhältnisse von 1815. Der Status quo wurde aber durch die Julirevolution von 1830 in Frankreich gefährdet. Sie fegte das verhaßte Regime der Bourbonen hinweg. Wenn die Bankiers von Paris sich auch beeilten, den Herzog von Orléans, Louis-Philippe, auf den königlichen Thron zu setzen und mit dem „Bürgerkönigtum" die Monarchie zu erhalten, so bedeutete dieser revolutionäre Umsturz doch eine Erschütterung der Grundfesten der „Heiligen Allianz". Er leitete den Zusammenbruch der europäischen Restaurationspolitik ein. „Das alte Europa", sagte der durch die Nachrichten aus Paris erschreckte Metternich, „steht am Anfang seines Endes." 2 Nach den treffenden Worten von Friedrich Engels war die Julirevolution in Frankreich „das Signal für einen allgemeinen Ausbruch der Unzufriedenheit des Bürgertums, der Aristokratie und des Volkes in ganz 1 Istorija SSSR, Bd. IV, Moskau 1967, S. 465. 2 Ebenda, S. 459.

192

Rußland von 1825 bis 1861

Europa" 3 , wie vor allem die revolutionären Ereignisse in Hessen, Braunschweig und Sachsen sowie die Revolution in Belgien und der Aufstand im Königreich Polen zeigten. Der Widerhall, den die Julirevolution in Europa fand, war in der Tat gewaltig. Auch in Rußland löste sie einerseits Freude, andererseits Schrecken aus. 4 In den demokratischen Kreisen wurden die ins Land eindringenden Nachrichten von den revolutionären Vorgängen in Frankreish und in anderen Ländern Europas sowie von ihren Ausstrahlungen mit Begeisterung aufgenommen. Einige Russen nahmen an der Julirevolution sogar unmittelbar teil. Auch die Liberalen Rußlands ergriffen für die bürgerliche Revolution Partei, waren aber grundsätzlich gegen eine zu starke Einflußnahme des Volkes auf die Lösung der anstehenden Probleme. Der Zarismus hingegen, der im revolutionären Frankreich von da an mehr denn je seinen Hauptfeind sah, versuchte, alle reaktionären Kräfte Europas zu vereinigen und durch gemeinsame Aktionen die Revolution zu ersticken. Der Erfolg blieb ihm allerdings versagt. „Wir sind um 41 Jahre zurückgeworfen" 5 , stellte der Bruder des Zaren, Großfürst Konstantin Pawlowitsch, fest, wobei er an das Jahr 1789, an den Beginn der Großen Französischen Revolution, dachte. Ähnlich reagierte Nikolaus I. selbst. Er beschuldigte König Charles X. der Feigheit, weil er aus Paris geflüchtet war und sich nicht selbst an die Spitze des Kampfes gegen das aufständische Volk gestellt hatte. Den neuen König Louis-Philippe nannte er einen Usurpator, einen König der Barrikaden, wobei er völlig ignorierte, daß die Großbourgeoisie jenen „Bürgerkönig" auf den Thron gesetzt hatte. Nikolaus I. trug sich mit dem Gedankein, die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich abzubrechen, begnügte sich dann aber damit, gemeinsam mit anderen Monarchen Europas zuverlässige Maßnahmen gegen die Verbreitung der „französischen Infektion" zu treffen. Allen russischen Untertanen wurde befohlen, Frankreich sofort zu verlassen, und alle russischen Seehäfen wurden angewiesen, keine französischen Schiffe unter der Trikolore aufzunehmerf. Gleichzeitig sandte Nikolaus I. Graf Orlow nach Wien und Feldmarschall Diebitsch nach Berlin zu politischen Sondierungen. Der Gedanke an eine russisch-österreichischpreußische konterrevolutionäre Intervention zur Wiedereinsetzung der Dynastie der Bourbonen in Frankreich ließ ihm keine Ruhe. Aber die Monarchen Österreichs und Preußens hielten einen solchen Schritt für ein zu gefährliches Unterfangen. Sie befürchteten, daß er unter ihren eigenen Untertanen zu Unruhen führen könnte. Außerdem beneideten sie Nikolaus I. um die Erfolge in seiner Orientpolitik und waren durchaus nicht gewillt, zu einer weiteren Stärkung seines Einflusses auf die internationale Lage beizutragen. Kaum hatte sich Nikolaus schweren Herzens mit den politischen Veränderungen nach der Julirevolution in Frankreich abgefunden, da traf die Nachricht von revolutionären Ereignissen in Belgien in Petersburg ein. Die belgische Revolution, die knapp einen Monat nach der französischen ausbrach und ein vom Königreich der Niederlande unabhängiges Belgien schuf, bedeutete einen neuen Schlag gegen die „Heilige Allianz" und eine weitere Niederlage der europäischen Reaktion. Sie zeigte, daß sich überall revolutionärer Zündstoff angesammelt hatte. Die europäische Demokratie sympathi3 Engels, F., Deutsche Zustände, Brief iii. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1957, S. 582. 4 Vgl. Oflik, O. V., Rossija i francuzskaja revoljucija 1830 goda, Moskau 1968. 5 Istorija SSSR, Bd. IV, a. a. O., S. 459.

Nikolaitische Außenpolitik

193

sierte auch mit der belgischen Revolution. Nikolaus I. hingegen ließ die russischen Truppen in den westlichen Gouvernements in Kampfbereitschaft versetzen. Darüber hinaus erteilte er dem zaristischen Statthalter im Königreich Polen, dem Großfürsten Konstantin Pawlowitsch, den geheimen Befehl, mit der Mobilisierung der unter seinem Kommando stehenden polnischen Armee zu beginnen. Der Zar war zu einem Krieg gegen das revolutionäre Belgien bereit. „Nicht Belgien will ich dort besiegen", schrieb er, „sondern die allgemeine Revolution, die allmählich und schneller, als man denkt, uns selbst bedroht". 6 Nicht bereit zu einem solchen riskanten Abenteuer waren auch diesmal die Monarchen von Österreich und Preußen, so daß eine konterrevolutionäre Koalition gegen Frankreich und Belgien der Wunschtraum des Zaren blieb, der schließlich gezwungen war, sich mit der internationalen Lage abzufinden und sogar das Bürgerkönigtum in Frankreich und die Unabhängigkeit Belgiens anzuerkennen, um nicht isoliert zu bleiben. Die konterrevolutionären Interventionspläne des Zarismus brachen zusammen. Mehr noch, im November 1830 kam es in seinem eigenen Reich, in Kongreßpolen, zu einer national-revolutionären Erhebung gegen die zaristische Gewaltherrschaft. Dieser Aufstand erfaßte ganz Polen und drohte, sich auf Litauen und Belorußland auszudehnen. Er erforderte vom russischen Zarismus die ganze Kraft. Nikolaus I. warf eine 100000 Mann starke Armee nach Polen. Dennoch konnte er erst nach neun Monaten entscheidende Erfolge verbuchen. Trotzdem durchkreuzte der polnische Aufstand die Pläne des Zarismus als Bollwerk der europäischen Reaktion. Die Monarchen Österreichs und Preußens sympathisierten in dieser Situation mit dem Zaren. Sie befürehteten, der Aufstand könne auch auf ihre polnischen Gebiete übergreifen. Die Garnisonen im österreichischen und im preußischen Teil Polens wurden verstärkt. Polnische Aufständische, die unter dem Druck der zaristischen Truppen nach Österreich und Preußen geflohen waren, wurden entwaffnet und die Waffen dem russischen Kommandostab übergeben. Die herrschenden Kreise in England und in Frankreich frohlockten über die inneren Schwierigkeiten des Zarismus im Zusammenhang mit dem polnischen Aufstand. Aber für die Anerkennung der Selbständigkeit Polens konnten sie sich nicht entscheiden. Die. im Januar 1831 vom polnischen Sejm beschlossene Absetzung des Zaren wurde von der englischen und französischen' Diplomatie als „verhängnisvoller Schritt" bezeichnet, der alle Hoffnungen auf eine Verständigung mit dem Zarismus zunichte gemacht habe. Eine solche Haltung Englands und Frankreichs spornte Nikolaus I. zu einer grausamen Abrechnung mit den Aufständischen an. Die führende Rolle, die der Zarismus — im Interesse der adligen Gutsbesitzer Rußlands — als Garant der Konterrevolution und Restauration in den gemeinsamen Aktionen der europäischen Reaktion gegen das demokratische und revolutionäre Europa spielte, trug dazu bei, daß er zur Zeit Nikolaus' I. eine dominierende Stellung unter den reaktionären Kräften ganz Europas innehatte, die er weiter auszubauen bestrebt war. In diesem Sinne unternahm er — trotz des vergeblichen Bemühens des Zaren, 1830 mit Österreich und Preußen eine Intervention gegen die französische und die belgische Revolution zu organisieren — den Versuch, die Monarchen beider Länder zu gemeinsamen Schritten gegen die revolutionäre Bewegung zu veranlassen, die auch 6 Martens, F. F., Sobranie traktatov i konvencij, zakljuöennych Rossiej s inostrannymi derzavami, Bd. VIII, Petersburg 1888, S. 166. 13

Straube/Zeil, Feudalismus

194

Rußland von 1.825 bis 1861

im Interesse der herrschenden Klassen Österreichs und Preußens lagen. Er orientierte auf eine Erneuerung der „Heiligen Allianz", die lediglich eine Maske für das Hegemoniestreben des Zarismus in Europa war. Bei dieser Orientierung des Zaren auf die Erneuerung eines „Bündnisses", das sich durch die Widersprüche zwischen den Staaten bereits sehr gelockert hatte und vor allem von den Revolutionen in Frankreich und in Belgien stark erschüttert worden war, oder besser auf eine neuerliche stärkere Annäherung Rußlands an Österreich und Preußen gab die Furcht vor einer neuen Welle revolutionärer und nationaler Befreiungsbewegungen nach den Ereignissen von 1830 den Ausschlag. Die von Nikolaus I. geplante enge Zusammenarbeit Rußlands mit dem Österreich Metternichs und dem Preußen Friedrich Wilhelms III. war in erster Linie gegen das revolutionäre Frankreich und das seit der Reformbill dem Zaren höchst verdächtige England gerichtet. In den deutschen Staaten, die Nikolaus als revolutionär infiziert erschienen, müßte seiner Meinung nach mit dem Liberalismus gründlich aufgeräumt werden. Das war auch die Grundtendenz der Vereinbarungen, die in den Jahren von 1833 bis 1835 in Münchengrätz, Berlin und Teplitz zwischen Rußland, Österreich und Preußen getroffen wurden. Sie waren vor allem ein Bekenntnis der drei Monarchen zu den Prinzipien der Restaurationspolitik von 1815. In der ersten Konvention von Münchengrätz, die am 18. September 1833 unterzeichnet wurde, einigten sich Rußland und Österreich außerdem grundsätzlich darüber, das bestehende Regime und die Integrität des Osmanischen Reiches aufrechtzuerhalten und alle Probleme, die sich aus der „orientalischen Frage" ergaben, gemeinsam zu lösen. In einer Geheimklausel wurde von der Möglichkeit einer gemeinsamen Einmischung in türkische Angelegenheiten gesprochen, wenn sich eine Gefahr für die russischen oder österreichischen Interessen abzeichnete oder das europäische Gleichgewicht gefährdet sei. Diese Konvention galt als ein diplomatischer Erfolg Österreichs, das damit in wichtigen Bereichen stärkeren Einfluß gewann, ohne sich zu irgendwelchen Zugeständnissen zu verpflichten. Praktische Vorteile hatte aber auch die russische Seite, die bereits damals fürchtete, es könne den Westmächten gelingen, Österreich in der „orientalischen Frage" von Rußland zu trennen. Am 19. September 1833 wurde die zweite Konvention von Münchengrätz unterzeichnet, die eine wechselseitige Bestätigung der polnischen Besitzungen Rußlands, Österreichs und Preußens enthielt und damit vor allem gegen die polnische nationale Befreiungsbewegung gerichtet war. Auf den Beratungen im September 1833, an denen auch der preußische Thronfolger, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., teilnahm, wurde ein umfassendes Abkommen zwischen den drei Staaten vorbereitet, das in der Berliner Konvention vom 15. Oktober 1833 endgültig präzisiert wurde. Die drei Höfe verpflichteten sich zu gegenseitiger Unterstützung bei innerer Gefahr und Bedrohung von außen. Europa — mit Ausnahme von England, Frankreich und Skandinavien — wurde in Zonen eingeteilt, die von den Signatarmächten der Konvention „geschützt" werden sollten. Rußland erhielt unter anderem den Balkan, was seinen Interessen entsprach. Es versteht sich von selbst, daß auch bei den Verhandlungen in Münchengrätz und Berlin sowie 1835 in Teplitz, die eigentlich keine besonderen Ergebnisse erbrachten, die Gegensätze zwischen den machtpolitischen Ambitionen der drei Monarchen nicht kaschiert werden konnten. Selbst die Bemühungen des Zaren um eine weitere Annäherung an Preußen, die auch in seinem Besuch bei seinem Schwiegervater, dem König von

Nikolaitische Außenpolitik

195

Preußen, 1834 und in seiner Teilnahme an Manövern der preußischen Armee in Schlesien deutlich wurden, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die erneuerte „Heilige Allianz" keine echte Allianz war. Dazu waren die Interessen und Bestrebungen Rußlands, Österreichs und Preußens zu verschieden. Das hatte selbst Nikolaus I. erkannt. „Früher waren wir drei", soll er in einem Gespräch mit dem dänischen Gesandten Plessen geäußert haben, „und jetzt sind nur noch anderthalb übrig geblieben, weil ich Preußen gar nicht mehr und Österreich nur noch halb rechne." 7 Bei allen machtpolitischen Gegensätzen zwischen den herrschenden Kreisen der europäischen Großmächte waren sich diese jedoch darin einig, daß ihr Hauptfeind die revolutionären Kräfte der Völker waren. Zu deren Unterdrückung war ihnen jedes Mittel und jedes Zusammenwirken recht. Eine besondere Bedeutung kam dabei dem zaristischen Rußland als relativ stabilem Bündnispartner zu. In ganz Europa wuchs in den vierziger Jahren eine neue Welle revolutionärer Bewegungen "und nationaler Befreiungskämpfe heran. Der Prolog großer Erschütterungen war der Aufstand der Polen in dem 1815 entstandenen Freistaat Krakau. Dieser Aufstand, der im Februar 1846 ausbrach, war Teil einer gescheiterten gesamtpolnischen Erhebung. Zaristische Truppen marschierten in das Gebiet des Freistaates ein und besetzten Krakau. Mit Hilfe des Zarismus konnte der Aufstand niedergeschlagen, der Freistaat mit Galizien vereinigt und dem Österreich Metternichs einverleibt werden. Am 15. April 1846 unterzeichneten Vertreter Rußlands, Österreichs und Preußens in Berlin eine besondere Akte, die über das Schicksal Krakaus entschied. Die Revolution von 1848/49, die — wie Lenin feststellte — „in allen Ländern die verschiedenen Gesellschaftsklassen in Aktion"8 zeigte, war ein weiterer Schlag gegen das ganze System der „Heiligen Allianz". Sie bildete nicht nur in der Geschichte der Länder, in denen sie stattfand, sondern auch in der Geschichte Rußlands eine Zäsur. Die fortschrittlichen Kreise Rußlands sympathisierten mit der revolutionären Bewegung in West- und Mitteleuropa. Einige Russen beteiligten sich selbst an den revolutionären Aufständen der Volksmassen. Der Zar und seine Anhänger hingegen' nahmen zu den revolutionären Ereignissen in Frankreich, Deutschland,, Österreich und Italien eine höchst feindliche Haltung ein. Diese Feindseligkeit steigerte sich noch unter dem Eindruck der Berichte und Meldungen der Gouverneure und Gendarmen über die wachsende Aktivität der Bauern und der fortschrittlichen Intelligenz Rußlands. Nikolaus I. und die herrschenden Kreise Rußlands sahen mit Schrecken auf den Zusammenbruch der verschiedenen reaktionären Regime und auf das Auftreten des Proletariats als selbständiger sozialer Kraft, die bewußt für die Klasseninteressen der Unterdrückten und Ausgebeuteten kämpfte. Mehr denn je fühlte die russische Reaktion die Nähe der Revolution und trotz der durch harte Maßnahmen erreichten relativen Ruhe im Lande die Möglichkeit ihres Ausbruchs in Rußland. An militärische Aktionen Rußlands gegen das revolutionäre Frankreich war damals nicht zu denken. Nikolaus I. war sich dessen bewußt. Er schrieb an seinen Feldmarschall Paskewitsch: „Wir müssen in Verteidigungsstellung bleiben . . . und die Hauptaufmerksamkeit auf das eigene Land lenken." 9 Im Jahre 1848 war es mehr denn je 7 Istorija SSSR, Bd. IV, a. a. 0 . , S. 46.7fr., 470. 8 Lenin, W. I., Die historischen Schicksale der Lehre voi) Karl Marx. In: Werke, Bd. 18, Berlin 1972, S. 577. 9 Russkaja Starina, Mai 1904, S. 266. 13*

196

Rußland von 1825 bis 1861

das Ziel des Zaren und seiner Helfershelfer, Rußland zu einem stabilen Bollwerk der Konterrevolution in Europa zu machen. Das kommt auch in dem Manifest des Zaren vom 14. März 1848 zum Ausdruck, in dem auf die Möglichkeit einer Ausdehnung der Revolution auf Rußland hingewiesen wird, wenn dieses nicht Widerstand leiste: „Dem erprobten Beispiel unserer rechtgläubigen Vorfahren folgend", heißt es in dem Manifest, „rufen wir Gott, den Allmächtigen, um Hilfe an und sind bereit, unseren Feinden entgegenzutreten, wo immer sie auftauchen, und werden schonungslos gegen uns selbst in unverbrüchlichem Bündnis mit unserem heiligen Rußland die Ehre des russischen Namens und die Unantastbarkeit unserer Grenzen schützen . .,"io Der Zarismus war in der Tat das Hauptbollwerk der europäischen Konterrevolution. Auf ihn setzteq seit den ersten Tagen der Revolution all ihre Feinde ihre Hoffnungen. Marx und Engels haben wiederholt auf die konterrevolutionäre Rolle des Zarismus in den Revolutionsjahren 1848/49 hingewiesen: „Vom 24. Februar an war es uns klar", schrieb Engels später, „daß die Revolution nur einen wirklichen furchtbaren Feind habe, Rußland, und daß dieser Feind um so mehr gezwungen sei, in den Kampf einzutreten, je mehr die Bewegung europäische Dimensionen annehme. Die Ereignisse von Wien, Mailand, Berlin mußten den russischen Angriff verzögern, aber sein endliches Kommen wurde um so gewisser, je näher die Revolution Rußland auf den Leib rückte." 11 In diesem Sinne begrüßte man in Petersburg demonstrativ die Bluttaten eines Cavaignac in Frankreich und eines Windischgrätz in Österreich. Nikolaus I. beglückwünschte persönlich die beiden Generale, die die revolutionären Erhebungen der Volksmassen unterdrückt haben, während er Friedrich Wilhelm IV., dem preußischen König, den Vorwurf machte, mit seinen demagogischen Erklärungen über die Gewährling einer Verfassung Schwäche an den Tag gelegt zu haben, obwohl er erkannte, daß dieses politische Manöver des Königs darauf abzielte, Kräfte zu sammeln für die Abrechnung mit der Revolution. Die revolutionäre Bewegung in Österreich verfolgte Nikolaus I. mit besonderer Unruhe. 1848 war er zu einer militärischen Unterstützung der Monarchie noch nicht bereit und hielt sie auch noch nicht für notwendig. Die österreichische Konterrevolution errang ohne seine direkte Hilfe einen Sieg über den Aufstand in Prag, über die Revolution in der Lombardei und in Venezien sowie über den Wiener Aufstand im Oktober 1848, der die bedeutendste revolutionäre Erhebung der Volksmassen in Österreich war. Erst als sich 1849 das Zentrum der Revolution in Mitteleuropa nach Ungarn verlagerte und die Blicke und Hoffnungen der europäischen Demokratie auf dieses Land gerichtet waren, schlug der Zarismus auf Bitte des Kaisers Franz Joseph I. zu. Bereits vorher hatte er seine Truppen in die beiden Donaufürstentümer Moldau und Walachei einmarschieren lassen, wo es zu starken Unruhen gekommen war, die der Forderung der Moldauer und Walachen nach einer Verfassung und nach einer Vereinigung der Moldau und der Walachei zu einem rumänischen Staat Nachdruck verleihen sollten. Die Situation drohte sich in diesem Raum eine Zeitlang dadurch zu komplizieren, daß in der Walachei auch türkische Truppen standen, die noch vor dem Einmarsch der 10 Nifontow, A. S., Rußland im Jahre 1848, Berlin 1954, S. 82. 11 Marx, K./F. Engels, Die Revolution von 1848. Auswahl aus der „Neuen Rheinischen Zeitung", Berlin 1953, S. 36.

Nikolaitische Außenpolitik

197

Russen revolutionäre Erhebungen erstickt hatten. Beide Seiten bemühten sich darum, die Konflikte in ihrem eigenen Interesse auszunutzen. Die Türkei wandte sich an die Westmächte um Hilfe, di£ ihr aber angesichts der Ereignisse von 1848 keine Unterstützung zuteil werden lassen konnten. lyiarx und Engels hatten erkannt, daß die gegen die europäische Revolution gerichtete offensive Aggressivität des russischen Zarismus, die sie zu Recht aus der gespannten Lage im Reiche Nikolaus' I. ableiteten, weiter erstarkte, als sie am 21. April 1849 schrieben: „Die Rüssen, im Anfang bloß ihre Grenzen deckend, haben in demselben Maße, wie die Konterrevolution reüssierte, sich der Offensive zugewandt. Der Päriser Junisieg brachte sie nach Jassy und Bukarest; der Fall Wiens und Pests nach Hermannstadt und Kronstadt." 12 Der Zarismus konnte eine Stärkung des revolutionären Lagers nicht zulassen. „Ungarn unabhängig, Polen wiederhergestellt, Deutsch-Österreich zum revolutionären Brennpunkt Deutschlands gemacht, die Lombardei und Italien von selbst unabhängig — mit der Durchführung dieser Pläne war das ganze osteuropäische Staatensystem zerstört." 13 Nikolaus I. war zum Eingriff bereit und gewillt, der Revolution in Ungarn Paroli zu bieten. Am 8. April schrieb er an Paskewitsch: „Unser Eingriff muß entscheidend, alles vernichtend, aber nicht zersplittert sein . . . Ich würde mich wirklich nicht einmischen, . . . wenn ich in Bern und den übrigen Spitzbuben in Ungarn nicht nur die Feinde Österreichs, sondern auch die Feinde der Ordnung und Ruhe in der ganzen Welt sähe . . ., die man um unserer Ruhe willen ausrotten muß." 14 Im Juni ließ er die an der Grenze stationierte Armee von 200000 Mann unter Paskewitsch in Ungarn eirutfarschieren, die gemeinsam mit österreichischen Truppen die von Kossuth geführte Revolution, an der Zehntausende von Freiwilligen teilnahmen, niederschlug. Zu diesem traurigen Erfolg trug auch der Verrat des ungarischen Oberbefehlshabers Artür Görgey bei. Damit war eine Erhebung unterdrückt worden, die ihren anfangs rein nationalen Charakter sehr schnell verloren hatte und deren Erfolg für die Neuordnung der Verhältnisse in ganz Europa von größter Bedeutung gewesen wäre. Die Entwicklung in Ungarn weckte aus zwei Gründen den äußersten Unwillen des Zaren. Einmal hatte er sich in die Rolle des Schutzherrn des „Legitimismus" hineingesteigert ; zum anderen kämpfte ein großer Teil der polnischen Emigranten, unter ihnen die Generale Bern und Dembinski, in den Reihen der Aufständischen, so daß ein Übergreifen der R e v o l u t i o n e n Ungarn auf Polen durchaus im Bereich des Möglichen lag. Auch hätte die Existenz eines „freien, selbständigen und unabhängigen ungarischen Staates", zu dem das Parlament Ungarn am 14. April erklärt hatte,.für den Zarismus eine zu große Gefahr bedeutet, weil es ein ständiges Beispiel für Polen gewesen wäre. Außerdem wäre dieser ungarische Staat ein Hindernis für die weitere Ausdehnung des russischen Einflusses auf dem Balkan gewesen. Nach der Kapitulation der ungarischen Hauptarmee bei Vilägos am 13. August 1849 atmete daher nicht nur die Regierung in Wien, sondern auch die Regierung in Petersburg erleichtert auf. Das progressive Rußland jedoch, so Herzen und vor allem Tschernyschewski, verurteilte die konterrevolutionär^ Politik des Zarismus und sympathisierte mit dem nationalen Befreiungskampf der Ungarn und anderer national unterdrückter Völker, der die 12 Neue Rheinische Zeitung, Nr. 279, 22. 4. 1849. 13 Neue Rheinische Zeitung, Nr. 301, 19. 5. 1849. 14 Nifontow, A. S., Rußland im Jahre 1848, a. a. O., S. 303.

198

Rußland von 1825 bis 1861

künftige internationale Entwicklung wesentlich beeinflußte. Tschernyschewski schrieb am 11. Juli 1849: „Ich bin praktisch ein Freund der Ungarn, ich wünsche die Niederlage der Russen und wäre bereit, dafür vieles zu opfern." 15 Das war ein Bekenntnis zur europäischen Revolution, die in Marx und Engels ihre bedeutendsten Stützen hatte. Der Zarismus, der dazu beitrug, die Entstehung eines selbständigen ungarischen Staates zu verhindern und den Bestand der feudal-klerikalen Habsbürgermonarchie zu sichern, demonstrierte auch in seinem Verhältnis zu Preußen seine Stärke. Obwohl Nikolaus I. die reaktionäre Politik Preußens grundsätzlich unterstützte, konnte er sich mit dem Gedanken einer Stärkung Preußens und einer Vereinigung Deutschlands, selbst unter der Vorherrschaft der preußischen Monarchie, nicht befreunden. Die Schaffung eines großen konstitutionellen Staates in Europa drohte die Hegemonie des russischen Imperiums zu unterhöhlen. So mußte Preußen unter russischem Druck in der Auseinandersetzung mit Dänemark um Schleswig-Holstein im Jahre 1848 nachgeben und seine Truppen aus dem besetzten Jütland zurückziehen. Im Jahre 1850 sah sich Preußen unter russischem und österreichischem Druck genötigt, in der Olmützer Punktation seine kleindeutschen Unionsbestrebungen aufzugeben, die gegen Österreich gerichtete Mobilmachung seiner Armee rückgängig zu machen sowie einer Regelung der deutschen Frage auf Ministerialkonferenzen und der Wiederherstellung des Deutschen Bundes zuzustimmen. In Italien konnte man dem Zarismus nicht verzeihen, daß er den Habsburgern indirekt half, die Lombardei und Venezien zu unterdrücken, und damit die Vereinigung dieser Gebiete mit anderen italienischen Ländern verhinderte. So stieg nach der erfolgreichen Intervention des Zarismus in Ungarn zwar das persönliche Prestige des Zaren in Kreisen der reaktionären Aristokratie Europas, aber seine Politik als „Gendarm Europas" und nicht nur Europas weckte in breiten Schichten der europäischen Öffentlichkeit Verachtung und Haß. Neben den revolutionären Demokraten verurteilten auch relativ gemäßigte bürgerliche Liberale die Einmischung des Zarismus in die inneren Angelegenheiten anderer Lander. In der Fernostpolitik des Zarismus war zunächst die Initiative des 1847 zum Generalgouverneur von Ostsibirien ernannten Murawjow von großer Tragweite. Er regte eine Expedition an, die das Amurgebiet erkundete, und organisierte die Besiedlung dieses kaum oder nur dünn bevölkerten Gebietes mit russischen Bauern. 1854 fuhr er den Amur aufwärts und gründete Chabarowsk. Murawjow hatte die große Bedeutung des Amurs für Rußland erkannt. Desgleichen war er sich über den Wert der Insel Sachalin und der asiatischen Küste des Stillen Ozeans im klaren. Im Auftrag Murawjows unternahm Newelskoi in.den Jahren von 1849 bis 1853 eine Expedition, deren Ergebnis unter anderem die Errichtung russischer Wachtposten an der Mündung des Amurs, in der Castries- und „Hadshi-Bucht" sowie im Süden der Insel Sachalin war. 1850 wurde Nikolajewsk an der Amurmündung gegründet und drei Jahre später der nördliche Teil der Insel Sachalin in Besitz genommen. Im Jahre 1855 begannen russische Kosaken und Bauern mit der Besiedlung des linken Amurufers. In den Verträgen von Aigun (1858) und Peking (1860) erkannte China das linke Amurufer und das Gebiet zwischen Amur — Ussuri und der Küste, d . h . Gebiete, die nicht von Chinesen besiedelt waren, als russischen Besitz an. 1860 wurde an der Küste des Stillen Ozeans die Stadt Wladiwostok

15 Ebenda, S. 336.

Nikolaitische Außenpolitik

199

gegründet, die sich später zum größten Hafen des russischen Fernen Ostens entwickelte. Im zweiten Viertel de§ 19. Jh. erfolgte gegen den Widerstand" kasachischer Feudalherren die endgültige Angliederung der kasachischen Steppen,an Rußland. Es wurden Perowsk, das heutige Ksyl-Orda, und das Fort Werny, das heutige Alma-Ata, gegründet. Die Kasachen nahmen die russische Staatsangehörigkeit an, um sich vor den Folgen der lästigen Nachbarschaft der mittelasiatischen Chanate zu schützen. Damit war der Anschluß Kasachstans an Rußland, der sich bereits in der ersten Hälfte des 18. Jh. angebahnt hatte, nahezu vollendet. Im Kaukasus stand Rußland trotz militärischer und diplomatischer Erfolge ein schwieriger und langwieriger Kampf gegen die Gebirgsvölker bevor, die der russischen Eroberung zähen Widerstand leisteten. Die zaristische Regierung war an diesem Gebiet mehr aus strategischen und politischen als aus wirtschaftlichen Gründen interessiert. Sie reflektierte auf die kaukasische Schwarzmeerküste, auf einen Zugang nach Persien und zum Persischen Golf sowie zur Türkei, womit sie Einfluß auf die Meerengen zu erlangen hoffte. Bereits 1829 forderte Nikolaus I. in einem Reskript an Paskewitsch, den Oberkommandierenden im Kaukasus, daß die Gebirgsvölker auf das schnellste niedergeworfen und die Aufsässigen vernichtet werden. Eine noch zügellosere Willkür der zaristischen Verwaltung gegenüber den Völkern des Kaukasus und deren rücksichtslose Ausplünderung durch die militärischen Befehlshaber waren die Folge. Die doppelte Ausbeutung und Unterdrückung — einmal durch die einheimischen Feudalherren, die Chane und Beks, die den Schutz des Zarismus genossen, zum anderen durch den zaristischen Herrschaftsapparat selbst — führte seit Ende der zwanziger Jahre zu antifeudalen und antikolonialen Aufständen uqd Kämpfen der Bewohner des Kaukasus. Etwa dreißig Jahre lang dauerten die Kämpfe im Ostkaukasus — in Daghestan und Tschetschenien. Die dort lebende muselmanische Bevölkerung stand seit Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jh. im Bann einer mystischen Richtung des Islams, des Muridismus. Dieser hatte schon im 16. Jh. einen großen Einfluß ausgeübt und nahm im 19. Jh. infolge des Freiheitsdrangs der Bevölkerung und des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Islam und Christentum unter neuen Führern einen Charakter an, der sich gegen die russische Herrschaft wandte. Die vom Muridismus propagierte Lehre von der Notwendigkeit moralischer Selbstvervollkommnung und völliger Gleichheit aller „Rechtgläubigen" wurde gewöhnlich mit der Losung des „Heiligen Krieges" für den allgemeinen Sieg des Islams verbunden. Im Kaukasus nahmen die Forderungen der Anhänger des Muridismus einen ganz spezifischen Charakter an. Ihre Führer sprachen sich für den Krieg gegen Rußland aus, weil Muselmanen sich nicht den Anhängern einer anderen Rsligion unterordnen könnten. Die Verbreitung des Muridismus mußte eine beträchtliche Erhöhung der Bedeutung der muselmanischen Geistlichkeit nach sich ziehen, die nicht ohne Erfolg die Gelegenheit nutzte, die Macht an sich zu reißen, wobei sie sogar die einflußreiche Stellung der weltlichen Feudalherren untergrub. Bis zum Beginn der dreißiger Jahre stand die Befreiungsbewegung der Völker Daghestans und Tschetscheniens unter der Leitung des Imams Gasi-Mohammed, der Ende der zwanziger Jahre weltlicher und geistlicher Herrscher Daghestans und Tschetscheniens wurde. Der „Heilige Krieg" gegen den Zarismus und seine einheimischen Helfershelfer — die Chane und Beks — begann mit Überfallen auf die Kosakensiedlungen auf dem linken, nördlichen Ufer des Tereks. Gleichzeitig nahm der Muridismus, der ursprünglich eine religiöse Bewegung war, deutlich politischen Charakter an. Eine be-

200

Rußland von 1825 bis 1861

sondere Bedeutung erlangte er nach 1834, nachdem Osman Schamyl Imam, d. h. oberster Herrscher und geistlicher Führer der Muselmanen von Daghestan und Tschetschenien, geworden war. Der militärisch und organisatorisch begabte und aktive Schamyl, der sich eine besondere Autorität erworben hatte, verstand es, ein starkes Heer zu mobilisieren, das einige Zehntausend Mann umfaßte. Durch eine geschickte Führung seiner Truppen und durch Ausnutzung der Unterstützung der an ihn glaubenden Massen unterwarf Schamyl Oberdaghestan und ganz Tschetschenien seiner Herrschaft und kämpfte erfolgreich gegen die russischen Truppen. Im Jahre 1845 erlitt sogar der Statthalter des Kaukasus, Graf Woronzow, eine Niederlage. Der große Volksaufstand, der in den dreißiger Jahren unter Schamyls Leitung ausbrach, verfolgte das Ziel, das feudale Joch der Chane und der Beks sowie die Fremdherrschaft des Zarismus abzuschütteln. Die Volksmassen hielten zu Schamyl, weil sie von ihm eint Abschaffung der lästigen Feudalpflichten erhofften. Um Schamyl gruppierte sich aber allmählich eine privilegierte Feudalschicht, die gleichsam eine neue Aristokratie bildete. Schamyl selbst zeigte despotische Tendenzen, indem er Erscheinungen von Unzufriedenheit rücksichtslos und brutal unterdrückte. Die Hoffnungen der Volksmassen auf Wiederherstellung der sozialen Gleichheit und der patriarchalischen Demokratie wurden damit nicht erfüllt. Als sich die Bauern enttäuscht von Schamyl abwandten und auf diese Weise die soziale Basis seines Regimes erheblich eingeengt wurde, orientierte der Imam auf die Gegner Rußlands in der „orientalischen Frage" : auf die Türkei, auf Persien und vor allem auf England, das den Muridismus in seinem eigenen Interesse unterstützte. Die Entwicklung im Kaukasus in den dreißiger Jahren blieb daher nicht ohnÄ Einfluß auf das Verhältnis zwischen Rußland lyid England. Der Gegensatz zwischen beiden Staaten vertiefte sich noch. Er fand in der Angst beider Seiten Nahrung, das Gebiet zwischen der russischen und der englischen Kolonialgrenze in Mittelasien könnte unter den Einfluß des Gegners geraten. Gewisse Kreise in. England förderten deshalb gegen Rußland gerichtete Aktionen. Die Tscherkessen wurden von englischen Russophoben unterstützt. Der fanatische schottische Journalist David Urquhart beispielsweise veröffentlichte in seiner Zeitschrift „The Portfolio" eine tscherkessische Unabhängigkeitserklärung. Und 1836 hätte die Munitionslieferung Englands an Schamyl mit Hilfe der Brigg Vixen — die sog. Vixen-Afifare — sogar beinahe zum Abbruth der diplomatischen Beziehungen zwischen Rußland und England geführt. Nach der Beendigung des Krimkrieges im Jahre 1856 ging Rußland daran, dem so lange Jahre andauernden Krieg im Kaukasus endlich ein Ende zu bereiten. Die letzte Offensive Rußlands begann im Jahre 1857. Unterstützung erhielt sie von den sich verschärfenden Klassengegensätzen zwischen Schamyl und seinen Anhängern einerseits und der Masse der Gebirgsbewohner andererseits sowie von dem daraus resultierenden ständig fortschreitenden inneren Zerfall des Schartiylschen Imamats. Zuerst fiel Tschetschenien. Im Jahre 1859 kapitulierte Schamyl, der durch den Verlust seiner Lebensmittelbasis Tschetschenien den Krieg nicht mehr fortsetzen konnte. Er wurde gezwungen, sich in Kaluga anzusiedeln. Erst 1870 erhielt er die Erlaubnis, nach Mekka zu pilgern, wo er im darauffolgenden Jahre starb. Der Sieg über Schamyl beendete aber die Kämpfe im Kaukasus noch nicht. Im nordwestlichen Teil, unter den Tscherkessen, dauerten sie noch bis 1864. Erst mit der Kapitulation der Muriden im Westkaukasus im Jahre 1864 war die Eroberung des Kaukasus durch Rußland endgültig abgeschlossen.

Nikolaitische Außenpolitik

201

Die Auseinandersetzung um die „orientalische Frage" als ein bedeutender internationaler Machtkampf der europäischen Großmächte England, Frankreich, Rußland und Österreich um das Erbe des niedergehenden Osmanischen Reiches stand in der Regierungszeit Nikolaus' I. immer wieder im Mittelpunkt seiner Außenpolitik. Das Interesse des Zarismus an einer Lösung der „orientalischen Frage" in seinem Sinne ist vor allem'darauf zurückzuführen, daß von ihr die Sicherheit der südlichen Grenzen Rußlands und die wirtschaftliche Erschließung seiner Steppenrandgebiete abhingen, die eine zunehmende Rolle im Wirtschaftsleben des Landes spielten. Obwohl Nikolaus I. grundsätzlich an der nuancenreichen antitürkischen Politik des Zarismus.festhielt, peftdelte er in der „orientalischen Frage" dennoch zunächst zwischen einer zeitweiligen Unterstützung der Türkei in eigenem machtpolitischem Interesse und einer Parteinahme für die Balkan Völker in ihrem Befreiungskampf gegen ihre türkischen'Machthaber. „In der orientalischen Frage", schrieb Golowin in seinen Erinnerungen, „saßen wir immer zwischen zwei Stühlen, schwankten zwischen uneigennützigem Eintreten für die Slawen und dem sehr eigennützigen Wunsch, die türkische Erbschaft anzutreten." 16 Bei der Unterstützung der unter der Herrschaft des Sultans lebenden nichttürkischen Völker ging es dem Zarismus natürlich keineswegs um deren nationale Selbstbestimmung, sondern nur um die Ausnutzung ihrer Befreiungsbestrebungen zur Ausdehnung seines politischen Einflusses auf die Meerengen, aber auch auf den Balkan. Die offensichtlichen Expansionstendenzen des Zarismus im Nahen Osten führten zu einer gespannten außenpolitischen Konstellation. Seit dem Ende der Befreiungskriege gegen Napoleon hatte sich der russisch-englische Gegensatz in diesem Gebiet verschärft. Schon unter Alexander I. hatte sich der Schauplatz der Auseinandersetzungen um die persische Frage vergrößert. Für Rußland wurde sie durch die Erweiterung seiner Grenzen im Kaukasus akut. Rußlands Vordringen im Kaukasus und in Transkaukasien war für Persien und für das Osmanische Reich wegen des strategischen Wertes der Gebiete eine Gefahr. Auch England wurde durch das Erstarken der russischen Position alarmiert, weil damit die Frage der Herrschaft über Pers'ien aufgeworfen wurde, das zu dem von England als Schutz für seine indischen Besitzungen geförderten System von Pufferstaaten gehörte. Das ganze 19. Jh. hindurch wurden die russischpersischen Beziehungen durch die übergreifende russisch-englische Rivalität bestimmt. Außerdem sah England als führende Kolonialmacht der Welt seine Vorherrschaft im Nahen Osten sowie seine politischen und wirtschaftlichen Offensivtendenzen gefährdet. Es fürchtete, daß Rußland mit dem Zusammenbruch des türkischen Reiches den Löwenanteil erhalten und englische Interessen in diesem Gebiet unmittelbar bedrohen würde. So war es ganz natürlich, daß die englische; Regierung jede weitere Stärkung der Macht und des Einflusses Rußlands zu verhindern suchte. Rußland wurde Englands Hauptgegner. Die rationale Furcht vor Rußlands Aspirationen wurde durch verbreitete antirussische Gefühle gewisser Kreise in England — die bisweilen an Hysterie grenzten sowie von Presse und Publizistik angeheizt und von einigen englischen Politikern «wie Palmerston bewußt manipuliert wurden — noch potenziert. Nach 1830 wurde diese Russophobie auch vom Hof, von Königin Victoria, und von den Wählern der Mittelschichten geteilt. Sie spielte sicher eine nicht unwichtige Rolle beim Eintritt Englands in den Krimkrieg. 16 Golovin, K. F., Meine Erinnerungen. Der letzte Glanz des Zarenhofes, Berlin 1918, S. 170.

202

Rußland von 1825 bis 1861

Ein weiterer Gegensatz zeichnete sich zwischen Rußland und Österreich ab. Rußland hatte einmal durch die Erwerbung von Gebieten im Donaudelta, die auf die territorialen Bestimmungen des Wiener Kongresses zurückgingen, zum anderen durch die in Wien mit Unruhe verfolgte potentielle Unterstützung von Seiten der slawischen Völker der Balkanhalbinsel, die in Rußland den Garanten im Kampf um ihre nationale Unabhängigkeit sahen; eine günstige Ausgangsposition für seine Balkanpolitik gewonnen. Der Versuch des Zarismus, sich des ganzen Donaudeltas zu bemächtigen, seinen Einfluß auf dem Balkan zu erweitern und durch eine offensive Politik in der Türkei die Meerengen unter seine Kontrolle zu bringen, mußte schließlich zu einem Zusammenstoß mit Österreich führen, obwohl die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu Österreich ein Grundsatz der zaristischen Politik war, da der im Interesse des Zarismus liegende europäische Konservatismus vom Einvernehmen zwischen Petersburg und Wien in hohem Maße abhing. Des weiteren standen im Orient die Interessen des Zarismus auch den aggressiven kommerziellen Plänen der französischen Bourgeoisie gegenüber, die Persien gegen Rußland und England auszunützen suchte und jeden Erfolg Rußlands in diesem Einflußbereich mit Mißtrauen verfolgte. Der Nahe- und der Mittlere Osten waren somit Knotenpunkte der Widersprüche zwischen den bedeutendsten Staaten Europas und entwickelten sich zu einem Spannungsfeld der großen Politik. Im Mittelpunkt der ganzen „orientalischen Frage" stand noch immer der 1821 ausgebrochene und die Desintegration des Osmanischen Reiches einleitende Kampf der Griechen um ihre nationale Unabhängigkeit (1821 — 1829), der im Zusammenhang mit dem erneuten Studium der griechischen Kultur in ganz Europa eine philhellenische Begeisterung auslöste, die sich in Sympathien und Hilfsaktionen kundtat. Auch Nikolaus I. mußte dazu Stellung nehmen. Wenn dieser dem tieferen Anliegen des Befreiungskampfes der Griechen auch skeptisch gegenüberstand, so befürwortete er dennoch die schon v®n seinem Bruder Alexander I. vertretene Konzeption, die auf die Schaffung eines Königreiches Griechenland hinauslief — eine Konzeption, die auch die Billigung Englands und Frankreichs fand. In diesem Sinne gewährte der Zarismus den Griechen militärische Unterstützung und den griechischen Emigranten Schutz. Diese konnten in Odessa und in anderen Städten Rußlands sogar ihre revolutionären Organisationen gründen, wie die Hetairia-Bewegung zeigt, deren Ziel darin bestand, Griechenland mit russischer Hilfe vom türkischen Joch zu befreien. Nikolaus versuchte, die Freiheitsbestrebungen des griechischen Volkes gegen die türkische Reaktion für eine Erweiterung seines Einflusses auf dem Balkan auszunutzen. Dennoch trugen die Erfolge- Rußlands in dieser Frage objektiv auch zum Aufschwung des nationalen Befreiungskampfes der Balkanvölker bei. Eine für den Zarismus günstige Lösung des Konflikts auf dem Balkan war ohne Zusammenarbeit mit anderen Staaten nicht möglich. Dessen war sich die zaristische Diplomatie durchaus bewußt. Auch in London und Paris war man von der Unumgänglichkeit eines Zusammenwirkens überzeugt, weil man befürchtete, daß Rußland selbst sich um die Lösung der griechischen Frage bemühen könnte, was eine bedeutende Stärkung seines Einflusses auf dem Balkan und überhaupt im Nahen Osten bedeutet hätte. In der griechischen Frage kam es vor allem zwischen Rußland und England zu einer Zusammenarbeit. 1823 war in der englischen Politik eine offizielle Wendung eingetreten. Der konservative George Cannington war zum Außenminister berufen worden. Er erklärte, England werde den Kampf der Griechen um Autonomie unter der Souve-

203

Nilcolaitische Außenpolitik

ränität des türkischen Sultans unterstützen. Wellington — Sieger bei Waterloo — machte kein Hehl daraus, daß der Status quo im Mittelmeer für England die denkbar beste Kombination sei. Ein völlig freies Griechenland war auch für England als potentieller Rivale im Mittelmeer nicht akzeptabel. In Konstantinopel war man sich darüber im klaren, daß man mit eigenen Kräften den Aufstand der Griechen nicht unterdrücken konnte. So wandte sich der Sultan an den Pascha von Ägypten Mehemed Ali um Hilfe und versprach, ihm nach dem endgültigen Sieg Cypern und Kreta abzutreten. Rußland und England hatten aber keinerlei Interesse an einer Stärkung der Macht Ägyptens. Zu einer solchen StärkungVäre es jedoch gekommen, wenn der Pascha von Ägypten einen entscheidenden Erfolg in Griechenland erzielt hättQ, wofür gute Aussichten bestanden. Die Initiative zur taktischen russischrenglischen Annäherung ging von England aus. Im Auftrag der englischen Regierung begab sich Wellington 1826 nach'Petersburg zu Gesprächen^ über die griechische Frage. Als Ergebnis wurde am 4. April 1826 das „Petersburger Protokoll" unterzeichnet, in dem sich beide Regierungen auf eine Politik der Zusammenarbeit in der Frage des griechischen Befreiungskampfes einigten mit dem Ziel, einen autonomen griechischen Staat unter der Souveränität des türkischen Sultans zu schaffen. Der Protokolltext enthielt noch einen wichtigen Punkt: Beide Seiten kamen überein, daß sie, falls ihre Vermittlung durch die Türkei abgelehnt würde, freie Hand haben, getrennte Aktionen zu unternehmen, mit dem Ziel, die Türkei zur Annahme dieser Vorschläge zu bewegen. Am 6. Juli 1827 bekannte sich Frankreich im Vertrag von London zu den Vereinbarungen des „Petersburger Protokolls". Nur Österreich und Preußen unterzeichneten den Vertrag nicht. Vom Österreich Metternichs hatten die Griechen nicht viel zu erwarten, Ein autonomes Griechenland gefährdete nach Meinung des Kanzlers der Donaumonarchie den Fortbestand des Osmanischen Reiches, in dem er ein unentbehrliches Gegengewicht gegen Rußland erblickte. Unabhängig vom Petersburger Protokoll forderte Rußland in einem Ultimatum an die Pforte die Autonomie für die beiden Donaüfürstentümer Moldau und Walachei sowie die Garantie der im Bukarester Frieden von 1812 vereinbarten Rechte des Fürstentums Serbien. Der Sultan gab nach. Innere Unruhen im Osmanischen Reich sowie die Haltung Englands und Frankreichs, die fürchteten, daß Rußland bei einer Ablehnung der Türkei militärische Schritte unternehmen werde, gaben den Ausschlag. Im Oktober 1826 wurde die Konvention von Akkerman unterzeichnet, in der der Sultan die russischen Forderungen in der Hoffnung sofort anerkannte, die Verbündeten in der griechischen Frage damit voneinander zu trennen. In der Konvention erkannte die Türkei die Autonomie Serbiens, der Moldau und der tWalachei sowie das Protektorat Rußlands über die beiden Donaufürstentümer und über umstrittene Gebiete im Kaukasus an und gestand Rußland das Recht auf freie Handelsschiffahrt in allen türkischen Gewässern und auf ungehinderten Handel im gesamten türkischen Reich zu. Das Schwarze Meer wurde für den internationalen Handel geöffnet..Einen Frieden mit den Griechen lehnte der Sultan jedoch energisch ab. Die Konvention von Akkerman war ein bedeutender Erfolg der zaristischen Diplomatie, der für die russische Regierung um so mehr Gewicht hatte, als ein neuer Krieg zwischen Rußland und Persien ausbrach. Der russisch-persische Krieg von 1804 bis 1813 war mit dem Vertrag von Gulistan beendet worden, der Rußland beträchtlichen Gebietsgewinn einbrachte. Schon zu Lebzeiten Alexanders I. waren bei der Einhaltung '

204

Rußland von 1825 bis 1861

der Friedensbedingungen verschiedene Probleme aufgetreten. Es begannen lange andauernde Grenzkonflikte, in denen man zu keiner Verständigung kommen konnte. In diesem Zusammenhang spielte auch die englische Diplomatie eine Rolle. Ihre Anstrengungen zielten vor allem darauf ab, es zu keinem russisch-türkischen Krieg kommen zu lassen, in dem es fast unvermeidlich zu einer Niederlage der Türkei gekommen wäre, die zu der für Rußland vorteilhaftesten Lösung der Meerengenfrage hätte führen können. Die ständigen Auseinandersetzungen zwischen Rußland und dem von England u. a. auch durch größere Geldanleihen unterstützten Persien waren der Regierung in London sehr angenehm. Ihr war daran gelegen, daß Persien ein „unsicherer Nachbar" Rußlands blieb, der es von aggressiveren Aktionen gegen die Türkei abhalten würde. 1826 kündigte die persische Regierung auf Betreiben Englands den Vertrag von Gulistan und lehnte die Vorschläge für eine Rückgabe ehemals persischer Gebiete ab, zu denen Rußland sich verafilaßt sah. Die englische Regierung nutzte die revanchistischen Stimmungen der persischen Feudalherren aus, die sich mit dem Verlust von Gebieten Aserbaidshans nicht abfinden wollten, und schloß mit dem Schah ein „Angriffs- und Verteidigungsbündnis" gegen Rußland. Im Sommer 1826 begann die 63000 Mann starke Armee Persiens, die mit englischen Waffen ausgerüstet und von englischen Offizieren ausgebildet worden war, die Kriegshandlungen in Transkaukasien. Gemeinsam mit der persischen Armee kämpften Truppen einiger Chane Transkaukasiens, die ihre Macht unter der Herrschaft des Schahs wiederherstellen wollten. Aber die Volksmassen unterstützten diese Parteigänger der persischen Unterdrücker nicht. Auf russischer Seite zogen Abteilungen freiwilliger Georgier, Armenier und Aserbaidshaner in den Krieg, und in den von persischen Truppen zeitweilig eroberten Gebieten entfaltete sich der Partisanenkampf. Die persischen Truppen wurden aus Transkaukasien verdrängt. Im Herbst 1827 drang die russische Armee unter Paskewitsch in Südaserbaidshan ein und besetzte Täbris. Das Vermittlungsangebot der englischen Regierung wurde von Rußland abgelehnt. Die persische Regierung war erst dann endgültig bereit, die von Rußland gestellten Friedensbedingungen zu akzeptieren, als die russische Armee Hen Angriff auf Teheran einleitete. Am 22. Februar 1828 wurde in der Ortschaft Turkmantschai, südöstlich von Täbris, der Friedensvertrag zwischen Rußland und Persien unterzeichnet. Rußland erhielt als Sieger die Chan^te Jeriwan und Nachitschewa, d. h. Ostarmenien, ganz Nordaserbaidshan, hohe Kontributionen und große Handelsvorteile sowie das Ausnahmerecht, auf dem Kaspischen Meer eine Kriegsflotte zu unterhalten. Leiter der russischen Delegation auf der Konferenz in Turkmantschai war der berühmte russische Schriftsteller Gribojedow. Der russisch-persische Krieg weckte in Konstantinopel die Hoffnung auf eine für die Türkei günstige Regelung der sie interessierenden Angelegenheiten. 1826 hatten die Türken im Kampf gegen die Griechen bedeutende Erfolge erzielt, die zu großen Verwirrungen in der politischen Führung Griechenlands und zu einer komplizierten Lage in den befreiten griechischen Gebieten führten. Da Rußland während des russischpersischen Krieges die Griechen auf ihre Bitte in ihrem Kampf gegen das Türkenjoch unterstützte, beeilte sich die türkische Regierung nicht allzu sehr, die Konvention von Akkerman zu realisieren. Im Frühjahr 1827 wählte die griechische Nationalversammlung Johann Capo d'Istria, der fast zwanzig Jahre in russischen Diensten gestanden hatte, zum Präsidenten Griechenlands. Die Kämpfe gegen die Türkei gingen weiter.

Nikolaitische Außenpolitik

205

Obwohl die für Rußland sehr vorteilhafte Konvention von Akkerman England begreiflicherweise beunruhigte, wurden die Verhandlungen der englischen und der russischen mit der türkischen Regierung über die Schaffung eines autonomen Griechenlands fortgeführt. Ein Erfolg blieb ihnen versagt. Verhandlungen mit Ibrahim-Pascha von Ägypten über die Einstellung des Massakers in Morea blieben ebenfalls erfolglos. Daraufhin verlegte die zaristische Regierung im Herbst 1827 ein russisches Geschwader an die Küste Griechenlands. England und Frankreich schlössen sich Rußiand an. Am 20. Oktober 1827 griff im Zusammenhang mit dem Versuch, die Türkei, deren Truppen Athen erobert hatten, zu einem Waffenstillstand mit Griechenland zu bewegen, die vereinigte russisch-englisch-französische Flotte in der Bucht von Navarino im Ionischen Meer die türkisch-ägyptische Flotte an und vernichtete sie. Die Türkei protestierte gegen diesen Angriff, kündigte die Konvention von Akkerman and erklärte schließlich im April 1828 den christlichen Mächten den „Heiligen Krieg", der allerdings vor allem gegen Rußland gerichtet war. Die neue Regierung Englands unter Wellington lenkte ein. Sie befürchtete, daß ein Krieg zwischen der Türkei und Rußland eine Niederlage der Türkei und ein von Rußland beherrschtes Griechenland zur Folge haben würde. Nikolaus I. hingegen beschloß, den Krieg sehr entschlossen und gleichzeitig an mehreren Fronten zu führen. So entfaltete sich der russisch-türkische Krieg auf dem Balkan, im Kaukasus und in Transkaukasien. Auf dem Balkan marschierten die russischen Truppen unter Marschall Wittgenstein in die beiden Donaufürstentümer Moldau und Walachei ein und überschritten den Unterlauf der Donau. Von den drei Festungen Silistria, Schumla und Warna konnten sie zunächst nur Warna einnehmen. Somit führte der erste Feldzug auf dem Balkan zu keinen. entscheidenden strategischen Erfolgen. In den Plänen des Zarismus und seiner militärischen Berater für den Feldzug gegen Konstantinopel wurden die Besonderheiten des Gebirgskrieges zu wenig berücksichtigt und die strategischen Möglichkeiten des Gegners unterschätzt. Zudem verfügte die Türkei auf dem Balkan und im Meerengengebiet über erhebliche Streitkräfte. Die veraltete Kampfpraxis der russischen Truppen und die Unfähigkeit der zaristischen Heerführer sowie die schlechte Organisation des Nachschubs taten ein übriges. Erfolgreicher entwickelten sich die Operationen auf dem kaukasischen Kriegsschauplatz. Oberkommandierender im Kaukasus war Paskewitsch — der Liebling des Zaren —, dem offizielle Kreise die Erfolge 'der russischen Streitkräfte zuzuschreiben versuchten. In Wirklichkeit jedoch hatten Dekabristen als Kommandeure der russischen Truppen im Kaukasus entscheidenden Anteil an den Siegen Rußlands. Im Laufe von zwei Monaten eroberten die russischen Streitkräfte die Festungen Kars, Achalkalaki und Achalziche. Damit untergruben sie das türkische Verteidigungssystem an der kaukasischen Grenze. Danach säuberten sie das armenische Hochland und den Kleinen Kaukasus vom Feind. Außerdem eroberten russische Kampfeinheiten die Seefestungen Anapa und Poti. Die Erfolge Rußlands in Transkaukasien sowie die Besetzung der Donaufürstentümer und bulgarischer Gebiete durch russische Truppen riefen in London und in Wien Besorgnis hervor. Im Herbst 1828 konzentrierte Österreich seine Streitkräfte demonstrativ an der Ostgrenze der Monarchie. Metternich regte die Bildung einer antirussischen Koalition an, der die Großmächte England, Frankreich, Preußen und Österreich angehören sollten. Dieser Gedanke fand bei aggressiven Kreisen der englischen Bourgeoisie Anklang. In der englischen Presse wurde eine antirussische Kampagne eröffnet, die die öffentliche Meinung mit dem Gespenst einer russischen Gefahr für die englischen

206

Rußland von 1825 bis 1861

Besitzungen in Indien schrecken sollte. In militärischen Kreisen Englands wurde bereits der Plan eines Koalitionskrieges gegen Rußland erörtert. Ferner versuchte die englische Diplomatie, im Mittleren Osten einen antirussischen Block zu schaffen, dem Persien und die Türkei angehören sollten. Sie beschwor — unterstützt von Frankreich — die Türkei, im Kaukasus zur Gegenoffensive überzugehen, und versuchte, den Schah von Persien zu überreden, den Krieg gegen Rußland wiederaufzunehmen. Im Januar 1829 organisierten Würdenträger des Schahs, die im Solde der englischen Mission standen, einen Überfall auf die russische Botschaft in Teheran, bei dem Gribojedow und seine Mitarbeiter ums Leben kamen. Die türkischen Heerführer betrachteten die Nachricht von diesem Überfall als Signal zur Gegenoffensive und hofften damit, den Schah zu einem entschiedeneren Vorgehen veranlassen zu können. Die russischen Truppen schlügen jedoch die türkischen Streitkräfte vor Achalziche. Diese neuerliche Niederlage der Türken hatte auf Feth-Ali-Schah eine ernüchternde Wirkung. Er wagte es nicht, den Vertrag von Türkmantschai zu brechen und wieder Krieg gegen Rußland zu führen. So sprach er offiziell sein Bedauern über die Tragödie von Teheran aus. Damit scheiterten- nicht nur die Bemühungen, eine antirussische Koalition in Europa zu schaffen, sondern es mißglückte auch der Versuch der Westmächte, einen antirussischen Block im Mittleren Osten zu bilden. Auf dem Balkan überschritten die russischen Truppen unter dem neuen Oberkommandierenden Diebitsch nach dem Fall Silistrias — einer der wichtigsten Donaufestungen — den Gebirgsrücken des Balkans, rückten in Südbulgarien ein und eroberten Adrianopel. Im Sommer 1829 war die Vorhut der russischen Armee nur noch 60 Kilometer von Konstantinopel entfernt. Im Kaukasus schlugen die russischen Truppen — unterstützt von Armeniern, Georgiern und Aserbaidshanern — im Sommer 1829 die zahlenmäßig überlegenen Streitkräfte des Gegners, eroberten Erserum und stießen in Richtung Trapezunt vor. Der russisch-türkische Krieg endete mit einer Niederlage der Türkei. Am 14. Septerpber 1829 wurde in Adrianopel der Friedensvertrag zwischen Rußland und der Türkei unterzeichnet. Er hatte für Rußland eine große Bedeutung, obwohl er ihm keinen größeren territorialen Gewinn brachte. Die Pforte mußte Griechenland die staatliche Unabhängigkeit und Serbien sowie den Donaufürst&ntümern Moldau und Walachei die Autonomie gewähren. Der Frieden von Adriailopel bedeutete somit einen wichtigen Meilenstein in der Befreiung der Balkanvölker vom türkischen Joch. Rußland erhielt im Donaudelta noch die Salina-Mündung, durch die der Schiffsverkehr ging, ferner die kaukasische Schwarzmeerküste von der Mündung des Kuban bis zum Hafen St. Nikolai (außer Batumi) und das Gebiet von Achalziche. Die Pforte war gezwungen, die Bestimmungen des Bukarester Friedens und der Konvention von Akkerman neuerlich zu bestätigen. Die Balkan völker brachten den russischen Truppen in ihrem Kampf gegen die Türkei große Sympathie entgegen. Sie verknüpften mit den Erfolgen Rußlands starke Hoffnungen auf ihre eigene nationale Befreiung vom türkischen Joch. Wenn der Zarismus auch keineswegs das Ziel verfolgte, die Balkanvölker zu befreien, sondern lediglich versuchte, sich ihrer nationalen Befreiungsbewegung als eines Mittels zur Lösung der nationalen Frage in seinem eigenen Interesse zu bedienen, so trugen die Siege Rußlands objektiv doch zu einem Aufschwung# des nationalen Befreiungskampfes der Balkanvölker gegen die Türkei bei. Auch im Kaukasus und in Transkaukasien führte der Einmarsch russischer Truppen zu einer weiteren Entfaltung der nationalen

Nikolaitische Außenpolitik

207

Bewegung der Georgier, Armenier und Aserbaidshaner. Obwohl der Zarismus in den angegliederten Gebieten ein Kolonialregime errichtete und die Willkür der russischen Beamten, die Russifizierungspolitik und der Druck der einheimischen Feudalherren als Helfershelfer des Zarismus bei der Durchführung seiner Politik schwer auf der Bevölkerung lasteten, hatten der Anschluß Transkaukasiens an Rußland für Georgier, Armenier und Aserbaidshaner dennoch eine progressive Bedeutung. Er schuf günstige Voraussetzungen für die Entwicklung ihrer Wirtschaft und Kultur. Die besten Vertreter des georgischen, armenischen und aserbaidshanischen Volkes, so der georgische Dichter Barataschwili („Das Schicksal Georgiens"), der armenische Schriftsteller Abowjan („Die Wunden Armeniens") und der aserbaidshanische Schriftsteller und Philosoph Achundow begrüßten denn auch die Angliedsrung Transkaukasiens an Rußland. Die Stärkung der politischen und strategischen Position Rußlands Ende der zwanziger Jahre wurde in London und in Wien mit unverhohlener Feindseligkeit registriert. Lord Aberdeen, Englands Außenminister, war der Meinung, das ganze Gleichgewicht im Orient sei zugunsten Rußlands verschoben und die Unabhängigkeit der Pforte bedroht. Tatsächlich war der politische und wirtschaftliche Einfluß Englands in Konstantinopei und Teheran etwas schwächer geworden-. Ähnliche Bedenken wie aus England kamen aus Österreich, dessen Militärs ihr Land zu einer Macht zweiten Grades degradiert sahen, wie aus einer Denkschrift General Radetzkys hervorgeht. Um den gewachsenen Einfluß Rußlands auf dem Balkan zu schwächen, schalteten sich England und Frankreich in die Verhandlungen über die griechische Frage ein. Am 3. Februar 1830 unterzeichneten sie gemeinsam mit Rußland das Londoner Protokoll, in dem der unabhängige griechische Staat anerkannt, sein Territorium aber beschränkt wurde. Außerdem oktroyierten ihm die Signatarstaaten eine Erbmonarchie und erklärten sich selbst zu „Schutzmächten". Die Erlangung der Unabhängigkeit verhinderte nicht, daß ein heftiger Kampf der Parteien in Griechenland ausbrach, dem 1831 u. a. Präsident Capo d'Istria zum Opfer fiel. Der Niedergang des feudalen Osmanischen Reiches führte zu weiteren Konflikten. Der ägyptische Pascha Mehemed Ali wollte die Schwäche der Türkei zur Befreiung Ägyptens von der türkischen Herrschaft und zur Schaffung eines ägyptischen Großreiches ausnutzen und erhob sich 1831 — 1833 gegen den Sultan. Mehemed Alis Sohn Ibrahim begann mit Operationen in Syrien, eroberte Akko und Damaskus, besiegte die Türken in mehreren Schlachten, vor allem bei Koniah 1832, und drang in Kleinasien ein. Nicht nur Syrien, sondern auch Adana fiel unter ägyptische Kontrolle. Die englischen Interessen waren bedroht, da alle Landwege nach Indien unter Mehemed Alis Einfluß geraten waren. Der Sultan bat England und Frankreich um Unterstützung, aber beide Mächte waren in Westeuropa gebunden. Als sich die siegreiche ägyptische Armee Koristantinopel näherte, wandte Sultan Mahmud II. sich an Rußland. Nikolaus I. entsprach der Bitte des Sultans um Hilfe, denn die Beherrsfchung der Türkei durch eine starke ägyptische Dynastie lag ebenso wepig wie eine von England beherrschte Türkei im Interesse Rußlands. Am 20. Februar 1833 liefen neun russische Kriegsschiffe unter der Führung des erfahrenen Admirals Lasarew in den Bosporus ein und warfen direkt bei Konstantinopel Anker. Im April gingen über 10000 russische Soldaten am asiatischen Ufer des Bosporus an Land. Ibrahim wollte keinen Konflikt mit Rußland riskieren, und der Sultan war nicht daran interessiert, daß die Russen allzu lange auf seinem Territorium blieben. England und selbst

208

Rußland von 1825 bis 1861

Frankreich, das den Pascha von Ägypten vorher unterstützt hatte, überredeten diesen zu Zugeständnissen. Die Türkei verständigte sich mit Ägypten, indem sie ihm die Oberherrschaft über Syrien zugestand, und Ibrahim zog seine Truppen aus Anatolien ab. ' Ausdruck dieser neuen Situation war der Vertrag von Hunkjar-Skelessi bei Konstantinopel, der am 8. Juli 1833 zwischen der Türkei und Rußland abgeschlossen wurde. In dem für acht Jahre abgeschlossenen Vertrag, der alle früheren russisch-türkischen Verträge bestätigte, vereinbarten beide Partner-eine gegenseitige Unterstützuftg. In einer Geheimklausel, von der die anderen Regierungen bald darauf erfuhren, verpflichtete sich die Türkei, auf russisches Verlangen die Dardanellen für ausländische Kriegsschiffe zu sperren. Nach übereinstimmender Meinung der Historiker war der Vertrag von Hunkjar-Skelessi eine Spitzenleistung der zaristischen Diplomatie in ihrem langjährigen Bemühen um eine für den Zarismus günstige Lösung der „orientalischen Frage". Das Defensivbündnis von.Hunkjar-Skelessi, das Rußland zur einzigen Schutzmacht der Türkei machte und ihm die Vorherrschaft auf dem Schwarzen Meer und in den Dardanellen und damit das Übergewicht im Nahen Osten sicherte, erregte das höchste Mißtrauen der änderten Großmächte, deren Regierungen an einer Schwächung des russischen Einflusses in der Türkei gelegen war. England war in diplomatischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht besonders aktiv. Die englische Diplomatie unternahm gleich nach dem Frieden von Adrianopel erste Schritte. So wurde zum Beispiel 1830 ein englisches Konsulat in Trapezunt eröffnet. Die wirtschaftliche Aktivität Englands fand ihren Ausdruck vor allem in der Expansion englischen Kapitals und in der Gründung englischer Firmen in der Türkei. Außerdem unterhielt England inoffiziell und illegal Kontakte zu einigen Stämmen des Kaukasus, die der russischen Herrschaft feindlich gegenüberstanden oder sogar gegen sie aufbegehrten, und unternahm Anstrengungen in Richtung auf die Erlangung größtmöglichen wirtschaftlichen Einflusses in den mittelasiatischen Staaten. In England wurde der Erfolg Rußlands als eine große Niederlage der epglischen Diplomatie empfunden. Er führte zu einer Welle gegen Rußland gerichteter Publikationen, die in Urquhart ihren führenden Initiator hatte. 1834 weilte dieser unter dem Pseudonym Daud-Bey an der kaukasischen Schwarzmeerküste, wo er versuchte, mit den protürkisch gesonnenen tscherkessischen Fürsten Kontakt aufzunehmen, und 1835 war er Sekretär der englischen Botschaft in Konstantinopel, die nicht zufallig gerade zu dieser Zeit ein Zentrum rußlandfeindlicher Propaganda unter den Völkern des Kaukasus war. 1836 hielten russische Wachschiffe an der kaukasischen Schwarzmeerküste die englische Brigg Vixen auf, die mit Munition und anderem Kriegsmaterial für Schamyl beladen war. Sie wurde wegen des Versuchs, Schmuggelladung zu löschen, konfisziert. Der damalige Außenminister Englands, Lord Palmerston, wollte diesen Zwischenfall zu diplomatischem Druck auf Rußland ausnutzen und von ihm die Zustimmung zu einer Revision defc Vertrags von Adrianopel erzwingen. Aber Nikolaus I. war zu Zugeständnissen in der Frage der russischen Grenzen im Kaukasus nicht bereit. Nach einem Austausch ziemlich scharfer Noten wurde der von Palmerston provozierte diplomatische Konflikt beigelegt. Der Kaukasus blieb jedoch noch lange Zeit einer der Hauptknotenpunkte russisch-englischer Gegensätze. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre verlagerte sich das Zentrum der russischenglischen Konflikte allerdings von Transkaukasien nach Afghanistan, das bis 1819

Nikolaitische Außenpolitik

209

ein mächtiger Einheitsstaat gewesen war, im zweiten Viertel des 19. Jh. aber in vier selbständige Chanate zerfiel. 1837/38 kam es zu langwierigen Auseinandersetzungen zwischen dem von Rußland unterstützten Persien und England wegen der Besetzung der afghanischen Chanate. 1837 begann Persien — von Rußland gefördert — einen Krieg gegen Afghanistan zur Eroberung von Herat, einem Oft, den England im Hinblick auf seine indischen Interessen für lebenswichtig hielt. Als Folge dieser Auseinandersetzung und ihrer Komplikationen begann England 1839 schließlich den Ersten Afghanischen Krieg, der zur Errichtung seiner Herrschaft über das Land führte. Der ein Jahrzehnt lang geplante und 1839 als Antwort auf den englischen Einmarsch in Afghanistan unternommene erste, wenn auch noch erfolglose Vorstoß Rußlands gegen Chiwa 1839 und die Unterwerfung der großen Kirgisenhorde südlich des Balchaschsees durch Rußland trug zu einer weiteren Verschärfung der antirussischen Einstellung in England bei. Obwohl in den dreißiger Jahren das Hauptaugenmerk der europäischen Diplomatie den Meerengen und der ägyptischen Frage galt, spielte der Zusammenstoß Rußlands und Englands in Afghanistan immer eine entscheidende Rolle in der Ausrichtung der Politik der Großmächte. Das englische Kabinett war trotz der Erklärungen der zaristischen Diplomatie, daß der Vertrag von Hunkjar-Skelessi keine Neuregelung der Meerengenfrage enthalte, keineswegs gewillt, einen so weitreichenden Erfolg des Zarismus ohne Widerstand hinzunehmen. Stand doch die Zukunft des englischen Levantehandels auf dem Spiel. Außerdem sah die englische Regierung ihre Landwege nach Indien bedroht. Die Annullierung dieses Vertrages wurde daher im Interesse der Bourgeoisie ein Hauptziel der englischen Außenpolitik. 1834 schloß England mit Frankreich ein Bündnis, das Rußland sehr beunruhigte. Es bedeutete letztlich eine Unterstützung der französischen Regierung, die Nikolaus I. für gefahrlich revolutionär hielt. Das Bündnis konnte auch zu einer ernsten Gefahr für die russischen Interessen in der Türkei werden. Die türkische Regierung liebäugelte wegen kommerzieller und diplomatischer Unterstützung mit England. Der türkische Sultan Mahmud und Mehemed Ali von Ägypten waren beide alte Männer, die darauf bedacht waren, die syrische Frage zu regeln, ehe sie starben. Beiden gelang es nicht, sich für ihre Syrienpolitik der Unterstützung der Großmächte zu versichern. Schließlich griff Mahmud 1839 seinen Vasallen an und wurde geschlagen. Zum dritten Male innerhalb eines Jahrzehnts war die Integrität des türkischen Reiches bedroht. E>ie ägytischen Angelegenheiten interessierten Nikolaus I. nur insoweit, als sie für Konstantinopel eine Gefahr bedeuteten, indem sie eine Wiedergeburt der Macht der Osmanen unter der Dynastie Mehemed Alis zur Folge haben könnten. England war am Fortbestand des türkischen Reiches interessiert, in dem es den besten Garanten englischer Interessen in diesem Gebiet sah. Es wünschte aber die Aufhebung des Vertrags von Hunkjar-Skelessi und an seiner Stelle eine allgemeine europäische Übereinkunft. Ein deutliches Entgegenkommen der Türkei bestärkte es in seinem Streben. Die zaristische Politik geriet iri einen ganzen Kreis' immer schwieriger werdender Fragen hinein, und Nikolaus I. begann, sich allmählich mit dem Gedanken an Zugeständnisse abzufinden, die ihm wenigstens indirekt gewisse Vorteile brächten. Zu dem von Louis-Philippe regierten Frankreich hatte er nicht viel Vertrauen. Er zog eine Annäherung an England vor, die im Bereich des Möglichen lag. Die Beziehungen zwischen England und Frankreich lockerten sich, nachdem 14

Straube/Zeil, Feudalismus

210

Rußland von 1825 bis 1861

Frankreich Algerien erobert hatte. Während des Krieges zwischen dem. von Frankreich unterstützten Ägypten und der Türkei, in dem Ägypten Erfolge erzielte, starb Sultan Mahmud II. Die Regierung übernahm Abdul Medshid. Palmerston bemühte sich darum, die entstandene Lage zu nutzen, um den russisch-türkischen Vertrag von Hunkjar-Skelessi in einem multilateralen Abkommen der Großmächte über die Meerengen „aufzulösen". Die Großmächte verständigten sich untereinander und beschlossen, den Konflikt gemeinsam beizulegen. Nur Frankreich zeigte zunächst kein Interesse. Am 15. Juli 1840 unterzeichneten England, Rlißland, Österreich und Preußen in London eine Konvention mit der Türkei. Diese Konvention garantierte die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Türkei. Ferner verpflichteten sich die Großmächte, dem Sultan kollektive militärische Unterstützung zu gewähren, wenn der ägyptische Pascha neue Ansprüche stellen sollte. Die Meerengen wurden in Friedenszeiten für Kriegsschiffe aller Staaten gesperrt. Diese Festlegungen sollten nur durch eine europäische Konferenz geändert werden können. Damit wurde der Vertrag von Hunkjar-Skelessi, der 1841 ohnehin abgelaufen wäre, faktisch aufgehoben. Auch Pascha Mehemed Ali war gezwungen, die Bedingungen der Londoner Konvention anzunehmen. Er erhielt auf Lebzeiten einen Teil Syriens und erblich Ägypten. Frankreich fühlte sich dadurch brüskiert, daß die Konvention selbst, an deren Vorberatungen einer seiner Vertreter teilgenommen hatte, ohne dessen Wissen abgeschlossen worden war. So wurde am 13. Juli 1841 die zweite Londoner Konvention, diesmal von den fünf Großmächten, unterzeichnet. Sie bestätigte die Neutralisierung der Meerengen und ihre Sperrung für Kriegsschiffe aller Staaten in Friedenszeiten. Die Türkei stand von nun an unter dem „kollektiven Schutz" der Großmächte. Die Londoner Konventionen waren eine diplomatische Niederlage des Zarismus und stärkten neuerlich die Positionen Englands. Das hinderte Nikolaus I. nicht daran, eine Verbesserung der Beziehungen Rußlands zu England anzustreben. Sein Besuch in London 1844 sollte diesem Ziel dienen. Aber diese Annäherung war nur von kurzer Dauer.

Kapitel X Der Krimkrieg (1853-1856)

Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 rückte die „orientalische Frage" erneut in den Mittelpunkt der internationalen Politik. Weder die Londoner Konventionen von 1840 und 1841 noch die am l . M a i 1849 in Balta-Liman bei Konstantinopel von Rußland und der Türkei unterzeichnete Konvention über die inneren Angelegenheiten der beiden Donaufürstentümer, die 1851 zum Abzug der russischen Truppen aus der Moldau führte, brachten eine längere Stabilisierung der Beziehungen zwischen den Mächten. Zudem zeichneten sich bald neue Auseinandersetzungen, vor allem ein neuer Konflikt zwischen Rußland und der Türkei, ab. Nikolaus I., der nach 1849 in völliger Fehleinschätzung der Machtmittel Rußlands und seiner Stellung in Europa alles durchsetzen zu können glaubte, wollte die Schwäche der Türkei, des „kranken Mannes am Bosporus", zugunsten einer Verstärkung seines Einflusses im Vorderen Orient und auf dem Balkan ausnutzen, um damit seine Niederlage in den Londoner Konventionen wieder auszugleichen. Er strebte nach einer Aufteilung des Osmanischen Reiches. Dabei ging es ihm in erster Linie um eine beträchtliche Erweiterung seiner Machtgrundlage in Europa und um die Erlangung eines Zugangs zum Mittelmeer. Zu diesem Zweck wollte er den Einfluß Rußlands auf die unter türkischer Herrschaft stehenden Balkanvölker verstärken. In gewisser Weise kam ihm dabei der nationale Befreiungskampf dieser Völker, vor allem der Balkanslawen, gegen die türkische Unterdrückung und Mißwirtschaft zugute, der die Grundfesten des türkischen Reiches ins Wanken brachte. Die Auseinandersetzung begann mit der Forderung des Zaren und des Kaisers von Österreich an den türkischen Sultan Abdul' Medshid, die ungarischen und polnischen Patrioten und Revolutionäre auszuliefern, die nach der Unterdrückung der Revolution in Ungarn auf türkisches Gebiet geflüchtet waren. Abdul Medshid lehnte nach vorheriger Konsultation mit englischen und französischen Diplomaten ab. Die türkische Regierung schlug vor, den ungarischen und polnischen Emigranten einen Aufenthaltsort innerhalb des Landes anzuweisen, der von der Hauptstadt weit entfernt war, und verpflichtete sich, keine gegen Rußland und Österreich gerichteten Aktivitäten / u dulden. Es kam zu einer Verständigung mit Rußland und "Österreich. In diesem Ereignis deutete sich aber bereits ein neuer Zusammenstoß zwischen Rußland einerseits und England und Frankreich andererseits an. Neben den Bestrebungen Rußlands zur Ausdehnung seiner Einflußsphäre vor allem auf dem Balkan, die zugleich eine starke ökonomische Komponente aufwiesen, spielten in der Politik des Zarismus dem Osmanischen Reich gegenüber immer auch rein wirtschaftliche Interessen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Der steigende Anteil des russischen Exports, der über die Schwatzmeerhäfen abgewickelt wurde, förderte das Interesse an einem Einfluß auf die Meerengen und damit an einem Zugang zum Mittelmeer. 15

Straube/Zeil, Feudalismus

212

Rußland von 1825 bis 1861

Natürlich konnte es die Türkei im 19. Jh. nicht mehr wagen, in Friedenszeiten dem russischen Handel Schwierigkeiten zu bereiten; im Kriege jedoch legte die Schließung der Meerengen die russische Ausfuhr aus dem Schwarzen Meer automatisch Jahm. Zu diesem handelspolitischen Aspekt der Meerengenfrage kam der strategische dazu. Solange die Meerengen im Besitz der Türkei waren, war Südrußland im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen den Angriffen der feindlichen Flotten und Heere-ausgeliefert. Ferner hatte die antitürkische Politik des Zarismus objektiv auch die Funktion, durch außenpolitische Erfolge die Selbstherrschaft nach innen zu stärken. Ein Krieg gegen die Türkei und die damit verbundene chauvinistische Propaganda und Begeisterung erschienen dem Zarismus sehr geeignet, von den immer größer werdenden inneren Schwierigkeiten abzulenken, die sich aus der sich verschärfenden Krise des Feudalsystems ergaben. Dieses Zusammenwirken politischer, ideologischer, ökonomischer und strategischer Faktoren machte es verständlich, daß der Zarismus mit solch einer Ausdauer grundsätzlich an seiner antitürkischen Politik festhielt. Den Zeitpunkt für die Verwirklichung seiner großen außenpolitischen Pläne hielt Nikolaus um 1850 für sehr günstig. Er war der Meinung, daß die Türkei von keinem der führenden Staaten Europas Hilfe erhalten würde. Frankreich schien ihm durch die Revolution von 184& noch geschwächt. Von Österreich versprach er sich Dank für die Unterstützung bei der Niederschlagung der Revolution in Ungarn. Der Einfluß Rußlands auf Preußen hatte zu Beginn der fünfziger Jahre seinen Höhepunkt erreicht. Nikolaus rechnete mit einem Beistand Preußens. Die Regierung Englands hoffte der Zar dadurch zu gewinnen, daß er ihr Ägypten und Kreta überließ, die sich nominell unter türkischer Oberherrschaft befanden. Das Kalkül des Zarismus ging jedoch nicht auf. Seine Verkennung der internationalen Situation war weniger darauf, zurückzuführen, daß er die diplomatischen Intrigen Englands und Frankreichs nicht durchschaute; sie rührte vielmehr in erster Linie daher, daß er' von herkömmlichen spätfeudalen machtpolitischen Überlegungen ausging. Nikolaus I. und seine Mitarbeiter verstanden jene sozialökonomischen Wandlungen nicht, die sich in den dreißiger und vierziger Jahren in West- und Mitteleuropa vollzogen hatten. In diesem Zeitraum hatte der Kapitalismus nicht nur in den am weitesten entwickelten Ländern Englajid und Frankreich, sondern auch in Österreich und Preußen beträchtliche Fortschritte gemacht. Die beschleunigte kapitalistische Entwicklung dieser Staaten hatte dazu geführt, daß deren Bourgeoisie immer intensiver nach neuen Absatzmärkten und Einflußsphären suchte, um ihre wirtschaftlichen und politischen Positionen zu festigen und die dem Kapitalismus immanenten krisenhaften Erschütterungen zu überstehen. Die Boufgeoisie Englands und Frankreichs war bestrebt, im Vorderen Orient und auf dem'Balkan stärkeren Einfluß zu gewinnen. Ihre Expansionspolitik wurde durch die Rückständigkeit und Machtlosigkeit des türkischen Reiches begünstigt. Die herrschenden Kreise der Türkei widersetzten sich nicht nur nicht dem Druck ausländischen Kapitals, sondern suchten sogar selbst dessen Hilfe und förderten damit die koloniale Unterdrückung ihres eigenen Landes. Die englische und französische Bourgeoisie hielt es daher im eigenen Interesse für vorteilhaft, das Regime des Sultans zu erhalten. Sie befürchtete eine Stärkung Rußlands im Nahen Osten und auf dem Balkan. Ihre Kolonisationspläne für den Nahen Osten konnten in diesem Gebiet keinen so starken Rivalen wie Rußland dulden, der die Kontrolle über die Dardanellen und den

kninkrict:

213

Bosporus als Schlüssel zu den orientalischen Märkten und als militärische Position ersten Ranges anstrebte. In England hatten sich die Anhänger des Freihandels bereits durchgesetzt. Die englische Bourgeoisie exportierte beträchtliche Warenmengen in die Türkei. Eine Machtausdehnung Rußlands, das an der Schutzzollpolitik festhielt, schien diesen Handel zu gefährden. Konstantinopel und Trapezunt, die den größten Teil des jährlich annähernd 3,5 Millionen Pfund betragenden englischen Exports in das Osmanische Reich, aufnahmen, konnten diese Rolle nur spielen, wenn sie türkischer Besitz blieben. Auch das Konzept der französischen Bourgeoisie war unvereinbar mit einer Stärkung Rußlands im Nahen Osten. Um die Mitte des 19. Jh. war die Abhängigkeit der Türkei von französischen Anleihen und von französischer militärischer Hilfe gestiegen. Frankreich erklärte zum Beispiel, daß es im Falle einer militärischen Besetzung der Moldau und der Walachei durch russische Truppen zum Krieg gegen Rußland bereit sei. Das Endziel der herrschenden Kreise in England und Frankreich bestand darin, Rußland von der Schwarzmeerküste weitgehend zu verdrängen, die Meerengen unter ihre Kontrolle zu bringen, die Türkei ganz ihrem Einfluß zu unterwerfen und sie dann in ihre Kolonie zu verwandeln. Der Präsident der zweiten französischen Republik, der Neffe Napoleons I., Louis Bonaparte, stellte am 2. Dezember 1851 durch einen Staatsstreich die Monarchie wieder her und ließ sich genau ein Jahr darauf als Napoleon III. zum „Kaiser der Franzosen" ausrufen. In dem alten Streit zwischen der katholischen und der orthodoxen Geistlichkeit um das Besitzrecht an den unter türkischer Herrschaft stehenden „Heiligen Stätten" in Palästina und überhaupt um den Schutz der nichtmohammedanischen Bevölkerung des türkischen Reiches, der 1850 einen neuen Höhepunkt erreichte, setzte sich Louis Bonaparte für die Ansprüche der Katholiken ein. Er versuchte, diesen Streit in einen diplomatischen Konflikt zu verwandeln. Damit wollte er sich nicht nur die Unterstützung der katholischen Kirche sichern, sondern auch die Aufmerksamkeit der Volksmassen Frankreichs von den sozialen Problemen ablenken und die innenpolitische Lage entspannen, um somit seine Stellung zu festigen. Ein kleiner siegreicher Krieg paßte genau in sein Konzept. So ging er denn auch gern auf den Abschluß eines Militärabkommens mit England ein. Als der Konflikt um die „Heiligen Stätten" begann, war Rußland im Vorteil. Es war infolge früherer Verträge der Schirmherr der orthodoxen Bevölkerung des türkischen Reichs, und die orthodoxe Geistlichkeit besaß die Schlüssel zur Hauptkirqjie in Bethlehem, was die Schutzherrschaft über die „Heiligen Stätten" symbolisierte. Der Zarismus strebte zur Isolierung Frankreichs ein Abkommen mit England an. Der Staatsstreich Louis Bonapartes schien ihm für diese diplomatischen Pläne ebenso günstig zu sein wie die Tatsache, daß in England die Regierung des alten George Aberdeen an die Macht gekommen war, der früher zu einer Zusammenarbeit mit dem russischen Zarismus geneigt war. Nikolaus I. hoffte, daß die Entstehung des zweiten französischen Kaiserreichs, die aggressive Politik Napoleons III. und die Intrigen der französischen Diplomatie im Orient Aberdeen zu einer Übereinkunft mit Rußland in der „orientalischen Frage" veranlassen würden. Durch Vermittlung des englischen Botschafters in Petersburg überreichte er der englischen Regierung einen Plan für die Aufteilung der Türkei in Einflußsphären: Die russische sollte den Balkan, die englische •Kreta und Ägypten umfassen. England, das nach wie vor an einem politischen Gleich15*

214

Rußland von 1825 bis 1861

gewicht im Nahen Osten interessiert war, weigerte sich aber, trotz der Bereitschaft des Zarismus, der Einbeziehung Ägyptens und Kretas in die englische Einflußsphäre zuzustimmen, die Vorherrschaft Rußlands auf dem Balkan anzuerkennen. Es mußte im Interesse seiner Seeherrschaft verhindern, daß sich Rußland am Bosporus und an den Dardanellen festsetzte. So beschloß es, sich in antirussischem Sinne in den diplomatischen Konflikt zwischen Rußland und Frankreich einzumischen und zu weitgehende Erfolge Rußlands zu torpedieren. Palmerston, der bis 1851 Außenminister war und dann Premierminister wurde, legte als Sprecher einer aggressiven'Eroberungspolitik und als alter Feind Rußlands die wahren Ansichten des englischen Kabinetts dar: Finnland, Estland, Lettland, die Krim und der Kaukasus sollten vom russischen Reich losgerissen, Finnland sollte dem König von Schweden, Estland und Lettland dem König von Preußen, die Krim und der Kaukasus dem türkischen Sultan unterstellt werden, aus den polnischen Gouvernements sollte eine Art Herzogtum Warschau gemacht werden, wie es unter Napoleon I. bestand, um — wie er sich auszudrücken pflegte — eine Barriere zwischen Rußland und Deutschland zu schaffen. Um Rußland von den von Slawen bewohnten Balkanländern zu isolieren, beabsichtigte Palmerston, die Moldau und die Walachei dem österreichischen Kaiser zu unterstellen.1 Deutlicher konnten die Arroganz und die hinter diesen Plänen sichtbaren Eroberungsabsichten der herrschenden Kreise Englands nicht zum Ausdruck gebracht werderi. Nikolaus I. durchschaute diese weitausgreifenden Vorhaben Englands nicht. Er war seinerseits bestrebt, ebenso wie Napoleon III.'und Palmerston die internationale Lage für die Realisierung seiner außenpolitischen Pläne auszunutzen. Seit der französischen Julirevolution 1830 versuchte er, Frankreich zu isolieren, weil er in ihm einen Herd revolutionärer Gefahr in Europa und — nicht zuletzt wegen seines Einflusses auf Mehemed Ali v®n Ägypten — den Hauptrivalen Rußlands im Nahen Osten sah. Als der Zar erfuhr, daß der Sultan Weisung gegeben hatte, der Forderung Napoleons III. zu entsprechen und die „Heiligen Stätten" in Übereinstimmung mit einem früheren Vertrag zwischen der Türkei und Frankreich wieder der Kontrolle eines katholischen Bischofs zu unterstellen, benutzte er diesen Schritt als Vorwand, um auf die Türkei direkten diplomatischen Druck auszuüben. Dazu wurde er auch durch die Weigerung Englands, auf die Vorschläge des Zarismus einzugehen, veranlaßt. Im Februar 1853 wurde unter der Leitung des Fürsten Menschikow eine außerordentliche Mission nach Konstantinopel entsandt, die dahin wirken sollte, daß der Sultan alle Privilegien der orthodoxen Geistlichkeit in Palästina wiederherstellt und der griechisch-orthodoxen Kirche das Recht einräumt, die Schlüssel zur Hauptkirche in Bethlehem wiedes in Verwahrung zu nehmen. Die Mission sollte auf eine diesbezügliche besondere - Konvention orientieren, die den Zaren zum Garanten dieser Privilegien und zum offiziellen Schirmherrn aller griechisch-orthodoxen Untertanen des Sultans gemacht hätte» Da schaltete sich die französische und die englische Diplomatie energisch ein und tat alles in ihrer Macht Stehende, um jede Verstärkung des russischen Einflusses auf die Türkei zu verhindern. In den herrschenden Kreisen Englands hatte sich zu jener Zeit der Einfluß der aggressiveren Elemente unter der Führung Lord Palmerstons wesentlich verstärkt. Palmerstons Standpunkt, den russisch-türkischen Konflikt auszunutzen und einen neuen Krieg zwischen den beiden Staaten herbeizuführen, um ihn später unter 1 Guedalla, Ph., Palmerston, London 1950, S. 315. Zur Gesamtproblematik vgl. Tarle, E. V., Krymskaja vojna, 2. Aufl., Bd. 1—2, Moskau—Leningrad 1950.

Krimkrieg

215

der Losung „Schutz für die Türkei" in 'einen Koalitionskrieg zu verwandeln und Rußland vernichtend zu schlagen, wurde von zahlreichen englischen Ministern und von dem neuen englischen Botschafter in Konstantinopel, Stratford-Canning, geteilt. Die antirussische und protürkische Haltung der Westmächte trug dazu bei, daß der Sultan es ablehnte, über eine Konvention, wie sie Rußland wünschte, zu verhandeln. Menschikow verließ im Mai Konstantinopel. Daraufhin sandte Nesselrode ein Schreiben ultimativen Charakters an den Sultan, in dem er auf die Folgen des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen hinwies und die Annahme der Vorschläge forderte, die Menschikow acht Tage lang vergeblich zu erreichen versucht hatte. Die türkische Regierung lehnte neuerlich ab. Daraufhin brach Rußland die diplomatischen Beziehungen zur Türkei ab. Nikolaus I. hatte keine .Kenntnis davon, .daß England und Frankreich Anfang 1853 ein Geheimabkommen geschlossen hatten, das ein gemeinsames Vorgehen gegen Rußland vorsah, und daß beide Regierungen im Juni den Entschluß faßten, ihre Flottengeschwader in die Dardanellen zu entsenden. In der festen Überzeugung, es nur mit der Türkei zu tun zu haben, ließ er, um auf die türkische Regierung Druck auszuüben, die russischen Truppen am 26. Juni in die Moldau einmarschieren, die wie die Walachei noch dem Sultan unterstand. Unterstützt von der englischen und französischen Diplomatie war die türkische Regierung zu keinerlei Konzessionen bereit. Am 22. September fuhren ein englisches und ein französisches Geschwader unter Verletzung der Konven-. tion über die Neutralisierung der Meerengen von 1841 in das Marmarameer ein. Die zur Lösung der „orientalischen Krise" nach Wien einberufene Konferenz der vier westlichen Protektoratsmächte war nicht imstande, den Konflikt beizulegen.'Sie war wohl auch gar nicht gewillt, eine Lösung herbeizuführen. Am 9. Oktober forderte die Türkei — veranlaßt von Diplomaten und Adfnirälen Englands und Frankreichs — ultimativ den Abzug der russischen Truppen aus der Moldau und der Walachei binnen vierzehn Tagen. Als sie aus Petersburg keine befriedigende Antwort erhielt, erklärte sie am 16. Oktober 1853 Rußland den Krieg, der als Krimkrieg in die Geschichte eingegangen ist. Seine tiefere Ursache waren die wirtschaftlichen und, die machtpolitischen Ambitionen der beteiligten Großmächte, ihr Expansionsstreben und ihre aggressive Außenpolitik. Der Konflikt um die „Heiligen Stätten" war nur das auslösende Moment. Österreich und Preußen, auf deren Unterstützung Rußland gerechnet hatte, traten nach langen Überlegungen und Schwankungen nicht in den Krieg ein, obwohl Nikolaus I. sie immer wieder auf seine Seite zu ziehen suchte. Im Mai 1853 schlug er dem österreichischen Kaiser Franz Joseph vor, österreichische Truppen sollten Serbien und die Herzegowina okkupieren. Im Juni, bot er ihm ein Verteidigungs- und Angriffsbündnis an, wofür er den Schutz der österreichischen Besitzungen in Norditalien gegen Napoleon III. garantieren und für die Unterstützung von Seiten Preußens und des Deutschen Bundes bürgen wollte. Auf einem Treffen mit Franz Joseph und Prinz Wilhelm von Preußen in Olmütz Ende September 1853 legte Nikolaus I. seine Pläne ausführlich dar: freie Durchfahrt russischer Kriegsschiffe durch Bosporus und Dardanellen, Teilung der europäischen Türkei in selbständige slawische Fürstentümer, gegenseitige Garantien der drei Monarchien gegen die revolutionären „Intrigen" in Europa, gemeinsames Protektorat Rußlands und Österreichs über die befreiten Provinzen der Türkei. 2 Aber Franz Joseph war nicht gewillt, durch die Schaffung selbständiger slawischer 2 Borries, K., Preußen im Krimkrieg (1853—1856), Stuttgart 1930, S. 94.

216

Rußland von 1825 bis 1861

Staaten auf dem Balkan die slawische Bevölkerung Österreichs zu revolutionieren. Auch die Begegnungen zwischen Nikolaus I., Franz Joseph und Friedrich Wilhelm IV. in Warschau und der plötzliche Besuch Nikolaus' I. in Potsdam im Oktober und November 1853 halfen nichts. Die Versuche Nikolaus' I., Österreich und Preußen auf seine Seite zu ziehen, blieben erfolglos. Ein Vertrag mit Rußland über eine Teilung des Balkans hätte für Österreich nur Nachteile gebracht: eine Stärkung seines Rivalen Rußland auf dem Balkan, an der Österreich nicht interessiert sein konnte, und die Gefahr eines Überfalls Napoleons III. auf die österreichischen Besitzungen in Norditalien und über Süddeutschland auch auf Österreich selbst. Ein Eintritt Österreichs in den Krieg auf Seiten Englands und Frankreichs hätte die Gefahr einer schweren kriegerischen Auseinandersetzung mit Rußland heraufbeschworen, die Österreich in weit höherem Maße als England und Frankreich auf eigenem Territorium hätte austragen müssen. Außerdem war sich Österreich über die Haltung Preußens nicht im klaren und schwankte deshalb. Das Interesse der österreichischen Großbourgeoisie* an festen Absatzmärkten auf dem Balkan und an einem entscheidenden Einfluß auf die Donauschiffahrt, das mit dem Vordringen Rußlands in diesem Gebiet kollidierte, gab den Ausschlag für Österreichs antirussische „Neutralität" in der „orientalischen Krise". Auch in Berlin war man aus folgenden Erwägungen unsicher: Wenn Preußen Rußland unterstützte, wären das Rheingebiet und ganz Westpreußen die Beute Napoleons III. geworden. Wäre es auf seiten der Westmächte in den Krieg eingetreten, dann wäre Preußen Kriegsschauplatz geworden und Napoleon III. — der „Herrscher der revolutionären Kräfte in Europa", wie sich Prinz Wilhelm von Preußen auszudrücken beliebte — würde, indem er seine Truppen nach Preußen führte, dort die Kräfte der Revolution festigen und die Grundfesten des Preußentums zerstören. In Preußen standen den Gruppen innerhalb der herrschenden Klasse, die für den Anschluß an England und Frankreich eintraten, d. h. einem Kreis adliger Diplomaten, der mit der „Wochenblattpartei" sympathisierte und bei dem das Streben nach einem Klassenkompromiß zwischen Adel und Bourgeoisie am stärksten ausgeprägt war, die Kamarilla, die Konservativen der alten Schule, gegenüber, die wie die „Kreuz-Zeitung" und Julius Stahl für ein Zusammengehen mit Rußland waren, sich also auf die Seite des „autoritären" Ostens gegen den „revolutionären" Westen stellen wollten. „Rußland", erklärte der Theoretiker der konservativen Partei, „ist ein Stützpunkt für alle geschichtliche Autorität und Ordnung und damit auch für die Güter, welche auf dieser beruhen, kraft der Persönlichkeit des Kaisers Nikolai, kraft der Tradition seines eigenen patriarchalischen Zustandes, welches nach dem Naturgesetz der Gegensatz gegen die revolutionäre Zersetzung und gegen die After-Zivilisation ist". 3 Die Gegensätze zwischen den beiden Gruppierungen verschärften sich mit der Zeit noch. Es trat wieder jene politische Richtung innerhalb des Adels in den Vordergrund, die Rußland die Niederlage von Olmütz nicht vergessen konnte und an einer selbständigeren Außenpolitik Preußens im Sinne seiner Vorherrschaft in Deutschland interessiert war. Preußen blieb neutral. Im April 1854 schlössen Preußen und Österreich ein Bündnis. Beide Mächte ver3 Eckardt, H. von, Rußland, Leipzig 1930, S. 133. Vgl. auch Engelberg, E., Deutschland von 1849 bis 1871 (Von der Niederlage der bürgerlich-demokratischen Revolution bis zur Reichsgründung), Berlin 1962, S. 75 f.

Krimkrieg

217

pflichteten sich, während der „orientalischen Krise" nur gemeinsam vorzugehen. Dieser Bündnisvertrag war aber so abgefaßt, daß Preußen von der Initiative Österreichs abhängig war. In den Krimkrieg griffen beide Mächte nicht direkt ein-. Er wurde von der Türkei, England und Frankreich (denen sich später Sardinien und Schweden anschlössen) einerseits und Rußland andererseits als ein ungerechter Eroberungskrieg geführt. Die herrschenden Kreise der beteiligten Staaten waren an einer Eroberung ausländischer Absatzmärkte und an der Festigung ihrer Stellung im Inneren interessiert. Dem Zarismus ging es im Interesse der Gutsbesitzer um die Kontrolle der Meerengen, um die Stärkung seiner Positionen im Schwarzmeerraum und auf dem Balkan, und den herrschenden Kreisen in England und in Frankreich lag im Sinne der Bourgeoisie ihrer Länder daran, Rußland aus diesem Gebiete zu verdrängen. Auch die reaktionären Kreise der Türkei hegten Eroberungsabsichten — vor allem im Kaukasus und an der nördlichen Schwarzmeerküste —, wobei sie von England unterstützt wurden. Mit den nationalen Bestrebungen der Völker hatte der Krieg also nicht das geringste gemein. • Unter dem Aspekt des welthistorischen Fortschritts war es jedoch keineswegs irrelevant, welche Seite den Sieg erringen würde. Ein Sieg Rußlands wäre für die bürgerliche Entwicklung im allgemeinen und für die revolutionäre Bewegung in Europa im besonderen ein gewaltiger Rückschlag gewesen. Marx und Engels sowie alle Demokraten Europas wünschten daher eine Niederlage des zaristischen Rußlands als des stärksten Hortes der feudalen Reaktion in Europa. Bereits im März 1853 schrieb Engels in einem für die „New York Daily Tribüne" verfaßten Artikel: „Gelangt aber Rußland in den Besitz der Türkei, so wird sich seine Stärke fast verdoppeln und es gewinnt das Übergewicht über das ganze übrige Europa zusammengenommen. Ein solches Ereignis wäre ein unbeschreibliches Unglück für die revolutionäre Sache. Die Aufrechterhaltung der türkischen Unabhängigkeit oder -»im Falle eines möglichen Zerfalls des Osmanischen Reiches — die Vereitelung der russischen Annexionspläne sind Dinge von höchster Bedeutung. Hierin stimmen die Interessen der revolutionären Demokratie und die Englands überein, weder die einen noch die anderen können es dem Zaren gestatten, daß Konstantinopel zu einer seiner Hauptstädte wird, und wenn es zum Äußersten kommt, werden wir sehen, daß beide ihm gleichermaßen energischen Widerstand leisten werden." 4 Diese Stellungnahme bedeutete jedoch keineswegs, daß die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus für den Status quo, d. h. für die türkische Unterdrückungspolitik gegenüber den Balkanvölkern eintraten. Sie waren der Auffassung, daß der Zar nur so lange auf eine Unterstützung durch die Balkan Völker rechnen könne, bis diese ihre Unabhängigkeit erlangt haben. Die Forderung von Marx und Engels nach Unabhängigkeit der Balkanvölker war ein wahrhaft revolutionäres Programm, dem die Zukunft gehörte. Der Krieg zwischen der Türkei und Rußland begann im Oktober 1853. Die russischen Truppen erzielten trotz der mangelhaften Ausbildung, der schlechten Ausrüstung mit veralteten Waffen und der ungenügenden Versorgung auf den Kriegsschauplätzen im Kaukasus und auf dem Balkan zunächst militärische Erfolge. Das bedeutendste Ereignis der ersten Periode des Krieges, die von Oktober 1853 bis März 1854 dauerte, war die Seeschlacht in der Bucht von Sinope am 30. November 1853, in der die 4 Engels, F., Worum es in der Türkei in Wirklichkeit geht. In: Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 9, Berlin 1960, S. 13.

218

Rußland von 1825 bis 1861

türkische Schwarzmeerflotte vernichtet wurde. Diese Niederlage der Türkei rief in London und in Paris große Beunruhigung hervor. Englische und französische Flottenverbände wurden ins Schwarze Meer entsandt, und am 27./28. März 1854 erklärten England und Frankreich Rußland offiziell den Krieg. Die Bemühungen Palmerstons, eine gesamteuropäische antirussische Koalition zu schmieden, der auch Österreich, Preußen und vor allem Schweden angehören sollten, scheiterte. Erst im Januar 1855 gelang es den Westmächten, das kleine Königreich Sardinien in den Krieg hineinzuziehen. Schweden trat noch später, im November 1855, der westlichen Allianz bei. Mit dem Eingriff der Westmächte begann die zweite Periode des Krimkrieges, die die Monate März bis August 1854 umfaßte. Damit war das in technischer und in wirtschaftlicher Beziehung rückständige Rußland dem Ansturm der beiden mächtigsten Staaten Europas, die.über eine hochentwickelte Industrie verfügten, ausgesetzt. Etwa einer Million Soldaten der Alliierten standen nur 7Ö0000 Russen gegenüber. Der Dampfschiffflotte der Verbündeten waren die Segelschiffe Rußlands unterlegen. Da es im Süden des russischen Reiches keine Eisenbahnen gab, fehlten in der russischen Armee Munition und Lebensmittel. Im April 1854 bombardierten, die Alliierten Odessa. Die englische Flotte griff das russische Reich von allen Seiten an. In der Ostsee erschien sie im Sommer 1854 vor Kronstadt, beschoß Sveaborg und die Äland-Inseln, die sie schließlich besetzte. Sie bewirkte, daß während des ganzen Krieges bedeutende russische Truppenverbände gezwungen waren, im Norden zu bleiben, um die Hauptstadt gegen eine Landung der Alliierten zu verteidigen. Englische Schiffe tauchten auch im Weißen Meer, von wo aus sie das Solowecki-Klqster beschossen, und im Fernen Osten, im Stillen Ozean, auf, wo sie, allerdings ohne Erfolg, versuchten, Petropawlowsk auf Kamtschatka zu erobern. Im Schwarzen Meer wurden Schamyl, der auch mit englischem Geld unterstützt wurde, englische Schiffe zur Verfügung gestellt. Die antirussische „Neutralität" Österreichs zeigte sich immer deutlicher, je aktiver die Kriegshandlungen auf dem Donaukriegsschauplatz wurden und je stärker der Aufschwung war, den die nationale Befreiungsbewegung auf dem Balkan erlebte. Die Drohung Österreichs zwang Nikolaus I. schließlich, im Juli 1854 die Belagerung der Festung Silistria, die im März 1854 begonnen hatte, aufzuheben und die russischen Truppen hinter den Prut zurückzuziehen. Die Moldau und die Walachei wurden sofort von österreichischen Truppen besetzt, nachdem sich Österreich 'mit der Türkei verständigt hatte. Versuche der türkischen Truppen, in Transkaukasien vorzudringen, blieben erfolglos. Die türkischen Streitkräfte wurden im Jjini 1854 in Gurien und im August 1854 in Armenien geschlagen. Auch die Hoffnungen auf Schamyl erwiesen sich als verfehlt. Auf Grund einer Vereinbarung mit dem türkischen Oberkommando drang Schamyl mit seinen Muriden im Sommer 1854 in Kacherien ein, um den russischen Truppen, die die transkaukasische Grenze gegen die türkischen Armeen schützten, in den Rücken zu fallen. Dieser Überfall wurde aber abgewehrt. Im Herbst 1854 beschlossen die. Alliierten, sich auf die Eroberung der Krim, insbesondere Sewastopols, der Hauptbasis der russischen Schwarzmeerflotte, zu konzentrieren. Damit begann die dritte Periode des Krimkrieges, die von September 1854 bis August 1855 dauerte. Nikolaus I. hatte für die Verteidigung der Krim insgesamt 33000 Mann unter den Oberbefehl seines Günstlings, des Fürsten Menschikow, gestellt. Die Nachlässigkeit Menschikows ermöglichte es den Engländern, Franzosen und Türken, Anfang September 1854 in Eupatoria eine Armee von 64000 Mann zu

Krimkrieg

219

landen, die sich südwärts in Richtung auf Sewastopol in Bewegung setzte. Vergeblich versuchte Menschikow, den Gegner an der Alma aufzuhalten, wo es am 8. September zu einer großen Schlacht kam. Unter schweren Verlusten siegten die Alliierten. Menschikow zog sich nach Bachtschissarai zurück und überließ Sewastopol seinem Schicksal. Der Verlauf der Kriegshandlungen auf der Krim machte die Unfähigkeit vieler Generäle Nikolaus' I. deutlich. Sie'waren an Paraden gewöhnt, erwiesen sich im Kampf aber oft als hilflos. Rühmliche Ausnahmen waren die Flottenführer Kornilow, Nachimow und Istomin. Dank ihrer Entschlossenheit und Einsatzbereitschaft sowie dank der patriotischen Haltung der 22000 russischen Soldaten und Matrosen und der Bevölkerung war es möglich, die Festung in Verteidigungsbereitschaft zu versetzen. Ende September waren 33 000 Mann bereit, die befestigte Stadt zu verteidigen. Die Niederlagen auf der Krim machten offensichtlich einen starken Eindruck auf den Zaren, der bis dahin wie verblendet an seine Macht geglaubt hatte. Nikolaus wurde unsicher, und als er im Februar 1855 unerwartet starb, kursierten Gerüchte, daß er sich vergiftet habe. Sein Nachfolger wurde sein ältester Sohn Alexander II. (1855— 1881), der im wesentlichen die Politik seines Vaters fortsetzte. Aber auch bei den Verbündeten verlief der Feldzug bei weitem nicht so glücklich, wie sie gehofft hatten. Nach einer weiteren schweren Schlacht, bei Inkerman, die für sie mit einem Sieg endete, begann die Belagerung Sewastopols, die fast ein Jahr dauerte. Zahlreiche Angriffe der Verbündeten wurden von russischen Soldaten abgewehrt. Die Garnison Sewastopols, der bedeutendsten russischen Seefestung im Schwarzmeerraum, und die Bewohner der Stadt verteidigten sich 349 Tage lang heldenhaft gegen einen zahlenmäßig und materiell-technisch überlegenen Gegner. All das, was den russischen Soldaten in der Vergangenheit auszeichnete: Mut und Ausdauer, Genügsamkeit und die Fähigkeit, sich ungewohnten Lagen rasch anzupassen, bestätigte sich erneut in den Kämpfen um diese Stadt. Die von den Verteidigern in großer Eile unter Einsatz aller Kräfte südlich der Stadt errichteten Erdbefestigungen, Laufgräben und Schanzen stellten dem Können der russischen Militäringenieure ein gutes Zeugnis aus. Dem Verteidigungssystem lagen die Grundsätze des Theoretikers des russischen Festungsbaus Teljakowski zugrunde, denen Todtieben, der Leiter der» Befestigungsarbeiten im belagerten Sewastopol, folgte. Unter den Verteidigern von Sewastopol befanden sich so namhafte Persönlichkeiten Rußlands wie der Chirurg Pirogow und der Schriftsteller Tolstoi. Dieser nahm als Artillerieoffizier in einer der Batterien von Sewastopol an der großen Schlacht teil. In seinen „Sewastopoler Erzählungen" schilderte er wahrheitsgetreu und mit großer künstlerischer Kraft den heldenmütigen Alltag der Verteidiger der Stadt. Er bezeichnete das russische Volk als den Helden der Epopöe von Sewastopol, die in Rußland für lange Zeit ihre erhabenen Spuren hinterlassen werde. Auch die verbannten Dekabristen sowie Herzen, Nekrassow, Tschernyschewski und Dobroljubow brachten den Helden von Sewastopol ihre Hochachtung entgegen. Gleichzeitig wiesen sie auf den antinationalen, ungerechten Charakter des Krieges hin. Die Erinnerung an die tapfere Verteidigung Sewastopols hat die Enttäuschung der russischen Öffentlichkeit über die Niederlage etwas gemildert. Für die Rotarmisten und Matrosen der Schwarzmeerflotte, die im zweiten Weltkrieg Sewastopol verteidigten, war das Wissen um den fast legendären Ruhm ihrer Vorgänger aus dem Krimkrieg ein zusätzlicher Ansporn, dem faschistischen Aggressor monatelang hartnäckigen Widerstand zu leisten. Erst nach elf Monaten gelang es der französischen Infanterie durch eine tollkühne

220

Rußland von 1825 bis 1861

Attacke, die Schlüsselstellung von Sewastopol — den Malachow-Hügel — zu nehmen. Die russischen Truppen waren gezwungen, die Stadt zu verlassen und sich auf das Nordufer der Bucht von Sewastopol zurückzuziehen. Die zwangsläufige Niederlage Rußlands war dann nur noch eine Frage der Zeit. Am 10. September 1855 fiel Sewastopol. Die Aufgabe der Festung wurde von der russischen Öffentlichkeit mit großer Niedergeschlagenheit aufgenommen. Mit dem Fall Sewastopols war der Krimkrieg faktisch entschieden. Die letzte Kriegsperiode, die die Monate von September 1855 bis Februar 1856 umfaßte, brachte den Alliierten keine größeren Erfolge. Im Gegenteil, die russische Armee schlug in Westarmenien die türkischen Streitkräfte zurück, und im November 1855 kapitulierte die Besatzung der türkischen Festung Kars vor den russischen Truppen, so daß für diese der Weg nach Erserum frei war. Aber' das feudale Rußland war am Ende seiner Kräfte. Der Krimkrieg hatte ihm hohe Verluste an Menschen und Material gebracht und wichtige russische Gebiete verwüstet. Die deutlicher als je zuvor sichtbar werdende „Fäulnis und Ohnmacht des Rußlands der Leibeigenschaft" 5 machte eine Weiterführung des Krieges unmöglich. Die Niederlage Rußlands im Krimkrieg hatte in erster Linie wirtschaftliche Ursachen. Marx und Engels haben darauf hingewiesen, daß der Krimkrieg ein aussichtsloser Kampf einer Nation mit einer rückständigen Produktionsweise, gegen Nationen mit modernsten sozialökonomischen Verhältnissen war. Der Krieg offenbarte die Überlegenheit des Kapitalismus über den Feudalismus. Das zaristische Rußland hatte eine schwach entwickelte Kriegsindustrie. Die Bewaffnung der russischen Armee war im Vergleich zu der der Armeen Englands und Frankreichs veraltet. Die russischen Soldaten waren mit Steinschloßflinten ausgerüstet, die nur eine Schußweite von 300 bis 450 Schritt hatten. Da es"sich um Vorderlader handelte, mußte sich der Soldat beim Laden ganz aufrichten. Die Schußweite der Kanonen betrug bei Kartätschen 300 und bei Kugeln 600 Schritt. Die Gegner der Russen hatten gezogene Gewehre und Geschütze. Die Schußweite ihrer Gewehre betrug 1200 Schritt. Die russischen Regimenter waren zudem sehr schwerfällig und wenig den Kampfhandlungen angepaßt. Während die Armeen der Alliierten beim Angriff die Schwarmlinie anwandten, gingen die zaristischen Truppen beim Angriff in geschlossenen Reihen vor und boten der feindlichen Artillerie damit ein gutes Ziel. Außerdem fehlten Ärzte und Medikamente. Die Rückständigkeit Rußlands hat sich auf die Ausbildung und Leitung und vor allem auf die Ausrüstung der zahlenmäßig stärksten Armee der Welt, auf deren Waffentechnik sowie — neben der in der Armee allgemein verbreiteten Veruntreuung und Korruption — auf Nachschubwesen und Verpflegung höchst negativ ausgewirkt. Sie mußte zur Niederlage Rußlands führen. Auch die im Lande und in der Armee herrschende soziale Gärung trug zur Niederlage Rußlands im Krimkrieg bei. Der auf den Massen lastende Steuerdruck sowie die Aushebungen und die Requisitionen für militärische Zwecke steigerten die allgemeine Unzufriedenheit. Seuchen und Mißernten vergrößerten das Elend und das Chaos. Es kam — auch unter dem Einfluß von Gerüchten, daß freiwillige Meldung zur Landwehr die Befreiung von der Leibeigenschaft garantiere, Gerüchte, die sich nicht bestätigten — zu einem neuen Aufschwung der antifeudalen Bauernbewegung. 5 Lenin, W. I., Die „Bauernreform" und die proletarisch-bäuerliche Revolution. In: Werke, Bd. 17, Berlin 1967, S. 105.

Krimkrieg

221

Die Berater des neuen Zaren Alexander II. erkannten die Unvermeidlichkeit eines völligen Zusammenbruchs und drängten auf Frieden. Der Beitritt Schwedens zur westlichen Allianz am 21. November bestärkte sie noch in ihrem Entschluß. Aber auch die Alliierten waren an einem Frieden interessiert, da die Realisierung ihrer großen Pläne auf ernste Schwierigkeiten stieß. Innerhalb der antirussischen Koalition traten gegen Ende des Krieges die Unterschiede in den Kriegszielen deutlicher zutage. England bestand auf Friedensbedingungen, die die Herrschaft Rußlands im Schwarzmeerraum und im Ostseeraum brechen und ein russisches Vordringen im Kaukasus verhindern sollten. Frankreich, das als Kolonialmacht mit England rivalisierte, war an keiner allzu großen Schwächung Rußlands interessiert. Bereits im Herbst 1855 begann Napoleon III. die Perspektiven für separate Friedensverhandlungen mit Rußland zu sondieren, während Palmerston den Krieg fortsetzen wollte. Die Verwirklichung der weitgesteckten Ziele des britischen Kabinetts hätte England die Hegemonie im Vorderen Orient gesichert und seinen Einfluß in Europa wesentlich ' verstärkt. Das lief aber den Interessen der französischen Politik völlig zuwider, die in Rußland eine Barriere gegen die englischen Vorherrschaftsbestrebungen sah. Auch die Gegensätze zwischen Frankreich und Österreich hatten sich zugespitzt. Die Alliierten waren der Meinung, daß es "ohne Eingriff Österreichs in den Krieg nicht möglich sein werde, auf Rußland, einen wirksamen militärischen Druck auszuüben. Ihre Versuche, Österreich für den Krieg zu gewinnen, waren aber auch 1855 vergeblich gewesen. Buoi, Metternichs Nachfolger, zögerte, Rußland als die Macht, die seit 1815 Österreichs Hauptstütze war, anzugreifen. Erst der Fall von Sewastopol im September 1855 veranlaßte ihn zu entsprechenden Maßnahmen. Die Aussichten auf eine ständige Kontrolle der Donaufürstentümer durch Österreich lockten ihn. Zudem fürchtete er, daß ein sich länger hinziehender Krieg nationale Erhebungen in Mitteleuropa und auf dem Balkan auslösen könnte. Im Dezember 1855 übersandte Buoi der zaristischen Regierung ein zwischen Österreich, England und Frankreich vereinbartes Ultimatum, in dem er von Rußland die sofortige Aufnahme von Friedensverhandlungen forderte. Alexander II. mußte dieses Ultimatum annehmen, wenn er Österreich nicht unter den gegen Rußland Krieg führenden Mächten sehen wollte. Alexander II. und seine Berater gingen daher 1856 mit mehr Haß auf Österreich als auf ihre Gegner im Krieg nach Paris. Als dort am 25. Februar 1856 die Friedensverhandlungen begannen, versuchten die russischen Vertreter, die Gegensätze zwischen den Alliierten wie auch die Teilerfolge an der Kaukasusfront auszunutzen, um erträglichere Bedingungen auszuhandeln. Die Friedensbedingungen waren aber dennoch hart für Rußland. Sie hatten zwei Hauptziele : den Einfluß Rußlands zu kontrollieren und das türkische Reich zu erhalten und zu stärken. Laut Friedensvertrag vom 30. März 1856 mußte Rußland die Donaumündung und einen Teil Südbessarabiens an die Moldau abtreten und verlor die Schutzherrschaft über die Moldau und die Walachei. Dadurch büßte es die Kontrolle über die Donauschiffahrt ein, die für frei erklärt wurde. Rußland mußte auch auf das besondere Protektorat über die orthodoxen Christen im Osmanischen Reich verzichten, das allen europäischen Großmächten übertragen wurde. Diese garantierten desgleichen die Autonomie Serbiens, das unter der Oberhoheit des Sultans verblieb, sowie der Moldau und der Walachei. Damit verlor Rußland das Recht auf „Schutzherrschaft" über all diese Balkanvölker. Das völlig zerstörte Sewastopol erhielt Rußland zurück, dafür mußte es aber den Türken die zuvor eroberte Festung Kars wieder über-

222

Rußland von 1825 bis 1861

lassen. Außerdem wurde ihm verboten, auf den Àland-Inseln Befestigungsanlagen zu errichten. Im Kaukasus wurden die Vorkriegsgrenzen wiederhergestellt. Am schwersten wurde das zaristische Rußland durch die von England und Österreich erzwungene Neutralisierung des Schwarzen Meeres getroffen. Rußland und die Türkei durften im Schwarzen Meer keine Kriegsflotte unterhalten und an dessen Küste keine Verteidigungsanlagen errichten. Die Dardanellen und der Bosporus wurden für Kriegsschiffe gesperrt und für Handelsschiffe freigegeben. Dem Osmanischen Reich wurden aber Integrität und Unabhängigkeit garantiert. Die „orientalische Frage" löste der Pariser Vertrag nicht. Viele Probleme, die sich aus ihr ergaben, waren bald wieder akut. Auf dem Balkan führte der Krimkrieg, der ja nicht nur das feudale Rußland, sondern auch die feudale Türkei geschwächt hatte,. zu einem neuen Aufschwung der nationalen Befreiungsbewegung gegen die Türkei. Eine wesentliche Folge des Krieges war die von 1859 bis 1861 mit Unterstützung Rußlands zustandegekommene Vereinigung der Donaufürstentümer Moldau und Walachei zu einem einheitlichen rumänischen Staat, der nur nominell vom Sultan abhängig war. Der Krimkrieg und die Friedensverhandlungen in Paris zeugten vom völligen Zerfall des Systems der „Heiligen Allianz". An'die Stelle der Solidarität der Monarchen Rußlands, Preußens und Österreichs gegen Demokratie und Revolution traten Widersprüche, die durch die kapitalistische Entwicklung dieser Länder bedingt waren. Das wichtigste Ergebnis des Krimkrieges, der in der russischen Geschichte eine Zäsur bildet, war eine beträchtliche Schwächung des Zarismus, der bis dahin mächtigsten Bastion der europäischen Reaktion. Die Folge waren eine bedeutende Verschärfung der Krise des Feudalsystems in Rußland und ein spürbarer Rückgang des Einflusses der zaristischen Diplomatie in der internationalen Politik. Mit den Friedensbedingungen waren die Ergebnisse von einem Jahrhundert russischen Vordringens im Schwarzmeerraum bedroht: Selbst die Sicherheit des russischen Getreideexports war nicht mehr gewährleistet. Der Zarismus büßte seine führende Stellung innerhalb der europäischen Reaktion immer mehr ein. Er verlor seinen vorherrschenden Einfluß auf die Türkei und seinen Ruf als stärkste Militärmacht Europas. Die Position, die das russische Reich in der ersten Hälfte des 19. Jh. in Europa eingenommen hatte, konnte der Zarismus bis zu seinem Sturz nicht wiedererringen. Nach dem Krimkrieg wurde Frankreich für etwa ein Jahrzehnt zur ersten Macht auf dem europäischen Kontinent. Der vom Krimkrieg an datierende Gegensatz zwischen Rußland und Österreich in der Balkanfrage, der wohl zeitweilig überbrückt, aber nie aus der Welt geschafft werden konnte, vertiefte sich in der Folgezeit immer mehr. Er war eine der wesentlichsten Reibungsflächen der europäischen Politik bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges. Die Rivalität mit Österreich beeinflußte wiederum nicht unwesentlich die Haltung Rußlands in den Auseinandersetzungen um die Herstellung der Einheit Deutschlands.

Revolutionäre Situation und Aufhebung der Leibeigenschaft : Fazit einer Entwicklung Der Krimkrieg, der die wirtschaftliche, technische und verwaltungsmäßige Zurückgebliebenheit Rußlands besonders offenbarte, trug wesentlich zur weiteren Verschärfung der Krise des Feudalismus bei, in die das russische Reich später als beispielsweise England, Frankreich, Preußen und die USA eintrat. Die militärischen Mißerfolge kompromittierten das nikolaitische Regime in den Augen breitester Kreise der russischen Gesellschaft, auch gemäßigter und selbst konservativer Gruppierungen. Hatte letztlich vor allem die Leibeigenschaft zur Niederlage im Krieg geführt, so war es diese wiederum, die die Aufhebung jener Institution entscheidend forcierte. Der Feudalismus hatte sich als endgültig überholt érwiesen. Die Hindernisse für die notwendige Ausweitung der Industrie- und Agrarproduktion, wie die Naturalwirtschaft, das Überwiegen der einfachen Warenproduktion und vor allem die Leibeigenschaft, ergaben sich direkt oder indirekt aus der Sozialstruktur Rußlands und aus. dem politischen Herrschaftssystem des Zarismus. Nach dem Krimkrieg wurde die ganze Fäulnis und Ohnmacht des feudalen Rußlands sichtbar. Deutlich offenbarte sich, daß die Leibeigenschaft als Grundlage der Feudalordnung auf die Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft einen höchst negativen Einfluß ausübte, indem sie eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte unmöglich machte. Zwischen clem erreichten Stand der Produktivkräfte und den feudalen Produktionsverhältnissen tat sich ein immer größer werdender Widerspruch auf. Die Krise wurde zu einer umfassenden Krise des ganzen Feudalsystems und fand in der revolutionären Situation von 1859 bis 1861 ihren Höhepunkt. Die Aufhebung der Leibeigenschaft wurde zur Hauptvoraussetzung für die weitere Entwicklung Rußlands. Diese Institution bedingte den Mangel an freien Lohnarbeitern, engte den Absatzmarkt für die russischen industriellen und gewerblichen Produkte ein und verzögerte die Kapitalakkumulation. All das setzte der Steigerung der Arbeitsproduktivität und des Produktionsvolumens und damit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus in der Industrie Grenzen. Die auf feudaler Basis betriebeiié Industrie erlebte eine Zeit der Stagnation und des Verfalls. Fortschritte erzielte die Industrieentwicklung nur auf kapitalistischer Grundlage. Aber die weltgeschichtlich seit der Französischen Revolution dominierende Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse, die sich in den Jahrzehnten vor den Reformen tendenziell auch in Rußland zeigte, wurde hier gehemmt bzw. feudal deformiert. Das führte dazu, daß Rußland in der industriellen Entwicklung hinter den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern weit zurückblieb. Die Leibeigenschaft hemmte auch die weitere Entwicklung der einfachen Warenproduktion der Bauern und verzögerte den Prozeß ihres Übergangs zur kapitalistischen Warenproduktion. In der Landwirtsqhaft kam es zu Stagnation und Verfall der auf feudaler Grundlage betriebenen Gutswirtschaft. Eine beachtliche Steigerung der agrarischen Produktion konnte hingegen trotz Verstärkung der feudalen Ausbeutung der

224

Rußland von 1825 bis 1861

Bauern und anderer Hemmnisse in der bäuerlichen Wirtschaft erzielt werden, wobei allerdings regionale Unterschiede bestanden. Die Steigerungsrate war dort am größten, wo die feudalen Barrieren sich weniger hemmend auswirkten. Die einfache Vermögensungleichheit der Bauern wuchs in den dreißiger bis fünfziger Jahren des 19. Jh. in eine KlassendifTerenzierung hinüber, d. h. der Gegensatz zwischen armen und reichen Bauern trat stärker als zuvor in den Vordergrund. Darauf hatten vor allem Handel und Gewerbe der Bauern Einfluß. Trotz der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse im russischen Dorf herrschte die feudale Produktionsweise eindeutig vor, die eine Weiterentwicklung der bäuerlichen Wirtschaft ausschloß und die antifeudale Bewegung der Bauern weiter anschwellen ließ. Die Leibeigenschaft hatte in den sozialen Verhältnissen zu krassen Widersprüchen geführt. Auch sie machten im Interesse der weiteren Entwicklung des Landes die Aufhebung dieser anachronistischen Institution notwendig. Die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen unternommenen Schritte der Regierung und ihrer Berater aus der Klasse des grundbesitzenden Adels in Richtung auf eine Lockerung der feudalen Abhängigkeit eines Teils der Bauern und auf eine Verbesserung ihrer rechtlichen Lage waren Zeichen dieser Tendenz. In den Jahren nach dem Krimkrieg spitzten sich die Klassengegensätze weiter zu. Die Unzufriedenheit der Volksmassen wuchs, die spontanen Protestaktionen der Bauern häuftfen sich. 1859 fanden nach Materialien der Zentralarchive der Sowjetunion 91 und 1860 sogar 126 Bauernunruhen statt. Der größte Anteil der Bauernunruhen entfiel auf die Gouvernements Tambow, Kaluga, Witebsk, Nishni-Nowgorod, Kowno und Pensa. Eine weit verbreitete Form des Kampfes der Bauern in diesen Jahren waren Brandstiftungen auf den Gutswirtschaften. Die Bauernunruhen wurden in nicht weniger als 25 Gouvernements des Reiches von eingesetzten Truppen mit Waffengewalt unterdrückt. So vielfältig die Formen des bäuerlichen Klassenkampfes auch waren, einheitlich kam in ihm die allgemeine Forderung nach Land und Freiheit, nach vollständiger Beseitigung der Feudalverhältnisse zum Ausdruck. Die anwachsende Bauernbewegung und die Aktivierung anderer Schichten der werktätigen Bevölkerung löste unter den Gutsbesitzern Unruhe und Verwirrung aus. Ein großer Teil des grundbesitzenden Adels begann unter dem Eindruck der Gefahr eines allgemeinen Bauernaufstandes, von der Notwendigkeit der Aufhebung der Leibeigenschaft zu sprechen. Unter dem massiven Druck der gesamten Entwicklung Rußlands nach dem Krimkrieg, der Bauernbewegung, der Unruhen unter den Arbeitsleuten und in der Armee sowie-der Tätigkeit der revolutionären Demokraten sahen sich Alexander II. und seine Regierung veranlaßt, die Vorbereitung bürgerlicher Reformen, vor allem der Aufhebung der Leibeigenschaft, in Angriff zu nehmen. „Es war die Macht der ökonomischen Entwicklung, die Rußland auf den Weg des Kapitalismus drängte", schrieb Lenin. „Die fronherrlichen Gutsbesitzer konnten das Anwachsen des Warenaustausches zwischen Rußland und Europa nicht verhindern, konnten die alten, zusammenbrechenden Wirtschaftsformen nicht aufrechterhalten. Der Krimkrieg hatte die ganze Fäulnis und Ohnmacht des Rußlands der Leibeigenschaft gezeigt. Die ,Revolten' der Bauern, die vor der Befreiung mit jedem Jahrzehnt zunahmen, zwangen den ersten Gutsbesitzer, Alexander II., zu der Einsicht, daß es besser sei, von oben zu befreien, als zu warten, bis man von unten gestürzt wird." 1 1 W. I. Lenin, Die „Bauernreform" und die proletarisch-bäuerliche Revolution. In: Werke, Bd. 17, Berlin 1967, S. 105.

225

Revolutionäre Situation

Die um Umfang und Form der Zugeständnisse an die Bauern bei der Vorbereitung der Aufhebung der Leibeigenschaft entstandenen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gutsbesitzern, d. h. die Verschärfung der Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Klasseninteressen des Adels eine Einheit bildeten, daß sich alle darin einig waren, ihr Eigentum an Grund und Boden zu erhalten und die privilegierte Stellung im Staate zu behaupten. „Der berüchtigte Kampf zwischen den Anhängern der Leibeigenschaft und den Liberalen", schrieb Lenin, „war ein Kampf innerhalb der herrschenden Klassen, größtenteils unter den Gutsbesitzern, ständnisse."2

ein K a m p f ausschließlich u m U m f a n g und F o r m der Zuge-

Die gesellschaftliche und politische Lage im Lande wurde Ende der fünfziger Jahre immer gespannter. Es reifte eine revolutionäre Situation heran, die als Höhepunkt der umfassenden Krise des Feudalsystems die Interessen aller Klassen und Schichten der Gesellschaft berührte. Die Jahre von 1859 bis 1861 waren ein Wendepunkt in der Geschichte Rußlands, der zeigte, „daß die ,unteren Schichten' in der alten Weise ,nicht leben wollen'" und „daß die ,oberen Schichten' in der alten Weise ,nicht leben können'". 3 Die drei objektiven Bedingungen, die Lenin zufolge eine jede revolutionäre Situation charakterisieren, waren in Rußland gegeben: Krise der „oberen Schichten", Krise der Politik der herrschenden Klasse; Zunahme dés Elends und der Not der unterdrückten Klassen; Erhöhung der Aktivität der Volksmassen.4 Die Entwicklung Rußlands zeigte in diesen Jahren besonders deutlich, daß einerseits der Zarismus und die herrschende Klasse nicht fähig waren, eine umfassende Anpassung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens an die sich weltgeschichtlich Bahn brechenden gesetzmäßigen Prozesse und Erscheinungen zu vollziehen und die notwendige Produktionssteigerung in Industrie und Landwirtschaft herbeizuführen, und daß andererseits die Mehrheit der Bauern, der Manufaktur- und Fabrikarbeiter sowie die fortschrittliche Adels- und Rasnotschinzenintelligènz nicht länger gewillt waren, die Unterdrückung und Bevormundung durch den Zarismus und seine Handlanger hinzunehmen. Die revolutionäre Situation, die die Regierung zu einer Politik gemäßigter Zugeständnisse zwang, wuchs nicht in eine Revolution hinüber. Die unwissende, jahrhundertelang geknechtete russische Bauernschaft vermochte nicht, sich zu einem organisierten, bewußten Kampf gegen das zaristische Herrschaftssystem?zusammenzuschließen. So konnten ihre spontanen und zersplitterten Aufstände von der Regierung leicht unterdrückt werden. Die Zahl der revolutionären Demokraten war noch klein. Sie waren nicht in der Lage, sich an die Spitze der Bauernbewegung zu stellen und sie zu einer bewußten antifeudalen Bauernbewegung mit einem festen Programm der revolutionären Umgestaltung Rußlands zu organisieren. Die kapitalistische Produktion war mit der Feudalwirtschaft und die wirtschaftlichen Interessen des Adels mit denen der Bourgeoisie noch eng verflochten. Die russische Bourgeoisie, die in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes objektiv eine fortschrittliche Rolle spielte, war in politischer Hinsicht konservativ und gegenüber dem Zarismus ohnmächtig. Ihre Abhängigkeit vom zaristischen Herrschaftssystem verhinderte, daß sie sich als führende 2 Ebenda, S. 106. 3 Derselbe, Der Zusammenbruch der II. Internationale, ebenda, Bd. 21, Berlin 1968, S. 206. 4 Ebenda.

226

Rußland von 1825 bis 1861

Kraft an die Spitze einer Volksbewegung hätte stellen können. Ihr Wirtschaftspotential orientierte nicht auf eine revolutionäre Vernichtung des Feudalsystems, sondern auf seine Umgestaltung durch Reformen. Der zaristischen Autokratie gelang es, die revolutionäre Situation durch die Aufhebung der Leibeigenschaft von oben zu überwinden. Aber so wie die Verflechtung von feudaler und kapitalistischer Produktionsweise Adel und Bourgeoisie einander näherbrachte, so schloß die Verflechtung von feudaler und kapitalistischer Ausbeutung Bauern und Arbeiter enger zusammen. Der weiteren Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in Industrie und Landwirtschaft im zweiten Drittel des 19. Jh. mit ihrer ökonomischen und sozialen Seite fiel die entscheidende Rolle bei der umfassenden Krise des ganzen Feudalsystems zu. Sie führte schließlich zu den bürgerlichen Reformen, namentlich zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Die Krise des Feudalsystems, die nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale, politische, ideologische und geistig-kulturelle Seite hatte, also eine Basis und Überbau umfassende Erscheinung war, war einerseits Ausdruck von Stagnation und Verfall, andererseits aber auch Ausdruck des sozialökonomischen Fortschritts des Landes. Die Entwicklung der Produktivkräfte in der auf kapitalistischer Grundlage betriebenen Industrie, in der einfachen Warenproduktion und in der bäuerlichen Wirtschaft untergrub die Fundamente der Feudalordnung. Millionen Handel und Gewerbe- treibender Bauern hatten sich von der stagnierenden und verfallenden feudalen Wirtschaft gelöst. Sie waren nicht zuletzt unter dem Einfluß der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in der Industrie kleine Warenproduzenten geworden und wurden als solche stärker in den Prozeß des Ausbaus der Ware-GeldBeziehungen einbezogen. Eine weitere Entfaltung der Industrie und der einfachen Warenproduktion der Bauern erforderte aber ebenso wie der weitere Aufschwung der bäuerlichen Wirtschaft die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Ersetzung der feudalen durch die kapitalistische Produktionsweise. Die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Lenin als „eine von den Fronherren durchgeführte bürgerliche Reform" charakterisierte, bedeutete „einen Schritt auf dem Wege der Umwandlung Rußlands in eine bürgerliche Monarchie". 5 In diesem Zusammenhang muß bürgerlichen Historikern entgegengetreten werden, die bemüht sind, die Rolle der Volksmassen bei der Aufhebung der Leibeigenschaft zu ignorieren oder herabzusetzen .'Sie messen dem Kampf der Gruppierungen innerhalb des Adels erstrangige Bedeutung bei und stellen das Volk als passive Masse dar, die angeblich geduldig auf ihre Befreiung wartete. In Wirklichkeit war, wie die sowjetische Forschung nachgewiesen hat 6 , der Kampf der Volksmassen trotz seiner Spontaneität der entscheidende Faktor der revolutionären Situation und führte schließlich die bürgerlichen Reformen herbei. Die Aufhebung der Leibeigenschaft beseitigte weitgehend den Widerspruch zwischen dem Stand der Produktivkräfte und den herrschenden Produktionsverhältnissen und schuf die Voraussetzung für die endgültige Durchsetzung und eine rasche Entfaltung des Kapitalismus in den folgenden Jahrzehnten. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß der Prozeß in der Industrie wesentlich schneller verlief als im russischen 5 Derselbe, Die *,Bauernreform" und die proletarisch-bäuerliche Revolution, a. a. O., S. 105f. 6 Vgl. Revoljucionnaja situacija v Rossii v 1859—1861 gg. Sbornik statej pod red. M. V. Neckinoj, Moskai 1960; P. A. Zajonckovskij, Otmena krepostnogo prava v Rossii, 2. Aufl.. Moskau 1960; ders., Provedenit v zizn krest'janskoj reformy 1861 g., Moskau 1958.

Revolutionäre Situation

227

Dorf, weil hier die Reform von 1861 in großen Teilen des Landes die Abhängigkeitsverhältnisse nur formal beseitigt hatte und viele feudale Überreste bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917 erhalten blieben. Obwohl die Aufhebung der Leibeigenschaft nur eine Halbreform im Interesse des grundbesitzenden Adels war, bildete sie mit den folgenden bürgerlichen Reformen die wichtigste Grenze zwischen zwei ökonomischen Gesellschaftsformationen. Es begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte Rußlands, die Epoche des Kapitalismus.

Bibliographie

1. Klassiker des Marxismus-Leninismus Engels, F., Worum es in der Tüikei in Wirklichkeit geht. In: Marx, K., Engels, F., Werke ( = MEW), Bd. 9, Berlin 1960, S. 1 3 - 1 7 Engels, F., Der Krimfeldzug. In: MEW, Bd. 10, Berlin 1961 Engels, F., Das Vordringen Rußlands in Zentralasien. In: MEW, Bd. 12, Berlin 1961, S. 598—603 Engels, F., Die Erfolge Rußlands im Fernen Osten. In: MEW, Bd. 12, Berlin 1961, S. 621—625 Engels, F., Flüchtlingsliteratur.-V. Soziales aus Rußland. In: MEW, Bd. 18, Berlin 1962 Engels, F., Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie. In: MEW, Bd. 21, Berlin 1962 Engels, F., Die auswärtige Politik des russischen Zarentums. In: MEW, Bd. 22, Berlin 1963 Lenin, W. I., Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? In: Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 1 1 9 - 3 3 8 Lenin, W. I., Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve. In: Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 3 3 9 - 5 2 8 Lenin, W. I., Auf welches Erbe verzichten wir? In: Werke, Bd. 2, Berlin 1961, S. 501—547 Lenin, W. I., Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. In: Werke, Bd. 3, Berlin 1968, S. 7—629 Lenin, W. I., Die Agrarfrage in Rußland am Ausgang des 19. Jahrhunderts. In: Werke, Bd. 15, Berlin 1968 Lenin, W. I., Der fünfzigste Jahrestag der Aufhebung der Leibeigenschaft. In: Werke, Bd. 17, Berlin 1967, S. 7 2 - 7 5 Lenin, W. I., Die „Bauernreform" und die proletarisch-bäuerliche Revolution. In: Werke, Bd. 17, Berlin 1967, S. 1 0 3 - 1 1 2 Lenin, W. I., Dem Gedächtnis Herzens. In: Werke, Bd. 18, Berlin 1962, S. 9 - 1 6 Lenin, W. I., Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx. In: Werke, Bd. 18, Berlin 1962, S. 576 bis 579 Lenin, W. I., Aus der Vergangenheit der Arbeiterpresse in Rußland. In: Werke, Bd. 20, Berlin 1961, S. 2 4 2 - 2 5 0 Lenin, W. I., Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. In: Werke. Bd. 20, Berlin 1961, S. 395—461 Lenin, W. I., Unter fremdeiaFlagge. In: Werke, Bd. 21, Berlin 1960 Lenin, W. I., Über den Nationalstolz der Großrussen. In: Werke, Bd. 21, Berlin 1960 Lenin, W. I., Krieg und Revolution. In: Werke, Bd. 24, Berlin 1959 Lenin, W. I., Ein unglückseliger Frieden. In: Werke, Bd. 27, Berlin 1960 Lenin, W. I., Rede vom Betrug des Volkes mit Losungen über Freiheit und Gleichheit. In: Werke, Bd. 29, Berlin 1961 Marx, K., Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule. In: MEW, Bd. 1, Berlin 1956 Marx, K., Der orientalische Krieg. In: MEW, Bd. 10, Berlin 1961, S. 20—30 Marx, K., Die Frage der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland. In: MEW, Bd. 12, Berlin 1961, S. 5 9 0 - 5 9 3 Marx, K., Über die Bauernbefreiung in Rußland. In: MEW, Bd. 12, Berlin 1961, S. 6 7 3 - 6 8 2 Marx, K., Barclay de Tolly. In: MEW, Bd. 14, Beilin 1961 Marx, K., Das Kapital. Erster Band. In: MEW, Bd. 23, Berlin 1962 Marx, K./F. Engels, Die russische Note. In: MEW, Bd. 5, Berlin 1959, S. 293—299 Marx, K./F. Engels, Werke, Bd. 9, Berlin 1960, passim.; Werke, Bd. 10, Berlin 1961, passim.; Werke, Bd. 11, Berlin 1961, passim. Marx, K./F. Engels, Die Revolution von 1848. Auswahl aus der „Neuen Rheinischen Zeitung", Berlin 1953

Bibliographie

229

2. Quellen a)

russische

Russkij archiv, Moskau 1870 General Bagration. Sbornik dokumentov i materialov, Moskau 1945 Belinskij, V. G., Polnoe sobranie socinenij, Bd. 1 — 13, Moskau 1953—1959 Vospominanija Bestuievych, Moskau—Leningrad 1951 Borodino (1812—1962). Dokumenty, pis'ma, vospominanija, Moskau 1962 taadaev, P. J., Socinenija i pis'ma, Bd. 1—2, Moskau 1913—1914 Memuary Knjazja. A. Cartorizskogo i ego perepiska s imperatorom Aleksandrom, Bd. 1—2, Moskau 1912-1913 Chrapovickij, A. V., Dnevnik, A. V. Chrapovickogo s 18 janvarja 1782 po 17 sentjabrja 1793 g. po podlinnoj ego rukopisi, Moskau 1901 Vosstanie dekabristov. Dokumenty, Bd. I—XIII, Moskau 1925—1975 Iz pisem i pokazanij dekabristov, pod red. A. K. Borozdina, St. Petersburg 1906 Izbrannye social'no-politiceskie i filosofskie proizvedenija dekabristov, Bd. 1—3, Moskau 1951 Dìplomaticeskie saosenija Rossii s'Franciej v epochu Napoleona I. In: Sbornik RIO, Bd. 70, 77, 82, 88, 128 Gercen, A. I., Sobranie soöinenij v tridcati tomach, Bd. 1—30, Moskau 1954—1965 Gorbacevskij, I. I., Zapiski i pis'ma, Moskau 1963 Perepiska Aleksandra Gumbol'dta s uöenymi i gosudarstvennymi dejateljami Rossii, Moskau 1962 Jacunskij, V. K., Materialy po istorii ural'skojmetalhirgii v pervoj polovine XIX veka. In : Istoriöeskij archiv, 1953, Bd. 9 Jakuskin, I. D., Zapiski, stat'i, pis'ma, Moskau 1951 Karamzin, N. M., Pis'ma N. M. Karamzina k I. I. Dmitrievu, St. Petersburg 1866 Krest'janskoe dvizenie v Rossii v XIX — nacale XX veka. Pod obscej redakciej N. M. Druzinina, Bd. I—III, Moskau 1961-1962 Krest'janskoe dviienie v Rossii v 1826—1849 gg., Moskau 1961 Krest'janskoe dviienie v Rossii v 1850—1856 gg., Moskau 1962 Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1857—mae 1861 gg. Sbornik dokumentov, Moskau 1963 Krest'janskoe dvizenie v Rossii v 1861 — 1869 gg. Sbornik dokumentov, Moskau 1964 Kutuzov, M. I., Sbornik dokumentov, Bd. 1—5, Moskau 1950—1956 Letopisi russkoj literatury i drevnosti, Bd. V, Teil II, Moskau 1863 Literaturnoe nasledstvo, Bd. 59—60, Moskau 1954—1956 Martens, F., Sobranie traktatov i konvencij, zakljuöennych Rossiej s inostrannymi deriavami, Bd. 2—14, St. Petersburg 1878-1909 Materialy po istorii krest'janskoj promyälennosti XVIII i pervoj póloviny XIX veka, Bd. 1 u. 2, M o s k a u Leningrad 1935 u. 1950 Oteöestvennaja vojna 1812 goda. Materialy Voenno-uöennogo archiva, Bd. 15—17, St. Petersburg 1911 Bumagi, otnosjaüfiiesja do Oteòestvennoj vojny 1812 g., Bd. 1 — 10, Moskau 1897—1908 Listovki Oteòestvennoj vojny 1812 goda. Sbornik dokumentov, Moskau 1962 Nàrodnoe opolöenie v Oteòestvennoj vojne 1812 goda. Sbornik dokumentov, Moskau 1962 Pochod russkoj armii protiv Napoleona v 1813 g. i osvobozdenie Germanii. Sbornik dokumentov, Moskau 1964 Delo petrasevcev, Bd. 1—3, Moskau-Leningrad 1937—1951 Petrasevcy. Sbornik materialov, Bd. 1—3, Moskau-Leningrad 1926—1928 Filosofskie i obsöestvenno-politiöeskie proizvedenija petrasevcev, Moskau 1953 Vnesnaja politika Rossii XIX i naiala XX veka. Dokumenty rossijskogo Ministerstva inostrannych del, Serie 1, Bd. I—VII, Moskau 1960-1972 Puskin, A. S., Polnoe sobranie soöinenij v desjati tomach, Bd. 8, Moskau 1965 Raboöee dviienie v Rossii v XIX veke. Sbornik dokumentov, Bd. 1—4, Moskau 1950—1963 Raboöee dvizenie v Rossii v XIX veke. Sbornik dokumentov i materialov, Bd. I, Teil 1—2, Moskau 1955 Biografia A. N. Radisöeva napisannaja ego synov'jami, Moskau-Leningrad 1959 Repin, I. E., Stasov, V. V., Perepiska, Bd. 1, Moskau-Leningrad 1948 Literatumye salony i kru2ki. Pervaja polovina XIX veka, Moskau—Leningrad 1930 16

Straube/Zeil, Feudalismus

230

Bibliographie

Speranskiy M. M., Proekty i zapiski, Moskau—Leningrad 1961 Suvorov, A. V., Dokumenty, Bd. 4, Moskau 1953 Turgenev, N. I., Neito o barscine. Dnevniki i pis'ma N. I. Turgeneva za 1816—1824gg. In: Archiv brat'ev Turgenevych, vyp. 5, Petrograd 1921 Turgenev, N. I., Dnevnik i pis'ma N. I. Turgeneva, Bd. 1—4, St. Petersburg—Petrograd 1911 — 1931 Turgenev, N. I., Necto o krepostnom sostojanii v Rossii, St. Petersburg 1862 Turgenev, N. I., Rossija i russkie, Moskau 1915 Admiral Usakov, Bd. 2—3, Moskau 1953 Volkonskij, S. G., Zapiski, St. Petersburg 1901 Archiv knjazja Voroncova, Bd. 10—16, 18—20, 28 Politiceskij zurnal, Bd. 1, Moskau 1790

b) deutsche u. a. Die Bauernbewegung des Jahres 1861 in Rußland nach Aufhebung der Leibeigenschaft. Meldungen der Suiten-Generäle und Flügeladjutanten. Berichte der Gouvernementsstaatsanwälte und Kreisfiskale. Deutsche Ausgabe besorgt von W. Markov, Berlin 1958 Belinski, W. G., Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1950 Boyen, H. v., Erinnerungen aus dem Leben des General-Feldmarschalls Hermann v. Boyen, T. 2, Leipzig 1889 Die Dekabristen. Dichtungen und Dokumente, hrsg. von G. Dudek, Leipzig 1975 Dobroljubow, N. A., Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949 Fahrten nach Weimar. Slawische Gäste bei Goethe, Weimar 1958 Falk, H., Das Weltbild Peter J. Tschaadajews nach seinen acht „Philosophischen Briefen". Ein Beitrag zur russischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1954 Herzen, A., Mein Leben. Memoiren und Reflexionen, Bd. 1—3, Berlin 1962 Herzen, A., Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949 Herzen, A., Rußlands soziale Zustände, Leipzig o. J. Ompteda, L. v., Zur deutschen Geschichte in dem Jahrzehnt vor den Befreiungskriegen. Politischer Nachlaß, Bd. 4, Jena 1869 Pradt, de, Histoire de l'ambassade dans le Grand Duché de Varsovie au 1812, Paris 1815 Radistschew, A. N., Reise von Petersburg nach Moskau, Berlin 1961 Scharnhorsts Briefe, hrsg. von K. Lünebach, Bd. 1, München—Leipzig 1914 Ségur, L.-Ph. de, Mémoires ou souvenirs et anecdotes, Bd. 3, Parts 1827 Tschaadajew, P., Schriften und Briefe, übersetzt u. eingeleitet von E. Hurwicz, München 1921

3. Abhandlungen und Darstellungen a)

russische

Ars, G. L., Eteristskoe dvizenie v Rossii. Osvoboditel'naja bor'ba greceskogo naroda v nacale XIX veka i russko-greceskie svjazi, Moskau 1970 Babkin, V. I., Narodnoe opolcenie v Otecestvennoj vojne 1812 goda, Moskau 1962 Beskrovnyj, L. G., Otedestvennaja vojna 1812 goda, Moskau 1962 Borovoj, S. J., Kredit i banki Rossii, Moskau 1958 Byckov, L. N., Krest'janskoe partizanskoe dvizenie v Otecestvennoj vojne 1812 goda, Moskau 1954 Byckov, L. N., O klassovoj bor'be v Rossii vo vremja Otecestvennoj vojny 1812g. In: Voprosy istorii, 1962, "Nr. 8 Dekabristy i tajnye obsöestva v Rossii, Moskau 1906 Dement'ev, A. G., Ocerki istorii russkoj zurnalistiki. 1840—50-e gody, Moskau—Leningrad 1951 Druzinin, N. M., Dekabrist Nikita Murav'ev, Moskau 1933

Bibliographie

231

Druiinin, N. M., Gosudarstvennye krest'jane i reforma P. D. Kiseleva. Bd. 1—2, Moskau—Leningrad 1946-1958 Druzinin, N. M., Konflikt mezdu proizvoditel'nymi silami i feodal'nymi otnosenijami nakanune reformy 1861 g. In: Voprosy istorii, 1954, Nr. 7 Druzinina, E. I., Juinaja Ukraina 1800—1825 gg., Moskau 1970 Oierki ekonomiceskoj istorii Rossii pervoj poloviny XIX v., Sbörnik statej, Moskau 1959 El'sberg, J., A. I. Gercen. 1812—1870. ¿izn' i tvorcestvo, 2., ergänzte Aufl., Moskau 1951 Fadeev, A. V., Rossija i Vostocnyj krizis 20-ch godov XIX veka, Moskau 1958 Fadeev, A. V., Doreformennaja Rossija, Moskau 1960 Fedorov, V. A. Soldatskoe dvizenie v gody dekabristov, Moskau 1963 Fedorov, V. A., Pomescic'i krest'jane central'no-promyslennogo rajona Rossii konca XVIII — pervoj poloviny XIX veka, Moskau 1974 Fedosov, I. A., Revoljucionnoe dvizenie v Rossii vo vtoroj cetverti XIX veka. (Revoljucionnye oi^anizacii i kruzki), Moskau 1958 Aktual'nye problemy istorii Rossii epochi feodalisma, Moskau 1973 Feodal'naja Rossija vo vsemirno-istorideskom processe. Sbornik statej, posvjasiennyj L. V. Cerepninu, Moskau 1972 Galaktionov, A. A., Nikandrov, P. F., Russkaja filosoflja XI—XIX vekov, Leningrad 1970 Gegel' i filosofija v Rossii 30-e gody XIX veka — 20-e gody XX veka, Moskau 1974 Genezis kapitalizma v promyslennosti. Sbornik statej, Moskau 1963 Ignatoviö, I. I., Krest'janskoe .dvizenie v Rossii v pervoj cetverti XIX veka, Moskau 1963 Indova, E. I., Krepostnoe chozjaistvo v naöale XIX v., Moskau 1955 I o w a , I. F., Juznye ddcabristy i greceskoe nacionarno-osvoboditel'noe dvizenie, Kisinev 1963 Istorija russkoj ekonomiöeskoj mysli, Bd. 1, Teil 2, Moskau 1958 Problemy istorii obsiestvennoj mysli i istoriografii. K 75-letiju akademika M. V. Neikinoj, Moskau 1976 Istorija SSSR. S drevnejsich vremen do nasich dnej, Serie 1, Bd. III—V, Moskau 1967—1968 Illjustrirovannaja istorija SSSR, Moskau 1974 Kratkaja istorija SSSR. Teil 1: S drevnejsich vremen do Velikoj Oktjabr'skoj socialisticeskoj revoljucii, 2., Überarb. Aufl., Leningrad 1972 Voprosy istorii narodnogo chozjajstvo SSSR, Moskau 1957 Kabuzan, V. M., Izmenenija v razmescenii naselenija Rossii v XVIII — pervoj polovina XIX v. (po materialam revizij), Moskau 1971 Kachk, J. J., Krest'janskoe dvizenie i krest'janskij vopros v Estonii v konce XVIII i v pervoj cetverti XIX v., Tallin 1962 Kiaiviarainen, 1.1., Mezdunarodnye otnosenija na severe Evropy v nacale XIX veka i prisoedinenie Finljandii k Rossii v 1809 godu, Moskau 1965 Kinjapina, N. S., Vnesnjaja politika Rossii pervoj poloviny XIX veka, Moskau 1963 Kljucevskij, V. O., Socinenija, Bd. 5, Moskau 1958 Kogan, L. A., Krepostnye vol'nodumcy (XIX vek), Moskau 1966 Konjusaja, R. P., Karl Marks i revoljucionnaja Rossija, Moskau 1975 Konkov, G. D., Levsin, B. V., Semenov, L. K., Akademija nauk SSSR. Kratkij istoriieskij ocerk, Moskau 1974 Koval'cenko, I. D., Russkoe krepostnoe krest'janstvo v pervoj polovine XIX veka, Moskau 1967 Kujbyseva, K. S., Safonova, H. I., Al'bom po istorii SSSR (S drevnejsich vremen do serediny XIX veka), Moskau 1967 KuleSov, V. I., Literaturnye svjazi Rossii i Zapadnoj Evropy v XIX veke (pervaja polovina), 2., verb. u. ergänzte Aufl., Moskau 1977 Vyprijatie russkoj kul'tury na Zapade. Ocerki, Leningrad 1975 Kratkij ocerk istoVii russkoj kul'tury (drevnejsich vremen do 1917 goda), Leningrad 1967 Kumykov, T. Ch., Vovleceniö Severnogo Kavkaza vo vserossijskij rynok v XIX v., Nalcik 1962 Kutuzov, M. I., Materialy jubilejnoj sessii voennych akademij Krasnoj Armii, posvjascennoj 200-letiju so dnja rozdenija M. I. Kutuzova, Moskau 1947 Kuznecov, I. V., Istorija SSSR. Epocha kapitalizma (1861 — 1917 gg.), Moskau 1971 Landa, S. S., Duch revoljucionnych preobrazovanij . . . Iz istorii formirovanija ideologii i politiceskoj organizacii dekabristov 1816—1825, Moskau 1975 Lejkina-Svirskaja, V. R., Petrasevcy, Moskau 1965 Levin, §. M., Obscestvennoe dvizenie v Rossii v 60—70-e gody XIX veka, Moskau 1958 16*

232

Bibliographie

Linkov, J. I., Oöerki istorii krest'janskogo dvizenija v Rossii v 1825—1861 gg., Moskau 1952 Russkaja literatura i fol'klor (pervaja polovina XIX veka), Leningrad 1976 Literaturnoe oasledie dekabristov, Leningrad 1975 Litvak, V. G., Opyt statistiöeskogo izuöenija krest'janskogo dvizenija v Rossii XIX v., Moskau 1967 Ljasöenko, P. I., Istorija narodnogo chozjajstva SSSR, Bd. 1, Moskau 1956 Manfred, A. Z., Napoleon Bonapart, Moskau 1971 Neökina, M. V., Dekabristy, Moskau 1975 Neökina, M. V., Dvizenie dekabristov, Bd. 1 u. 2, Moskau 1955 Neökina, M. V., Vol'ter i russkoe obsöestvo. In: Vol'ter, Stat'i i materialy, pod red. V. O. Volgina, Moskau 1948 Neökina, M. V., Griboedov i dekabristy, Moskau 1951 Okun', S. B., Dekabrist M. S. Lunin, Leningrad 1962 Okun', S. B., Istorija SSSR, Teil I, Leningrad 1974 Okun', S. B., Oöerki istorii SSSR, Leningrad 1956 Okunev, N. A., Razbor glavnych voennych operacij, bitv i srazenij v Rossii v kampanii 1812 goda, St. Petersburg 1912 Ol'sanskij, P. N"., Dekabristy i pol'skoe nacional'no-osvoboditel'noe dvizenie, Moskau 1959 Orlik, O. V., Dekabristy i evropejskoe osvoboditel'noe dvizenie, Moskau 1975 Orlik, O. V., Peredovaja Rossija i revoljucionnaja Francija, Moskau 1973 Orlik, O. V., Rossija i francuzskaja revoljucija 1830 goda, Moskau 1968 Oteöestvennaja vojna i russkoe obsöestvo, Bd. 1—7, Moskau 1911 — 1912 1812 god. K stopjatidesjatiletiju Oteöestvennoj vojny. Sbornik statej, Moskau 1962 Pavljucenko, E. A., V dobrovol'nom izgnanii. O 2enach i sestrach dekabristov, Moskau 1976 Pospelov, G. N., Istorija russkoj literatury XIX veka (1840—1860 gg.)., 2., verb. u. ergänzte Aufl., Moskau 1972 Postnov, J. S., Sibir' v poezii dekabristov, Novosibirsk 1976 Poznanskij, V. V., Oöerki istorii russkoj kul'tury pervoj poloviny XIX veka, Moskau 1970 Predteöenskij, A. V., Oöerki obsöestvenno-politiceskoj istorii v Rossii v pervoj öetverti XIX v., M o s k a u Leningrad 1957 Princeva, G. A., Bastareva, L. I., Dekabristy v Peterburge, Leningrad 1975 Prokofev, E. A., Voennye vzgljady dekabristov, Moskau 1953 Rabkina, N. A., Otöizny vnemlem prizyvan'e, Moskau 1976 Rabocee dvizenie v Rossii v XIX v., Bd. 1, Teil 2, 2. Aufl., Moskau 1955 Rasin, A. G., Naselenie Rossii za 100 let, Moskau 1956 Revoljucii 1848—1849, Bd. 2, Moskau 1952 Revoljucionnaja situacija v Rossii v 1859—1861 gg., 4 Bde., Moskau 1960—1965 Sarupic, A. P., Dekabrist Aleksandr Bestuzev. Voprosy mirovozzrenija i tvorcestva, Minsk 1962 Satrova, G. P., Dekabristy i Sibir', Tomsk 1962 Söegolev, P. E., Dekabristy, Moskau—Leningrad 1926 Semevskij, I. I., Politiceskie i obsöestvennye idei dekabristov, St. Petersburg 1909 Sirotkin, V., G., Duel' dvuch diplomatij. Rossija i Francija v 1801 — 1812 gg., Moskau 1966 Sokolov, H. M., Istorija russkoj literatury XIX veka (I-a polovina), 4., verb. Aufl., Moskau 1976 Solov'ev, S. M., Imperator Aleksandr I. Politika. Diplomatija, St. Petersburg 1877 Sparo, O. B., Osvobozdenie Grecii i Rossija, Moskau 1965 Stanislavskaja, A. M., Russko-anglijskie otnosenija i problemy Sredizemnomor'ja (1798—1807 gg.); Moskau 1962 Storm, G., Potaennyj Radiscev, Moskau 1968 Strange, M. M., Russkoe obsöestvo i francuzskaja revoljucija 1789—1794 gg., Moskau 1956 Syroeökovskij, V. E., Iz istorii dvizenija dekabristov, Moskau 1969 Tarle, E. V., Krymskaja vojna, Bd. 1—2, 2. Aufl., Moskau—Leningrad 1950 Tarle, E. V., Nasestvie Napoleona na Rossiju 1812 g. In: Tarle, E. V., Soöinenija, Bd. VII, Moskau 1959 Usaev, G. S., RoP tekstil'noj promyslennosti v genezise i razvitii kapitalizma v Rossii 1760—1860, Leningrad 1970 Verzbickij, V. G., Revoljucionnoe dvizenie v russkoj armii, Moskau 1964 Volk, S. S., Istoriöeskie vzgljady dekabristov, Moskau—Leningrad 1958 Zajonökovskij, P. A., Otmenja krepostnogo prava v Rossii, 2. Aufl., Moskau 1960 Zajonökovskij, P. A., Provedenie v zizni krest'janskoj reformy 1861 g., Moskau 1958

Bibliographie

233

2ilin, P. A., GibeP napoleonovskoj armii v Rossii, Moskau 1974 Zlotnikov, M. F., Kontinental'naja blokada i Rossija, Moskau 1966 Zolotov, V. A., Vnesnjaja torgovlja Juznoj Rossii v pervoj polovine XIX v., Rostov am Don 1963

b) deutsche Abriß der Geschichte der Philosophie, Berlin 1966 Der Befreiungskrieg 1813, Berlin 1967 Bernal, J. D., Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin 1967 Brodski, N. L., W. G. Belinski, der große revolutionäre Demokrat, Philosoph, Kritiker, Berlin 1948 Clausewitz, C. v., Der Feldzug von 1813 bis zum Waffenstillstand. In: Hinterlassene Werke über Krieg und Kriegsführung, Bd. 7, Berlin 1862 Clausewitz, C. v., Der russische Feldzug von 1812. In: Hinterlassene Werke über Krieg und Kriegsführung, Bd. 7, Berlin 1862 Dodonov, I., Marx und Engels über die Geschichte Rußlands. In: WZ der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jg. 10 (1960/61), Gesellsch.- u. sprachwiss. Reihe, S. 209—237 Donnert, E., Politische Ideologie der russischen Gesellschaft zu Beginn der Regierungszeit Katharinas II. Gesellschaftstheorien und Staatslehren in der Ära des aufgeklärten Absolutismus, Berlin 1976 Druzinin, N. M., Besonderheiten der Genesis des Kapitalismus in Rußland. In: Genesis und Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. Studien und Beiträge, hrsg. von P. Hoffmann und H. Lemke (Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. XVII), Berlin 1973 Genesis und Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. Studien und Beiträge, hrsg. von P. Hoffmann und H. Lemke (Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. XVII), Berlin 1973 Geschichte der russischen Kunst. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Dresden (1975) Geschichte der klassischen russischen Literatur, Berlin—Weimar 1965 Gesfchichte der Philosophie, Bd. 1—2, Berlin 1960 Geschichte der ydSSR, Bd. 1, Halbbd. 2, Bd. 2, Berlin 1962-1967 Helmert, H., Usczeck, H., Europäische Befreiungskriege 1808 bis 1814/15, Berlin 1976 Das Jahr 1813. Studien zur Geschichte und Wirkung der Befreiungskriege, Berlin 1963 Russische Literatur im Überblick, Leipzig 1974 Literaturen der Völker der Sowjetunion, Leipzig 1968 Luxemburg, R., Die Seele der russischen Literatur. In: R. Luxemburg, Schriften über Kunst und Literatur, Dresden 1972 Mai, J., Das deutsche Kapital in Rußland von 1850—1894, Berlin 1970 Nifontow, A. S., Rußland im Jahre 1848, Berlin 1954 Straube, F., Zum Klassenwesen der Programmschriften der Dekabristen. In: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 19/2, Berlin 1975 Straube, F., Zur. Deutschlandpolitik des zaristischen Rußlands 1789 bis 1815. In: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 19/1, Berlin 1975 Straube, F., Frühjahrsfeldzug 1813. Die Rolle der russischen Truppen bei der Befreiung Deutschlands vom Napoleonischen Joch, Berlin 1963 Stulz, P., Fremdherrschaft und Befreiungskampf, Berlin i960 Tarle, E., Rußland und das Schicksal Europas, Berlin 1951 Winter, E., Rußland und das Papsttum, Teil 2: Von der Aufklärung bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Berlin 1961

Quellennachweis der Abbildung und der Karten

Abbildung des Einbandes entnahmen wir: „The Decabrist Revolt in Works of Art 1825—1975", The Hermitage Collection. Aurora Art Publishers, Leningrad 1975 • Karten entstanden auf der Grundlage von Materialien in: 1. Geschichte der UdSSR, Bd. 1,2. Halbband, Berlin 1962, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 2. Atlas zur Geschichte, Bd. 1, Berlin 1973, S. 109/110, VEB'Hermann Haack, Geographisch-Kartographische Anstalt Gotha/Leipzig Für die freundliche Unterstützung danken wir den genannten Verlagen.

Personenregister

Abdul Medshid 210-211 Aberdeen, G. 207,213 Abowjan, Ch. 207 Achscharumow, D. D. 159, 162 Achundow, M. F. 207 Aksakow, K. S. 146, 150 Alexander I. 4 6 - 4 9 , 5 2 - 5 7 , 63, 65, 6 9 - 7 1 , 73 bis 74, 76, 7 8 - 8 1 , 89, 91, 98, 131, 136, 138, 201-203 Alexander II. 175,219,221,224 Alexei Michailowitsch 127 Alopeus, D. M. 76 Ancillon, J. P. F. v. 72 Annenkow, P. W. 151 Anochina, L. A. 171 Apraksin 34 Araktschejew, A. A. 47, 80—82, 87, 90—92, 119, 136 Arndt, E. M. 69 Arsenjew, K. I. 90 d'Artois 42 Bach, J. S. 186 Baer.JC E. v. 174 Bagration, P. I. 60—61 Bakunin, M. A. 146-147, 155, 157 Balasoglo, A. P. 159 Balzac, H. de 179 •Barataschwili, N. 207 Ba'ratynski, J. A. 88 Barclay de Tolly, M. B. 6 0 - 6 1 , 63 Bataschew, I. R. 82 Beethoven, L. van 1§6 Belinski, W. G. 144-147, 150-157, 159, 165, 168, 171, 177-178, 183-184, 187 Bellinshausen, F. 90 Bern, J. 197 Benckendorff, A. Ch. 121, 172 Bentham, J. 49 Bernadotte, J.-B. 74 Bern^l, J. D. 9 Bestushew, A. A. 82, 98 Bestushew-Rjumin, M. P. 99 Blanc, J. J. Ch. L. 152 Blücher, G. L. v. 73, 75 Bodenstedt, F. 180 Borosdin, A. K. 79

Borries, K. 215 Botkin, W. P. 146,151,154,156 Bourbonen 76,81,191-192 Boyen, H. v. 70 Brüllow, K. P. 187-188 Bulgarin, F. W. 125-126,177 Buol-Schauenstein, K. F. 221 Bürger, G. 50 Butaschewitsch-Petraschewski, M. W. s. Petraschewski, M. W. Butenop 115 Buturlin, W. W. 123 Byron, G. N. G. 181 Cabet, E. 152 Cancrin, J. F. 128-129 Cannington, G. 202 Capo d'Istrias, J. A. 204, 207 Caulaincourt, A. 59 Cavaignac, L. E. 196 Chamisso, A. 100 Chanykow, A. W. 159,165 Charles X,. 192 Charlotte, Prinzessin 120 Chateaubriand, F.-R. de 181 Chomjakow, A. S. 150 Chrapowizki, A. V. 40 Clausewitz, C. v. 69, 71 Condorcet, M. J. A. N. 49 Corneille, P. 86 Custine 120-121, 134, 136 Czartoryski, A. 47,71,138 Czynski, J. 138 Dargomyshski, A. S. 187 Daud-Bgy s. Urquhart, D. Dawydow, D. W. 63 Dawydow, W. L. 93 Degtjarjow, St. A. 51 Dehn, S. W. 186 Delwig, A. A. 48 Dembinski, H. 197 Dershawin, G. R. 49—50 Dézamy, Th. 161 Dickens, Ch. 179 Diebitsch, 1.1. 71, 192, 206 Diezmann, A. 120

236 Dmitrijew, 1.1. 38 Dobroljubow, N. A. 150, 155, 158, 162, 168, 177, 184,219 Dostojewski, F. M. 159, 184 Drushinin, N. M. 15, 34, 118, 131 Drushinina, J. I. 23, 102 Dudek, G. 87 Dudsinskaja, J. A. 150 Dumas, A. 119—120 Düwel, W. 90 Eckardt, H. 216 Ehrenberg, Ch. G. 174 Engelberg, E. 216 Engels, F. 8, 15, 36, 4 3 - 4 4 , 54, 58, 73, 78, 105 bis 106, 126, 155, 163, 166, 184, 1 9 1 - 1 9 2 , 196 bis 198, 217, 220 Erman, G. A. 174 Falbork, G. 122 Falk, H. 148 Faraday, M. 174 Fedosow, L A . 144,159 Fedotow, P. A. 188—189 Feth-Ali-Schah 206 Feuerbach, L. 152,156 Figner, A. S. 63 Filaret 172 Fjodorow, W. A. 23, 105—106 Fonwisin, D. I. 35, 51, 83 •Fourier, F.-M.-Ch. 160—161 Franz Joseph I. 196, 2 1 5 - 2 1 6 Friedrich II. 45 Friedrich Wilhelm II. 42 Friedrich Wilhelm III. 72—73, 120, 194 Friedrich Wilhelm IV. 194, 196, 216 Galaktionow, A. A. 144 Gasi-Mohammed 199 Gerstner, F. J. 113 Glinka, F. N. 86 Glinka, M. I. 1 8 6 - 1 8 7 Gluck, Ch.W. 186 Gneisenaif, A. N. v. 73, 75 Goethe, J. W. 36, 5 0 - 5 1 , 8 8 - 8 9 , 125 Gogol, N. I. 1 5 3 - 1 5 4 , 1 7 8 - 1 7 9 , 182-185, 187 bis 189 Golizyn 34, 37,90 Golowin, K. F. 201 Golowinski, W. A. 159,161 Golownin, Wi M. 173 Gontscharow, I. A. 184 Görgey, A. 197 Gortschakow, A. M. 191 Granowski, T. N. 122, 146, 151, 156, 176 Gratschkow 30 Gray, Th. 50 Gretsch, N. I. 125, 177

Personenregister Gribojedow, A. S. 83, 88, 90, 149, 187, 204, 206 Gruner, J. v. 69 Guedalla, Ph. 214 Habsburg 74, 78, 81, 124, 162, 198 Haxthausen, A. v. 163 Hegel, G. W. F. 1 4 6 - 1 4 7 , 152, 155—157, 175 Heine, H. 86, 181 Helmersen, G. v. 174 Herder, J. G. 36 Hermann, K. 90 Herwegh, G. 157,164-165 Herzen, A. I. 1 4 4 - 1 4 7 , 149-151, 153, 155, 157, 159, 1 6 2 - 1 6 8 , 171, 177-178, 1 8 7 - 1 8 8 , 197, 219 Herzog von Oldenburg 69 Hoffmann, P. 102 Homer 92 Humboldt, A. v. 110,174 Humboldt, W. v. 125 Hurwicz, E. 147 Ibrahim-Pascha 205,207—208 Isajew, G. S. 105 Istomin, W. M. 219 Iwanow, A. A. 188 Iwanow, A. I. 51 Jacobi, M. H. v. 174 Jasykow, N. M. 88 Jewgrafow, W. J. 162 Jurin 63 Juschnewski, A. P. 94 Jusupow, N. B. 24 Kachowski, P. G. 99 Kant, I. 36, 49 Kapp, F. 165 Karamsin, N. M. 38, 4 9 - 5 1 , 57 Karmaljuk, U. J. 137 Katenin, P. A. 86 Katharina II. 10, 33, 38, 40, 42, 4 4 - 4 7 Katkow, M. N. 146 Kawelin, K. D. 103,151,156 Kerner, J. 51 Kiprenski, O. A. 51 Kirejewski, I. W. u. P. W. 146, 150 Kisseljow, P. D. 130—132, 139 Kljutschewski, W. O. 47 Knjashnin, J. B. 40, 83 Knjaskow, S. A. 122 Kogan, L. A. 189 Kolatschek, A. 164 Komissarow 37 Komkow, G. D. 123,172 Kondratow 30 Konstantin Pawlowitsch 80, 98,192—193

Personenregister Kopernikus, N. (Kopernik, M.) 173 Korf, Baronesse s. Marie-Antoinette Kornilow, W. A. 219 Korsch, J. F. 156 Koscheljow, A. I. 150 KoSciuszko, T. 43,45 Koselski, J. P. 35 Koshina, W. 63 Koslow, 1.1. 88 Kosolapow, K. F. 82 Kossuth, L. 197 Kotschubei, W. P. 47, 127 Kotzebue, A. v. 81 Kowaltschenko, I. D. 26—27, 104, 118 Kramskoi, I. N. 189 Krgpowiecki, T. 138 Kretschetow, F. W. 40 Kritski, M. I. u. W. I. 144 Krüdener, A. J. 53 Krylow, I. A. 40,51 Küchelbecker, W. K. 48, 83, 8 8 - 9 9 , 9 1 - 9 2 Kunizyn, A. P. 14, 90 Kurakin, A. B. 58 Kurfürst von Bayern 53 Kusnezow, I. W. 103 Kutusow, M. I. 59, 63, 6 5 - 6 8 , 7 2 - 7 4 Laharpe, F. C. de 47 Lamennais, F.-R. de 148 Lasarew, M. P. 90, 207 Lasarew, W. N. 174 Lauriston, J. A. B. 65 Leikina-Swirskaja, W. R.» 159, 172 Lelewel, J. 138 Lemke, H. 102 Lenin, W. I. 8, 25, 29, 34, 77, 100, 102, 105, 111, 114, 117, 134, 139, 144, 150, 152-156, 162-164, 166—168, 170, 195, 220, 224-226 Lenz, F. E. 174 Leopold II. 42 Lermontow, M. J. 179, 181 — 182 Lessing, G. E. 185 Lieven, Ch. A. 122 Ljowschin, B. W. 123, 172 Lobatschewski, N. I. 90, 172—173 Lomonossow, M. W. 35 Louis Bonaparte s. Napoleon III. Louis-Philippe 191 — 192, 209 Ludwig XVI. 41 Ludwig XVIII. 76 Lünebach,K. 55 Lütke, F. v. 173—174 Lützow, L. A. W. 75 Luxemburg, R. 178, 185, 190 Mably,G. B. de 38 Mack, L. v. 54 Magnizki, M. L. 90

237 Mahmud II. 207,209-210 Maikow, W. N. 159 Maistre, J. de 148 Marat, J.-P. 90 Maria Fjodorowna 65 Marie-Antoinette (Korf, Baronesse) 41 Martens, F. F. 55, 77, 193 Marx, K. 8, 15, 36, 44, 54, 58, 60, 73, 78, 105, 126, 157, 161, 163, 166, 184, 192, 196-198, 217.220 Masaryk, Th. G. 127 Matinski, M. 51 Mehemed Ali 203, 207, 209-210, 214 Menschikow, A. S. 131, 214-215, 218—219 Merkel, G. H. 41,71 Metternich, K. L. 74, 124, 191, 194-195, 203, 205.221 Michelet, J. 163 Mirabeau, H. G. 35 Mochnacki, M. 138 Mombelli, N. A. 159 Montesquieu, Ch. L. 49, 83 Morosow, S. W. 30 Morse, S. F. B. 174 Mozart, W. A. 186 Murat, J. 60 Murawjow, A. 84 Murawjow, N. M. 84, 94, 96—97 Murawjow, N. N. 198 Murawjow-Apostol, S. I. 99 Mussorgski, M. P. 179 Nachimow, P. S. 219 Napoleon I. 46, 5 2 - 6 5 , 67, 6 9 - 7 7 , 79, 86, 144, 147,201,213-214 Napoleon III. (Louis Bonaparte) 213—216, 221 Necker, J. 35 Nekrassow, N. A. 168, 177, 184, 219 Nesselrode, K. W. 70, 131, 191, 215 Netschkina, M. W. 35, 84, 97, 226 Newelskoi, G. I. 174,198 Nifontow, A. S. 159, 196-197 Nikandrow, P. F. 144 Nikolaus I. 98—99, 119-131, 133, 135, 137-138, 142, 158, 171-172, 177, 181-182, 192-199, 201-202, 205, 207—216, 218-219 Nowikow, N. I. 35, 40, 45 Nowösilzew, N. N. 47, 54, 80 Ochotnikow, K. A. 92 Odojewski, A. I. 88, 100 Odojewski, N. I. 146 Ogarjow, N. P. 144-146, 150—151, 155-157, 159, 163-168, 177, 188 Ohm, G. S. 173 Okun, S. B. 33, 79 Okunew, N. A. 67

238 Ompteda, L. K. G. v. 73 Orlik, O. W. 137,192 Orlow, A. F. 192 Orlow, G. 24 Orlow, M. F. 92 Osmanen 209 Ostrowski, A. N. 184, 187 Owen, R. 81 Palmerston, H. J. T. 201, 208, 210, 214, 218, 221 Panajew, 1.1. 177 Paskewitsch, I. F. 195, 197, 199, 2 0 4 - 2 0 5 Paul I. 4 4 - 4 7 Pestel, P. I. 79, 84, 9 2 - 9 9 Peter I. 9, 48, 58, 98, 128, 151 Petraschewski, M. W. (Butaschewitsch-Petraschewski, M. W.) 1 5 9 - 1 6 1 , 1 6 5 Petrow, W. W. 173 Pirogow, N. I. 173, 219 Platen, A., Graf v. Platen-Hallermund 139 Platow, M. I. 63, 67 Plessen 195 Plestschejew, A. N. 159 Pnin, I. P. 49 Pogodin, M. P. 125, 127, 175, 177 Polenow, A. J. 35 Polew, A. 70 Poniatowski, J. A. 72 Popugajew, W. W. 49 Potapow, F. 63 Pradt, D. D. de 59 Predtetschenski, A. W. 143 Prochorow, W. I. 31 Protassow, N. A. 123 Pugatschow, J. I. 10, 33, 38, 40, 130, 180 Puschkin, A. S. 48, 81, 83, 85—86, 8 9 - 9 2 , 125, 139, 147, 1 7 7 - 1 8 3 , 1 8 5 - 1 8 7 Rachmaninow, I. G. 40 Radetzky, J. J. W. A. F. K. 207 Radistschew, ,A. N. 10—11, 38—39, 45, 49, 83, 153 Rajewski, W. F. 82, 87, 92 Ranke, L. 176 Rastorgujew 82 Repin, I. J. 188 Riego, R. 85 Ritter, H. 176 Rjasanow 37 Robespierre, M. 90 Rose, G. 174 Roshnow 45 Rossi, K. I. 170 Rousseau, J. J. 50 Rubinstein, A. G. 159 Ruge, A. 157 Rumjanzew, N. P. 58, 70

Personenregister Rylejew, K. F. 82, 8 7 - 8 8 , 9 0 - 9 2 , 99 Ryndsjunski, P. G. 116—117 Sacharow, A. D. 52 Saint-Simon, C.-H. de 81, 146, 152 Sakrewski, A: A. 126 Saltykow-Stschedrin, M. J. 159, 184 Samarin, J. F. 1 5 0 - 1 5 1 Sand, K. 81 Savigny, F. K. v. 176 Sawjalow 30 Schamyl 200,208,218 Scharnhorst, G. J. D. 55, 70, 73 Scheibert, P. 155, 159 Schelling, F. W. J. 146 Schewtschénko, T. G. 157-158, 1 8 5 - 1 8 6 Schewyrjow, S. P. 125, 177 Schiemann, Th. 1 2 1 - 1 2 2 , 126, 135, 182 Schiller, F. 36, 51, 181 Schilling-Canstadt, P. v. 174 Schischkow, A. S. 122 Schmelewa, M. N. 171 Schwarzenberg, K. Ph. 74 Ségur, L.-Ph. de 36 Semjonow, F. A. 159 Semjonow, L. K. 123, 172 Semjowski, 1.1. 78 •• Serbow, N . I. 122 Seslawin, A. N. 63 Shilin, P. A. 6 5 - 6 6 Shukowski, W. A. 5 0 - 5 1 , 179 Sinin, N. N. 173 Sijiith, A. 48 Sochazki, P. A. 38 Solowjow, S: M. 1 7 5 - 1 7 6 Sparo, O. B. 92 Speranski, M. M. 5 7 - 5 8 , 1 2 7 - 1 2 9 Speschnjew, N. A. 159—161 Stahl, J. 216 Stankewitsch, N. W. 146,155 Stassow, W. W. 1 8 7 - 1 8 8 Stein, H. F. K. vom 57, 69, 7 1 - 7 4 , 76, 125 Steingel, W. I. 97 Stendhal, F. de (Marie Henry Beyle) 179 Stökl, G. 155 Stratford-Canning 215 Stroganow, P. A. 47 Struwe, W. J. 173 Stschegolew, P. J. 82 Stschepkin, M. S. 187 Stulz, P. 72 Sungurow, N. P. 144, 146 Suworow, A. W. 4 1 , 4 3 , 4 6 Swistunow, P. 93 Talleyrand, Ch. M. de Tarle, E. V. 64,214

191

Personenregister Teljakowski, A. S. 219 Themistokles 92 Tieck, L. 51,88 Tiedemann, C. L. v. 69 'Todtieben, E. I. 219 Tolstoi, L. N. 185,219 Tormassow, A. P. 60 Trubezkoi, S. P. 84, 94, 98 Tschaadajew, P. J. 148—149, 151 Tschaikowski, P. I. 180 Tscharnoluski, W. 122,147 Tschelistschew, P. 40 Tschernyschew, A. I. 58 Tschernyschewski, N. G. 150, 158, 162, 165—168, 177,184—185,197—199 Tschetwertakow, J. W. 63 Tschishewski, D. 155 Turgenjew, A. I. 147,149 Turgenjew, I. S. 151,184 Turgenjew, N. I. 19, 24, 94 Tutenberg, B. 181 Ugrjumow, G. I. 51 Uhland, L. 51 Urquhart, D. (Daud-Bey) 200, 208 Uschakow, F. F. 46 Uschinski, K. D. 171 Ustrjalow, N. G. 175 Utechin, S. W. 155 Uwarow, S. S. 121 — 122, 125, 127, 131, 173

Varnhagen von Ense, K. A. 181 Victoria, Königin 201 Viedert, A. v. 184 Voltaire, F. M. A. de 35, 83 Warypajew 30 Weber, M. 20 Weitling, W. 157,161 Wellington, A. Wellesley 203, 205 Wenezianow, A. G. 188 Weschnjakow, W. I. 106 Wilhelm von Preußen, Prinz 215— Windischgrätz, A. C. F. 196 Winter, E. 123 Wittgenstein, P. Ch. 69, 73, 205 Wjasemski, P. A. 88, 136 Wolgina, W. O. 35 Wolkonski, S. G. 61 Woronichin, A. N. 52 Woronzow, M. S. 200 Woronzow, S. R. 38 Wostokow, A. Ch. 175 Yorck, J. D. v. 69, 71 Ypsilanti, A. u. K. 92 Zaj^czek, J. 80 Zajontschkowski, P. A. Zedlitz, J. Ch. 51

226

Geographisches Register

Aachen 81 Achalkalaki 205 Achalziche 205—206 Adana 207 Adrianopel 206,208 Afghanistan 208—209 Ägypten 46, 203, 205, 207-210, 212-214 Aigun 198 Akkerman 203—206 Akko 207 Aland-Inseln 218,222 Algerien 210 Alma 219 Alma-Ata (Fort Werny) 199 Alpen 46 Amerika (USA) 8, 110, 113, 144, 223 Amur 174, 198 Anapa 205 Anatolien 208 Archangelsk 135 Armenien 204, 207, 218, 220 Aserbaidshan 52,204 Asien 13, 112 Astrachan 144 Athen 205 Auerstedt 55 Austerlitz 54 Bachtschissarai 219 Baku 18,52 Balchaschsee 209 Balkan 44, 53, 55, 59, 70, 91, 191, 197, 201-202, 205-207, 211-214, 216-218, 221-222 Balta-Liman 211 Baltikum 14, 23, 29, 37, 79 Baschkirien 18 Batumi 206 Bautzen 73 Bayern 70,75 Belgien 110,124,192-194 Belorußland 44, 61, 124, 132, 138-139, 193 Beresina 68 Berlin 42, 53, 55, 60, 72, 75, 120, 126, 181, 186, 192, 194-196,216 Bessarabien 59, 135, 221 Bethlehem 213-214 Böhmen 74

Borissow 68 Borodino 6 3 - 6 4 , 67, 69 Bosporus 207, 211, 213-215, 222 Brasilien 85 Braunschweig 192 Breslau 72 Brest 124 Buchara 112 Bukarest 59, 197, 203, 206 Bulgarien 206 Castries-Bucht 198 Chabarowsk 198 Charkow 48,80, 137 Cherson 80, 137 China 17,112,198 Chiwa 209 Cypern 203 Daghestan 52, 199—200 Damaskus 207 Dänemark 75, 198 Dardanellen 208,212,214-215,222 DDR 7 Deutschland 40—41, 44, 51, 53—56, 58, 68—69, 7 2 - 7 6 , 81, 8 3 - 8 4 , 86, 110, 113, 126, 147, 157, 162, 165, 180-181, 183-186, 195, 197-198, 214,216,222 Dnjepr 68,102,113,137,140 Don. 23, 81,"92 Donau 92, 102, 196, 202-203, 205-206, 211, 216,218,221-222 Donez 82, 111 Dorpat 48 Dwina 18 Elba 76 Elbe 75 England 8 - 9 , 13, 20, 42, 47, 53-56, 59, 74, 76, 81, 106, 110, 112-113, 120, 138, 176, 179, 193 bis 194, 200-211, 213-218, 220-223 Erfurt 57 Erserum 208,220 Estland 120,137,214 Eupatoria 218

241

Geographisches Register Europa 8 - 9 , 11, 1 3 - 1 4 , 1 6 - 1 7 , 20, 34, 38, 41 bis 42, 44, 46, 50, 5 2 - 5 6 , 5 8 - 5 9 , 6 9 - 7 0 , 75 bis 78, 81, 83, 86, 89, 9 1 - 9 2 , 101, 108-109, 113, 115, 119-122, 124-126, 129-130, 133, 135, 137, 139-140, 143-152, 154-155, 158-160, 162-163, 169, 172, 175-176, 191-198, 202, 2 0 6 - 2 0 7 , 2 1 1 - 2 1 2 , 2 1 4 - 2 1 8 , 221, 224 Finnischer Meerbusen 174 Finnland 56, 126,214 Fontainebleau 75 Frankfurt a. M. 42, 191 Frankreich 8 - 1 0 , 13, 3 4 - 3 8 , 4 1 - 4 4 , 46, 5 2 - 6 1 , 64, 7 0 - 7 3 , 7 6 - 7 8 , 81, 110, 112, 124, 126, 133, 137-138, 148-149, 151, 157, 159, 162-163, 165, 176, 179, 183, 186, 188, 191-196 201-203, 205-218,220-223 Freiberg 110 Friedland 55 Galizien 140,195 Genf 162 Georgien 52,207 Greifswald 40 Griechenland 91-92,202—207 Grochów 138 Grosny 18 Großbritannien 55 Großgörschen 73 Gulistan 203—204 Gurien 218 Hadshi-Bucht 198 Haiti 85 Halberstadt 40 Hamburg 165 Hannover 55 Hellas 92 Herat 209 Hermannstadt 197 Herzegowina 215 Hesseh 192 Holland 53,58 Hunkjar-Skelessi 208—210 Indien 5 9 , 2 0 6 - 2 0 7 , 209 Inkerman 219 Ionische Inseln 46, 55 Ionisches Meer 205 Ismail 41 Italien 46, 53, 81, 83, ?1, 93, 157 162-163, 165, 183, 186, 195, 1 9 7 - 1 9 8 , 2 1 5 - 2 1 6 Iwanowo 20—21,30,108 Jaroslawl 34, 48, 108, 170 Jassy 41, 197

Jekaterinoslaw 80,89 Jena 55 Jerewan 52,204 Jütland 198 Kachetien 218 Kaliakra, Kap 41 Kaiisch 7 2 - 7 3 Kaluga 62,65,200,224 Kama 18 Kamtschatka 218 Karolinen-Archipel 174 Karlsbad 81 Kars 2 0 5 , 2 2 0 - 2 2 1 Karula 34 Kasachstan 199 Kasan 48, 90, 139, 141, 160, 170, 172-173 Kaspisches Meer 113, 174, 204 Kaukasus 13, 18, 23, 70, 99, 102, 119, 137, 181 bis 182, 199-201, 203, 205-206, 208, 214, 217, 221-222 Kiew 94, 123, 141, 160 Kimry 21 Kleinasien 207 Köln 165 Kolywan 110 Kongreßpolen 124, 193 Koniah 207 Konstantinopel 2 0 3 - 2 0 9 , 211, 213-215, 217 Kowno 224 Krakau 43, 195 Krasnoje 68 Krementschuk 23 Kreta 2 0 3 , 2 1 2 - 2 1 4 Krim 11, 103, 133, 140, 191, 2 0 0 - 2 0 1 , 211, 214 bis 215, 2 1 7 - 2 2 0 , 2 2 2 - 2 2 4 Kronstadt 174, 197, 218 Ksyl-Orda siehe'Perowsk Kuban 102,206 Kurland 120 Kursk 17, 139 Kutschuk-Kajnardshe 41 Leipzig 3 8 , 4 1 , 7 5 - 7 6 Lettland 137, 140, 214 Levante 209 Libau 36 Lida 60 Litauen 6 1 - 6 2 , 124, 132, 138, 193 Livland 41, 120 Ljachowo 68 Lombardei 196-198 London 54, 164, 167, 200-205, 207, 210-211, 218

Lübeck 113 Lugansk 111 Luzk 60

Geographisches Register

242 Maciejowice '43 Mailand 196 Malachow-Hügel 220 Malojaroslawez 45,67—68 Malta 46 Marmarameer 215 Mekka 200 Mittelasien 200 Mittelmeer 46, 203, 211 - 2 1 2 Mogiljow 80, 124 Moldau 131, 196, 203, 205-206, 211, 213-215, 218,221-222 Morea 205 Moskau 16-18, 20, 31, 35, 37-39, 48, 51, 60, 62-68, 79, 85, 98, 108, 110, 113, 115, 122-123, 125-126, 140, 144, 146, 155-157, 160, 170-176, 180,187 Moskwa 89 Münchengrätz 194

Nachitschewa 204 Nara 66 Navarino 205 Neapel 53,85 Nemzewo 45 Newa 89,113,174. Niederlande 8, 192 St. Nikolai 206 Nikolajewsk 198 Nikolskoje 136 Nishni-Nowgorod 17, 24, 62, 110, 112-113, 135, 172,224 Njemen 55, 60, 70 'Nord-Katharina-Kanal 18 Nordmeer 13 Nordsee 74 Nowgorod 33-34, 80, 136, 141, f56 Nowograd-Wolynsk 94

Oder 70,72 Odessa 48, 92, 170, 202, 218 Oginski-Kanal 18 Oka 112 Olmütz 198,215-216 Olonez 135, 139, 141 Orenburg 135, 139, 144, 158 Orient 192,202,207 - , Vorderer 46, 59, 78, 91, 211-212, 221 Orjol 45 Orléans 191 Osftianisches Reich 194, 201—203, 207, 211, 213, 217,221-222 Osten, Ferner 174, 199, 218 - , Mittlerer 202,206 - . N a h e r 191-, 201-202, 208, 212-214

Österreich 41-42, 44, 53—54, 57, 59-60, 71, 74, 76-78, 126, 138, 140, 191 — 198, 201—203, 205, 207, 210-212, 215-218, 221-222 Ostpreußen 55, 70, 72 Ostrolfka 138 Ostsee 13, 18, 29, 41, 113, 120, 124, 131, 218, 221 Otschakow 41 Palästina 213—214 Paris 16, 38, 41, 54, 58, 68, 76-78, 89, 156-157, 164, 191 — 192, 197, 202, 218, 221-222 Pawlowo 21 Peking 198 Pensa 135,172,224 Perm 139, 141 Perowsk (Ksyl-Orda) 199 Persien 52, 199-204, 206, 209 Persischer Golf 199 Pest 197 Peter-Paul-Festung 40,91, 185 Petersburg 16-17, 20, 34-37, 39, 48-49, 52, 57, 59, 65-66, 70, 82, 85-86, 89-90, 92-94, 98-99, 101, 108, 110, 113, 120, 123-124, 133, 140-141, 152-153, 158-160, 165, 170, 172 bis 174, 180, 183, 185, 187, 192, 196-197, 202 bis 203, 213, 215 Petropawlowsk 218 Piemont 91 Pillnitz 42 Podolsk 18 Poklonnyhügel 64 Polen 42-44, 55, 60, 68, 70, 72, 76, 79-80, 124, 126, 130, 132, 137-139, 145, 192-193, 195, 197 Polozk 68 Poltawa 23, 135 Portugal 74,85 Poscheruner Mühle 71 Posen 72 Poti 205 Potsdam 216 Prag 69, 196 Preßburg 54 Preußen 41-44, 53-57, 59-60, 71-73, 76, 78, 84, 110, 112, 126, 128, 138, 140, 191-195, 198, 203, 205, 210, 212, 214-218, 222-223 Prut 92,218 Pskow 2 5 , 3 3 - 3 4 Pulkowo 173 Radawice 43 Rhein 53-55, 75, 89, 216 Riga 36,71 Rjasan 64, 131, 141 Rom 124, 147, 188 Romny 23 Rossijeny 60 Rostow 17

243

Geographisches Register Rußland 7—11, 13-18, 21, 23 - 4 4 , 46, 48 - 6 4 , 6 7 - 7 1 , 73, 7 5 - 8 9 , 9 1 - 9 7 , 99-113, 115, 117 bis 132, 134-138, 140-144, 146-176, 178-189, 191-223,225-227 Sachalin 174, 198 Sachsen 70, 76, 192 Salina 206 Salzbrunn, Bad (heute: Szczawno Zdröj) 154 Samara 104, 141 Saratow 139, 165 Sardinien 217—218 Schlesien 111,195 Schleswig-Holstein 198 Schlüsselburg 40 Schumla 205 Schwarzes Meer 18,41,102,113,199,203,206,208, 211—213,217—219, 221-222 Schweden 41,55-56,59,74,214,217-218,221 Schweiz 53,58 Serbien 203, 206, 215, 221 Sewastopol 136,218—221 Shitomir 94 Sibirien 14, 18, 40, 89, 99, 110, 115, 120, 124, 130, 137, 140, 179, 198 Silistria 205-206,218 Simbirsk 104,170 Sinope 217 Skandinavien 194 Smolensk 61 - 6 3 , 65, 6 7 - 6 9 Smorgon 68 Sowjetunion (UdSSR) 7,224 Spanien 56, 7 4 - 7 5 , 81, 8 3 - 8 5 , 93, 186 Stiller Ozean 13,198,218 Stuttgart 164 Sveaborg 218 Syrien 207-210 Täbris 204 Taman-Halbinsel 18 Tambow 135 - 1 3 6 , 139, 160, 224 Tarutino 65—66 Tauroggen 71 Teheran 204,206-207 Teplitz 194 Terek 199 Teschen 44 Tilsit 5 5 - 5 7 , 6 0 Trafalgar 55,59 Transkaukasien 52, 201, 204-208, 218 Trapezunt 206,208,213 Trianon 58 Troppau 91

Tschernigow 137, 141 Tschemischnaja 67 Tschetschenien 199—200 Tschugujew 82 Tula 65,131 Tultschin 94,98 Türkei 41, 52, 78,91, 197,199-215,217-218, 222 Turkmantschai 204,206 Twer 33, 141,170 UdSSR siehe Sowjetunion Ukraine 2 3 - 2 4 , 41, 44, 85, 93, 98, 102, 124, 132, 137-138, 140, 157-158 Ulm 54 Ungarn 196-198„211-212 Ural 18-20,82, 110-111, 131-132,136,139,174 USA siehe Amerika Ussuri 198 Valmy 42 Venezien 196, 198 Verona 91 Vesuv 188 Vilägos 197 Walachei 92, 131, 196, 203, 205-206, 213-215, 218,121—222 Warna 205 Warschau 43 - 4 4 , 56, 58 - 6 0 , 76, 113, 123, 137 bis 138,214,216 Wartburg 81 Wartenburg 75 Waterloo 203 Weißes Meer 218 Werelä 41 Werny, Fort siehe Alma-Ata Westfalen 75 Westpreußen 216 Wien 42, 59, 76, 78, 113, 192, 196-197, 202, 205, 207,215 Wilna 43,48,123,138 Witebsk 140,224 Wittenberg 75 Wjasma 68 Wjatka 139 Wladimir 17, 21, 34, 82, 108 Wladiwostok 198 Wolga 23, 27, 102, 112-113, 136, 139, 180 Wolkowysk 60 Wolögda 139 Wop 68 Woronesh 141 Zarskoje Selo

48,83,113

DIE BAUERNERHEBUNGEN IM EUROPÄISCHEN RUSSLAND IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS ( 1802 - 1856 ) KARTE UND DIAGRAMM VON J.I.INOOWAJA (Erhebungen, die durch das Militär niedergeschlagen wurden, sind berücksichtigt)

100

0

100

200

Olonez

300km

í\ Schenkursk

Pudosh

7etrgsdwoL

Wytegra

weisk

\Lodeicpje Pole Jowaja y/esffberg. 'l/Veißens tenHervía ò

HaspdJ wensburg

)chlu$selburq_. Jamburg

is./

ße/osersk

lichwm

y Pernau 0 1

Ustjushna

: Dorpatv '/, o ,t *(Jürgens,

/indau

WessjegonskJ

* ® Gallisch

Woimar j-Wöft, Goldiggen Hasenpot*

^fíyüfnsk^

(

0

lukkum®.

Kaschm\ G ,)

/ o i [NoworsheV^ .Opotschka

¿é¿/as¡n - Rosto ^LPeresiawi'-. J 7* Safeski Q rjurei

Jakob. Uki

Wunaburg \

Rosiißriy

Maka

iyscbkirn

'•'Mitbu

"\StarizS'

'loropez

poney

fsheiv''

Susdai

iwsk ß

Jlachn i'snikh °(Ji

Dissna j KowhffìÓ X ^nzjar ¿ o ff \ WolkowyschkSN.Troki \ WHnà~~=, Augusto*.

o Lomshd

Poretschje /

{', ä^x

o > Krasny

If Minsk

O ; ,Sokol/(d '

\

1Smolensk^^yCJ" * 1 't--;

-,'WUeikay ! O y

Igumen

s

KOSi

» o JShisdra

^KrapiyznS.

Rogotschov£ OKobrin G

Retschizi.

-S G 'Keren \ N.L insk

o Tscbern>

" —J

'.ebeüjan

NowossH ;

á

ióonsk oLipezk Jf

,S/droüuOy^ , Dmitrot

Lublin

fategli StschigrP-^iJjz/'

Wladu 1 o Samostje >

. o Usman^' Q

—"l

' g>nT',-rrfT/ ^eml JanSk r

- ' Nishned¿

- .-'/"'

ftowno •

£

ft/too . X, o ,>¡s¿mg\^0$ agf N |¡

\^'3f.Pskol^ „ ¡\j

?/7l-

—v-T Korotojak '< o Now.Qskfifx £=) y^c ¡(orgtschar ." ,

^^'t^StarokoriQ ¡' DnnrL.irnüi^ * ' yTV, ••

\

)(Urjupins

Valuiki?ololonàscha o sP v, r/K Pnítawa

Bogutschar^

Jarensk

.

© iursk

Solwytscftegodsk) , Tscherdyn Weliki

UstjugcA Solikamsk

QJschpkloma

Kologriw!

Werchoturje

Abkürzungen: Wassits. — Wassilsursk l.-W. — Iwanowo - Wosnessensk Konst. — Konstantinograd Maloarch- - Matoarchange/sk Malojar. — Malojaroslawez Per. — Peremysch/ Rom - Borriss. -Romanowo-Borissog S/arokon. - Starokonstantmow friedr — Friedrichstadt Jakob. — Jakobstadt

Perm'

Koteinitsch

Jkhansk