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German Pages 462 [461] Year 1977
DER MENSCH ALS MASS DER DINGE
BAND
8
VERÖFFENTLICHUNGEN des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR HERAUSGEGEBEN VON
JOACHIM HERRMANN
DER MENSCH ALS MASS DER DINGE Studien zum griechischen Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis
HERAUSGEGEBEN VON
REIMAR MÜLLER
Mit 32 Tafeln
AKADEMIE-VERLAG • B E R L I N 1976
Redaktion: Dankwart Rahnenführer
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1976 Lizenznummer: 202 • 100/125/76 Einband und Schutzumschlag: Nina Striewski Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4620 Bestellnummer: 752873 4(2153/8) • LSV 0705 Printed in GDR EVP 4 2 , -
Inhalt
Einleitung
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Reimar Müller (Berlin) Zu einigen Grundzügen der historischen und kulturellen Entwicklung in Griechenland im 5. und 4. Jahrhundert v. u. Z
15
Ernst Kluwe (Jena) Attische Adelsgeschlechter und ihre Rolle als Auftraggeber in der bildenden Kunst der spätarchaischen und frühklassischen Zeit
29
Verena Zinserling (Jena) Leitbildvorstellungen in der bildenden Kunst der Frühklassik
65
Ernst Günther Schmidt (Jena) Das Menschenbild bei Aischylos und Sophokles
93
Ernst Günther Schmidt (Jena) Menschenbild und Motivierung des Handelns bei Herodot
137
Diethard Nickel (Berlin) Das gesellschaftliche Leitbild in der Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides . . .
167
Gerhard Zinserling (Jena) Bemerkungen zur weltanschaulichen Bewertung der Kunst des perikleischen Athen Wolfgang Schindler Der Doryphoros des (Berlin) Polyklet. Gesellschaftliche Funktion und Bedeutung Reimar Müller (Berlin) Das Menschenbild der sophistischen Aufklärung
.
189 219 239
J u t t a Kollesch (Berlin) Vorstellungen vom Menschen in der hippokratischen Medizin
269
Heinrich Kuch (Berlin) Formen des Menschenbildes bei Euripides
283
Jürgen Werner (Leipzig) Zum Menschenbild des Aristophanes
309
6
Inhalt
Friedmar Kühnert (Jena) Die Bildungskonzeption des Isokrates
323
Marie Simon (Berlin) Die Aristotelische Gesellschaftstheorie
337
Isaj Nachov (Moskau) Der Mensch in der Philosophie der Kyniker
361
Kurt Treu (Berlin) Die Menschen Menanders. Kontinuität und Neuerung im hellenistischen Menschenbild
399
Register
423
Tafeln
Einleitung
„Der Mensch ist das Maß aller Dinge" * — in diesem Satz des Protagoras, des bedeutendsten Vertreters der sophistischen Aufklärung, konzentrieren sich in prägnanter Weise die Züge einer humanistischen Weltanschauung, die sich in der Zeit der Blüte der antiken Polis in einem langen Prozeß geistigen Ringens, der Auseinandersetzung mit den überkommenen Denkformen des mythischreligiösen Weltbildes und überholten Wertbegriffen herausgebildet haben. I n Perioden rückschlägiger Entwicklung — in der Antike und später — in Frage gestellt, übten diese humanistischen Ideale eine starke Wirkung auf Epochen aus, die für den Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt und die Emanzipation des Menschen entscheidende Bedeutung hatten. Anknüpfend an antike Vorbilder entwickelten bedeutende Vertreter des aufsteigenden Bürgertums in Renaissance, Aufklärung und deutscher Klassik Konzeptionen, die vom Glauben an Würde und Wert des Menschen, an die zunehmende Entfaltung seiner schöpferischen Kräfte und die Vervollkommnung der Formen menschlichen Zusammenlebens bestimmt waren. I m realen sozialistischen Humanismus ist das progressive Erbe der Antike aufgehoben. Es f ü r unsere Gesellschaft zu erschließen und der Formung ihres Geschichtsbewußtseins nutzbar zu machen, soll der vorliegende Band über das griechische Menschenbild des 5. und 4. Jahrhunderts v. u. Z. beitragen. Der Begriff des Menschenbildes, vom Erscheinungsbild des Menschen, wie es die bildende Kunst gestaltet, erweitert auf jegliche Art künstlerischer oder wissenschaftlicher Widerspiegelung charakteristischer Wesenszüge von Individuum und Gesellschaft, aber auch weit hinausreichend über diese wissenschaftlichen und künstlerischen Prägungen und Bestandteil der allgemeinen gesellschaftlichen Psychologie, ist so vielgestaltig und facettenreich, daß es angebracht erscheint, einige einleitende Bemerkungen über seinen Umfang und Inhalt zu machen. Das Menschenbild der Philosophie und der Wissenschaften gibt uns Einblick in Formen der theoretischen Selbstverständigung über das Wesen des Menschen, über seine Stellung im Kosmos, die sozialen Bedingungen seiner Existenz, die Entwicklung der Beziehungen von Individuum und Gesellschaft. Von besonderer Aussagekraft sind die Gedanken und Erkenntnisse progressiver Klassen 1
Zur Bedeutung dieses Satzes vgl. S. 248 f.
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Einleitung
und Schichten: „Jede im Aufstieg begriffene vorsozialistische Klasse kann ihre historische Mission, die revolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, nur erfüllen, wenn sie die gesellschaftliche Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grade richtig erkennt." 1 Zu bedenken ist auch, daß progressive Klassen in der Zeit ihres Aufstiegs in bestimmtem Grade gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen vertreten und so zukunftweisenden Gedanken den Boden bereiten. I n gewissem Sinn unmittelbarer und darum tiefer reichend als die theoretische Widerspiegelung ist die Wirkung, die von künstlerisch gestalteten Formen des Menschenbildes auf die Nachwelt ausgeht. Die Errungenschaften der Philosophie und Wissenschaft unterliegen im historischen Prozeß mannigfaltigen Transformationen. Sie werden rezipiert, modifiziert, durch bessere oder grundlegend neue Lösungen ersetzt, in jedem Fall aber verarbeitet, gehen in den Fundus der jeweils erreichten höchsten Entwicklungsstufe ein. Wiewohl ein solcher Prozeß auch bei der Entwicklung von Literatur und Kunst festzustellen ist (Elemente der Form, der künstlerischen Technik, des ideellen Gehaltes werden rezipiert und zum Bestandteil neuer Schöpfungen), ist doch ein prinzipieller Unterschied nicht zu übersehen. Große Kunstwerke, die den Gehalt ihrer Epoche wahrhaft ausdrücken, veralten nicht, werden nicht durch neue Werke e r s e t z t , sind in der jeweils gegebenen Form unter anderen historischen Bedingungen nicht (es sei denn um den Preis des Epigonentums) reproduzierbar. Ist das künstlerisch gestaltete Menschenbild auf diese Weise einerseits zeitgebunden, unlösbar verknüpft mit den historischen Bedingungen seiner Entstehung, so vermag es dennoch über den Horizont dieser Bedingungen hinaus in einem Maße zu wirken, das das historische Interesse für vergangene Denkformen und Denkinhalte in bestimmtem Sinne übersteigt. Es ist hier nicht der Ort, die Gründe für diese Wirkung der Kunst (in unserem Zusammenhang: des künstlerisch gestalteten Menschenbildes) zu erörtern. Daß sie in der besonderen Form der künstlerischen Widerspiegelung liegen, die neben dem kognitiven andere Bereiche, wie besonders den emotionalen erfaßt und so das Kunstwerk zum Gegenstand unmittelbaren Erlebens werden läßt, indem sie gleichsam die „Innenseite" des gesellschaftlichen Lebens vergangener Epochen erschließt, kann hier nur angedeutet werden. F ü r die Einschmelzung der Traditionsgüter der Vergangenheit im Prozeß der Rezeption hat Marx im Hinblick auf die Antike eine Formel geprägt, die sich von einer Ausprägung des Normgedankens, die absolute Muster und für alle Zukunft verbindliche Urbilder in der Vergangenheit sucht, prinzipiell unterscheidet: „Ein Mann kann nicht wieder zum Kinde werden, oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivität des Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höhren Stufe streben, seine Wahrheit zu reproduzieren?" 2 1
2
Philosophisches Wörterbuch, hrsg. von G. Klaus und M. Buhr, 6. überarb. u. erweit. Auflage, 1, Leipzig 1969, 504. K. Marx - F. Engels, Werke, 13, Berlin 1961, 641 f. — Die Probleme der Antikerezeption erscheinen in diesem Band vorwiegend in ihrem konkreten Bezug auf die Erschließung
Einleitung
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Neben der wissenschaftlichen und der künstlerischen Ausprägung begegnen vielfältige Formen des Menschenbildes im Bereich der gesellschaftlichen Psychologie, wo sie sich in Normen und Wertvorstellungen, Sitten und Gebräuchen usw. artikulieren. Wie die wissenschaftlichen und die künstlerischen sind auch diese Formen des Menschenbildes — und sie in besonderem Maße — nicht nur auf die passive Abbildung, sondern auch auf die aktive Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens ausgerichtet. Die verschiedenen Ausprägungen des Menschenbildes zielen darauf ab, den Mitgliedern einer Klasse und darüber hinaus nach Möglichkeit der gesamten Gesellschaft bestimmte Wertvorstellungen und Leitbilder zu vermitteln, die, je tiefer sie in das Wesen ihrer eigenen Zeit eindringen, je umfassender sie mit den progressiven K r ä f t e n der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden sind, um so nachhaltiger auch gesamtmenschheitliche Zielstellungen begründen können. Es wird also in den vorliegenden Studien ein umfassender Begriff des Menschenbildes zugrunde gelegt, bei dem drei Aspekte besondere Beachtung finden: 1. der philosophisch-theoretische Aspekt, der eine Theorie vom Menschen umgreift, wie sie sich in Griechenland im 5. J a h r h u n d e r t erstmals herausbildet, und die Erkenntnisse der Philosophie und einer im Verlaufe der E n t wicklung wachsenden Zahl von Einzelwissenschaften über das Wesen des Menschen einschließt; 2. der ästhetische Aspekt, d. h. die Gestaltung des Menschenbildes in Kunst und Literatur, die in unterschiedlichem Maß Elemente des ersten Aspekts einschließt, aber den Menschen vornehmlich mit den spezifischen Mitteln der künstlerischen Widerspiegelung erfaßt und mit dem ganzen Reichtum seiner Lebensbezüge, unter Einbeziehung besonders auch der emotionalen Sphäre, darstellt; 3. der pragmatisch-axiologische Aspekt, d. h. die Gesamtheit der gesellschaftlichen Ziel- und LeitVorstellungen, Wertbegriffe einer bestimmten Periode, wie sie von einer Klasse geprägt und häufig von anderen Klassen und Schichten rezipiert werden. Es handelt sich um Züge, die von der wissenschaftlichen Erkenntnis und der künstlerischen Gestaltung mitgeformt werden, hier aber nun progressiver Traditionen des antiken Erbes. Der Aufsatz von G. Zinserling (Bemerkungen zur weltanschaulichen Bewertung der Kunst des perikleischen Athen) bezieht in stärkerem Maße auch die theoretischen Grundlagen der Antikerezeption ein, über die unter den Altertumswissenschaftlern der DDR zur Zeit eine intensive Diskussion geführt wird. Zu anderen Ergebnissen als der Autor kommt in verschiedener Hinsicht R. Müller, Hegel und Marx über die antike Kultur, Philologus 116, 1972, l f f . Unter neueren Beiträgen zu der in zunehmendem Maße auch interdisziplinären Diskussion seien hervorgehoben: W. Hartke, in: Altertumswissenschaft mit Zukunft, Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1973/2, 131 ff.; C. Träger, Methodologische Probleme der Realismusforschung. Antikes Erbe und sozialistische Gegenwart, Weimarer Beiträge 20, 1974/4, 5 ff.; J. Irmscher, Antikerezeption und Nationalkultur, Klio 57, 1975, 23 ff.; Ch. Trilse, Antike und Theater heute, Berlin 1975.
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Einleitung
insgesamt unter einem bestimmten Blickpunkt gesehen sind: dem der Orientierung auf das Handeln. Ein herausragender Teilbereich des pragmatisch-axiologischen Aspekts sind neben den (sich aus Moral und Ethik ergebenden) Wertvorstellungen die gesellschaftlichen Leitbilder. Wenn einleitend von humanistischen Formen des Menschenbildes die Rede war, die f ü r die Folgezeit eine besondere Bedeutung gewannen, so müssen hier noch einige erläuternde Bemerkungen zum Begriff des Humanismus angefügt werden, die gerade im Zusammenhang mit der Untersuchung antiker Traditionen unerläßlich scheinen. Die wertende Akzentuierung des Wortes Humanismus, wie sie in unserem Bezug auf den bekannten Satz des Protagoras zutage trat, hat bereits angezeigt, daß es hier nicht um den engeren Humanismusbegriff im Sinne einer Verbundenheit mit der antiken Bildungstradition schlechthin geht. Wir verstehen Humanismus als eine weltanschauliche Kategorie, als Gesamtheit der Ideen und Bestrebungen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen, auf die Wahrung seiner Würde und die Entfaltung seiner Kräfte gerichtet sind und die wachsende Herrschaft über Natur und Gesellschaft zum Ziel haben 1 . Ist damit der einseitige Bezug auf die antike Tradition aufgegeben und gewinnen die Beiträge aller Völker f ü r die Geschichte des Humanismus Bedeutung, so hat doch die Antike gerade auch f ü r die Ausbildung eines humanistischen Menschenbildes im umfassenden Sinn dieses Wortes entscheidende Leistungen erbracht. Ohne einzelne Ergebnisse der in diesem Band vereinigten Studien vorwegnehmen zu wollen, kann doch festgestellt werden, daß im 5. Jahrhundert auf der Grundlage der antiken Polisdemokratie das humanistische Denken eine neue Qualität gewonnen hat, die f ü r alle humanistischen Konzeptionen der Folgezeit von grundlegender Bedeutung geblieben ist: die Reflexion über das Wesen des Menschen im Sinne der zunehmenden Vervollkommnung der menschlichen Gattung. Diese Idee findet im 5. und in der Folge auch im 4. Jahrhundert in vielfältigen Brechungen Ausdruck: im Gedanken vom Menschen als Maß aller Dinge ebenso wie in Konzeptionen, die den Menschen als kulturschaffendes Wesen und Schöpfer seiner selbst zu begreifen beginnen; im Leitbild der vielseitig und harmonisch entwickelten Persönlichkeit ebenso wie in ihrer Zeit weit vorauseilenden Gedanken von der Gleichheit und kulturellen Einheit des Menschengeschlechts. Es ist also das Ziel der in diesem Band vorgelegten Arbeiten, eine Periode der griechischen Geschichte zu untersuchen, die f ü r die Ausprägung humanistischer Formen des Menschenbildes besonders fruchtbar war. Generell gilt von den Menschenbildvorstellungen des griechisch-römischen Altertums, daß sie eine außerordentliche Vielfalt sowohl in der Abfolge der einzelnen Entwicklungs1
Zu dem hier zugrunde gelegten Humanismus-Begriff vgl. Der antike und der sozialistische Humanismus. Wissenschaftliches Kolloquium des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR und des Instituts für Altertumswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität, Jena 28. bis 30. Oktober 1971. Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe 21, 1972, 791 ff.
Einleitung
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phasen als auch in der Breite der sozialen Differenzierung innerhalb einer bestimmten Periode aufweisen. Die in der bürgerlichen Wissenschaft gerade auch der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts so weit verbreiteten Vorstellungen vom „hellenischen Menschen" oder vom „Wesen des Römertums" erweisen sich als unhaltbar. Selbst von einem Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis kann nur in einem stark generalisierenden und abstrahierenden Sinn die Rede sein. Gemeint sind vielfältige Formen des Menschenbildes, wie sie uns in einem Zeitraum von ca. 160 Jahren (500—338) in Athen und anderen griechischen Poleis entgegentreten. Nicht minder bedeutsam ist die gewissermaßen horizontale Differenzierung der Menschenbilder nach der Klassenstruktur. Nicht nur, daß zwischen dem Menschenbild der freien Bürger und dem der Sklaven prinzipiell zu unterscheiden ist (für letzteres haben wir freilich nur geringe Anhaltspunkte), auch innerhalb der Klassen und Schichten der freien Bevölkerung gibt es so gravierende Unterschiede wie die zwischen den demokratisch orientierten Kräften und der oligarchischen Reaktion, wie die Differenzierung zwischen der wohlhabenden Oberschicht, den Mittelklassen und den besitzlosen Freien. Es sei hervorgehoben, daß die Beiträge dieses Bandes sich vorwiegend auf die progressive Entwicklung, die sich in den demokratischen Poleis, besonders in Athen, vollzogen hat, konzentrieren und das Menschenbild, wie es sich in anderen Gebieten Griechenlands (etwa in Sparta, Mittelgriechenland, Thessalien) ausgebildet hat, allenfalls in kontrastierender Hervorhebung berücksichtigen können. Einen knappen Blick wollen wir auch auf die Quellen werfen, aus denen wir unsere Rückschlüsse auf das Menschenbild der in Frage stehenden Periode ziehen. Neben den Erzeugnissen der materiellen Kultur, der bildenden Kunst, der Dichtung und der Philosophie sind hier auch Mythos und Religion zu nennen. Das Götter- und Heroenbild gestattet wesentliche Rückschlüsse auf das Menschenbild durch die Umkehrung jener Projektion, die das Götterbild zu einer Spiegelung des Menschenbildes werden ließ. Zu nennen sind historische Quellen der unterschiedlichsten Art, wie inschriftliche Dokumente, politische Flugschriften und die Werke der Historiker. Aufschlüsse über verschiedene Ausprägungen des Menschenbildes lassen sich auch aus der medizinischen Fachliteratur gewinnen. Die sich im Rahmen der Philosophie entwickelnden gesellschaftstheoretischen Konzeptionen (von der Sophistik und Demokrit bis hin zu Aristoteles einerseits und dem Kynismus andererseits) haben großen Aussagewert, ebenso bedeutsame Ansätze zu kulturphilosophischen Konzeptionen, die zum hauptsächlichen Träger des Fortschrittsgedankens und der Erkenntnis der kulturschaffenden K r a f t des Menschen geworden sind. Erziehungs- und Bildungstheorien, die sich seit der Sophistik herauszubilden begannen, lassen wie die philosophische Theorie von den Lebensformen weitreichende Schlüsse vor allem f ü r die Idealbildung zu, wie sie uns in den gesellschaftlichen Leitbildern entgegentritt. Generell ist zu betonen, daß der Begriff Menschenbild f ü r uns stets den des Gesellschaftsbildes einschließt, also nicht im Sinn einseitiger Orientierung
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Einleitung
auf das Individuum zu verstehen ist. Gerade die gesellschaftlichen Leitbilder zeigen die ideologisch aktivierende Funktion, die gesellschafts b i l d e n d e K r a f t des Menschenbildes. Grundsätzlich ist das Menschenbild als dialektische Einheit von Widerspiegelung und Antizipation zu sehen. Daher sind bei seiner Analyse die Reflexe des realen Lebens bestimmter Klassen und Schichten in einer Epoche gleichermaßen in den Blick zu fassen wie die gesellschaftlichen Ideale und Zielvorstellungen, die diese gesellschaftlichen Gruppen in ihrem Denken und Handeln bestimmen. I n den gesellschaftlichen Leitbildern (denken wir nur an solche Ideale wie das ursprünglich aristokratische der Kalokagathie, der harmonischen Entfaltung körperlicher und seelisch-geistiger Kräfte, und das demokratische des politisch und kulturell engagierten Polisbürgers) spiegeln sich die Entwicklungstendenzen einer Epoche in besonders konzentrierter Form wider, zwar idealisiert und überhöht, wie es der Funktion der gesellschaftlichen Idealbildung entspricht, aber darum nicht minder aussagekräftig für das Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung einer Epoche. Freilich bleibt stets zu prüfen, in welchem Grade echte Voraussetzungen für die Verwirklichung solcher Leitbilder gegeben waren bzw. es sich um utopische Vorstellungen handelt. Zu untersuchen ist der Ursprung der Leitbilder bei bestimmten Klassen und Schichten, die Rolle, die sie in den sozialen und politischen Kämpfen spielen, die Frage, welche Modifizierung sie im Klassenkampf erfahren. Die Frage nach den Formen des antiken Menschenbildes ist seit geraumer Zeit auch ein Schwerpunkt in der Forschung der bürgerlichen Altertumswissenschaft. Ein hervorstechendes Merkmal der Mehrzahl dieser Untersuchungen ist eine wesentlich unhistorische, von den konkreten sozialen Gegebenheiten abstrahierende Sichtweise. Die Fragwürdigkeit bestimmter methodologischer Grundlagen wird bereits in einem Buchtitel wie „Der hellenische Mensch" deutlich. M. Pohlenz, der Verfasser dieses Buches, zeigt in einer instruktiven Passage der Einleitung, daß er sich einer möglichen Alternative zu dem von ihm verfolgten methodischen Prinzip durchaus bewußt war, was die schließlich getroffene Wahl um so erstaunlicher erscheinen läßt: „Methodisch bieten sich für die Darstellung zwei Möglichkeiten. Wir könnten dem Lauf der Geschichte folgen und etwa zuerst den Hellenen der Urzeit, dann der folgenden Epochen charakterisieren. Aber da würde die Gefahr drohen, daß wir die Einheit des hellenischen Menschen aufspalten und aus den Augen verlieren. Deshalb werden wir besser so vorgehen, daß wir betrachten, wie sich der hellenische Mensch als solcher in seiner Denkweise, in seinem Fühlen und Handeln, in seiner ganzen Lebensführung darstellt, daß wir also grundsätzlich zunächst die Frage aufwerfen, welche Züge zu seinem konstanten Wesen gehören, und erst in zweiter Linie verfolgen, wie sich diese in der Geschichte lebend entwickelt haben." 1 An dieser Auffassung, nach der bestimmte kontinuierliche Elemente, die allenfalls im Ergebnis behutsamer Abstraktion von den konkreten Bedingungen in den einzelnen Epochen gewonnen werden könnten, gewissermaßen als Hypostasen 1
M. Pohlenz, Der hellenische Mensch, Göttingen 1947.
Einleitung
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zum Ausgangspunkt der ganzen Untersuchung gemacht werden, krankt das ganze Buch. Das fiktive Allgemeine, nach dem die historische Entwicklung in ihrer ganzen komplexen Vielfalt zurechtgeschnitten wird, ist bei Pohlenz eine äußerst verschwommene Kategorie des „Volkstums". Auch R. Härder geht in seiner Studie „Eigenart der Griechen" 1 von abstrahierten und generalisierten Merkmalen des „griechischen Menschen" aus. Daß diese Untersuchung trotz dieses methodologischen Prinzips in mancher Beziehung wesentliche, auch historisch relevante Erkenntnisse vermittelt, soll jedoch ausdrücklich hervorgehoben werden. Eine bestimmte Periode in der Entwicklung Athens, das 5. und 4. Jahrhundert, macht F . Egermann zum Gegenstand einer Untersuchung 2 . Aber die gewählte räumlich-zeitliche Beschränkung f ü h r t hier nicht, wie man erwarten könnte, zu einer exakteren historischen Erfassung. Im Gegenteil: Der Verfasser erklärt das 5. J a h r h u n d e r t (vor allem die großen Tragiker) rückblickend aus der Sicht der Platonischen Philosophie, so als ob die Entwicklung des „attischen Geistes" im 5. J a h r h u n d e r t nur ein Präludium zu Piaton darstelle, und liefert auf diese Weise ein sehr einseitiges Bild von seinem Gegenstand. Der bedeutendste Beitrag der bürgerlichen Altertumswissenschaft zum Thema Menschenbild ist zweifellos W. Jaegers Werk „Paideia" 3 . Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, sich mit Jaegers Auffassungen detailliert auseinanderzusetzen. Zugrunde gelegt ist ein umfassender Begriff der Bildung, der im Sinne der sekundären Entwicklung, die das Wort naideia im 4. J a h r h u n d e r t erfahren hat, die gesamte geistige Kultur umfaßt. Das auf geistesgeschichtlicher Grundlage konzipierte Werk ist vor allem durch eine normative Setzung der griechischen Kultur und einen engen, elitären Humanismus-Begriff gekennzeichnet. Ungeachtet solcher Prämissen gelangt der Verfasser im einzelnen zu wertvollen Erkenntnissen, besonders im Hinblick auf die übergreifenden Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Bewußtseins. So haben seine weitgespannten Untersuchungen zu den Formen des griechischen Menschenbildes nicht geringe Bedeutung f ü r eine kritisch differenzierende Forschung. In neuerer Zeit sind eine Reihe antiken Literatur erschienen, die durch die vorgenannten Werke Hypostasierung des „Römertums" 1
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von Untersuchungen zum Menschenbild der in ihrer methodologischen Orientierung die vorgegebene Linie fortsetzen, so z. B. der Tribut zollen'1. Untersuchungen von B. Snell
R. Härder, Eigenart der Griechen. Eine kulturphysiognomische Skizze, Freiburg i. Br. 1962. F. Egermann, Vom attischen Menschenbild, München 1952. W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 1—3, 3. (bzw. 4.) Aufl. (West-)Berlin 1959. E. Burck, Vom Menschenbild in der römischen Literatur, Heidelberg 1966; ders., Das Menschenbild bei Vergil, in: Das Menschenbild in der Dichtung, hrsg. von A. Schaefer, München 1968.
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Einleitung
zum Menschenbild der frühgriechischen Periode 1 gelangen dagegen durch Analyse der Begriffs- und Denkstrukturen zu aussagekräftigen Interpretationen bestimmter Elemente des Weltbildes und des menschlichen Selbstverständnisses. Die vorliegende Sammlung von Einzelstudien erhebt nicht den Anspruch, auch nur ein annähernd vollständiges Bild von den Formen der Menschendarstellung und vom Verständnis des Menschen im 5. und 4. Jahrhundert zu geben. Wesentliche Autoren, Kunstrichtungen, philosophische Systeme bleiben außerhalb der Betrachtung. Es geht auch nicht darum, einen einfachen „Querschnitt" durch die zeittypischen Erscheinungsformen des Menschenbildes dieser Periode zu ziehen. Wir fragen vielmehr nach den epochalen, zukunftweisenden Gedanken, Bildern, Ideen, die zwei sehr bedeutsame Jahrhunderte antiker Geschichte f ü r ein humanistisches Menschenbild erbracht haben. Hier wird auch der übergreifende Bezug von Vergangenheit und Gegenwart deutlich. Wie bei aller Geschichtsbetrachtung geht es nicht um Analyse des Vergangenen um seiner selbst willen. Durch Erkenntnis des Vergangenen gelangen wir zum Verständnis des Heutigen, das Ringen um neue Ziele setzt das Bewußtsein vom zurückgelegten Weg eines langen, an Widersprüchen und Konflikten reichen Kampfes um den gesellschaftlichen Fortschritt voraus. B e r l i n , J u l i 1974 1
RBIMAR MÜLLEB
B. Snell, Die Auffassung des Menschen bei Homer, in: Die Entdeckung des Geistes, 3. Aufl. Hamburg 1955, 17 ff.
Zu einigen Grundzügen der historischen und kulturellen Entwicklung in Griechenland im 5. und 4. Jahrhundert v. u. Z. V o n REIMAR MÜLLER
In diesem Band sind Studien zum Menschenbild einer Periode vereinigt, die für die Entfaltung der griechischen Kultur außerordentlich fruchtbar wurde, ja den eigentlichen Höhepunkt dieser Entwicklung darstellt. Es handelt sich um die Zeit, in der sich die Polisdemokratie in Athen und zahlreichen anderen Stadtstaaten durchsetzte, zu ihrer Blüte gelangte und schließlich in eine tiefgehende Krise geriet, die freilich als eine Zeit des Suchens nach neuen Wegen auch sehr bedeutsam für die kulturelle Entwicklung wurde. Die entscheidenden Entwicklungsanstöße und Durchbrüche haben sich wie im sozialen und politischen so auch im kulturellen Leben in Athen vollzogen, das dadurch in den Mittelpunkt unserer Betrachtung rückt. Spätestens um die Mitte des 5. Jahrhunderts wurde Athen zum kulturellen Zentrum der griechischen Welt, das viele Kräfte aus den anderen Poleis anzog und von dem wiederum entscheidende Impulse ausgingen. Im 4. Jahrhundert war es für die Athener eine umstrittene Frage, wie der Beginn der attischen Demokratie zu datieren sei, eine Frage, die keineswegs nur die Staatstheoretiker beschäftigte, sondern vielmehr in den unmittelbaren politischen Auseinandersetzungen der Zeit ihren Ursprung hatte. Denn je nachdem, wie man den Anfang der demokratischen Ära ansetzte, traf man eine Entscheidung darüber, welche Verfassungsform als Fortsetzung der echten, unverfälschten Tradition der besten Zeit der athenischen Geschichte gelten könne. Daß das Wort „Demokratie" noch immer einen guten Kurswert hatte, beweist die Tatsache, daß es auch von Kräften in Anspruch genommen wurde, die alles andere als demokratisch gesinnt waren, das Schlagwort aber zur Manipulation der öffentlichen Meinung mißbrauchten. So gingen konservative Politiker über Perikles und Ephialtes, über Kleisthenes zurück auf Solon, den sie als Schöpfer der echten Tcârgioç nohreia („Verfassung der Väter") und damit zugleich auch einer wahren Demokratie ausgaben. Richtig war daran lediglich, daß die Solonischen Reformen in der Tat einen wesentlichen Anstoß zu jenem Prozeß der Demokratisierung der athenischen Gesellschaft gaben, der schließlich im 5. Jahrhundert seinen Höhepunkt hatte. Aber das Prädikat „demokratisch" (nach den eigenen Maßstäben der attischen Demokratie) kann deshalb der unter Solon konstituierten Verfassungsform keineswegs zugesprochen
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REIMAR MÜLLER
werden. Um die historische Entwicklung zu verstehen, die schließlich zur Blüte Athens im 5. Jahrhundert geführt hat, müssen wir zunächst einen kurzen Blick auf die vorausgehende Phase gesellschaftlicher Kämpfe und Neuerungen werfen. Um 600 entstanden in dem von der Gentilaristokratie beherrschten Attika schwere soziale Spannungen, die ihre Ursache in der Herausbildung neuer Elemente im ökonomischen und gesellschaftlichen Leben hatten. Handel und Gewerbe entwickelten sich sehr lebhaft, und die Geldwirtschaft begann sich auszubreiten. Die Angehörigen der neuen Schicht der wohlhabenden Gewerbetreibenden und Kaufleute verlangten einen Anteil am politischen Leben und an der Ausübung der Macht, die sozial und politisch unterdrückte Klasse der bäuerlichen und handwerklichen Kleinproduzenten eine entscheidende Besserung ihrer Lage. Um einer Zuspitzung der Situation und dem Ausbruch offener Kämpfe vorzubeugen, einigten sich Aristokratie und Kaufmannschaft auf einen Kompromiß. Solon, Angehöriger einer Adelsfamilie und als Kaufmann zugleich der neuen Schicht verbunden, milderte die schärfsten sozialen Spannungen durch Aufhebung der Schuldsklaverei, in die viele kleine Bauern geraten waren, und Abschaffung der Hörigkeit. Er schuf eine Verfassung, nach der den vier neu eingeführten Ständen nach einem Besitzzensus streng abgestufte politische Rechte zugestanden wurden (594). Der Klassenkampf wurde durch diese Maßnahmen zunächst eingedämmt, aber bald mit unverminderter Heftigkeit fortgeführt. Die Auseinandersetzungen zwischen den Klassen und Schichten der adligen Großgrundbesitzer, der reichen Kaufmannschaft und der freien Kleinproduzenten setzten sich fort und führten, wie in anderen griechischen Städten, schließlich zur Errichtung einer Tyrannis. Peisistratos, einem aristokratischen Geschlecht entstammend, hatte sich an die Spitze der unzufriedenen unteren Volksschichten gestellt und errichtete eine Herrschaft, die die wirtschaftliche Entwicklung, die Entfaltung von Landwirtschaft, Gewerbe und Handel, förderte. Die Zeit der Tyrannis war auch die erste kulturelle Blüteperiode Athens, in deren Verlauf sowohl die architektonische Ausgestaltung der Stadt als auch die Pflege von Kunst und Literatur eine Förderung erfuhren. Als die unter den Nachfolgern des Peisistratos zu einer drückenden Gewaltherrschaft entartete Tyrannis durch Vertreibung des Herrschers 510 zu Ende gegangen war, konnte sich in den wieder auflebenden Klassenauseinandersetzungen die demokratische Partei unter Führung des Kleisthenes durchsetzen. Dieser schuf wesentliche Voraussetzungen für eine weitere Demokratisierung, indem er an die Stelle der alten vier gentilizischen Phylen eine neue Einteilung in zehn Phylen nach territorialen Gesichtspunkten setzte und damit letzte Überreste der Gentilordnung (d. h. wesentliche Machtpositionen der Aristokratie) aus der staatlichen Organisation entfernte. Von den vier Ständen der erhalten gebliebenen Solonischen Ordnung nach dem Besitzzensus kamen nur die beiden ersten für die Besetzung der obersten Staatsämter in Frage, drei von ihnen hatten Zugang zum B.at, während die besitzlosen Freien auch hier aus-
Grundzüge der Entwicklung in Griechenland im 5. u. 4. Jh. v. u. Z.
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geschlossen blieben. Die gesamte Bürgerschaft bildete die souveräne Volksversammlung und loste aus ihrer Mitte die Mitglieder der Geschworenengerichte. Nach der siegreichen Beendigung der Perserkriege rückte Athen in die vorderste Reihe der griechischen Mächte und wurde zum Rivalen der bisherigen Vormacht Sparta. Durch die Gründung des Delisch-Attischen Seebundes konnte es seine Machtstellung weiter ausbauen. Indessen ging das Ringen zwischen den K r ä f t e n des grundbesitzenden Adels und den mittleren und unteren Schichten des Demos, die um volle politische Gleichberechtigung kämpften, unvermindert weiter. I n den ersten Jahrzehnten nach den Perserkriegen war der K a m p f zwischen den beiden Gruppen durch das Verhältnis Athens zu Sparta und Persien stark mit außenpolitischen Fragen verquickt. I m J a h r 462 gelang Ephialtes, dem Führer der demokratischen Partei, ein entscheidender Durchbruch. Der Areopag, Zentrum und Stütze aller konservativen Kräfte, der seinen großen politischen Einfluß auch nach der Reform des Kleisthenes behalten und durch Ausübung des Vetorechts gegen Beschlüsse der Volksversammlung geltend gemacht hatte, wurde entmachtet und behielt lediglich kultische Funktionen und die Blutgerichtsbarkeit. Nachdem Ephialtes im J a h r e 461 ermordet worden war, trat Perikles an die Spitze der demokratischen Kräfte. Unter Perikles erreichte die Entwicklung der Demokratie ihren Höhepunkt. Die Tendenz zu einer Verbreiterung der Basis der politischen Herrschaft setzte sich fort in einer Reihe von Maßnahmen, die bestimmt waren, die Teilnahme der unteren Schichten der freien Bevölkerung am politischen Leben zu erleichtern. Für die Mitglieder der Geschworenengerichte und des Rates wurden Diäten eingeführt, die den Verdienstausfall bei Leistungen f ü r das Gemeinwesen ausgleichen sollten. I m kulturellen Bereich — einem wichtigen Teil des Lebens der Polisgesellschaft — entsprach dem die Aussetzung von „Schaugeldern", die bei der Teilnahme an den dramatischen Aufführungen im Rahmen des Staatskultes gezahlt wurden. Der Verbreiterung der politischen Basis diente gleichfalls, daß nunmehr auch die Mitglieder der dritten Schätzungsklasse höchste Beamte des Staates, Archonten, werden konnten. Über diese Grenze ging man nicht hinaus. Die Theten, die besitzlosen Freien, blieben von diesem Recht ausgeschlossen, so daß also das Prinzip der Isonomie, der Gleichheit der politischen Rechte, nicht konsequent durchgeführt wurde. Dennoch ist die Tendenz offenkundig, für die gesamte freie Bürgerschaft einen privilegierten Sonderstatus zu schaffen, der die Bürger von der Masse der Gesamtbevölkerung abhob. Die Frauen, die Metöken (freie Ansiedler ohne Bürgerrecht) und die Sklaven, d. h. die Mehrheit der Bevölkerung, blieben von diesen Rechten ausgeschlossen. Worin bestanden die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen, die einen solchen Status ermöglichten? Zunächst ist hervorzuheben, daß nach den Perserkriegen das Wirtschaftsleben Athens eine Blütezeit erlebte. Die gewerbliche Produktion stieg an. Es entstanden auch mittelgroße Betriebe, die zu manufaktureller Fertigung übergingen. Vor allem spielte die Verwendung von Sklaven auf verschiedenen Gebieten der Produktion eine immer größere Rolle. Das gilt vom gesamten gewerblichen Bereich, es gilt vor allem vom Bergbau, der 2 Der Mensch
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zu einer ergiebigen Einnahmequelle des Staates und privater Unternehmer wurde, die als Pächter die im Staatsbesitz befindlichen Bergwerke betrieben. Nutzen aus der Sklavenarbeit zogen aber auch Eigentümer kleiner Handwerksbetriebe, die mit wenigen Hilfskräften arbeiteten, und die kleinen Bauern. Neben der Sklavenarbeit behielt auch die freie Lohnarbeit einen nicht unwesentlichen Anteil. Eine zweite wesentliche Quelle, die vor allem der finanziellen Absicherung der kostspieligen Aufwendungen des Staates diente, war die Ausbeutung der Mitgliedsstaaten des attischen Imperiums. Der Delisch-Attische Seebund, begründet als Verband griechischer Poleis zur Abwehr der persischen Bedrohung, wurde im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zu einem Instrument athenischer Machtpolitik und zu einem nahezu unerschöpflichen Reservoir finanzieller Mittel. Der gemeinsame Fonds des Bundes, durch regelmäßige Zahlungen laufend erweitert, wurde im Jahre 454 von Delos nach Athen verlegt. Danach begann Athen in wachsendem Maße über diese Gelder und die weiterhin jährlich einlaufenden Tribute frei zu verfügen. Aus den Tributen, aber auch den Gerichtskosten, die Angehörige der Bundesstaaten für in Athen geführte Prozesse zu entrichten hatten, und aus Zöllen flössen die reichen Mittel, die den Athenern die großen Aufwendungen für Tagegelder, Getreideversorgung und öffentliche Arbeiten, wie sie aus einem aufwendigen Bauprogramm des Perikles erwuchsen, ermöglichten. Nicht nur die Sklaverei, sondern auch die Unterdrückung und Ausbeutung der Bundesgenossen bilden also die soziale Grundlage, auf der die Polisdemokratie Athens in der Zeit ihrer größten Blüte beruhte. Demokratie, Sklaverei, imperiale Politik und hoher Entwicklungsstand der Kultur erweisen sich als Komponenten, die sich nicht nur nicht ausschlössen, sondern gegenseitig bedingten. Mit der Durchsetzung der Demokratie im 5. Jahrhundert in Athen und anderen griechischen Stadtstaaten vollzog sich in der gesellschaftlichen Stellung und im Selbstverständnis breiterer Schichten ein bedeutsamer Wandel. Wenn auch noch immer gegenüber den Nichtprivilegierten exklusiv, gewann dennoch das politisch-kulturelle Leitbild des Polisbürgers gegenüber den Leitbildern der frühen griechischen Gesellschaft (dem Ideal des homerischen Helden, dem aristokratischen Typ der Kalokagathie) durch Einbeziehung auch der unteren Klassen der freien Bevölkerung eine wesentlich breitere gesellschaftliche Basis. Dieses neue Leitbild ist vor allem gekennzeichnet durch die mehr oder minder intensive Teilnahme aller oder doch wenigstens der Mehrzahl der Polisbürger am politischen Leben. So entstand ein gemeinschaftsbezogenes Lebensideal, wurde bei breiten Kreisen der Bürger das Bewußtsein der Verantwortung für das Gedeihen des Gemeinwesens geweckt. Die Teilnahme an den öffentlichen Beratungen in Volksversammlung, Rat und Gerichtshöfen ließ in gewissem Umfang auch die intellektuellen Fähigkeiten von Menschen aus den unteren Schichten zur Entfaltung kommen, wobei freilich die Dominanz der durch rhetorische und sonstige höhere Bildung geschulten Angehörigen der wohlhabenden Klassen und Schichten e i n e der Schranken war, die der Realisierung
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der formalen politischen Gleichheit im Wege standen. Auch die Teilnahme am kulturellen Leben der Polisgesellschaft, die Begegnung mit den großen Werken der Dichtung bei den kultischen Festen und den Schöpfungen der bildenden Kunst, die in öffentlichem Auftrag entstanden, förderten in gewissem Grade die Entwicklung der geistigen und ästhetischen Potenzen einer größeren Zahl von Bürgern. Wesentliche Züge des politisch-kulturellen Leitbildes, wie es sich in dieser Zeit ausgeprägt hat, werden f ü r uns in der Gefallenenrede, die der Historiker Thukydides dem Staatsmann Perikles in den Mund legt, greifbar. Wir können von der umstrittenen Präge nach der Authentizität dieser Rede hier absehen. Aus unserer Kenntnis der historischen Entwicklung in dieser Periode gewinnen wir den Eindruck, daß Thukydides als ein scharfer und hellsichtiger Beobachter des zeitgenössischen Geschehens ein im wesentlichen zuverlässiges Bild geschaffen hat. Es vermittelt uns einen Eindruck von Leitvorstellungen und Parolen, die einige Jahrzehnte athenischer Politik mit geprägt haben. Einige wesentliche Elemente dieses Selbstverständnisses der athenischen Demokratie, wie es uns bei Thukydides entgegentritt, sollen hier kurz beleuchtet werden (einer detaillierten Analyse ist der Beitrag S. 167 ff. gewidmet). Als zentrales Motiv tritt zunächst die „Isonomie" hervor (II 37): Gleiches Recht für alle und politische Gleichheit, die es erlaubt, nicht nach den Intentionen weniger, sondern gemäß der Entscheidung der Mehrheit zu leben, werden als entscheidende Errungenschaften gegenüber der oligarchischen Herrschaftsform hervorgehoben. Darüber hinaus wird eine soziale Gleichheit behauptet, nach der die Wertschätzung des einzelnen im Gemeinwesen nicht auf Vorzügen der Geburt und der sozialen Zugehörigkeit, sondern auf dessen dgexfj, seiner Leistungsfähigkeit und tatsächlichen Leistung, beruhe. Auch durch Armut werde niemand gehindert, seinen Beitrag f ü r die Gesellschaft zu leisten. E s war schon darauf hinzuweisen, daß nicht einmal die formale politische Gleichheit so vollständig durchgeführt war, wie es hier erscheinen soll. Daß die starken wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede unübersteigbare Schranken vor der behaupteten „Chancengleichheit" im politischen Leben errichteten, wird als eine das Idealbild von einer homogenen Bürgergemeinde störende Wahrheit übersehen oder bewußt beiseite geschoben. Als Ausdruck der politischen Mitverantwortung der breiteren Schichten der freien Bürgerschaft erscheint es dennoch als bedeutsam, daß die Teilnahme am öffentlichen Leben nicht nur als ein Recht, sondern als eine Pflicht bezeichnet wird. Wer sich dieser Pflicht entziehe, müsse nicht nur als ein Müßiggänger, sondern als unnützes Glied der Gesellschaft gelten (II 40). Dabei wird auch der realen Situation einer sehr lebhaften Entwicklung auf wirtschaftlichem Gebiet, wie sie sich besonders in der starken Entfaltung der Warenproduktion äußert, Rechnung getragen und das Ideal eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen den daraus erwachsenden persönlichen Verpflichtungen und der Wahrung der Gemeinschaftsinteressen aufgestellt. Es seien dieselben Leute, die für ihre persönlichen und die öffentlichen Angelegenheiten Sorge 2«
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tragen, und ungeachtet dieser vielfältigen Ansprüche könnten die Bürger doch in die Probleme des Gemeinwesens hinreichenden Einblick gewinnen ( I I 40). Das Ideal einer vielseitig und harmonisch ausgebildeten Persönlichkeit tritt dann deutlich hervor, wenn es im Hinblick auf die Ausformung des einzelnen heißt, daß er sich den meisten Lebensbereichen mit „Anmut, Gewandtheit und in eigenständiger Verantwortlichkeit" zuzuwenden vermöge ( I I 41). Hier ist auch bereits ein dritter Lebensbereich, neben Wirtschaft und Politik, ins Auge gefaßt, den der Redner als wesentlich hervorhebt. Auch die Pflege von Kunst und Wissenschaft wird in unmittelbarer Einheit mit den gültigen Idealen der Gesellschaft gesehen, wenn es heißt, die Liebe zum Schönen äußere sich ohne Verschwendung, die Liebe zur Weisheit frei von Verweichlichung ( I I 40). Dem Versuch, diese Ideale und Leitvorstellungen mit den realen Lebensbedingungen der attischen Bürger in der Mitte des 5. Jahrhunderts zu konfrontieren, stehen angesichts der begrenzten historischen Quellen nicht geringe Schwierigkeiten entgegen. Daß die Möglichkeiten, sich dem von Thukydides geschilderten Idealbild anzunähern, für die Mitglieder der verschiedenen Klassen und Schichten sehr unterschiedlich waren, wurde schon angedeutet. In etwas differenzierterer Betrachtung soll vor allem dem für die Entfaltung der individuellen Potenzen wesentlichen Verhältnis von unmittelbar produktiver Tätigkeit und Muße, frei verfügbarer Zeit, Aufmerksamkeit geschenkt werden. Unter diesem Aspekt sind innerhalb der freien Bürgerschaft vor allem drei Schichten zu unterscheiden: 1. Eine wohlhabende Oberschicht (?iXovaioi), die sich aus Elementen unterschiedlicher Herkunft zusammensetzt. Zunächst gehört ihr die alte Aristokratie an, der grundbesitzende Adel ebenso wie Kreise, denen der Übergang zu modernen Wirtschaftsformen (etwa in Gestalt von Handelsunternehmungen, der Ausbeutung von Bergwerken usw.) gelungen ist. Dazu kommt die Schicht der Großkaufleute, Reeder, Besitzer von Manufakturen, die vorwiegend von Sklaven betrieben werden. Sie alle leben von den Erträgen ihres Vermögens, ihrer Investitionen und Betriebe. Sie haben keinen Anteil an der unmittelbar produktiven Tätigkeit, d. h. sie sind von der Verwaltung ihres Vermögens, der Leitung der Betriebe usw. entlastet, die sie auf Vertrauensleute (oft Sklaven) übertragen. Sie sind im vollen Besitz der Muße, die — modern ausgedrückt — ihr Statussymbol ausmacht und die Grundlage für ihr Bildungsideal darstellt: das aus der altaristokratischen Gesellschaft in die Polisdemokratie übernommene Leitbild der Kalokagathie, der harmonischen Ausbildung der körperlichen und geistig-sittlichen Potenzen durch gymnastische, musische und nunmehr auch wissenschaftliche Erziehung und Bildung. Der Gebrauch, den diese Schicht von der Muße macht, ist sehr vielfältig: Er reicht von der als angesehenste Lebensform geltenden politischen Tätigkeit über wissenschaftliche und künstlerische Betätigung bis zu bloßem Müßiggang. 2. Die mittleren und unteren Klassen und Schichten, d.h. die, die nicht genügend besitzen, um davon leben zu können, und selbst arbeiten müssen (nevrjTeg), d. h. kleine Handwerker, Kaufleute, Bauern und freie Lohnarbeiter. Auch sie
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besitzen (mit Ausnahme der Lohnarbeiter) häufig Sklaven, einen oder mehrere, die als Haussklaven, aber auch in produktiver Tätigkeit auf dem Feld und in der Werkstatt verwendet werden. Ihnen steht das Recht zu, in der Volksversammlung, im Rat, in den Gerichten aktiv zu werden, Ämter auszuüben, an kultischen Festen teilzunehmen. Sie haben aber auf Grund ihres sozialen Status trotz der Diätenzahlungen nur in beschränktem Umfang die Möglichkeit, von ihren verfassungsmäßigen Rechten Gebrauch zu machen (z. B. die Bauern, sofern sie von der Landarbeit in Anspruch genommen sind). 3. Deklassierte (mayoi): Arbeitslose, Bettler. Wir stellen also in der sozialen Hierarchie der demokratischen Polis des 5. Jahrhunderts eine Abstufung des privilegierten Status fest, die nicht zu übersehende Folgen für die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung mit sich bringt. Da ist die große Menge der unteren Schichten, die gegenüber den Sklaven und Metöken den privilegierten Status des Bürgers genießt und in der Teilnahme am politischen und kulturellen Leben der Polis gewisse Möglichkeiten für die Entwicklung persönlicher Potenzen findet. Darüber befindet sich gewissermaßen auf einer zweiten Stufe der Exklusivität die Oberschicht der von produktiver Arbeit Freigestellten. Sie hat in Anknüpfung an alte aristokratische Tradition das Ideal des körperlich und geistig vielseitig gebildeten Menschen entwickelt und ist in ihren besten Vertretern Träger des enormen Fortschritts, der sich in dieser Zeit auf dem Gebiet der künstlerischen (sofern es die Literatur betrifft) und philosophisch-wissenschaftlichen Tätigkeit abzeichnet. Während die unteren Schichten an dieser Entwicklung (auf dem Gebiet der Dichtung und Kunst) nur rezipierend teilhaben, nutzt eine Reihe von Angehörigen der Oberschicht die Muße auch für s c h ö p f e r i s c h e geistige Tätigkeit. Das Bildungsideal dieser Oberschicht beruht, wie gezeigt wurde, auf der Voraussetzung völliger Befreiung von der unmittelbar produktiven Arbeit. Demgemäß wird auch die körperliche Arbeit aus der Reihe der persönlichkeitsbildenden Faktoren ausgeschlossen und fällt in wachsendem Maße der Verachtung anheim, eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt freilich erst im 4. Jahrhundert findet, wo wir sie mit einer Vielzahl von Äußerungen bei Xenophon, Piaton, Aristoteles u. a. belegen können. Im 5. Jahrhundert wird diese Tendenz, wie man vermuten darf, noch in gewissem Maße zurückgedrängt durch die Absicht, die Herausbildung eines einheitlichen Elitebewußtseins, an dem auch die unteren Schichten teilhaben können, nicht zu stören. Die oben angeführten Gedanken aus der Periklesrede bei Thukydides sprechen in dieser Hinsicht eine deutüche Sprache. Aussagen über den tatsächlichen Stand der Bildung breiterer Schichten der Polisbevölkerung lassen sich nur bedingt machen. Obwohl es in Athen kein staatliches Schulwesen und keine Schulpflicht gab, kann man doch damit rechnen, daß zumindest ein Teil auch der unteren Schichten der Bevölkerung, nicht zuletzt, um den aus dem öffentlichen Leben erwachsenden Pflichten gerecht zu werden, Lesen und Schreiben erlernt hat. Dagegen bleibt die höhere Bildung, wie sie jetzt von den Sophisten vermittelt wird, das Privileg der oberen Schichten. Diese Bildung stellt lediglich insofern eine Neuerung dar,
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als durch sie das einseitige Bildungsprivileg des Adels gebrochen wird und nunmehr auch diejenigen Kreise des Demos, die in die Ober- und Führungsschicht aufsteigen, in den Genuß vor allem politischer Bildung gelangen. Daß sich auch auf diesem Gebiet mit dem Aufstieg der neuen Klasse der Kaufmannschaft schon im 6. Jahrhundert neue Entwicklungen anbahnen, wird aus der Verächtlichkeit deutlich, mit der manche Verfechter der Adelsherrschaft diejenigen abfertigen, die ihre Vorzüge nicht blutsmäßiger Herkunft, sondern durch Lernen erworbenen Fähigkeiten verdanken. Aber auch das neue, von den Sophisten vermittelte Wissen ist in der demokratischen Polis nur Bildung f ü r die politische Führungsschicht, wie man aus Bemerkungen im Platonischen „Protagoras" zuverlässig entnehmen kann. Daß das Ideal der Kalokagathie im 5. Jahrhundert über die Kreise des Adels hinaus von der wohlhabenden Oberschicht des Demos rezipiert wird, haben wir bereits hervorgehoben. Seine Begrenzung auf diese Kreise ist schon darin gegeben, daß seine Verwirklichung eine völlig freie Verfügung über die Zeit voraussetzt, denken wir nur an die mit diesem Ideal verbundenen sportlich-gymnastischen Übungen und den Grad geistiger Durchbildung, wie er durch intensivere Befassung mit Kunst und Wissenschaft erreicht wird. Aber auch die Kehrseite dieser Idealbildung, die Abwertung „nützlicher" Tätigkeiten in der Sphäre der „niederen" Lebensnotwendigkeit hat ausschließende Folgen. Ein xanr/kog (kleiner Händler) kann nach dieser Auffassung nicht die Kalokagathie besitzen, wie V. Ehrenberg im Sinne dieser Voraussetzungen treffend bemerkt. Die breiteren Kreise der freien Polisbevölkerung haben Anteil an der geistigen Kultur vorwiegend in Gestalt der Kunst, d. h.vor allem des Theaters und der bildenden Kunst, wie sie in der Öffentlichkeit der Polis in Erscheinung treten. Die Bedeutung dieser ästhetischen Bildung sollte nicht unterschätzt werden. Sie reicht auch über den rein ästhetischen Bereich hinaus. Bedenkt man, in welch enger Verbindung zum Fortschritt des philosophischen Denkens sich die Entwicklung der Tragödie von Aischylos bis zu Euripides vollzieht, so wird deutlich, daß breitere Kreise der attischen Bevölkerung zumindest auf diesem Wege mit neuen Gedanken vertraut wurden. I n gewissem Umfang kann man auch voraussetzen, daß manche neuen Theorien und Erkenntnisse auch in anderer Weise, wenn auch in popularisierter und bisweilen entstellter Form, bekannt wurden, etwa durch sophistische Lehrvorträge vor einem größeren Publikum. Jedenfalls ist bemerkenswert, daß Aristophanes in seinen Stücken bei der Persiflage verschiedener Lehren der Sophistik, des Anaxagoras oder des Sokrates offenbar eine zumindest oberflächliche Vertrautheit der Zuschauer mit derartigen Gegenständen voraussetzt, da er sonst f ü r solche Anspielungen kaum eine Wirkung hätte erhoffen können. Dabei spekuliert Aristophanes offenkundig auf die ablehnende Haltung der Mehrheit seines Publikums gegenüber den „neumodischen" Erscheinungen der Aufklärung in Philosophie und Literatur, ein Phänomen, zu dessen Erklärung wir etwas weiter ausholen müssen.
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Wir sehen uns im 5. Jahrhundert einer starken Differenzierung der weltanschaulich-ideologischen Positionen und damit auch des Menschenbildes gegenüber. Diese Differenzierung entspricht der Entwicklung, die sich in dieser Zeit auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet vollzog. Von Anfang an war die demokratische Polisideologie durch eine ausgeprägte individualistische Komponente gekennzeichnet, die sich aus der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung im 5. Jahrhundert erklärt. An der starken Entwicklung der Warenproduktion, die im 5. Jahrhundert nicht zuletzt auf der Grundlage der sich ausbreitenden Sklaverei zu verzeichnen war, hatten jene Schichten des städtischen Demos erheblichen Anteil, die auch zu wesentlichen Trägern der Demokratie wurden. So ist in der demokratischen Ideologie neben dem Gedanken der politischen Gleichheit und der Orientierung auf die Gemeinschaftsinteressen der Polis die Ausrichtung auf die individuellen, vor allem wirtschaftlichen Interessen des einzelnen bemerkbar, wie sie mit besonderer Klarheit bei einem sophistisch beeinflußten Autor wie dem Anonymus Iamblichi hervortritt. Solange sich die divergierenden Tendenzen einigermaßen die Waage hielten, ging von ihnen für die demokratische Polis keine unmittelbare Gefahr aus. Aber es liegt auf der Hand, daß in der demokratischen Ideologie ein tiefer Zwiespalt angelegt war, daß diese den Keim zu ihrer Auflösung von Anfang an in sich trug. Daneben entstanden radikale gesellschaftstheoretische Konzeptionen, die über den Rahmen der demokratischen Polis hinausgingen: die Ideen eines Antiphon von der „natürlichen" Gleichheit aller Menschen, ob sie nun Hellenen oder „Barbaren" seien, und dessen Kritik an der sozialen Ungleichheit zwischen Reich und Arm. Wie die gesellschaftstheoretische wuchs auch die naturphilosophisch-weltanschauliche und religionskritische Aufklärung über die Schranken hinaus, die von der traditionellen demokratischen Polisideologie vorgezeiehnet waren. Es sei hier an den, sicher zu Recht, in der Antike immer wieder als verdeckt atheistisch apostrophierten, religiösen Agnostizismus des Protagoras oder an die Lehre des Anaxagoras erinnert, der die aufklärerische Tradition der ionischen Naturphilosophie im Athen des 5. Jahrhunderts fortsetzte und durch eine rein immanente Erklärung des Naturgeschehens, vor allem auch durch explizite Leugnung der Göttlichkeit der Gestirne in Gegensatz zur bestehenden Staatsreligion geriet. Es ist schwer zu bestimmen, in welchem Ausmaß Perikles selbst sich die Gedanken der zeitgenössischen Aufklärung zu eigen gemacht hat. Zumindest erfreute sie sich seiner wohlwollenden Duldung, offenbar aber aktiven Förderung. Damit wurde Perikles selbst zum Ziel der starken Opposition gegen die Aufklärung. Die scharfe Abwehr der Aufklärungstendenzen erfolgte einmal von Seiten der konservativ-oligarchischen Kräfte Athens. Die ideologischen Auseinandersetzungen stellten einen wesentlichen Aspekt der politischen Kämpfe zwischen den oligarchischen und den demokratischen Kräften dar, die der Durchsetzung der konsequenten Demokratie im Jahre 462 vorausgingen und auch nach dieser ihre Fortsetzung fanden. Die aristokratischen Kreise, die in
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bestimmten Perioden zu immer erneuten Angriffen auf die Politik des Perikles ansetzten und dabei dessen Person ebenso wie seinen Freundeskreis zur Zielscheibe ihrer Polemik machten, wandten sich nicht zuletzt auch gegen die aufklärerischen Ideen, die in der demokratischen Polis, von den geistig führenden Kräften gefördert, Verbreitung fanden. Diese Entwicklung hatte ihren Höhepunkt in den Religionsprozessen, die gegen Anaxagoras und Protagaros angestrengt wurden. Voraussetzung für die gegen Anaxagoras eingebrachte Klage war ein von einem Exponenten der oligarchischen Partei, dem Orakeldeuter Diopeithes, beantragtes Gesetz über die Unzulässigkeit eines Abgehens von der offiziellen Staatsreligion und insbesondere der Verbreitung neuer Lehren über die Himmelskörper. Daß solche Anklagen eine gesetzliche Basis fanden und mit Erfolg erhoben werden konnten, ist in der besonderen politischen und ideologischen Situation Athens in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts begründet. Die durch die sophistische und naturphilosophische Aufklärung bewirkten Neuerungen im geistigen Leben stießen auch bei den unteren Schichten des Demos auf heftige Ablehnung. Dieser Widerspruch zwischen der Einstellung der Mehrheit des demokratisch orientierten Demos und einer auf der Grundlage der Polisdemokratie erwachsenen progressiven Ideologie bedarf der Erläuterung. Die widerspruchsvolle Situation, die auf ideologischem Gebiet zutage tritt, ist nur ein Widerschein der sozialen Problematik, die die demokratisch organisierte Polis in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts kennzeichnet. Durch die relativ starke Entwicklung der Waren- und Geldwirtschaft wurde die soziale Differenzierung in solchem Maße gefördert, daß sich das Mißverhältnis zwischen politischer Gleichheit und wirtschaftlicher Ungleichheit vertiefte. Die wirtschaftliche Entwicklung, die wesentlich auch von den Metöken getragen wurde, stellte, wie sich in der Krisensituation um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert zeigte, auch die Frage einer Erweiterung des Bürgerrechts auf die Tagesordnung. In dieser Lage stellte sich die Masse der Bauern, Handwerker und freien Lohnarbeiter gegen eine Entwicklung, die einerseits (durch die wachsende soziale Differenzierung) ihren wirtschaftlichen Ruin, andererseits (bei einer Erweiterung des Bürgerrechts) den Verlust ihres privilegierten Status, insgesamt ein Absinken ihres wirtschaftlichen und sozialen Standes mit sich bringen mußte: Erscheinungen, die im Verlauf der weiteren Entwicklung im 4. Jahrhundert auch tatsächlich eingetreten sind, wenn auch im Hinblick auf die politischen Rechte durch einen Prozeß der inneren Aushöhlung, nicht so sehr durch Änderungen im formalen rechtlichen Status. Unter diesen Umständen wird es verständlich, daß diese Schichten auf Tendenzen im geistigen Leben ablehnend reagierten, die diesen Trend zur Unterminierung der Grundlagen der Polis unterstützten: eine Aufklärung, die zur Zersetzung der Staatsreligion, einer wesentlichen Stütze der alten Polis, führen mußte, und sozialpolitische Anschauungen wie die erwähnten Gleichheitsvorstellungen, die diese Ordnung gleichermaßen in Frage stellten. Aber abgesehen von ihren spezifischen Inhalten wurde diese ganze neue, auf
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die besitzende Oberschicht beschränkte Bildung schon deshalb von den unteren Schichten der Polisbevölkerung mit Mißtrauen betrachtet, weil sie die bestehenden sozialen Unterschiede nur noch weiter vertiefte. Die Krise der Polis zeigte sich auf kulturellem Gebiet am Ende des 5. Jahrhunderts auch darin an, daß die einheitliche, für die Mehrheit der Polisgesellschaft zugängliche Kultur sich aufzulösen begann. Es setzte jener Prozeß ein, der zur Aufspaltung in eine elitäre Kultur der gebildeten Oberschicht und eine Massenkultur der unteren Schichten führte. Im 4. Jahrhundert setzte sich in Athen in verstärktem Maße jene Entwicklung fort, die bereits in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts, in der Endphase des Peloponnesischen Krieges, begonnen hatte: die Verarmung großer Teile der unteren Klassen und Schichten. Das gilt, nicht zuletzt infolge der unmittelbaren Auswirkungen des Peloponnesischen Krieges, in besonderem Maße für die kleinen Bauern. Viele von ihnen gaben nach der im Krieg eingetretenen Verwüstung der Felder und Höfe ihre Wirtschaft auf. Der Besitz von Grund und Boden unterlag in gewissem Maße einer Konzentration, eine Entwicklungstendenz, die mit dem größeren Einsatz von Sklaven auch in der Landwirtschaft übereinstimmte. Im übrigen ergaben sich Verschiebungen in der landwirtschaftlichen Produktion auch dadurch, daß der Getreideanbau weiter zurückging, da die Erzeugung von Wein, Oliven, Gemüse usw. sich als ergiebiger erwies. Die Teile der Landbevölkerung, die in die Stadt abwanderten, fanden dort nur in beschränktem Maße Arbeit. Die weiter zunehmende Beschäftigung von Sklaven in der gewerblichen Wirtschaft stellte für die freie Lohnarbeit eine ernste, die Löhne auf ein Minimum herabdrückende Konkurrenz dar. Im Zusammenhang mit der wachsenden Einbeziehung von Sklaven in die gewerbliche Produktion gewannen die mittleren und größeren Manufakturbetriebe noch an Bedeutung, was sich zum Nachteil der handwerklichen Kleinproduktion auswirkte. So verloren auch kleine Handwerker ihre Existenz. Zusammen mit den in die Stadt abgewanderten Bauern bildeten sie ein städtisches Proletariat, das von den Zahlungen des Staates (Diäten wurden bereits seit dem Ende des 5. Jahrhunderts auch für den Besuch der Volksversammlung gezahlt) und Getreideverteilungen lebte und das Reservoir für die Söldnertruppen bildete, die in den Poleis an die Stelle der Bürgerheere traten. Dieser Prozeß der Verarmung der unteren und mittleren Schichten hatte sein Gegenstück im wachsenden Wohlstand der Oberschicht, die sich wie im 5. Jahrhundert aus Großgrundbesitzern, Manufakturbesitzern und Großkaufleuten zusammensetzte. Allerdings zeigten sich auch bald unübersteigbare Grenzen für die weitere Ausdehnung der Waren- und Geldwirtschaft. Schwierigkeiten entstanden vor allem für den Export, da in den einst unterentwickelten Gebieten Griechenlands neue Produktionszentren entstanden waren, die als Abnehmer für athenische Produkte nun nicht mehr in Frage kamen, und neue Märkte sich nur in beschränktem Maße erschließen ließen. Der Status der Polis, der angesichts der geringen militärischen Potenzen eine größere politische Machtbildung und
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Expansion nicht mehr zuließ, erwies sich unter diesen Umständen für eine wirtschaftliche Expansion als nachteilig. Die Krisenerscheinungen wurden durch die starken sozialen Spannungen, die in Athen wie in vielen anderen Poleis bestanden, noch erheblich verschärft. Besonders die Forderung nach Schuldentilgung und Aufteilung des Bodens begann wieder eine größere Rolle zu spielen. Zwar gelang Athen, nachdem es sich von den Folgen der Niederlage im Peloponnesischen Krieg und des oligarchischen Putsches an dessen Ende relativ schnell erholt hatte, 377 die Gründung eines neuen Seebundes, es mußte aber nunmehr die Autonomie der Bundesgenossen respektieren und konnte eine Vormachtsstellung, die mit der im 5. Jahrhundert vergleichbar wäre, nicht mehr erringen. Eine zeitweilige Dominanz Spartas, die durch ein Abkommen mit Persien erreicht wurde, fand mit dem Sieg Thebens im Jahre 371 ihr Ende. Die danach einsetzende Phase der thebanischen Hegemonie verwandelte sich bald in ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte und eine wechselseitige Garantie der Autonomie durch Staaten und Staatenbünde. Unter dem Druck der im Norden Griechenlands aufkommenden starken makedonischen Macht, die Nord- und Mittelgriechenland unter ihre Herrschaft brachte und schließlich die Athener, Thebaner und ihre Bundesgenossen 338 besiegte, wurde die Schwäche der griechischen Poleis vollends offenbar. Weitblickende Politiker waren schon vorher für eine Politik eingetreten, die sich nach dem makedonischen Sieg schließlich durchsetzte: eine panhellenische Vereinigung unter makedonischer Herrschaft mit dem Ziel der Expansion gegenüber Persien. Bei den panhellenischen und promakedonischen Tendenzen maßgeblicher Kreise der Oberschicht in Athen und anderen Poleis hatten die Auswirkungen der Krise von Anfang an eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Das zeigt die erklärte Expansionsabsicht gegenüber Persien ebenso wie das Bestreben, die in den Poleis bestehenden sozialen Spannungen unter Kontrolle zu halten. I n dem von Philipp und den griechischen Staaten geschlossenen Bündnisvertrag von Korinth waren auch Maßnahmen für die Unterdrückung von Bewegungen vorgesehen, die auf Schuldentilgung, Landaufteilung, Beschlagnahme von Eigentum und Sklavenbefreiung abzielten. Die krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung hatte auch tiefgreifende Auswirkungen auf das gesellschaftliche und politische Leben der Polis. Zwar blieben die demokratischen Organisationsformen erhalten, aber mit den Verschiebungen in den Besitzverhältnissen ging auch eine weitere Verlagerung des Schwergewichts der politischen Macht auf die Oberschicht einher. Andererseits wurde die Bereitschaft, finanzielle Leistungen für den Staat zu übernehmen, immer geringer. Mit wachsender Polarisierung der Besitzverhältnisse erwies sich das Ideal einer relativ homogenen Bürgerschaft vollends als illusionär und war nicht einmal mehr als Fiktion aufrechtzuerhalten. Charakteristisch ist hierfür, daß Aristoteles in der „Politik" für seinen Idealstaat den Ausschluß der arbeitenden Klassen (rd ßavavaov) vom Bürgerrecht fordert ( V I I 9, 1328b 39ff.; 1329 a 17ff.) Diese Forderung bezieht sich, wie der Philosoph erläutert,
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auf Tagelöhner, Kleinbauern, Handwerker und kleine Kaufleute. Das Bürgerrecht soll auf die besitzenden Schichten eingeschränkt werden, die von ihrem Vermögen leben und sich infolgedessen ganz dem Dienst an der Polis widmen können. Aristoteles macht auch deutlich, daß die in dieser Forderung zum Ausdruck kommende Abwertung der unteren Klassen f ü r ihn schlechthin, also auch im realen Staat Gültigkeit hat. Da allen, die im Interesse ihres Lebensunterhalts praktisch arbeiten, die Muße fehlt, sind sie nach seiner Auffassung zwar Bürger im staatsrechtlichen Sinn, aber nicht standesgemäß im Sinne eines gesellschaftlichen Standards, der den vollen Genuß der Muße zu seinem Symbol erhebt. Die auf der Grundlage der demokratischen Polis erwachsene Kultur h a t t e ihr Ende gefunden. Die durch die starke soziale Differenzierung bewirkte Polarisierung der politischen K r ä f t e blieb nicht ohne Folgen auch f ü r das geistige Leben der Gesellschaft. Es nimmt nicht wunder, daß sich nun die Welt- und Lebensanschauungen und damit auch das Menschenbild der unterdrückten Klassen und Schichten in einer durchaus eigenständigen Weise, die auch vom gewachsenen Selbstbewußtsein dieser Menschen Zeugnis ablegt, artikulierten. Das bedeutendste Zeugnis dieser neuen Entwicklung bietet f ü r uns die kynische Philosophie, die den alten Werten und Normen der Polis neue Wertvorstellungen entgegenstellt: dem Leitbild einer privilegierten Polisbürgerschaft das Ideal der Gleichheit der Menschen über soziale und ethnische Schranken hinweg; dem Reichtum und Luxus der Wohlhabenden das Prinzip eines einfachen Lebens in Bedürfnislosigkeit; der Verachtung der produktiven Arbeit durch die herrschende Oberschicht die betonte Hochschätzung jeder Art von körperlicher und geistig-sittlicher Anstrengung, die auch die produktive Arbeit einschloß. Auch dieses Welt- und Menschenbild ist von der tiefen Krise der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse gekennzeichnet. Äußert sich doch der legitime Protest gegen die überholten Normen der Polis, gegen ihre Gesetze und religiösen Vorstellungen in einer grundsätzlichen Absage an alle Errungenschaften der höheren Kultur, die auf dieser Grundlage erwachsen waren. Da ein Ausweg aus der Krise in der gegebenen historischen Situation nicht abzusehen war, konnte sich der Protest der Unterdrückten und Entrechteten nur in der rückwärtsgewandten Utopie einer Wiederherstellung primitiver gesellschaftlicher Zustände äußern. I n der relativen Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in hellenistischer Zeit, die auch f ü r die Entfaltung der materiellen und geistigen K r ä f t e neue Impulse weckte, zeigte sich dann ein Neuansatz, der auch f ü r die Entwicklung der sich gleichzeitig herausbildenden römischen Kultur in vielfältiger Weise fruchtbar wurde.
Attische Adelsgeschlechter und ihre Rolle als Auftraggeber in der bildenden Kunst der spätarchaischen und frühklassischen Zeit V o n ERNST KLUWE
Jedem Versuch, in der bildenden Kunst der spätarchaischen und frühklassischen Zeit in differenzierter Form die Widerspiegelung gesellschaftlichen Seins, sozialer und politischer Entwicklungsprozesse und Ereignisse aufzeigen zu wollen, sind von vornherein gewisse Grenzen gesetzt. Abgesehen von der Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit in der Überlieferung ist uns das meiste Material nur so überkommen, daß es auf Grund stilistischer, epigraphischer u. a. Merkmale, ohne nähere Beziehung zu einer konkreten Situation, einem bestimmten Auftraggeber oder Künstler in den allgemeinen Entwicklungsablauf eingeordnet werden kann und für die Gesellschaftsgeschichte innerster Linie in der Summe der Einzelergebnisse und -aussagen interessante politische und soziologische Aufschlüsse gibt. Die Zahl gesicherter und effektiver Ansatzpunkte für weiterreichende Interpretationen — nämlich die wenigen Denkmäler, die durch Signatur oder literarische Überlieferung mehr oder weniger sicher mit historisch bekannten Persönlichkeiten verbunden werden können — ist relativ klein. So bleibt verständlicherweise nur allzuoft der subjektiven Interpretation viel Raum. Um so mehr Aufmerksamkeit verdienen daher die Grundaussagen, in denen in der archäologischen Forschung weitgehende Übereinstimmung herrscht. Eine solche Aussage ist beispielsweise die, daß es sich bei den wenigen qualitativ hochstehenden Denkmälern der ersten Hälfte, ja der ersten beiden Drittel des 6. Jahrhunderts, die in das bedeutende attische Heiligtum, die Akropolis von Athen, gestiftet wurden — und das trifft dementsprechend auch für die anderen attischen Heiligtümer zu —, ausnahmslos um Weihungen Adliger handelt. Das gilt auch für die Bildwerke, die bei oberflächlicher Betrachtung eine andere Deutung nahezulegen scheinen. Um 570 mag der Kalbträger 1 von der Akropolis von Athen (Abb. 1) entstanden sein, auf dessen Basis mit Ausnahme des Anfangsbuchstabens des Namens des Weihenden die ganze Weihinschrift i Zur Literatur vgl. u. a. Schräder, AMA, 278ff. (AMA, Nr. 409 Schuchardt); H. Payne G. M. Young, Archaic Marble Sculpture from the Acropolis, London 1936,1 ff.; W. Schiering, Der Kalbträger, Bremen 1958; R. Lullies, Griechische Plastik, 2. Aufl. München 1960, 40f.; L. Alscher, Griechische Plastik, II 1, Berlin 1961, 13ff. (ausführliche Literaturhinweise 221 f.); Schefold, Nachbarn, 167.
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erhalten ist: „(Rh)ombos, der Sohn des Palos weihte dieses Bild". I n ungebrochener Erzählerfreude ist jedes Detail erfaßt, ist die Handlung auf das anschaulichste geschildert, wie der Stifter mit seinem Opfer vor die Landesgöttin Athena tritt, wobei die Harmonie zwischen Mensch und Tier durch die klare Komposition wirkungsvoll hervorgehoben wird. Doch der Dargestellte ist nicht etwa ein Bauer oder ein Hirte, sondern eindeutig ein Landadliger 1 . Die archaische Bildwelt steht fast ausschließlich im Dienste aristokratischer Vorstellungen. Dies hat N. Himmelmann 2 unlängst wieder zu Recht hervorgehoben. I n der schwarzfigurigen Vasenmalerei — einer noch längst nicht ausgeschöpften Wissensquelle — dominieren neben den Darstellungen des heroischen Mythos insbesondere die des ritterlichen Lebens: Wagenrennen, Zweikämpfe, prunkvolle Totenfeiern, athletische Wettkämpfe u. ä. Aufschlußreich ist, daß diese Bilder nur z. T. zeitgenössische Realität widerspiegeln, so etwa bei den Athletendarstellungen. Andere sind völlig vergangenheitsbezogen, beispielsweise das Thema des zum Wagenkampf aufbrechenden Kriegers 3 (Abb. 2), das uns die schwarzfigurigen Vasenbilder in mannigfacher Weise zeigen (Abb. 3). Diese Thematik trägt aber schon bei Homer unwirkliche Züge. Andererseits, und das ist wiederum bezeichnend, sind Darstellungen der f ü r diese Zeit charakteristischen Kampfesweise, der Hoplitenphalanx — einer geschlossenen Schlachtreihe schwerbewaffneter Bürgersoldaten —, äußerst selten 4 . Das Motiv des berittenen Kriegers hingegen ist wiederum so häufig, daß es in keinem Verhältnis zur zeitgenössischen Bedeutung der Reiterei im Kriegswesen steht und nur als bewußte Äußerung eines Sozialprestiges, als Statussymbol der beiden ersten attischen Vermögensklassen, der Fünfhundertscheffler und der Ritter, aufgefaßt werden kann 5 . Die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich im Verlaufe des 6. Jahrhunderts in Athen auf Grund der Entwicklung von Handel und Gewerbe, der allmählichen Ausweitung der Geldwirtschaft usw. vollzogen, werden in spätarchaischer Zeit in den verschiedensten Kunstgattungen faßbar. I n der Vasenmalerei erscheint das Motiv des Werkstattbildes, und seit dem letzten Drittel des 6. Jahrhunderts haben wir konkrete Belege dafür, daß neben Weihgeschenke der Aristokraten Handwerkerweihungen traten. Aber wie die Darstellungen mit Handwerkerthematik schon 1
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Interpretationen, wie die von F. Gerke, Griechische Plastik, Zürich-Berlin 1938, 218: „Weihestatue, einen Hirten darstellend", sind völlig verfehlt. Vgl. auch Bemerkungen wie bei K. Schefold, Kleisthenes, Museum Helveticum 3,1946,80: „Der Kalbträgermeister . . . paßt in seinem Charakter eher zum attischen Landadel als zu den Peisistratiden." Himmelmann, Archäologisches zur Sklaverei, 8 ff.; vgl. auch das bei Webster, Potter and Patrons, 179ff., zusammengestellte Material. Athen, Nationalmuseum 3477; J. Mosel, Studien zu den beiden archaischen Reliefbasen vom Kerameikos, Diss. Rostock 1935 (1938), bes. 27ff.; G. Lippold, Griechische Plastik, München 1950, 84ff. (mit Literaturhinweisen), vgl. Anm. 31. Das bekannteste Beispiel ist nach wie vor die Chigi-Kanne, abgebildet u. a. bei Zinserling, Abriß, 424, Abb. 73. Himmelmann, Archäologisches zur Sklaverei, 9.
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rein zahlenmäßig weit hinter den aristokratisch-heroischen zurückstehen, so lassen auch die Denkmäler von der Akropolis, soweit sich an ihnen die soziale und gesellschaftliche Stellung der Stifter ablesen läßt, keinen Zweifel an der dominierenden Position der Adelsfamilien als Auftraggeber aufkommen. Das gilt für die spätarchaische Zeit ebenso wie f ü r die frühklassische. Auf diese Tatsache kann nicht oft genug hingewiesen werden, da durch die einseitige Hervorhebung des Neuen, der Handwerkerweihungen — als sichtbarer Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverschiebungen —, nur zu oft ein die wirklichen Relationen verzerrendes Bild gezeichnet wird. Da uns die Namen der Töpfer und Vasenmajer durch ihre Signaturen auf den Gefäßen am besten bekannt sind, können wir die Weihungen der Vertreter dieses Gewerbezweiges auch leichter erkennen als die anderer Berufe. Sie werden daher meistens stellvertretend in bezug auf die materiellen Voraussetzungen und die politisch-rechtliche Stellung der Techniten überhaupt genannt. Dabei machen die ansehnlichen Votive sehr anschaulich deutlich, daß einige Gewerbetreibende zu Reichtum und Wohlstand gelangten 1 . Wenn diese dann ihre Dankbarkeit gegenüber der schützenden Göttin mit einem Weihgeschenk bekundeten, entsprach das ganz der religiösen Anschauung ihrer Zeit, war eine von der Klassenzugehörigkeit unabhängige Sitte, ein Ausdruck der noch starken religiösen Verwurzelung. Die Votive der reichen Mittelschichten unterscheiden sich daher im allgemeinen wohl kaum von denen adliger Auftraggeber. Vergleiche machen dies deutlich. Die sog. Antenorkore (Abb. 4) beispielsweise, deren Höhe ohne Plinthe 2,01 m beträgt, war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Weihung des Töpfers Nearchos 2 , die vom Bildhauer Antenor um 520 gefertigt wurde. Die kräftige breitschultrige Mädchenfigur muß in ihrer reich gefältelten Kleidung, dem dichten, kunstvoll stilisierten Haar und den Augen aus Bleikristall, zumal wir uns das Ganze noch in einer reichen, vielfältig abgestuften Bemalung vorstellen müssen, einen imposanten Eindruck gemacht haben. Vergleicht man sie beispielsweise mit der von Kallias geweihten und vom Bildhauer Endoios geschaffenen Sitzstatue der Athena (Abb. 5) 3 , so wird in prägnanter Weise deutlich, daß sich im allgemeinen die aufwendigeren Weihungen „bürgerlicher" und „adliger" Auftraggeber kaum oder nur wenig voneinander abhoben. Besagter Kallias ist uns aus der literarischen Über1 Um diese Thematik und ihre Widerspiegelung in der Kunst hat sich in den letzten Jahren insbesondere N. Himmelmann bemüht: Homerische Gesellschaft, 8ff.; Eez. H. Philipp, Tektonon Daidala, Berlin 1968, Gnomon42, 1970, 294; Archäologisches zur Sklaverei, 36 ff. 2 Athen, Akropolis-Museum Nr. 681; Schräder, AMA, 80 ff. (Langlotz); Schefold, Bildhauer, 30f.; G. Lippold, Griechische Plastik, 80f.; L. Alscher, Griechische Plastik, I I l,50ff. (Literaturhinweise 229f.); Kleine, Chronologie, 46ff. 3 Athen, Akropolis-Museum Nr. 625; Literaturhinweise u. a. bei Schräder, AMA, 111 (Langlotz); Schefold, Bildhauer, 46f., vgl. auch den Text zu Abb. 42/43; G. M. A. Richter, Archaic Greek Art against its Historical Background, New York 1949, 139f.; G. Lippold, Griechische Plastik, 74; Raubitschek, Dedications, 491 f.
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lieferung gut bekannt. Er soll um die Mitte des 6. Jahrhunderts der reichste Mann in Athen gewesen sein und konnte es wagen, die konfiszierten Güter des Tyrannen zu kaufen, als dieser zeitweilig vertrieben wurde. Wie sein Weihgeschenk zeigt, das wohl 525/520 aufgestellt worden ist, also während der Herrschaft der Tyrannensöhne, zog dies für ihn anscheinend keinen größeren Schaden nach sich. Die Weihgeschenke der Mittelschichten machen bereits für die spätarchaische Zeit etwas sehr deutlich: Es gab bei den Bildhauern keine einseitige Bindung an eine bestimmte Klasse oder gar einen bestimmten Auftraggeber. Auch die bedeutenden Künstler arbeiteten sowohl für adlige Auftraggeber als auch für reiche Leute ihres Standes. Die Signatur des Endoios trägt das Grabmal des Alkmeoniden Nelonides 1 , aber auch ein Töpferrelief von der Akropolis von Athen 2 ; Antenor fertigte für den Töpfer und Maler Nearchos die oben erwähnte Akropoliskore und war im Auftrage der Alkmeoniden, eines der bedeutendsten attischen Adelsgeschlechter, bei der Ausgestaltung des Appollontempels in Delphi tätig 3 . Die Votive der Akropolis von Athen bieten eine Reihe günstiger Ansatzpunkte für konkrete Aussagen zu gesellschaftspolitischen Entwicklungsabläufen. Das gilt insbesondere für die archaische und spätarchaische Zeit. Nach der zweimaligen Verwüstung der Burg von Athen durch die Perser in den Jahren 480 und 479 stand vor der athenischen Polis die Aufgabe der Wiederherstellung, der Neugestaltung ihres zentralen Heiligtums. Dabei wurden die während der Perserbesetzung zerstörten, beschädigten und umgestürzten Bau- und Bildwerke, die sich nicht wieder ausbessern und weiter verwenden ließen, als Eigentum der Gottheit in ihrem Heiligtum vergraben, blieben so den Augen der Nachwelt verborgen und damit vor ihrer endgültigen Zerstörung bewahrt. Ihre Auffindung im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts vermehrte nicht nur das Wissen über eine bis dahin weniger bekannte Entwicklungsperiode der griechischen Kultur, sondern schuf als ein in sich geschlossener Fundkomplex auch die Möglichkeit, auf konkrete Fragen, so etwa auf die nach dem sozialen Status der Auftraggeber, detailliert antworten zu können. 1
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A. Philadelphias, Bases archaïques trouvées dans le mur de Thémistocle a Athènes, Bulletin de Correspondance Hellenique 46, 1922, 26ff. ; S. Casson, The New Athenian Statue Bases, Journal of Hellenic Studies 45, 1925, 164ff.; A. E. Raubitschek, Zu attischen Weihinschriften, österreichische Jahreshefte 31, 1939, Beibl. 62ff.; und Raubitschek, Dedications, 493f.; Ch. Karusos, Aristodikos, Stuttgart 1961, 126; L. H. Jeffery, The Inscribed Gravestones of Archaic Attica, Annual of the British School at Athens 57, 1962, 127 Nr. 13. Athen, Akropolis-Museum Nr. 1332; Schräder, AMA, Nr. 422 (Schuchardt); A. E. Raubitschek, An Original Work of Endoios, American Journal of Archaeology 46, 1942, 245f.; Raubitschek, Dedications, 75ff. und 494. Grundlage dieser Annahme ist die stilistische Verwandtschaft der Akropoliskore 681 mit den Giebelfiguren des delphischen Apollontempels, dessen Bau die Alkmeoniden übernahmen (Herodot V 62).
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F ü r die Jahrzehnte nach 480/479 ist die Überlieferungssituation weitaus ungünstiger. Mit der Zerstörung der Burg von Athen durch die Perser bricht die Reihe originaler Werke fast völlig ab, und die nachfolgenden Jahrzehnte sind auffallend arm an Denkmälern. Dies läßt sich leicht verdeutlichen. Ordnet man beispielsweise die erhaltenen und von A. E. Raubitschek in jahrzehntelanger Arbeit aufbereiteten und in der Monographie „Dedications from the Athenian Acropolis", Cambridge 1949, vorgelegten Weihinschriften bzw. Inschriftenfragmente von der Athener Akropolis chronologisch, so ergibt sich f ü r die zeitliche Streuung des Materials im 5. J a h r h u n d e r t folgendes Bild: F ü r die Zeit von ca. 500—480 sind Weihinschriften bzw. Reste von Weihinschriften von etwa 250 Weihungen erhalten, f ü r die Zeit von 480—450 von etwa 50 und f ü r die J a h r e von 450—400 von etwa 35. Aus diesen Zahlenrelationen sind jedoch nur bedingt Schlüsse zu ziehen: die marmornen Basen verschwanden ebenso wie die Statuen selbst in die Kalköfen, wenn sie den Kalkbrennern in die Hände fielen. F ü r die Akropolisdenkmäler der Zeit nach 480/479 trifft so auch zu, was f ü r die einst an Statuen und Bildwerken reichen, dann aber ausgeraubten Heiligtümer, wie beispielsweise Delphi oder Olympia, gilt. Es ist in diesem Zusammenhang sicher ebenso angebracht, darauf hinzuweisen, daß in frühklassischer Zeit insbesondere der Erzguß entwickelt wurde und der Marmor als Material f ü r die Einzelstatue dementsprechend zurücktrat. Daher war in der Zeit des strengen Stils auch die Zahl der Bronzefiguren weit größer als die der Marmorstatuen. Der Bedarf an Metall in den spät- und nachantiken Jahrhunderten und der dadurch bedingte Metallraub großen und kleinen Stils, der Rückgriff auf „Metallreserven" — Kaiser Avitus ließ beispielsweise 456 aus Bronzestatuen Geld prägen 1 — f ü h r t e dazu, daß f ü r das „Überleben" antiker Bronzewerke schon das Zusammenfallen günstiger Umstände nötig war. So beruht unser Wissen über die Plastik der klassischen und nachklassischen Zeit weitgehend auf Kopien, Nachbildungen griechischer Werke, die im Hellenismus und besonders in der römischen Kaiserzeit von mehr oder minder tüchtigen Handwerkern hergestellt wurden. Nicht nur in Athen und Rom, sondern in allen Teilen der antiken Welt gab es Werkstätten, die sich auf das Nachschaffen von Werken früherer Perioden spezialisierten. Zur Ausschmückung ihrer öffentlichen Bauten und Anlagen benötigten die Städte eine Vielzahl dekorativer Statuen. Da auch die Reichen auf die luxuriöse Ausstattung ihrer Häuser, Höfe und Gärten viel Wert legten, blühte dieser Gewerbezweig. I n gewisser, aber zwangsläufig unvollkommener Weise werden diese Lücken in der materiellen Überlieferung durch die nun häufig werdenden literarischen Erwähnungen von Kunstwerken ausgeglichen. Uns interessiert insbesondere, was sich trotz der Widrigkeiten in der Überlieferung zum sozialen Status der Auftraggeber aufwendiger Weihgeschenke in frühklassischer Zeit aussagen läßt. Wir hatten bereits dargelegt, daß seit dem letzten Viertel des 6. Jahrhunderts 1
A. Rumpf, Archäologie, 1, Berlin 1953 (Göschen Bd. 538), 27.
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neben die Votive der Adligen die der Mittelschichten zu treten begannen, wobei von den letzteren uns besonders die der Töpfer und Vasenmaler faßbar sind. Namen wie Nearchos, Xenokles, Smikros, Euphronios und Onesimos wären u. a. beispielsweise zu nennen. Abgesehen von der Weihung des Nearchos und dem gemeinsam gestifteten Votiv des Mnesiades und Andokides gehören die übrigen bekannten Denkmäler ausnahmslos in die Zeit von ca. 500—480l. Dann bricht die Reihe der überkommenen Weihgeschenke von Vertretern dieser Schichten abrupt ab, eine Widerspiegelung der oben charakterisierten Erscheinung, des auffallenden Rückganges originaler Werke. Etwas überraschend und daher bemerkenswert ist es jedoch, daß unter den etwa 50 von Raubitschek aufgeführten Weihinschriften bzw. Fragmenten der Zeit zwischen 480—450 kein Hinweis auf eine Weihung eines Töpfers oder Malers erhalten ist. Mit der Möglichkeit, auf Grund angeeigneter Fertigkeiten und einer beruflichen Spezialisierung in Handel und Gewerbe zu Reichtum und Wohlstand zu gelangen — zumal durch Beschäftigung und Ausbeutung anderer, seien es freie oder unfreie, qualifizierte oder unqualifizierte Arbeitskräfte —, wuchs, wie die spätarchaischen Belege zeigen, auch die Zahl derjenigen, die die materiellen Voraussetzungen hatten, kostspielige Weihgeschenke auf die Akropolis zu weihen. Weihungen, wie etwa die der Wäscherin Smikythe 2 , weisen uns dabei mit allem Nachdruck auf die bisweilen beträchtlichen sozialen Unterschiede hin, die zwischen den einzelnen Stiftern bestehen konnten. Aus der chronologischen Verteilung der bekannten Weihgeschenke der Töpfer und Vasenmaler darf man ohne Zweifel folgern, daß mit der sozialen Stabilisierung dieses Standes und mit der Etablierung der Demokratie auch die Zahl der Weihungen dieses Personenkreises stieg. Man sollte daher für die frühklassische Zeit zumindest eine ähnliche Situation, vielleicht eher sogar eine Zunahme erwarten, da mit der Demokratisierung der Polis Athen ein Streben nach wirtschaftlicher Autarkie des Staates einherging und auch die f ü r die Entwicklung der athenischen Demokratie charakteristische Verknüpfung von Demokratisierungsprozeß und Expansion gerade f ü r Handel und Gewerbe günstige Entwicklungsmöglichkeiten schuf, wobei auch die Landwirtschaft durch ihre auf den Export ausgerichteten Anbauprodukte in diesen Prozeß integriert war. Der soziale Differenzierungsprozeß, der sich seit der Zeit der Perserkriege forciert in der demokratischen Polis zu vollziehen begann, brachte nicht nur den sichtbaren Ausbruch der Gegensätze zwischen den armen und reichen Politen, sondern auch die Konsolidierung einer Schicht vermögender Bürger, der „Neureichen", deren Vermögen vor allem aus Handel und Gewerbe herrührte. I n frühklassischer Zeit war die Macht der adligen Kreise noch stark genug, den Vertretern des neuen „Geldadels" den Weg zu den obersten Positionen im Staat zu verlegen. Sie reichte aber nicht mehr aus, um in dieser an tiefgreifenden innen- und außenpolitischen Veränderungen reichen Zeit Privilegien zu behaupten, die 1
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Die letzte Zusammenstellung, die auf dem bei Raubitschek, Dedications, zusammengetragenen Material beruht, findet sich bei Webster, Potter and Patron, 5f. Raubitschek, Dedications, Nr. 380.
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vorher — neben dem Besitz — Grundpfeiler aristokratischer Herrschaftsansprüche darstellten, wie Bildungsstand, auf Tradition gegründete Autorität usw. I n der literarischen Überlieferung ist ausschließlich von Adligen die Rede, wenn private Aufträge in der Kunst als solche charakterisiert werden. Dies entspricht ganz der Darstellungsweise etwa in der Geschichtsschreibung, in der — wie beispielsweise bei Herodot — die Aufmerksamkeit stets auf die große adlige Einzelpersönlichkeit, ihre Rolle und ihr Wirken im politischen und gesellschaftlichen Geschehen gerichtet ist, während das Volk und seine Aktivitäten nur flüchtig gezeichnet werden. Wenn aber unter den erhaltenen Weihinschriften Namen wie Timotheos, Hermokylos oder Pronapes erscheinen 1 , deren Träger auf Grund ihrer eigenen Position bzw. der ihrer Väter im politischen Leben eindeutig als Adlige bestimmt werden können, so wird daraus deutlich, daß unter den privaten Auftraggebern in der Kunst auch im demokratischen Athen die Vertreter des Adels weiterhin im Vordergrund standen, eine nicht überraschende Tatsache, da ihr Besitz nicht angetastet wurde und sie auch sonst auf Grund von Tradition und Bildung, ihrer Kontakte und Bindungen mit ihren Standesgenossen außerhalb der Heimatpolis und vielem mehr nach wie vor eine dominierende Rolle in der Innen- und Außenpolitik spielten. Anders liegt die Problematik bei den monumentalen Grabdenkmälern der archaischen und spätarchaischen Zeit. Während bei den Weihgeschenken die Stifter verschiedenen Klassen entstammen, sind sie bei den Grabmonumenten auf bestimmte Klassen beschränkt. I n der Archäologie dominiert durchweg die Auffassung, daß die „Sitte plastischen Grabschmuckes ausschließlich auf die Kreise des Adels beschränkt war" 2 . Die Grabmonumente selbst machen dies nicht unmittelbar deutlich, ja einige Fakten scheinen sogar gegen eine Verabsolutierung dieser Ansicht f ü r die spätarchaische Zeit zu sprechen, etwa die qualitativen Unterschiede bei den Grabstelen. Neben der prunkvollen Reliefstele steht die gemalte und die schmucklose, nur durch ein Grabepigramm bzw. nur durch die Namensangabe des Verstorbenen dekorierte Stele. Man kann auch darauf verweisen, daß sich beim plastischen Grabschmuck ähnliche Entwicklungstendenzen aufzeigen lassen wie bei den Akropolisdenkmälern, so beispielsweise der Zusammenhang zwischen zahlenmäßigem Anwachsen und qualitativen Einbußen. Das Aufkommen der Bildstele — die älteste uns bekannte Marmorstele, ein Stelenfragment in Ritztechnik, befindet sich in Berlin in den Staatlichen Museen (Abb. 6) — fällt in die Zeit um 560 v. u. Z. Das sind die Jahre, in denen in Athen die Panathenäen — das Hauptfest der Stadt Athen, gefeiert zu Ehren der Stadtgöttin Athena — neu gestaltet und durch die Einführung athletischer Wettkämpfe größeren Teilen der attischen Bürgerschaft die Möglichkeit aktiver Beteiligung gegeben wurden. In einer Zeit aber, in der sich Handel und 1 Raubitschek, Dedications, Nr. 47, 132 und 135. 2 F. Eckstein, Rez. Ch. Karusos, Aristodikos, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 216, 1964, Nr. 314, 166. 3*
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Geldwirtschaft erst in einer allmählich aufstrebenden Entwicklungslinie befanden, bedeutete — dem timokratischen (vermögensbezogenen) Aufbauprinzip des Staates entsprechend — Festigung und Ausbau der Grundlagen der Polis, daß neben den großen Adelshäusern vor allem weitere grundbesitzende Kreise — der mittlere und kleinere Landadel — an der politischen Führung beteiligt wurden i. Doch die monumentale Grabplastik machte nur einen Teil des Bestattungsaufwandes aus, denn der P r u n k beim Trauerzug, beim Leichenmahl und anderen mit dem Bestattungszeremoniell verbundenen Handlungen war nicht weniger kostspielig. Politische Brisanz ging dabei insbesondere von der Lobrede auf den Toten aus, da in archaischer und frühklassischer Zeit — und nicht nur in diesen Jahrhunderten — die öffentliche Rede das bedeutendste Mittel politischer Propaganda war. Zu den Privatbegräbnissen kamen nicht nur die nächsten Verwandten und Freunde. Aufwendige Bestattungen — zumal solche, wo der Verstorbene eine bekannte Persönlichkeit gewesen war und im politischen und gesellschaftlichen Leben eine führende Rolle gespielt hatte — waren zweifellos zu allen Zeiten Anziehungspunkte für Sympathisanten, aber auch Gegner des Verstorbenen und seiner Familie, für Schaulustige und Neugierige. Die Leichenrede gab daher in ganz besonderem Maße Anlaß und Gelegenheit zur Lobpreisung der Leistungen sowohl des Toten als auch der Verdienste seiner Familie und seines Geschlechtes. Sie bot darüber hinaus gerade in einer Zeit härtester innenpolitischer Auseinandersetzungen die Möglichkeit und gern genutzte Gelegenheit zielgerichteter politischer Propaganda. Die Ausübung dieser Sitte mit all ihren Auswüchsen im Aufwand und der Prunkentfaltung setzte aber nicht nur materiellen Reichtum, sondern auch moralischen Anspruch, Tradition, Selbstbewußtsein usw. voraus, Eigenschaften, die in diesen Jahren des Umbruchs noch vornehmlich an die adligen Familien gebunden waren. Der gesteigerte Grabluxus der Adelsgeschlechter wurde im frühen 5. J a h r hundert durch ein Gesetz entscheidend eingeschränkt, eine Maßregel, die f ü r ein halbes J a h r h u n d e r t in Attika die Schaffung monumentaler Grabplastik unterband. Cicero, der diese Verordnung erwähnt, nennt weder den konkreten Anlaß noch ein genaues D a t u m : „Etwas später jedoch wurde wegen der umfangreichen Grabmäler, die wir noch jetzt im Kerameikos sehen, gesetzlich bestimmt, daß niemand ein Grab mit größerem Arbeitsaufwand errichten dürfe, als zehn Männer an drei Tagen zu leisten vermögen; auch wurde nicht gestattet, 1
Welche Rolle die Besitzer anderer Produktionsmittel in dieser Zeit im politischen Leben spielten, ist eine sehr umstrittene Frage; sehr bedeutend kann ihr Einfluß jedoch nicht gewesen sein. Sozial gesehen war der Kreis derjenigen, die aufwendige Grabmäler errichteten, nicht groß. Die Frage, ob Grabstatue oder -stele etwa auch einer der beiden ersten Solonischen Steuerklassen entsprechen (Eckstein), ist wohl mehr rhetorischer Natur, obwohl Charakterisierungen oft diese Blickrichtung haben, z. B. bei K. F. Johansen, The Attic Grave-Reliefs of the Classical Period, Kopenhagen 1951, 109: „Die Leute, die wir auf archaischen Grabstelen antreffen, sind junge Adlige und Söhne und Töchter des niedrigen Landadels . . ."
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es mit opus tectorium 1 zu verzieren und sogenannte Hermen aufzusetzen, und es wurde auch nicht erlaubt, Reden zum Lobe des Toten zu halten, außer bei öffentlichen Begräbnissen und auch dann nur von einem von Staats wegen dazu bestellten Redner. Auch das zahlreiche Geleit von Männern und Frauen wurde abgeschafft, um das Wehklagen zu vermindern." 2 Die Bestimmungen dieses Antiluxusgesetzes, das die detaillierten Beschränkungen sowohl hinsichtlich der Größe und Ausgestaltung des Grabmals als auch der Begräbniszeremonien enthält, sind so eindeutig, daß es sich in unserem Zusammenhang erübrigt, näher darauf einzugehen. Man hat in diesem Gesetz meistens eine Maßnahme der jungen Demokratie gesehen und es entweder mit Kleisthenes oder Themistokles verbunden 3 . Da etwa ein Drittel der erhaltenen Grabsteine der spätarchaischen Zeit in die J a h r e nach 510 gehört, ist es naheliegend, in dem Grabmälergesetz eine jener Maßnahmen zu sehen, die — ebenso wie der Ostrakismos oder die Umwandlung des Archontats aus einem Wahl- in ein Losamt — von den heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen in Athen nach der Schlacht von Marathon zeugen und die von der Zeit und dem Kreis um Themistokles ohne zwingenden Grund nicht getrennt werden sollten. Geht man von der Bindung der Sitte plastischen Grabschmuckes und überhaupt des zunehmenden Grabluxus an die Adelsklasse aus, so ist die Stoßrichtung des Gesetzes eindeutig. Die sich aus der Maßnahme ergebenden Konsequenzen heben das Grabluxusgesetz über die Sphäre der alltäglichen Auseinandersetzungen der einander befehdenden politischen Gruppierungen der herrschenden Klasse. Das rigorose Vorgehen, das nicht einzelnen Überspitzungen oder bestimmten Persönlichkeiten, Geschlechtern usw., sondern dem Adel in seiner Gesamtheit galt, war daher nichts anderes als eine prinzipielle, eine klassenmäßige Entscheidung. Es versteht sich dabei aber von selbst, daß man, wenn man das Grabluxusgesetz als ein Produkt des Klassenkampfes auffaßt, auch alle Spezifika des Klassenkampfes in einer frühklassischen Polis zu sehen h a t : so beispielsweise den begrenzten Raum, die einzelne Polis, in dem sich die Auseinandersetzungen abspielten; ferner den Zwang, eine gewisse Einheit und Stabilität des Bürgerkollektivs immer zu bewahren, um die Existenz der Polis und damit auch die des einzelnen Bürgers sowie die mit seinem Bürgerstatus verbundenen Privilegien und Rechte nicht aufs Spiel zu setzen, eine Einheit, 1 F. Eckstein erklärt „opus tectorium" als Kalkverputz bzw. als Stuckverzierungen an den Grabbauten: Die attischen Grabmälergesetze, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 73, 1958, 23; Rez. Karusos, Aristodikos, 168. 2 Cicero, Über die Gesetze II 26, 64f. 3 Seit A. Milchhöfer, Gemalte Grabstelen, Athenische Mitteilungen 5, 1880, 164ff., gehört dies, wenn man von den wenigen abweichenden Meinungen absieht (G. M. A. Richter, M. Bieber, Th. T. Hill, J. Boardman), die auch ein zwei Jahrzehnte früheres Datum für möglich hielten, zu den verbreiteten Lehrmeinungen in der Archäologie. Zum Problem zuletzt Kleine, Chronologie, 61 ff., der sich für Kleisthenes ausspricht, allerdings in wenig zwingender Weise; für Themistokles: T. Dohm, Attische Plastik, Krefeld 1957, 85f.; V. Zinserling, Grabluxusgesetz, 29ff.
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die aber durch die bestehenden sozialen Unterschiede und die daraus erwachsenden sozialen und politischen Spannungen ständig neuen Zerreißproben ausgesetzt war. Aus den verschiedensten Erwägungen heraus hat man versucht, die innere Einheit des Grabluxusgesetzes aufzuheben und die einzelnen Bestimmungen als aufeinanderfolgend hinzustellen: ca. 530 die Begrenzung des Aufwandes — kein Grab darf aufwendiger hergerichtet werden, als es mit 30 Tagewerken möglich ist —, d. h. der Größe des Grabbaues und seiner Ausschmückung, mit der eine Verkleinerung und schlichtere Gestaltung der Grabstelen H a n d in H a n d gingen; gegen Ende des 6. Jahrhunderts das Aufhören der Grabstelen und Grabstatuen als Ausdruck der „großen Umschichtung der Besitz- und Rechtsverhältnisse in Attika durch die kleisthenischen Reformen" (Eckstein); die Beschränkung der öffentlichen Totenrede (epitaphios logos) auf Staatsbegräbnisse im Verlaufe des 5. Jahrhunderts 1 . Eine solche zeitliche Trennung der einzelnen Maßnahmen nimmt dem Gesetz viel von seinem hochpolitischen Charakter, verschiebt den Akzent teilweise vom Politischen ins Religiös-Kultische. Der soziale Aspekt, das Klassengebundene bleibt jedoch immer erhalten, auch dann, wenn man die einzelnen Bestimmungen zeitlich voneinander trennt, wozu jedoch unseres Erachtens kein zwingender Grund vorliegt. Der griechische Stadtstaat war seiner ganzen Organisation nach niemals der Vertreter der Gesamtinteressen der Bevölkerung, nicht einmal der Politen in ihrer Gesamtheit. Indes die herrschenden Klassen oder politischen Gruppierungen waren stets bemüht, ihre Sonderinteressen als Anliegen des ganzen Gemeinwesens hinzustellen. Es ist daher eine ganz legitime Frage, ob und wenn ja, wie die unterschiedlichen Auffassungen der politischen Interessengruppen in der Kunst ihren Ausdruck fanden. F ü r die Peisistratidenzeit gingen die Überlegungen wesentlich davon aus, daß der Kampf um die politische Macht in Athen in der literarischen Tradition vor allem als ein Zweikampf zwischen den Adelsgeschlechtern der Peisistratiden und Alkmeoniden charakterisiert wird. Bei manchen bildhaften Vergleichen, so dem von L. B. Holland 2 , daß der Kampf zwischen Herakles und dem Meerwesen — eine Thematik, die wir bei den archaischen Porosgiebeln der Athener Akropolis (Abb. 7) zweimal und in der Vasenmalerei häufig dargestellt finden (Abb. 8) — den Kampf zwischen Peisistratiden und Alkmeoniden symbolisiere, ist der geringe Aussagewert der Hypothesen offensichtlich. Ihre Breitenwirkung in der wissenschaftlichen Forschung bleibt daher gering. Anders liegt die Problematik bei Aussagen, die zunächst als Hypothesen vorgetragen, dann jedoch durch die ständige Wiederholung und die Bestimmtheit, mit der sie 1
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F. Eckstein, Grabmälergesetze, 22ff.; Rez. Karusos, Aristodikos, 168ff. Die Einheit des Grabluxusgesetzes hat Ch. Karusos, Aristodikos, 42 f., nachdrücklich betont. Zum Problem zuletzt, aber nicht überzeugend in der Endaussage, Kleine, Chronologie, 61—64. L. B. Holland, The Hall of the Athenian Kings, American Journal of Archacology 43, 1939, 295 Anm. 1.
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vorgebracht wurden, gleichsam in den Rang gesicherter Tatsachen erhoben worden sind, ohne daß jemals eine ausführliche und überzeugende Beweisführung dafür vorgelegt wurde. Das gilt beispielsweise für die Auffassung, in der Tyrannenzeit und überhaupt in der spätarchaischen Periode lasse sich in Athen eine „peisistratidische" von einer „alkmeonidischen" Richtung in der Kunst abheben. Ausgangspunkt aller diesbezüglichen Überlegungen — und das zeigt sich sehr prägnant an der unlängst veröffentlichten Dissertation von J. Kleine 1 — ist das Bemühen, die „Kunst im Umkreis" der athenischen Tyrannen bzw. der Alkmeonidenfamilie zu erfassen. Die literarische Überlieferung enthält nur wenige Hinweise, die Angehörige der Peisistratidenfamilie als Auftraggeber in der bildenden Kunst nennen. Athenaios 2 berichtet, daß das Antlitz des athenischen Dionysos Porträtzüge des Peisistratos getragen habe. Plutarch 3 weiß von einer auffallenden Ähnlichkeit des Perikles mit Peisistratos. Sieht man von diesen vagen Nachrichten ab, sind uns nur Aufträge aus der späten Tyrannenzeit bekannt und mit dem Namen des Hipparchos verknüpft: die Hermen des Hipparchos /l stehen, wie der Zwölfgötteraltar des jüngeren Peisistratos 5 , in engem Zusammenhang mit dem spätarchaisch-attischen Straßenbauprogramm. Beide Weihungen werden als schmückende Zutaten etwa gleichzeitig sein. Das trifft auch für die Erosstiftung des Charmos 0 und die Ummauerung des Akademiebezirkes — auf Veranlassung des Hipparchos — zu. Politischer Natur mag die Hipparchosweihung im böotischen Ptoion-Heiligtum 7 gewesen sein, doch reicht das archäologische 1 Kleine, Chronologie, 36 ff. 2 Athen. X I I 333c; vgl. F. Taeger, Charisma, 1, Stuttgart 1957, 84: „Dagegen ist es eine typische Küsterlegende, wenn später gelegentlich Peisistratos' Züge in einem Dionysosbild wiedergefunden wurden." Zu einer Basis mit Füßen von einer Herme im Vatikanischen Museum mit der Inschrift „Peisistratos" vgl. G. Lippold, Die Skulpturen des Vatikanischen Museums, I I I 2, Berlin 1956, 531 und 558 mit Literaturhinweisen. 3 Plutarch, Perikles 7. 4 (Piaton) Hipparch 229a; erhalten ist eine Herme: IG 1 2 , 837; vgl. u. a.: H. G. Lolling, Altattische Herme, Athenische Mitteilungen 5, 1880, 244; J . F. Crome, Hipparchoi Hermai, ebd. 60/61, 1935/36, 300ff., bes. 305ff.; J . Kirchner - St. Dow, Inschriften vom attischen Lande, ebd. 62, 1937, 1 ff.; R. Lullies, Die Typen der griechischen Herme, Königsberg 1931, l l f f . ; W. Peek, Eine Herme des Hipparch, Hermes 70, 1935, 461 ff.; R. Lullies, Hermenfragen, Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 4, 1949/50, 126ff. 5 M. Crosby, Hesperia, Suppl. 8, 1949, 92 ff., die auch auf die literarische Überlieferung (82 Anm. 1) ausführlich eingeht; vgl. ferner: C. G. Xavis, Greek Altars, St. Louis 1949, 179; M. Lang - W. J . Eliot, The Athenian Agora, 2. Aufl. Athen 1962, 66f.; Th. T. Hill, The Ancient City of Athens, London 1953, 39ff. und 70; H. Plommer, Ancient and Classical Architecture, London 1956, 122; Kleine, Chronologie, 32ff. 6 Kleidemos bei Athenaios X I I I 609 d; Pausanias I 30,1; vgl. Plutarch, Solon 1. 7 L. Bizard, Inscriptions du Ptoion, Bulletin de Correspondance Hellenique 44,1920,237 ff.; J . E. Hondius, H. v. Gaertringen, Hippias oder Hipparchos, Hermes 57, 1922, 475ff.; Schräder, AMA, 13 (Langlotz).
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und historische Material nicht aus, die Aussage zu konkretisieren und auszuweiten. Da die literarischen und epigraphischen Zeugnisse keine Basis f ü r weiterreichende Charakterisierungen der Tyrannen als Förderer der Künste, als die großen Auftraggeber in der Kunst usw. bieten, haben sich viele Archäologen bemüht, dem konventionellen Peisistratidenbild in der modernen historischen ein adäquates in der kunst- und kulturhistorischen Forschung gegenüberzustellen, d. h. die „Lücken" durch hypothetische Zuweisungen zu ergänzen. Zwei nicht immer klar zu trennende Ausgangspositionen heben sich dabei a b : Die erste ist dadurch charakterisiert, daß Denkmäler auf Grund ihrer hervorragenden Qualität oder eines mehr oder minder deutlichen Bezugspunktes mit der athenischen Tyrannenfamilie in Verbindung gebracht werden. Vor allem drei Zuweisungen begegnen wir häufiger in der archäologischen Literatur: der Reitergruppe Rampin (Abb. 9), dem Kopf Sabouroff (Abb. 10) und der bereits oben erwähnten Reliefbasis mit der Darstellung des zum Wagenkampf aufbrechenden Kriegers (Abb. 2) in der Deutung als Illustration der Phyeanekdote Am verbreitetsten ist die Auffassung, die Reitergruppe R a m p i n 2 stehe die Tyrannensöhne Hippias und Hipparchos dar. Sie ist zuerst von W. H . Schuchardt geäußert worden: „Die beiden Reiter müssen ein mythisch-heroisches oder historisch berühmtes Paar darstellen. I m ersten Fall an die Dioskuren zu denken, erschwert der Siegerkranz. Als Sieger im Pferderennen und nach Maßgabe des umfangreichen Monuments können die Dargestellten nur dem vornehmsten Adel Athens angehört haben. Etwa die Söhne des Peisistratos in 1
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Herodot berichtet im Zusammenhang mit der zweiten Machtübernahme folgende Anekdote (I 60): „Im Demos Paiania war ein Weib mit Namen Phye, eine stattliche, hochgewachsene schöne Person. Der legten sie volle Rüstung an, stellten sie glänzend geschmückt auf einen Wagen und fuhren sie in die Stadt. Dabei schickten sie Ausrufer voran, die, als sie in die Stadt kamen, den Leuten zurufen mußten: ,Athener nehmt Peisistratos freundlich auf, dem Athene selbst die höchste Ehre erweist und ihn auf die Burg zurückführt.' Während sie das unterwegs ausriefen, verbreitete sich auch schon draußen vor den Toren das Gerücht, Athene führe Peisistratos zurück, und in der Stadt, wo man wirklich glaubte, daß das Weib die Göttin selbst wäre, betete man das Menschenkind an und nahm Peisistratos mit Freuden auf" (Übersetzung Th. Braun). Die Anekdote auch bei Aristoteles, Verfassung der Athener 14,4; Scholion zu Aristophanes, Ritter 449; Polyainos I 21,1 (verbunden mit Pallene); Valerius Maximus I 3,3; Hermogenes, Über die Erfindung II 185 u. Scholion zu Athenaios XIII 609 c (Kleidemos). Die Rekonstruktion dieses Denkmals verdanken wir Payne (der die Zusammengehörigkeit des im Louvre aufbewahrten Kopfes mit dem Akropolisreiter Akro 312 erkannte) und Schuchardt; Literaturhinweise u. a. bei Schräder, AMA, 212ff. Nr. 312 (Schuchardt); F. Gerke, Griechische Plastik, 218; G. Lippold, Griechische Plastik, 79f.; R. Lullies, Griechische Plastik 2 , 43; L. Alscher, Griechische Plastik, II 1, 23ff. in Anm. 38 und 39 auf S. 223; Schefold, Nachbarn, 167; Kleine, Chronologie, 36ff.
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ihnen zu sehen, zu dessen Hause der Künstler der Gruppe in Beziehung gestanden haben muß, ist zeitlich nicht unmöglich. Beide waren wegen ihres Luxus mit Pferden bekannt." 1 Obwohl die Interpretation der Reitergruppe als mythisch-heroisches P a a r nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann — einige Archäologen haben an der Dioskuren-Auslegung festgehalten 2 —, dominiert seither die Deutung als Denkmal historischer Persönlichkeiten, der Peisistratossöhne Hippias und Hipparchos. An Argumenten und Gesichtspunkten, die über die von Schuchardt genannten hinausführen, ist jedoch nichts Wesentliches hinzugekommen. Die Datierung um 550 hat allgemein Zustimmung gefunden, zumal bei Einbeziehung der beiden angrenzenden Jahrzehnte genügend Spielraum blieb, je nach der als wahrscheinlicher empfundenen Deutung die zeitliche Ansetzung entweder nach oben oder nach unten geringfügig zu „öffnen": 560/550 — Weihung f ü r einen Sieg in einem Pferdewettkampf; 546 — Stiftung f ü r den Sieg in der Schlacht bei Pallene, der die letzte und zeitlich längste Periode der Tyrannenherrschaft in Athen ermöglichte. W. H. Schuchardt f ü h r t als Stütze seiner These die Äußerung des Athenaios bezüglich des Pferdeluxus der Tyrannensöhne an. Dieses Zeugnis hat jedoch f ü r die Deutung der Reitergruppe Rampin nur wenig Beweiskraft, da es sich auf eine spätere Herrschaftsperiode der Peisistratiden bezieht. Athenaios berichtet 3 , daß sich Hippias und Hipparchos beim Erfinden festlicher Gelage und Umzüge hervorgetan hätten; daher habe die Menge der Pferde und andere Dinge bei ihnen überhandgenommen, wodurch ihre Regierung drückend geworden sei. Die Äußerung bezieht sich eindeutig auf die Herrschaftszeit der Tyrannensöhne, d. h. auf die Zeit nach 527. Nicht in der Zuordnung zur Reitergruppe Rampin, sondern zum archäologischen Material des letzten Viertels des 6. J a h r hunderts erhält die Athenaiosüberlieferung ihr Gewicht: neben der Rampingruppe sind an Pferdedarstellungen in der Plastik vor dem letzten Jahrhundertviertel nur drei Reliefs bekannt: das Akropolisrelief des Viergespanns in Vorderansicht 4 (um 570), die von F. Willemsen publizierte Grabbasis aus der Athener 1
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Sehrader, AMA, 225 (Schuchardt). Bis zur Absurdität hat diesen Gedanken H. von Rouques de Maumont, Antike Reiterstandbilder, (West-)Berlin 1958, 7 ff. ausgebaut, indem er das archaische Reiterstandbild mit der Tyrannis der Peisistratiden verbinden wollte. Wegen dieser Grundvorstellung haben seine Interpretationen kaum Beachtung gefunden, obwohl m allgemeinen an der Hippias-Hipparchos-Deutung der Rampinreitergruppe, seinem Ausgangspunkt, festgehalten worden ist. Z. B. G. M. A. Richter, Archaic Greek Art, 65; E. Homann-Wedeking, Das archaische Griechenland, Baden-Baden 1966, 97; vgl. zur Deutung des Kranzes u. a.: Eichenkranz: W. Klein, Geschichte der griechischen Kunst, Leipzig 1904, 201; L. Curtius, Die antike Kunst (Handbuch der Kunstwissenschaft), II 1, Berlin 1926,148; Eppichkranz: Schefold, Bildhauer, 28; G. Lippold, Griechische Plastik, 80; H. v. R. de Maumont, Antike Reiterstandbilder, 8; Efeukranz: R. Lullies, Griechische Plastik 2 , 43. Athenaios XII 532 f. Schräder, AMA, Nr. 418 (Schuchardt).
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Stadtmauer 1 (um 560) und der Reiter auf der Vorderseite einer Grabstele 2 (550/540). Die über dreißig bekannten bzw. nach den Standspuren der Basen vermuteten Pferdeweihungen (Reiter, zügelgeführte Pferde usw.) der Zeit zwischen 530—480 — von denen etwa je ein Drittel in die Herrschaftszeit der Peisistratossöhne, ins Jahrzehnt 510—500 und ins erste Jahrzehnt des 5. J a h r hunderts fällt, während das Jahrzehnt 490—480 durch Denkmäler kaum vertreten ist — heben sich zahlenmäßig recht deutlich davon ab. Die Rampingruppe steht f ü r sich allein; erst knapp eine Generation später begegnen wir wieder freiplastischen Werken, wie beispielsweise dem sog. Perserreiter, einer Weihung des Diokleides 3 . Eine Interpretation, die letztlich allein auf der Grundlage beruht, „ein Paar wie Hippias und Hipparchos gibt es nicht um die Mitte des 6. Jahrhunderts, weder bei den Alkmeoniden, noch bei den Philaiden" 4 , kann nicht mehr sein als eine Hypothese, die auf Grund der ihr innewohnenden Unsicherheitsfaktoren für konkrete Äußerungen zum Verhältnis der Peisistratiden zur bildenden Kunst keine Aussagekraft hat. Ähnlich ist es beim Kopf Sabouroff (Abb. 10), dem Rest einer Statue, „die entweder als privates Weihgeschenk in einem Heiligthume oder vielleicht auch auf einem Grabe stand" 5 . Doch so unsicher wie der genaue F u n d o r t 6 — Athen oder Aigina — ist auch die Deutung 7 : Athlet, Porträt des Peisistratos, Theseusbild. Der Kopf Sabouroff wirkt in seinen knappen, von innen nach außen drängenden Formen ungemein lebendig und erweckt so den Eindruck eines individuellen Porträts. Doch wie sich uns der Kopf heute präsentiert, muß er sich nicht unbedingt auch in seinem ursprünglichen Zustand dargeboten haben. Der Eindruck des Individuellen am Sabouroffschen Kopf wird allein durch die Haarbehandlung hervorgerufen. Die übrigen Formen des Kopfes, wie der Mund, die flach und etwas schräg gestellten Augen, die Ohren usw. sind ganz in der üblichen archaischen Weise gegeben. Es hat daher in der Vergangenheit nicht an Versuchen gefehlt, die Gestaltung der Haarfläche zu erklären. Von den ver1
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F. Willemsen, Archaische Grabmalbasen aus der Athener Stadtmauer, Athenische Mitteilungen 78, 1963, 105ff. Willemsen verbindet mit dieser Basis das bekannte Stelenfragment des Diskosträgers Athen, Nationalmuseum Nr. 8. Athen, Nationalmuseum Nr. 41; F. Johansen, The Attic Grave-Reliefs, Kopenhagen 1951, 94f.; G. M. A. Richter, The Archaic Gravestones of Attica, 2. Aufl. London 1961, 18 f. Nr. 20; L. H. Jeffery, The Inscribed Gravestone of Archaic Attica, Annual of the British School at Athens 57, 1962, 138 Nr. 1. C. Blümel, Die archaisch-griechischen Skulpturen der Staatlichen Museen zu Berlin, Berlin 1963, 13. Kleine, Chronologie, 38. A. Furtwängler, Sammlung Sabouroff, Berlin 1883, Text zu Taf. III u. IV. C. Blümel, Die archaisch-griechischen Skulpturen der Staatlichen Museen zu Berlin, 13. Athlet: E. Buschor, Bildnisstufen, München 1947, 219f.; Porträt: u. a. Schräder, AMA, 17; K. Schefold, Kleisthenes, Museum Helvetioum 3, 1946, 80; Kleine, Chronologie, 40 ff. Theseus: J.Fink, Die ursprüngliche Form des Kopfes Sabouroff, österreichische Jahreshefte 40, 1953, 98ff.
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schiedenen Vorschlägen haben nur zwei ernsthafter Kritik standgehalten. Die eine Auffassung versteht die aufgerauhten Flächen von Haar und Bart als Haarboden, auf dem das Kopfhaar und der Bart in Stuck oder Farbe aufgetragen werden 1 . Die andere hält die Aufrauhung der Haarflächen f ü r eine spätere, aus der Weiterverwendung in römischer Zeit resultierende Zutat 2 . Aber selbst wenn man vom bildnishaften Charakter des Kopfes ausgeht, ist es eine ganz andere Frage, ob man in ihm das Porträt des Peisistratos zu sehen hat. Die Grundlage einer solchen Interpretation bleibt letztlich allein die Vorstellung, daß ein außergewöhnliches, in seiner Zeit fast isoliert stehendes Denkmal mit einer ebenso stark aus dem gesellschaftlichen Leben herausragenden Persönlichkeit zu verbinden ist. Das — und das gilt nicht nur f ü r die beiden behandelten Denkmäler — ist als Grundlage f ü r weiterreichende Folgerungen einfach zu wenig, zumal diese im Grunde genommen keine Aussagen bringen, die über Bekanntes hinausgehen. Die Rampin-Gruppe und der Kopf Sabouroff wurden von verschiedenen Meistern gefertigt. Zählt man noch den oft in diesem Zusammenhang genannten Bildhauer Aristokles, den Schöpfer der AristionStele (Abb. I I ) 3 hinzu — dies nur auf Grund der Tatsache, daß zwei Generationen vorher ein Aristion den Antrag auf Bewilligung einer Leibwache von 50 Keulenträgern f ü r Peisistratos gestellt hatte 4 , mit deren Hilfe der letztere sich dann zum Tyrannen machte —, so haben wir drei Bildhauer, deren Werke als charakteristisch f ü r „peisistratidische Kunstrichtung" gelten; aber es wird nirgends klar, was als bestimmende Komponente diese drei Werke so typisch macht, daß sie als eine besondere, nämlich die „peisistratidische Richtung" unverwechselbar gegenüber der Masse der anderen Kunstwerke bzw. anderen „Richtungen" erscheinen. Im Grunde genommen wird — wenn man vom hypothetischen Charakter der Aussagen einmal absieht — nur deutlich gemacht, was wir bereits oben formuliert hatten: es gab beim Künstler keine einseitig soziale oder politische Bindung an einen bestimmten Auftraggeber, wie es auch bei den Adelsgeschlechtern keine ausschließliche Bindung an einen Künstler gab. 1
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Zur Stucktheorie von C. Blümel vgl. seine Ausführungen: Archäologischer Anzeiger 1937, 52ff.; ders., Katalog der Staatlichen Museen zu Berlin, II, 1 (1940), 6f.; ders., Die archaisch-griechischen Skulpturen der Staatlichen Museen zu Berlin, 14 f. — Zum Vorschlag, das Haar sei wegen der Farbgebung aufgepickt worden, vgl. u. a. L. Curtius, Antike Kunst, II 1, 153; L. Budde, Kuroi, Würzburg 1939, 50 Anm. 24. J. Fink, Die ursprüngliche Form des Kopfes Sabouroff, Österreichische Jahreshefte 40, 1953, 95; C. Blümel, Die archaisch-griechischen Skulpturen der Staatlichen Museen zu Berlin, 14, vgl. auch die Rezension von R. Heidenreich, Deutsche Literaturzeitung 85, 1964, 810. Athen, Nationalmuseum Nr. 29; Reliefstele mit Basis, Werk des Aristokles, gefunden in Velanideza. H. Schräder, Aristokles, Antike 18, 1942, 95ff.; G. M. A. Richter, The Archaic Gravestone of Attica 2 , 47 Nr. 67; L. H. Jeffery, The Inscribed Gravestone, 141 Nr. 52; Kleine, Chronologie, 43 ff. Herodot I 59; Aristoteles, Verfassung der Athener 14,1; Scholion zu Piaton, Staat VIII 566a; Polyainos I 21,3; Plutarch, Solon 30, 3f.; Diodor XIII 95,6; Aelian, Bunte Geschichte VIII 16; Justin II 8,6 ff.
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E t w a s weiter gefaßt ist die „peisistratidische Richtung" in ihrer Charakterisierung als „Hofkunst". Ausgangspunkt dieser Auffassung ist die V e r k n ü p f u n g der Gewaltherrschaft mit der Herrschaftsform des Königs- u n d F ü r s t e n t u m s 1 . Ihre stärksten Impulse haben diese Vorstellungen zweifellos durch die A n n a h m e b e k o m m e n , die B u r g v o n A t h e n sei der W o h n s i t z der Tyrannenfamilie gewesen. D a m a n mit dieser These wie mit einer gesicherten Tatsache arbeitete u n d die Peisistratiden wie K ö n i g e auf der Akropolis residieren ließ, m u ß t e m a n zwangsläufig zu Ansichten k o m m e n , die in der Vorstellung des „Tyrannenhofes" u n d einer „Hofkultur" gipfelten 2 . Aber alle diese Auslegungen bleiben zweifelhaft, weil sich die These, die Akropolis sei W o h n s i t z der T y r a n n e n gewesen, weder durch literarische noch durch m o n u m e n t a l e B e w e i s e s t ü t z e n läßt 3 . D a m i t ent1
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So glaubte beispielsweise F. Taeger (Charisma, 1, Stuttgart 1957, 81) bei den Peisistratiden noch Anklänge an das patriarchalische Königtum sehen zu können; verbreiteter sind Äußerungen, wie etwa die von G. Gruben, in: H. Berve — G. Gruben, Griechische Tempel und Heiligtümer, München 1961, 165: „Unter dem Usurpator Peisistratos (561—527), dem eher königlichen als tyrannischen . . . " Z. B. F. Gerke, Griechische Plastik, X X V I I : „Vor Peisistratos hatte der Hof des Periander von Korinth ungeheure Wirkung gehabt . . . Die peisistratidischen Jünglings- und Reitergestalten sind politische Menschen, die bei Hofe leben und wie die Künstler, von denen sie geschaffen sind, von dem verschwenderischen Reichtum politischen und musischen Hoflebens existieren. Solonische Frauengestalten sind Muttergöttinnen oder strenge Königinnen; die Koren der Tyrannis sind Hofdamen. Die Kunst wurzelt nicht mehr im polisgebundenen Volk und erst recht nicht im stammgebundenen Ethos. Träger der peisistratidischen Kunst ist vielmehr die höfische Oberschicht oder gar nur die Künstlerschaft. Kunst und Literatur sind bei Hofe Bildungsangelegenheiten." G . H a f n e r , Geschichte der griechischen Kunst, Zürich 1961, 109: „Das Frauenideal dieser internationalen Tyrannenwelt ist die Kore, das Mädchen, welche das höfische Leben kennt und es versteht, sein Kleid vorschriftsmäßig zu tragen und zierlich zu raffen." Die Vorstellung, die Burg von Athen sei der Wohnsitz der Tyrannen gewesen, finden wir bereits in der wissenschaftlichen Literatur des vorigen Jahrhunderts, z. B. bei C. Wachsmuth, Die Stadt Athen im Altertum, 1, Leipzig 1874, 497; G. Hertzberg, Athen, Halle 1885, 35. In unserem Jahrhundert ist die Verbreitung dieser These vornehmlich durch W. Zschietzschmann (Peisistratos und die Akropolis, Klio 27, 1934, 209ff. — so z. B. 216: Peisistratos . . . „baute sich hier einen Palast, wie in der Vorzeit seine königlichen Vorgänger") und E. Langlotz (Schräder, AMA, 9; Langlotz griff diese Gedanken auf und wollte damit erklären, daß während der Herrschaft des Peisistratos nur etwa 4 Koren auf der Burg geweiht wurden) erfolgt. Grundlage der These sind Herodot I 59 (Peisistratos bemächtigte sich mit Hilfe seiner Leibwache von Keulenträgern der Burg und machte sich so zum Gewaltherrscher) und V 90 (die Orakelsammlung der Peisistratiden fiel Kleomenes auf der Burg von Athen in die Hände). Diese Stellen sind jedoch, wie Herodot V 72 zeigt (Kleomenes und Isagoras und dessen Anhänger bemächtigten sich der Burg, wurden aber dort belagert), nicht beweiskräftig; vgl. F. Eckstein, Rez. de Maumont, Antike Reiterstandbilder, Gnomon 31, 1959, 361 f.; vgl. ferner Thukydides 1126,5 (zu Kylon) und die Motivierung der Befestigung von Munichia durch die Peisistratossöhne bei Aristoteles, Verfassung der Athener 19,2. Die amerikanischen Ausgräber
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fällt nicht nur ein wesentliches Motiv, das zu den Vorstellungen vom „glänzenden Tyrannenhof" geführt hat, sondern überhaupt der Boden für weiterreichende Folgerungen, „wonach die Burg der persönlichen Machtsphäre und damit die Weihung von Denkmälern dem besonderen Einflußbereich der Peisistratiden unterstanden habe" 1 . Der Begriff „Hofkunst" selbst wird allerdings dadurch nicht widerlegt. In diesem Problemkreis ist die Frage des Wohnsitzes zwar wichtig, aber nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Zum entscheidenden Faktor wird vielmehr die Frage, ob — und wenn ja, in welchem Umfang — wir bei den Peisistratiden von einem „Hofleben" sprechen können. Die antike Überlieferung 2 bietet uns kaum Ansatzpunkte, mit Peisistratos Vorstellungen von einem „glänzenden Tyrannenhof" zu verbinden. Er wird als maßvoll und jeden Prunk meidend charakterisiert, was sich im Kronosvergleich und in der Zuordnung zu den Sieben Weisen widerspiegelt. Die antiken Zeugnisse enthalten nichts, was darauf schließen ließe, daß der athenische Tyrann sich mit Künstlern umgab. Darin steht er im Gegensatz zu seinen Söhnen, von denen dies überliefert wird. Bezüglich des postulierten „Hofbildhauers" tritt mit den Zeugnissen ein weiteres Gegenargument auf: Die literarische Überlieferung nennt als Künstler, mit denen sich die Tyrannensöhne umgaben, nur Vertreter des geistig-musischen Genres 3 : Onomakritos, der Orakeldeuter und Ordner der peisistratidischen Orakelsammlung des Musaios sowie die Lyriker Lasos von Hermione, Anakreon von Teos und Simonides von Keos. Auch die Quellen 4 , der Athener Agora halten den Vorgängerbau der Tholos für die „Stadtresidenz" der Peisistratiden, verlegen also ihren Wohnsitz ins Stadtgebiet, ohne allerdings Gründe für ihre Annahme zu nennen. S. M. Lang — W. J . Eliot, The Athenian Agora, a Guide, 2. Aufl. Athen 1962, 21. 1 F. Eckstein, Rez. de Maumont, Antike Reiterstandbilder, 361; vgl. zu dieser als zusammenfassende Charakterisierung im Ton abgeschwächten Aussage die pointiertere bei de Maumont: „Man muß annehmen, daß die Aufstellung von Statuen in der Residenz der Genehmigung der Tyrannen bedurfte. Es würde jeder höfischen Tradition und vor allem der Herrscherauffassung der damaligen Zeit widersprochen haben, wenn irgendein beliebiger Bürger seine Reiterstatue, deren Größenverhältnisse selbst die Standbilder der Tyrannensöhne in den Schatten stellten, der Göttin geweiht hätte, während auf der anderen Seite die Monumentalität eines solchen Denkmals für den Fürsten von Athen durchaus berechtigt war" (11); oder: . . . „da die geringe Zahl von Reiterstatuen der archaischen Zeit eher den Gedanken nahelegt, daß nur wenige Auserwählte, vielleicht nur die Familie des Tyrannen und seine nächste Umgebung, das Recht hatten, hier an bevorzugter Stelle ihre Bildnisse der schirmenden Göttin zu weihen, . . ." (11 f.). 2 Eine übersichtliche Quellenzusammenstellung findet sich bei E. Kluwe, Die Tyrannis der Peisistratiden und ihr Niederschlag in der Kunst, Diss. Jena 1966 (maschinenschriftlich), 284 ff. 3 Onomakritos: Herodot VII 6. Lasos von Hermione: Herodot VII 6. Anakreon von Teos: (Piaton) Hipparchos 228 c; Aristoteles, Verfassung der Athener, 18; Charmides 157 e. Simonides von Keos: (Piaton) Hipparchos 228 c; Aristoteles, Verfassung der Athener 18; vgl. Rhetorik 1367 b; Aelian, Bunte Geschichte V I I I 2. 4 Vgl. E. Kluwe, Tyrannis der Peisistratiden, 299 ff.
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die von einer eigenen Betätigung der Tyrannensöhne auf kulturellem Gebiet berichten, weisen in diesen Bereich. Nur für ihn galt das adlige Mäzenatentum in dieser Zeit. Es gibt nichts, was ihr Verhältnis zur bildenden Kunst näher charakterisiert. Das ist eine auffallende und sicher nicht zufällige Erscheinung. F ü r die Annahme eines „Hofbildhauers" fehlt damit die wesentlichste Grundlage. So erklärt sich auch, warum die Anknüpfungspunkte für die in der archäologischen Literatur 1 als „Künstler in Tyrannendienst" bezeichneten Persönlichkeiten wie Phaidimos, Endoios, Aristokles, der Rampin-Meister u. a. ausnahmslos entweder die als Vorschlag unterbreitete Zuweisung eines Denkmals (meistens Akropolisanatheme) oder allgemein die Annahme des „Tyrannenhofes" waren, mit dem die hervorragendsten Künstler dann in Beziehung gesetzt wurden. Mit der Ablehnung der Thesen vom „Tyrannenhof", einer „Hofkultur", „Hofbildhauern" usw. ist jedoch nicht die Möglichkeit eines zeitweiligen oder länger andauernden Kontaktes zwischen Künstler und Auftraggeber geleugnet, der sich auf der Basis des konkreten Auftrages vollzog. Bei den Peisistratiden ist eine solche Diskussion aber mangels Kenntnis von bestimmten Aufträgen gegenstandslos; bei anderen Adelsgeschlechtern, z. B. den Alkmeoniden, läßt sich dieser Kontakt nachweisen. Als Repräsentant der „alkmeonidischen Kunstrichtung" schlechthin gilt der athenische Bildhauer Antenor, der für den Töpfer Nearchos die oben behandelte Kore (Abb. 4) schuf. Das Aufzeigen stilistischer Verwandtschaften, die diese Mädchenfigur mit den Giebelfiguren des Apollontempels in Delphi verbinden, dessen Fertigstellung die Alkmeoniden übernahmen, wurde oft mit der Annahme gekoppelt, der Künstler habe zu Kleisthenes, dem damaligen H a u p t der Alkmeonidenfamilie, in einem ähnlichen Verhältnis gestanden wie gut ein halbes Jahrhundert später Phidias zu Perikles 2 . Das bewußte Anknüpfen an die altattische Tradition in einer Zeit zunehmender ionischer Überfremdung, das sich bei der Gestaltung der Kore beispielsweise in den kräftigen, fast matronalen Körperformen ausdrückt, wird als „künstlerischer Ausdruck der verbannten reaktionären Adelspartei" 3 gewertet. Eine solche Interpretation muß zwangsläufig Zweifel wecken. Die Weihung eines Töpfers, die etwa ein Jahrzehnt vor der Auftragserteilung der Alkmeoniden an den Bildhauer Antenor liegt, als das künstlerische Symbol des Widerstandes eines Adelsgeschlechtes oder der adligen Opposition hinzustellen, ist, schon 1 Z. B. Endoios - A. Rumpf, Critica dell'Arte 14, 1938, 41 ff.; Phaidimos — K. Schefold, Bildhauer, 41 ff.; Aristokles — H. Schräder, Aristokles, Antike 18, 1942, llOff. Zu diesen treten die namentlich nicht bekannten und nach Denkmälern benannten Meister wie z. B. der Rampin-Meister Vgl. für die Art und Weise dieser Zuschreibungen etwa Kleine, Chronologie, 40 ff. 2 K. Schefold, Kleisthenes, 65; vgl. ferner z. B. A. Rumpf, Griechische und römische Kunst, Einleitung in die Altertumswissenschaft, 4. Aufl., Bd. 2, Heft 3, Leipzig-Berlin 1931, 23; H. Schräder, Archaische griechische Plastik, Breslau 1933, 30f. 3 H. Schräder, AMA, 84 (Langlotz).
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vom Logischen her, wenig überzeugend. Der Gedanke gewinnt nicht an Glaubwürdigkeit, wenn man die weiteren Denkmäler betrachtet, die hypothetisch mit der Alkmeonidenfamilie in Verbindung gebracht werden. Die sog. Geschwisterstele 1 (rekonstruierte Höhe ca. 4,20 m) entstand, wenn die Grabinschrift richtig zu „Megakles" ergänzt ist, im Auftrage eines Angehörigen der Alkmeonidenfamilie. Der größte Teil der Stele wird in New York, ein kleineres Bruchstück in den Staatlichen Museen zu Berlin aufbewahrt (Abb. 12). Die Datierungen schwanken zwischen 540 und 514 und sind abhängig von der Annahme und der Dauer des Exils der Alkmeoniden. Der Meister der Geschwisterstele ist namentlich nicht bekannt, sein Oeuvre noch nicht zu fassen, doch zweifellos handelt es sich bei ihm um einen Bildhauer „von höherer Qualität, als es Antenor war" 2 . Weit unsicherer ist die in letzter Zeit wiederholt vorgebrachte Verbindung einer Grabstatue aus Anavysos (Abb. 13). „Bleibe stehen und traure bei dem Grabmal des toten Kroisos, den unter den Kämpfern in vorderster Linie der ungestüme Ares dahingerafft h a t " 3 , lautet das Grabepigramm. Die Annahme nun, daß dieser Kroisos ein Alkmeonide war, beruht auf einer Anekdote bei Herodot 4 , wonach die Alkmeoniden dem Lyderkönig Kroisos ihren Reichtum verdankten. Der Hinweis auf die Schlacht, in der Kroisos fiel, bietet für die nach stilistischen Kriterien getroffene Datierung des Grabmals um 530/520 keine Stützen, eröffnet vielmehr Raum für eine Reihe von Hypothesen hinsichtlich möglicher historischer Ereignisse im Kampf gegen die Tyrannenherrschaft, die von der Schlacht bei Pallene (546) bis zu den Kämpfen bei Leipsydrion (513) oder beim Sturz der Tyrannen (510) reichen, obwohl f ü r die Fertigung des Grabmals die letzteren aus stilistischen Gründen nicht in Betracht kommen. Akzeptiert man die subjektiven Deutungen, so sind zwar drei Auftragswerke der Alkmeonidenfamilie aufgezeigt, doch es ergibt sich eine ähnliche Situation wie bei der Prüfung der Glaubwürdigkeit der Annahme einer „peisistratidischen Kunstrichtung": das Nachweisen von Kunstwerken, die sich mit einem Adelsgeschlecht, wie beispielsweise den Alkmeoniden, mehr oder weniger sicher in Verbindung bringen lassen, ist etwas ganz anderes, als das Postulieren einer „alkmeonidischen Kunstrichtung", weil dies das Herausarbeiten von Charakteristika verlangt, von Bezugspunkten, in denen die künstlerischen Einzelaus1 New York, Metropolitan Museum 11. 185 und Berlin, Staatliche Museen A 7; G. Lippold, Griechische Plastik, 83; G. M. A. Richter, Archaic Greek Art, 76; dies., The Archaic Gravestones of Attica, 27ff. Nr. 37; Zinserling, Abriß, 96ff.; Kleine, Chronologie, 51 ff. 2 Kleine, Chronologie, 52. 3 Zitiert nach Kleine, Chronologie, 53. Zur hypothetischen Kopplung des nicht griechischen Namens Kroisos mit einem Mitglied der Alkmeonidenfamilie vgl. die Argumentationen bei G. M. A. Richter, Kuroi, 2. Aufl. London 1960, 116; L. H. Jeffery, The Inscribed Gravestone, 144; E. Homann-Wedeking, Das archaische Griechenland, BadenBaden 1966, 136; L. W. Th. Eliot, Where did the Alkmaionidai live?, Historia 16, 1967, 279ff.; Kleine, Chronologie, 54 und 145ff. < Herodot VI 125.
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sagen der jeweiligen Meister trotz ihrer spezifischen Stileigenheiten zu einer Gesamtaussage zusammenlaufen. Da diese Bezugspunkte fehlen, konnte man zwangsläufig beim Aufzeigen der „peisistratidischen" wie auch der „alkmeonidischen" Richtung über die Zuweisung einzelner, isoliert nebeneinanderstehender Denkmäler an einzelne Adelsgeschlechter nicht hinausgelangen. Der Mangel an Fakten, die Auskunft über die Beziehungen zwischen adligem Auftraggeber und Künstler geben, vergrößerte die Variationsbreite subjektiver Deutungen. So stehen in der archäologischen Fachliteratur neben der bereits angeführten Charakterisierung des Antenor „als künstlerischer Ausdruck der reaktionären Adelspartei" auch andere Auffassungen, die der von Langlotz vertretenen Ansicht entgegengesetzt sind. Das gilt beispielsweise f ü r die von Mercklin: „Hervorragende Künstler, von denen einer, Antenor, uns mit Namen bekannt ist, waren in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts am glänzenden Hofe des Tyrannen Peisistratos und seiner Söhne in Athen tätig." 1 Bei der Charakterisierung der „alkmeonidischen Kunstrichtung" selbst verschieben sich zudem durch die Zuordnung von Kunstwerken ständig die Akzentuierungen. Aus der Zuweisung der Geschwister-Stele und des Grabmals des Kroisos ergibt sich beispielsweise, daß Antenor nun „weder als alleiniger noch als bester Repräsentant einer alkmeonidischen Richtung in der Geschichte der archaischen K u n s t " 2 gelten kann. Neben dem Bemühen, die Kunst im Umkreis der im politischen Leben dominierenden Adelsgeschlechter zu ermitteln, steht seit langem das Streben, die „Kunstrichtungen" mit den geistigen Hauptströmungen dieser Periode zu identifizieren. Mit den Solonischen Reformen, verstärkt aber seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts setzte in Athen ein wirtschaftlicher und politischer Aufstieg ein, der diese Polis nach der Abwehr der Persergefahr in den Schlachten von Salamis und Plataiai als gleichberechtigte Hegemonialmacht neben Sparta treten ließ. Das aufstrebende Athen zog nicht nur Handel- und Gewerbetreibende, sondern auch Kunstschaffende aus vielen Teilen der antiken Welt an. So trafen hier die verschiedenen Geistes- und Kunstströmungen zusammen, vollzog sich parallel zum ökonomischen und politischen Aufstieg eine Entwicklung, die Athen zum bedeutendsten kulturellen Zentrum Griechenlands werden ließ. I n dem Bestreben, Widerspiegelungen konkreter historischer Situationen und Entwicklungsabläufe in der Kunst aufzuspüren, haben einige Forscher geglaubt, zwischen dem Vorherrschen des Attischen, Ionischen oder Dorischen in spätarchaischer Zeit und dem Vorherrschen politischer Gruppierungen einen direkten Zusammenhang herstellen zu können. Da in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts ein intensiver ionischer Einfluß die altattische Richtung zu überdecken beginnt und die Auseinandersetzung mit dem ionischen Formengut die Kunst der folgenden Jahrzehnte beherrscht, 1 2
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war es naheliegend, das Bevorzugen ionischer Vorbilder mit dem Geschmack der athenischen Tyrannen zu erklären und die ionische Richtung als die „peisistratidische" hinzustellen. Zogen die Peisistratiden auf Grund ihrer Lebens- und Regierungsweise den ionischen Stil vor, so bot sich ihren politischen Gegnern, den Alkmenoiden, ein Stil von selbst an: der attische. Das bewußte Anknüpfen an die altattische Tradition wird zum künstlerischen Ausdruck politischer und kulturpolitischer Opposition. Schwierigkeiten bereitete eigentlich nur die dritte, die dorische Richtung, da das dritte der großen und berühmten Adelsgeschlechter, die Philaiden, mit Beginn der Tyrannenherrschaft ihr Wirkungsfeld außerhalb Athens suchten, es auf der thrakischen Chersonnes fanden und daher in der attischen Kunstgeschichte der spätarchaischen Zeit gegenüber den beiden anderen Adelsgeschlechtern zurücktraten. An die Stelle der Philaiden rückte daher eine meist nicht näher charakterisierte aristokratische Gruppierung, die entsprechend ihrer konservativen Haltung und Lebensweise im Dorischen das Vorbildhafte sah. Wie bei der Postulierung einer „peisistratidischen" und einer „alkmeonidischen" Kunstrichtung so ist auch für diese Auslegungen eine detaillierte und überzeugende Beweisführung nicht vorgelegt worden. Meistens beschränkt man sich auf gelegentliche, beiläufige Bemerkungen. Darüber hinausgegangen ist bislang nur Karl Schefold. Vor etwas mehr als einem Vierteljährhundert hat er mit seinem Aufsatz „Kleisthenes — der Anteil der Kunst an der Gestaltung des jungen attischen Freistaates" 1 dieser Richtung und überhaupt den Bestrebungen, mittelbare und unmittelbare Zusammenhänge zwischen Kunst und Politik aufzuzeigen, neue Impulse gegeben. Vor allem seine Autorität als Wissenschaftler war es, die dieser Betrachtungsweise Geltung verschaffte. Im Prinzip hielt Schefold an den oben charakterisierten Identifikationen fest. Das wird an einem seiner wesentlichen Ausgangspunkte deutlich: „Drei geistige Richtungen sind im Athen des späten 6. Jahrhunderts zu unterscheiden, die den für die Zeit Solons geschilderten politischen Richtungen entsprachen." 2 Die Berechtigung einer solchen Aussage erweckt von vornherein Zweifel. Ed. Will 3 , der sich als einziger bisher ausführlicher mit der Schefoldschen Interpretation auseinandergesetzt hat, hat sie als von der politischen und ideologischen Konzeption her modernistisch zurückgewiesen. Da Ed. Will sich auf eine allgemeine, das archäologische und historische Material wenig benutzende Auseinandersetzung beschränkte, bleibt eine kritische Prüfung der Schefoldschen Auffassungen unerläßlich. Beginnen wir mit dem Historischen! Schefolds pauschale Gleichsetzung der politischen „Richtungen", also der „Parteien" des frühen mit denen des späten 6. Jahrhunderts, negiert die Entwicklung eines Jahrhunderts und verbietet sich wegen der veränderten sozialen und sozialökonomischen Verhältnisse von 1 2 3
Museum Helveticum 3, 1946, 59ff. K. Schefold, Kleisthenes, 78. Ed. Will, Dorfens et Joniens, Paris 1956, 93 ff.
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selbst. Wenn Schefold z. B. das Uberwiegen der Koren- gegenüber den Kuroiweihungen mit den sozialen Verschiebungen in Athen im Verlaufe des 6. J a h r hunderts in Zusammenhang bringt und darin ein anschauliches Beispiel dafür sieht, „daß den Peisistratiden dasselbe Bürgertum über den Kopf wuchs, das man seit Solon gefördert hatte" so verweist er praktisch selbst auf diese E n t wicklungsprozesse. Schefold und die anderen Vertreter dieser Auffassung verbinden die einzelnen Lokaltraditionen nicht mit bestimmten Klassen oder sozialen Schichten, sondern mit den verschiedenen politischen Interessengruppen innerhalb der athenischen Polis. Das muß betont werden. I n gewissem Sinne aufgehoben wird diese Prämisse nur in einem Falle, bei der — das Dorische bevorzugenden — Gruppierung, die sozial klar zu bestimmen ist. Bei den anderen „Parteien" ist es nötig, deren soziale Zusammensetzung und Programme zu umreißen. Hier beginnen die Probleme. Da wir an anderer Stelle unsere Auffassung zu den drei „Parteien" im archaischen Athen dargelegt haben 2 , mögen einige wenige Bemerkungen zur Charakterisierung des Problems genügen. Politische „Parteien" im heutigen Sinne mit festen Organisationsformen und Programmen hat es in der Antike nicht gegeben. Das Bild, das uns die antike Überlieferung von diesen politischen Gruppierungen überliefert, charakterisiert diese „Parteien" als im Kampf um die politische Macht rivalisierende Gruppen der zerbröckelnden Adelsklasse, die jeweils von Vertretern eines der großen attischen Adelsgeschlechter geführt werden. I n diesem Sinne versteht auch Schefold die „Parteien", da er Kleisthenes vor allem als H a u p t der Alkmeonidenfamilie bestimmenden Einfluß auf die attische Kunst einräumt. Er bleibt damit bei der Behandlung des Problems im oben abgesteckten R a h m e n : bewußter Wettkampf der beiden im politischen Leben Athens führenden Adelsgeschlechter auch auf dem Gebiete der Kunst. Betrachten wir nun Schefolds These etwas näher! Nach der Charakterisierung seines Ausgangspunktes, daß die geistigen den politischen Richtungen entsprochen hätten, folgt die traditionelle Identifizierung der ionischen mit der peisistratidischen: „Die erste (geistige Richtung — Kl.) ist die der Tyrannen, ionierfreundlich, aber den verbannten Aristokraten und Sparta feind, abgesehen von einzelnen Versuchen der Annäherung." Diese Aussage scheint auf den ersten Blick eindeutiger, als sie wirklich ist. Schefold selbst schränkt sie im folgenden auch immer wieder ein: die ionischen Elemente kamen nicht als Fremdkörper nach Athen. Seit dem zweiten Viertel des 6. Jahrhunderts wurde die attische Kunst immer empfänglicher f ü r ionische Anregungen. Im übrigen läßt sich eine scharfe Grenze zwischen der ionischen und der attischen Richtung unter den attischen Künstlern nicht ziehen. Die Mehrzahl der attischen Bildhauer stand dem ionischen Einfluß mehr passiv als aktiv gegenüber und bewahrte trotz der Übernahme ionischer Elemente die eigene attische Tradition. Die Unterschiede 1 K. Schefold, Kleisthenes, 85. 2 E. Kluwe, Bemerkungen zu den Diskussionen über die drei „Parteien" in Attika zur Zeit der Machtergreifung des Peisistratos, Klio 54, 1972, 101 ff.
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liegen allein im Grad der Übernahme und Verarbeitung ionischen Formengutes, wobei die bedeutenden Bildhauer weniger, die schwächeren mehr ionische Elemente aufnahmen. Nun ist es eine Tatsache, daß wir mit den Peisistratiden kein einziges freiplastisches Werk sicher verbinden können. Die Giebelskulpturen des peisistratidischen Athenatempels bleiben daher noch der beste Ansatzpunkt. Sie stehen aber ganz in der attischen Tradition. Schefold erklärt diese Tatsache „politisch", indem er die Errichtung des peisistratidischen Athenatempels in Beziehung bringt mit der Übernahme der Verpflichtungen der Alkmeoniden beim Wiederaufbau des 548 abgebrannten Apollon-Tempels in Delphi: „Im anderen großen ionischen Apollon-Heiligtum, in Delos, h a t t e Peisistratos den bestimmenden Einfluß gewonnen, den Athen durch alle Jahrhunderte behielt, solange es mächtig war . . Z' 1 „Der von den Peisistratiden geweihte Tempel mit dem Gigantengiebel gehört ganz der altattischen Richtung an, wie wenn er auch darin mit dem Alkmeonidentempel in Delphi wetteifern wollte — gerade dadurch wirkt er neben der verfeinerten höfischen Kunst in Athen als auffallende Ausnahme." 2 Damit sagt Schefold aber nichts anderes, als daß die Peisistratiden a u c h bewußt den attischen Stil pflegten, ihn als künstlerischen Ausdruck im politischen Kampf verwendeten. Die Peisistratiden verschlossen sich aber auch nicht gegenüber der letzten der drei geistigen Strömungen, der dorischen. Wir wissen vom Proxenieverhältnis der Peisistratiden mit Sparta, vom Wirken des Thespis, des Lasos von Hermione, des Hegias von Troizen und des Gorgias von Sparta in Athen. Wie Schefold dieses Einfließen dorischer Elemente bewertet, ist interessant, seine Erklärung wenig überzeugend: „Die Peisistratiden waren klug genug, auch vom Dorischen aufzunehmen, was ihnen gemäß war . . . aber bestimmend blieb f ü r die Tyrannen doch das ionische Element, die Neigung zu Delos, während Olympia und Delphi, wo der Adel seine Siege errang, ihnen verschlossen blieb." 3 Hier durchbricht Schefold erneut, gezwungen durch konkrete Fakten, die Prinzipien seiner unzulässig vereinfachenden Gleichsetzungstheorie. Dies wird bei der Charakterisierung der Richtung, die eigentlich dem Dorischen verhaftet sein sollte, noch deutlicher: „Das H a u p t der zweiten, aristokratischen Richtung in Athen ist Isagoras, der Gegner des Kleisthenes. Diesen Spartanerfreunden läßt sich in der bildenden Kunst Athens keine bestimmte Richtung zuweisen ;|soweit sie nicht verbannt waren, paßten sie sich dem herrschenden Geschmack an, wie es in der Statue des Miltiades zum Ausdruck k o m m t " 4 (Abb. 14). Betrachtet man Schefolds Theorie eingehender, so wird ihre Widersprüchlichkeit sehr deutlich. Auf der einen Seite betont Schefold immer wieder, daß „die Verschiedenheit der altattischen, ionischen und dorischen Richtung erst 1 K. 2 K. 3 K. i K. 4*
Schefold, Kleisthenes, Schefold, Kleisthenes, Schefold, Kleisthenes, Schefold, Kleisthenes,
61. 80. 78. 78.
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seit der Vertreibung der Alkmeoniden (nach der Schefoldschen Auffassung also gegen Ende der 20er Jahre des 6. Jahrhunderts) ihre volle geschichtliche Bedeutung gewinnt", daß sich in dieser Zeit „die drei Kunstrichtungen entsprechend den politischen Verhältnissen zu scheiden begonnen haben." 1 Da sich aber die Aristokraten „dem herrschenden Geschmack" anpaßten, direkte und indirekte Beziehungen zu allen drei Strömungen noch am ehesten bei den Peisistratiden aufzuzeigen sind und Schefold sich in seinem KleisthenesAufsatz gar nicht darum bemüht, innerhalb der attischen eine alkmeonidische Richtung klarer umrissen herauszuarbeiten, fehlt seiner These die Substanz. Ganz folgerichtig klingt seine Entsprechungstheorie in Bemerkungen aus, die mit seiner eigentlichen Aussage nur noch wenig gemeinsam haben: „Unter den geschilderten drei Richtungen macht sich die erste, ionische, mehr unter den Tyrannen geltend; die zweite, dorische, nach ihrer Vertreibung. Aber auch innerhalb der dritten, der altattischen Kunst, bringt die Vertreibung der Tyrannen eine gewisse Wandlung" 2 . Niemand wird bezweifeln wollen, daß das Einfließen ionischer und dorischer Stilelemente und die Auseinandersetzung mit diesem Formengut im Verlaufe des 6. und 5. Jahrhunderts mit unterschiedlicher Intensität erfolgte. Jeder wird zur Begründung eine Reihe von Fakten nennen können, die diesen Prozeß förderten oder hemmten. Doch damit ist die Frage der Bewertung auf eine ganz andere Ebene verlagert, die mit der These von der Entsprechung der Stilrichtungen mit politischen „Parteien" — verstanden als Adelshäuser mit ihren Gefolgschaften — nichts mehr gemein hat. Die ionische Kultur war eine Stadtkultur. Tiefgreifenden Einfluß konnte sie nur da erreichen, wo sich ein gleicher Nährboden bot bzw. im Entstehen war. Es ist so kein Zufall, daß in Athen die Zunahme des ionischen Einflusses parallel den Entwicklungsstufen läuft, die sich bei der Herausbildung Athens als städtisches Zentrum abzeichnen. Wie sehr das städtische Leben und die Stadtkultur im letzten Viertel des 6. Jahrhunderts in den Vordergrund gerückt waren, zeigt nicht zuletzt die literarische Überlieferung, die von Beziehungen der Tyrannensöhne zur ländlichen Bevölkerung — abgesehen von indirekten Zeugnissen wie den Hipparchoshermen — nichts mehr berichtet. Es waren vor allem die städtischen Kreise und die Oberschicht, die die ionische Sitte und Bildung annahmen und pflegten. So sind nicht zufällig weder die Antenorkore noch die Geschwisterstele frei von ionischem Einfluß, wie besonders die Gewänder und deren Drapierungen zeigen. Interessant ist die Tatsache, daß zur Stützung der These von einer peisistratidischen und einer alkmeonidischen Kunstrichtung immer Bezug auf die späte Tyrannenzeit genommen wird. Die Ausweitung der Auseinandersetzung auf die Bereiche der Kunst begann demnach mit der veränderten innen- und außenpolitischen Situation gegen Ende der 20er Jahre. Schefold möchte Kleisthenes bestimmenden Einfluß auf die attische Kunst der Jahre von etwa 1 2
K. Schefold, Kleisthenes, 80; zum Verbannungsdatum vgl. 61 f. K. Schefold, Kleisthenes, 80 f.
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520 bis 480 einräumen. Uns interessiert hier vor allem die obere Grenze, da die untere rein spekulativ ist, weil wir über das Todesdatum des Kleisthenes keinerlei Zeugnisse besitzen. Die 20er Jahre des 6. Jahrhunderts sind, was die Politik der Tyrannensöhne betrifft, gekennzeichnet durch die Heranziehung anderer Adelsgeschlechter — unter ihnen auch der Alkmeoniden und Philaiden — zur Mitregierung1. In dieser Zeit freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Peisistratiden und den anderen bedeutenden attischen Adelsfamilien ist wenig Raum für Aktionen sowohl auf politischem als auch auf künstlerischem Gebiet, die die Gegnerschaft zur Tyrannenfamilie dokumentieren sollten. Erst als das gute Verhältnis zu den zur Mitregierung herangezogenen adligen Familien im letzten Jahrzehnt der Tyrannenherrschaft zerbrach, bot sich dazu Anlaß und Gelegenheit. Die nun einsetzende Spätphase brachte eine Verhärtung der Innenpolitik und schnell aufeinanderfolgende Ereignisse, so die Ermordung des Hipparchos und den Beginn der Aktivitäten, an deren Ende die Beseitigung der Tyrannis stand. Ein Teil des politisch aktiven Adels — unter ihnen die Alkmeoniden — ging in dieser innen- und außenpolitisch angespannten Zeit wieder ins Exil. Es ist daher nur zu verständlich, daß Schefold gerade in dieser Zeit die „Verschiedenheit der altattischen, ionischen und dorischen Richtung — ihre volle geschichtliche Bedeutung" gewinnen läßt. Doch wie leer solche Aussagen wirklich sind, wie schwer sie sich mit den Denkmälern selbst vereinbaren lassen, wird allenthalben sichtbar. Auf Grund der realen Machtverhältnisse in Attika paßten sich die im Lande verbleibenden Aristokraten der Situation an. Schefold kann ihnen dementsprechend „in peisistratidischer Zeit keine bestimmte Richtung zuweisen". Bei den politisch aktiven Alkmeoniden ist die Sachlage ähnlich. Der Wirkungsmöglichkeiten in Attika beraubt, war es ihnen nur möglich, im Ausland durch die Übernahme eines Bauauftrages mit den Peisistratiden in Wettstreit zu treten. Die drei Kunstströmungen können als bewußt gewählte Symbole politischer Gruppierungen nirgends so recht als echt miteinander rivalisierend dargestellt werden; nicht das Nebeneinander, sondern das Nacheinander überwiegt. Da für die Darstellung des Wetteiferns der Peisistratiden und Alkmeoniden auf dem Gebiet der bildenden Kunst das konkretisierende Material fehlt, verharren die Aussagen meistens im Allgemeinen, werden vorgetragen, abgeschwächt, zurückgenommen, und, wo sie bleiben, halten sie einer ernsthaften Prüfung nicht stand 2 . 1
2
Das wichtigste Belegstück für diese Zusammenarbeit ist ein Inschriftenfragment mit den Namen der Archonten von 527/26—522/21; siehe dazu B. D. Meritt, Greek Inscriptions, Hesperia 8, 1939, 59ff.; T. J. Cadoux, The Athenian Archons from Kreon to Hypsichides, Journal of Hellenic Studies 68, 1948, 70ff.; A. Andrewes, The Greek Tyrants, London 1956, 109; ausgeschmückt bei H. T. Wade-Gery, Miltiades, Journal of Hellenic Studies 71, 1951, 215ff. Vgl. aus der historischen Forschung z. B. V. Ehrenberg, Ost und West. Studien zur geschichtlichen Problematik der Antike, Brünn-Prag-Leipzig-Wien 1935, 107, und F. Schachermeyr, Die frühe Klassik der Griechen, Stuttgart 1966, 62.
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Bloße subjektive Spielerei wird es, wenn man die geistigen Strömungen nach dem Sturz der Peisistratiden bis in die Klassik hinein mit den politischen Richtungen zu verbinden versucht. Niemand wird bezweifeln wollen, daß seit der Vertreibung der athenischen Tyrannen der Kampf um die Zurückdrängung von Macht und Einfluß des Adels und um die Übernahme aller Rechte und Pflichten durch die vollberechtigten Bürger verstärkt entbrannte und sich diese Auseinandersetzung in den verschiedensten Bereichen des gesellschaftlichen und privaten Lebens vollzog. Man kann Richtung und Inhalt dieses nicht immer geradlinig verlaufenden Prozesses auch mit Begriffspaaren wie z. B. aristokratisch—demokratisch charakterisieren muß sich aber völlig darüber im klaren sein, daß die gesellschaftliche und soziale Struktur im Athen des 5. Jahrhunderts weit komplizierter und vielschichtiger war, als sie auf Grund der Überlieferung — etwa bei Herodot und Thukydides — dargestellt werden kann. Die Quellen vermitteln uns aber nicht nur ein unvollkommenes Bild über die nichtadligen Klassen und Schichten. Was wir über die Stellung des Adels sowohl gegenüber der Tyrannenfamilie als auch gegenüber der demokratischen Staatsform wissen, beschränkt sich auf einige wenige aristokratische Familien. Die auf Ostraka auftauchenden, uns sonst unbekannten Namen, deren Träger zweifellos in der Innenpolitik ihrer Zeit eine wichtige Rolle gespielt haben dürften, machen uns das immer wieder deutlich. Solange wir die „politischen Richtungen" in ihren sozialen Strukturen und ihren ökonomischen und politischen Zielsetzungen nicht konkret fassen und klar voneinander absetzen können, ist eine Gleichsetzung „politischer Richtungen" mit den wichtigsten Lokalstilen nicht mehr als subjektive Spekulation. Ein starres jahrzehntelanges, ja über Generationen währendes Festhalten politischer „Parteien" an ganz bestimmten Lokalstiltraditionen ist zudem gerade f ü r die Zeit des Demokratisierungsprozesses in Athen, in der sich die Oberschichten erstaunlich elastisch und anpassungsfähig zeigten, ein wenig überzeugender Gedanke. E r setzt aber nicht nur Tradition und Kontinuität in in sich selbst fest strukturierten politischen Gruppierungen, sondern auch in den künstlerischen Bereichen voraus. Bei den bildenden Künstlern gab es nach Aussage des archäologischen Materials wohl längerfristige Kontakte, die durch den speziellen Auftrag bedingt waren, doch keine Bindung an e i n Adelsgeschlecht, e i n e n sozialen Stand oder e i n e Polis. Es gab auch keine einseitige Bindung an eine bestimmte politische Gruppierung. Entscheidend war allem Anschein nach vor allem die Attraktivität des Auftrags. Schefolds Theorie ist noch mit einem anderen Problem gekoppelt: neben Werken der Architektur und Plastik stehen zur Stärkung und Erläuterung seiner Ansichten gleichwertig solche der Vasenmalerei. Von den klassischen Archäologen der D D R hat sich W. Schindler 2 mit der Schefoldschen Be1
2
Vgl. z. B. J. Beloch, Die attische Politik seit Perikles, Leipzig 1884, 1 ff.: dazu s. auch A. Rosenberg, Die Parteistellung des Themistokles, Hermes 53, 1918, 308ff. W. Schindler, Kunst und Politik in der Antike, Wissenschaftliche Zeitschrift der Fried-
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trachtungsweise weitgehend identifiziert und sie als ein „bahnbrechendes Beispiel" 1 bezeichnet. Angeregt von K. Schefolds Aufsatz hat er versucht, dessen Gedanken weiterzuführen und geglaubt, anhand von Kompositionsund Strukturanalysen in der attischen Vasenmalerei eine „Parallelität der künstlerischen und politischen Gruppierungen in der ersten Hälfte des 5. Jhs." ja bis in die perikleische Zeit hinein nachweisen zu können. Es geht uns nicht darum, die Bedeutung der stilkritischen Methode in der archäologischen Forschung einschränken zu wollen, sondern um die noch vertretbaren Grenzen möglicher Schlüsse aus der Vasenmalerei für die Gesellschaftsgeschichte. Mit der Möglichkeit, einen Vasenmaler individuell erfassen und bei einem Zugewanderten die Heimat annähernd bestimmen zu können, sowie durch die Vaseninschriften und Fundanalysen griechischer Keramik usw. ergeben sich selbstredend eine Reihe von Ansatzpunkten für ökonomische, soziale und politische Studien und Aussagen. Doch trotz mancher Mahnung zu einer realistischen Einschätzung der Bedeutung der feinen griechischen Keramik für die ökonomische und politische Geschichte der griechischen Poleis 2 , dominiert heute in der Forschung noch weitgehend eine einseitige, die Fakten unzulässig verallgemeinernde und dadurch überbewertende Betrachtungsweise. Ähnliches gilt für das Bewußtmachen des Sinns griechischer Vasenbilder. E. Langlotz z. B. hat zweifellos völlig zu Recht auf einige Verzerrungen hingewiesen: „Es ist ein naiver Kurzschluß, alle uns erhaltenen Vasen seien Gebrauchsgeschirr der Athener gewesen. Ein differenzierendes Betrachten und Scheiden der Vasen läßt erkennen, daß es Unterschiede gegeben hat zwischen dem tatsächlichen Gebrauchsgeschirr aus den Wohnvierteln Athens und Olynths und den Vasen aus den Nekropolen ebenso wie aus den Heiligtümern, in die sie als Votive geweiht worden sind. Schätzungsweise haben kaum 5 % dem täglichen Leben gedient, während etwa 80 % der erhaltenen Vasen in Gräbern gefunden worden sind. Von all diesen Vasen sind aber in Attika wieder etwa nur 5 % gefunden worden, dagegen etwa 70 % in Italien. Das Bewußtwerden dieser Tatsache differenziert das zu behandelnde Problem noch mehr. Wir dürfen deshalb attische Vasenbilder nicht isoliert betrachten, gleichsam im stilistischen oder mythologischen Labor der Archäologie, sondern
1 2
rieh-Schiller-Universität Jena, Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe 14, 1965, Heft 1, 49ff.; ders., Die Kompositionsprinzipien der Hochklassik in der Vasenmalerei, in: Die griechische Vase, Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, Gesellschaftsund Sprachwiss. Reihe 16, 1967, Heft 7/8, 511 ff. W. Schindler, in: Die griechische Vase, 512 Anm. 8. R. M. Cook, Die Bedeutung der bemalten Keramik für den griechischen Handel, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 84, 1959, 114ff.; E. Kluwe, Die Vasenkunst in der Peisistratidenzeit und ihr Aussagewert für die Wirtschafts- und Kulturpolitik der athenischen Tyrannen, in: Die griechische Vase, Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe 16, 1967, 470ff.; sehr illustrativ ist die zahlenmäßige und chronologische Übersicht der bekannten Töpfer und Vasenmaler bei Webster, Potter and Patron, 2.
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wir müssen versuchen, die Vasenbilder im Context des Lebens ihrer Entstehungszeit zu sehen und zu verstehen." 1 Das von W. Schindler angewandte Prinzip, mittels Kompositionsanalysen u. a. von rotfigurigen Schalen des Kleophrades-, des Brygos-, des Berliner und des Penthesilea-Malers verschiedene Kompositionsgruppen voneinander zu trennen, den Anteil der einzelnen Kunstkreise am Entwicklungsablauf des attisch-rotfigurigen Stils ermitteln zu wollen usw., wird jeder Archäologe bejahen. Steht am Ende einer Analyse — beispielsweise der Außenbilder der Schale des Brygos (Abb. 6 im Beitrag V. Zinserling) 2 oder des Innenbildes der Schale des Penthesilea-Malers (Abb. 8 im Beitrag V. Zinserling) 3 — die Aussage, daß der erste dem ionischen der letztere dem attischen Kunstkreis zugewiesen werden muß, so sind das Folgerungen, die eine Grundlage haben. Problematisch wird es aber, wenn diese Feststellungen ohne Beweisführung zur Aussage erweitert werden: die aus der Unterscheidung der Bildkompositionen im Hinblick auf ihre herkunftsbedingte Eigenart gewonnenen Ergebnisse stellten einen Beitrag zur Ermittlung der einzelnen Strömungen in der attischen Kunst dar, die „mit den politischen Strömungen ihrer Zeit in Zusammenhang gebracht werden können"'"'. Bedenkt man, daß die vielen Tausend uns bekannten schwarz- und rotfigurigen Vasenbilder kaum einen direkten Hinweis auf die langwierigen und harten, ja oft blutigen Auseinandersetzungen innerhalb der attischen Polis des 6. und 5. Jahrhunderts geben 5 , so muß eine solche, an Darstellungen wie der Iliupersis oder Heraklesabenteuern gewonnene Aussage befremdend wirken. Der soziale Status der Töpfer und Vasenmaler macht einen länger andauernden Kontakt zu Vertretern der Oberschichten, insbesondere des Hochadels, von vornherein unwahrscheinlich. Schon von den Wertgrößen her 6 verliert der konkrete Auftrag, sonst ein wichtiges Bindemittel, in diesem Zusammenhang an Bedeutung. Die Töpfer produzieren in der Regel auf Vorrat, und oft — insbesondere natürlich beim Fernhandel — trat zwischen Hersteller und Käufer der Händler. Doch die Töpfer verkauften ihre Waren auch selbst 7 . T. B. L. 1
E. Langlotz, Der Sinn attischer Vasenbilder, in: Die griechische Vase, Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe 16, 1967, 474. 2 Paris, Louvre G 152; J. D. Beazley, Attic Red-figure Vase-painters, 2. Aufl. Oxford 1963 ( = ARV 2 ), 369 Nr. 1; W. Schindler, Kunst und Politik, 32 Abb. 2. 3 München 2688; J. D. Beazley, ARV 2 ,879 Nr. 1; W. Schindler, Kunst und Politik, 53 Abb. 5. 4 W. Schindler, Kunst und Politik, 54; vgl. auch 51 und 55, bes. Anm. 29; Kompositionsprinzipien, 511 f. und 520. 5 Himmelmann, Homerische Gesellschaft, 11 f. 6 Zur Frage der Preise zuletzt Webster, Potter and Patron, 7 und 270ff.; eine große Marmorstatue mag in dieser Periode um 200, eine Bronzestatue um 500 Drachmen gekostet haben (Webster 7), ein etwa 40—50 cm hohes Gefäß der normalen Vorratsproduktion zwischen 10 und 20 Obolen (1 Drachme = 6 Obolen), bei Einzelanfertigung vielleicht bis zu 2 Drachmen; vgl. Webster 270ff. 7 V. Ehrenberg, Aristophanes und das Volk von Athen, Zürich-Stuttgart 1968, 135 f.; Webster, Potter and Patron, 42ff.
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Webster hat unlängst — ausgehend vor allem von Inschriften und Kalos(Schönheits-) Preisungen — eine Reihe von Beispielen zusammengestellt, die er als spezielle private Aufträge auffaßt. Es kann uns in diesem Zusammenhang nicht darum gehen zu prüfen, ob Websters Argumente in allen Fällen stichhaltig sind, denn bei vielen Zuweisungen ist der Ausgangspunkt die Interpretation einer Kalos-Inschrift. Von den 44 angeführten Gefäßen wurden nur 5 in Attika gefunden, der Rest, fast neun Zehntel, außerhalb Attikas; das Argument des Weiterverkaufs nach erfülltem Zweck (etwa nach einem Symposium) vermag nicht recht zu überzeugen. Gleichwohl, für unsere Untersuchung ist es wesentlich, daß sich bei keiner dieser Vasen — die meisten entstammen der „Normalproduktion" der Töpfer und wurden nur durch die Inschrift aus der Masse hervorgehoben — ein Hinweis findet, daß sich in der Bilddarstellung oder Inschrift eine „politische Strömung" spiegelt. Das Bestreben, die geistigen Strömungen des 6. und 5. Jahrhunderts linear mit politischen Richtungen zu verbinden, erweist sich bei einer kritischen Prüfung als eine subjektive und höchst formale Übertragung von historischen Ansichten in die Sphäre der Kunst. Die grundsätzliche Ablehnung dieser Vorstellung bedeutet jedoch nicht, daß es in Athen keine politischen Sympathieäußerungen für andere politischen Auffassungen, Poleis oder Herrschaftssysteme gegeben habe. In Athen benutzten einige Aristokraten beispielsweise die in Sparta noch, in Athen aber nicht mehr übliche Sitte der langen Haartracht, um auch in der Öffentlichkeit ihre Spartanerfreundlichkeit zu dokumentieren. Der führende Staatsmann Athens der 60er Jahre des 5. Jahrhunderts, der Philaide Kimon 1 , hat seine Dorerfreundlichkeit nie verhehlt. Er war Proxenos von Sparta und Elis. Seine große Lakonerfreundlichkeit bekundete er trotz des beginnenden politischen Gegensatzes zwischen Athen und Sparta auch in der Öffentlichkeit bei jeder Gelegenheit. Sie war so „stadtbekannt". Daran knüpfte der Vasenmaler Polygnot an, als er der Schwester des Kimon, Elpinike, huldigte. Ihr Name ist einer Flötenspielerin auf einer rotfigurigen Hydria in Neapel beigeschrieben, die zwei Mädchen mit kurzem Röckchen und Schilfkrone (Kalathiskos) zum Tanz aufspielt (Abb. 15)2. Der Tanz, den diese aufführen, war ein spartanischer Kulttanz, ein deutlicher Hinweis auf die Aufgeschlossenheit dieses Adelshauses gegenüber Sparta. Nicht so eindeutig ist die Situation bei einem Reitertorso von der Akropolis von Athen (Abb. 14), dem nach seiner Tracht benannten „Perserreiter". Da dieses Reiterstandbild sehr wahrscheinlich als Vorlage für das Innenbild des rotfigurigen Tellers in Oxford (Abb. 16)3 mit der Inschrift „Miltiades Kalos" Vgl. z. B. H. Swoboda, Kimon, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 11, 1921, 440 und 451; D. Kitzig-Kluwe, Kimon, das Marathonweihgeschenk in Delphi und die Bilder der Stoa Poikile in Athen, Diplomarbeit Jena 1961 (maschinenschriftlich), 23ff.; H.Gärtner, Kimon, in: Der kleine Pauly, 3, 1969, 212f. 2 J. D. Beazley, ARV 2 , 1032 Nr. 61; G. Lippold, VaseDinschriften, in: Neue Beiträge zur Klassischen Altertumswissenschaft (Festschrift B. Schweitzer), Stuttgart 1954, 137 f. 3 J. D. Beazley, ARV 2 , 163 Nr. 8. Oxford, 310. 1
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(„Miltiades ist schön") diente, hat man des öfteren in der Reiterstatue eine Weihung des Miltiades gesehen, so auch K. Schefold in seinem oben genannten Aufsatz. Sicher ist jedoch nur, daß es sich um die Stiftung eines Adligen handelt. Einer begründeten Zuweisung der Weihung an eine bestimmte, uns durch ihr politisches Wirken bekannte Persönlichkeit stehen ebensolche Schwierigkeiten entgegen wie dem Aufzeigen des Motivs der Weihung. Die einzelnen Ansichten bleiben daher zwangsläufig bei dem jetzigen Wissensstand mehr oder weniger hypothetisch. Dies gilt auch für den von W. D. Blawatskij unterbreiteten Vorschlag, in der Reiterstatue die Weihung eines athenischen Tyrannenfreundes des ausgehenden 6. Jahrhunderts zu sehen : „Das alles f ü h r t zu dem Schluß, daß der Athener, der die Statue Nr. 606 geweiht hat, wahrscheinlich manchmal ein persisches Kostüm, wenn vielleicht auch nur zum Reiten, getragen hat . . . Bemerkenswert ist, daß diese Athener sich nicht nur frei in .persischer' Aufmachung zeigen, sondern auch in solcher Gestalt dem Stadtpatron — der Athena — weihen konnten." 1 Interessant an den beiden hier genannten, einander ausschließenden Hypothesen ist, daß sie beide erst in der Zeit nach 514 ihre Stützen und ihren Sinn erhalten: bei Miltiades die Motivierung durch die Kämpfe in der Chersonnes und beim Tyrannenfreund dadurch, daß die Peisistratiden in diesen Jahren versuchten, Beziehungen zu Persien — über Heiratskontakte mit den Tyrannen .von Lampsakos — anzuknüpfen. Aus stilistischen Gründen wird man die Reiterstatue aber auch nicht mehr viel unter diesen unteren zeitlichen Ansatz ansetzen dürfen. I n den Jahrzehnten, in denen in Athen um die Vollendung der Isonomie innerhalb der Politen gerungen wurde, schuf sich die Polis ihre neue Ordnung. Der auch im Interesse der Regierenden notwendig gewordene Ausgleich der Klassengegensätze und -interessen machte eine Reihe von Zugeständnissen und Kompromissen nötig. Die festen Schranken, wie Rechenschaftspflicht f ü r öffentliche Ämter, der Ostrakismos usw., die der erstarkende Demos errichtete, zwangen die aristokratischen Staatsmänner zum Gehorsam f ü r den Nomos (das Gesetz), zur Einhaltung der neuen Normen im politischen und gesellschaftlichen Leben. Eifersüchtig wachte der Demos über seine errungene Souveränität, versuchte die politische Repräsentation des Staates von persönlichen Elementen freizuhalten und wahrte konsequent äußerste Zurückhaltung bei der Auszeichnung verdienstvoller Bürger. Es sind dieselben Prinzipien wie beim Gesetz gegen den Grabluxus der reichen Adelsgeschlechter, die f ü r die Haltung des Demos immer wieder bestimmend waren: Eingriffe in aristokratische Lebensformen im Interesse der Gemeinschaft, die auf der einen Seite traditionelle Rechte und Bräuche einer Minderheit empfindlich beschränkten oder nicht zur Entwicklung kommen ließen, die aber andererseits auch keine Lücke, kein Vakuum entstehen ließen, weil diese Vorrechte durch Übertragung auf alle Vollbürger abgebaut wurden. Wie beim Antigrabluxusgesetz 1
W. Blawatskij, Die Athenischen Tyrannenfreunde. Ende 6.—Anfang 5. Jh. v. u. Z. (russ.), in: Mélanges offerts A. K. Michalowski, Warschau 1966, 281 ff.; Zitat 283.
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der Einschränkung adliger Bräuche die neue Sitte der Anlage von Staatsgräbern, des Staatsfriedhofes und der öffentlichen Totenrede entsprach, so entsprach der Tendenz, die politische Repräsentation der mächtigen Einzelpersönlichkeit in Schranken zu halten, eine Bedeutungszunahme der öffentlichen Weihungen. Unter diesen Votiven ragen die „politischen Denkmäler" besonders heraus. Nicht alle waren sie von der politischen Brisanz, die von der Tyrannenmördergruppe ausging (Abb. 2 im Beitrag V. Z i n s e r l i n g ) A l s politisches Symbol im „Parteienkampf" entstanden, aktualisierte dieses Denkmal ein Ereignis der Vergangenheit und lenkte die Aufmerksamkeit auf die potentiellen „Tyrannen der Gegenwart", d. h. auf die Angehörigen der führenden Adelsgeschlechter, die über Reichtum und Macht verfügten und im tagespolitischen Kampf im Athen der 80er und 70er Jahre eine bedeutende Rolle spielten. Die Initiative zur Errichtung sowohl der älteren als auch der jüngeren Tyrannenmördergruppe ist überzeugend dem attischen Staatsmann Themistokles und dem ihm nahestehenden Kreis zugeschrieben worden 2 . Der Machtdrang und Geltungswille der an der Spitze, des Staates stehenden Aristokraten mußte unvermeidlich immer wieder die Grenzen dessen erreichen, was im Kräftespiel zwischen dem überindividuellen Charakter der attischen Polis und dem erstarkenden persönlichen Darstellungswillen der Einzelpersönlichkeit dem Demos noch zulässig schien. Das betraf nicht nur die privaten, sondern auch die staatlichen Votive. Die jeweilig herrschenden Staatsmänner Athens besaßen Autorität genug, auf die inhaltliche Gestaltung eines öffentlichen Denkmals einzuwirken, wenn es in ihrem Interesse lag. Die überindividuellen Absichten und Ziele konnten sich hier mit denen eines einzelnen bzw. einer Gruppe treffen und von den letzteren modifiziert werden. Eine Unterscheidung, ob staatlicher oder privater Auftrag, ist, wenn die Quellen es nicht zweifelsfrei bezeugen, daher manchmal nur schwer möglich. Bei der Miltiadesgruppe in Delphi 3 1
2
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G. Zinserling, Themistokles — sein Porträt in Ostia und die Tyrannenmördergruppen, Klio 38, 1960, 95ff.; L. Alscher, Griechische Plastik, II, 1, 202ff.; G. Hafner, Geschichte der griechischen Kunst, Zürich 1961, 138ff.; Schefold, Nachbarn, 174f.; Zinserling, Abriß, 1 löff.; Kleine, Chronologie, 67ff.; W. Gauer, Die griechischen Bildnisse der klassischen Zeit als politische und persönliche Denkmäler, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 83, 1968, 118ff. Raubitschek, Dedications, 116; 483; 514; G. Zinserling, Themistokles, bes. lOOff; eine andere Auffassung, nämlich die Verbindung der Tyrannenmördergruppe mit Kleisthenes und ihre Datierung um 506/05, wieder bei Kleine, Chronologie, 70 ff., bes. 73 f. D. Kitzig-Kluwe, Kimon, das Marathonweihgeschenk in Delphi und die Bilder der Stoa Poikile in Athen, 5ff. und 41 ff.; dies., Das Marathonweihgeschenk in Delphi — eine Staatsweihung oder Privatweihung des Kimon, Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe 14, 1965, 21 ff.; V. Zinserling, Realistische Bildniskunst der Griechen. Anfänge und frühe Entwicklung, Diss. Halle 1967, 81 ff.; E. Kluwe, Das Perikleische Kongreßdekret, das Todesjahr des Kimon und seine Bedeutung für die Einordnung der Miltiadesgruppe in Delphi, Wissen-
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und den Gemälden in der Stoa Poikile 1 in Athen sind die Meinungsverschiedenheiten darüber, ob diese Denkmäler staatliche oder private Auftragswerke waren, nach wie vor ungeklärt. Es kommt uns in diesem Zusammenhang nicht darauf an, die Argumente und Gegenargumente für die eine oder andere Auffassung zu prüfen und unsere Ansicht — bei den Denkmälern handle es sich um private Aufträge des Kimon — darzulegen. Vielmehr möchten wir auf die Verknüpfung der überindividuellen Absichten der athenischen Polis und der Interessen des Adelsgeschlechts der Philaiden hinweisen. Die Schlacht bei Marathon hat in der tagespolitischen und überhaupt in der öffentlichen Propaganda zweifellos eine bedeutende Rolle gespielt. Indem sie den attischen Erfolg bei Marathon über die Siege der panhellenischen Symmachie hob, erzeugte und förderte sie ein Selbst- und Elitebewußtsein der athenischen Politen, das sich leicht mit grenzenlosem Selbstvertrauen und Verachtung der „anderen" verband, der „Barbaren", der anderen Poleis, ja selbst der Bündner. Der „Kult" der Marathonkämpfer hatte so eine ganz wesentliche ideologische und erzieherische Funktion bei der Entfaltung der athenischen Machtpolitik zu erfüllen. Andererseits war mit der Verherrlichung des Sieges von Marathon auch zunehmend die Verherrlichung eines Mannes und seines Geschlechtes verbunden: des Miltiades und der Philaiden. Das Miltiadesdenkmal in Delphi und das Marathongemälde in der Stoa Poikile trugen so Wesentliches zur Herausbildung der Miltiadeslegende bei. Wir finden hier Kompromißlösungen, die wir auch sonst allenthalben beobachten können. Die Hermen beispielsweise, die in den Jahren der Tyrannis noch vorwiegend praktische und amtliche Bedeutung als Meilensteine hatten, verbreiteten sich nach dem Sturz der Tyrannen vor allem als Kultmale. An den Stadt- und Burgtoren, den Häusern, Gymnasien, Palästren usw. aufgestellt, waren sie Gegenstand öffentlichen Interesses, aber meist Stiftungen von Privatpersonen. Darunter waren auch Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben eine hervorragende Rolle spielten. Ein solches Beispiel ist die Hermenweihung des Leokrates 2 . Er war einer der athenischen Strategen im ereignisreichen Jahr 479 und führte auch 459 das athenische Aufgebot gegen Aigina. Die von Leokrates geweihte Herme trug ein Distichon des Simonides: „Als du dem Hermes, Stroibos Sohn, Leokrates dies Bild weihtest, dachten dein die Chariten." (Übersetzung A. Wilhelm) schaftliche Zeitsch rift der Universität Rostock, Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe 17, 1968, 678ff.; W. Gauer, Weihgeschenke aus den Perserkriegen, Tübingen 1968 (Istanbuler Mitteilungen, Beiheft 2), 65ff. 1 H. A. Thompson, The Stoa Poikile, Hesperia 19, 1950, 327ff.; D. Kitzig-Kluwe, Kimon, das Marathonweihgeschenk in Delphi und die Bilder der Stoa Poikile in Athen, 11 ff. und 64ff.; V. Zinserling, Realistische Biidniskunst der Griechen, 83ff.; E. Schwarzenberg, Chalkous Strategos, Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen Wien, 1972, 20ff. 2 A. Wilhelm, Simonideische Gedichte, österreichische Jahreshefte 2, 1899, 231 ff.; J. F. Crome, Hipparchoi Hermai, Athenische Mitteilungen 60/61, 1935/36, 307f. und 311.
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Bemerkenswert sind sowohl die Beziehungen zwischen dem Dichter und dem Feldherrn als auch — und das ist für unseren Zusammenhang das Wesentliche — die thematische Vielfalt aristokratischer Weihungen. Gehörte eine Hermenweihung wie die des Leokrates zum Alltäglichen, so bildete das Zugeständnis, das der Demos Kimon nach der Eroberung von Eion machte, die große Ausnahme. E r gab dem attischen Staatsmann die Erlaubnis, drei Inschriftenhermen auf der Agora aufzustellen 1 . Obwohl Kimon auf den Denkmälern nicht namentlich erwähnt sein durfte, war es doch eine ungewöhnliche Ehrung. Sie war vorher anderen attischen Staatsmännern, wie Miltiades oder Themistokles, nicht zuteil geworden, ein Umstand, auf den hinzuweisen, Plutarch sich verpflichtet fühlte. Die Zurückhaltung, ja ausgesprochene Abneigung des attischen Demos, lebende verdienstvolle Bürger — und hier konnte es sich vor allem nur um Vertreter des Adels, besonders des Hochadels, handeln, da sie im wesentlichen die Wahlämter im Innern innehatten und auch nach außen als Gesandte und Proxenoi wirkten — durch das Aufstellen von Ehrenstatuen öffentlich auszuzeichnen und damit über die Gemeinschaft zu heben, ist im 5. J a h r h u n d e r t in Athen ein charakteristischer Zug. Der Anspruch des Demos auf die Person des einzelnen und seine Unterordnung unter die gesellschaftliche Norm unterdrückte die vorhandenen Tendenzen persönlichen Darstellungswillens. Nur starke Persönlichkeiten, wie beispielsweise Themistokles, wagten sich in diesem Kräftespiel zwischen selbstbewußter Einzelpersönlichkeit und selbstbewußtem Demos bis an die Grenzen des Erlaubten. Aber auch Themistokles konnte sein realistisch gestaltetes Bildnis (Abb. 3 im Beitrag V. Zinserling) 2 nur als ein privates Votiv in das Privatheiligtum seines Geschlechtes weihen, ein Zeichen, wie sehr auch er bereits zur Einhaltung der Spielregeln in der neuen Ordnung gezwungen war. Die Forderung nach Gleichheit aller Politen, nach Unterordnung des einzelnen unter die überindividuelle Norm des Gemeinwesens zwang die Adelskreise, die an der Pflege aristokratischer Traditionen und Lebensgewohnheiten festhielten, zur Anpassung. Da der Demos Statuenweihungen auf den Straßen und öffentlichen Plätzen unterband, mußten sie ihre privaten Votive in die Heiligtümer weihen. Das gilt auch f ü r Weihungen, nämlich f ü r die Siegerstatuen, deren Anlaß eigentlich sowohl in öffentlichem als auch in privatem Interesse h ä t t e liegen müssen. Die Achtung, die ein Sieger an den panhellenischen Festspielen auch im gesellschaftlichen Leben seiner Heimatpolis genoß, sicherte ihm dort gute Ausgangspositionen f ü r seine weitere Tätigkeit in der Polis. Da der Sieger 1
Plutarch, Kimon 7; Aischines, Gegen Ktesiphon 183—185; vgl. L. Weber, Zu den EionEpigrammen, Rheinisches Museum 75, 1926, 45ff.; D. Kitzig-Kluwe, Kimon, das Marathonweihgeschenk in Delphi und die Bilder der Stoa Poikile in Athen, 32ff.; W. Gauer, Weihgeschenke der Perserkriege, 14f. (mit Literaturhinweisen). 2 G. Zinserling, Themistokles, 88ff., und Abriß, 121ff.; V. Zinserling, Realistische Bildniskunst der Griechen, 74ff.; W. Gauer, Die griechischen Bildnisse, 140 und 148ff.; Kleine, Chronologie, 133 ff.
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sich als Bürger eines bestimmten Gemeinwesens ausrufen lassen mußte, war der Sieg in einem Wettkampf nicht nur eine private, sondern auch eine öffentliche Angelegenheit. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts verbreitete sich in Athen verstärkt die Sitte der Weihungen von Siegerstatuen 1 . Sie wurden nicht als Ehrenstatuen auf öffentlichen Plätzen aufgestellt, sondern waren private Anatheme, die vor allem auf die Akropolis von Athen gestiftet wurden. Die Zusammenstellung der Personen bei Raubitschek 2 , die Siegerweihungen machten, läßt unschwer erkennen, warum der Demos wenig Neigung verspürte, Vertreter dieses Personenkreises durch das Aufstellen von Ehrenstatuen auszuzeichnen. Es waren durchweg Angehörige des Adels: Hipparchos, Sohn des Charmos, aus der Peisistratidenfamilie; der reiche Kallias, Sohn des Hipponikos, der Schwager Kimons usw. Dementsprechend sind es auch durchweg die besten Bildhauer ihrer Zeit, denen sie ihre Aufträge erteilten, wie Kritias, Nesiotes, Kaiamis u. a. Auch wenn man unsere Untersuchung auf weitere Denkmälergruppen in der bildenden Kunst ausdehnt, dürfte das Ergebnis immer ähnlich sein: in spätarchaischer und frühklassischer Zeit blieb der hauptsächliche Auftraggeber in der Kunst der Adel, doch trat neben dem Adel vor allem ein Auftraggeber immer mehr in den Vordergrund: der Staat. 1
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V. Zinserling, Zum Problem der Siegerstatue im klassischen Athen, in: Dissertationes Berolinenses 3. Das Problem der Klassik im Alten Orient und in der Antike. Protokoll der Tagung in Halle vom 10.-12. Februar 1966, Berlin 1967, 73ff., bes. 82ff. A. E. Raubitschek, Leagros, Hesperia 8, 1939, 155 ff.
Abkürzungen Himmelmann, Homerische Gesellschaft
Himmelmann, Archäologisches zur Sklaverei Kleine, Chronologie
Raubitschek, Dedications
Schefold, Bildhauer Schefold, Nachbarn Schräder, AMA
N. Himmelmann, Über bildende Kunst in der homerischen Gesellschaft, Abhandlung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse, Jahrgang 1969, Nr. 7 N. Himmelmann, Archäologisches zum Problem der griechischen Sklaverei, ebenda Jahrgang 1971, Nr. 13 J . Kleine, Untersuchungen zur Chronologie der attischen Kunst von Peisistratos bis Themistokles, Istanbuler Mitteilungen, Beiheft 8, Tübingen 1973 A. E. Raubitschek, Dedications from the Athenian Acropolis. A Catalogue of the Inscriptions of the Sixth and Fifth Century B. C., Cambridge 1949 K. Schefold, Griechische Plastik, 1, Die großen Bildhauer des archaischen Athen, Basel 1949 K. Schefold, Die Griechen und ihre Nachbarn, Propyläen Kunstgeschichte, 1, (West-)Berlin 1967 Die archaischen Marmorbildwerke der Akropolis, hrsg. von H. Schräder unter Mitarbeit von E. Langlotz und W. H. Schuchardt, Frankfurt a. M. 1939
Auftraggeber in der bildenden Kunst Webster, Potter and Patron
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Zinserling, Abriß
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Abbildungsverzeichnis
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T. B. C. Webster, Potter and Patron in Classical Athens, London 1972 G. Zinserling, Abriß der griechischen und römischen Kunst, Leipzig 1970
(Taf.
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1. Kalbträger von der Akropolis in Athen. Athen, Akropolis-Museum. Hirmer Fotoarchiv München. 2. Zum Wagenkampf aufbrechender Krieger. Von einer Statuenbasis aus Athen. Athen, Nationalmuseum. Nach Archäologischer Anzeiger 1922, Beilage IV. 3. Kriegers Ausfahrt. Attisch-schwarzfigurige Hydria. Sammlung antiker Kleinkunst des Instituts für Altertumswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 4. Sog. Antenorkore von der Akropolis in Athen. Athen, Akropolis-Museum. Hirmer Fotoarchiv München. 5. Sitzende Athena von der Akropolis in Athen. Athen, Akropolis-Museum. Nach H. Schräder, Die archaischen Marmorbildwerke von der Akropolis, Frankfurt/M. 1939, Taf. 85. 6. Fragment vom oberen Teil eines gravierten Grabstelenschaftes. Berlin, Staatliche Museen. 7. Ringkampf zwischen Herakles und Triton vom Giebel des Alten Athenatempels auf der Akropolis von Athen. Athen, Akropolis-Museum. Hirmer Fotoarchiv München. 8. Ringkampf zwischen Herakles und Triton. Attisch-schwarzfigurige Bauchamphora. Sammlung antiker Kleinkunst des Instituts für Altertumswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 9. Reiter (Rampin) von der Akropolis in Athen. Athen, Akropolis-Museum und Paris, Musee du Louvre. Hirmer Fotoarchiv München. 10. Sog. Kopf Sabouroff. Berlin, Staatliche Museen. 11. Grabstele des Aristion aus Velanideza in Attika. Athen, Nationalmuseum. Hirmer Fotoarchiv München. 12. Grabmal des Alkmeoniden Megakles für seine Kinder, sog. Geschwisterstele. New York, Metropolitan-Museum. Nach G. M. A. Richter, The Archaic Gravestones of Attica, 2. Aufl. London 1961, Fig. 99. 13. Grabmal des Kroisos aus Anavysos in Attika. Athen, Nationalmuseum. Hirmer Fotoarchiv München. 14. Sog. Perserreiter von der Akropolis in Athen. Athen, Akropolis-Museum. Nach H. Schräder, Die archaischen Marmorbildwerke von der Akropolis, Frankfurt/M. 1939, Taf. 139. 15. Tanzende Mädchen. Von einer attisch-rotfigurigen Hydria des Polygnot. Neapel. Nach A. Furtwängler — K. Reichold, Griechische Vasenmalerei, München 1904ff., Taf. 171,1. 16. Reiter vom sog. Cerberus-Maler. Teller mit Lieblingsinschrift des Miltiades. Oxford. Nach Journal of Hellenic'Studies 71, 1951, 213 Fig. 1.
Leitbildvorstellungen in der bildenden Kunst der Frühklassik V o n V E R E N A ZINSEELING
Eine derentwicklungsträchtigsten Epochen in der griechischen Kunstgeschichte sind die vier Jahrzehnte von 490 bis ca. 450, die sog. Frühklassik. Es ist eine Zeit des Experiments. In dieser Zeit befreien sich die Skulpturen aus archaischer Gebundenheit an wenige, geringfügigen Spielraum erlaubende Schemata und erobern die neue Dimension einer freien, dem Körpergesetz unterworfenen Bewegung. Wie im 6. Jahrhundert ist die menschliche Gestalt Hauptthema der Bildhauer und Maler. Hatte der archaische Künstler die Statue gewissermaßen aus dem Marmor herausgeschält, indem er Schicht um Schicht abhob, bis der freigelegte Körper — aber doch immer dem quadratischen Block verhaftet — regelrecht aufgebaut war, so erlangte der Bildhauer der Klassik durch die neue Technik der Anfertigung eines Tonmodells, das er dann in einem Punktierverfahren in Stein umsetzte oder in Bronze goß, neue künstlerische Freiheit. Die Darstellung des bewegten menschlichen Körpers war eine der großen künstlerischen Errungenschaften des 5. Jahrhunderts, das, nicht zuletzt wegen seiner realistischen Skulpturen, zum klassischen werden sollte. Das organisch-funktionelle Zusammenspiel der Gliedmaßen und die dem Körper innewohnende Fähigkeit zur Bewegung werden zum Gestaltungsprinzip frühklassischer Statuen und ersetzen die gebundene Tektonik und additive Körpersicht archaischer Bildwerke. Die Ponderation, d. h. die sorgfältige Auswägung und Abstimmung der tragenden und lastenden Körperpartien, wird im zweiten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende im tastenden Suchen nach großen, übergreifenden Ordnungsprinzipien entdeckt. An die Stelle des archaischen Schrittmotivs und damit der ziemlich gleichmäßigen Verteilung des Körpergewichts tritt dessen Verlagerung auf das Standbein, während das andere lediglich zur labilen Unterstützung als Spielbein aufsetzt. Rumpf und Schultergürtel „reagieren" auf die Gewichtsverlagerung, der Kopf wird meist leicht der entlasteten Körperseite zugewendet und ermöglicht gewissermaßen das „Abfließen" des Kraftstromes und damit die innere Geschlossenheit und auch Abgeschlossenheit der Statue gegen den sie umgebenden Raum. Die Ponderation als neues Gestaltungsprinzip des bewegten Körpers in der Plastik ist erst eine Errungenschaft des ersten Jahrhundert vierteis, obgleich sich seit dem letzten Drittel des 6. Jahrhunderts in einer anderen Gattung der 5
Der Mensch
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bildenden Kunst, in der Vasenmalerei, das Interesse der Künstler am Problem des bewegten Körpers in oft gewagten perspektivischen Experimenten und Schilderungen komplizierter Bewegungsabläufe erkennen läßt. Der plötzliche Durchbruch zur Gestaltung des bewegten Körpers in der Monumentalskulptur war jedoch nicht nur eine lediglich künstlerische Frage, schon darum nicht, weil die Entdeckung der Ponderation einherging mit der Gestaltung eines neuen Menschentyps, der sich deutlich von dem der spätarchaischen Zeit abhob. Dieses gewandelte Menschenbild erfüllt die großen Schöpfungen klassischgriechischer Skulptur, die damit aufnahmefähig war für die bildkünstlerische Formulierung neuer Vorstellungen über den Menschen, von neuen Leitbildern, die den tragenden K r ä f t e n in der gesellschaftlichen Entwicklung als ihre Verallgemeinerung und Widerspiegelung entsprochen haben. Leitbilder erfüllen die griechische Kunst seit ihren Anfängen. Sie sind Abstraktionen kollektiver Wertvorstellungen und können einerseits in einen schon vorhandenen Bildtypus eingehen und ihn damit auf eine höhere Stufe von Bewußtheit heben oder andererseits in Form und Inhalt neugeschaffen werden. Jedes Leitbild kann sich mehr oder weniger stark von den konkreten Faktoren seiner Entstehung lösen, Allgemeinverbindlichkeit erlangen und im konkreten Gebrauch selbst modifizierbar sein bzw. ein neues Leitbild antizipieren. Ein Thema wird noch nicht zum Leitbild, nur wenn es häufig auftaucht, aber auch einmalige Schöpfungen ohne direkte Nachfolge können bewußt leitbildhaft gemeint und wirksam sein. Leitbilder können Standard Vorstellungen eines sozialen Standes zum Ausdruck bringen, aber auch Reflexion historischer Ereignisse sein und als Transzendierung menschlicher Potenzen in Gestalt der Götter zum selbständigen Gegenüber werden, oder sie können — gewissermaßen auf niederer Ebene — Vorbild und Muster der Kunstfertigkeit eines Meisters sein, der, wie beispielsweise Polyklet, bewußt einen Maßstab und Richtwert in seiner Kanon genannten Statue gegeben hat. Mehrere unterschiedliche Faktoren bestimmen die Schöpfung eines Leitbildes in den Gattungen der bildenden Kunst. Folgende Problemkreise sind zu beachten: 1. das Vorhandensein von Klassen- oder Selbstbewußtsein einzelner Individuen und dessen Konkretisierung in einer auf den Menschen bezüglichen Normvorstellung, die sich jedoch vornehmlich außerhalb des Bereiches der bildenden Kunst entwickelt; 2. die Kenntnis und Billigung (oder auch Mißbilligung — als Voraussetzung einer Antikonzeption) dieser Norm durch den Künstler. Ein Spezialfall tritt ein, wenn der bildende Künstler selbst sein Standesideal formuliert, das jedoch nur unter bestimmten Bedingungen in den Rang eines Leitbildes aufsteigen kann. Dabei sind die Relation von Eigen- und Kollektivbewußtsein und die mögliche Diskrepanz zwischen beiden zu beachten. 3. Leitbildformulierungen in der bildenden Kunst als Teilbereiche eines Gesamtgefüges, d. h. neuer Idealbildungen in allen Bereichen der Kunst (Tragödie des Aischylos — frühklassische Skulptur);
Leitbildvorstellungen in der bildenden Kunst der Frühklassik
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4. persönliche Leitbilder in der bildenden Kunst als Bestandteil politischer Konzeptionen führender Einzelpersönlichkeiten; 5. die spezifische Aufnahmefähigkeit für Leitbilder in den einzelnen Kunstgattungen. Weltbild und Weltverhalten der Griechen sowie deren Entwicklung als Ausdruck sozialökonomischer Wandlungen sind begrifflich deutlicher in Literatur und Philosophie faßbar; sie sind jedoch ebenso auch in der bildenden Kunst vorhanden 1 , denn die philosophische Entdeckung der Welt und die Reflexion des Epos, der Lyrik und der Tragödie über die Bedingtheit der menschlichen Existenz sind aus den gleichen gesellschaftlichen Verhältnissen erwachsen wie Skulptur und Malerei, die aber vergleichsweise eine Ruhe und Gleichmäßigkeit in der gesellschaftlichen Entwicklung suggerieren könnten, die es keinesfalls gegeben hat. Kunstwerke in archaischer Gebundenheit oder frühklassischer Strenge und Idealität können sehr viel weniger eindeutig und deutlich als Produkte eines komplizierten, von vielen Faktoren abhängigen künstlerischen, d. h. auch sozial determinierten Schaffensprozesses verstanden werden. Die Statuen, Reliefs und Gemälde sind in gewisser Weise insofern auf sich beschränkt, als ihre Aussagen nur den Gegenstand selbst betreffen und nicht die ihn bedingenden Maßstäbe erkennen lassen. Diese sind teilweise in den literarischen Gattungen auffindbar, die sich gewissermaßen von selbst aufschließen und den Schlüssel auch f ü r die Bedeutung der bildenden Kunst liefern können. Es geht dabei weniger direkt um die Erklärung inhaltlicher Bezüge als um die Erhellung des sozialen und geistigen Milieus, in dem ein bestimmtes Kunstwerk angesiedelt ist. Die entscheidenden politischen, moralischen und religiösen Leitbildkonzeptionen sind an konkrete gesellschaftliche K r ä f t e gebunden, die ihre Funktion im gesellschaftlichen Leben bestimmen und zur Wirksamkeit der Veranschaulichung bedürfen. Homers Held war der adlige, autarke Einzelkämpfer, Hesiod machte das Recht und die Arbeit des Bauern darstellungswürdig, die bedrängten Aristokraten korrigierten ihre Leitbilder entsprechend der sozialen Umwälzung. Nach Solon 2 ist Tüchtigkeit besser als Reichtum, und Bakchylides 3 erkennt, daß Besitz den Menschen aufwertet, will dies aber noch nicht gelten lassen. Die Leitbilder, d. h. Weltanschauungen eines Solon, Pindar, Simonides, Bakchylides, Aischylos und Sophokles unterscheiden sich nach ihrem sozialen Standort. Sie sind Formulierungen teils der abgedrängten, als Stand in Frage gestellten Aristokratie, teils der aufsteigenden mittleren Schichten der Handelund Gewerbetreibenden oder der idealbildend bzw. -modifizierend sich formierenden demokratischen Polis. 1
Vgl. dazu W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, i, 2. Aufl. Leipzig-Berlin 1936, 17 f. 2 Solon, Fr. 4, 9 - 1 2 Diehl; vgl. dazu H. Wankel, KALOS KAI AGATHOS, Diss. Würzburg 1961, 26. 3 Bakchylides, Fr. 14 (22) Snell. 5*
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a) Der archaische Kuros Der aufrecht stehende, unbekleidete jugendliche Mann mit beidseitig am Körper herabhängenden Armen und vorgesetztem linken Bein, der sogenannte Kuros, ist das Hauptthema in fast allen archaischen Kunstlandschaften Griechenlands. Er ist als Darstellungstypus aufnahmebereit für die Verschiedenartigkeit der Menschentypen in Ionien, Attika und den dorisch besiedelten Gebieten und die besondere Meisterschaft der Künstler. Der Kuros bot Identifikationsmöglichkeit nicht nur für den Aristokraten, sondern war das Ideal für jeden, der für sich Anspruch auf Arete, d. h. freie Selbstentfaltung und menschliches Vollkommenheitsstreben, erheben konnte. Das gebundene Schema von Frontalität und ungeregten Gliedmaßen schien die Arete, die Vortrefflichkeit einer Statue als eines objektivierten Ideals auszumachen. Nur so ist das Simonidesfragment deutbar: „Schwer ist es, wahrhaft ein guter Mann zu werden, an den Armen und den Beinen und an Verstand viereckig, ohne Tadel fertig hergestellt."1 F. Schachermeyr zog in seinem Buch „Die frühe Klassik der Griechen"2 direkt die Verbindung vom gebundenen Typus zum Konservatismus des Aristokraten, wenn er schrieb: „Damit kommen wir zu einer Frage von nicht geringer Bedeutung : wie konnte es geschehen, daß sich zur Zeit einer höchsten Entfaltung der extrem individualistischen und genialischen Lyrik, eines kühnen Erfindertums und wagenden Kolonialismus die Kunst der Statuenplastik mit so enger Begrenzung und in ihrer Entwicklung mit einem Schneckentempo zufrieden gab? Ich glaube, das damit erklären zu können, daß man der Statuen als Ausdruck wacherer Phantasie noch gar nicht bedurfte . . . So wie aber die Welle der neuen Genialität ein Gegengewicht verlangte und als solches die Besinnung auf den Nomos einsetzte, stellte sich auch die statuarische Plastik auf die Seite der Konservativen. Die Mäßigung, welche von den Gesetzgebern und Delphi empfohlen wurde, zugleich aber auch das immer noch konservative Verhalten weiter Adelskreise, fand in der Plastik ihren künstlerischen Ausdruck. Aus den Statuen spricht der Komment und die öffentliche Meinung von Rittern, deren Interessen geradeso streng umhegt waren wie die Ziele der Bildhauer." Die spätarchaische Skulptur enthält Elemente, die die neue Qualität des frühklassischen Stils direkt vorbereiten3. Die Oberfläche der Skulpturen ist überaus differenziert modelliert, die Lebendigkeit mußte gewissermaßen nur noch den Bewegungsimpuls erhalten. Dieser Schritt zur Ponderation, zur Scheidung von Stand- und Spielbein bedeutete für die Künstler, die Tektonik ihrer anatomisch richtigen Körper preiszugeben, das organische Zusammenspiel der Glieder von einem im Körper liegenden Kraftzentrum aus zu erfassen. Es begann das Suchen nach neuen Regeln für den bewegten Körper, die um 1 Simonides, Fr. 4, 1—3 Diehl (Übersetzung von 0 . Werner). 2 Stuttgart-(West-)Berlin-Köln-Mainz 1966, 188 f. 3 Zur Charakteristik des strengen Stils vgl. K. Schefold, Klassisches Griechenland, BadenBaden 1965, 16; vgl. auch G. Lippold, Griechische Plastik, München 1950, 94ff.
Leitbildvorstellungen in der bildenden Kunst der Frühklassik
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vieles komplizierter waren als die leicht zu schematisierenden der frontal stehenden unponderierten Statue. Aber es ist nicht nur die neue Bewegung, die in die Skulpturen einzieht, es ist grundsätzlich ein neues Menschenbild, das da unter Verzicht auf die verfeinerte Oberflächenmodellierung der Spätarchaik und die sinnliche Vitalität der gespannten plastischen Formen geboren wird. Der strenge Stil als die Formensprache der Frühklassik wurde in einer großen Naturnähe der Einzelform in der Spätarchaik vorbereitet, die aber wieder zurücktreten mußte, um im Verlust der Verfeinerung einer neuen Ursprünglichkeit Platz zu machen. Diese Umwälzung in der bildenden Kunst — denn trotz vieler Übergangsformen ist dieses Ereignis überraschend plötzlich eingetreten — hat man in Athen lokalisiert, obgleich sie nicht auf Athen beschränkt blieb, sondern sehr bald auch in anderen führenden griechischen Kunstschulen (Ägina, Sikyon) zur Selbstverständlichkeit wurde. Über die Ursache dieses Umschwungs in der bildenden Kunst ist sehr viel geschrieben w o r d e n M e i s t hat man die Perserkriege als das große einschneidende Ereignis nach der Jahrhundertwende ins Feld geführt, und erst neuerdings wird die Begründung tiefer in den sozialen Veränderungen, der Einführung der Demokratie, gesucht 2 . Die innenpolitischen Reformen des Kleisthenes hatten die politische Vormachtstellung des Adels zugunsten der städtischen wohlhabenden Schichten eingeschränkt. Die Polis wurde zum Zentrum aller Wertvorstellungen, so daß Simonides formulieren konnte: „Die Polis ist der Lehrer des Mannes." 3 Die sich konstituierende demokratische Gemeinschaft forderte ein neues Kollektivbewußtsein, das allerdings die traditionellen Werte des adligen Arete-Ideals nicht einfach fallenließ, vielmehr die Tugend des einzelnen am neuen Bezugspunkt — dem Nutzen der Gemeinschaft im Horizont der Polis — zu messen hatte />. Die Idealbildung verlagerte sich auf die Exponenten der neuen Ordnung, wie beispielsweise Aischylos, der in seinen Werken die traditionellen Wertbegriffe der Adelswelt in Frage stellte bzw. durch neue ersetzte. War der Adlige evyevrjg, d. h. edel geboren, und damit als solcher auch xakòc, xal àya&óg, d. h. schön und gut, vorzüglich als ästhetisch-ethische Kategorie, so wird bei Aischylos beispielsweise in den „Sieben gegen Theben" (V. 610) ein neues Begriffs- und Wertsystem in der Schilderung des vortrefflichen Helden als awtpQmv, òixatoq, evaeßijg, d. h. als besonnen, gerecht, ehrerbietig, entwickelt, das deutlich am neuen 1
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Vgl. R. Bianchi-Bandinelli, Storicità dell'Arte Classica, Florenz 1942, U f f . ; R. Lullies, Griechische Plastik von den Anfängen bis zum Ausgang des Hellenismus, München 1960, 19 f. ; W. Gauer, Weihgeschenke aus den Perserkriegen, Istanbuler Mitteilungen, Beih. 2, Tübingen 1968, 11; F. Schachermeyr, Die frühe Klassik der Griechen, Stuttgart(West-)Berlin-Köln-Mainz 1966, 59ff.; 181 ff.; 201; 272 (Perserkriege als Ursache des Stilwandels) ; J. Charbonneaux — R. Martin — F. Villard, Das klassische Griechenland, München 1971, 99 ff. Vgl. G. Zinserling, Abriß der griechischen und römischen Kunst, Leipzig 1970, 110—117. Simonides Fr. 53 Diehl (Übersetzung von O. Werner) ; vgl. Wankel 26. Zur „Verbürgerlichung" vgl. D. Metzler, Porträt und Gesellschaft, Münster 1971, 151.
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Bezugspunkt, der Polis, gemessen wird, in der die Herkunft eines Mannes zurücktritt vor seiner Persönlichkeit, die nach neuen, dem Nützlichkeitsprinzip der Gemeinschaft der freien Bürger entsprechenden Maßstäben beurteilt wird F ü r die bildende Kunst bedeutete diese neue bzw. veränderte und bewußte Orientierung des einzelnen auf den Staat, daß auch in ihren Gattungen der Mensch in seiner neuen Bedeutsamkeit hervortreten mußte. Es ist heute kaum noch feststellbar, inwieweit die künstlerische Neuerung, die Ponderierung des Körpers, und die Abstreifung spätar chaischer Manieriertheit, also die Gestaltung eines neuen Menschenbildes in der Skulptur, bewußt von den Zeitgenossen dieser Ereignisse erkannt und reflektiert worden ist. Es ist durchaus denkbar, daß dieser „lautlose" Ideal- und Stilwandel weit weniger erregend gewirkt hat als die Komödien- und Tragödienaufführungen, die die jüngste historische Vergangenheit in neuen Aspekten und Urteilsnormen präsentierten. Daß die „Geburt der Frühklassik" in der Plastik offenbar im Zeitbewußtsein weitgehend unreflektiert geblieben ist, liegt wahrscheinlich vor allem daran, daß weder die Hauptauftraggeber noch die Künstler grundsätzlich wechselten. Die alten Themen wurden nicht über Bord geworfen. Noch immer war die Votivstatue des Siegers in den sportlichen Wettkämpfen oder die Grabstatue des Kriegers für den einzelnen die wesentlichste Form der bildlichen Repräsentation. Verändert war aber das soziale Gefüge, in welchem sich die Auftraggeber gewissermaßen neu legitimieren mußten. Erst lange nach dem strengen Stil, der Widerspiegelung eines Wandels auch im äußeren Erscheinungsbild der Menschen war, findet sich bei Thukydides ein später Reflex dieser Veränderung: „Die Älteren unter den Athenern waren so weichlich, daß sie bis vor kurzem noch einen leinenen Chiton trugen und das Haar mit goldenen Spangen in Form von Heuschrecken zu einem Zopf zusammenbanden . . . Die einfache kurze Kleidung, wie man sie heute trägt, ist zuerst bei den Lakedaimoniern üblich gewesen; auch sonst richteten sieh dort die Reichen in ihrer Lebensweise ganz nach dem Volke." 2 Diese neue Volkstümlichkeit und Schlichtheit, die an die Stelle spätarchaisch höfischer Zierlichkeit trat, war ein Zeichen des geänderten Lebensideals nach der Tyrannenvertreibung und dem demokratischen Umschwung in Athen. Fraglos sind die fortdauernden Kämpfe und die drohende Persergefahr, die eine Konzentration der K r ä f t e erforderten und eine Aufwertung des Hopliten als Bürgerkrieger, d. h. also des Mittelstandes, nach sich zogen, nicht ohne Einfluß auf die neue Haltung des Politen und seiner bildlichen Darstellung geblieben. Der archaische Kuros war — zumindest in Attika - in der 2. Hälfte des 6. J a h r hunderts zum Synonym einer bestimmten exklusiven Schicht geworden, die sich in Kleidung und Lebensstil vom Demos abhob. Unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wurde nicht nur die Existenzform der Adligen 1 Vgl. dazu Wankel 24-27. 2 Thukydides I 6 (Übersetzung A. Horneffer); vgl. auch Xenophanes, Fr. 3 Diels-Kranz; H. Frankel, Dichtung und Philosophie,des frühen Griechentums, München 1962, 374.
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in der alten Weise unmöglich, vor allem mußte die persönliche Leistung f ü r den Demos bzw. die Polis zum entscheidenden Kriterium werden. Der Adel als Stand mußte sich erneuern bzw. seinen auf Erziehung und Tradition bauenden moralischen Führungsanspruch vor dem Demos bewähren, dem neuen kollektiven, souveränen Richter 1 . Dieser Verweis auf sich selbst, die Notwendigkeit, sich neu zu präsentieren, sich den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen einzupassen, führte auch zur Aufgabe eines künstlerischen Schemas, das ohnehin bis zum Bersten mit Neuem angefüllt und in seiner letzten Entwicklungsphase auf einen überholten Lebensstandard festgelegt und als Form ebenfalls durch Tendenzen zur Depravierung belastet war. Eine der entscheidenden Fragen, inwieweit mit einer direkten Einflußnahme neuer Auftraggeber aus den aufsteigenden und sich konsolidierenden Mittelklassen oder des demokratisch orientierten Kollektivs auf die künstlerische Prägung des Menschenbildes zu rechnen ist, muß weitgehend unbeantwortet bleiben, weil unsere Kenntnis von den konkreten Entstehungsbedingungen und Auftraggebern der überlieferten Monumente in den wenigsten Fällen ausreicht. Wahrscheinlich spielten viele kaum noch trennbare Faktoren zusammen bei der Aufgabe eines alten Typus und der Eroberung neuer künstlerischer Dimensionen in der Gestaltung des Menschenbildes. Die ponderierte Gestalt der Frühklassik ist nicht weniger das Werk der Künstler als der neuorientierten Auftraggeber. Sie verwendeten in zunehmendem Maße die Bronzetechnik, so daß im Modell in Ton die Korrekturmöglichkeit und das Experiment ein schnelles Hineinwachsen in die Darstellung des geregten Körpers erleichterten. Der sog. Kritiosknabe (Abb. 1) von der Akropolis war wahrscheinlich das Votiv des vielfachen adligen Olympiasiegers Kallias 2 . Die Statue trägt alle Züge des strengen Stils, die man mit Verschlossenheit, herbem Ernst und spröder Verinnerlichung umschrieben hat. Eine große Schlichtheit der Oberflächenmodellierung, die die organische Funktionalität des Körpers begreift, tritt an die Stelle der Manieriertheit oder der beinahe wuchernden Fleischlichkeit der spätarchaischen Kuroi. Ein kraftvoller, im Training stehender jugendlicher Athlet wird zur neuen Standardformulierung. Das Gesicht zeigt nun geschlossen konturierte, streng gegliederte Einzelformen, die wie eine Reduktion gewissermaßen auf den „festen Kern" des Menschen wirken. Der Körper beginnt sich zu regen, aber das Gesicht nimmt an dieser Befreiung nicht teil. Es ist, als wüßte der Knabe nicht um seinen Körper. Die modernen Assoziationen an eine Gestimmtheit wie Trauer oder ernste Besinnung mögen kaum den ursprünglichen Bedeutungsgehalt treffen, der wohl eher ein bewußtes Absetzen vom Ausdruck archaischer Kuroi meint, deren „Freundlichkeit" bzw. Stilisierung ersetzt wer1
Zur Stellung der Aristokratie in der attischen Demokratie vgl. H. Berve, Miltiades. Studien zur Geschichte des Mannes und seiner Zeit, Berlin 1937, 68 Anm. 1; A. E. Raubitschek, Dedications from the Athenian Akropolis. A Catalogue of the Inscriptions of the Sixth and Fifth Centuries BC, Cambridge/Mass. 1949, 464. 2 Vgl. Raubitschek, Dedications, Nr. 21; Nr. 164.
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den sollte durch eine organische, naturnahe Bildung, durch einen Gesichtsschnitt, der die Allgemeingültigkeit des Menschenantlitzes in sich aufnehmen konnte. Die Statue des jungen Siegers ist auch unter demokratischen Verhältnissen insofern Leitbild, als das Ideal des Athleten noch immer unbestritten blieb 1 , d. h., es wurde aus seiner exklusiven Bindung an die aristokratischen Familien herausgelöst und zumindest in den athletischen Disziplinen — der Pferdesport blieb immer eine Domäne des Adels — zum Allgemeinbesitz der freien Politen, die das Recht hatten zum Besuch der teils öffentlichen, teils privaten Ausbildungsstätten, Palästra und Gymnasion. Die Sieger in den panhellenischen Festspielen wurden mit wachsendem Kollektivbewußtsein der Polisbürger in erster Linie zu Repräsentanten der Gemeinschaft, nicht so sehr ihrer Familie. Dennoch hat es seit der harten Kritik des Kolophoniers Xenophanes 2 immer Stimmen gegeben, die Tendenzen zur Abwertung des Athletenideals im 5. und 4. Jahrhundert erkennen lassen 3 . Hinter der Siegerstatue, dem sog. Kritiosknaben, steht ein gewandeltes Körperideal, eines, das wie die Tracht, die die Athener nun trugen, „vom Volke" genommen war, wie Thukydides es ausdrückt, und das in der Geschlossenheit der herben, ernsten Züge dem gewandelten Lebensgefühl der frühklassischen Polis entsprochen haben mag. In der schriftlichen Überlieferung wird dieses modifizierte Schönheitsideal nicht greifbar, nur indirekt ist es auch in einer anderen Gattung der bildenden Kunst, in der Vasenmalerei, zu bemerken. In den Bildern der Amphoren, Kratere und Schalen sind die Wandlungen, die in der Großplastik in einigen bahnbrechenden Werken vielleicht weniger genialer Künstler neue Gestalt gewinnen, mindestens ca. drei Jahrzehnte früher anzutreffen. Die archaische Gebundenheit an die Fläche und übersteigerte Detail- und Schmuckfreude werden zugunsten neuer plastischer Körperlichkeit, kühner Bewegungsmotive und dynamischer Vereinheitlichung der Bildgefüge aufgegeben. Die Szenen der Komasten, Symposiasten und Palästriten waren von vornherein nicht als repräsentative Standesdarstellungen gemeint wie großformatige Skulpturen und insofern — abgesehen von den anderen gattungsspezifischen Bedingungen für die Keramik — geeigneter für ein Reagieren auf Veränderungen sowohl im künstlerischen als auch im soziologischen Bereich. K. Schefold/« zitiert J. Beazley, der die veränderten Typen, deren sich die Vasenmaler bedienten, andeutungsweise soziologisch zu bestimmen suchte, als er vom Panaitiosmaler sagte: „Seine großköpfigen, feingliedrigen Menschen können nie als adlige Typen gegolten haben; nicht auf Rasse kommt es ihm an, sondern auf Lebendigkeit." Dieses neue Menschenbild in seiner Verallgemeinerung ist, wie es der Kuros einst gewesen war, Gemeinbesitz, eine adäquate Kunstform für ein Ideal, 1
Jaeger 24f.; Metzler 359. Xenophanes 21 B 2, 1 ff. Diels-Kranz. 3 Zum Beispiel Aristoteles, Rhetorik II 4, 1381a; Pseudo-Xenophon, Verfassung der Athener I 13. « Schefold 38. 2
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mit dem sich alle an der Polis aktiv Teilhabenden identifizieren konnten und das daher auch zum gemeingriechischen Besitz wurde. Ein Zeugnis soll mit aller gebotenen Vorsicht herangezogen werden, in dem äußere Erscheinung, sozialer Stand und körperliche Leistung aufeinander bezogen sind und das die Standesunterschiede überbrückende Gemeinsamkeit bestimmter Leitbilder erhellen könnte: Gemeint ist der Dithyrambos des Bakchylides über die Theseusmythen, geschrieben für die Athener. König Aigeus berichtet dem Chor von den Taten eines unvergleichlich starken Mannes, des Theseus, der sich auf dem Wege nach Athen befindet. Er macht in seiner Schilderung deutlich, daß es sich um einen Helden großen Formats handeln muß, dennoch kann der Chor ihn fragen: „Woher er sei, woher er stamme, der Mann, und was er für Kleidung trage, sagt er's? Ob er zum Kriege in Waffenrüstung ein Heer, ein gewaltiges heranführt? Oder ob er nur mit Begleitern, ein fahrender Kaufmann, kommt in das fremde Land hinein, er, der, standhaft und tapfer, mit solcher Kühnheit so vieler Männer gewaltige Kraft bezwang? . . S' 1 Es war also durchaus möglich, daß nicht nur ein adliger Heerführer, sondern auch ein reisender Kaufmann an Kühnheit und Kraft alle anderen Menschen in den Schatten stellte.
b) Öffentliche und private Leitbilder in fruhklassischer Tyrannenmördergrwp'pe
Zeit
Der Leitbildcharakter einiger griechischer Kunstwerke ist für uns nicht ohne Vorbedingung einfach aus ihrer Form ablesbar. Diese ist Ausdrucksträger eines Gehaltes, der uns nur aus den vielfältigen Beziehungen rekonstruierter konkreter Zwecke zugänglich wird. Eine antike Skulptur ist in ihrer Klarheit und Geschlossenheit weitgehend auch ohne die Kenntnis der historischen Entstehungssituation deutlich und in der Form ästhetisch erlebbar. Die wirkliche Bedeutung des Kunstwerks für seine Zeit ist jedoch meist nur aus der Kenntnis von außerhalb des überlieferten Monuments Liegendem zu erschließen. Insofern können Leitbilder in Skulptur und Malerei häufig nicht eindeutig erkannt werden, ja, sie sind möglicherweise gar nicht mehr aufspürbar. Auch die in den antiken Quellen bezeugte Hochschätzung bestimmter Werke schon in ihrer Entstehungszeit, wie beispielsweise der Athletenstatuen des Myron und Polyklet oder der Götterbilder des Phidias, gibt lediglich einen Hinweis, daß hier Zeitideale, d. h. Leitbilder, gestaltet wurden, nicht jedoch, worin sie eigentlich bestanden haben. Schon aus diesen Überlegungen heraus wird eine Rekonstruktion von Leitbildkonzeptionen in den Gattungen der bildenden Kunst immer nur fragmentarisch möglich sein. Wenn die Gruppe der Tyrannenmörder (Abb. 2) „nur" das Votiv eines privaten Freundespaares gewesen wäre, hätte ihre Form nicht notwendig geändert 1
Bakchylides, Dithyrambos 18, 31ff. p. 66 Snell (Übersetzung von O. Werner).
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werden m ü s s e n A n d e r e r s e i t s befähigte sie die am Naturvorbild orientierte Gestaltung der Kämpfer im frühklassischen strengen Stil, in den Rang eines Leitbildes aufzusteigen. Daß die Tyrannenmörder zum Leitbild geworden sind bzw. als Leitbilder aufgestellt werden konnten, ist jedoch nicht in erster Linie an den Bereich der bildenden Kunst gebunden. Sie vergegenständlichen eine Meinung über historisches Geschehen, f ü r die der Boden bereitet war, bevor sie geschaffen wurden. Als Denkmal den Athenern auf der Agora vor Augen stehend, wirkte die Gruppe dann ihrerseits meinungsbildend. Die beiden Adligen, die in einer privaten Verschwörung lediglich den Bruder des Tyrannen getötet und dabei bzw. bald danach den Tod gefunden hatten 2 , wurden ihrer Individualität weitgehend entkleidet und in bestimmte, recht unterschiedliche Zweckkonstellationen eingefügt. Die Datierung der ersten, von Antenor geschaffenen Gruppe ist nicht durch antike Quellenzeugnisse belegt; sie kann frühestens nach 510 angenommen werden. I n der Forschung liegen zu diesem Problem im wesentlichen zwei Meinungen vor: Entweder haben sich die Auftraggeber in den Adelskreisen um die Verschwörer bzw. unter den Alkmeoniden um Kleisthenes befunden 3 , oder aber, wie u. a. von G. Zinserling > ' vermutet wurde, ist auch die Gruppe des Antenor in den Komplex der demokratischen Maßnahmen des Jahres 487/86 (Abschaffung des Archontates als Wahlamt, Einführung des Ostrakismos, d. h. der Verbannung durch das „Scherbengericht"), die von Themistokles als dem Exponenten des Demos initiiert worden waren, einzuordnen. Nach Marathon erst konnte die Antenorgruppe zu einem politischen Symbol werden, hinter dem nicht nur der Demos stand, sondern zunächst — vielleicht bis zum Ostrakismos des Aristeides — mindestens auch ein Teil der Adligen, deren in Trinkliedern 5 gefeierte Standesgenossen Harmodios und Aristogeiton waren. Die Gruppe des Antenor wurde von Xerxes nach Susa verschleppt, als die Perser 480 Athen besetzten 6 . Das ist als symbolische Handlung insofern interessant, als diese Gruppe offenbar schon die Bedeutung des Fanals einer Zeitenwende besaß, und indem man sie raubte, der Anspruch vorgetragen wurde, die hinter dem Denkmal stehenden Vorgänge, nämlich die demokratische 1
Literaturübersicht bei Metzler 207 Anm. 3; vgl. auch G. Zinserling, Themistokles — sein Porträt in Ostia und die beiden Tyrannenmördergruppen, Klio 38, 1960, 87 ff.; W. Gauer, Die griechischen Bildnisse der klassischen Zeit als politische und persönliche Denkmäler, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts ( = J d I ) 83, 1968, 118 ff. 2 Vgl. Thukydides VI 54ff.; Metzler 211. 3 Vgl. Metzler 210 u. Anm. 5. 4 Zinserling 101 f. 5 Zu den Skolien der Adligen über die Tyrannenmörder vgl. E. Diehl, Anthologia Lyrica Graeca 6, Skolion 10; dazu H. Friedel, Der Tyrannenmord in Gesetzgebung und Volksmeinung der Griechen, Stuttgart 1937; V. Ehrenberg, Das Harmodioslied (1956), in: Polis und Imperium, Zürich 1965, 253—264. 6 Vgl. Metzler 208 Anm. 2.
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Orientierung nach dem Sturz der Tyrannis, rückgängig zu machen, zumindest aber in Frage zu stellen 1 . Wie tief der Tyrannenmord in seiner bildlichen Dokumentation im Bewußtsein der Athener gewurzelt haben muß, beweist, daß noch J a h r e später ein Monument der Tyrannenmörder in das politische Kräftespiel einbezogen werden konnte. Während es kaum üblich war, in musealer Pietät die von den Persern zerstörten Weihungen wiederherzustellen, und man die zerstörten Heiligtümer als Mahnmale der Verbrechen für die Nachwelt bewußt im ruinösen Zustand beließ, hat gerade die Gruppe der Tyrannenmörder eine Wiederherstellung erfahren. Im J a h r e 477/76 wurde unter dem Archontat des Adeimantos 2 das neue Tyrannenmörderdenkmal errichtet. Von dieser Bronzegruppe der Künstler Kritios und Nesiotes besitzen wir römische Kopien, die die kühne Konzeption, zwei stark bewegte freiplastische Statuen in einer Gruppe zu vereinen, erhalten haben: der bärtige ältere Aristogeiton mit schirmender Geste und der junge Harmodios mit zum Schlag ausholendem Schwert. Allgemein als Junger und Älterer charakterisiert, die Gesichter ohne Andeutung eines Besonderen oder eines Affekts, die Körper voll beherrschter Tatkraft, waren sie zum Symbol ihrer Tat, der im Monument alles Zufällige genommen ist, als historisches Denk- und Mahnmal im Zentrum der demokratischen Polis neu errichtet worden. Die Tyrannenmörder sind in die Rolle der Protagonisten der Demokratie hineinversetzt worden, und zwar höchstwahrscheinlich auch diesmal durch Themistokles, der schon hinter den einschneidenden Demokratisierungsmaßnahmen des Jahres 487 stand und dem 477/76 eine Wiederaufstellung der Tyrannenmörder im Bemühen um Wiedererringung seiner verlorenen Vorrangstellung sehr günstig gewesen wäre ;i . Daß die neuen Ehrenstatuen auf dem Markt von Athen eine „moderne" Form erhielten 4 (wahrscheinlich waren sie sogar ein künstlerisches Novum als Darstellung eines extremen Bewegungsvorganges), kann vom Initiator des Monuments nur als bewußtes Moment der Aktualisierung eingesetzt worden sein, in dem Sinne, wie Aischylos beim Besuch des delphischen Heiligtums gesagt haben soll, daß die Statuen von heute lebendiger, die früheren aber göttlicher gewesen seien 5 . Die beiden Statuen entsprachen einem menschlichen Erscheinungsbild, das Leitbild u n d Ausdruck eines neuen Lebensgefühls und Bewußtseins des Bürgers als des Kämpfers und Repräsentanten der Polis werden konnte. I m Gedicht eines unbekannten Verfassers aus den ersten Jahrzehnten nach der J a h r h u n d e r t wende ist dieses Leitbild formuliert: „Ein gemeinsames Glück ist dies f ü r die Stadt und die ganze Gemeinde, wenn ein Mann breitbeinig unter den Vorkämp1 2 3 4
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G. Hafner, Geschichte der griechischen Kunst, Zürich 1961, 138; 153. Marmor Parium I 70. Vgl. Zinserling 102 f. Anders Zinserling 103, der eine enge Anlehnung der Gruppe an die des Antenor vermutete. Bei Charbonneaux — Martin — Villard 108.
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fern ausharrt unerschüttert und schmähliche Flucht völlig vergißt, sein Leben und seinen beherrschten Willen einsetzend, und mit Zuspruch den Nebenmann aufmuntert. Solch ein Mann wird gut im Kriege (d. h. bewährt sich als gut). Alsbald treibt er die rauhen Scharen der Gegner zur Flucht, und an seinem Eifer bricht sich die Welle der Schlacht." 1 Die Gruppe der Tyrannenmörder ist auch das Symbol einer durch das Jahrhundert wachgehaltenen Tyrannenfurcht 2 , an die die Demokraten wie auch ihre Gegner immer wieder appellieren konnten, wenn eine starke Persönlichkeit die strengen, vom Demos gezogenen Grenzen der formalen politischen Gleichberechtigung zu verletzen drohte. Themistokles und auch Kimon mußten Athen verlassen. Perikles kam in den Verdacht, als erster Mann und Führer des Demos eine Tyrannis auszuüben, und die Verbannung durch das sog. Scherbengericht, die den führenden Männern der Polis stets drohte, wurde mit dieser Furcht vor der Tyrannis begründet. Die Tyrannenmörder auf der Agora waren die ersten Ehrenstatuen in Athen. Sonst hat es öffentliche Ehrenstatuen im Athen des 5. Jahrhunderts nicht gegeben 3 , weder für verdienstvolle Strategen noch für Sieger in sportlichen Kämpfen, nicht einmal für Verstorbene. Erst mit der Statue für Konon 4 bahnte sich 394 ein Umschwung an, der der geänderten Situation der Polis entsprach 5 , insofern, als nun die relative Geschlossenheit des Demos nicht mehr vorhanden war und die Massen ihr Heil von der Wirksamkeit überragender Einzelpersönlichkeiten erhofften. Offenbar haben für Ehrungen politischer und militärischer Führer in griechischen Poleis keine allgemein akzeptierten Formen bestanden. Dies läßt die Schilderung des Thukydides 6 über die Ehrung, die die von Athen abgefallenen Skionäer 423 ihrem Befreier Brasidas erwiesen, vermuten. Ihm hatten die Spartaner für die ohne große Verluste ermöglichte Rettung von Methone als erstem ein öffentliches Lob gespendet 7 . Die Skionäer setzten ihm öffentlich einen goldenen Kranz auf, und persönliche Bewunderer umwanden ihn wie einen sportlichen Sieger mit Binden und weihten ihm die Erstlingsopfer. Der gemeingriechische Brauch, daß nach der Schlacht als „Preis der Tapferkeit" ein Olivenkranz an einzelne hervorragende Kämpfer vergeben wurde 8 und am 1 Vgl. Frankel 384ff.; Schachermeyr, Klassik, 101 f. 2 Vgl. Gauer, Jdl 83, 1968, 136. 3 Vgl. Demosthenes, Gegen Leptines 70 p. 478; Scholion zu Demosthenes, Gegen Meidias 62 p. 534,24; Aristoteles, Rhetorik 19, 1368 a 16ff.; Plinius, Naturgeschichte X X X I V 17. 4 Vgl. Pausanias I 24, 3. Zu den Statuen für Konon, Timotheos und Chabrias vgl. Lippold 227 Anm. 4 u. 5; Gauer, Jdl 83, 1968, 118. 5 Zu den Ehrenstatuen für Maiandrios und Hegesagoras im Heraion von Samos vgl. W. Peek, Ein Seegefecht aus den Perserkriegen, Klio 32, 1939, 289ff.; Gauer, Weihgeschenke, 124; ders., Jdl 83, 1968, 147 Anm. 133 u. 134. e Thukydides IV 121, 1. "> Thukydides II 25, 2; vgl. außerdem Herodot VII 226f.; VIII 11, 2; 124, 2; Gauer, Weihgeschenke, 28 Anm. 90. 8 Vgl. Thukydides IV 121,1.
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Ende eines Feldzuges die Wahl des „Würdigsten" gemeinsam vorgenommen wurde, dem man dann ein Aristeion, d. h. einen Lohn für besondere Tapferkeit, aushändigte, weist auf die enge Verwandtschaft der Zeremonien zur Auszeichnung kriegerischer und sportlicher Leistungen hin 1 . Die von Plutarch 2 berichtete Bitte des Miltiades in der Volksversammlung um einen Kranz für seine militärischen Erfolge und die Weigerung mit dem Hinweis auf die Gemeinschaft, der das Verdienst für den Sieg gebühre — das Anekdotische dieser Szene ist insofern auszuschalten, als offenbar der Kranz des Siegers die einzig denkbare Form der Ehrung darstellte —, könnte den ersten und zwar mißlungenen Versuch eines Adligen darstellen, in seiner für die Polis erbrachten Leistung anerkannt zu werden.
c) Einzelpersönlichkeiten im Bemühen um 'persönliche Leitbildkonzeptionen 1. Themistokles Themistokles, der Exponent des zur politischen Macht drängenden Demos, war der erste, der in kluger Kalkulation akzeptierter Leitbildvorstellungen sein politisches Programm zu verwirklichen und seine Stellung im demokratisch orientierten Polisgefüge zu stabilisieren suchte. Er hat, wie dann erst wieder Perikles, die bewußte ideologische Manipulation zur Erreichung seiner politischen Ziele eingesetzt. Es ist an dieser Stelle unmöglich, die Nutzung der Künste durch Themistokles zu untersuchen. Themistokles war nach Aussage des Thukydides 3 „in der Tat ein Mann, der die Kraft der Naturanlage auf das überzeugendste offenbarte und der deshalb mehr als jeder .andere eine besondere Bewunderung verdient. Durch sein angeborenes Genie war er, ohne je eine Schulung genossen zu haben oder selbst sich weiterzubilden, nach kürzester Zeit der klarste Beurteiler einer gegenwärtigen Lage." Themistokles war, wie schon dargestellt wurde, sehr wahrscheinlich der Initiator der Tyrannenmördergruppen, deren zweite auch im gestalteten Menschentypus eine bewußte Überwindung des spätarchaisch-aristokratischen Ideals bedeutet. Eine verwandte Formensprache zeigt das nach stilistischen Indizien der Frühklassik zugeordnete, als römische Hermenkopie 4 erhaltene Porträt des Themistokles 1
Das älteste Zeugnis für die auf athenischen Volksbesohluß vorgenommene Ehrung eines einzelnen — bezeichnenderweise eines Nichtatheners — aus politischen Motiven ist das attische Urkundenrelief vom Jahre 427/26. Athena bekränzt Apollophanes aus Kolophon (IG I 2 S9); R. Binneboeßel, Studien zu den attischen Urkundenreliefs des 5. und 4. Jahrhunderts, Diss. Leipzig 1930, Nr. 2; vgl. auch Nr. 6 (IG I 2 144). 2 Plutarch, Kimon 8, 3 ff. 3 Thukydides I 138, 3. 4 H. Sichtermann, Der Themistokles von Ostia, Gymnasium 71, 1964, 348ff.; Gauer, Jdl 83,1968, 148-150; Metzler 182ff.; Zinserling 87ff.
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(Abb. 3). Dieses realistische Porträt strengen Stils zeigt derbe, beinahe gewöhnliche Züge, die nicht nur ganz abgehen vom traditionellen Ideal, sondern gewissermaßen den in den Tyrannenmörderköpfen in überindividueller Norm gegebenen derb robusten Typus in spezifischer Weise zu einem Individualbildnis und gleichzeitig zu einem Leitbild umprägen. Dem Protagonisten der Demokratie darf ein derartiges programmatisches Bildnis, das auf eine unkonventionelle Selbstbewertung schließen läßt, durchaus zugetraut werden. Diese Selbstbewertung des Themistokles, die sich als eine Art Antileitbild zum überindividuellen, dem Adel verhafteten Kaloskagathos-Ideal konzipiert, ist in der schriftlichen Überlieferung zu seiner Person durchaus greifbar. Nicht nur dem geistigen Ausdruck nach, sondern auch in ihrem Äußeren stellte die Bildnisstatue des Themistokles im von ihm errichteten privaten Heiligtum der Artemis Aristobule in Melite einen Heros vor. So beschreibt Plutarch 1 das Porträt des Salamissiegers, das nur als eine private Weihung in den Jahren 479—472 aufgestellt worden sein kann und auf das die römische Hermenkopie sehr wahrscheinlich zurückgeht. Das Porträt gab zu der Vermutung Anlaß, daß die individuellen Züge des Themistokles einem Heraklestypus 2 aufgeprägt seien. Die gleiche ungebrochene Tatkraft, die sich in markanten, substanzvollen Formen ausspricht, finden wir auch in frühklassischen Heraklesdarstellungen wieder. I n der Ostia-Herme sind diese allgemeinen Wesenszüge jedoch ins Persönlich-Nahe und betont Porträthafte eingeengt worden. Gerade diese Synthese von Menschlichem und Heroischem aber hat Plutarch empfunden und in knapper Form ausgedrückt. Herakles stand im mythischen Kampf mit den Amazonen und Kentauren, die die Menschen und ihre Kultur bedrohten. I n dieser Funktion wurde der Heros zum beliebten Thema der archaischen Vasenmalerei. Entsprechend hatte Themistokles die Gefahr der Leben und Kultur bedrohenden Perser bei Salamis gebannt. Wie der Heros, beladen mit mühevollen Taten, die kein Ende nehmen, muß sich der Staatsmann häufig empfunden haben, zumal dann, als zur Isolierung vom alten Adel noch das Schwinden der Gunst des Demos kam und er sich mit dem Holz einer ausgemusterten Triere, die nach getaner Arbeit nur noch zum Brennen taugt, verglichen haben soll 3 . Themistokles empfand sich offenbar von gleicher K r a f t und ungezügelter Lebensart wie der Heros, wenn er im bewußten Affront gegen die aristokratische Erziehungsnorm von sich behauptet hat, singen und Kithara spielen könne er nicht, aber einen Staat groß und reich machen 4 . Diese außergewöhnliche Porträtschöpfung war die bewußt leitbildhafte Würdigung einer Persönlichkeit, die auf Grund ihrer Fähigkeiten einen außergewöhnlichen Platz in der Gesellschaft beanspruchte. Dennoch wird diese antiaristokratische Formulierung eines neuen Menschenbildes eher als Be1 2
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Plutarch, Themistokles 22, 3. Vgl. G. Hafner, Zwei Meisterwerke der Vorklassik, Archäologischer Anzeiger ( = AA) 1952, 100ff.; Metzler 200f. Vgl. Plutarch, Themistokles 2, 8. Plutarch, Kimon 9, 1.
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kenntnis über und zu sich selbst zu bewerten sein und nicht, zumindest nicht in dem an verborgenem Ort errichteten Porträtvotiv 1 , als eine an die Öffentlichkeit gerichtete Leitbildkonzeption, wie etwas später die des Philaiden Kimon oder auf breiterer Basis die des Perikles. 2. Kimon Themistokles hatte sich in Herakles das mythische Leitbild gesucht. Kimon, sein politischer Nachfolger, hat sich — möglicherweise in direktem Bezug auf die Heraklesadaption seines Rivalen — vor allem mit Theseus verbunden. Die Theseusmythen 2 kommen in zyklischer Form mit neuer Bedeutsamkeit zuerst am Schatzhaus der Athener in Delphi 3 in Gemeinschaft mit denen des ersten Helden archaischer Zeit, Herakles, vor. Ein neues Idealbild wird an dem für das Athen der Perser kriege repräsentativen Bau geschaffen, ein neuer Mythenkatalog aufgeblättert, dessen Held im Athen des 5. J a h r h u n d e r t s Herakles an Popularität weit überragt, obgleich beide Heroen nicht zu Konkurrenten wurden, sondern eine friedlich-verwandtschaftliche Doppelexistenz, allerdings mit unterschiedlichem Stellenwert im Bewußtsein der attischen Polis geführt haben 4 . Kimon hat dem Theseus-Leitbild einen wesentlichen Zug verliehen, als er, und das ist sicher eine bewußt genutzte Parallelisierung, die durch die historischen Ereignisse begünstigt wurde, gleichsam wie Theseus auf seinem Weg von Troizen nach Athen die Feinde der Menschen und ihrer Kultur vernichtet hatte, die dolopischen Seeräuber von Skyros, die die Kaufleute beraubten und einsperrten, besiegte, die Insel f ü r Athen eroberte und das Meer von R a u b und Mord säuberte 5 . Theseus soll auf diese Insel geflohen und dort gestorben sein, und Kimon konnte nun f ü r die Athener endlich den alten Orakelspruch, der die Heimführung der Gebeine des Heros nach Athen und die Einrichtung eines Kultes für ihn befahl, erfüllen. Mit großem Gepränge kamen im J a h r e 475 der Heros und Kimon nach Athen zurück. Sollte da nicht den Athenern ein neuer Theseus suggeriert werden? Zumindest ist diese Vermutung durch den mit Kimon verbundenen neuen Kult sowie 1
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Vgl. auch das Pausanias X 4, 2 erwähnte Bildnis des Arimnestos aus Flataiai im Tempel der Athena Areia. Vgl. H. Herter, Theseus der Jonier, Rheinisches Museum 85, 1936, 117 ff.; ders., Theseus der Athener, ebd. 88, 1939, 284ff.; ders., Griechische Geschichte im Spiegel der Theseussage, Die Antike 18, 1941, 209ff.; F. Fischer, Heldensage und Politik in der klassischen Zeit der Griechen, Diss. Tübingen 1957. Zur Verbindung des Theseus mit der Marathonschlacht vgl. Gauer, Weihgeschenke, 65. Zur Datierung des Schatzhauses vgl. Gauer, Weihgeschenke, 45 ff. Schefold 32 vermutet aus Alkmeonidenkreisen initiierte Dichtungen als Vorlagen für Theseuszyklen in der bildenden Kunst; ders., Die Griechen und ihre Nachbarn, Propyläenkunstgeschichte, 1, (West-)Berlin 1967, 84; Schachermeyr, Klassik, 74. Vgl. Plutarch, Theseus 36, 2f.; Plutarch, Kimon 8, 5.
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die Einrichtung des Theseus-Heroons am Markt und dessen Ausmalung mit den Theseus-Mythen, Amazonomachie 1 und Kentauromachie — ebenfalls Themen mit Leitbildcharakter — und die Einbeziehung des Theseusthemas in die Gemälde der Stoa Poikile2, auch ein Bau der Philaidenfamilie, nahegelegt 3 . Der neue Landesheros konnte zur Zentralfigur und zum Leitbild des patriotischen Bewußtseins der Athener nach den Perserkriegen werden, und dazu hat ihn, wie man annehmen darf, weitgehend Kimon gemacht, der damit u. a. eine wirksame Entgegnung auf die themistokleische Propaganda anbieten konnte, und zwar, wie Plutarch 4 uns wissen läßt, mit gutem Erfolg, da seine Beliebtheit beim Demos sprichwörtlich war 5 . Auch Kimon hat sich wie Themistokles eines mythischen Protagonisten bedienen müssen; es war ihm unmöglich, die eigene Person in den Vordergrund zu stellen. Die demokratische Polis mit dem ausgeprägten Bedürfnis nach Traditionsbezügen duldete dennoch keinen der führenden Männer in der Rolle eines Leitbildes 6 . Besonders deutlich wird das Wechsel Verhältnis von echtem Traditionsbedürfnis, einer Tradition, die die leitbildhafte Aktualisierung erlaubte, und strenger Abwehr gegen den Versuch, diese Leitbilder durch unmittelbare Identifizierung auf einen einzelnen zu beziehen, als Kimon die Eroberung von Eion in Thrakien 475 siegreich beendet hatte und ihm die Volksversammlung die Aufstellung von drei steinernen Hermen gestattete, in deren Epigrammen 7 jedoch sein Name nicht genannt werden durfte 8 . I n ihnen wurde eine neue Traditionslinie konstruiert, die in Menestheus, dem Athener, der mit den Atriden nach Troja zog, das Urbild aller Feldherrnkunst feierte, die jetzt noch in Athen zu Hause sei. Eins der Epigramme weist auf die schon von alters her vorhandene kriegerische Begabung des athenischen Volkes hin. Dabei geht die Individualität des geehrten Kimon völlig unter, sein Talent steht lediglich in der Tradition, in die er sich an hervorragender 1
Zur attischen Amazonomachie als mythische Parallele zur Marathonschlacht vgl. Gauer, Weihgeschenke, 18. 2 J. Overbeck, Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen, Leipzig 1868 (Fotomech. Nachdruck 1959), Nr. 1054—1057; weitere Literatur bei Gauer, Weihgeschenke, 19 Anm. 49. 3 Zur Verbindung des Theseus mit den Philaiden vgl. A. Podlecki, The Political Background of Aeschylean Tragedy, Ann Arbor 1966, 13 f., der allerdings Miltiades als neuen Theseus deutet. 4 Vgl. Plutarch, Kimon 8, 7. 5 Vgl. Metzler 195 f. 6 Vgl. F. Schachermeyr, Sophokles und die Perikleische Politik, Wiener Studien 79, 1966, 49, der auf die Kontrahenten Aias und Odysseus als Repräsentanten unterschiedlicher Mannesideale hinwies. 7 Vgl. Aischines, Gegen Ktesiphon 183—185; Plutarch, Kimon 7, 2; dazu F. Jacoby, Athenian Epigrams from Persian Wars, Hesperia 14, 1945, 185—211; Gauer, Weihgeschenke, 14f. und Anm. 22; ders., Jdl 83, 1968, 136; Schachermeyr, Klassik, 105. 8 Metzler 196 deutete die Schlichtheit der Hermen als bewußte Distanzierung vom propagandistischen Aufwand des Themistokles.
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Stelle einzufügen hatte. Das zweite Epigramm betont gewissermaßen den gesellschaftlichen Wert dieser Hermenaufstellung, mit der das Volk den Führer des Kampfes belohnte. Dieser wurde damit zwar zum Vorbild für die folgenden Generationen, wieder aber lag der Akzent bei der Wirkung auf die Gemeinschaft. Das erste Epigramm rühmt die Tapferkeit der Truppe, ohne die Führer zu erwähnen1. Kimon und sein Anhang haben geschickt die durch Gegenwartsbezüge aktualisierten mythischen Sujets, die für Athen zum überhöhten Synonym seiner historischen Schlachten geworden waren, für die Popularität ihres Geschlechtes benutzt. Das Gemälde der Marathonschlacht in der von Kimons Schwager erbauten Stoa Poikile — durch die Darstellung der Göttin Athena, des Theseus und des Herakles, der Ortsheroen Echetlos und Marathon 2 über die historische Wirklichkeit erhoben — fand in weiteren Gemälden, der Eroberung von Ilion durch die Griechen bzw. dem Kampf des Theseus gegen die Amazonen ihre mythische Entsprechung und Erhöhung. Die Göttin der Stadt und die bedeutendsten Heroen standen neben den kämpfenden Athenern und Plataiern. Im aufgebotenen Potential göttlichen und heroischen Beistandes sollte die Auserwähltheit dieser Kämpfer sichtbar werden, wurde ein Elitebewußtsein 3 suggeriert, das später immer stärker in das Medium von künstlerischen und geistigen Leitbildern Eingang finden bzw. in diesen erweitert und konkretisiert werden sollte. Kimons Vater, Miltiades, war 488, also zwei Jahre nach Marathon, gestorben und zwar nicht mehr als der ruhmreiche Sieger, sondern, nach einem mißglückten Feldzug gegen die Insel Paros, vom Demos zu 50 Talenten Geldbuße verurteilt. Er spielte eine hervorragende Rolle im Bildgeschehen der Marathonschlacht: er stand an der Spitze der Athener und feuerte die Krieger zum Kampf an. Außerdem soll er durch porträthafte Züge besonders ins Auge gefallen sein. In der Bildgestalt des Miltiades wurde vom einflußreichen Sohn die Rehabilitierung des Mannes angestrebt, der dem Kollektivruhm der über ihre historische Dimension sehr bald hinausgehobenen, legendären Schlacht im Wege stand. Auch der Feldherr Kallimachos, dessen Verdienst noch im Epigramm der posthumen — offenbar von seiner Heimatgemeinde Aphidnai ausgeführten — Akropolisweihung4 hervorgehoben wurde, geriet wie sein zerstörtes Monument in der attischen Öffentlichkeit schnell in Vergessenheit. Im attischen Leitbild von der Marathonschlacht fehlten die Führergestalten. Die Generation der Marathonkämpfer und ihre Söhne suchten eine Verbindung zu den mythischen Heroen herzustellen, erhoben aber nicht die historischen Feld1 2 3
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Plutarch, Kimon 7 u. 8. Vgl. Pausanias I 15, 1—3. Zur Schaffung eines neuen Traditionsbewußtseins nach den Perserkriegen in Athen vgl. Schachermeyr, Klassik, 105. Vgl. Raubitschek, Dedications, 13; R. Hampe, Ein Denkmal für die Schlacht von Marathon, Die Antike 15, 1939, 168—174; Peek, Seegefecht, 305; Gauer, Weihgeschenke, 115ff. Der Mensch
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herren im einzelnen in diese Sphäre. Kimon hat nun in Privatinitiative den Versuch unternommen, diese Beurteilung der Marathonschlacht im Kunstwerk zu modifizieren und das Leitbild von der siegreichen Schlacht um das Idealbild des Führers zu erweitern. Noch deutlicher wird dieser Versuch in dem großen, von Phidias gearbeiteten Weihgeschenk in Delphi 1 , dessen konkrete Form höchstwahrscheinlich ebenfalls auf die Initiative Kimons zurückgehen dürfte 2 . Miltiades wurde darin im bedeutendsten Heiligtum Griechenlands in einer Statue als Heros dargestellt, in der Nachbarschaft von Athena und Apollon und den attischen Phylenheroen, die in ihrer Anordnung im Monument gleichsam nochmals zur Schlacht antraten. Einige bedeutende rundplastische Gruppen, die ebenfalls Mythen um den Heros Theseus zum Inhalt haben und die nun bezeichnenderweise wiederum eine Beziehung zum Geschehen der Perserkriege herzustellen gestatten, müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Pausanias 3 beschreibt auf der Akropolis die Gruppe „Theseus mit dem marathonischen Stier kämpfend". Theseus sollte den Athenern bei der Marathonschlacht zu Hilfe gekommen sein, und so erklärt sich die Weihung -der Bürger aus der Gemeinde Marathon, die — eine interessante Parallele zur zweiten Tyrannenmördergruppe — nach der Zerstörung einer Marmorgruppe um 480 v. u. Z. als Bronzemonument neu aufgestellt wurde. Wahrscheinlich ist eine stark bewegte männliche Figur (Abb. 4) die nach diesem Denkmal angefertigte römische Kopie des Theseus. Man wird der Deutung G. Hafners 4 zustimmen können, der auf die direkte Beziehung des Motivs zur Schlacht von Marathon hinwies. Auch die übrigen Theseusgruppen, „Theseus und Minotauros" 5 und „Theseus findet die Waffen seines Vaters unter dem Felsen bei Troizen" 6 sowie eine nicht bei Pausanias erwähnte, aber bildlich nachweisbare Gruppe „Theseus im Kampf mit der Amazone Antiope", haben einen Bezug auf die jüngsten politischen Ereignisse und sind mythisches Gleichnis f ü r die polisförderlichen bzw. -feindlichen Kräfte. Diese Votive im attischen Hauptheiligtum, der Akropolis, müssen wie die Tyrannenmördergruppe auf der Agora, dem Markt der Stadt, ebenfalls als politische Bekenntnisse gewertet werden. Sie bekunden wie auch die frühklassischen Vasenbilder mit Theseusmythen Selbstbewußtsein und Selbstverständnis der sich demokratisch formierenden Polis 7 . 1 2 3 4 5 6 7
Vgl. Pausanias X 10, 1 - 2 ; Gauer, Weihgeschenke, 25, 65ff. Vgl. Gauer, Weihgeschenke, 70 Anm. 290 Forschungsstand. Pausanias I 27, 9. Hafner, Griechische Kunst, 149 f. Pausanias I 24, 1. Pausanias I 27, 8. Vgl. Hafner, Griechische Kunst, 148—155.
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d) Mythos und Leitbild in der Malerei Die griechischen Mythen gaben auch im 5. Jahrhundert das bildsame Rohmaterial a b für Tragiker, Bildhauer und Maler, die im Umbau der vorgefundenen frühen Formen des Mythos die Stufen und Möglichkeiten der Humanisierung ihrer eigenen Zeit auszuloten suchten 1 . I m freien Gebrauch eines traditionsreichen Stoffes und in seiner aktuellen Variation haben Chorlyriker und Tragiker die Probleme ihrer Gesellschaft objektiviert und Lösungen zugeführt, die in der mythischen Distanz zum Anschauungs- und Demonstrationsobjekt neuer sittlicher Maßstäbe werden konnten. I n der Tragödie wurde der Mythos aufgefüllt mit einer Problematik, die zwar in einer konkreten Fabel wurzelt, die sich jedoch leicht ablösen läßt und deren Veranschaulichung im Stück ihrer Entfaltung und Beurteilbarkeit dient. Die Tragödie nutzt den Mythos, um gewissermaßen von der einfachen Ebene des Handlungsvorgangs in die Tiefe zu loten, menschliche Grundverhaltensweisen, das Wirken der Mächte und K r ä f t e in und um den Menschen zu erfassen, die von mythischer Verankerung leicht freizumachen sind. Vergleicht man unter diesem Aspekt die Gattungen der bildenden Kunst, so trifft man zwar gleichfalls auf den Mythos als Grundsubstanz, keinesfalls aber auf die gedankliche Vertiefung und schöpferische Umformung, die ihn in den Tragödien zum ethischen Beispiel und Vorbild mit teilweise antizipatorischem Charakter werden ließ. Die Mythen in der bildenden Kunst blieben weitaus stärker erzählende Darstellung, unentfaltet im Sinn und als Veranschaulichung fußend auf Deutungen, die, schon ausgeprägt, nun nur neu ins Bild gesetzt wurden. Aristoteles 2 hat Polygnot von Thasos, den großen Meister der Frühklassik, einen Maler des Ethos genannt, und es scheint so, daß in seinen Bildern Elemente enthalten sind, die auf den Versuch der Humanisierung einer der Grundsituationen des griechischen Mythos schließen lassen. Ein H a u p t t h e m a der griechischen Mythen ist der Kampf. Daseinskämpfe auf allen Ebenen füllen die Schicksale der Götter und Heroen, und die Griechen der verschiedenen Poleis existieren in immerwährenden, oft grausam ausgetragenen Händeln nebeneinander. Die „große T a t " des Kampfes gehört zum Lebensbild des homerischen Helden 3 . Zwar gab es Normen der Ritterlichkeit, eine partielle, standesgebundene Humanisierung (in der „Ilias" verurteilt Apollo» das unwürdige Wüten Achills) griff regelnd in die wesentlichste Daseinsweise der Männer als Krieger und Kämpfer ein, aber der Bessere ist immer der Stärkere, und das Recht des Stärkeren findet sich nicht nur als akzeptiertes Element in den Reden der kriegführenden Parteien im Geschichtswerk des Thukydides, sondern kommt als latentes Element griechischen Welt Verhaltens immer 1 Vgl. allgemein dazu F. Egermann, Vom attischen Menschenbild, München-Pasing (o. J.). 2 Aristoteles, Poetik 1450 a; Overbeck, Schriftquellen, Nr. 1042-1079; C. Weickert, Studien zur Kunstgeschichte des 5. Jahrhunderts v. Chr., 1: Polygnot, Berlin 1950. 3 Vgl. E. Ch. Welskopf, Probleme der Muße im Alten Hellas, Berlin 1962, 141-152.
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wieder zum Vorschein, wenn auch selten so deutlich wie in den Lehren einiger Sophisten. I n Polygnots Bildern ist zwar keinesfalls Verzicht auf die kriegerischen Paradethemen, wie Amazonen- und Kentaurenkampf, die Zerstörung von Ilion, die Einzelkämpfe der Heroen und die Rachetaten der Götter, geleistet, aber es ist ein für die Frühklassik bezeichnender Wandel vor sich gegangen: die moralische Belastung der Täter durch ihre Tat wird aufgespürt, die Helden werden nicht mehr in ihrer Vollkraft während des Kampfes, sondern der inneren Leere nach vollbrachter Tat dargestellt. Polygnots großer Gemäldezyklus in der Halle der Knidier in Delphi 1 zeigte die Eroberung von Ilion, die Abfahrt der Griechen und Odysseus' Gang zum Hades. Die Gemälde müssen die Versammlungsstätte zu einer Art Heldenmuseum gemacht haben. Vor allem in der Nekyia, der großen Totenschau im Hades, wird nicht ein geschlossener Handlungsvorgang dargeboten, sondern prägnante Kurzformulierungen der Schicksale der Helden und Heldinnen des Mythos, die, bezeichnenderweise unter dem Gesichtspunkt ihrer Todesursache zusammengestellt, in der Unterwelt versammelt werden. Die Gemälde variierten das Thema menschlicher Lebensalter und Gemütsstimmungen und bildeten als Anhäufung vielfältiger Formen des Verderbens eine Art memento mori, das, indem gewissermaßen das traurige Dasein in der Unterwelt als Ende des Heldenlebens ins Bild gesetzt wurde, ein kritisches Verhältnis zum Mythos voraussetzte und auch beim Betrachter erzeugen mußte. Eine ausgebreitete Gelehrsamkeit, die sich, wie Pausanias berichtet, in den Fassungen einzelner Gestalten als illustrierte Dichterzitate kundtat, stellte die Gemälde unabhängig von der künstlerischen Originalität in bestimmter Beziehung auf die Stufe abgeleiteter Kunst, sofern Polygnot offenbar nicht mit der schöpferischen K r a f t der Tragiker und auch nicht mit deren hohem Anspruch auf die Schöpfung neuer ethischer Normen mit dem mythischen Erbe umgegangen ist. Auch sein Gemälde „Odysseus, der die Freier bereits erschlagen hat", im Heiligtum der Athena Areia in Plataiai 2 ist direkte Illustration homerischer Verse (Odyssee 22, 381—389) und in der Wahl der Szene bezeichnend für Polygnots Bestreben, die innere Belastung des Täters durch die zwar unvermeidliche Tat aufzuspüren und gewissermaßen auch deren psychische Bewältigung als ihr hauptsächliches Problem aufzuzeigen. Die berühmten Gemälde der großen Maler lieferten den Vasenmalern vielfältige Anregungen, und so sind einige der verlorenen Monumentalgemälde auf den Gefäßen mehr oder weniger deutlich nachweisbar. Es ist interessant, daß offenbar, wie in der Wand- und Tafelmalerei der Frühklassik, die Themen des Mythos als Gefäßdekoration in gewissermaßen unproblematischer Erzählfreude ästhetisch sublimiert vorgetragen werden. Die Schrecken der Morde bei der Einnahme von Ilion beispielsweise (Abb. 6) werden kaum ihrem „Lebens1 Vgl. Pausanias X 25-31; Schefold 62 ff. Vgl. Pausanias I X 4, 2; Gauer, Weihgeschenke, 98 ff.
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gehalt" entsprechend beurteilt, die getöteten Krieger binden wie die gefallenen Amazonen und Giganten anderer Bilder dekorativ die Gruppen der Kämpfenden auf den Gefäßrundungen zusammen. Die moralische Ausdeutung der Themen wird nicht geliefert, sie ist offenbar f ü r die Maler kein Gegenstand des Interesses. Leitbildvorstellungen wurden zwar in den Gattungen der Vasenmalerei popularisiert, beispielsweise hatten die Zyklenschalen mit den Thftseustaten 1 gewiß an der Popularisierung des Heros bei den Athenern großen Anteil, kaum aber ursprünglich formuliert. Sie sind meist abgeleitet und entliehen aus den Werken der Dichter, die ihre Neudeutung und leitbildhafte Formulierung besorgten. Die großen Leitbilder der Frühklassik waren jedoch nicht in erster Linie im Bild vom Menschen geprägt worden, weder in den überindividuellen Athletenstatuen jugendlicher Sieger noch in bewußt leitbildhaft gemeinten Porträtschöpfungen, sondern in den Gestalten der olympischen Götter 2 . I n den Tragödien des Aischylos wird Zeus zum Synonym von Recht und Gesetz, bei Sophokles sind die moralischen Satzungen der Polis die ungeschriebenen Gesetze der Götter, und in den Schöpfungen der Bildhauer und Maler des strengen Stils geschieht eine Trennung von Menschen- und Götterbild, die es in dieser Deutlichkeit in der archaischen Kunst nicht gegeben hat. Eines der berühmtesten spätfrühklassischen Götterbilder ist der sog. Kasseler Apollon (Abb. 5), ein Frühwerk des Phidias 3 . Die Großartigkeit dieses Gottes, seine Strenge und Hoheit und die über menschliches Maß gehende Vollkommenheit sind in dem im festen Achsengefüge gebauten Körper gestaltet worden. Die frühklassischen Statuen der Götter, teils als Kultbilder, teils als Weihgeschenke aufgestellt, waren als sichtbare Verkörperung der Mächte, die man noch weithin unbezweifelt f ü r die Geschicke des einzelnen und auch des Kollektivs verantwortlich machte, die verbindlichen Leitbilder f ü r alle Schichten der Polis. Die Götter standen trotz häufigem propagandistischen Ge- und Mißbrauchs in gewissem Maße über den sozialen und politischen Gruppierungen. Sie vertraten relativ fest fixierte Zuständigkeits- und Machtbereiche und waren vom Demos ebenso unbezweifelt wie gefürchtet. I n der Hochklassik verringerte sich die Distanz, die in der Strenge und übermenschlichen Hoheit der frühklassischen Sicht der Götter begründet lag. Die Götter des Parthenonfrieses sind menschlicher geworden, ihre Entferntheit von den Sterblichen hat sich vermindert. Auch die Großartigkeit des niobidentötenden Geschwisterpaares Artemis und Apollon auf dem um 450 entstandenen Kelchkrater in Paris (Abb. 7), das sehr wahrscheinlich auf ein Monumentalgemälde zurückgeht, wird durch seine Funktion als die grausamen Rächer nicht angetastet. Ein inneres Geschehen ist nicht ablesbar, die Götter wirken zwar in die Welt der Sterblichen, haben aber 1
Vgl. F. Brommer, Vasenlisten zur griechischen Heldensage, 2. Aufl. 1960,159—196. Vgl. allgemein N. Himmelmann-Wildschütz, Zur Eigenart des klassischen Götterbildes, München 1959. 3 Vgl. Lippold 142 Taf. 51, 1. 2
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nicht an ihr teil. Die Verinnerlichung von Themen, die sich in ihrer menschlichen Bedeutsamkeit einer rein dekorativen Darstellung und ästhetischen Bewertung entziehen, beginnt erst mit der Hochklassik. So sprengt die ins Schalenrund gepreßte Tragödie der Penthesilea 1 (Abb. 8) die Grenzen einer dekorativen Veräußerlichung und Verkleinerung auf einem Gefäßkörper. Auch dieses Schaleninnenbild ist gewiß keine originäre Erfindung eines Vasenmalers, aber dennoch leitet es in der Vermenschlichung und Verlebendigung des Mythos über zu den hochklassischen Gemälden, die auf Grabgefäßen aus der direkten Zweckgebundenheit eine neue Dimension der Innerlichkeit erobern. Die Vasenbilder vermitteln jedoch nicht nur als Kopien der großformatigen Malerei den Wandel in der Deutung und Auswahl der Mythen und die veränderte Auffassung von Menschen und Göttern, sondern sie werden in Szenen, die das tägliche Leben der Bürger schildern, zu Chroniken der Sitten und Gebräuche, aber auch der allgemein akzeptierten Übereinkünfte und „kleinen Leitbilder". Die Namens- und Lieblingsinschriften 2 (d. h., den Figuren eines Vasenbildes werden Namen beigeschrieben, bzw. ein Name wird mit kalos = schön, vorzüglich verbunden) sind f ü r uns außer einem Datierungskriterium f ü r die Vasen auch die naive Dokumentation eines Schönheitsideals. Die mit dem Preis der Schönheit belegten Epheben sind zum Teil als die Angehörigen vornehmer Geschlechter bekannt, die später als Träger öffentlicher Ämter erneut hervortreten, nun als erwachsene Männer nach Kriterien beurteilt, die ihre moralischen und staatsbürgerlichen Qualitäten einschlössen. Das Lob des schönen Jünglings hat sich bruchlos im Demokratisierungsprozeß erhalten, möglicherweise ein Anzeichen dafür, daß die Gepriesenen im 5. Jahrhundert nicht nur der Aristokratie angehörten. Der junge Leagros auf der Schale des Euphronios in München 3 , elegant zu Pferde sitzend (Abb. 9), repräsentierte auf dem spätarchaischen Vasenbild noch ganz den mit dem Pferd als Statussymbol ausgestatteten jungen Adligen, während die in athletischer Übung begriffenen Jünglinge aus dem ersten und zweiten Viertel des 5. Jahrhunderts gewissermaßen klassenindifferent als die „Blüte" der Polis aufgefaßt werden können. Wie die Siege in den panhellenischen Wettkämpfen vor allem dem R u h m der Heimatpolis der Athleten zugeschrieben wurden und sich der Preis des Individuums mit dem Preis seiner Heimat verband, so war der gefeierte Jüngling das Idol einer Gemeinschaft, die sich selbst begriff in diesem Lob. Die Vasenmaler kannten sich aus in den Übungsstätten der Jünglinge, sie 1
Vgl. Schefold 5 5 f . , Abb. S. 59; J. D. Beazley, Attic Red-figure Vase-painters, 2. Aufl. Oxford 1963 ( = A R V 2 ) , 879,1. 2 Vgl. P. Kretschmer, Die griechischen Vaseninschriften ihrer Sprache nach untersucht, Gütersloh 1894; W. Klein, Die griechischen Vasen mit Lieblingsinschriften, 2. Aufl. Leipzig 1898; E. J. Fluck — D. M. Robinson, A Study of the Greek Love-Names, Baltimore 1937. 3 Beazley, A R V 2 16,17.
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„porträtierten" die Knaben und ihre Lehrer, indem sie den Bildern die Namen der prominentesten Jünglinge und Trainer beischrieben. Gewiß sind derartige Darstellungen, wie auch solche, die öffentliche Feierlichkeiten zum Inhalt haben, etwa ein Ephebiefest, dessen Teilnehmer durch Namensbeischriften auf der Vase ähnlich wie in einer Chronik festgehalten sind, nicht spezielle Auftragswerke gewesen 1 . Sie sind einfach Zeugnisse von der Anteilnahme der Maler am Leben der Stadt und ihrer Bürger, f ü r deren Kollektivbewußtsein diese Seite des öffentlichen Lebens eine wichtige Rolle spielte. Die Bilder der Vasen sind als Illustrationen des täglichen Lebens nicht mit dem weltanschaulichen Bedeutungsgehalt erfüllt wie die programmatischen Werke in Skulptur und großformatiger Malerei. Sie geben daher über die wirklich vorhandenen Zustände, über die gelebten „Leitbilder" eine wirklichkeitsnähere Auskunft, die in der Konfrontation mit Zeugnissen der „höheren" Gattungen der Kunst das Verhältnis von Realität und Fiktion in den Leitbildvorstellungen einer Epoche deutlicher macht. Befragt man das archäologische Material, d. h. als wichtigste Quelle wieder die Vasenbilder, nach Spuren spezifisch standesgebundener Menschenbilder, die in den Rang einer Art bewußter Antikonzeption 2 gestellt werden können, so ergibt sich, daß weder die Darstellungen aus dem Töpfer- und Malerhandwerk noch der Arbeitsvorgänge der Erzgießer, Schuster oder Bildhauer grundsätzlich von den Formprinzipien abweichen, die zur Darstellung mythischer Szenen oder „anspruchsvoller" Lebenssituationen wie Abschied oder Heimkehr der Krieger dienen. Die Vasenmaler haben sich höchst selten der „nichtrepräsentativen" Seite des Lebens zugewandt. Der arbeitende Mensch ist nicht zu einem Thema geworden, das das gesellschaftliche Interesse der Oberschicht beanspruchen konnte, und die im Verhältnis überwiegenden Töpfereiszenen sind lediglich aus dem Selbstbewußtsein oder auch nur Selbstinteresse der Handwerker zu erklären. Daß das Thema Arbeit für die Oberschicht nicht bild würdig werden konnte, mag einmal in der zunehmend sich verschlechternden Bewertung von körperlicher Arbeit durch diese Kreise begründet sein, zum anderen darin, daß die Gefäße ja im wesentlichen den wohlhabenden Schichten zu festlichen und sepulkralen Zwecken dienten. Diese Konsumenten der ursprünglich teuren 3 Vasen hatten kaum mehr eine direkte Beziehung zur körperlichen Arbeit in Handel und Gewerbe, es sei denn als Unternehmer oder Besitzer von Handwerkssklaven und Handwerksbetrieben, aber zumindest keine, die es ihnen wünschenswert erscheinen ließ, Darstellungen aus der Sphäre des „niederen Broterwerbs" bei den Gelagen oder in ihren Privathäusern vor Augen zu haben. 1
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Vgl. P. Hartwig, Die griechischen Meisterschalen des streng rotfigurigen Stiles, Stuttgart-Berlin 1893, 65f.; 682, IV 592 (Ephebiefeier); 135 (Palaestraszenen mit Namensbeischriften). Vgl. Metzler 340f. Literaturzusammenstellung zu Preisen von Vasen und anderen Töpferwaren vgl. F. M. Heichelheim, An Ancient Economic History, 2, Leiden 1964, 170.
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Die vergleichsweise wenigen Vasenbilder und Reliefs mit Handels- bzw. Handwerksdarstellungen zeigen nun im wesentlichen zweierlei: einmal die lediglich sachinteressierte, man könnte sagen, „dokumentarische" Berichterstattung von Feld, Garten oder Werkstatt (Abb. 10) und zum anderen die Standesdarbietung mit hohem Anspruch, wie z. B. auf einer Hydria, die eine Vasenmalerwerkstatt zeigt, in der die Handwerker von Athena und ihren Begleiterinnen, den Siegesgöttinnen, bekränzt werden (Abb. 11). Daneben gibt es die einfache Charakterisierung einer handwerklichen Fähigkeit. In der treffsicheren Einschränkung auf das Wesentliche wird eine leicht identifizierbare Kurzformel bestimmter Handwerksverrichtungen gefunden. Ein Zimmermann (Abb. 12) ist durch seinen Arbeitsgegenstand, den Balken, das Arbeitsinstrument, eine Spitzhacke, die hockende Stellung und die Kleidung, den Schurz um die Hüften, eindeutig charakterisiert!. Das Handwerkerbild erscheint selten auf den attischen Vasen, und es spiegelt in keiner Weise die wesentlichen Entwicklungstendenzen des Handwerks in klassischer Zeit wider. Nur die traditionellen Handwerkszweige, d. h. die, die schon sehr früh auf Bestellung und für Stücklohn arbeiteten, wie Schmiede2, Schuster und auch Töpfer, werden ins Bild gebracht. Die zahlreichen Spezialisierungen in den Werkstätten und die vielfältigen Berufe, die es zumindest im 5. Jahrhundert gegeben hat 3 , tauchen in den Vasenbildern nicht auf. Handwerker und Händler waren häufig keine attischen Vollbürger, sondern zugezogene Fremde oder Freigelassene und besaßen keine vollen politischen Rechte 4 . Dennoch waren sie bemüht, sich der Lebensweise der Vollbürger anzupassen. Vielleicht haben die Vasenmaler und Töpfer gerade aus ihrem unterprivilegierten Status heraus Themen gestaltet, die das Verbindende des selbstverständlichen Alltags der Bürger betreffen. Einige der Vasenbilder liefern außer der lediglich technologischen Information auch Aussagen zum Selbstverständnis der Vasenproduzenten. Eine beliebte Praktik der Griechen war es, ihre Legitimation und ihr persönliches Selbstwertgefühl auf verschiedenen Gebieten durch den Beistand der Götter nachzuweisen, und für die Handwerker waren AthenaErgane und Hephaistos zuständig. Noch für Solon5 besteht kein Unterschied zwischen handwerklicher und musischer Tätigkeit. „Der eine, der die Werke 1
In ähnlicher Art ist der Hermoglyph auf einer Kopenhagener Schale des Epiktet (NCG 119) und ein junger Helmschmied auf einer attischen Pyxis gekennzeichnet. Vgl. Klein 88 Kg. 23. 2 Vgl. Heichelheim, History, 94; außerdem O. Lau, Schuster und Schusterhandwerk in der griechisch-römischen Literatur und Kunst, Diss. Bonn 1967. 3 Vgl. Heichelheim, History, 66f.; 99ff. zur Berufsspezialisierung in der Bekleidungsindustrie und Lederverarbeitung; 104 Tonindustrie und Holzgewerbe. 4 Nach Heichelheim, History, 127 habe der Anteil 70 bis 80 Prozent der freien Personen betragen, die sich mit Handel, Bankwesen und Handwerk befaßten. Vgl. auch A. H. M. Jones, Die wirtschaftliche Grundlage der athenischen Demokratie, in: Die Welt als Geschichte, H. 1, 1954, 19. 5 Solon 1, 49-52 Diehl.
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der Athena und des kunstreichen Hephaistos gelernt hat, sucht seinen Lebensunterhalt mit seiner Hände Arbeit, der andere (sucht ihn) von den olympischen Musen und ihren Gaben belehrt und daß Maß der lieblichen Dichtkunst verstehend". Auf Athena legte man immer großen Wert: ihre Gegenwart dokumentierte den Anspruch auf Teilhabe an allem, was die Göttin sonst noch umgriff, die Stadt und die höhere Würde einer Tätigkeit. Athena steht (neben Herakles) aber auch neben dem Töpfer an der Drehscheibe wie auf dem rotfigurigen Glockenkrater in Caltagirone oder dem Erzarbeiter, oder sie macht sich selbst an das Modellieren eines Standbildes (Abb. 13). Die Göttin vergibt den Kranz an die Maler in der Werkstatt, der sonst dem siegreich heimkehrenden Krieger, dem Künstler auf der Kithara und den olympischen Siegern zukommt. Ein Fragment (Abb. 14) zeigt die Bekränzung eines Malers, der eine Kylix auf der Drehscheibe mit dem letzten dünnen Tonschiicker versieht. Für das Selbstbewußtsein der Handwerker und über ihre gesellschaftliche Stellung sind möglicherweise aus kleinen Beifügungen der Bilder Hinweise zu erhalten. J. D. Beazley 1 hat aus dem Schalenfragment, das einen jungen Maler bei der Dekoration einer Schale zeigt (Abb. 15), abgelesen, daß dieser Vasenmaler wie alle freien Bürger das Gymnasium besucht; Ölfläschchen und Strigilis weisen darauf hin, und am Hocker lehnt der Knotenstock, das Abzeichen des auf der Agora diskutierenden Bürgers. Interessanterweise hängen Schwammbeutel und Strigilis auch in der Erzgießereiwerkstatt 2 einer Berliner Schale (Abb. 16), und zwar neben den beiden Mantelfiguren, die höchstwahrscheinlich Aufseher oder Besucher vorstellen, und auch ein Knabe mit der ländlichen Fellmütze, der an einem Tragjoch zwei Körbe transportiert, ist durch das Athletengerät — Schwammbeutel und Strigilis — sozial als freier Bürger bestimmt (Abb. 17). Das „Banausische", die Deformation durch körperliche Arbeit, wie sie von Xenophon 3 , Aristoteles4 und andren Vertretern der Oberschicht als eines Freien unwürdig und verderblich geschildert wird, ist im Sinne einer sozialen Deklassierung keinesfalls Gemeingut des 6. und auch nicht des 5. Jahrhunderts. Die Würde der Handwerksbilder, wie sie die Darstellung zweier Schuhmacher bei der Arbeit (Abb. 18, 19) oder der Blick in eine Schmiede zeigen, spricht zusammen mit dem Symposiastenselbstporträt des Vasenmalers Smikros (Abb. 20) und dessen Darstellung von der Hand seines Kollegen Euphronios 5 1 Potter and Painter in Ancient Athens, London 1946, 11; L. D. Caskey—J. D. Beazley, Attic Vase-Paintings in the Museum of Fine Arts, 3, Boston 1963, Nr. 146; Hanna Philipp, Tektonon Daidala. Der bildende Künstler und sein Werk im vorplatonischen Schrifttum, Diss. Berlin 1968, 96. 2 Zur Charakterisierung der Handwerker als Banausen vgl. N. Himmelmann, Archäologisches zum Problem der griechischen Sklaverei, Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abh. der geistes- und sozialwiss. Klasse 1971, Nr. 13. 3 Vgl. Xenophon, Erinnerungen an Sokrates IV 2, 22; Haushaltungskunst 4, 2—3. < Aristoteles, Politik 1277 b 33ff.; 1329 a 19; Eudemische Ethik 1215 a 26. 5 Vgl. Emily Vermeule, Fragments of a Symposion by Euphronios, Antike Kunst 8, 1965, 34ff., Taf. 11; 12, 1; 13, 1.
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sowie den aufwendigen Akropolisweihungen 1 der Handwerker eine deutliche Sprache 2 . Zumindest zur Zeit der großen Gesellschaftsdifferenzierung in der Mitte des 5. J a h r h u n d e r t s ist keine im Bild ablesbare Depra vierung des H a n d werkerstandes vorhanden. Auch der kahlköpfige Schuhmacher eines Londoner Schaleninnenbildes (Abb. 21) ist eher eine individuelle Studie als ein Zeugnis niederen Standes, wie auch der Messerschmied auf einer Leningrader Oinochoe (Abb. 22), der von einem K u n d e n ein Athletengerät vorgewiesen erhält, zwar als Handwerker charakterisiert, nicht aber verächtlich gemacht ist, sondern als gleichwertiger P a r t n e r dieses Bürgers erscheint. E s würde den R a h m e n des gestellten Themas sprengen, das Problem des Sklavenbildes 3 in der griechischen K u n s t einzubeziehen. Nur soviel sei gesagt: Sklaven sind in wenigen Fällen als solche gekennzeichnet (durch Bedeutungsgröße, häßliche Gesichtszüge, abnorme Körperbildung, durch Charakterisierung als „Barbaren"). I h n e n steht aber eine ungleich größere Zahl der von den Freien in keiner Weise differenzierten Sklavendarstellungen gegenüber. Auch das physiognomische Sklavenbild ist wohl eher aus dem wachen Interesse der Athener am fremdländischen Exterieur erklärbar als aus dem Bedürfnis, im Abweichen vom Typus einen sozialen Status zu kennzeichnen. Leider fehlen die Bilder zu den Zeugnissen des Aristophanes, nach denen der kleine Handwerker, ob er sich n u n um Lohn verdingt oder selbständig mit einem oder zwei Sklaven arbeitet, zur Armut verurteilt ist, ja Armut und H a n d werk zum Synonym geworden sind. Die Dürftigkeit, die o f t in den kleinen Handwerksbetrieben geherrscht hat und die Aristophanes im „Plutos" ( 5 3 2 534) apostrophiert: „Ich setze zur Seite mich dem H a n d w e r k s m a n n als gebietende F r a u und dräng ihn, sich emsig zu rühren, damit er der Not und dem D a r b e n entgeh und das Leben sich friste durch Arbeit", diese nevia, auf die die in den ngaieiQ nokniKai ausgebildeten Reichen, die nXovaioi, herabsahen, ist zwar Bestandteil der attischen Wirklichkeit, auch f ü r uns in den gesellschaftsphilosophischen Schriften des 4. J a h r h u n d e r t s vor allem nachweisbar, t r i t t aber im Handwerkerbild 4 des 6. und 5. J a h r h u n d e r t s nicht in Erscheinung. Die Vasenbilder im schwarzfigurigem Stil zeigen die Schmiede, Schuster, aber auch Fischverkäufer und Fleischer in einer, fast möchte m a n sagen, Feierlichkeit, die 1
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Vgl. Raubitschek, Dedications, 458; 464f.; mutmaßliche Weihungen von Künstlern und Handwerkern: vgl. die Nummern 31; 44; 70; 150; 178; 196; 197; 225. Außerdem Beazley, Potter, 21-25. Insofern kann auch der abwertenden Beurteilung W. H. Schuchardts, in: H. Schräder, Die archaischen Marmorbildwerke der Akropolis, Frankfurt 1939, eines Relieffragmentes (Nr. 431 Abb. 357) mit der Darstellung eines sitzenden Handwerkers nicht zugestimmt werden. Zur Sklavenproblematik allgemein Himmelmann, Sklaverei, bes. 7f.; 16ff.; 21; vgl. auch J. Vogt, Sklaverei und Humanität, in: Historia Einzelschriften 8, 1965. Zusammenstellung der Werkstattbilder vgl. G. M. A. Richter, The Craft of Athenian Pottery, New Häven 1923, 64-86; Beazley, Potter; Philipp, Tektonon, Exkurs II 109-112.
Leitbildvorstellungen in der bildenden Kunst der Frühklassik
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k a u m nur auf die frühe Stilstufe zurückführbar ist. D a s hohe T h e m a des M y t h o s wird nicht anders gestaltet, die Würde der Arbeit scheint in keiner Weise in Trage gestellt. I m R o t f i g u r i g e n ist der Handwerker zwar nicht mehr mit der archaischen Feierlichkeit ausgestattet, jedoch ist auch hier der Handwerker i m B i l d durch Attribute — wie die Utensilien des Bürgers u n d A t h l e t e n u n d die N ä h e der Schutzgöttin sowie das Fehlen depravierender Gestaltungsmittel — als das selbstverständliche Mitglied der Gesellschaft b e s t i m m t . D i e Darstellungen geben keinen H i n w e i s auf den wirklichen S t a t u s dieser Leute, die sehr häufig Freigelassene u n d F r e m d e waren oder auch Sklaven, die sich mittels Apophorasystem selbständig gemacht hatten 1 . Die Bildzeugnisse erscheinen weitgehend klassenindifferent, vielleicht ein H i n w e i s darauf, daß die in der offiziellen Ideologie der Polisdemokratie hervortretende Tendenz, die tiefgehenden sozialen Widersprüche durch das Ideal der Polisgemeinschaft zu überdecken 2 , auch in der bildenden K u n s t ihre Entsprechung findet, hier v o m Kreis der freien Bürger in b e s t i m m t e r Hinsicht sogar ausgedehnt auf Metöken u n d Sklaven. 1
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Anders Himmelmann, Sklaverei, 11, wo er feststellt, daß die Arbeitsbilder uneingeschränkt den Banausen kennzeichneten; ders., Rez. Philipp, Tektonon, Gnomon 42, 1970, 294 f. Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides I I 37.
Abbildungsverzeichnis
(Taf.
13—26)
1. Frühklassische Jünglingsstatue, sog. Kritiosknabe. Athen, Akropolismuseum. Hirmer Fotoarchiv München. 2. Denkmal der Tyrannenmörder. Römische Kopie. Neapel, Nationalmuseum. Hirmer Fotoarchiv München. 3. Porträtbüste des Themistokles. Römische Kopie. Ostia. Nach L. Curtius, Zum Porträt des Themistokles aus Ostia, Römische Mitteilungen 57, 1942, Taf. 5. 4. Sog. Theseus. Römische Kopie. Rom, Konservatorenpalast. Nach G. Hafner, Geschichte der griechischen Kunst, Zürich 1961, 139 Abb. 127. 5. Sog. Kasseler Apollon des Phidias. Römische Kopie. Kassel, Landgrafenmuseum. Nach R. Lullies — M. Hirmer, Griechische Plastik von den Anfängen bis zum Ausgang des Hellenismus, 2. Aufl. München 1960. 6. Zerstörung von Ilion auf einer attischen Schale des Brygos-Malers. Paris, Louvre. Nach E. Pfuhl, Meisterwerke griechischer Zeichnung und Malerei, München 1924, Taf. 36. 7. Apollon und Artemis töten die Niobiden. Attischer Kelchkrater des Niobiden-Malers. Paris, Louvre. Hirmer Fotoarchiv München. 8. Achilleus tötet Penthesilea. Attisches Schaleninnenbild des Penthesilea-Malers. München, Museum Antiker Kleinkunst. Hirmer Fotoarchiv München. 9. Der schöne Leagros zu Pferde. Attisches Schaleninnenbild des Euphronios. München, Museum Antiker Kleinkunst. Nach R. Lullies, Griechische Vasenbilder der reifarchaischen Zeit, München 1953, Abb. 12. 10. Bei der Landarbeit. Attische Schale des Nikosthenes. Westberlin, Ehem. Staatliche Museen.
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11. Athena und Niken besuchen eine Vasenmaler-Werkstatt, auf einer attischen Hydria des Leningrader Malers. Mailand, Privatbesitz. Nach H . Sichtermann, Die griechische Vase, (West-)Berlin 1963, Abb. 20. 12. Zimmermann. Innenbild einer Schale. London, British Museum. 13. Die Göttin Athena modelliert ein Pferd. Attische Oinochoë. Westberlin, Ehem. Staatliche Museen. 14. Handwerker bei der Arbeit. Fragment. Athen, Akropolis-Museum. Nach J . D. Beazley, Potter and Painter in Ancient Athens, London 1946, Taf. 1 1 3 . 15. Vasenmaler beim Bemalen einer Schale. Attisches Schalenfragment. Boston, Museum of Fine Arts. Nach H . B. Walters, History of Ancient Pottery, 1, London 1905, Fig. 67. 16. Erzgießerei. Attische Schale. Westberlin, Ehem. Staatliche Museen. Nach A. F u r t wängler — K . Reichold, Griechische Vasenmalerei, München 1904 ff., Taf. 135. 17. Jüngling mit 2 Körben am Tragjoch. Attische Schale. Kopenhagen, Nationalmuseum. Nach W. Zschietzschmann, Hellas and Rom, Berlin 1936, 142. 18. Schuster beim Zuschneiden des Leders. Attische Amphora. Boston, Museum of Fine Arts. Nach O. Lau, Schuster und Schusterhandwerk in der griechisch-römischen Literatur und Kunst, Diss. Bonn 1957, 83 Abb. 12. 19. Schuster bei der Arbeit. Attische Pelike. Oxford, Ashmolean Museum. 20. Symposium mit dem Vasenmaler Smikros. Attischer Stamnos. Brüssel, Musées R o y a u x d'Art et d'Histoire. Nach H . Lamer, Griechische K u l t u r im Bilde, 2. Aufl. Leipzig 1914. 21. Schuhmacher. Attische Schale. London, British Museum. 22. Messerschmied mit Kunden. Attische Oinochoë. Leningrad, Ermitage. Nach A. A. Peredolskaja, KpacHOHrypHHe aTTHiecKHe Ba3H B SpMHTawe, Leningrad 1967, N r . 174 Taf. 117.
Das Menschenbild bei Aischylos und Sophokles V o n E R N S T GÜNTHER SCHMIDT
1. Gesellschaftliche Grundlagen des Aischyleischen und Sopholcleischen Menschenhildes Die Bedeutung der Aischyleischen und Sophokleischen Tragödie f ü r die K u l t u r des 5. Jahrhunderts ist der Stellung dieses Jahrhunderts in der Gesamtentwicklung der antiken Gesellschaft und Kultur vergleichbar. So wie das 5. J a h r hundert durch den Vorbildcharakter seiner größten kulturellen Leistungen nachhaltigsten Einfluß auf die nachfolgenden Phasen der antiken Kultur ausübte, setzten Aischylos und Sophokles f ü r die Selbstdarstellung des Menschen in diesem f ü r Griechenland wichtigen J a h r h u n d e r t Normen von weitreichender Geltungskraft. An Aischylos' und Sophokles' Menschenbild erweist sich die höchst aktive Rolle großer Dichter bei der Bewußtseinsformung. Dichtung bewährt hier ihre Fähigkeit unmittelbarer Erfassung der Wirklichkeit, durch die sie sich von der Philosophie abhebt, nuanciertester Widerspiegelung individuellen Erlebens, die sie der Geschichtsschreibung v o r a u s h a t u n d jener Eindeutigkeit in der Ergründung von Handlungsmotiven, seelischen Prozessen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, durch die sie selbst die Gestaltungsmöglichkeiten der bildenden Kunst übertrifft. Dabei wäre es falsch, die Bedeutung der beiden attischen Dichter primär auf die spezifischen, ihren Schöpfungen sozusagen automatisch innewohnenden Vorzüge des von ihnen gepflegten Kunsttyps zurückzuführen. Auch der Hinweis auf ihr individuelles poetisches Talent, so wichtig dessen Rolle ist, reicht zur Erklärung nicht hin. Vielmehr waren die Besonderheiten der geschichtlichen Situation und der Vorzug des historischen Standorts, den diese Dichter zu beziehen wußten, mithin die gesellschaftlichen Bedingungen ihres Schaffens, die ausschlaggebenden Momente f ü r die eminente Bedeutung und Wirkung ihres Werkes. Der historische Ursprung der Aischyleischen und Sophokleischen Tragödie läßt sich unter einem allgemeineren und einem spezielleren Gesichtspunkt begreifen. Diese Gesichtspunkte gilt es zunächst zu umreißen, denn aus ihnen ist die dem Aischyleischen und Sophokleischen Menschenbild innewohnende i Diese Bemerkung will selbstverständlich nicht Aristoteles korrigieren, der in seiner „Poetik", Kap. 9, die Dichtung im Vergleich zur Geschichtsschreibung als „philosophischer" rühmt.
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Spannung zwischen gegensätzlichen menschlichen Wesenszügen letztlich herzuleiten. Der allgemeinere Gesichtspunkt betrifft den grundlegenden, sich über J a h r hunderte erstreckenden ökonomisch-sozialen Prozeß des Aufkommens des Privateigentums, des dadurch bedingten Übergangs zur voll ausgeprägten Klassengesellschaft, des sich durchsetzenden Warencharakters der erzeugten Produkte und der in Zusammenhang damit sich herausbildenden entwickelten Ware-Geld-Beziehungen. Die durch diese Faktoren bedingte Akzeleration der historischen Entwicklung wurde für den einzelnen und für die Gesellschaft als Ganzes in einer Weise erlebbar, die auf der einen Seite zumindest in einigen Bevölkerungsschichten eine spürbare Stärkung des individuellen wie des kollektiven Selbstvertrauens bewirkte. Andererseits mußten die mit dem Wandel der Gesellschaftsordnung verbundenen Katastrophen zutiefst als tragisch empfunden werden 1 , tragisch im Sinne der antiken Tragödie, nämlich als unabhängig von subjektiver Schuld und Verfehlung, von Charakter und Art der Betroffenen. Die Unheimlichkeit der Klassenspaltung, das unterbewußt empfundene, aus ihr ständig neu hervorgehende Unrecht des Menschen am Menschen schufen den Nährboden f ü r die Auffassung von tragischen Zusammenstößen zwischen dem Menschen und einer ihm scheinbar zuwiderwirkenden, der Subjektivität entrückten Macht, dem „Schicksal". J e mehr, am Anfang besonders, die fördernde Wirkung der neuen Verhältnisse sichtbar wurde, desto eher konnte man noch hoffen, durch untragische Entwicklung der Gesellschaft die Tragik des einzelnen Menschen aufzuheben, wenn er nur zur Einordnung bereit war. J e mehr sich die Widersprüche der neuen Gesellschaftsordnung jedoch verschärften, desto schwerer wurde die optimistische „Versöhnung" mit dem Tragischen. Gerade im Athen des 5. Jahrhunderts, in dem die skizzierte Entwicklung kulminierte, machten sich die genannten Faktoren mit besonderer Schärfe bemerkbar. „Es kam . . . das Geld, die allgemeine Ware, gegen die alle anderen austauschbar waren; aber indem die Menschen das Geld erfanden, dachten sie nicht daran, daß sie damit wieder eine neue gesellschaftliche Macht schufen . . ., vor der die ganze Gesellschaft sich beugen mußte. Und diese neue, ohne Wissen und Willen ihrer eigenen Erzeuger plötzlich emporgesprungene Macht war es, die, in der ganzen Brutalität ihrer Jugendlichkeit, ihre Herrschaft den Athenern zu fühlen gab" 2 . Es ergab sich die Frage, ob die griechische Dichtung über die älteren, z. T. ebenfalls bereits der genannten Entwicklung verpflichteten literarischen Formen (Epos, Lyrik) hinaus zu einer Gestaltungsweise finden würde, die den ganzen Konfliktreichtum der neuen Zeit zum Ausdruck zu bringen erlaubte. Das griechische Drama, besonders die Tragödie, ist auf diese Frage die positive Antwort. Und die beiden in der Analyse zunächst getrennten Gesichtspunkte verleihen dem Menschenbild dieser 1
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Der folgende Gedanke nach A.-G. Kuckhoff, Das Drama der Antike, in: Schriften zur Theaterwissenschaft, 2, Berlin 1960, 31 f. F. Engels, Vom Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, K. Marx— F. Engels, Werke, 21, Berlin 1962, 475f.
Das Menschenbild bei Aischylos und Sophokles
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Tragödie den Doppelaspekt, daß der Mensch zugleich als selbstbewußter Herr des Geschehens und in unlösbare, von ihm nicht beherrschte Konflikte verstrickt erscheint. Den sozialökonomischen Voraussetzungen als den allgemeinsten Faktoren, die den Gang der literarischen Entwicklung des 5. Jahrhunderts bestimmten, stehen speziellere Gesichtspunkte gegenüber, unter denen die Rolle des Sophokles und besonders des Aischylos innerhalb dieses Prozesses noch unmittelbarer faßbar wird. Gemeint ist die offenkundige Anteilnahme beider Dichter an denjenigen Überbauerscheinungen, die mit dem Aufstieg, der Festigung und der beginnenden Krisenhaftigkeit und Gefährdung der demokratischen Staatsordnung in Athen zusammenhingen. Die Tragödien des Aischylos (525/24—456) und die älteren Stücke des Sophokles (497/96—406/05) sind — neben dem Geschichtswerk Herodots (ca. 484—425) — das wichtigste literarische Zeugnis aus der Blütezeit der „demokratisch" geleiteten griechischen Polis. Die Aischyleischen Tragödien stehen in engem Zusammenhang mit dem durch Phasen der Retardierung unterbrochenen Demokratisierungsprozeß der Polisordnung in Athen (508—457). Mehrere erhaltene Stücke des Sophokles, darunter die „Antigone", entstammen der anschließenden Kulminationsphase dieser Ordnung (Perikleische Zeit). Die späteren Sophokleischen Stücke wie der „Philoktet" entstanden bereits während der rasch fortschreitenden Poliskrise (seit ca. 431), deren spezifische Probleme umfassender in den Tragödien des Euripides, in den Komödien des Aristophanes und im Geschichtswerk des Thukydides literarischen Ausdruck fanden 1 . Der Begriff „Poliskrise" 2 meint eine Zuspitzung der Entwicklung, die durch annähernd gleichzeitige Verschärfung der allgemeinen und der speziellen gesellschaftlichen Probleme und Widersprüche gekennzeichnet war. Die allgemeineren sozialökonomischen Faktoren der E n t wicklung wurden stärker geschehensbestimmend, und die Polisordnung unterlag zunehmender äußerer und innerer Gefährdung: I n der Auseinandersetzung zwischen demokratischen und oligarchischen K r ä f t e n besonders in Athen, im Scheitern der expansiven athenischen Außenpolitik, im oligarchischen Putsch des Jahres 411 und im oligarchischen Regiment der „dreißig Tyrannen" (404—401) enthüllte sich die Krise der Polis vor allem als eine Krise ihrer höchstentwickelten Form, der Polis-Demokratie. Schon die erste, grobe Zuordnung zu den epochebestimmenden Zeitereignissen erweist das gesamte Aischyleische Werk und einen Großteil der Sophokleischen Stücke — einschließlich des „König Ödipus", der wohl Anfang der zwanziger Jahre in der Umbruchphase von Polisblüte zu Poliskrise entstand 1
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Die Aufzählung läßt von den großen griechischen Dichtern des 5. Jahrhunderts Pindar unberücksichtigt, dessen Beziehungen zur Poliskultur dieser Zeit und speziell zu Athen im Gesamtbild seines Schaffens weniger hervortreten. Eine moderne Wortprägung, vgl. die Einleitung zu diesem Band und die einschlägigen Ausführungen in dem Sammelwerk „Hellenische Poleis. Krise—Wandlung—Wirkung", hrsg. v. E. Ch. Welskopf, 4 Bde., Berlin 1974.
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und in der Tiefe seiner Problematik gerade aus dieser Entstehungsbedingung verständlich wird — als Dokumente enger Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichem und künstlerischem Prozeß. Das in dieser Feststellung sich abzeichnende Bild des Aischylos und Sophokles erklärt übrigens auch, warum beide Dichter im folgenden zusammen besprochen werden. Sie gehören eng benachbarten, sich überschneidenden Phasen der gleichen geschichtlichen Epoche an. Mehr noch: Auch ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität ist in vieler Hinsicht gleichartig. Ihr Werk ist Ausdruck ähnlicher Auffassungen über die Möglichkeiten und Aufgaben der Tragödiendichtung, es zeigt verwandte Akzentsetzungen und, wie sich zeigen wird, gleichartige Aussparungen bei der Wiedergabe der Wirklichkeit. Um das verständlich zu machen, verfolgen wir das Leben und Wirken beider Dichter über ein Jahrhundert attischer Geschichte, beginnend mit der für die gesamte folgende Entwicklung grundlegenden Reform des Kleisthenes im Jahre 508/07. Aischylos verdankte dieser Reform, mit der die alte Vormacht der Geschlechterverbände zerbrach, vermutlich wichtige gedankliche Impulse. Als aktiver Mitstreiter gegen die Perserinvasion (490—479) gewann er zweifellos nachhaltige Eindrücke von der inneren und äußeren Stärke der jungen demokratischen Ordnung, die sich in der Notzeit bewährte. Sein ältestes erhaltenes Stück, die „Perser" von 472, zeigt ihn erstmals als Fürsprecher demokratischer Politik 1 und in Zusammenarbeit mit dem jungen Perikles2, in dem der athenischen Demokratie die Führerpersönlichkeit heranwuchs. Die betont prodemokratische Einstellung war für Aischylos, den Sohn eines begüterten Grundbesitzers, keine Selbstverständlichkeit ; zu vielen seiner Standesgenossen, die der oligarchischen Gegenströmung gegen die demokratische Ordnung anhingen, setzte er sich in Gegensatz. Doch je schwerer für ihn die Entscheidung für die Demokratie gewesen sein mag, um so nachdrücklicher wirkte sie, einmal getroffen, in ihm fort. In den „Sieben gegen Theben", der dritten Tragödie der Theben-Tetralogie von 467, und in den „Schutzflehenden", dem ersten Stück der wahrscheinlich 464/ 63 3 aufgeführten Danaiden-Tetralogie, ist der Schutz der Polis ein zentrales 1 Es ist mit einer dreifachen politischen Tendenz des Stückes zurechnen: 1. Verherrlichung der im Jahre 480 durch die demokratische Führungsgruppe Athens durchgesetzten, erfolgreichen Seekriegsführung; 2. indirekte Rechtfertigung des um 472 stark angegriffenen und schließlich aus Athen verbannten demokratischen Führers Themistokles, des Siegers von Salamis; 3. indirektes Votum gegen die nunmehr von der aristokratischen Partei propagierte Politik der aggressiven Fortsetzung des Perserkrieges (wie sich nach der Deutung des Stückes die Perser mit Übergriffen auf Europa der Hybris schuldig machten, so ist umgekehrt auch keine athenische Aggression gegen Persien gerechtfertigt). 2 Wahrscheinlich finanzierte Perikles die Aufführung als Chorege. 3 Diese Datierung ist auf Grund einer Papyrusveröffentlichung aus dem Jahre 1952 jetzt fast allgemein akzeptiert. Früher überwog die Annahme, das Stück sei das älteste erhaltene des Aischylos. Vgl. zum Problem z. B. A. F. Garvie, Aeschylus' Supplices. Play and Trilogy, Cambridge 1969, und die an der alten Datierung festhaltende Rezension von V. N. Jarcho, Deutsche Literaturzeitung 92, 1971, 655-659.
Das Menschenbild bei Aischylos und Sophokles
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T h e m a ; in begleitenden Motiven wie der Wertschätzung der Stadt Argos 1 u n d der idealisiert dargestellten Praxis der Volksversammlung in den „Schutzflehenden" wird der Bezug auf demokratische Politik und Institutionen unmißverständlich sichergestellt. Weitere entscheidende Schritte der Demokratisierung legte Athen E n d e der sechziger und Anfang der fünfziger J a h r e zurück. Ephialtes beseitigte 461 den politischen Einfluß des Areopags, des Adelsrates, dem lediglich die Blutgerichtsbarkeit belassen wurde. 457 erlangten die Zeugiten („Gespannbesitzer"), die Angehörigen der zweituntersten der vier attischen Vermögensklassen, das passive Wahlrecht f ü r das athenische Staatsamt der jährlich wechselnden 10 Archonten. Aischylos' „Orestie" von 458, seine größte u n d besterhaltene Schöpfung — alle drei Tragödien der Tetralogie liegen vor, nur das abschließende Satyrspiel ging verloren —, nimmt gerade zu den genannten beiden politischen Maßnahmen, der vollzogenen und der geplanten, Stellung. I m Schlußstück, den „Eumeniden", schildert Aischylos die einst von der Göttin Athene persönlich vollzogene Einsetzung des Areopags, also eben jenes Rates, dessen Funktionsbereich in der Gegenwart zum Gegenstand klassenbezogener politischer Auseinandersetzung geworden war. Aischylos läßt den Areopag im Prozeß gegen Orestes, der durch Tötung seiner Mutter Klytaimestra seinen Vater Agamemnon gerächt hatte, Recht sprechen, nimmt f ü r den Ur-Areopag also gerade diejenige Funktion in Anspruch, die ihm 461 verblieb, u n d sichert die demokratische Reform des Ephialtes damit gegen Kritik von aristokratischoligarchischer Seite ab. Andererseits spricht sich der Dichter in einer W a r n u n g vor Bürgerkrieg (Verse 863ff.) nicht nur gegen einen Putsch von rechts, sondern offenbar ebenso gegen Gewaltanwendung bei der Durchsetzung neuer, noch weiterreichender demokratischer Forderungen aus. Als 457 dennoch eine solche Forderung verwirklicht wird, eben die Verbesserung des politisch-gesellschaftlichen Status der Zeugiten, verläßt Aischylos A t h e n 2 u n d geht nach Sizilien, wo er 456 stirbt. Freilich wollte er der Heimatstadt offenbar nicht auf die Dauer den Rücken kehren. Die Prometheus-Dramen, von denen der „Gefesselte Prometheus" erhalten ist, wohl Aischylos' letztes W e r k 3 , entstanden vielleicht 1
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Angesichts der verstärkten Rivalität zwischen Athen und Sparta trat Argos auf athenische Seite. Der zeitliche Zusammenhang zwischen den Demokratisierungstendenzen der Zeit um 457 und Aischylos' Sizilienreise ist gut bezeugt; daß ein Kausalzusammenhang bestehen könnte, ist Hypothese. Es war die zweite Sizilienreise des Dichters. Auch der erste Sizilienaufenthalt, nach 472, mag politische Gründe gehabt haben, allerdings anderer Art (Reaktion auf Verbannung des Themistokles?). P. Mazon in seiner Ausgabe, Paris 1931, Introduction S. IV (deutsch in: Wege zu Aischylos, 1, hrsg. v. H. Hommel, Darmstadt 1974 = Wege der Forschung 87, 12); A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 1956 (3. Aufl. 1972), 51 f. (im folgenden nach der 1. Aufl. zitiert), und andere ziehen nur in Betracht, daß der k ü n s t l e r i s c h e Erfolg der „Perser" ihrem Dichter die Einladung an den Hof Hierons I. von Syrakus eingebracht habe. Diese Datierung und zugleich die Annahme der Echtheit des Stückes setzen sich in der Forschung immer mehr durch, vgl. von jüngeren Stellungnahmen z. B. R. Untersteiner, Der Mensch
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in Sizilien, waren jedoch eher für eine Aufführung in Athen bestimmt 1 und setzten insofern die Absicht der Rückkehr voraus. Mit der Prometheus-Gestalt gab Aischylos nochmals eine Mythendeutung aus echt demokratischem Geiste. Derjenigen Schicht, in die Aischylos kraft persönlicher Entscheidung hineinwuchs, gehörte Sophokles von Geburt an. Als Sohn des wohlhabenden Besitzers einer Waffen-Manufaktur, die ursprünglich vielleicht mit freien Lohnarbeitern, später im Zuge der sich durchsetzenden spezifisch antiken Produktionsverhältnisse mit Sklaven arbeitete 2 , entstammte er einer jener Familien, die mit der Demokratie groß geworden waren und maßgeblich an der Konsolidierung der demokratischen Ordnung mitwirkten 3 . Über Sophokles' eigene finanzielle Verhältnisse schweigt die Überlieferung, doch läßt die Art der Staatsämter, zu denen er gewählt wurde, darauf schließen, daß man ihn den ,Reichen' (nPiovoioi) zurechnete: Ende der vierziger Jahre war er möglicherweise Hellenotamias, d. h. Verwalter der Bundeskasse des Attisch-Delischen Seebundes, des Machtinstruments Athens gegenüber seinen Bundesgenossen, zur selben Zeit zusammen mit Perikles Stratege, d. h. Inhaber einer der höchsten militärischen, politischen Einfluß einschließenden Kommandostellen (das gleiche Amt bekleidete er vielleicht später noch ein zweites Mal). Im Jahre 411 gehörte er wahrscheinlich zu den Probuloi („Beratern"), die nach dem Fehlschlagen der militärischen Invasion Siziliens die Sicherheit im Staate gewährleisten sollten. Daneben widmete er sich religiösen Aufgaben. Als Priester des Heilheros Halon richtete er in seinem Hause eine provisorische Kultstätte des Asklepios ein, als dessen Kult um 420 in Athen eingeführt wurde. In seinen Stücken nimmt Sophokles nicht in so direktem Zugriff wie Aischylos auf bestimmte Zeitereignisse Bezug. Bei der Kargheit der Überlieferung läßt sich seine Haltung zu den gesellschaftlich-politischen Vorgängen deshalb nicht leicht bestimmen. Zwar ist ein Zusammenhang zwischen dem Erfolg (u. a. mit der „Antigone" 4 ) beim Tragödienagon 442 oder 441 und dem Erfolg bei
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Der gefesselte Prometheus des Aischylos. Eine Interpretation, Stuttgart 1968, und C. J. Herington, The Author of the Prometheus Bound, Austin-London 1970. Die Bedenken betreffs Aischylos' Autorschaft, die vor allem in sprachlich-stilistischen Beobachtungen gründen, wiegen jedoch schwerer, als man aus der Lektüre des Stückes nur in moderner Übersetzung entnehmen kann; Zusammenstellungen der Argumente bei Wilhelm Schmid, Untersuchungen zum Gefesselten Prometheus, Stuttgart 1929 (Tübinger Beiträge 9), und I. Zawadzka, Die Echtheit des „Gefesselten Prometheus", Das Altertum 12, 1966, 210-233. Eine Übersicht über die divergierenden Meinungen zu dieser Frage bei E. G. Schmidt, Das Humane bei Aischylos, in: Die gesellschaftliche Bedeutung des antiken Dramas für seine und für unsere Zeit, hrsg. v. W. Hofmann und H. Kuch, Berlin 1973 (Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 6), 58 Anm. 37. Nach F. Schachermeyr, Geistesgeschichte der Perikleischen Zeit, Stuttgart 1971, 55 (hypothetisch). Genauere Nachrichten über Sophokles' Familie fehlen. Die anderen Stücke der Tetralogie sind nicht bekannt.
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der Strategenwahl 441 bezeugt 1 , doch verdankte Sophokles den Erfolg zweifellos nicht einer speziellen politischen Meinungsäußerung 2 . Vielmehr hatte er, der mit 18 Siegen erfolgreichste Tragödiendichter seiner Zeit, in allgemeinerem Sinne einen Ton getroffen, auf den Zuschauer und Preisrichterkollegium ansprachen; im einzelnen läßt sich der Vorgang nicht rekonstruieren. I m Mittelpunkt der Erörterungen über Sophokles' gesellschaftlich-politischen Standpunkt steht die Frage seines Verhältnisses zu den beiden Politikern, die sich, der eine an der Spitze des aristokratischen, der andere des demokratischen Flügels der politischen Führungsschicht der Stadt, zu den überragenden Persönlichkeiten der athenischen Politik in den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts profilierten: Kimon und Perikles. Vielfach rechnet man mit einer Frühphase des Sophokles, in der er Kimons Anhänger war und dessen Förderung erfuhr 3 . Skeptische Beurteiler dieser Hypothese fehlen nicht 4 , auf sicheren Boden führt Sophokles' frühestes erhaltenes Stück, der „ A i a s " (um 450?). Zu seinen handlungsbestimmenden Elementen zählt der ausgeprägte Ehrbegriff, wie er zweifellos vor allem in Kreisen des griechischen Adels Tradition war. Doch wird menschliches Verhalten — wie später auszuführen sein wird — schon hier nach einem für alle Freien gleichen, nach demokratischem Maß also gemessen. Da das zweite erhaltene Stück, die „Antigone", der Phase engen politischen Zusammenwirkens mit Perikles entstammt, erwartet man vor allem aus ihm Aufschluß über Sophokles' Verhältnis zu dem bedeutenden demokratischen Politiker und zu jenen Tendenzen des ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, die Athen damals die Kulminationsphase seiner Entwicklung erreichen ließen. Anhaltspunkte sind vor allem die Gestaltung Kreons, des Gegenspielers der Antigone, und die Aussagen über Größe und Entwicklungsfähigkeit des Menschen im 1. Stasimon, dem berühmtesten Chorlied nicht nur der „Antigone", sondern der griechischen Tragödiendichtung überhaupt. Einerseits war die Suche nach Unterschieden in der geistig-ideologischen Haltung des Perikles und Sophokles berechtigt; Perikles erwies sich dabei in greifbarerer Weise als Sophokles den aufkommenden, der frühen Sophistik verwandten 1 In einer antiken Inhaltsangabe (Hypothesis) des Stückes. 2 Im Gegenteil konnte in der Forschung die Meinung aufkommen, die Rreon-Gestalt der „Antigone" spiele in ihren negativen Zügen warnend auf Perikles an: V. Ehrenberg, Sophokles und Perikles, München 1956, 118. 3 Vgl. jetzt vor allem die scharfsinnige Argumentation von W. M. Calder I I I , Sophocles, Oinomaos and the East Pediment at Olympia, Philologus 118, 1974, 203—214. Dasselbe auch für Aischylos in Erwägung gezogen, so von G. Thomson, Aischylos und Athen, Berlin 1957 ( = Aeschylus and Athens, London 1941; 2. Aufl. 1946), 326; H. J. Dirksen, Die aischyleische Gestalt des Orest und ihre Bedeutung für die Interpretation der Eumeniden, Nürnberg 1965 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 22), 116; F. Schachermeyr, Die frühe Klassik der Griechen, Stuttgart 1966, 174f. * F. Schachermeyr, Geistesgeschichte der Perikleischen Zeit, 56. 7*
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(oder zuzurechnenden) Tendenzen rationaler Weltsicht verpflichtet 1 . Übertreibung war freilich die Hypothese, die Kreon-Gestalt warne vor die Polis gefährdenden Möglichkeiten, die Sophokles in der Person des Perikles angelegt sah 2 . Zu wenig wäre unter einer solchen Voraussetzung von Perikles' Größe in der Tragödiengestalt widergespiegelt. Eher trifft zu, daß Kreon, wie Aias, an einem spezifisch demokratischen Maßstab für menschliches Verhalten gemessen wird, daß ihn mangelnde Bürger-Tugend der Sophrosyne (Besonnenheit) zu seinen Fehlentscheidungen und in sein Verderben treibt (ohne daß dieser ihm vom Dichter verliehene Zug auf eine bestimmte Person gemünzt wäre). Gewichtig sind die Aussagen des Chorliedes 3 , in ihrem J a zur Entwicklungsfähigkeit des Menschen ebenso wie in der verhaltenen Mahnung an die Grenzen menschlichen Fortschritts 4 . Sophokles reflektiert die Entwicklung, aber mit einem Vorbehalt, der es begreiflich erscheinen läßt, daß er in anderen Stücken, den entweder schon vor der „Antigone" oder in zeitlicher Nähe zum „König Ödipus" entstandenen „Trachinierinnen" 5 und vor allem im „König Ödipus" selbst, die Gefährdung und Vergeblichkeit menschlichen Planens zum Thema macht. Es fehlt nicht an Spekulationen, ob die Gestalt des Ödipus auf den toten Perikles anspiele (gest. 429), so wie der Kreon der „Antigone" vermeintlich auf den lebenden. Zumindest spiegele, diese Auffassung herrscht vor, das Stück die Niedergeschlagenheit in Athen nach dem Wüten der Pest und Perikles' Tod wider 6 . Dem sei nicht widersprochen, doch ist der „König Ödipus" letztlich nicht von so schmaler Verständnisbasis her erklärlich. Nicht zufällig entstand er offenbar, als die sich verstärkende Krisenhaftigkeit der Entwicklung die Unsicherheit menschlichen Planens zu einer charakteristischen gesellschaftlichen Erfahrung ausweitete. Der „König Ödipus" ist somit ganz allgemein — gewiß auch über das dem Dichter bewußte Maß hinaus — Ausdruck eben des Übergangs in die neue Phase der eskalierenden Poliskrise 1
Wichtig hierzu das S. 99 Anm. 2 zitierte Buch von V. Ehrenberg, Sophokles und Perikles. F. Schachermeyr, Religionspolitik und Religiosität bei Perikles, Sitzungsberichte der österreichischen Akademie der Wissenschaften 258,3, Wien 1968, kann diesen Gesichtspunkt mit seinen Erörterungen über Perikles' Religiosität allenfalls modifizieren, nicht entkräften. 2 Vgl. oben S. 99 Anm. 2. 3 Antigone 332-375. ^ Vgl. unten S. 134. 5 Zur Datierung der „Trachinierinnen" z. B. E.-R. Schwinge, Die Stellung der Trachinierinnen im Werk des Sophokles, Göttingen 1962 (Hypomnemata 1); H.Gärtner in: Der kleine Pauly, 5, München 1973, Artikel „Sophokles". 6 Vgl. z. B. W. Schadewaldt, Sophokles und Athen, Frankfurt/Main 1935, 18 (=ders., Hellas und Hesperien, 1, 2. Aufl. Zürich-Stuttgart 1970, 370-385). Zurückhaltend A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, 121. 7 Der hypothetische Charakter dieser Deutung sei zugegeben. Sie schließt die Interpretation der Tragik des Ödipus als der Tragik des unentwickelten menschlichen Erkenntnisvermögens nicht aus (nach K. Marx, Der leitende Artikel in Nr. 179 der Kölnischen
Das Menschenbild bei Aischylos und Sophokles
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Das auf den „Ödipus" folgende Sophokleische Spätwerk reflektiert die fortschreitende Entwicklung und damit deren Krisenhaftigkeit kaum noch direkt, es beschränkt sich weitgehend darauf, ihr jenes humanistische Ideal entgegenzusetzen, das der Dichter bereits in der Zeit des „Aias" und der „Antigone" geprägt hatte, damals noch stärker in Einklang mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Tendenzen. I n diesen Zusammenhang sind die das TragischProblematische nicht überbetonende Version des „Elektra"-Themas, vor allem aber die Züge von Menschlichkeit einzuordnen, die das Handeln des Neoptolemos im „Philoktet" (409) und des Theseus im „ödipus auf Kolonos" (nach Sophokles' Tod 401 aufgeführt) bestimmen. Die gedankliche Ausgeglichenheit des Sophokleichen Spätwerks unterscheidet sich beträchtlich vom gleichzeitigen Schaffen des Euripides, der von der Krisenhaftigkeit der Entwicklung viel stärker geprägt erscheint und schon ganz vom Boden der neuen Entwicklungstendenzen her argumentiert. I n der Opferbereitschaft seiner Alkestis und Iphigenie erfährt das schon bei Aischylos angelegte, bei Sophokles stark hervortretende Thema des Humanen nochmals eine Steigerung, während zugleich Medea und Phaidra (in einer vom Dichter als notwendig dargestellten Verhaltensvariante) dem Humanen absagen; die Gestaltung eines mittleren Verhaltensweges ist zugunsten antagonistischer Extremhaltungen aufgegeben. Gerade gegenüber Euripides schließt sich die zunächst in konkreter Auseinandersetzung mit der Realität entwickelte und zum Schluß, im Spätwerk des Sophokles, abstrakt bewahrte Aischyleisch-Sophokleische Gedankenwelt in wesentlichen Momenten zu einer Einheit zusammen. Ihre Grundideen, soweit sie das Menschenbild berühren, im einzelnen darzustellen, ist Ziel der folgenden Ausführungen. Dabei wird der Leitgedanke verfolgt, daß der ideelle Niederschlag der sozialökonomischen Entwicklungstendenzen und speziell Aischylos' und Sophokles' Stellung zur zunächst deutlich progressiven, später zunehmend krisenhaften demokratischen Entwicklung in Athen Ursache f ü r die dem Menschenbild beider Dichter innewohnende Spannung gegensätzlicher menschlicher Wesenszüge sind. Den von Aischylos direkt aufgegriffenen, von Sophokles in sehr persönlicher Weise in Richtung auf ein Humanitätsideal weiter ausgestalteten Leitbildern der demokratischen Polis verdanken die Stücke beider Dichter die progressiv-humanistischen, eindeutig positiven, z. T. geradezu optimistischen Züge ihres Menschenbildes. Doch andere der athenischen Demokratie innewohnende Züge wirken sich negativ aus, und zwar keineswegs nur auf die benachteiligten Bevölkerungsschichten, sondern auch auf die Privilegierten, die gerade durch ihren Status an der allseitigen Entfaltung Zeitung, K. Marx — F. Engels, Werke, 1, Berlin 1970, 104: „Mit Recht haben die größten griechischen Dichter sie [sc. die Unwissenheit] in den furchtbaren Dramen der Königshäuser von Mykene und Theben als das tragische Geschick dargestellt"; daran anschließend und 'weiterführend A.-G. Kuckhoff, Das Drama der Antike, 214—229). Zu subjektiv und voraussetzungsreich erscheint die Auffassung, Sophokles stoße zum Wesen des Menschen vor, u. ä. Vgl. auch W. Jarcho, Zum Problem des Wissens in der Sophokleischen Tragödie, Das Altertum 16, 1970, 89-96.
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E R N S T GÜNTHEB SCHMIDT
wesentlicher Fähigkeiten gehindert werden. I n der poetischen Gestaltung menschlicher Schicksale schlägt sich diese Seite der gesellschaftlichen Realität als Serie schwer lösbarer oder unlösbarer Konflikte nieder. Beide Grundzüge des Menschenbildes, scheinbar divergierend, doch gleichen Ursprungs, stellen sich in dialektischer Einheit dar: dem Menschen, wie ihn Aischylos und Sophokles gestalten, eignet zugleich Stärke und Schwäche, wobei es seine Größe ausmacht, daß er auch in der Schwäche sein Selbst zu behaupten und seinen Standort innerhalb der Weltordnung zu bestimmen vermag.
2. Mythengestaltung
und Menschenbild
Eine zusätzliche Vorbemerkung erfordert der Umstand, daß griechische Tragödiendichtung fast ausnahmslos Mythen gestaltet. Unter den erhaltenen attischen Tragödien ist ja nur die älteste, Aischylos' „Perser", ein Gegenwartsstück, das geschichtliche Wirklichkeit, die Niederlage der Perser bei Salamis (480), zum Gegenstand hat. Doch gerade auch die „Perser" lassen, zweifellosabsichtlich, durch Verlegung des Schauplatzes auf persische Seite keinen R a u m für eine auch nur einigermaßen profilierte Darstellung einzelner athenischer Persönlichkeiten; nicht einmal die Namen eines Themistokles oder Aristeides werden genannt, so sehr sie im Botenbericht über die Schlacht gleichsam auf der Zunge zu liegen scheinen. Was wir über die „Eroberung von Milet" und die „Phönikerinnen" des Phrynichos (frühes 5. Jh.) wissen, die verlorenen anderen beiden Tragödien über entscheidende Episoden der Perserkriege, deckt sich mit dem aus den „Persern" gewonnenen Eindruck: Die Polisbürgerschaft vermied es — offenbar um des offiziell gültigen Gleichheitsprinzips willen —, daß der einzelne, das Individuum auf der Tragödienbühne herausgehoben wurde K Und so kam derjenige Tragödientyp, von dem eine solche „Gefahr" ausging, das Gegenwartsstück, frühzeitig in Mißkredit, jedenfalls außer Gebrauch 2 . Andere, oft genannte Gründe f ü r die Bevorzugung des Mythos sind deswegen nicht unrichtig: Der Mythos war mit der Tragödie schon von ihren vorliterarischen Anfängen her verbunden, er war den Griechen unmittelbar gegenwärtig; bestimmte Aussagen ließen sich deshalb in mythischer Form sogar besonders prägnant und mit Aussicht auf Verständlichkeit treffen, bestimmte Wesenszüge des Menschen schienen im Mythos geradezu zeitenthoben hervorzutreten. Doch die Entscheidung a u s s c h l i e ß l i c h f ü r den Mythos war primär offenbar nicht poetischer, sondern politischer Natur. 1
2
Daß es für die thematische Einengung der Tragödie nur künstlerische (oder religiöse?) Gründe gegeben habe, scheint weniger glaublich. Aischylos' „Perser" waren ja der vollgültige und durch das Preisrichterkollegium auch anerkannte Beweis für die reichen ästhetischen Möglichkeiten und die Aussagekraft des „Gegenwartsstückes". Anders die Komödie, die Personen der unmittelbaren Gegenwart, jedoch in kritischer Glossierung vorstellte.
Das Menschenbild bei Aischylos und Sophokles
103
Da soeben der enge Bezug der Aischyleischen und Sophokleischen Tragödie auf die gesellschaftliche Realität behauptet wurde, erhebt sich freilich die Frage, ob mythische Darstellungen diese Realität adäquat widerspiegeln können. Werden aktuelle Probleme durch Verlagerung in eine (teils geradezu irreale) Vergangenheit mit grundverschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen nicht von vornherein verzerrt ? Ist der Bewegungsraum f ü r die dramatische Handlung durch den Zwang, überlieferte Geschehensfolgen nachzuvollziehen, nicht störend eingeengt ? Verstanden Aischylos und Sophokles (anders dann Euripides) die Mythen nicht zu sehr als „heilige Geschichten", als daß sie ihnen die Konturen zu geben gewagt hätten, die einer präzisen Konfliktgestaltung dienlich gewesen wären ? Ist das mythisch gestaltete Bild des Menschen nicht ein historisierendes Menschenbild 1 ? Es fehlt jedes Zeugnis, ob Aischylos und Sophokles die mythische Form je als lästig empfanden. Sicher dagegen ist, daß sie eine wahre Meisterschaft in der Kunst entwickelten, den Mythos ohne simple Aktualisierung ihren Anliegen dienstbar zu machen. Und das gilt keineswegs nur f ü r die Fälle, in denen, wie bei Aischylos, Institutionen der athenischen Demokratie in das Geschehen eingeführt werden („Schutzflehende", „Eumeniden"). Ein augenfälliger Unterschied zwischen Mythos und Wirklichkeit ist seit dem Sturz der Tyrannis in Athen, also seit Ende des 6. Jahrhunderts, daß der Mythos Könige als Träger der politischen Macht und Angehörige von Königsgeschlechtern als Akteure bevorzugt, während die Institution des Königtums der Gegenwart fremd geworden war. Die Tragödiendichter tragen diesem Umstand dadurch Rechnung, daß sie wesentliche Anliegen der Gemeinschaft nicht — wie es die Integrierung eines Chores in das Geschehen erlaubt hätte — im kollektiven Handeln ausdrücken, sondern in Haltung, Entscheidung und Wirken des einzelnen, nicht selten also des Königs oder des Helden aus königlichem Geschlecht. F ü r den Tragödienhelden bedeutet das einen wesentlichen Funktionszuwachs. So spiegelt die dem Athen des 5. Jahrhunderts in der Realität so fremde Gestalt des Königs durchaus nicht nur die Fortexistenz von Tyrannen außerhalb Athens oder die anhaltende Gefahr neuer Tyrannis innerhalb Athens, also nicht nur gesellschaftliche Randerscheinungen und -probleme wider. Der König entspricht auch nicht nur dem Typ des Volksführers der athenischen Demokratie. Vielmehr leiht der Polisbürger, dessen Selbstvertrauen gekräftigt ist, den aus Sage und Epos überkommenen Gestalten des Königs und seiner Angehörigen durch Vermittlung der Dichter seine eigenen Züge, seine Tugenden, allerdings auch seine Fehler. K u r z : Grundsätzlich ist der Mythos zum Instrument aktueller Aussage geworden 2 . Gewiß haben die 1 Davon, daß die Mythen vielfach als geschichtliche Ereignisse galten, kann hier abgesehen werden. Bei der Grenzziehung zwischen Mythos und Geschichtsschreibung kam man, wie der Vergleich der Geschichtswerke des Herodot und Thukydides lehrt, gerade im 5. Jahrhundert schon nahe an den auch von uns heute eingenommenen Standpunkt heran. 2 Bei Aischylos spielt zusätzlich die Freude am Exotischen, Phantastischen eine Rolle, besonders in den „Schutzflehenden". Daß für die Einbeziehung solcher Elemente aber
104
E K K S T GÜNTHER SCHMIDT
Dichter nicht alle Chancen wahrgenommen, die Gegenwart auf der Tragödienbühne präsent zu machen. Bedenkt man die Rolle der Volksmassen im Geschichtsprozeß, erinnert man sich aus neuzeitlicher Kunst der durchschlagenden Wirkung von Massenszenen (etwa des Freiheitschores in Verdis „Nabucco", der „Weber" von Gerhart Hauptmann), so mag mancher Effekt verschenkt erscheinen, der sich mit dem Tragödienchor des 5. Jahrhunderts hätte bewerkstelligen lassen (und zwar durchaus auch mit den nur 12, später 15 Choreuten, die zur Verfügung standen). Diese Möglichkeiten blieben aber nicht wegen der Bindung an mythische Vorlagen ungenutzt, sondern weil die Dichter ihrerseits auf einen so augenfälligen Grad der Demokratisierung der Tragödienbühne verzichteten.
3. Forschungssituation
und
Aufgabenstellung
Die interpretatorischen Bemühungen um das Menschenbild der Aischyleischen und Sophokleischen Tragödie erbrachten bislang kein Resultat, mit dem die hier angedeuteten Fragen voll abgegolten wären 1 . Die Gesamtdarstellungen der
1
nicht n u r die Mythen Anlässe boten, zeigen die „Perser" : Die Erscheinung eines Geistes gibt es gerade im „Gegenwartsstück". Eine umfassende Darstellung des Menschenbildes der griechischen Tragödie bzw. des Aischylos und Sophokles fehlt. Verhältnismäßig ausführlich gehen auf das T h e m a ein W. Jaeger, Paideia, 1, Leipzig 1934; F . E g e r m a n n , Vom attischen Menschenbild, München-Pasing 1952. Beide Arbeiten sind fast ausschließlich geistesgeschichtlich orientiert, lassen die griechische Geschichte der Selbstdarstellung des Menschen in P i a t o n kulminieren und setzen d a m i t Akzente, die die progressiven Leistungen der geistigen Repräsent a n t e n der griechischen Polisbürgerschaften z. T. verdecken. Beachtenswerte Beiträge zur Diskussion lieferten E. R . Dodds, Die Griechen und das Irrationale, D a r m s t a d t 1970 ( = T h e Greeks and t h e Irrational, 5. Aufl. Berkeley-Los Angeles 1966), F . Schachermeyr, Die f r ü h e Klassik der Griechen, S t u t t g a r t 1966 (ders., Geistesgeschichte d e r p e r i kleischen Zeit, S t u t t g a r t 1971), ferner mehrere Gesamtdarstellungen der griechischen Tragödie und der griechischen Literatur, z. B. die schon zitierte Monographie von A. Lesky. Von den Arbeiten zu einzelnen Tragikern kommen f ü r unser Thema besonders die folgenden in B e t r a c h t : f ü r A i s c h y l o s : B. Snell, Aischylos und das Handeln im D r a m a , Leipzig 1928 (Philologus, Suppl. 20) ; G. Thomson, Aischylos u n d Athen, Berlin 1957 ( = Aeschylus and Athens, London 1941, 2. Aufl. 1946); J . de Romilly, L a crainte et l'angoisse dans le t h é â t r e d'Eschyle, Paris 1958; H . J . Dirksen, Die aischyleische Gestalt des Orest und ihre Bedeutung f ü r die I n t e r p r e t a t i o n der Eumeniden, N ü r n b e r g 1965 (Erlanger Beiträge zur Sprach- u n d Kunstwissenschaft 22) ; J . Podlecki, T h e Politicai Background of Aeschylean Tragedy, Ann Arbor 1966; I. Trencsényi-Waldapfel, Aischylos, i n : Von H o m e r bis Vergil. Gestalten und Gedanken der Antike, Berlin-Weimar 1969, 99—170; V. N. Jarcho, Zum Menschenbild der Aischyleischen Tragödie, Philologus 116, 1972, 1 6 7 - 2 0 0 ; f ü r S o p h o k l e s : K . R e i n h a r d t , Sophokles, P r a n k f u r t / Main 1933, 3. Aufl. 1948; S. Fiorini, Elementi di u m a n i t à nel teatro di Sofocle, R o m a 1938; W. Schadewaldt, Sophokles und das Leid, 2. Aufl. Potsdam 1944, 3. Aufl. 1947 ( = ders., Hellas und Hesperien, 1, 2. Aufl. Zürich-Stuttgart 1970, 385—401); A. Lesky,
Das Menschenbild bei Aischylos und Sophokles
105
griechischen Tragödie wie die Einzeldarstellungen des Aischylos und Sophokles handeln die Stücke beider Dichter gewöhnlich der Reihe nach ab und fassen den das Menschenbild betreffenden interpretatorischen Ertrag, der in den Details vielfach nicht unbeträchtlich ist, nicht übersichtlich genug zusammen. Sofern eine Gesamtsicht versucht wird, betrifft sie meist die Weltanschauung der beiden Dichter (und da wieder vorrangig ihre Religiosität) — ein Thema, das zu dem des Menschenbildes in enger Beziehung steht, mit ihm jedoch nicht identisch ist. Die meisten Deutungen weichen der Frage nach den Beziehungen des Aischyleischen und Sophokleischen Menschenbildes zur gesellschaftlichen Realität aus; Arbeiten, die gerade diese Frage stellen (zu nennen insbesondere das Aischylos-Buch von Thomson), schreiten von der erarbeiteten Basis noch nicht zu einer umfassenden Würdigung des Menschenbildes fort. In einigen Fällen (z. B. bei Podlecki) wird der gesellschaftliche Bereich zu eng als der der Tagespolitik verstanden. Der Humanismus-Begriff, wie er in diesem Band verwendet und in der Einleitung erläutert wird, beginnt erst in der Tragödieninterpretation der letzten Jahre eine Rolle zu spielen. Fast alle Arbeiten neigen schließlich dazu, den Menschen der Aischyleischen und Sophokleischen Tragödie als etwas undifferenziert Einheitliches zu sehen. Es fehlt nicht an Detailuntersuchungen zu den Fragen der Charaktere (bzw. ihrem Fehlen), zum Problem der Schuld, zu den Themen Entscheidung und Handeln, Verantwortung und Tragik. Nicht alle interpretatorischen Ansätze können an dieser Stelle aufgegriffen und fortgeführt werden. Vielmehr wird das Thema unter einem umfassenderen Gesichtspunkt so begriffen, daß die Einzelfragen sich möglichst wenigen Hauptproblemen unterordnen. Schwerpunkt der Untersuchung ist das Verhältnis von Stärke und Schwäche innerhalb des von Aischylos und Sophokles entworfenen Bildes des Menschen. Doch ehe die mit dieser Fragestellung gegebene Bipolarität die Untersuchung leitet, ist nach dem einheitlichen Substrat zu fragen, aus dem die für das Menschenbild der beiden Tragiker entscheidenden Züge sich herausheben. Sophokles und das Humane, Almanach der Österreich. Akademie d. Wissenschaften 101, 1957, 222-247 ( = Gottheit und Mensch in der Tragödie des Sophokles, Darmstadt 1963, 61-86; A. Lesky, Gesammelte Schriften, Bern 1966, 190-203); C. H . Whitman, Sophocles. A Study of Heroic Humanism, Cambridge/Mass. 1951; J. C. Opstelten, Sophocles and Greek Pessimism, Amsterdam 1952; V . Ehrenberg, Sophocles and Pericles, Oxford 1954 (deutsch: Sophokles und Perikles, München 1956). Der bislang einzige umfassendere Beitrag zum Thema aus der D D R stammt von einem Theaterwissenschaftler: A.-G. Kuckhoff, Das Drama der Antike, Berlin 1960 (s. oben S. 94 Anm. 1), vgl. auch die Beiträge zur Tragödie in den oben S. 95 Anm. 2 und S. 98 A n m . 1 genannten Sammelwerken „Hellenische Poleis" und „ D i e gesellschaftliche Bedeutung des antiken Dramas für seine und für unsere Zeit".
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ERNST GÜNTHER SCHMIDT
4. Das Substrat des AiscJiyleisch-Sophokleischen die psychische Beschaffenheit des Menschen
Menschenbildes:
Gerade weil das W e s e n des Menschen nicht ein f ü r allemal geprägt ist, hat die F r a g e nach der Einheitlichkeit des Menschen auf einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe Berechtigung. I n der literarischen Gestaltung v o n Menschen t r e f f e n in dieser Hinsicht zwei M o m e n t e zusammen: erstens die Widerspiegelung der o b j e k t i v e n R e a l i t ä t und zweitens die durch die subjektive Sicht des Dichters bedingte zusätzliche Vereinheitlichung des Objekts Mensch.
Unter
dieser Voraussetzung liegen dem W e r k des Aischylos und Sophokles — wie dem W e r k jedes Autors — bestimmte Anschauungen v o n der
psycho-physischen
Beschaffenheit des Menschen zugrunde. D a diese Anschauungen v o n dem, was uns heute geläufig ist, z. T . nicht unerheblich abweichen, bedürfen sie spezieller A n a l y s e ; eine A u f g a b e , der sich zuletzt V . N . Jarcho angenommen hat
Die
Entdeckung des A r z t e s und Philosophen A l k m a i o n aus K r o t o n (6. Jh.), daß das D e n k e n an die Gehirntätigkeit gebunden ist, hat in die Vorstellungswelt der attischen T r a g i k e r (und wohl der Mehrzahl ihrer Zeitgenossen) noch keinen Eingang gefunden. Somit begegnen in den T r a g i k e r t e x t e n grundsätzlich die gleichen Organe der intellektuellen und emotionellen Tätigkeit, die schon aus H o m e r und den älteren griechischen L y r i k e r n bekannt sind, nämlich einerseits feste,
ortsgebundene
Zwerchfell
Organe:
Herz
(xagdia, xeag),
Brust
(aregvov)
((pgrjv), und andererseits nicht streng ortsgebundene,
und
bewegliche
z. T . luftartig gedachte Substanzen w i e Seele (ywyji), &v/z6g (kaum übersetzbar; v o r allem Aufwallungen v o n T r o t z , Mut, Schmerz und dgl.) und V e r s t a n d (vovg).
V o n diesen Organen bedingen besonders qiQiqv und dv/xög, die sich a m
wenigsten mit modernen B e g r i f f e n in eins setzen lassen, Abweichungen v o n den uns geläufigen Anschauungen, die andererseits den Anschauungen der T r a g i k e r durchaus noch nahestehen und keineswegs in allen Details an den Erkenntnissen der modernen Medizin und Psychologie orientiert sind; man denke nur an die R o l l e , die wir i m gängigen Sprachgebrauch d e m H e r z e n f ü r die emotionale Tätigkeit
zuschreiben. Einerseits f i n d e n sich bei Aischylos und
Sophokles
also Wendungen, die auch wir noch gebrauchen, z. B . „das H e r z f l i e g t
vor
A n g s t " (Aischylos, Grabspenderinnen 167), andererseits Ausdrucksweisen, die ungewohnt anmuten, z. B . daß das Zwerchfell „kleiner w i r d " , wenn man einen Menschen beweint (Aischylos, Sieben gegen T h e b e n 920f.). D i e Schilderung äußerer, sichtbarer S y m p t o m e der Gefühlserregung, auf die die griechische L y r i k W e r t legte, t r i t t hinter das neuartige Bemühen zurück, die innere B e schaffenheit der Gefühlsorgane so, w i e es die beiden zitierten Beispiele illustrieren, in feinster Nuancierung zu erfassen. F e r n e r gilt, daß die Scheidung zwischen emotionellen 1
und intellektuellen
Organen
weitgehend
aufgehoben
ist.
Das
V. N. Jarcho im oben S. 104 Anm. 1 zitierten Aufsatz „Zum Menschenbild der Aischyleischen Tragödie".
Das Menschenbild bei Aischylos und Sophokles
107
trifft zwar nicht für den Verstand (vovç) zu, dem unverändert bestimmte intellektuelle Regungen, besonders die Tätigkeit des Denkens, zugeordnet sind. Wohl aber können dem Zwerchfell ( XQVTat' Ti?> ein Ding, dessen sich jemand bedient, das er sich durch Tätigkeit zu eigen macht. Die Dinge der vom Menschen umgeformten Welt sind es, auf die sich jener Satz bezieht. Indem der Mensch sie sich durch Gebrauch aneignet, wird er auch zu ihrem „Maß". Als XQfjfia ist das Ding nicht absolut gesehen, sondern in seinem Bezug auf jenen, für den es eine funktionale Bedeutung h a t : E s ist in seiner G e l t u n g für ihn gesehen. Ding und Geltung sind hier freilich nicht zu trennen, wie aus Nestles Übertragung „Aller Geltungen (Qualitäten) Maß ist der Mensch" geschlossen werden könnte. I n leichter Abwandlung der Nestleschen Übertragung sollte man besser paraphrasieren: „Maß aller Dinge in ihrer Geltung ist der Mensch . . . " Wir neigen wie selbstverständlich dazu, das Wort „Mensch" hier als den Gattungsbegriff zu fassen, und scheinbar gibt uns Piaton recht, wenn er dem Satz des Protagoras sein „Maß aller Dinge ist G o t t " entgegensetzt (Gesetze 716 C). Aber nur scheinbar, denn er fährt f o r t : „Viel mehr als i r g e n d e i n M e n s c h , wie man so sagt". Dieser Bezug auf das einzelne Individuum, den Piaton und Aristoteles hervorheben, ist nach allem, was wir über die Erkenntnistheorie des Protagoras wissen, nicht zu bezweifeln 2 . F ü r den Sensualisten, der die Sinneswahrnehmung des einzelnen zum höchsten Kriterium der Erkenntnis macht (eine extreme Reaktion auf die Seinsphilosophie der Eleaten, die die Sinneswahrnehmung und ihr Objekt einer absoluten Abwertung unterworfen hatten), schien es keinen anderen Weg zu geben. Aber dieses Abgleiten in den erkenntnistheoretischen Subjektivismus ändert nichts an dem epochalen Fortschritt, der mit der Erkenntnis vom Menschen als dem schöpferischen und darum „maßgebenden" Wesen erzielt war. 1 2
Nestle, Vom Mythos zum Logos, 268 ff. Zusammenfassend über den derzeitigen Forschungsstand Guthrie, A History of Greek Philosophy, 3, 181 ff.
Das Menschenbild der sophistischen Aufklärung
249
Ungeachtet der erkenntnistheoretischen Verirrung, die in der einseitigen Betonung der individuellen Wahrnehmung u n d ihrer Yerabsolutierung liegt, bedeutet der Homo-mensura-Satz eine Wende in der Auffassung vom Menschen. An die Stelle des „theonomen" Welt- und Menschenbildes t r i t t eine Sichtweise, die im Menschen das tätige, die natürliche Umwelt verändernde Wesen sieht, das durch diesen tätigen Bezug auf die N a t u r auch die Grundlagen f ü r deren E r k e n n t n i s u n d f ü r das Verständnis der Stellung des Menschen im Weltganzen gewinnt. Diese Position ist freilich nicht in jenem Sinne teleologisch-anthropozentrisch, daß der ganze Kosmos u m des Menschen willen eingerichtet u n d auf ihn hin organisiert sei 1 . Vielmehr geht es u m die Stellung des Menschen in einer Welt, der er als tätiges Glied angehört. E s ist diese Position, der P i a t o n sein „Gott ist das Maß aller Dinge" entgegenstellte, um das alte Welt- u n d Menschenbild zu restituieren 2 . Wir stehen hier am Anfang einer Traditionslinie, die f ü r das humanistische Denken von grundlegender Bedeutung war. „Wir wissen von keiner Welt als in bezug auf den Menschen; wir wollen keine K u n s t als die ein Abdruck dieses Bezuges ist", sagt Goethe 3 . Bei Marx erfolgt jene W e n d u n g zur Umgestaltung der gesellschaftlichen, nicht n u r der natürlichen Welt, in der der Humanismus zur T a t wird: „Die Kritik der Religion endet m i t der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen f ü r den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" 4 . D a ß das neue Menschenbild des Protagoras auf breiterem Grunde erwachsen ist, zeigt wiederum die starke Affinität seines Denkens zu dem des Prodikos. Dieser betrachtet das gleiche Problem aus ethischer Sicht, wenn er b e t o n t , d a ß die Dinge an sich nicht gut u n d nicht schlecht sind. Entscheidend ist der Gebrauch, den man von ihnen macht und durch den sie zu %qr¡fiara werden 5 . Gut und Böse stehen nicht als Abstrakta im leeren R a u m , sondern bestimmen sich aus dem Bezug, der mit dem richtigen oder falschen, nützlichen oder nutzlosen Gebrauch gesetzt ist. Die Entwicklung der antiken Kulturtheorie, f ü r die Protagoras einen so wesentlichen Beitrag geleistet hat, bedeutet zugleich einen Markstein in der 1
2
3 4
5
Vgl. Sokrates bei Xenophon, Erinnerungen an Sokrates I 4, 5ff.; IV 3, 3ff., und dazu W. Theiler, Zur Geschichte der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles, Diss. Basel 1924, 14ff. Der Agnostizismus des Protagoras im Hinblick auf die Götter Fr. 4 D.-K. wurde von dem Epikureer Diogenes von Oinoanda als eine versteckte Form des Atheismus gewertet (Fr. 11 Chilton, Kol. II). Maximen und Reflexionen, Leipzig 1953, 173. Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, K. Marx—F. Engels, Werke, 1, Berlin 1969, 385. Vgl. Xenophon, Hauswirtschaftsführung 1, 7ff.; Pseudo-Platon, Eryxias 400E ff., und dazu Nestle, Vom Mythos zum Logos, 352.
250
REIMAR MÜLLER
Herausbildung des Fortschrittsgedankens einen Zug im geschichtsphilosophischen Denken der Antike, der häufig gegenüber den Kreislauf- und Dekadenztheorien vernachlässigt worden ist 2 . Zweifellos ist das antike Fortschrittsdenken, das sich an der allmählichen Herausbildung der menschlichen Kultur in der Vergangenheit orientiert, nicht mit neuzeitlichen Fortschrittskonzeptionen auf eine Stufe zu stellen, die unter dem Eindruck der sprunghaften Entwicklung der Produktivkräfte im frühen Kapitalismus entstanden sind 3 . Überhaupt steht die unendliche Progression in der Entfaltung der produktiven Kräfte außerhalb des Blickfeldes der antiken Denker, die den im 5. und 4. J a h r hundert erreichten technologischen Stand im allgemeinen für ausreichend hielten und den weiteren Fortschritt vor allem (wie Aristoteles) in der reinen Theorie oder (wie Epikur) in ethischer Hinsicht erstrebten. Wenn Kulturtheorien wie die des Protagoras dennoch für die Geschichte des Fortschrittsdenkens sehr bedeutsam erscheinen, dann deshalb, weil der technische Fortschritt in ihnen, wie wir zeigen konnten, vor allem als Ausdruck der Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte gewertet wird.
3. Mit der Einsicht in das Wesen der Kultur als einer „zweiten Natur", d. h. als eines Bereiches, in dem neue und eigene Gesetze gelten, hängt ein anderer Zug im Gesellschaftsbild der Sophistik zusammen. Wenn der Staat und seine Institutionen nicht von Ewigkeit existieren und sich nicht auf ewig gültige göttliche Weisungen gründen, sondern historisch geworden, also auch veränderbar, verbesserungsfähig sind, dann muß das Folgen für die Anschauungen über Recht und Gesetz und zugleich auch über die sittlichen Normen der Gesellschaft haben. Es erwuchs die Erkenntnis, daß diese ausnahmslos vófiio, d. h. als Produkt menschlicher Schöpfung, nicht aber tpvaei, als „natürliche" und unveränderliche Wesenheiten existieren 4 . Diese Erkenntnis hatte sich 1
2
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4
Zum Fortschrittsgedanken in der Antike vgl. Edelstein, a. O. ; E. Ch. Welskopf, Gedanken über den gesellschaftlichen Fortschritt im Altertum, XIII. Internationaler Kongreß der historischen Wissenschaften, Moskau 16.—23. August 1970, Moskau 1970, ferner S. Lauffer, Der antike Fortschrittsgedanke, Actes du X I e Congrès international de philosophie, Bruxelles 1953, 12, Amsterdam 1953, 37ff.; K. Thraede, Art. Fortschritt, in: Reallexikon für Antike und Christentum, 8, Stuttgart 1969, 141 ff. So etwa bei G. Klaus — H. Schulze, Sinn, Gesetz und Fortschritt in der Geschichte, Berlin 1967, 139. Vgl. R. Müller, Der Humanismus in der griechischen Klassik, in: Der antike und der sozialistische Humanismus, Wissenschaftliches Kolloquium des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR und des Instituts für Altertumswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität, Jena 28.—30. Oktober 1971, Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe 21, 1972, 846. Zur Geschichte dieses antithetischen Begriffspaares vgl. Heinimann, a. O.
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im griechischen Denken schon seit geraumer Zeit vorbereitet, ehe sie im 5. J a h r hundert theoretisch fixiert wurde. Durch ihre weit ausgreifende Handelstätigkeit waren die Griechen besonders seit dem 6. J a h r h u n d e r t mit den staatlichen u n d rechtlichen Institutionen, mit Sitten u n d Bräuchen vieler Völker in Berührung gekommen, u n d eine lebhaft sich entwickelnde ethnologische Forschung m u ß t e die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf die Unterschiede lenken, die allenthalben festzustellen waren. I m Werk Herodots finden sich bemerkenswerte Zeugnisse f ü r eine solche Sichtweise 1 . Daneben ist eine Forschungsrichtung zu sehen, die die physischen u n d psychisch-geistigen Besonderheiten im Erscheinungsbild der Menschen verschiedener Länder primär aus den Einflüssen der natürlichen Umwelt ableitete, wie wir es in der Hippokratischen Schrift „Über die Umwelt" f i n d e n 2 . Auch sie k o n n t e sich den Erkenntnissen über die Bedeutung des historisch-gesellschaftlichen Elements nicht verschließen. Neben die 9waig t r i t t der vöfiog als ein prägendes E l e m e n t : andere Eigenschaften entwickeln sich bei Völkern, die u n t e r der Despotie leben u n d nicht Herr über sich selbst sind, andere in einer Staatsform, in der die Völker sich selbst ihre Gesetze geben 3 . Hier freilich finden wir uns noch in einem Bereich, der die Unterschiede, sei es der Verfassung, sei es der Ausprägung der Individuen in ihrem Ergebnis konstatiert, nicht aber deren wechselhafte historische Entwicklung ins Auge f a ß t . E s wird häufig verkannt, d a ß in der Sophistik auch dieser Schritt vollzogen wurde: wiederum von Protagoras' 1 . Nach dem Bericht in P i a t o n s „Theaitetos" vertrat Protagoras die Auffassung, Gerecht u n d Ungerecht, F r o m m u n d U n f r o m m besäßen „nicht von N a t u r ein bestimmtes Wesen", sondern, „was allgemein angenommen werde, sei wahr, sobald es angenommen wird u n d solange es angenommen wird" (Theaitetos 172 B). Koivfj doiav heißt es im griechischen Original, ein Begriff, der aus der Praxis der Volksbeschlüsse in der Polis geläufig ist: der Consensus, der durch Mehrheitsbeschluß ermittelt wird. Was hier vom moralischen Bereich gesagt ist, wird an anderer Stelle f ü r die Gesetze formuliert, daß nämlich „alles das, was eine S t a d t , weil es ihr gerecht erscheint, als Gesetz festlegt, f ü r sie, die es festgelegt h a t , auch gerecht ist, solange es in K r a f t bleibt" (Theaitetos 167 C). Protagoras' Auffassung vom Wesen der rechtlichen u n d ethischen Normen ist also gesellschaftlich-historisch orientiert. Hier überwindet der Philosoph den Subjektivismus, den wir als Mangel seiner Erkenntnistheorie feststellen m u ß t e n , in gewissem Maße. An die Stelle des I n d i v i d u u m s mit seinen subjektiven W a h r n e h m u n g e n t r i t t eine Körperschaft, aus deren kollektiver Meinungs- u n d Willensbildung die Fest1 Vgl. bes. III 38. S. in diesem Band J. Kollesch, Vorstellungen vom Menschen in der hippokratischen Medizin, S. 274 ff. 3 Über die Umwelt, 16, 3ff. (Corpus Medicorum Graecorum I 1, 2, S. 62, 12ff.); 23, 6ff. (Corpus Medicorum Graecorum I 1, 2, S. 78, 2 ff.). 4 Zum Begriff des vöfiog bei Protagoras vgl. D. Loenen 74 ff.; T. A. Sinclair, A History of Greek Political Thought, London 1952, 53ff.; Lesky 70ff. 2
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legungen über die Grundsätze des Zusammenlebens fließen. Die rechtlichen und sittlichen Normen resultieren aus bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen, die am Kriterium eines gesellschaftlichen Nutzens (ró ovfxcpéoov) gemessen werden. Es geht also um den Nutzen des Gemeinwesens, d. h. der Mehrheit der Bürger, durch deren Entscheidung das Recht konstituiert wird. Mit sich verändernden Bedingungen wandelt sich auch die jeweils konkrete Bestimmung des Nutzens und damit der Inhalt des Rechts. Den antiken Denker interessiert dabei vor allem das Zustandekommen der Gesetzesänderung, die ja nur durch einen Beschluß der Bürger erfolgen kann. Dabei mochte tatsächlich dieser Vorgang sich vor allem als Problem der E r k e n n t n i s des Nutzens reflektieren, die die Bürger befähigt, eine richtige Entscheidung zu treffen. So interpretiert Piaton den Sophisten vielleicht richtig, wenn er dessen Zustimmung zu der Behauptung unterstellt, daß der eine Ratgeber besser als der andere sei, wenn es zu bestimmen gelte, was für einen Staat „zuträglich" ist und was nicht (Theaitetos 172 A). An anderer Stelle läßt Piaton den Protagoras sagen: „Der Weise aber bewirke, daß anstelle des für sie (sc. die Bürger) Schlechten nun das Gute tritt und ihnen auch als solches erscheint" (Theaitetos 167 C). Das schließt nicht aus, daß Protagoras in bestimmtem Maße eine Vorstellung von den sich hinter den Rechtsanschauungen verbergenden Interessen gehabt hat. Aber als Funktion des „Weisen" erscheint es (wie im übrigen später bei den Epikureern), über die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Nutzen und Recht ein Urteil abzugeben und damit bei den Bürgern einen Erkenntnisprozeß einzuleiten. Entscheidend aber ist, daß der Nutzen nicht auf die subjektiven Interessen oder Anschauungen des einzelnen Bürgers oder auf einen allgemeinen, anthropologischen und gewissermaßen zeitlosen Begriff des Interesses bezogen ist, sondern auf konkrete, wenn auch nicht näher definierte Bedingungen in dem jeweiligen gesellschaftlichen Organismus. Das ist hier hervorzuheben, weil an eben jener Stelle naturrechtliche Anschauungen ihren Ansatzpunkt suchten und fanden, die, wie es bei Antiphon geschieht, dem positiven ein natürliches Recht entgegenstellten, das an einem abstrakten, immer gültigen, sozusagen „allgemeinmenschlichen" Nutzen orientiert war (Fr. 44 A, Kol. 4, l f f . D.-K.). Man muß hervorheben, daß Protagoras keineswegs die Absicht verfolgte, das Recht in einem relativistischen Sinn aufzuweichen und seine Verbindlichkeit in Zweifel zu ziehen. Was von der Mehrheit als Recht erkannt und beschlossen ist, hat solange Verbindliche Kraft, als dieser Beschluß nicht durch einen anderen aufgehoben ist. Die Grundlage für die Achtung vor dem Recht bilden bestimmte soziale Verhaltensweisen, die freilich nicht von Natur vorgegeben sind, sondern sich in einem längeren Prozeß gesellschaftlicher Entwicklung herausbildeten (Entstehung der Gesellschaft durch den Zusammenschluß ursprünglich autarker Einzelwesen): aiövjq und dUrj, Achtung vor den anderen und Sinn für Gerechtigkeit. So ist auch die Gerechtigkeit für Protagoras keine angeborene Eigenschaft. Wie Piaton ausführt, existiere sie nach Auffassung
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des Protagoras nicht von Natur, sondern sei lehrbar. Das Entspricht der hervorragenden Rolle, die Protagoras der Erziehung generell beimaß, ein Zug in seinem Menschenbild, von dem noch ausführlicher zu sprechen sein wird. Daß das Recht und die sittlichen Normen in ihrer Abhängigkeit von den jeweiligen historischen Bedingungen erkannt werden (die in ihrem Charakter freilich ganz unbestimmt bleiben), ist ein großer Fortschritt im Denken. Daß das Recht vöfMp existiert, bedeutet, wie aus Protagoras' Interpretation deutlich hervorgeht, daß es sich im Verlaufe eines Prozesses herausbildet, dessen kollektives Subjekt die Polis darstellt. Es ist aber nach dieser Anschauung nicht das Produkt einer willkürlichen Setzung (eine solche würde durch das griechische Wort deoEi bezeichnet) im Sinne der spätbürgerlichen Theorien des Rechtspositivismus, die sich fälschlich bisweilen auf Protagoras berufen. Die Lehre von der gesellschaftlichen Bedingtheit der Rechtsnormen impliziert zugleich die Auffassung, daß diese eine Schöpfung des Menschen und nicht eine Gabe von Göttern oder Heroen sind. Protagoras bezeichnet die Gesetze ausdrücklich als Erfindungen (svgijfiara) der Menschen und wendet sich damit gegen die traditionelle Auffassung von göttlichen Stiftern und Beschützern der staatlichen Autorität. Piatons Versuch, im Kampf gegen diese Auffassungen von menschlicher Autonomie das religiöse, theonome Menschenbild wiederherzustellen, hat nicht zufällig besonders in den Fragen der Begründung und Geltung des Rechts einen wesentlichen Ansatzpunkt gefunden. Piaton suchte die Anschauung von der religiösen Sanktionierung des Rechts wiederherzustellen, indem er der Theorie von der historischen Bedingtheit und Veränderlichkeit der Rechtsnormen die Behauptung von der Existenz ewiger, absoluter, in der Ideenwelt verankerter Normen entgegenstellte, von denen das positive Recht stets nur ein mehr oder minder vollkommenes Abbild darstelle. Als schlimme Folgen solcher „Irrlehren" wie der des Protagoras bezeichnet Piaton in den „Gesetzen" Gottlosigkeit und Auflehnung bei der Jugend (890 A)
4. Viele Ideen und Konzeptionen der Sophistik, die dem Bild vom Menschen neue, in die Zukunft weisende Züge verliehen, dienten primär der demokratischen Ideologie, drängten aber dank ihrem dynamischen Charakter bereits über die demokratisch organisierte Polisgesellschaft hinaus. Protagoras stellte die Gültigkeit der Gesetze innerhalb einer bestehenden staatlichen Ordnung nicht in Frage. Seine Feststellung, daß rechtliche und ethische Normen dem Nutzen der Mehrheit der jeweiligen Gesellschaft dienen müssen, stimmt mit den Inter1
Aufschlußreich für den weltanschaulichen Kontext dieser rechtstheoretischen Probleme ist die Art, wie Piaton diese Polemik im Zusammenhang seiner Kritik an Systemen einer nichtteleologischen Naturerklärung führt, die die Entstehung der Welt aus „Natur und Zufall" ableiten, nicht aber aus einer Weltvernunft, einem göttlichen Wesen und „Kunst" (889 C).
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essen der demokratischen Kräfte überein, die sich bei der Auseinandersetzung mit den Oligarchen auch immer wieder der Berufung auf die althergebrachten „ungeschriebenen Gesetze" der frühen, von der Gentilaristokratie beherrschten Polis konfrontiert sahen. Die Erkenntnis von der historischen Bedingtheit und gesellschaftlichen Relativität des vö/iog schuf den Gesetzen und Wertbegriffen der Demokratie Raum gegen die Übermacht einer festgefahrenen Tradition. Freilich ist nicht zu verkennen, daß diese Begründung des vöfiog auch gegen ihre Verfechter gekehrt werden konnte. Für Denker, die dazu gelangten, Grundelemente des sozialen und politischen Gefüges der Polisgesellschaft in Frage zu stellen, bot der Gedanke, daß Gesetze Menschenwerk seien und auf „Vereinbarung" beruhten, Ansatzpunkte für eine weitergehende Kritik. Auch solche Kräfte sind in der Sophistik des 5. Jahrhunderts aufgetreten. Wie es später in der Geschichte des Gesellschaftsdenkens noch vielfach geschehen ist, wendeten sich diese Kritiker gegen die bestehenden gesellschaftlichen Institutionen, die sie als eine drückende Fessel für den Menschen empfanden, unter Berufung auf das Recht der menschlichen Natur. Aus dem Gedanken, daß Gesetze Menschenwerk seien, folgte der andere, daß sie nur Menschen werk seien und deshalb an einem höheren Maßstab — dem des Naturrechts 1 — gemessen werden müßten. Der markanteste Vertreter einer solchen radikalen geistigen Opposition war der Sophist Antiphon, ein gebürtiger Athener, über dessen Stellung in der athenischen Gesellschaft seiner Zeit wir leider nichts aussagen können 2 . Antiphon wendet sich gegen einen sozialen Wertkodex, der die Stellung des Menschen in der Gesellschaft und die Wertschätzung, die er in dieser genießt, von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht abhängig macht. Er widerspricht einer Auffassung, wie sie Perikles in der Gefallenenrede im Geschichtswerk des Thukydides vertritt, wonach sich die Wertschätzung eines athenischen Bürgers vermeintlich nur nach dessen Leistung für das Gemeinwesen, nicht aber danach richtet, ob er arm oder reich sei (II 37). Bei Antiphon heißt es: „(Die Söhne aus gutem Hause) achten und respektieren wir, dagegen die, welche nicht aus einer guten Familie sind, nicht. In dieser Hinsicht sind wir gegeneinander Barbaren geworden" (Fr. 44 B, Kol. 2, lff.). Gegen diese Unterschiede macht Antiphon das Prinzip der natürlichen Gleichheit aller Menschen geltend 3 , und er dehnt das Prinzip auch über die Grenzen der Polis und sogar 1
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Zur antiken Theorie des Naturrechts vgl. W. Eckstein, Das antike Naturrecht in sozialphilosophischer Beleuchtung, Wien-Leipzig 1926; M. Salomon, Der Begriff des Naturrechts bei den Sophisten, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung, 32, 1911, 133ff.; J. Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, Wien 1932. Zu den gesellschaftstheoretischen Anschauungen Antiphons vgl. H. Diels, Ein antikes System des Naturrechts, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 11, 1916, 81 ff.; F. Altheim, Staat und Individuum bei Antiphon dem Sophisten, Klio 20, 1926, 257ff.; Heinimann 133ff.; Sinclair 70ff. Zur Bedeutung Antiphons für die Entwicklung des Menschheitsgedankens in der Antike s. H. C. Baldry, The Unity of Mankind in Greek Thought, Cambridge 1965, 43ff.
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des Griechentums auf die „Barbaren" aus, damit weit hinausgehend über das Isonomie-Denken, das den freien Bürgern einer Polis politisch-rechtliche Gleichheit gewährt. Seine Argumentation ist, soweit wir ihr folgen können, auf die physische Gleichheit ausgerichtet: „Denn wir atmen alle durch Mund und Nase in die Luft aus, und wir essen alle mit den Händen" (Fr. 44 B , K o l . 2, 27 ff.). Daß der Sophist aus seinen Gedanken Schlußfolgerungen für die Durchsetzung des Gleichheitsprinzips im Sinne einer sozialen Utopie gezogen hätte, ist nicht wahrscheinlich. Immerhin werden aber die vom vö/iog geschaffenen Unterschiede der sozialen Stellung in ihrer Gültigkeit in Frage gestellt Bei Antiphon spitzt sich alles auf einen als unüberwindlich und absolut gesetzten Gegensatz von vo/iog und