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German Pages 388 [392] Year 1985
Grundzüge der Rechtsphilosophie Von
Helmut Coing Vierte Auflage
W DE G_ 1985
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Prof. Dr. tur. Dr. h. c. mult. Helmut Coing Frankfurt am Main
ClP-Kurztitelaufnähme
der Deutschen
Bibliothek
Coing, Helmut: Grundzüge der Rechtsphilosophie / von Helmut Coing. — 4. Aufl. — Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1985. — (De-Gruyter- Lehrbuch) ISBN 3-11-010423-7
© Copyright 1985 by Walter de Gruyter l i Co. 1000 Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin 10
MEINER LIEBEN FRAU
VORWORT ZUR VIERTEN AUFLAGE In der neuen Auflage ist der historischen Einleitung ein Abschnitt angefügt worden, in dem einige Hinweise zur gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion gegeben, insbesondere einige Verbindungslinien zu den Ansätzen des 19. Jahrhunderts gezogen werden. Die Forschungen im Bereich der Logik haben in den letzten Jahrzehnten einen großen Aufschwung genommen. Die Konsequenzen für die Rechtswissenschaft sind im einzelnen nicht dargestellt, wohl aber wird auf die Bedeutung dieser Entwicklung für die Rechtstheorie in allgemeiner Form hingewiesen. Da die rechtstheoretischen Bemühungen noch nicht zu der erstrebten Gesamttheorie geführt haben, ist näher nur auf die Lehren von Luhmann eingegangen worden. Im übrigen ist das zweite Kapitel erneut gestrafft worden. Frankfurt am Main, am 4. September 1984
Helmut Coing
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE Die zweite Auflage dieses Buches ist in der Art der Darstellung weitgehend umgestaltet. Erfahrungen in der Vorlesung über Rechtsphilosophie haben mich veranlaßt, eine knappe Darstellung einiger Hauptlehren der Rechtsphilosophie aufzunehmen. Daraus ist das neue Kapitel I entstanden. Dabei habe ich mich bemüht herauszuarbeiten, auf welchen allgemein philosophischen Voraussetzungen diese Lehren beruhen. Daraus ergab sich in natürlicher Weise die Aufgabe zu zeigen, daß die Entscheidung für die eine oder die andere Theorie von der Stellungnahme zu jenen grundsätzlichen Fragen abhängt, und die Gründe darzulegen, die den Autor veranlaßt haben, zu der von ihm entwickelten Ansicht zu kommen. Diesem Zweck dienen das neue Kapitel II und das (umgestaltete und jetzt das dritte Kapitel bildende) frühere Kapitel I. Aus den so begründeten Anschauungen entwickeln die weiteren Kapitel die Folgerungen. Dabei ist insbesondere das Kapitel VI, das die Grundlagen einer juristischen Methologie enthält, neu gestaltet worden. Ich hoffe, daß das Buch seinen Zweck, zum Nachdenken über die Probleme des Redits anzuregen, in dieser neuen Form besser erfüllt. Bei der Ausarbeitung sind mir vor allem zwei Denkrichtungen wichtig gewesen, teils weil sie mich dazu gezwungen haben, die eigene Position neu zu durchdenken, teils weil sie mir neue Wege des Verständnisses eröffnet haben. Es sind einmal die Arbeiten von K. Popper zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis; es sind zum anderen diejenigen der „neuen Topik oder Rhetorik", also vor allem die Werke von Ch. Perelman, Th. Viehweg und Toulmin, welche mir neue Wege gezeigt haben. Frankfurt, den 4. 2. 1969
Helmut
Coing
INHALT Einleitung
1
Kapitel I: Hauptlehren der Rechtsphilosophie I. Antike 1. Die Sophisten 2. Piatons Lehre von der Gerechtigkeit der Idee 3. Aristoteles' Phänomenologie des Gerechten 4. Das Naturrecht der Stoa
3 3 10 13 18
II. Christliche Rechtslehren 1. Grundsätzliches 2. Thomas von Aquin 3. Augustin 4. Luthers Lehre von den zwei Reichen
22 22 24 25 26
III. Souveränität und Staatsraison 1. Allgemeines zur Renaissancephilosophie 2. Machiavelli 3. Jean Bodin
28 28 29 30
IV. Das Naturrecht der Aufklärung 1. Einleitung 2. Die Theorie des aufgeklärten Absolutismus 3. Die Theorie der Menschen- und Bürgerrechte 4. Kant: Philosophie der Freiheit
31 31 33 34 35
V. Die Moderne: Die Entdeckung der Geschichtlichkeit 1. Rechtsphilosophie und politische Bewegungen 2. Wendung zur Geschichte 3. Historisches Recht gegen Revolution: Burke 4. Die historische Rechtsschule: Savigny 5. Geschichte als Entfaltung der Vernunft: Hegel VI. Die Moderne: Die ökonomisch-soziologische schauung 1. Interessenjurisprudenz: Bentham 2. Marx 3. Die Ideologielehre
Rechtsan-
36 36 37 39 42 44 48 49 51 55
χ
Inhalt
VII. Die Moderne: Das neue biologisch-psychologische Menschenbild 1. Die Rassenlehre 2. Die psychologischen Reduktionstheorien 3. Wirkungen auf die Rechtsanschauung
55 55 56 57
VIII. Die Moderne: Positivismus und Formalismus 1. Der philosophische Positivismus 2. Anwendungen im Recht: Realismus 3. Anwendungen im Recht: Die formalen Rechtslehren . . . . a) Allgemeine Rechtslehre b) Reine Rechtslehre Kelsens c) Der Neukantianismus: Stammler 4. Der allgemeine juristische Positivismus 5. Der Relativismus
59 59 63 64 64 65 71 76 78
IX. Zur gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion 1. Fortwirken der Ansätze der Moderne: Marxismus und Utilitarismus 2. Wissenschaftstheorie und Rechtstheorie 3. Der systemtheoretische Ansatz 4. Theorie der Gerechtigkeit
85 85 86 87 91
Kapitel II: Grundlagen des eigenen Ansatzes I. Der Erkenntniswert der Geisteswissenschaften II. Die Rationalität der Ethik
95 108
III. Die Reduktionstheorien
122
IV. Zur Kritik Luhmanns
126
V. Zusammenfassung
128
Kapitel III: Das Recht als Kulturerscheinung I. Allgemeine Fragen 1. Recht als universale, aber nicht einheitliche Erscheinung 2. Allgemeine Entwicklungsgesetze? 3. Rechtsübernahmen 4. Verschiedene Bedeutung in den einzelnen Kulturen 5. Typen des Rechts 6. Erscheinungsformen des modernen Rechts II. Ziele der Rechtsbildung und ihre Verwirklichung 1. Grundthemen der rechtlichen Ordnung
131 131 132 133 135 136 138 141 141
Inhalt
2. 3. 4. 5.
Ziele der Rechtsbildung: Friede Ziele der Rechtsbildung: Sicherheit Gerechtigkeit und Freiheit Verwirklichung des Rechts
XI
142 145 149 155
III. Das Recht im Rahmen der Gesamtkultur 1. Recht und Wirtschaft 2. Recht, Religion und Sittlichkeit 3. Recht und intellektuelle Entwicklung 4. Das Recht und die Grundformen sozialer Beziehungen . . .
158 158 163 168 170
IV. Zusammenfassung
177
Kapitel IV: Die Grundlagen des Rechts I. Natur der Sache II. Sittliche Grundlagen 1. Gerechtigkeit 2. Freiheit 3. Treue 4. Recht als Wertsynthese
181 192 192 196 202 202
III. Das Naturrecht 1. Recht als Wertverwirklichung 2. Naturrecht — Grundsätze der Gerechtigkeit 3. Das Problem überhistorischer Ordnungssätze 4. Unvollständigkeit der Gerechtigkeitssätze? 5. Empirische Momente in den Sätzen der Gerechtigkeit.... 6. Sätze der Gerechtigkeit und Geschichte 7. Naturrecht und positives Recht 8. Zusammenfassung
202 202 203 204 208 209 210 211 214
IV. Grundsätze der Gerechtigkeit im einzelnen 1. Iustitia commutativa 2. Iustitia distributiva 3. Iustitia protectiva 4. Verhältnis der Prinzipien 5. Die Menschenrechte 6. Grundsätze des Verfahrens 7. Sätze der Gerechtigkeit als System?
215 215 217 220 223 224 228 230
V. Zur Ordnung des Staates 1. Wesen des Staates 2. Wertjdes Staates 3. Idealstaat
231 231 234 240
XII
Inhalt
4. Rechtsstaat 5. Zum Problem der Strafe 6. Zum Problem der Wehrpflicht VI. Zur Ordnung der Wirtschaft 1. Recht und Wirtschaft 2. Das Problem der gerechten Wirtschaftsordnung 3. Lösungsgesichtspunkte
245 247 252 253 253 257 266
Kapitel V: Das positive Recht und seine Geltung I. Wesenszüge des positiven Rechts 1. Definition 2. Recht als Abgrenzung von Lebenssphären und Regelung der Kooperation 3. Die rechtliche Regel 4. Die Bewertung als Grundlage der rechtlichen Regel 5. Das Nebeneinander verschiedener Rechtsgemeinschaften . 6. Autorität des positiven Rechts; Zwangstheorie des Rechts 7. Positives Recht und soziale Macht 8. Grenzen der Bindung des Richters an das positive Recht . . II.' Das Problem der Rechtsgeltung 1. Ausgangspunkte 2. Befehlstheorie 3. Anerkennungstheorie 4. Einwände 5. Stellungnahme: Positives Recht als ideales Sein
271 271 274 277 280 282 284 286 289 292 292 293 295 296 298
Kapitel VI: Das juristische Denken I. Grundsätzliches II. Historische Typen juristischen Denkens 1. Römische Juristen 2. Scholastische Rechtswissenschaft 3. Deutsche Pandektistik 4. Ecole de l'exégèse in Frankreich 5. Zum Denken des anglo-amerikanischen Juristen
301 304 305 307 308 312 314
III. Die Auslegung einer Kodifikation 1. Grundsätze der allgemeinen Hermeneutik 2. Grundsätze der juristischen Auslegung
319 319 322
IV. Die Anwendung des Gesetzes 1. Verhältnis von Auslegung und Anwendung
331 331
Inhalt
XIII
2. Gesetzesanwendung als Subsumtion 3. Kritik dieser Auffassung 4. Richter und Gesetz
332 333 336
V. Rechtsfortbildung durch den Richter 1. Historisches 2. Dreifache Aufgabe des Richters 3. Lückenproblem und juristische Logik 4. Schließung der Lücke durch den Richter 5. Zusammenfassung
339 339 340 340 344 346
VI. Die Rechtswissenschaft 1. System der aporetischen Denkweise 2. Zum juristischen System 3. Methoden der Rechtswissenschaft 4. Wissenschaftlicher Charakter der Rechtswissenschaft . . . .
348 348 350 354 355
Schlußbemerkung
357
Namensverzeichnis
361
Sachverzeichnis
367
ABKÜRZUNGEN aaO.
Am angegebenen O r t
AcP Art.
Archiv für civilistische Praxis
BGH BGHZ BGHSt C CCS D Gött. Gel. Anz. JZ KG NJW
Q RE RG RGZ Rn. SJZ Sp. Suppl. SVF SZ (Germ.Abt.) SZ (Rom.Abt.) ZHR
Artikel Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Codex Code Civil Suisse Digesten Göttingische Gelehrte Anzeigen Juristenzeitung Kammergericht Neue Juristische Wochenschrift Quaestio Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer Süddeutsche Juristenzeitung Spalte Supplement Stoicorum Veterum Fragmenta Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung) Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung) Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht
EINLEITUNG „Was ist Redit? Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologie verfallen, oder statt einer allgemeinen Auflösung auf das, was in irgendeinem Lande die Gesetze zu irgendeiner Zeit wollen, verweisen will, ebenso in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit? den Logiker. Was Rechtens sei {quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er noch wohl angeben: aber ob das, was sie wollten, aucb redit sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen . . ," 1 In diesen Sätzen stellt Kant die Frageweise der Rechtsphilosophie derjenigen der Jurisprudenz gegenüber. Diese interessiert, was hic et nunc reditens ist; jene fragt danach, was das Recht sei und was es sein solle. Die Frage, was Recht eigentlich sei, führt schnell zu einer Reihe von weiteren Problemen. Denn man kann die Antwort in sehr verschiedenen Richtungen sudien. Man kann etwa das Recht als Inbegriff von Normen mit Normen anderer Art, etwa denen der Sittlichkeit, vergleichen und nach dem unterscheidenden Merkmal fragen, das das Recht auszeichnet. Vielleicht ist es der Umstand, daß das Recht mit Zwang verbunden ist. Man kann in die Praxis des Rechtslebens sehen und sich dann vielleicht fragen, ob das Recht gar nicht in Normen, sondern im Verhalten einer bestimmten Gruppe von Menschen innerhalb der Gesellschaft oder in Aussagen über ihr Verhalten besteht. „The prophecies of what the courts will do in fact . . . are what I mean by the law" hat ein berühmter amerikanischer Richter gesagt. Man kann sich zur Geschichte wenden und sich fragen, ob das Recht nicht das — vielleicht notwendige — Ergebnis ihrer Entwicklung sei, einer Entwicklung, die sich nach bestimmten Gesetzen, in der Abfolge bestimmter Epochen, bestimmter Wirtschaftssysteme vollzieht. Man kann versuchen, die Stellung des Rechts in der Gesamtheit der Kultur zu untersuchen, und sieht sich dann vor Fragen gestellt, wie 1 Kant, Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre (Inselausgabe von Weischedel Band 4), S. 336.
2
Einleitung
die, ob das Recht etwa als Ausdruck der Gestaltung der Produktionsverhältnisse, als deren „Überbau" verstanden werden kann. Man kann die Ziele untersuchen, die der Mensch mit den rechtlichen Ordnungen verfolgt; in diesem Zusammenhang werden Begriffe wie Freiheit und Gerechtigkeit auftauchen. „We hold these truths to be self evident: that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. — That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed." 2 Mit soldien Sätzen werden wir zu der Frage geführt, was Recht sein solle. Was ist Gerechtigkeit? Läßt sich ihr Inhalt bestimmen, oder bleibt es auch für die Gerechtigkeit bei der skeptischen Frage des Pilatus? In engem Zusammenhang mit den beiden Grundfragen stehen auch diejenigen nach der Eigenart der juristischen Methode in Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft. Was heißt eigentlich, ein Gesetz anwenden? Was bedeutet es, wenn wir von einem System des Rechts sprechen? Was ist die Eigenart juristischer Argumentation? Alle diese Fragen haben gemeinsam, daß sie für das Recht als allgemeines Kulturphänomen, nicht für eine bestimmte Rechtsordnung gestellt werden. Folglich muß der Blick, wenn man eine Antwort sucht, über das eigene Rechtssystem hinausgehen. Und sie lassen sich auch nicht beantworten, ohne daß man Bezirke betritt, die außerhalb der Untersuchungen der Jurisprudenz als Fachwissenschaft liegen. Der deutsche Jurist findet in § 157 BGB die Anweisung, Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben es erfordern. Er tut es; aber er kümmert sich nicht um die Theorie der Werte. Der Richter legt das Gesetz nach einigen herkömmlichen Gesichtspunkten und Maximen aus; deren Grundlagen in einer Theorie der Hermeneutik kümmern ihn in der Regel nicht. Wir sprechen davon, daß bestimmte Änderungen in der Technik neue Regelungen „hervorgerufen" haben: aber wie ist der Vorgang der Rechtsschöpfung in Wahrheit abgelaufen? Solche Fragen gehen auf Probleme, die die positive Rechtswissenschaft sich nicht zu stellen braucht; ihr genügt, daß Gesetze da sind, daß Auslegungsregeln vorhanden sind. Sie bewegt sich — wie alle Fachdisziplinen — im Rahmen von Ausgangspositionen, die für sie feststehen, die sie nicht zum Problem zu machen braucht. Demgegenüber führt die Rechtsphilosophie, indem sie gerade jene Ausgangspositionen zum Problem macht, notwendig in allgemeine 2
Declaration of Independence.
Einleitung
3
Fragestellungen, mit denen sich- die Philosophie beschäftigt und die Kant in die Sätze zusammengefaßt hat: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Die Rechtsphilosophie muß also, ohne auf die Erkenntnisse zu verzichten, welche die Redits Wissenschaft in ihrem Bereich erarbeitet hat, notwendig über deren Grenzen hinausgehen; sie verknüpft die besonderen Probleme, welche die Kulturerscheinung des Rechts bietet, mit den allgemeinen und grundsätzlichen Fragen der Philosophie. Auf die Fragen, die die Rechtsphilosophie stellt, sind im Laufe der Entwicklung unserer Kultur Antworten entwickelt worden. Und genau, wie die Fragen, um die es sich handelt, in solche von allgemein philosophischer Natur einmünden, sind auch die Antworten auf der Grundlage der allgemein philosophischen Lehren ausgearbeitet worden, welche als Antwort auf jene allgemeinen Fragen entworfen waren. Dort, nicht in der eigentlich rechtlichen Erfahrung, haben sie meistens ihre Basis. Die Rechtsphilosophie ist daher eng mit der Entwicklung der allgemeinen Philosophie verknüpft. Mit der Entwicklung solcher „Antworten" in Form von Theorien und Systemen hat sich Tradition — oder wir sollten lieber sagen: Traditionen — gebildet, genau wie in der allgemeinen Philosophie. Das Vorhandensein einer derartigen Tradition verändert aber stets den Charakter einer Disziplin und ihrer Probleme. Theorien und Systeme können gelehrt und tradiert werden; sie können dann zwischen den Forscher mit seiner Frage und das eigentliche Ausgangsproblem treten: der Forscher sieht das Problem von vornherein in der Weise, wie das System, das er „gelernt" hat, es angesehen hat; seine Theorie kann ihm seine Arbeit erleichtern, kann ihm aber auch den Weg zu ursprünglicher, unmittelbarer Fragestellung verstellen. Dann treten Theorienkämpfe an Stelle ursprünglicher Problemerörterung. Der Enkel hat es oft schwerer, an die eigentlichen Fragen heranzukommen; er sieht sich zunächst vor fertige Theorien gestellt. Diese Theorien bestimmen bereits die Sprache, in der er denkt, in deren Rahmen er sich mit den Problemen auseinandersetzt; er kann ihnen also nie gänzlich entrinnen; er muß sich mit ihnen auseinandersetzen. Für diese Auseinandersetzung muß er vor allem versuchen, sich immer gegenwärtig zu halten, welche Fragen eine bestimmte Lehre ursprünglich beantworten sollte — das Bewußtsein davon kann bei deren Tradierung über lange Zeiten oft verloren gehen — und auf welchen Grundanschauungen sie beruht. Bei dieser letzten Frage wird er sich einer Eigentümlichkeit des mensdilichen Denkens erinnern müssen, die immer wieder im Erkenntnisprozeß auftritt und uns in die Irre führen kann; es ist die Tendenz, neue Einsichten absolut zu setzen.
4
Einleitung
Das 18. und das 19. Jahrhundert haben, um ein Beispiel zu geben, die Geschichtlichkeit der menschlichen Kultur entdeckt: und sogleich hat die historische Rechtsschule in der Geschichte (von der sie eine ganz bestimmte Vorstellung hat) den entscheidenden Faktor der Rechtsbildung gesehen. Das folgende Buch beginnt daher mit der Darstellung einiger wichtiger rechtsphilosophischer Theorien in ihren Grundzügen (Kap. I). Die beiden folgenden Kapitel versuchen, die Gesichtspunkte zu entwickeln, in denen der Verfasser die Gründe für seine Stellungnahme sieht. Auf dieser Grundlage werden sodann drei Grundfragen der Rechtsphilosophie behandelt: die Fragen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, nach dem Wesen des positiven Redits und nach der Eigenart juristischen Denkens.
KAPITEL I H A U P T L E H R E N DER
RECHTSPHILOSOPHIE
Die Rechtsphilosophie der Gegenwart ist das Resultat einer langen Entwicklung. Wie alle Philosophie 1 , so ist audi die Rechtsphilosophie in einer Folge von Fragen und Antworten geworden. Im Ergebnis liegt ein umschreibbarer Kreis von zusammenhängenden Problemen und Lösungsversudien vor; durch sie wird das Feld der Rechtsphilosophie heute abgesteckt. In diesem Felde bewegt sie sich, und wer ihr Anliegen, ja ihre Sprache begreifen will, m u ß eine Vorstellung davon haben, wie die wichtigsten Fragen und die darauf gegebenen Antworten aussehen. In den folgenden Ausführungen wird der Versuch gemacht, einen Uberblick über diesen Problemkreis zu geben. Es erschien zweckmäßig, ihn historisch anzulegen, d. h. zu zeigen, wie die rechtsphilosophischen Probleme geschichtlich nacheinander hervorgetreten sind: Es leuchtet ein, d a ß es kein Zufall ist, in welchem Zeitpunkt eine bestimmte Frage hervortritt; die gegebene Situation bestimmt die Frage wie die Antwort, und ein Hinweis auf sie ist f ü r die zu suchende eigene Stellungnahme von Wichtigkeit. Andererseits wäre es ein Mißverständnis, das Folgende als eine Geschichte der Rechtsphilosophie anzusehen 11 : das kann es nach Umfang und Anlage nicht sein; es ist nur eine geschichtliche Hinleitung zu den Problemen lb . I. 1. Die Rechtsphilosophie ist in unserer Kultur im antiken Griechenland entstanden. Von den Griechen ist zuerst die Frage nach dem Wesen des Rechts gestellt worden; die Griechen haben A n t w o r ten gegeben, die noch die heutige Diskussion mitbestimmen. Das Recht wurde in Griechenland zum Problem, als im 5. J a h r h u n dert v. Chr. die ursprünglich auch dort herrschende, gemeinarchaische I
Dazu Collingwood, An Autobiography (Deutsche Ausgabe 1955) Kap. V. Zur Geschichte der Rechtsphilosophie bis zum 17. Jahrhundert vgl. M. Villey, La formation de la pensée juridique moderne (1960/1966). lb Eine sehr gut aufgebaute problemorientierte Übersicht gibt Zippelius in seiner Schrift „Das Wesen des Rechts". II
6
Kapitel I
Auffassung in Frage gezogen wurde, wonach das Recht bindende, gute alte Uberlieferung ist, die, dem einzelnen Staatswesen von Göttern und Heroen gegeben und von ihnen gesdiützt, hoch über der Willkür menschlichen Willens und Planens steht. Dieses „In-FrageStellen" des Redites hängt mit mancherlei Faktoren zusammen: mit der größeren Kenntnis von der nichtgriechischen „barbarischen" Umwelt und von deren andersartigen Gesetzen und Bräuchen; mit der politischen Krise der Adelsherrschaft, dem Heraufkommen von Tyrannis und Demokratie in den griechischen Städten und den damit verbundenen Rechtsumwälzungen; aber bewußt gestellt worden ist die Frage von den Sophisten. Die Sophisten traten als Lehrer des lebensnotwendigen Wissens auf; ihr Ziel war der Bürger von umfassendem Wissen. Sie lehrten insbesondere audi die Redekunst, die Rhetorik 2 . Sie entwickelten keine einheitliche philosophische Lehre. Aber viele Sophisten verbanden mit der Übermittlung des von ihnen gebotenen Wissens die Kritik an der Uberlieferung, an den Anschauungen, in denen das griechische Volk bis dahin gelebt hatte. Insofern haben sie manche Züge mit der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts gemeinsam 3 . Schon die Beschäftigung mit der Rhetorik mußte die Sophisten zu der Erkenntnis führen, die Protagoras (etwa 485—415) ausgesprochen hat, daß sich zu jeder Frage zwei Standpunkte entwickeln lassen und daß es mit rhetorischen Mitteln möglich ist, die schwächere Sadie zur stärkeren zu machen 4 . Aber ihre Kritik ging weiter. Der gleiche Sophist Protagoras bezweifelte die Existenz der Götter — er könne nicht sagen, ob sie existierten oder nicht existierten 5 , — und stellte den berühmten Satz auf, der (einzelne) Mensch sei das Maß aller Dinge 6 . 1
vgl. Kroll,
Rhetorik, R E Suppl. VII (1940), Sp. 1043 ff.
3
Die Schriften der Sophisten sind uns nur in Fragmenten erhalten; z . T . sind uns ihre Ansichten aus den Schriften Späterer, z. B. des Piaton, bekannt. Wichtigste Ausgabe Diels-Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. II (6. Aufl. 1952) Nr. 79 ff. (S. 252 ff.); Auswahl in Übersetzung bei Capelle, Die Vorsokratiker (3. Aufl. 1940), S. 317 ff.; geschichtliche Darstellung (auch im übrigen für die antike Rechtsphilosophie zu vergleichen) bei ÜberwegPraechter, Die Philosophie des Altertums (12. Aufl. 1926), S. 112 ff.; E. Wolf, Griechisches Rechtsdenken II (1952), S. 9 ff.; Verdroß-Droßberg, Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie (2. Aufl. 1948), S. 40 ff. 4 5 β
vgl. zu dieser Ansicht des Protagoras Aristoteles, Rhetorik 1402 a. vgl. Diels-Kranz II N r . 80 (S. 265) Fragm. 4. Überliefert bei Piaton Theaetet 1 5 1 e / 1 5 2 a und 166 d. Zur Interpretation
7
Hauptlehren der Rechtsphilosophie
In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage gestellt, was gerecht sei und was es mit dem Rechte auf sich habe. Die Antworten lauten bei den einzelnen Sophisten verschieden. Häufig wird gelehrt, so ζ. B. von den Sophisten Hippias (geb. nicht vor 460) und Antiphon (5. Jahrhundert) 7 , gerecht sein bedeute das gesetzte Recht (τα νόμιμα) nicht übertreten. Aber dieses gesetzte Recht hat nidits wesenhaft Gutes oder Bleibendes an sich; es beruht auf (mehr oder weniger willkürlicher) Satzung oder Ubereinkunft; die Gesetze werden geändert; es gibt demnach wechselnde Anschauungen über das, was gerecht ist 8 . Die Gesetze sind also keine heilige Satzung, sondern dienen bestimmten Zwecken und Interessen: etwa dem Nutzen der Mächtigen 9 , oder auch dem Schutze der Masse der Schwachen 10 . Andererseits kennen manche Sophisten auch den Begriff der ungeschriebenen Gesetze, der άγραφοι νόμοι, die unabhängig von allem positiven Recht gelten 11 . Aus dieser neuen „realistischen" Einschätzung des Rechts werden ζ. T. zynische Folgerungen gezogen: Antiphon 1 2 lehrt, nur wo man Zeugen habe, müsse man das Recht halten, denn die unentdeckte Tat bliebe straflos. Kritias (einer der sogen. 30 Tyrannen des Jahres 404 in Athen, gest. 403) meinte, deshalb habe man den Götterglauben erfunden, damit auch der Unbeobachtete sich unter Aufsicht wisse13. Bei ihrer Diskussion über das Recht bedienen sich die Sophisten einer Antithese, die im griechischen Denken des 5. Jh. auch sonst, des Satzes vgl. E. Wolf aaO., S. 21 ff. ; nach der Überlieferung bei Sextus Empiricus adv. math. VII 60 (Text auch bei Diels-Kranz II N r . 80, S. 262/ 263, Fragm. 1) und Piaton aaO. möchte ich an der allgemeinen Bedeutung „aller Dinge" festhalten. 7 Ähnlich äußert sich Protagoras bei Piaton Theaetet 166 d; zu Hippias vgl. E. Wolf II, S. 76 ff.; zu Antiphon vgl. Stenzel RE Suppl. IV (1924), Sp. 33-43; E. Wolf II, S. 87 ff. 8
vgl. Protagoras bei Platon Memorabilien IV 4, 14.
Theaetet
172 b; Hippias
bei
Xenophon
» So Thrasymachos (lebt 431 in Athen — zu ihm E. Wolf II, S. 103 ff.) bei Piaton Politeia 338 c: τό δίκαιον ούκ £λ λο τι ή τδτοΟ κρε(τΐο·,ος συμφέρον 10
So Kallikles
bei Platon,
Gorgias 483 b/c.
11
So z . B . Hippias, freilich in einem Dialog mit Sókrates: Xenophon Memorabilien, IV 4, 19. 12
In seiner Schrift Περί άληϊείοις (Über die Wahrheit), von der uns Fragmente auf Papyrus erhalten sind; Text bei Diels-Kranz II N r . 87, S. 346 ff. (Fragm. 44 A). 13
vgl. Diels-Kranz
II N r . 88, S. 386/387 (Fragm. 25).
Kapitel I
8
etwa in der Sprach- und Kulturtheorie, verwendet wurde 14 , die aber im rechtsphilosophisdien Denken besonders bedeutsam werden sollte: der Gegenüberstellung von „Satzung" oder „Konvention" (νό;ιο:, θέσις) und „Natur" (φύσις) und folglich dessen, was von Natur und Wesen ist, und dessen, was menschliche Satzung festgesetzt hat. Diese Unterscheidung ist die letzte Wurzel des Begriffs des Naturrechts. Dabei wird Natur von ihnen ζ. T. durchaus im biologischen Sinne verstanden. Die Folgerungen, die an Hand dieses Gegensatzes entwickelt werden, sind sehr verschieden. Der soeben erwähnte Antiphon entwickelt daraus den Gedanken der natürlichen (weil körperlichen) Gleichheit gegenüber dem Gedanken der Ehrfurcht vor dem Adel 15 . Piaton läßt dagegen den Kallikles die natürliche Überlegenheit des Starken über die von den Gesetzen beschützten Schwachen hervorheben 16 . Eindrucksvoll ist die Schilderung der Macht und Freiheit des Natürlichen, der φύσις, gegenüber der Fessel des Rechts bei Antiphon; sie lautet in der Übersetzung von v. Arnim 1 7 : „Gerechtigkeit besteht darin, die Satzungen des Staates, in dem man Bürger ist, nicht zu übertreten. Am meisten Nutzen für sich wird ein Mensch dann aus der Anwendung der Gerechtigkeit ziehen, wenn er vor Zeugen den Satzungen die Ehre gibt, wo er dagegen allein und ohne Zeugen ist, den Geboten der Natur. Denn die gesetzlichen Gebote beruhen auf Willkür, die der Natur auf Notwendigkeit; die gesetzlichen sind vereinbart, nicht gewachsen, die der Natur gewachsen, nicht vereinbart; wer daher die gesetzlichen Gebote übertritt, bleibt, wenn nur ihre Vereinbarer es nicht bemerken, von Schande und Strafe frei, wenn sie es bemerken, nicht; wer dagegen eines der mit ihm geborenen Gesetze der Natur über seine Kraft zu vergewaltigen sucht, erleidet, wenn es auch allen Menschen verborgen bleibt, dadurch keinen geringeren Schaden, und wenn es auch alle Menschen merken, dadurch keinen größeren Schaden. Denn nicht durch bloße Meinung wird er geschädigt, sondern durch die Wahrheit. Man muß diese ganze Frage aus dem Grunde untersuchen, weil die meisten gesetzlichen Rechtsforderungen in einem der Natur feindseligen Sinne aufgestellt sind. Es ist gesetzlich verordnet für unsere Augen, was sie sehen sollen und was nicht, ]/|
vgl. Helnimanrt, Nomos und Physis (1945).
15
vgl. Diels-Kranz
14
vgl. Piaton Gorgias 483d/484a.
II Nr. 87, S. 352/353 (Fragm. 44 B).
17 v. Arnim, Gerechtigkeit und Nutzen in der Griechischen Aufklärungsphilosophie, Frankfurter Universitätsreden 1916 V, S. 5 f.; der Text bei Diels-Kranz II Nr. 87, S. 346 ff. (Fragm. 44 A).
Hauptlehren der Rechtsphilosophie
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und für unsere Ohren, was sie hören sollen und was nidit, und für unsere Zunge, was sie reden soll und was nicht, und für unsere Hände, was sie tun sollen und was nicht, und für unsere Füße, wohin sie schreiten sollen und wohin nicht, und für unsere Seele, was sie begehren soll und was nicht. Nicht naturfreundlicher und nicht naturgemäßer sind die Warnungen als die Mahnungen der Gesetze an die Menschen. Über ihr Leben aber und über ihr Sterben waltet die Natur. Das Leben kommt ihnen von den nützlichen Dingen, das Sterben von den schädlichen. Was die Gesetze für nützlich erklären, ist Fesselung der Natur, was die Natur selbst für nützlich erklärt, vollzieht sich in Freiheit." Diese Auffassungen der Sophisten wirken ζ. T. erstaunlich modern. Erinnern die Bemerkungen mancher politisch reaktionärer Sophisten wie des Kritias oder des platonischen Kallikles an Nietzsche, so diese des Antiphon an S. Freuds „Unbehagen in der Kultur"! So umstürzend wie ihre allgemeinen Theorien vom Recht waren die Einzellehren mancher Sophisten. Wir sahen schon, wie Antiphon die Berechtigung der ständischen Unterschiede, in der die griechische Gesellschaft sich entwickelt hatte, in Zweifel zog; andere leugneten den für den Griechen des 5. Jh. noch viel elementareren Unterschied zwischen Griechen und Barbaren oder zwischen Herren und Sklaven 18 . Protagoras lehrte, die Strafe habe den rationalen Zweck, künftige Straftaten zu verhindern 19 . Im ganzen bringt die „griechische Aufklärung" des 5. Jh. zugleich mit neuen Fragen eine Fülle von rationalen Erklärungen, aber auch von vielfach widerspruchsvollen, manchmal willkürlich und eben im schlechten Sinne „sophistisch" anmutenden Aufstellungen 20 . vgl. Protagoras bei Piaton, Protagoras 337 c; zur natürlichen Freiheit aller: Alkidamas in der sogen. „Messenischen Rede" (nadi 362), vgl. Scholion zu Aristoteles Rhetorik 1373 b. — Freilich sprach Alkidamas hier im Hinblick auf die unterjochten Messenier. 1> vgl. Piaton, Protagoras 324. ä0 Als Beispiel diene die folgende These Antiphons in seinem Budi über die Wahrheit (Dieb-Kranz II Nr. 87, S. 353 ff. Fragm. 44 I-II): „Wenn das Redit ernst genommen wird, so gilt das Bezeugen der Wahrheit untereinander als geredit und ebensosehr als nützlidi für die Geschäfte der Mensdien. Und doch kann, wer das tut, nicht geredit sein, da ja geredit heißt: keinem Unrecht und Schaden zufügen, wenn man nicht Unrecht und Sdiaden erleidet. Notwendigerweise muß ja der Zeuge, audi wenn er die Wahrheit bezeugt, einem andern irgendwie Schaden zufügen und selbst später wieder Sdiaden erleiden für das, was er aussagte, dadurch nämlich, daß wegen seiner Zeugenaussagen der durch das Zeugnis Belastete verurteilt wird und Geld oder 18
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2. Eine Gegenbewegung gegenüber der Sophistik hat Sokrates (470 bis 399) eingeleitet. Wir wissen wenig von ihm als historischer Gestalt 21 . Aber gesichert ist wohl zweierlei. Sokrates hat, nach dem Ausdruck Ciceros (Tusculum V. 4), die Philosophie v o m Himmel auf die Erde zurückgeholt; sein Interesse hat der Ethik, nicht der N a t u r philosophie gegolten. U n d in der Ethik hat er gegenüber der Vielfalt subjektiver Ansichten, wie sie die Sophistik entwickelt hatte, nach festen Bestimmungen gesucht, hinter den Worten und Meinungen über das Gerechte und Gute nach einer festen inhaltlichen Anschauung 22 . Für die Rechtsphilosophie ist damit die Frage nach dem Wesen des Gerechten und nach seiner richtigen Bestimmung durch Definition entstanden. Eine Antwort auf diese Frage hat Piaton ( 4 2 7 — 3 4 7 ) mit seiner Ideenlehre gegeben. Die platonische Ideenlehre hat in der Forschung der letzten Jahrzehnte eine neue Interpretation erfahren. Am Anfang unseres Jahrhunderts herrschte unter dem Einfluß der neukantisdien Philosophie 2 * eine Lehre vor, welche die Idee im Sinne höchster Begriffe verstand. Demgegenüber hat eine neuere, die Entwicklung der Logik und ihre allmähliche Abspaltung von der Spradie verfolgende Theorie 24 zwei Phasen in der Entwicklung der Ideenlehre zu unterscheiden versucht : Eine frühere, in der der Gedanke der unmittelbaren Anschauung des als einheitlich gedachten Guten vorherrscht, und in der die
Leben verliert wegen dessen, dem er gar kein Unrecht zufügt. Also dadurch fügt er dem Belasteten Unrecht zu, daß er diesen, der ihm selbst gar kein Unrecht tut, solches zufügt, und er selbst erfährt wieder solches durch den Belasteten, weil er von ihm gehaßt wird, auch wenn er die Wahrheit bezeugt hat. Und nicht nur durch den Haß, sondern auch weil er sein ganzes Leben hindurch vor dem auf der H u t sein muß, den er durch das Zeugnis belastete. So steht denn für ihn ein Feind bereit, der ihm durch Wort und Tat, wenn er kann, Schlimmes antun möchte. Wahrlich, das erscheint nidit als geringes Unrecht, was er da selbst erleiden und was er zufügen kann." 21
Dazu vgl. Gigon, Sokrates (1947). D a f ü r haben wir das Zeugnis des Aristoteles, Metaphysik 1078 b, 987 b, und des Xenophon, Memorabilien 1. 1. 16. — Zur Ansidit der neueren Logikgeschichte über die Stellung des Sokrates vgl. Stemel, „Logik" RE X X V (1926) Sp. 991 ff. 22
23 vgl. dazu Natorp, Piatons Ideenlehre, eine Einführung in den Idealismus (1903). 21
vgl. vor allem Stenzel, Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles (2. Aufl. 1931); W. Jaeger, Besprediung von J. Stenzel, Zahl und Gestalt bei Piaton und Aristoteles, Deutsche Lit. Zeitung, 1924, Sp. 2046—2055.
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Idee zugleich Wertträger ist, und eine spätere, in weldier in der Idee vor allem das begrifflich Allgemeine gegenüber der Vielheit der Dinge gesucht wird, und die Bemühung vor allem seiner definitorischen Erfassung sowie der Unterscheidung der unter einen allgemeinen Begriff fallenden Unterarten gilt. In dieser späteren Phase Piatons und seiner Akademie steht das Ringen um die rechte Definition der Allgemeinbegriffe und der ihnen untcrfallcnden Arten im Mittelpunkt. Die Topik des Aristoteles hat uns von den Übungen in dieser Hinsicht noch ein Bild bewahrt 2 5 . In dieser Zeit wird die Methode der begrifflichen Unterscheidung von Arten, die unter einen gemeinsamen Oberbegriff fallen, der sogen, διαίρεσις entwickelt 28 , die für die Entwicklung der systematischen Wissenschaft so bedeutsam geworden ist27. Freilich bleibt audi in dieser Phase der Gedanke erhalten, daß uns in den „Ideen" Seinsstrukturen entgegentreten. — Mit allem Vorbehalt, der hier angebracht ist, könnte man von einer mehr metaphysisch-intuitiven und einer mehr logisch gerichteten Phase der Ideenlehre sprechen. In der ursprünglichen Fassung der Ideenlehre, wie sie uns im „Staat" entgegentritt, steht im Mittelpunkt die Idee des „Guten", des höchsten Wertes, dem zugleich höchste Schönheit zukommt. Gegenüber der fließenden Vielfalt der Wirklichkeit steht sie festgestaltet, ewig und gleichbleibend; die wahre Erkenntnis besteht darin, ihren Gehalt zu begreifen. Diese Idee ist zugleich der Kern des Seins, das wahre Sein. D i e Dinge der Wirklichkeit sind demgegenüber minderen Ranges. Ihr Verhältnis zu den Ideen ist das von Abbild und Urbild, von Schatten und Gestalt. Sie werden und vergehen: die Ideen bleiben. Sie sind der wahre Grund für die Existenz der Einzeldinge. Unsere Erkenntnis muß mühsam v o n dem schattenhaften Sein der Einzeldinge zur wahren Erkenntnis der Ideen aufsteigen. Das wird in dem berühmten Höhlengleichnis geschildert 28 . D a ß die Erkenntnis der Ideen und damit ein Wissen des Guten für den Menschen überhaupt möglich ist, erklärt Piaton durch eine tiefsinnige Erzählung, durch einen Mythos. Piaton vertritt die Lehre v o n der Unsterblichkeit und der Wanderung der Seelen. Bevor nun die menschliche Seele in eine neue irdische Existenz eingegangen 25 Zur historischen Einordnung der Topik vgl. jetzt Solmsen, Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik (1929); Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen (1965); / . Düring, Aristoteles, Darstellung und Interpretation seines Denkens (1966), S. 69. 26
Etwa Menschen — Freie — Sklaven. Zum Einfluß dieser Methode auf die spätere römische Rechtswissenschaft vgl. Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (1961), S. 73 ff. 28 Politela VII 514—517. 27
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ist, hat sie die ewigen Gestalten der Ideen schauen dürfen. So nimmt sie in das Leben eine Erinnerung, wenn auch eine dunkle, an die Ideen mit: sie weiß von daher (von einer früheren unmittelbaren Anschauung — a priori hat man später gesagt), was schön, gerecht und gut ist. Ihr Wissen darum ist unmittelbar und vorgegeben, ist Erinnerung (άνάμνησις), die im Nachdenken über den Begriff wieder entfaltet und neu erfaßt wird 2 9 . Insofern kann Piaton auch lehren, daß nur, wer selbst gerecht ist, das Gerechte erkennen kann 3 0 . Im Rahmen dieser Anschauung hat Piaton seine Ansicht vom Gerechten entwickelt; sie ist zugleich die Lehre vom wahren Staat. Denn am Staat, meint Piaton, als dem größeren Wesen können wir besser sehen, was das Gerechte ist, als am Einzelmenschen. Der Inhalt der Gerechtigkeit wird definiert als „jedem das ihm Zukommende geben" 31 . Was das bedeutet, schildert Piaton in seinem Buch über den Staat, dem ersten geschlossenen Entwurf eines Idealstaates. Piaton geht von der Einsidit aus, daß die Menschen nach Anlagen und Fähigkeiten verschieden sind. Gerechtigkeit herrscht daher, wenn irti Staat jeder die Tätigkeit ausübt, die Stellung einnimmt, die ihm nach seinen Fähigkeiten zukommt. Die Bürgerschaft seines Idealstaates wird daher in drei Gruppen gegliedert: Den Handwerker- und Bauernstand, den Wäditer- oder Kriegerstand und den Herrscherstand. N u r im Stande der Handwerker und Bauern, der „Lohngeber und Helfer", gibt es Privateigentum, ja überhaupt ein privates Dasein. Die beiden anderen Gruppen gehören ganz dem Staat; es gibt für sie kein Privateigentum, ja nicht einmal Familien; die Frauen sind gemeinsam. Die Kinder werden gleich nadi der Geburt dem Staat übergeben. Die Erziehung ist sorgfältig geregelt: Aus dem Wächterstand, als einer Elite, werden die Besten, die, welche fähig sind, die Ideen zu schauen, in den Herrscherstand aufgenommen, in die Reihe der Philosophen, die Könige sind. Denn so groß, so unmittelbar ist der Glaube an die Macht des Allgemeinen, der Ideen und ihrer Anschauung, daß Piaton im Wissen um sie, nicht im Wissen um tatsächliche politische und ökonomische Umstände, nidit in der Begabung zur Macht und im Wissen um ihre Gesetze, nicht in irgendeiner Art M
Die Άνάμνησις -Lehre ist namentlich entwickelt in dem platonischen Dialog Phaidon. 30 Epistula VII 344 a, 341 c—e. 81
τό προσήκον έκάοτφ άποδιδόναι, Politela I, 332 c in Fortentwicklung der Definition des Simonides: jedem des Geschuldete (nämlich vertraglich Geschuldete: τά ¿φερόμενα) geben.
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von Staatsraison oder politischer Wissenschaft das Rüstzeug des Herrsdiers sieht. Die Lehre von der Politik wird für ihn notwendig zur Lehre vom Idealstaat. Dem Aufbau des Staates entspricht der wohlgeordnete 32 Zustand des Menschen, in dem Wille und Tatkraft φυμοειδές) über die sinnlichen Triebe (έπιθυμητικόν), die das Gute erkennende Vernunft (λογιστικών) aber über den Willen herrscht33. Die Hierarchie des Staates hat also ein anthropologisches Vorbild. Piatons Staat ist die konsequenteste Durchführung des Gerechtigkeitsgedankens, in dem Sinne, daß jeder nach Anlage und Leistung seine Stellung in der sozialen Gemeinschaft erhält, und insofern in der Tat eine Explizierung seines Inhalts. Aber es fehlt gänzlich ein Element, das uns von der Gerechtigkeit untrennbar erscheint: die Freiheit hat in seinem Staat keinen Raum 34 . In seinem „Staat" hat Pia ton die erstë geschlossene Philosophie des Rechts geschaffen, eine Lehre, an der sich die Rechtsphilosophie immer wieder, bis in unsere Tage, orientiert hat 35 , weil sie eine mögliche Auffassung der Gerechtigkeit bis zu Ende gedacht hat. Die Definition des Gerechten: „Jedem das Seine" bildet bis heute den Ausgangspunkt jeden Nachdenkens über das Wesen der Gerechtigkeit. Die Staatslehre bleibt eine der großen Möglichkeiten, Staat und Gesellschaft zu denken: eine Möglichkeit, mit der sich jeder wieder auseinandersetzen muß, der über den Staat nachdenkt. Das erste System der Rechtsphilosophie ist zugleich eines der größten, das gedacht worden ist. Darüber hinaus bildet die Zuordnung der Vernunft zu den Ideen, der Gedanke, daß Vernunft heißt, vom Guten zu wissen, an das Gute sich erinnern lassen zu können, und die ihr zugehörige philosophische Anthropologie die Grundlage aller klassischen ethischen Lehren unserer Philosophie. Das großartige Bild von der Rechtsidee als der endgültigen und ewigen Gestalt der wahren Gerechtigkeit, die der Mensch in dieser Welt weder zur Gänze erkennt noch jemals verwirklicht und an der doch all' sein rechtsschöpferisches Tun 32
vgl. den Ausdruck κοαμεϊν in Politela IV 443 d.
38
vgl. Politela IV 435 b, 441 c.
34 Eingehende Kritik der platonischen Gedanken unter diesem Aspekt bei Popper, Der Zauber Piatons (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I 1957). 35 Es liegt außerhalb des Zweckes dieser Skizze, die Entwicklung dieser Gedanken im platonischen Denken selbst etwa zu den „Gesetzen" zu verfolgen.
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ausgerichtet ist, hat die Menschen nie losgelassen; noch im blassesten Festredenton von der verpflichtenden „Rechtsidee" klingt es nach 3 6 . 3. M i t Aristoteles ( 3 8 7 — 3 2 2 ) setzt eine neue Betrachtungsweise auch der Phänomene des Redits- und Staatslebens ein. Werner J a e g e r verdanken wir die Einsicht, daß und wie sich Aristoteles allmählich von den Lehren der platonischen Akademie, in der er 2 0 J a h r e gelebt hat, gelöst h a t 3 7 . D i e K r i t i k des Aristoteles galt vor allem der Ideenlehre 3 8 . An die Stelle des Gedankens von dem Reiche der ewigen, von der Wirklichkeit abgeschiedenen Ideen, von denen die Wirklichkeit nur ein unvollkommenes Abbild sei, t r a t bei ihm der Gedanke, d a ß in der Wirklichkeit selbst, in der Materie, in ihren zahllosen Formen Formgedanken wirksam seien; Materie und F o r m oder Struktur (δλη und είδος) durchdringen sich innerlich; wie das im pflanzlichen und tierischen Leben deutlich hervortritt, entwickelt sich das einzelne Wesen auf eine ihm vorgeordnete Gestalt (είδος) hin 3 9 . Alles ist also auf eine Gestalt hin geordnet. D a m i t erhielt die Wirklichkeit und das Wissen von ihr, die empirische Wissenschaft eine andere, neue Dignität. A u f dem Gebiete der biologischen Wissenschaften haben Aristoteles und seine Schule, der Peripatos, eine breite Forschungstätigkeit entfaltet. D i e gleiche Fragestellung leitet Aristoteles auch im Bereich seiner ethischen wie seiner rechts- und staatstheoretischen Untersuchungen 4 0 . I n der E t h i k geht Aristoteles nicht von der einen Idee des Guten aus 4 1 , sondern fragt nach dem höchsten Zweck, der für den Menschen als Vernunftswesen gilt. E r findet ihn in einer Tätigkeit der Seele, die der Tüchtigkeit entspricht (ένέργεια ψ υ χ ή ς κατ' άρε-
3 8 Stellungnahme zur Staatslehre Piatons in Kapitel IV Abschnitt V (insbes. unter Ziffer 3). 37
vgl. sein Buch: Aristoteles (1923, Neudruck 1955).
vgl. Metaphysik M 1078—1080. — Zur modernen Auffassung vgl. die Darstellung in J. Stenzel's Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles (2. Aufl. 1931). 3 9 vgl. Ross, Aristoteles (University-Paperback Edition), S. 78 ff. 38
40 Sie sind uns vor allem in drei seiner sogen. „Lehrschriften" erhalten, die als Ausarbeitungen für Vorlesungen angesehen werden, dabei aber erst lange nach dem Tod des Aristoteles, im 1. vordiristlichen Jahrhundert, herausgegeben sind, und Teilstücke aus verschiedenen Lebensepochen enthalten: den beiden Schriften über Ethik, der älteren sogen. Eudemisdien und der späteren Nikomadiischen, und der Politik. 41
vgl. die Kritik dieses platonischen Ansatzes, Nikomachisdie Ethik I. 6.
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τήν) 42 . Sie ist wertvoll um ihrer selbst willen, nicht als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke. Was nun aber Tüchtigkeit im einzelnen ist, das entwickelt Aristoteles im Blickpunkt auf den griechischen Staat seiner Zeit, die Polis 43 , und die Anschauungen seiner Zeit. So kommt er, statt die Anschauung der einen Idee des Guten wiederzugeben, zu einer eher deskriptiven Darstellung derjenigen Verhaltensweisen, die in seiner Zeit als ethisch ausgezeichnet galten; er gibt, mit anderen Worten, eine Beschreibung der ethischen Werte oder Tugenden (άρεταί), wie seine Zeit sie sah. Aristoteles unterscheidet die theoretische (erkennende) und die praktische (das menschliche Handeln bestimmende) Vernunft 4 4 . Zu dieser gehört das Wissen um die Tugenden. In der Darstellung der praktischen Tugenden, wie Tapferkeit (άνδρεία), Selbstbeherrschung (σωφροσύνη), Großgesinntheit findet sich nun auch eine klassische Beschreibung der Gerechtigkeit45. Die Gerechtigkeit ist nach Aristoteles eine soziale Tugend; sie bezieht sich auf unsere Stellung zu unseren Mitmenschen. Ebenso kann man aber audi den Zustand eines Gemeinwesens als gerecht oder ungerecht bezeichnen; dabei wird sie im Hauswesen anders sein als ini Staate. Charakteristisch für den Gerechten ist, daß er nicht mehr haben will, als ihm zukommt: das Mehr-haben-wollen, die πλεονεξία, ist ihm fremd. Im Gemeinwesen zeigt sich die Gerechtigkeit in der Gleichheit; niemand hat ohne Grund mehr als ihm zukommt. Die Analyse der Ordnung des Gemeinwesens führt Aristoteles zu einer grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei Erscheinungsformen der Gerechtigkeit. Es gibt einmal die Gerechtigkeit in den Rechtsbeziehungen der einzelnen untereinander. Sie besteht darin, daß wir Verträge, die wir eingegangen sind, erfüllen, in ihnen ein angemessenes Äquivalent zahlen, und für Rechtsverletzungen, die wir begangen haben, Ersatz leisten: dies ist die Vertrags- oder Austauschgerechtigkeit, das δίκαιον διορθωτικόν, später lateinisch „iustitia commutativa" genannt. Ihr steht die zuteilende Gerechtigkeit (δίκαιον διανεμητικών, später sogen, iustitia distributiva) gegenüber, welche 42
Nikomachische Ethik I. 7.15; I. 8.13.
43
D a z u vgl. vor allem ]. Ritter, Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles, Archiv für Redits- und Sozialphilosophie, 46. Band (1960), S. 179 ff. — Zum Naturrecht bei Aristoteles vgl. Michelakis, Das Naturrecht bei Aristoteles (ursprünglich 1959, jetzt abgedruckt bei Berneker, Zur griechischen Rechtsgeschichte 1968, S. 146 ίΐ.). 44
Aristoteles,
45
Buch V der Nikomachisdien Ethik.
Nikomachische Ethik I. 13.20.
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Ehren, Reichtum oder andere Güter innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, ζ. B. des Staates verteilt. Das Prinzip der ersten Gerechtigkeitsform ist der Ausgleich — durch die adäquate Gegenleistung im Vertrag, den angemessenen Ersatz bei Rechtsverletzungen; diesen Ausgleich schafft der Richter im Zivilprozeß. Für die zweite dagegen ist der Maßstab in den einzelnen Staatwesen nach ihrer Verfassung verschieden. In der Aristokratie ist es Abstammung und Reichtum; danach wurden Adel und Bürger verschieden behandelt. In der Demokratie aber ist es die Gleichheit der Bürger. Der Phänomenologie der Gerechtigkeit, die Aristoteles damit gibt, verdanken wir auch die erste eingehende Darstellung des Wesens der Billigkeit, der έπιείκεια 46 · Sie ist eine Form der Gerechtigkeit und besteht darin, daß man den Einzelfall nach seiner Eigenart unter Abweichung vom — zu weiten — Wortlaut des Gesetzes entscheidet; sie ist eine notwendige Ergänzung des Gesetzesrechtes, weil die Gesetze allgemein gefaßt sind und immer Lücken aufweisen werden. In all diesen Lehren zeigt sich Aristoteles als genauer Beobachter des wirklichen Rechtslebens, dessen Erscheinung er theoretisch durchleuchtet. So ist er sich denn audi über die Verschiedenheit der positiven Rechtsordnungen klar. Trotzdem lehnt er es ab, im Recht nur positive Satzung zu sehen. Vielmehr greift er die Lehre vom natürlich Gerechten auf und unterscheidet: In jedem Recht gibt es Bestimmungen, welche φύσει δίκαιον, von Natur her gerecht sind, und die der Gesetzgeber nicht anders hätte ordnen können, während andere nur auf positiver Bestimmung beruhen 47 . Das natürlich Gerechte lebt also in der positiven Ordnung. Es beruht auf vernünftiger Einsicht und findet sich gleichmäßig überall. Ähnlidi wie die Ethik ist auch die Politik des Aristoteles auf empirischer Grundlage aufgebaut. Aristoteles hat eine Sammlung von 158 Verfassungen angelegt; erhalten ist uns davon auf einem Papyrus die Darstellung der Athenischen Verfassung. So gibt er statt einer Idealstaatslehre im Sinne Piatons eine empirisch begründete Staatslehre, ein System der politischen Wissenschaft, könnte man sagen. Eingehend erörtert er die ökonomischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Gesichtspunkte, die für das Bestehen eines Staatswesens wichtig sind; er untersucht die Bedingungen seines Gedeihens ebenso wie die auslösenden Momente eines Verfassungsumsturzes. 46 47
Aristoteles,
Nikomachische Ethik V. 10; Rhetorik 1364 a/b.
Er führt als Beispiel die Verehrung des Heros Brasidas an; vgl. Nikomadiisdie Ethik V. 7.1 ff.
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Gleichmäßige Vermögensbildung, Vorherrschaft der Mittelklasse scheinen ihm für ein gutes Staatswesen wichtig. Die politischen Bewegungen seiner Zeit, des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, hatte er genau registriert. Scharf analysiert er die Eigenart, die Prinzipien der Staatsformen: Monarchie, Aristokratie und beschränkte Demokratie (πολιτεία) sind die guten (όρθκί πολιτεία'.) Verfassungen; Tyrannis (Diktatur), Oligarchie und unbeschränkte Demokratie ihre Verfallsformen. In der Demokratie herrsdien alle Freien, ohne Rücksicht auf ihr Vermögen. Ihre Prinzipien sind Gleichheit und Freiheit; Grundlage des Gleichheitsgedankens ist, daß, wenn die Menschen in manchen Eigenschaften gleidi sind, sie es in allem sein müßten 48 . Der Gedanke führt daher zur Herrschaft der Majorität. Demokratische Freiheit heißt, zugleich herrschen und gehorchen und sein privates Leben gestalten, wie man will 49 . In der Oligarchie dagegen herrsdien nicht die Eliten (wie in der Aristokratie), sondern die Reichen; ihr Prinzip ist, daß die Menschen, da sie nun einmal nicht gleich seien, es auch in politischer Hinsicht nicht sein dürften. Eine große Rolle spielen in den Soziallehren des Aristoteles anthropologische Gesichtspunkte. Biologe, der er als Forscher in erster Linie war, geht er von der grundlegenden Verschiedenheit der Menschen nach körperlichen und geistigen Anlagen aus. Es gibt Menschen, die von Natur dazu bestimmt sind, zu dienen und geleitet zu werden, wenngleich audi sie Vernunftwesen sind; sie sind »Sklaven von Natur", während andere zum Befehlen geboren sind 50 . Er sieht freilich, daß diese Sklaven von Natur mit denen, die nach dem positiven Recht seiner Zeit Sklaven waren, nicht notwendig identisch sind 51 , aber für die Lösung des damit gegebenen Problems gibt er keinen Hinweis. Ähnlich sieht er das Verhältnis von Mann und Frau anthropologisch bestimmt: dem Manne kommt nach seiner natürlichen Anlage die Herrschaft zu 52 . Endlich sind die Griechen — interessanterweise aufgrund klimatischer Bedingungen — sowohl den anderen Europäern wie den Asiaten überlegen 53 . Diese Anschauungen haben typisdie Bedeutung: wo immer in der Geschichte des Rechtsdenkens die rechtliche Fixierung ständischer oder kastenmäßiger Gliederung theoretisch gerechtfertigt werden soll, 48
Politika 1318 a; 1317 b.
4
50
Politika 1254 a.
51
52
» Politika 1317 b. Politika 1255 a.
Politika 1259 b. Aristoteles lehrt, daß der männliche Same Form und Wesen des Kindes bestimmt, während von der Frau nur die Materie (δλη) stamme. " Politika 1327 b.
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spielen solche anthropologische Erwägungen bei der gedanklichen Begründung eine Rolle. Wie die gesamte Philosophie des Aristoteles, so hat audi seine Theorie der Gerechtigkeit eine ungeheure Wirkung entfaltet. Diese beginnt schon im Altertum; aber der Höhepunkt liegt im Mittelalter. Vom 13. bis zum 17. Jahrhundert beherrscht der Aristotelismus die Universitäten Europas 54 , und darin kommt seiner Ethik keine untergeordnete Rolle zu. Auf Aristoteles bauen die philosophischen Systeme der Hoch- und Spätscholastik auf, und damit auch der Thomismus, der für das katholische Denken im 19. Jahrhundert so entscheidende Bedeutung gewonnen hat. Aber auch unabhängig von dieser Tradition ist immer wieder gerade an Aristoteles Lehre von Gerechtigkeit und Billigkeit angeknüpft worden: so hat ζ. B. im 19. Jahrhundert der „Kathedersozialist" Schmoller seine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit auf Aristoteles Lehre von der distributiven Gerechtigkeit gestützt 55 . 4. Noch eirie dritte Antwort, die die Antike auf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit des Rechts gegeben hat, hat welthistorische Bedeutung erlangt: die Philosophie der Stoiker. Ähnlich wie Aristoteles nimmt auch die stoische Philosophie eine enge Verbindung zwischen- Materie (δλη) und geistigem Prinzip (λόγος) an. Zwar ist die Welt Materie, aber überall verleiht der Logos dem Stoff sein „qualitativ bestimmtes Sosein"56. Er ist das gestaltende, die Materie bestimmende Prinzip. Er hat der Welt ihre harmonische Ordnung gegeben57. Man kann sich die Bedeutung dieser Lehre in ihrem Grundgedanken klarmachen, wenn man sich daran erinnert, daß nach der Auffassung der klassischen Vertreter der modernen Naturwissenschaften die Materie durch die Naturgesetze bestimmt wird 58 . M Auch die protestantisdien: dazu Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland (1921). 55 Dazu unten Kapitel IV Absdin. VI und eigene Stellungnahme in Kapitel IV Abschn. IV. 56 Pohlenz, Die Stoa I (1948), S. 67. — Die Werke der älteren stoischen Philosophen kennen wir nur in Fragmenten und aus Berichten anderer; sie sind gesammelt durch v. Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) I—Iii (1903—1905), IV (Index 1924). 57 Zur Entwicklung der Logos-Lehre, audi schon vor der Stoa, vgl. M. Heinze, Die Lehre vom Logos (1872, Neudruck 1961). 58 Diese Auffassung hat ζ. B. Max Planck verfochten; vgl. seinen Vortrag: Die Einheit des physikalischen Weltbildes (Leipzig 1909).
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Dieser naturbeherrschende, göttliche Logos erscheint aber nun zugleich in der Vernunft des Menschen. Seneca (0—65) sagt: „Quid est in homine proprium? ratio: haec recta et consummata felicitatem hominis implevit. ergo si omnis res, cum bonum suum perfecit, laudabilis est et ad finem naturae suae pervenit, homini autem suum bonum ratio est: si hanc perfecit, laudabilis est et finem naturae suae tetigit. haec ratio perfecta virtus vocatur eademque honestum est 59 ." Der Mensch hat also an der Weltvernunft teil. Damit ergibt sich für die Stoa eine großartige Einheit des natürlichen und des moralischen Gesetzes: in beiden erscheint die Vernunft: sie beherrscht die N a t u r ; sie leitet unser Handeln. Naturgesetz und Moralgesetz sind ebenso eins, wie das Gesetz der Geschichte. Darum kann die Stoa die Ethik in dem Satz zusammenfassen: man muß in Ubereinstimmung mit der Natur (nämlich der vernunftgelenkten Natur) leben 60 . Dieses einheitliche Gesetz umschließt das Einzel- wie das Sozialleben; denn der Mensch ist auf Gemeinschaft angelegt 61 . Audi das Recht wird damit von der Stoa in ihre Logos-Lehre einbezogen; auch das Recht ist Ausdruck der einen, die Welt und den Menschen beherrschenden Vernunft. Damit konnte die stoische Philosophie einer Lehre eine neue Grundlage und umfassende Bedeutung geben, die sich seit der Sophistik in der griechischen Philosophie immer wieder geltend gemacht hatte, dabei aber sehr unterschiedlich interpretiert worden war: der Lehre von dem, was von Natur gerecht sei (φύσει δίκαιον). Was bedeutete in dieser Wortzusammenstellung das Wort φύσει, »von Natur"? Wir haben gesehen: es sollte damit von Anfang an ein Gegensatz zu dem bezeichnet werden, was künstlich geschaffen, was im Bereich des Rechts, insbes. durch bloße Konvention oder willkürliche Setzung (θέσει), festgelegt war 6 2 . Der Sinn dessen, was damit positiv bezeichnet werden sollte, ist aber, wie gezeigt, nicht immer gleich geblieben. Einzelne Sophisten hatten an die physische Natur, insbes. die leiblich-seelischen Eigenschaften des Menschen gedacht — wir haben oben eine entsprechende Stelle aus Antiphon kennengelernt. Aber schon innerhalb der Sophistik hatte sich der Begriffsinhalt verschoben. 59
Seneca, Epistulae ad Lucilium, 76.10.
80
vgl. Cbrysipp
SVF III Nr. 126 (Diogenes Laertius); III Nr. 12 (Galen).
61
Er ist ein κοινωνικόν ζωον; vgl. dazu Pohlenz, aaO. I, S. 115. II S. 66, der auf Chrysipp (SVF III Nr. 686, 346) verweist. 62
vgl. oben, S. 7/8, 16.
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In einem sophistischen Traktat, der uns auszugsweise und anonym in einer Schrift des spätantiken Philosophen Jamblichos (etwa 250 bis 330) erhalten ist63, wird ausgeführt, daß die Menschen nicht ohne Gesetze leben können; daß sie daher durch die Natur dazu geführt werden, sidi an Gesetze zu binden. Hier ist offenbar schon etwas anderes gemeint als die physische Natur. In der platonischen Philosophie bekommt dann der Ausdruck φύσις (neben anderem) die Bedeutung: Wesen einer Sache64. Der junge Aristoteles spricht von den Normen, die der Staatsmann aus der Natur und der Wahrheit gewinne, und meint damit diejenigen, die sich aus dem Wesen der Idee des Gerechten ergeben65. Ähnlich wird in der eudemischen Ethik von der φύσις der Tugend und der Einsicht gesprochen66. „Es ist das Seiende und zugleich Seinsollende der platonischen Metaphysik, das er (der Ausdruck φύσις) bezeichnet67." In den Lehrschriften des Aristoteles taucht die Lehre vom Naturrecht dann in einer Form auf, die sie wohl vor allem in der Rhetorik, in der Lehre von der Kunst der Gerichtsrede und damit in der praktischen Jurisprudenz erhalten hatte. Danach gibt es, wie dargelegt, zwei Arten von Recht: die eine besteht aus den Normen, die jeder Staat sich selber gibt (νόμος ίδιος); die andere ist ungeschrieben, aber von universaler Geltung (νόμος άγραφος, νόμος κοινός) ; es ist das φύσει δίκαιον» das Naturrecht 68 . Im Rahmen der stoischen Philosophie konnte nun der schillernde Ausdruck einen neuen Sinn gewinnen. Sie konnte alle bisherigen Bedeutungen vereinigen. Denn die Natur ist vernunftbeherrscht; also ist, was ihrem Gesetz entspricht, das Natürliche, audi vernünftig. Aber die gleiche Vernunft regiert die Natur des Menschen. Also ist, was der praktischen Vernunft und damit ethischen Einsichten ent,s
Der sogen. Anonymus Jamblidii, erhalten in dessen „Protreptikos" ; Text bei Diels-Kranz II Nr. 89, S. 400 ff.; Übersetzung bei Capelle, Vorsokratiker, S. 380 f f . ; vgl. dazu E. Wolf II, S. 140. M vgl. die Feststellung von Popper, Der Zauber Piatons (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, 1957), S. 111. M In seinem noch im Geist der platonischen Akademie geschriebenen „Protreptikos". D a z u Jaeger, Aristoteles (1923 Neudruck 1955), S. 91. M
Eudemische Ethik 1216 a.
*7 Jaeger, aaO., S. 274. «8 vgl. Rhetorik 1368 b, 1373 b. Diese Gedanken sind in die allgemeine Reditslehre der römischen Juristen eingegangen, vgl. Gaius, Institutiones (etwa 160 nach Chr.) 1.1 und Ulpian Digesten 1.1.6.1.
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spricht, zugleich natürlich. Das Redit der Natur und das Redit der Vernunft fallen zusammen. Sie entsprechen dem Logos und damit dem Wesen des Gerechten, welches die ethische Einsicht ausspricht. Der Gegensatz von „Natur" und Vernunft ist für die Stoa aufgehoben. So kann Cicero (106—43) in Wiedergabe stoischer Gedanken sagen: „Lex est ratio summa insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria, eadem ratio cum est in hominis mente confirmata et confecta, lex est. itaque arbitrantur prudentiam esse legem, cuius ea vis sit, ut recte facere iubeat, vetet delinquere . . , 69 . A lege ducendum est iuris exordium; ea est enim naturae vis, ea mens ratioque prudentis, ea iuris atque iniuriae regula." 70 „Est quidem vera lex recta ratio naturae congruens, diffusa in omnes, constans, sempiterna, quae vocet ad officium iubendo, vetando a fraude deterreat; quae tarnen ñeque probos frustra iubet aut vetat nec improbos iubendo aut vetando movet, huic legi nec obrogari fas est ñeque derogari ex hac aliquid licet ñeque tota abrogari potest, nec vero aut per senatum aut per populum solvi hac lege possumus, ñeque est quaerendus explanator aut interpres eius alius, nec erit alia lex Romae, alia Athenis, alia nunc, alia posthac, sed et omnes gentes et omni tempore una lex et sempiterna et immutabilis continebit, unusque erit communis quasi magister et imperator omnium deus, ille legis huius inventor, disceptator, Iator; cui qui non parebit, ipse se fugiet ac naturam hominis aspernatus hoc ipso luet maximas poenas, etiamsi cetera supplicia, quae putantur, effuDieses natürliche Gesetz, das die menschliche Vernunft in der Weltvernunft, dem Logos, erkennt, ist unabhängig von der Satzung der einzelnen Staaten; es gilt, wie das Weltgesetz selbst, für alle Völker und Zeiten. Es ist, wie Cicero72 sagt, älter als jedes geschriebene Gesetz, älter als jede staatliche Gemeinschaft. Das positive Gesetz, das ihm widerspricht, ist kein wahres Gesetz; es ist nicht verbindlieh73. · · De legibus I 6.18/19. 71
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De legibus I 6.19.
7S De re publica III 22.33. De legibus I 6.19. 78 vgl. Pohlenz, Die Stoa (1948) I, S. 133. Dazu bemerkt Cicero, De legibus I 15.42: „Iam vero illud stultissimum, existimare omnia iusta esse, quae sita sint in populorum institutis aut legibus, etiamne si quae leges sint tyrannorum? . . . est enim unum ius, quo devincta est hominum societas, et quod lex constituit una; quae lex est recta ratio imperandi atque prohibendi; quam qui ignorât, is est iniustus, sive est illa scripta uspiam sive nusquam.
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Kapitel I
Für die Stoa war die altgriediische Polis, von der Aristoteles noch ausgegangen war, überwunden; inzwischen hatte Alexander sein Weltreich geschaffen. Die Stoa glaubte an eine Gemeinschaft aller Menschen; ihr Ideal w a r der Weltstaat. Dem entsprach der Inhalt des Naturrechts, das sie vertrat. Von N a t u r sind alle Menschen frei und gleich; niemand ist, lehrte sie im Gegensatz zu Aristoteles, als Sklave geboren 74 . Von N a t u r sind vielmehr alle Menschen verbunden; und sie sind auf brüderliche Gemeinschaft hin geschaffen. Diese Philosophie hat eine ungeheure Nachwirkung gehabt; in der Antike 75 , im Mittelalter 76 , aber vor allem in der Emanzipationsbewegung der Neuzeit. Wenn die französische Revolution ihren Weg unter den Worten „Liberté, Egalité, Fraternité" antrat, so haben diese Ideen ihre Wurzeln im Naturrecht der Stoa 77 . II. 1. Mit der christlichen Religion tritt eine neue Macht in das Geistesleben des Abendlandes. Seine weitere Geschichte ist dadurch bestimmt, daß diese neue Macht die antike Kultur zwar verändert, aber nicht vernichtet, sich vielmehr mit ihr in einer über Jahrhunderte währenden Diskussion auseinandersetzt. Das gilt, wie für die Philosophie im allgemeinen, auch für die Philosophie des Rechts. Das Christentum stellt seine religiöse Heilslehre in den Mittelpunkt. Es entnimmt aus der Schöpfungsgeschichte der Bibel eine bestimmte Auffassung vom Menschen; der Mensch ist von Gott als dessen Ebenbild geschaffen; er ist durch eigene Schuld gestürzt, mit Erbsünde beladen; er ist durch Christus mit Gott versöhnt und in den Stand der Gnade erhoben. Ebenso bringt das Christentum eine bestimmte Ansicht von der menschlichen Geschichte: Sie ist kein Kreislauf, keine ewige Wiederkehr des Gleichen, wie griechische Philosophen, insbesondere die Stoiker angenommen hatten; sie ist vielmehr eine einmalige dramatische Ent« vgl. Pohlenz, aaO. I, S. 135/136 unter Hinweis auf SVF III. Nr. 352 und Cicero, De legibus I 10.29—11.32 (nach Pohlenz II, S. 75 „sicher altstoisdi"); vgl. audi Justinians Institutiones 1.2.2. 75 z. B. in der röm. Sklavenschutzgesetzgebung des 2. Jh. und in der „Humanität" vieler Einzelregelungen des späten Römischen Redits. 76 Der Satz von der natürlichen Freiheit der Menschen steht audi im Corpus Juris Canonici (Decretum Gratiani, c. 7 D. 1 = Isidor von Sevilla, Etymologiae V 4): „Ius naturale est commune omnium nationum, eo quod ubique instinctu naturae, non constitutione aliqua habetur, ut viri et feminae coniunctio, . . . communis omnium possessio et omnium una libertas, . . . " . 77
Stellungnahme zum Naturrecht in Kapitel IV. Abschn. III und I.
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wicklung mit eindeutigem Ziel; sie führt von der Schöpfung in der Abfolge der irdischen Reiche zum jüngsten Gerichte, zur Wiederkunft des Herrn 1 . Die Frage, was bedeuten Redit und Staat, was bedeuten die Lehren, welche die Lateiner und die Griechen dazu entwickelt haben, im Rahmen dieses christlichen Lebens- und Weltverständnisses, was bedeuten sie neben der alles überragenden Beziehung des Menschen zu Gott, wird für Mittelalter und Reformationszeit, für ein Jahrtausend, das entscheidende Problem der Rechtsphilosophie. Dabei ist von vornherein zu betonen, daß die Theologie die christliche Botschaft nie als rechtspolitisches Reformprogramm verstanden hat. Die Botschaft Christi betrifft das Verhältnis des Menschen zu Gott: als solche kann sie grundsätzlich in jeder Ordnung wirken; im tiefsten ist die Rechtsorganisation des Staates daher für den Glauben indifferent — wenn auch der rechte Staat der sein wird, der die christliche Predigt nicht behindert. Daher hat das Christentum auch die bestehenden sozialen Verhältnisse grundsätzlich hingenommen 2 , freilich wollte es alle sozialen Beziehungen mit einem anderen Geist erfüllt sehçn: „Imperant enim, qui consulunt; sicut vir uxori, parentes filiis, domini servis. Oboediunt autem quibus consulitur; sicut mulieres maritis, filli parentibus, servi dominis: Sed in domo iusti viventis ex fide et adhuc ab illa caelesti civitate peregrinantis etiam qui imperant serviunt eis, quibus videntur imperare. Ñeque enim dominandi cupiditate imperant, sed officio consulendi; nec principandi superbia, sed providendi misericordia." 3 In der christlichen Rechtsphilosophie werden zwei Grundansätze erkennbar und kehren in der riesigen Literatur immer wieder. Das unterscheidende Moment liegt in der Bedeutung, die der menschlichen Vernunft und der aus menschlicher Einsicht entspringenden Ordnung im Rahmen des Heilsgeschehens zugemessen wird. Die eine Auffassung geht von dem Gedanken einer grundsätzlichen Harmonie der Einsicht und Richtung der natürlichen Vernunft einerseits, des göttlichen Heilswillens andererseits aus. Der natürliche Mensch kann Gott entgegengehen. „Gratia naturam non tollit, sed perficit" (Thomas von Aquin). Für die andere ist die Vernunft und die sittliche K r a f t des Menschen mit dem Sündenfall gebrochen. Sein Wissen ist eitel; „Infelix . . . homo qui seit illa omnia, te autem nescit" (Augustinus). Sein Denken ist schwankend: „Tout notre raisonnement se réduit 1
D a z u Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen (3. Aufl. 1958), insbes., S. 148 ff. 2 So schon die Apostel vgl. Paulus, Römer 13. 1—7. s Augustinus, D e Civitate Dei, X I X . 14.
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Kapitel I
à céder au sentiment" (Pascal). Aus eigener Kraft kann er den Weg nicht finden. Allein die Teilnahme Gottes, die Offenbarung seines Willens in der Bibel und die Gnade, die ihm zuteil wird, kann ihm den Weg weisen. Die erste Auffassung hat ihren klassischen Ausdruck in den Lehren des Thomas von Aquin gefunden; die zweite begegnet uns bei Augustinus und bestimmt die Lehren von Luther und Calvin; man kann sagen, es gibt in der christlichen Sozialphilosophie eine thomistische und eine augustinische Tradition. 2. Thomas von Aquin (1226—1274) entwickelt auf der Grundlage der Lehren des Aristoteles eine umfassende christliche Philosophie und fügt in dieses System, sie weiter entwickelnd, auch die Grundlehren der stoischen Rechtsphilosophie ein4. Thomas greift zunächst den Gedanken der Lex aeterna auf. Wie die Ideen überhaupt Gedanken Gottes sind, so existiert auch die Lex aeterna in der Vernunft der göttlichen Weisheit (Ratio divinae sapientiae). Soweit die menschliche Vernunft diese Lex aeterna erfassen kann, wird sie dem Mensdien als Lex naturalis bewußt 5 . Aus seiner Einsicht in die Lex naturalis und in Anwendung ihrer Prinzipien auf die jeweiligen Gegebenheiten schafft der Mensch dann die positive Rechtsordnung, die Lex humana. Neben dieser Einsicht der natürlichen Vernunft stehen die göttlidien Gebote, die Lex divina, wie sie im Alten und Neuen Testament offenbart sind; sie bekräftigen die Lex naturalis wie der Dekalog, und sie führen den Menschen zu seinem letzten übernatürlichen Ziel6. Vernunftordnung und Offenbarung stehen also nebeneinander, wenn audi diese jene überhöht. Aber Thomas hat nicht nur antike Gedanken in die christliche Philosophie eingeordnet; er hat sie auch weitergeführt. Dazu sei zweierlei hervorgehoben. Thomas ist sich des Problems der geschichtlichen Variabilität des positiven Rechtes bewußt. Er unterscheidet zwischen den unveränderlichen Prinzipien des Naturrechts und deren Anwendungen (con4 vgl. zu Thomas von Aquin zur Einführung Überweg-Geyer, Die patristische und scholastische Philosophie (11. Aufl. 1928), S. 419 ff. Die wichtigsten Texte für die Reditslehre des Thomas v. Aquin sind: Summa Theologica II. 1 (Prima Pars Secundae) Quaestio 90—105; II. 2 (Secunda Pars Secundae) Quaestio 57—79. s Summa Theologica II. 1 Quaestio 91 Art. 4: Lex naturalis nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae, secundum quod est directiva omnium actum et motionum.
• Summa Theologica II, 1. Quaestio 91 Art. 4.
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clusiones) auf konkrete Situationen. Nur die ersten sind unwandelbar 7 . Ferner: nidit jede Regel im positiven Redit ist Naturredit; die Lex humana kann Regeln hinzufügen; sie kann nähere Bestimmungen treffen. Freilidi: ein positives Gesetz, das dem Naturredit widerspricht, wäre nidit „lex, sed legis corruptio" 8 . Nur das geredite Gesetz verpflichtet ein Gewissen; das ungeredite nidit; es kann jedoch befolgt werden, um soziale Unordnung zu vermeiden — es sei denn, daß es dem bonum divinum zuwiderläuft 9 . Thomas systematisiert den Inhalt des Naturredits; er entwickelt ihn in Ubereinstimmung mit seiner Gesamtanschauung vom Menschen. Die Grundregel des Naturredits lautet: bonum est faciendum et prosequendum et malum vitandum 10 . Was aber als „bonum" anzusehen ist, ergibt sich aus der Natur des Menschen, aus den Strebungen, die in ihm angelegt sind11. Daher gehört zu den Gütern, die das Naturrecht schützen, die Erhaltung des Mensdien, die Ehe, die Erzeugung und Erziehung der Kinder, aber, der geistigen Natur des Mensdien entsprechend, auch die Erkenntnis des Wahren — die Sdiau Gottes — und die Erhaltung des Lebens in der Gemeinschaft, der Communicatio. In diesem Sinne soll jedes Gesetz am Gemeinwohl, am bonum commune orientiert sein12. Die Lehre des Thomas von Aquin ist nidit nur das eindrucksvollste System der Hodisdiolastik gewesen; auf ihrer Grundlage ruht audi, vor allem wieder seit dem 19. Jahrhundert, die Soziallehre der katholischen Kirche der Gegenwart. 3. Augustin (354—430) hat seine Gedanken über den Staat hauptsächlich in seiner „ Ci vitas Dei" niedergelegt13. 7
vgl. aaO. Quaestio 94 Art. 4; Quaestio 91 Art. 3. vgl. aaO. Quaestio 95 Art. 2. • vgl. aaO. Quaestio 96 Art. 4. 10 vgl. aaO. Quaestio 94 Art. 2. 11 Omnia illa ad quae homo habet naturalem inclinationem, ratio naturaliter apprehendit ut bona . . . Secundum igitur ordinem inclinationum naturalium est ordo praeceptorum legis naturae (Summa Theologica II. 1 Quaestio 94 Art. 2). 12 vgl. aaO. Quaestio 90 Art. 2. 1S vgl. zu Augustin zur Einführung Uberweg-Geyer, Die patristische und scholastische Philosophie (11. Aufl. 1928), S. 99 ff. Zu den theologischen und philosophischen Grundlagen der Lehre von der Civitas Dei vgl. Hans Leisegang, Der Ursprung der Lehre Augustins von der Civitas Dei, Archiv für Kulturgeschichte XVI (1925), S. 127—158. 8
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Schon d e r A n l a ß des Buches ist wichtig. 410 h a t t e n die G o t e n R o m , die H a u p t s t a d t der a n t i k e n Welt, erobert u n d g e p l ü n d e r t ; ein E r eignis, das eine ungeheure Erschütterung h e r v o r g e r u f e n haben m u ß . Viele gaben den Christen die Schuld: weil sie den K u l t der alten r ö mischen G ö t t e r zerstört h ä t t e n , sei die S t a d t gefallen. D e m t r i t t Augustin entgegen, nicht mit einzelnen A r g u m e n t e n , sondern indem er in einer großen geschiditsphilosophischen Schau d e m Staat, dem römischen I m p e r i u m seinen w a h r e n P l a t z anweist, indem er zeigt, d a ß sein S t u r z kein entscheidendes Ereignis in der Geschichte ist, das w a h r e Reich vielmehr an a n d e r e r Stelle liegt. R o m , das n u n in G e w a l t untergeht, ist d u r d i G e w a l t u n d E r o b e r u n g g e w o r d e n : I n diesem Z u s a m m e n h a n g f ä l l t das b e r ü h m t e W o r t : „ R e m o t a itaque justitia quid sunt regna nisi m a g n a latrocinia?" 1 4 — D e r w a h r e S t a a t aber ist d e r S t a a t Gottes, die Civitas Dei. Sie ist die Gemeinschaft der w a h r h a f t Gläubigen, der v o n Gottes G n a d e E r w ä h l t e n , in vollem G l a n z im Jenseits, als civitas coelestis, als himmlisches Jerusalem; auf der Pilgerschaft noch, als civitas dei terrena, in diesem Leben. I h r stehen die V e r d a m m t e n gegenüber: die civitas diaboli. Solange das Leben dauert, müssen beide G e m e i n schaften zusammen leben; diese „civitas p e r m i x t a " ist der S t a a t 1 5 . Auch er ist v o n G o t t , als dem H e r r n der Geschichte eingesetzt; d e n n es gilt: per me reges r e g n a n t . A b e r sein Recht u n d sein Friede sind irdisch, kein A b g l a n z des w a h r e n Friedens in G o t t , der göttlichen G e rechtigkeit, die in der civitas coelestis herrscht. D e r S t a a t u n d sein Recht k ö n n e n der V e r k ü n d i g u n g nützlich sein: eine letzte D i g n i t ä t haben sie nicht. 4. D i e L e h r e Augustins h a t einen tiefen E i n f l u ß auf die R e f o r m a toren ausgeübt. Schon die Spätscholastik, der sogen. N o m i n a l i s m u s des O c k h a m (1285—1349) u n d seiner Schule 1 6 h a t t e das V e r t r a u e n des Thomismus auf die V e r n u n f t nicht m e h r geteilt. N u r auf G o t t e s Wille b e r u h t die E t h i k , u n d n u r die O f f e n b a r u n g k a n n uns diesen zeigen. Melancht h o n h a t in einer Jugendschrift jegliche natürliche moralische Einsicht des Menschen geleugnet 1 7 . 14
De Civitate Dei IV. 4. vgl. hierzu die Hauptstelle De Civitate Dei XIX. 17. 11 vgl. dazu Überweg-Geyer, aaO., S. 572 ff. 17 In der ersten Fassung der Loci communes rerum theologicarum von 1521. Vgl. dazu Bauer, Die Naturrechtsvorstellungen des jüngeren Melanchthon, Festschrift für G. Ritter (1950), S. 244. 15
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Luther (1483—1546) hat seine Grundauffassung von Staat und Redit in der Lehre von den „Zwei Reichen" zusammengefaßt; sie ist vor allem in der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit" (1523) 18 entwickelt. Die Schrift geht von der Frage aus, wieweit die Obrigkeit bei staatlichem Handeln an die Vorschriften der Bergpredigt 19 gebunden ist. Er wendet sich gegen die Lösung, diese Vorschriften nur als Ratschläge für die Vollkommenen aufzufassen; die Lösung des Problems liege darin, daß es zwei Gruppen von Menschen, zwei Reiche, gäbe. Das eine (das Reich zur Rechten Gottes) werde von den wahrhaft Gläubigen gebildet — wie die Civitas Dei des Augustin. Sie befolgten die Regeln der Bergpredigt; für sie sei weder Herrscher noch Gesetz notwendig. Aber davon gäbe es einen auf Tausend. Die Masse der Menschen (auch der Christen) gehöre zum anderen Reich; diese müßten durch staatliche Ordnung, Gewalt und Gesetz im Zaum gehalten werden; wollte man davon absehen, so wäre das, als ob man wilde Tiere freisetze. Daher habe Gott für dieses Reich die staatliche Obrigkeit vorgesehen 20 . Ihre Gesetze sind an die Lex naturalis und Billigkeit gebunden. Freilich erstreckt sich die Herrschaft des Staates nur auf die äußeren Güter Leib und Gut, nicht auf Glauben und Gewissen; überschreitet er diese Grenze — z. B. durch Aufstellung der Pflicht, das Neue Testament wieder abzuliefern — so ist passiver Widerstand berechtigt. Das Ausgangsproblem wird von Luther dann dahin gelöst, daß der Christ an der staatlichen Herrschaft und Gewalt teilnehmen dürfe, wenn er seine Tätigkeit als Dienst am Nächsten — dem der Schutz ja zugute komme — auffasse 21 . Für sich persönlich müsse der Christ stets an dem Verbot des Widerstandes gegen Gewalt festhalten; aber „im Dienst" darf und soll er ihr um des Nächsten willen widerstehen 32 . 18
Weimarer Ausgabe der Werke Luthers X I (1900), S. 229—281.
" Matth. 5.39; audi Römer 12.19. M
Luther, aaO., S. 250—252.
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aaO., S. 255. D a z u verweist er auf Lukas 3.14; die Apostelgeschichte 10.48; 8.39; 13.12; Rom. 13.1 und 1. Timotheus 4.4, z. T. Stellen, in denen von bekehrten römischen Amtsträgern und Soldaten nicht verlangt wird, daß sie aus dem Dienst scheiden. ss
Zur Zwei-Reiche-Lehre vgl. Lau, Zwei-Reiche-Lehre, Religion in Geschichte und Gegenwart V I (3. Aufl. 1962) mit weiteren Literaturnachweisen. Zur Entwicklung der Naturrechtslehre im älteren Protestantismus vgl. Liermann, Geschichte des Naturrechts in der evangelischen Kirche, Festschrift für Bertholet (1950), S. 294—324. Für Calvin ist vor allem sein Christianae
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Im Protestantismus der Gegenwart ist die Zwei-Reiche-Lehre umstritten, vor allem weil sie zu politischer Passivität führe. Eine neue „christologische" Auffassung des Rechts ist von Karl Barth und in seinem Gefolge von J. Ellul begründet worden. Grundgedanke ist, daß das Recht seine letzte Rechtfertigung und Würde darin, aber auch nur darin finde, daß es Gottes Gerechtigkeit gibt, die in der Rechtfertigung des Menschen in Erscheinung tritt. Jede Naturrechtslehre, die auf natürlicher Vernunft beruht, wird radikal abgelehnt». III. 1. D i e Bewegung der „Renaissance" hat für die Rechtsphilosophie wie für die allgemeine Philosophie Bedeutung vor allem dadurch, daß sie neue und weite Zugänge zur antiken Philosophie geschaffen hat. N e b e n die Lehren des Aristoteles traten wieder Piaton und die Stoa, traten auch die großen Historiker des Altertums: und alle, audi Aristoteles selbst, wurden neu durchdacht und interpretiert. V o n diesen Entdeckungen ist für die Rechtsphilosophie v o r allem die Wiederentdeckung der Stoa v o n Bedeutung geworden; sie ist eine der Grundlagen des Naturrechts der Aufklärung 1 . D a s Werk eines so bedeutenden Juristen und Rechtsphilosophen w i e Grotius beruht auf den Ergebnissen des Humanismus der Renaissance. Aber die großen denkerischen Leistungen dieser Epoche im Bereich der Rechts- und Sozialphilosophie liegen nicht so sehr im Bereich der Rechtstheorie, als in der Entdeckung des Staates und seiner Entwicklungsgesetze, im Bereich der Wissenschaft v o n der Politik 2 . Die Anfänge des modernen Staates bilden sich in den späteren Jahrhunderten des Mittelalters, vor allem in Westeuropa, in England, Frankreich und Burgund, in Spanien und Italien. Aber die mittelalterliche Theorie nimmt von diesem neuen Phänomen zunächst keine Notiz. Ihr Interesse gilt weiter in erster Linie den Universalmächten: der Kirche und dem Reich, dem Papsttum und dem Kaisertum, der Kirche und ihrer Reformation vor allem. Die spätmittelalterliche Philosophie hatte f ü r ihre Lehren zwei Grundlagen: das Staatsrecht des Corpus Juris Justinians einerseits, die seit der zweiten H ä l f t e des 13. Jahrhunderts wieder bekannte Politik des Aristoteles andererseits. Religionis Institutio IV. 20 zu vergleichen. Dazu Bohatec, Recht (1934).
Calvin und das
M
vgl. K. Barth, Rechtfertigung und Recht (1938); K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946); Jaques Ellul, Theologische Begründung des Rechts (1948). 1
vgl. unten Absdin. IV. 1. Auf die Wirkungen der Renaissance auf die eigentliche Rechtswissenschaft ist hier nicht einzugehen. Gesamtdarstellung: P. Mesnard, L'Essor de la Philosophie Politique au X V I e siècle (2. Aufl. 1952). 8
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Auf dieser Grundlage behandelte sie eine Reihe von wichtigen Problemen: Die Vielheit der Gemeinwesen entgegen der Existenz des einen Reiches im Corpus Juris; die Stellung des Herrschers zum Recht; die Rechte des weltlichen Herrschers im Verhältnis zur Kirdie'. Aber der sich entwickelnde Fürstenstaat fand darin nodi keinen Raum; erst die Renaissance erfaßt das Wesen des Machtstaates.
2. Diese Erkenntnis ist vor allem das Werk eines Mannes: des Niccolò Machiavelli (1469—1527). Machiavelli löst die Probleme des Staates von denen der Redhtslehre; er betrachtet nur die Herrsdiermadit als solche und untersucht, mit welchen Mitteln Macht gewonnen und behauptet wird. Die Grundlage seiner Überlegungen ist neben der Analyse antiker Historiker die Beobachtung der politischen Vorgänge seiner eigenen Zeit 4 . Er sieht sie ohne Illusionen und verzichtet auf eine moralische Wertung. „Eroberungssucht ist eine ganz natürliche und weitverbreitete Eigenschaft. Immer, wenn die Menschen nach besten Kräften Eroberungen machen, so werden sie gelobt, oder wenigstens nicht getadelt. Doch wenn ihre Kräfte nicht ausreichen und sie versuchen, trotzdem um jeden Preis Eroberungen zu machen, so ist dies ein tadelnswerter Fehler. Wenn demnach Frankreich imstande war, mit eigenen Kräften Neapel anzugreifen, so hätte es dies tun sollen; war es aber nicht dazu imstande, so durfte es die Herrschaft doch nie teilen. Wenn Frankreich die Lombardei mit den Venezianern teilte, so verdient es Entschuldigung, weil es hierdurch in Italien Fuß faßte; die Teilung Neapels aber verdient Tadel, da sie nicht mit dem Zwang der Verhältnisse zu entschuldigen ist. Ludwig beging also fünf Fehler: Er richtete die Schwächeren zugrunde, er verstärkte in Italien die Macht eines besonders Mächtigen, er zog einen außerordentlich mächtigen Fremden ins Land, er schlug in Italien nicht seine Residenz auf und gründete dort auch keine Kolonien." 5 Die Regeln, die er entwickelt, sind dementsprechend keine moralischen oder naturrechtlichen Gesetze. Sie sind vielmehr politische Maximen, die um den einen Gedanken kreisen, wie nach vernünftiger Einsicht in die Verhältnisse die Interessen des staatlichen Herrschers, * vgl. dazu etwa v. d. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates (1952) und dazu die Kritik von Heimpel, Gött. Gel. Anz. 1954, S. 197— 221; E. Kantorowicz, The King's two Bodies (1957); zum Problem Kirche und Herrscher: Marsilius von Padua, Defensor pacis (1324). 4 Hierzu vgl. insbesondere F. Gilbert, Machiavelli and Guicciardini (Princeton 1965). — Zu Machiavelli vgl. F. Chabod, Machiavelli and the Renaissance (1958) mit großer Bibliographie. 8 Machiavelli, II Principe III, Deutsche Ubersetzung von R. Zorn (3. Aufl. 1963), S. 12/13.
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die auf Behauptung und Mehrung der politischen Macht gerichtet sind, gewahrt werden können. Damit entwickelt er die Lehre von der Staatsräson, der Vernunft des Staates, die darin besteht, „sich selbst und seine Umwelt zu erkennen und aus dieser Erkenntnis die Maximen des Handelns zu schöpfen."6 Machiavelli glaubte und sprach es ohne Scheu aus, daß das Handeln des Herrschers nicht immer audi moralisch gut sein könne. „Es bleibt noch zu untersuchen, wie sich ein Herrscher gegen seine Untertanen und seine Freunde zu verhalten hat. Da es mir bewußt ist, daß schon viel darüber geschrieben wurde, fürchte idi, daß man mich für anmaßend hält, wenn auch idi darüber schreibe, zumal ich gerade bei der Erörterung dieses Stoffes von der üblichen Behandlungsweise abgehe. Da es aber meine Absicht ist, etwas Brauchbares für den zu schreiben, der Interesse dafür hat, schien es mir zweckmäßiger, dem wirklichen Wesen der Dinge nachzugehen als deren Phantasiebild. Viele haben sich Vorstellungen von Freistaaten und Alleinherrschaften gemacht, von denen man in Wirklichkeit weder etwas gesehen noch gehört hat; denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, daß derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält. Ein Mensch, der immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind. Daher muß sich ein Herrscher, wenn er sich behaupten will, zu der Fähigkeit erziehen, nicht allein nach moralischen Gesetzen zu handeln sowie von diesen Gebrauch oder nicht Gebrauch zu machen, je nachdem es die Notwendigkeit erfordert." 7 3. In der Folgezeit entstand eine ganze Literatur zum Problem der Staatsraison; eine neue wissenschaftliche Disziplin war entstanden8. In Frankreich entwickelte Jean Bodin (1530—1596) am Ende des 16. Jahrhunderts in seinen „Six Livres de la République" (1576) die Theorie von der neuen Souveränität, der summa potestas des Fürsten, dessen Macht er als einzigen rettenden Ordnungsfaktor in den Wirren der Zeit ansah. Sein Werk hat sehr viel mehr juristischen 6 7
Meinecke, Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte (1957), S. 1.
vgl. Machiavelli, II Principe XV. Deutsche Übersetzung, aaO., S. 62 f. — Stellungnahme zu Machiavelli unten Kapitel IV Abschn. V. 2. 8 Meinecke, Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte (1957) insbes. S. 57 ff.
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Charakter als die Schriften Machiavellis; es geht ihm um die einzelnen Befugnisse des Fürsten, ihre Zusammenfassung und ihre Bindung an den Staatszweck. Es ist die theoretische Grundlage für die Regierungsgewalt des Fürsten9. Es ist hier nicht der Ort, die Lehren Machiavellis und Bodins sowie ihrer Nachfolger im einzelnen zu erörtern 10 . In unserem Zusammenhang ist nur wichtig festzuhalten, daß mit Machiavellis Schriften im 16. Jahrhundert eine selbständige Lehre vom Staat und vom staatlichen Handeln entstanden war, die außerhalb der traditionellen Rechtsphilosophie stand und die auch ihre neuen Erkenntnisse nicht in Beziehung zu ihren Lehren setzte, insbesondere das Problem der Bindung an das Naturrecht nicht erörterte oder doch jedenfalls nicht als zentrales Problem empfand. Diese politisch, aber auch ökonomisch orientierte Staatstheorie steht seitdem neben der Philosopie des Rechts, wenn sich audi immer wieder Verbindungen ergeben, ζ. B. in der Rechtsphilosophie Hegels. IV. 1. Dem Zeitalter des Glaubens folgt das Jahrhundert der Vernunft. Im 17. Jahrhundert gewinnt das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken allmählich an Einfluß. Das heliozentrische System und die mathematisch-mechanische Weltauffassung setzen sich gegen das Weltbild der antiken Wissenschaft durch1; die moderne Kultur gewinnt überhaupt gegenüber der Antike an Gewicht; in der berühmten „Querelle des Anciens et des Modernes" in Frankreich2 wird sie zum ersten Mal als überlegen hingestellt. Entscheidend sind vor allem die geistigen Bewegungen der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts geworden 3 .
• Zu Bodin vgl. Mesnard, L'Essor de la Philosophie Politique au X V I ième Siècle (2. Aufl. 1952). 10 vgl. dazu Meinecke, aaO. 1 vgl. dazu Butterfield, The Origin of Modern Science (Revised Edition 1965), vor allem Kapitel 4—8. Gesamtdarstellung bei E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (1932). * vgl. dazu Du Granges-Boudont, Histoire de la littérature française (51. Aufl.), S. 577 ff. 3 vgl. allgemein Hazard, La crise de la conscience Européenne 1680—1715 (1935, deutsch 1939); hinsichtlich der Wissenschaftsgeschichte : Butterfield, aaO., S. 192; vgl. auch die geistesgeschichtlichen Analysen Diltheys: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (Gesammelte Schriften II, 5. Aufl., 1957).
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Die Philosophie wird von neuen Ansätzen aus entwickelt. Sie wird kritisch; Descartes (1596—1650) erhebt den systematischen Zweifel an allen überlieferten Sätzen zum Prinzip; dies führt notwendig zur Prüfung der Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Denkens und damit zu einem subjektiven Vernunftbegriff. Nur klaren, sicheren und evidenten Einsichten, lehrt Descartes, soll man trauen. Arithmetik und Geometrie sind daher die vorbildlichen deduktiven Disziplinen. Einsichten von geringerem Evidenzgrad soll man lieber für falsch halten. Die Erfahrung ist der Spekulation vorzuziehen 4 . Andererseits bieten klare Definitionen und logische Folgerungen auch ohne empirische Beweise Sicherheit des Ergebnisses. In der Rechtsphilosophie führt diese Bewegung zu einer Neuformulierung der Naturrechtslehre: dem sogen, „rationalistischen Naturrecht der Aufklärung". Wie die Philosophie der Zeit versucht diese Lehre, empirische Beobachtungen und deduktives Verfahren zu vereinigen. Sie versteht Vernunft — anders als Antike und Mittelalter — nicht als Teilhabe an der Weltvernunft, sondern als Logik, angewendet auf Tatsachen. Auch ihr ist die Klarheit des Raisonnements aber bereits Bürgschaft für seine Wahrheit. Geschichtlich knüpft die neue Naturrechtslehre allerdings zunächst an die Stoische Naturrechtslehre an, die wie die Stoische Ethik überhaupt im 16. Jahrhundert eine weitreichende Renaissance erlebt hatte5. Das zeigt sich noch sehr deutlich bei Grotius (1583—1645), den die Aufklärung als den Begründer des „neuen" Naturrechts betrachtet hat; er war Humanist und die Autorität der Antike für ihn unbestritten. Aber schon Thomasius (1655—1728) hält diese „Testimonia aliorum scriptorum" bei Grotius für überflüssig®.
Das Naturrecht beruht für die Aufklärung auf zwei Gegebenheiten: der Natur des Menschen und der der menschlichen Gesellschaft. Die Autoren der Aufklärung beginnen daher mit einer deskriptiven Anthropologie und fragen sich dann: wie müssen die Regeln beschaffen sein, unter denen Wesen dieser Art zusammenleben können7? 4
Descartes hat seine leitenden Ideen vor allem in den Regulae ad Directionem Ingenii (1628) und im Discours de la méthode (1637) niedergelegt. 5
vgl. dazu den Uberblick bei Zanta, La Renaissance du Stoïcisme XVI ième siècle (1914). — Zum Einfluß verfassungsrechtlicher Ideen Altertums (Isonomia) in England vgl. Hayek, Entstehung und Verfall Rechtsstaatsideals. 9 vgl. seine Einleitung zu Fundamenta Iuris Naturae ac Gentium (1705), 7
au des des §3.
So verfahren Hobbes, Elementa philosophica de cive (1647) I und II, Leviathan (1651) I, 1—6, 14; Pufendorf, De officiis hominis et civis (1731) 1 3 § 7/8; ähnlich 1 2 § 16; Thomasius, Fundamenta iuris naturae ac gentium (1705) 11 ff.
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Schon Grotius hatte das Unrecht definiert als das, was der Gemeinschaft von Vernunftwesen zuwider ist8. Diese Überlegung führt dann regelmäßig zur Aufstellung breiter Prinzipien. So postuliert etwa Hobbes den Satz, daß man niemandem das zufügen solle, was man selbst nicht wolle, daß niemand einen anderen verletze 9 ; und Pufendorf (1632—1694) stellt die Forderung auf, daß jeder den anderen Menschen als sich von Natur aus gleich oder als „gleichermaßen Mensch" einschätze und behandele; daß jeder das Interesse (utilitas) des anderen, soweit er es mit Bequemlichkeit (commodo) kann, befördere 10 . Hieraus werden dann speziellere Grundsätze abgeleitet: etwa, daß man Verträge halten müsse11. Das Verhältnis dieses Naturrechts zum positiven Recht machen die Sozialphilosophen der Aufklärung am Denkmodell des Gesellschaftsvertrages deutlich. An sich sind die Menschen nur als Individuen gegeben — die Parallele zur Atomtheorie der zeitgenössischen Mechanik liegt nahe! Staat und Gesellschaft sind nichts Ursprüngliches. Im „Naturzustande" galt allein das Naturrecht; alle Menschen waren von Herrschaft frei und dem Recht nach — gleich. Aber da es dem Naturrecht an Sanktionen fehlte, und daher Unsicherheit herrschte, sind Menschen zusammengekommen und haben durch Vertrag, eben den Gesellschaftsvertrag, den Staat begründet und organisiert. Durch diesen Vertrag ist aus dem Naturzustand der „bürgerliche" Zustand geschaffen worden; aus dem „Menschen" ist der „Bürger" geworden; an die Stelle des „natürlichen" tritt nun das „bürgerliche" Recht12. Der Sinn dieses (meist nicht als geschichtliche Hypothese gemeinten) Denkmodells ist, zu zeigen, daß der Staat für ganz bestimmte Zwecke gegründet und daher an diese Zwecke audi gebunden ist. Dieser Zweck aber war die Sicherung des Naturrechts, nach der radikalen These: des natürlichen Rechts des Menschen. 2. Freilich wird diese Konsequenz keineswegs von allen in der gleichen Weise gezogen. Über die Bedeutung des Gesellschaftsvertrages bestehen verschiedene Auffassungen. Eine konservativere und eine 8
Grotius, De iure belli ac pacis (1625) I 1,3; vgl. Prolegomena 8.
• Hobbes, De Cive (1647) III. 26. 10
Pufendorf,
11
So Hobbes, De Cive III. 1.
De officiis hominis et civis I 8.
12 Der Ausdruck „Bürgerliches Recht" hat einen Bedeutungswandel durchgemacht; im 18. Jahrhundert wird er weitgehend nodi in dem im Text entwickelten Sinne, der der antiken Bedeutung vom „Ius civile" in seinem Gegensatz zum Naturredit in etwa entspridit, verwendet.
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radikalere Lehre sind zu unterscheiden. Die konservative Richtung meint, der Gesellschaftsvertrag sei vor allem abgeschlossen, dem Menschen Sicherheit zu geben. Da das nur durch Herstellung einer absoluten Herrschaftsgewalt geschehen könnte, sei durch ihn eine absolute Herrschaft organisiert worden. Der Gesellschaftsvertrag wird damit eigentlich ein Unterwerfungsvertrag. Die Gewalt des Herrschers ist grundsätzlich unbeschränkt. Nur intern, in seinem Gewissen, ist der Regierende gebunden, nur dem Gemeinwohl, der salus publica, zu dienen und nur Gesetze zu erlassen, die dem natürlichen Redit entsprechen. Diese Lehre ist in schroffer Form vor allem von Hobbes (1588—1679) entwickelt, dessen Werke unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges geschrieben sind. Nadi ihm hat der Gesellschaftsvertrag vor allem die soziale Autorität geschaffen; auf ihr allein beruht die verpflichtende Kraft des Redits, nicht auf seinem vernunftgemäßen Inhalt; auctoritas, non Veritas facit legem. Aber auch die deutsche Naturrechtslehre, etwa Pufendorf und Thomasius, hat diese Auffassung vertreten, wenn sie auch die Bindung an die salus publica stärker betont hat. Sie hat damit das theoretische Fundament für den aufgeklärten Absolutismus geschaffen, wie ihn dann Friedrich II. in Preußen und Kaiser Joseph II. in Österreich verwirklicht haben.
3. Eine andere Richtung betont dagegen, daß der Gesellschaftsvertrag den Zweck gehabt habe, die natürlichen Rechte des Menschen, seine Freiheit, sein Eigentum und die Gleichheit aller zu sichern, und daß daher auch der durch ihn errichtete Staat an diese gebunden sei: diese Lehre ist vor allem von Locke (1632—1704) im zweiten seiner „Two Treatises on Government" (1690) entwickelt worden. Nach ihm sind die Regierenden kraft des Gesellschaftsvertrages nur die Treuhänder der Bürger für die Wahrung der ursprünglichen Menschenredite: Freiheit, Gleichheit und Eigentum 13 . Daher kann die Regierungsgewalt nicht unbeschränkt sein; sie darf nicht in einer Hand liegen; Gesetzgebungsgewalt und Exekutive sollten von verschiedenen Personen ausgeübt und die Richter unabhängig sein14. Vor allem aber muß nach festen, für alle gleichmäßig geltenden Gesetzen regiert werden, die allen bekannt gemacht sind und an die die Exekutive gebunden ist15. Denn es gilt der Satz: „freedom of men16 under government is to have a standing rule to live by, 13
Locke, Two Treatises on Government, 2. Abhandlung Nr. 123.
14
Lodge, aaO. Nr. 159.
15
Lothe, aaO. Nr. 142, 160, 162.
16
d. h. „bürgerliche" Freiheit im Gegensatz zur natürlichen.
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common to every one of that society, and m a d e by the legislative p o w e r erected in it." 1 7 Was Locke als Folge des Gesellschaftsvertrages entwickelt, ist also die Theorie des Rechtsstaates, der auf der Anerkennung der Mensdienredite als Bürgerrechte beruht. Es ist diese Lehre, auf die sich dann die amerikanische U n a b h ä n gigkeitserklärung v o n 1776 beruft: „We hold these truths to be selfevident: that all men are created equal, that they are e n d o w e d by their Creator w i t h certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness: T h a t to secure these rights, Governments are i n s t i t u t e d . . E b e n s o f o l g t ihr die französische Erklärung der Menschen- u n d Bürgerrechte v o n 1789. 4. Eine scharfe Kritik hat die Methode der Naturrechtslehre der Aufklärung in England durch Hume 1 7 a , in Deutschland durch Kant (1724—1804) erfahren. Letzterer wendet sich dagegen, daß sie sittliche Normen aus empirischen Daten, insbesondere aus anthropologischen Erkenntnissen ableitet. Die Sittlichkeit sei unableitbar und wurzele in der Vernunft. „Da meine Absicht... auf die sittliche Weltweisheit gerichtet ist, so schränke idi die vorgelegte Frage nur darauf ein: ob man nicht meine, daß es von äußerster N o t wendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre; denn daß es eine solche geben müsse, leuchtet von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze ein. Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch d. i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: Du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber nicht daran zu kehren hätten; und so alle übrigen eigentlichen Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der N a t u r des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und daß jede anderé Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung gründet, und sogar eine in gewissem Betracht allgemeine Vorschrift, sofern sie sich dem mindesten^ Teile, vielleicht nur einem Beweggrunde nach, auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann" 1 8 . Kant greift damit gegenüber dem eingeschränkten Vernunftbegriff der Aufklärung 1 9 auf den klassischen Vernunftbegriff zurück. 17
Locke, aaO. N r . 22. Hume A Treatise of H u m a n Nature. Deutsche Übersetzung von Th. Lipps Meiner Verlag Hamburg (1973) S. 210/11. 18 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Vorrede (Inselausgabe von Weischedel) IV, S. 1. 19 Vgl. oben Abschn. IV. 1. 170
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Kant hat dann in seiner Sdirift „Die Metaphysik der Sitten" von 1797 eine eigene, a priorische Rechtslehre geschaffen, d. h. ein „Naturrecht", das auf Prinzipien der praktischen Vernunft beruht. Er stellt das Recht der Ethik in der Weise gegenüber, daß die Ethik uns verpflichtet, bestimmte Handlungen aus einer bestimmten Gesinnung, nämlich aus „Pflicht", vorzunehmen, während das Redit sich begnügt, die Handlung selbst vorzuschreiben, gleichgültig, aus welchen Motiven sie erfolgt; Kant trennt also — in Anküpfung an Thomasius — „Moralität" und „Legalität". Dafür kann das Recht das von ihm Gebotene aber erzwingen. Als allgemeines Prinzip des Rechts als der „äußeren Gesetzgebung" postuliert Kant die Freiheit: „Freiheit ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit, zustehende Redit." Aus ihm folgen alle anderen natürlichen Rechte. Demgemäß kann er das Recht definieren als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür20 des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann 81 ." V. Im 19. Jahrhundert tritt mit der Entwicklung der Presse und des politischen Parteiwesens die Bildung politischer Programme neben die eigentliche Rechts- und Staatsphilosophie. Die beiden Ideenkreise sind natürlich nicht vollkommen voneinander getrennt. Es besteht z. B. ein enger Zusammenhang der historischen Rechtsschule und der Bildung eines konservativen politischen Programms. Bei Marx sind Rechtsphilosophie und Entwerfen eines politischen Programms sogar in einer Person vereint. Trotzdem steht bei der politischen Zielsetzung das unmittelbare Handeln in eine gegebene Situation hinein — um die Gesellschaftsordnung zu ändern oder um sie zu verteidigen — im Vordergrund. In unserer Darstellung kann auf die politische Ideengeschichte nur hingewiesen werden. 1. Die liberalen Parteien kämpfen für die Durchsetzung der Gedanken der Naturrechtslehre der Aufklärung und der französischen Revolution. Sie erstreben eine Beteiligung der Bürger an der Macht durch die Parlamente; hierbei setzt sich freilich der Gedanke des allgemeinen Wahlrechts erst sehr langsam durch. Der Liberalismus kämpft ferner für den Rechtsstaat, die Begrenzung der Staatsgewalt durch Gesetze und den Schutz der Grundrechte. Im Wirtsdiaftsbereidi glaubt er an die Möglichkeit einer natürlichen Harmonie der Interessen, wenn nur der Staat sich von Eingriffen in den wirtschaftlichen Prozeß fernhält. Diese Auffassung, die an die Lehren der klassischen Nationalökonomie anknüpft, wird insbesondere um die Jahrhundertmitte ausgebildet. 20
D. h. die Handlungsfreiheit. vgl. Metaphysik der Sitten (1797) Einleitung III und Einleitung in die Rechtslehre § 3 (Inselausgabe IV), S. 322/323, 337, 345. 21
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Demgegenüber tritt die im Laufe des 19. Jahrhunderts neu sich bildende Bewegung des Sozialismus für eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Güter und für die Befreiung der Arbeiterschaft ein. Sie entwickelt sich in drei Phasen. Der Ursprung liegt in Frankreich; in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts werden hier Theorien entwickelt, die zum Teil utopischen Charakter tragen. Hervorzuheben ist vor allem die Bewegung der St. Simonisten, die für die Ordnung der Gesellschaft die Forderung aufstellt: Jedem entsprechend seinen Fähigkeiten und seinem Verdienst. Um die Mitte des Jahrhunderts entwickelt Karl Marx (1818—1883) auf der Grundlage einer Geschidits- und Rechtsphilosophie sowie einer ökonomischen Theorie das Programm des Kommunismus. Er sieht den Weg zu einer gerechten Ordnung in der proletarischen Revolution und der Übernahme des Eigentums an allen »Produktionsmitteln" durch den vom Proletariat beherrschten Staat. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelt sich schließlich insbesondere in England und Deutschland ein Reformsozialismus, der die „soziale Frage", d. h. für das 19. Jahrhundert die gesellschaftliche und wirtschaftliche Einordnung der Arbeiterschaft, durch eine Reihe von Reformen, aber grundsätzlich im Rahmen der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung lösen will. Charakteristisch sind in Deutschland die sogen. Katheder-Sozialisten, in England die Fabian Society 1 . Diese verschiedenen politischen Bewegungen nehmen audi zu den Hauptfragen der Rechtsphilosophie Stellung, etwa zum Problem der Grundrechte oder der Rechtfertigung der Strafen. 2. W a s die eigentliche Theorie des Rechts angeht, so bringt das 19. Jahrhundert in neuen oder neugestalteten Wissenschaften eine Fülle neuer Gesichtspunkte für die Auffassung des Menschen und seiner Kultur: die Bedeutung der Geschichte wird neu erfaßt, die Gesetzmäßigkeit des wirtschaftlichen Lebens entdeckt, in Biologie und Psychologie — es seien nur die Namen von Darwin ( 1 8 0 9 — 1 8 8 2 ) und Freud ( 1 8 5 6 — 1 9 3 9 ) genannt — neue Erkenntnisse über den Menschen gewonnen und neue Thesen über ihn aufgestellt. Gleichzeitig führt der philosophische Positivismus zu einer erneuten kritischen Prüfung des wissenschaftlichen Erkenntnisvermögens. Alle diese neuen Ansatzpunkte wirken sich auch auf die Rechtstheorie aus: ja, sie werden — wie oft in der Geistesgeschidite neue Gesichtspunkte — oft als die allein möglichen und richtigen hingestellt. Aus der großen Zahl der so entwickelten neuen Antworten auf die Frage nach Wesen und Sinn des Redits als Kulturerscheinung heben wir die wichtigsten in ihren Hauptgesichtspunkten hervor. U m die Wende zum 19. Jahrhundert wird im wissenschaftlichen und philosophischen Denken ein neues Verhältnis zur Geschichte spürbar. Natürlich hatte es stets ein Interesse für die Vergangenheit ge1 vgl. dazu McBriar, Fabian Socialism and English Politics (Cambridge 1962).
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geben; was sich jetzt aber herausbildet, ist ein neues Empfinden für die geschichtliche Bedingtheit der menschlichen Kultur und die Einzigartigkeit jeder geschichtlichen Epoche. Für die Aufklärung w a r der Mensch, der uns im geschichtlichen Prozeß entgegentritt, im Grunde immer der gleiche gewesen; die einzelnen Epodien unterschieden sich v o r allem durch den Grad der Aufklärung, den sie erreicht hatten, und die Bewegung der Geschichte wurde angesichts dessen, was das eigene, das philosophische Jahrhundert erreicht hatte, als Fortschritt der Menschheit zu immer größerer Mündigkeit, Freiheit und Wohlstand verstanden. Der Historismus begriff, daß die Menschen der einzelnen Zeitalter und Nationen zutiefst verschieden sind; und zwar, weil sie in ihrem Denken und in ihren Wertvorstellungen von der Tradition, also der Geschidite, geprägt sind. E r fand die Einheit der Menschheit nur noch in der Gesamtheit der in sich individuell ausgeprägten Epochen und Kulturen; er fand keinen gradlinigen Fortschritt, sondern entdeckte höchst komplizierte, mechanisch nicht zu begreifende „organische" Entwicklungen. Diese neue Betrachtungsweise machte es notwendig, neue Kategorien für die Auffassung der Kultur zu finden. Es handelte sich vor allem darum, die Individualität, verstanden als besondere eigene geistige Gestalt, als „inward form", von Personen ebenso wie von Völkern und Zeitaltern, damit den Gesamtzusammenhang der verschiedenen Äußerungen der Kultur eines Zeitalters, ihre Totalität, die Eigengesetzlichkeit von allem geschichtlich Gewordenen und die Eigenart des historischen Prozesses selbst — im Gegensatz zu mechanisch gesteuerten Abläufen — zu erfassen. Die hierfür notwendigen Kategorien sind zum großen Teil schon während des 18. Jahrhunderts, also während der Vorherrschaft des Rationalismus entwickelt worden. Die Werke von Shaftesbury (1671—1713), von Giovanni Battista Vico (1668—1744), Montesquieu (1689—1755; Esprit des Lois 1748), Voltaire (1694—1778; Siècle de Louis X I V ) , schließlich Herders (1744—1803) waren entscheidende Schritte 2 . Am Ausgang des 18. Jahrhunderts und am Beginn des 19. Jahrhunderts entstand dann die neue kritische, d. h. die vorhandene Uberlieferung kritisch prüfende Geschichtswissenschaft; Niebuhrs Römische Geschichte (1811, 1832) war eines ihrer ersten bedeutenden Ergebnisse 3 . Im 19. Jahrhundert schlossen sich die übrigen geschichtlich orientierten Wissenschaften an: die Sprach- und Literaturwissenschaften, die Kunstgeschichte, die Kirchen- und Dogmengeschichte, kurz jene Wissenschaften, die wir unter dem Namen „Geistesvgl. dazu die Übersicht bei Meinecke, (2. Aufl. 1946). 2
Die Entstehung des Historismus
vgl. hierzu Butterfield, Man on his past (1955) und zum Begriff der kritischen Historie.Collingwood, The Idea of History (Deutsche Übersetzung 1955) V, § 3. 3
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Wissenschaften" zusammenfassen 4 . Als die Einzelwissenschaften geschaffen waren, folgte die theoretisdie Klärung ihrer Aufgaben, Methoden und Erkenntnismöglichkeiten, die „Kritik der historischen Vernunft". Hier sind vor allem die Schriften von Dilthey und Cassirer, von Collingwood, Betti und Gadamer sowie die Schriften über die Methode der Geschichtswissenschaft, etwa Droysen's „Historik" (1937) oder Marrou's „De la Connaissance historique" (1958) zu nennen 5 . 3. D i e geschichtliche Auffassung des Rechts wird in der Auseinandersetzung mit der französischen Revolution v o n 1789 entwickelt; sie ist in gewisser Hinsicht die A n t w o r t des konservativen Denkens auf den bürgerlich-radikalen Umsturz 6 . D i e wichtigste Schrift sind die „Reflections on the French Revolution" des englischen Parlamentariers und Publizisten Edmund Burke ( 1 7 2 9 — 1 7 9 7 ) . Burke hatte sich schon früher, in einer 1775 kurz vor Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gehaltenen Rede über die Aussöhnung mit den damaligen englischen Kolonien in Amerika gegen das D e n k e n in abstrakten Menschenrechten gewendet. „Abstract liberty, like other mere abstractions is not to be famed. Liberty inheres in some sensible object; and every nation has formed to itself some favorite point, which by w a y of eminence becomes the criterion of their happiness." 7 . In einer Frühschrift 8 hatte er den
4
Zur Entstehung der Bezeichnung vgl. Rothacker, Logik u. Systematik der Geisteswissenschaften (1948), S. 9—12. s
Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Gesammelte Sdiriften I, 4. Aufl. 1959), Die geistige Welt (Gesammelte Schriften V, 2. Aufl. 1957); Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (4. Aufl. 1964), Zur Logik der Kulturwissenschaften (2. Aufl. 1961); Collingwood, The Idea of History (Deutsche Übersetzung 1955); Betti, Teoria Generale dell' Interpretazione (1955); Gadamer, Wahrheit und Methoden (I960). 4
Das geschichtliche Rechtsverständnis kann nicht einfach der Romantik zugeordnet werden; es ist politisch konservativ. Dies hat vor allem Carl Schmitt in seinem Werk „Politische Romantik" (2. Aufl. 1923) im Anschluß an Rexius, Studien zur Staatslehre der historischen Schule, Historische Zeitschr. 107 (1911), S. 496—539 herausgearbeitet. 7
Speech on Conciliation with America, Works (1803) III, S. 49/50.
8
A Vindication of N a t u r a l Society (1756).
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Gedanken entwickelt, daß Staat und Recht nicht auf Vertrag, sondern auf Zeitablauf beruhten 9 . Jetzt wendet er sich sdiarf gegen die Zerstörung der überkommenen französischen Monarchie und den Versuch, nach abstrakten Prinzipien, nach den geschichtslosen Grundsätzen des Naturrechts der Aufklärung eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen. Recht und Verfassung sind nichts Mechanisches, Abstraktes, sie sind der Niederschlag der Erfolge von Generationen und leben in einer bestimmten nationalen Tradition. Man muß sie achten und darf sie nicht jedem neuen Bedürfnis opfern. Burke geißelt „the total contempt . . . of all ancient institutions, when set in opposition to a present sense of convenience" und den „spirit of innovation". Er setzt die geschichtlich gewordenen Freiheiten des Engländers gegen die abstrakten Mensdienredite. Auf den Ideen der abstrakten Freiheit und Gleichheit läßt sich kein Staat errichten: Die Freiheit muß aus den vorhandenen geschichtlichen Institutionen entwickelt werden. Die menschliche Vernunft ist zu schwach, eine neue Gesellschaftsordnung zu erfinden. Allmähliche Reform in Ehrfurcht vor dem Gewordenen, nicht Revolution und Umsturz sind der richtige, der natürliche Weg. Darin sieht er das Wesen englischer Verfassungsentwicklung: „By a constitutional policy, working after the pattern of nature, we receive, we hold, we transmit our government and our privileges, in the same manner in which we enjoy and transmit our property and our lives. The institutions of policy, the goods of fortune, the gifts of providence, are handed down to us, and from us, in the same course and order. Our political system is placed in a just correspondence and symmetry with the order of the world, and with the mode of existence decreed to a permanent body composed of transitory parts; wherein, by the disposition of a stupendous wisdom, moulding together the great mysterious incorporation of the human race, the whole, at one time, is never old, or middle-aged, or young, but, in a condition of unchangeable constancy, moves on through the varied tenor of perpetual decay, fall, renovation, and progression. Thus, by preserving the method of nature in the conduct of the state, in what we improve, we are never wholly new; in what we retain, we are never wholly obsolete. By adhering in this manner and on those principles to our forefathers, we are guided not by the superstition of antiquarians, but by the spirit of philosophic analogy.
• vgl. dazu Meusel, Burke's Sdiriften gegen die französische Revolution, S. 9.
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In this choice of inheritance we have given to our frame of polity the image of a relation in blood; binding up the constitution of our country with our dearest domestic ties; adopting our fundamental laws into the bosom of our family affections; keeping inseparable, and cherishing with the warmth of all their combined and mutually reflected charities, our state, our hearths, our sepulchres, and our altars." 10 Burke verabscheut den Radikalismus der Revolutionäre: „Plots, massacres, assassinations, seem to some people a trivial price for obtaining a revolution. A dieap, bloodless reformation, a guiltless liberty, appear flat and vapid to their taste. There must be a great change of scene; there must be a magnificent stage effect; there must be a grand spectacle to rouse the imagination, grown torpid with the lazy enjoyment of sixty years' security, and the still unanimating repose of public prosperity." 11 Er beklagt die Zerstörung der alten Loyalität: „But the age of chivalry is gone. That of sophisters, economists, and calculators, has succeeded; and the glory of Europe is extinguished for ever. Never, never more shall we behold that generous loyalty to rank and sex, that proud submission, that dignified obedience, that subordination of the heart, which kept alive, even in servitude itself, the spirit of an exalted freedom. The unbought grace of life, the cheap defence of nations, the nurse of manly sentiment and heroic enterprise, is gone! It is gone, that sensibility of principle, that chastity of honour, which felt a stain like a wound, which inspired courage whilst it mitigated ferocity, whidi ennobled whatever it touched, and under whidi vice itself lost half its evil, by losing all its grossness."12 Hier klingen die Leitsätze des geschichtlichen Rechtsverständnisses an: Mißtrauen gegen alles Umgestaltende und gegen abstrakte Programme, Ehrfurcht vor der gewordenen Rechtsverfassung als Ausdruck der Erfahrung, Reform statt Revolution, nationale Rechtskultur statt abstrakten Naturrechts. Burke's Schrift gewann schnell Einfluß. Erschienen 1790, wurde sie schon 1793 von Gentz ins Deutsche übersetzt. Der hannoversche Beamte und Publizist Rehberg nahm Burke's Gedanken auf; audi das Denken des Freiherrn
10 Burke, Reflections on the French Revolution (1790, zit. nach der Ausg. der Everyman's Library 1950), S. 31, 32. 11 Burke, aaO., S. 62. 12 Burke, aaO., S. 73.
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vom Stein ist von ihnen beeinflußt 13 . Später nahm der Romantiker Adam Müller (1779—1829) in seinen „Elementen der Staatskunst" (1809) Burke's Gedanken auf. Andere Hauptschriften der konservativen Staatstheorie der Zeit sind De Maistre (1753—1821; Considérations sur la France, 1796 — deutsch von v. Oppeln-Bronikowski, Berlin 1924) — und de Bonald (1754—1840; Théorie du Pouvoir, 1796). Für die Mitte des 19. Jahrhunderts kommen die Schriften des spanisdien Politikers Donoso Cortés (1809—1856) und die des Deutschen Fr. Julius Stahl (1802—1861) in Betracht. — Dagegen stellt sich die politisdie Theorie des Werkes, welches der Restaurationsepochc den Namen gegeben hat: K. L. v. Hallers (1768—1854) Restauration der Staatswissenschaft, 6 Bände (Bern 1816—1834), als eine Neufassung der Naturrechtslehre dar, weldie die patriarchalische Abhängigkeit des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt.
4. Burke war in erster Linie Politiker. Die wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Rechtswissenschaft hat, wenn auch keineswegs ohne politisches Engagement gegen die Aufklärung und die französische Revolution, Savigny formuliert. Savigny (1779—1861) ordnet das Recht zunächst in die Gesamtkultur ein. Das Redît ist Teil der Nationalkultur und damit Ausdruck des „Volksgeistes". Es gibt nicht, wie die Aufklärung meinte, ein Vernunftredit für alle Völker und Zeiten; es gibt nur die individuellen Rechtsordnungen der einzelnen Völker mit ihrer Besonderheit. Dieses gewordene Recht gilt es zu erfassen und zu respektieren. Denn alles Recht ist das Ergebnis eines langen geschichtlichen Prozesses; es ist anders in der Jugendzeit der Völker, anders in differenziert entwickelten Kulturverhältnissen. Es entwickelt sich nicht sprunghaft, durch die Entscheidung einzelner Neuerer, sondern kontinuierlich, „organisch", wie er mit einem Lieblingswort der Zeit sagte — so wie die Sprache es tut. „Die Summe dieser Ansicht also ist, daß alles Recht auf die Weise entsteht, welche der herrschende, nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, d. h. daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch die Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, still wirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers." 14 Gutes Recht erwartet Savigny daher
13
vgl. Rexius, Studien zur Staatslehre der historischen Schule. Histor. Zeitsdir. 107 (1911), S. 496—539. 14 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814); Jubiläumsausgabe 1914 durch ]. Stern, Thibaut und Savigny, S. 79.
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nicht von reformierender Gesetzgebung, sondern von der Tätigkeit eines wissenschaftlich gebildeten und arbeitenden Juristenstandes 15 . Der Rechtswissenschaft stellte Savigny zwei Aufgaben. Sie muß das Recht systematisch (philosophisch) und historisch verstehen. Die vielen Einzelformen des Rechts sdiließen sich jeweils zu bestimmten Instituten, wie Ehe, Eigentum, Erbgang zusammen, deren Regelung auf einfachen, im Volke lebendigen Grundanschauungen beruht. Aus diesen Ideen heraus muß die Wissenschaft die Einzelnorm interpretieren. Die Institute herauszuarbeiten, zu definieren, und in ihrem inneren Zusammenhang ein System zu erfassen, macht nun die philosophische Seite der juristischen Arbeit aus. Die Grundanschauungen, welche die Institute beherrschen, haben sich aber geschichtlich entwickelt. Ihre leitenden Ideen erschließen sich daher nur der geschichtlichen Betrachtung. Die Rechtswissenschaft wird sie in ihrer historischen Entfaltung verfolgen und damit zugleich ihr Wesen erkennen; denn die Betrachtung der Entwicklung wird deutlich machen, was an einem Institut abgestorben, was andererseits noch lebendig und wirksam ist 16 . Die historische Betrachtung liefert die Grundlage für die systematische. Es ist also eine besondere Art der Geschichtsforschung, die Savigny im Auge hat: es ist Ideengeschichte, nicht die Geschichte von Kämpfen um Ideen und Interessen. Das hat die Kritik der soziologischen Schule später mit Recht herausgearbeitet. Trotz dieser Einseitigkeiten ist die historische Rechtsschule nicht nur der entwicklungsmäßige Ausgangspunkt, sondern auch heute noch die Grundlage der kulturwissenschaftlichen Auffassung vom Recht und einer als Geisteswissenschaft verstandenen Rechtswissenschaft 17 . Dieser Ansatz ist in der Rechtsphilosophie des späteren 19. Jahrhunderts weiter entwickelt worden 1 8 und wird in wesentlich vertiefter Form als Theorie des Rechts im Rahmen der Gesamtkultur auch in der Rechtsphilosophie der Gegenwart vertreten. Hier sind vor 15 Dazu jetzt die neue Savigny-Auffassung bei Wieacker, Privatreditsgeschidite der Neuzeit (2. Aufl. 1967), S. 381 ff.; auch Coing, Savignys rechtspolitische und methodische Anschauung in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige deutsche Rechtswissenschaft; Ztschr. des Bernischen Juristen Vereins, 91. Jahrg. (1955), S. 329 ff. 16 Savigny, aaO., S. 78 f., System des heutigen Römischen Redits I (1840), S. 90 ff., 94. 17 Stellungnahme zur historisdien Rechtssdiule unten Kap. III Absdin. II. 5. 18 Ich nenne hier etwa die rechtsphilosophischen Bemühungen Joseph Kohlers.
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allem zwei große Rechtsphilosophen Lateinamerikas zu nennen: Miguel Reale und Luis Recaséns Siches, welche historisch-soziologische und wertphilosophische Betrachtungsweise verbinden 19 . 5. Zur selben Zeit, in der sich in Deutschland das historische Denken entwickelt, entsteht im Anschluß an die Philosophie Kants die spekulative Philosophie des deutschen Idealismus. Aus ihrem Bereich soll hier kurz auf die Rechtslehre Hegels (1770—1831) eingegangen werden. Hegel lehrt eine Philosophie des Geistes. Es ist der Geist, der die Wirklichkeit der natürlichen, gesellschaftlichen und geistigen Welt bestimmt. Aber diesen die Welt bestimmenden Geist sieht Hegel nicht in einem ruhenden Kosmos der Ideen, wie Piaton; vielmehr wird die Welt als Bewegung und der Geist im Prozeß der Selbstentfaltung begriffen. Die Einheit des Geistes bleibt trotz dieser Annahme seiner Bewegung, seines Werdens, dadurch gewahrt, daß jede einzelne Phase der Entwicklung als das Erscheinen eines Momentes des einheitlichen Geistes aufgefaßt wird. Die in ihm liegenden Gehalte verwirklichen sich in der Zeit; darum ist alles Bewegung, und doch alles zugleich aufeinander bezogen und in einer letzten Einheit zusammengehalten. Denn eben da alles Wirkliche in dieser Form Manifestation des Geistes ist, sind alle Phänomene miteinander verbunden und, als Manifestation des Weltgeistes, letztlich identisch. Ein solches Aufeinanderbezogensein besteht insbesondere auch zwischen erkennendem Subjekt und Objekt; ihre Einheit erscheint in dem gewonnenen „Begriff". Da der Weltprozeß die sich entfaltende Vernunft ist, bezeichnet Hegel die Wissenschaft, in welcher dieser Prozeß erkennend erfaßt wird, als Logik. „Die Logik fällt daher mit der Metaphysik zusammen, der Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt, welche dafür galten, die Wesenheiten der Dinge auszudrücken."20 . . . „Die Logik bestimmte sich danach als die Wissenschaft des reinen Denkens, die zu ihrem Princip das reine Wissen habe, die nicht abstrakte, 19 Hauptwerke: M. Reale, Filosofia do direito (Sao Paulo 1953, 2. Aufl. 1962; italienische Übersetzung von Bagolino-Ricci, Filosofia del diritto, Turin); L. Recaséns Siebes, Vida Humana, Sociedad y Deredio (Mexiko 1939, 3. Aufl. 1952; engl. Übersetzung von G. Ireland, Human Life, Society and Law in: Fundamentals of the Philosophy of the Law, 1948); Kurze Übersichten in Recaséns Siches, Panorama del Pensamiento jurídico en el Siglo X X (Mexiko 1963) Kapitel 26 und 28. 20 Hegel, System der Philosophie (Ausgabe Glockner 4. Aufl. 1964 Band 8), S. 83.
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sondern dadurdi konkrete lebendige Einheit, daß in ihr der Gegensatz des Bewußtseyns von einem subjektiv-für sich Seyenden und einem zweiten solchen Seyenden, einem Objektiven, als überwunden, und das Seyn als reiner Begriff an sich selbst, und der reine Begriff als das wahrhafte Seyn gewußt wird. Dies sind sonach die beiden Momente, welche im Logischen enthalten sind. Aber sie werden nun als untrennbar seyend gewußt, nicht wie im Bewußtsein jedes auch als für sich seyend; dadurdi, allein, daß sie zugleich als unterschiedene (jedoch nicht f ü r sich seyende) gewußt werden, ist ihre Einheit nicht abstrakt, todt, unbewegend, sondern konkret." 2 1 . . . „Die Logik zerfällt in drei Theile: I. In die Lehre von dem Seyn. II. Die Lehre von dem Wesen. III. Die Lehre von dem Begriffe und der Idee. Nämlich in die Lehre von dem Gedanken: I. In seiner Unmittelbarkeit, — dem Begriffe an sich. II. In seiner Reflexion und Vermittlung, — dem Fürsichseyn und Schein des Begriffes. III. In seinem Zurückgekehrtseyn in sich selbst und seinem entwickelten Bei-sich-seyn, dem Begriffe an und für sich."22 Logik bedeutet also für Hegel mehr als die traditionelle Lehre vom Begriff, Urteil und Schluß (sogen, formale Logik); sie ist Metaphysik und Erkenntnistheorie in eins 23 . Hegel hat die traditionelle Logik scharf kritisiert, weil sie dei inneren Zusammenhang der Dinge nicht gerecht werde, vielmehr b( der Bildung von Urteilen und Begriffen, indem sie auf das Vor handensein einer einzigen isolierten Eigenschaft abstelle, diesen Zu sammenhang zerreiße. Es sei z. B. falsch, die Sätze „Alle Menschei sind lebendig" und „Alle Menschen sind sterblich" als isolierte aufzu stellen: da doch das Wesen des Lebendigen gerade in der Sterblichkei alles Lebendigen beschlossen sei. Dem Allzusammenhang der Erscheinungen wie der Erkenntniss< sucht Hegel demgegenüber mit dem Verfahren der „Dialektik" gerecht zu werden. Danach vollzieht sich die Entfaltung der sich verwirklichenden Vernunft wie diejenige des Denkens, die ihr folgt, ir jeweils drei Schritten: Einer These tritt eine Gegenthese gegenüber; diese ist die Negation der ersten These — aber eben als solche bleibt sie 21
Hegel, Wissenschaft der Logik (Ausgabe Glockner, S. 60. 22 23
3. Aufl. 1958 Band 4),
Hegel, System der Philosophie, aaO., S. 198, 199.
Zum Verhältnis zur formalen Logik vgl. etwa Scholz, Geschichte der Logik (1931), S. 14 ff. und die (zu summarische) Bemerkung bei Kneale, Development of Logic (2. Aufl. 1964), S. 355.
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Kapitel I
auf jene bezogen. Aus dem Widerstreit dieser beiden Thesen entstellt dann die Synthese, welche die beiden Thesen vereinigt und deren Elemente in sich aufnimmt („aufhebt"). Die Synthese kann audi als „Negation der Negation" bezeichnet werden, insofern sie die Kritik der Antithese überwindet. Die drei Schritte dieser „dialektischen Triade" stehen nicht unvermittelt nebeneinander, sondern rufen einander hervor: jeder Begriff setzt sein Gegenteil (Antithese) bereits voraus, so das Sein das Nichts; die These schlägt in die Antithese um. Und die Synthese vereinigt in sich die Momente von These und Antithese: sie hebt sie in sich auf. So das „Werden" das „Sein" und das „Nichts". „Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet, und zugleich so viel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Daseyn entnommen wird, um es zu erhalten. — So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist. —" 24 Gerade darin, daß die These die Antithese hervorruft und die Synthese beide „aufhebt", kommt der Allzusammenhang der Erscheinungen zum Ausdruck, die ja alle eben nur Momente des einen Geistes sind — jener Zusammenhang, den die traditionelle Logik zerreißt. „Das dialektische Moment ist das eigene Sich-Aufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzte."25 Entsprechend seiner metaphysischen Grundansicht ist die Dialektik nicht nur ein Prinzip der Erkenntnis, sondern auch dasjenige der natürlichen und geistigen Entwicklung. „Weiter macht sich nun auch die Dialektik in allen besonderen Gebieten und Gestaltungen der natürlichen und der geistigen Welt geltend. So ζ. B. in der Bewegung der Himmelskörper. Ein Planet steht jetzt an diesem Ort, ist aber an sich, dieß auch an einem andern Ort zu seyn, und bringt dieß sein Andersseyn zur Existenz dadurch, daß er sich bewegt. Eben so erweisen sich die physikalischen Elemente als dialektisch und der meteorologische Proceß ist die Erscheinung ihrer Dialektik. Dasselbe Princip ist es, welches die Grundlage aller übrigen Naturprocesse bildet und wodurch zugleich die Natur über sich selbst hinausgetrieben wird. Was das Vorkommen der Dialektik in der geistigen Welt, und näher auf dem Gebiet des Rechtlichen und 24
Hegel, Wissenschaft der Logik, aaO., S. 120.
25
Hegel, System der Philosophie, aaO., S. 189.
H a u p t l e h r e n der Rechtsphilosophie
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Sittlichen a n b e t r i f f t , so braucht hier nur daran erinnert z u w e r d e n , w i e , allgemeiner Erfahrung z u f o l g e , das Ä u ß e r s t e eines Zustandes o d e r eines T h u n s in sein Entgegengesetztes umzuschlagen pflegt, welche D i a l e k t i k d a n n auch- v i e l f ä l t i g in Sprüchwörtern ihre A n e r k e n n u n g findet. S o heißt es ζ . B. s u m m u m jus s u m m a injuria, w o m i t ausgesprochen ist, d a ß das abstrakte Recht auf seine S p i t z e getrieben in Unrecht umschlägt. E b e n so ist es bekannt, w i e i m Politischen die E x t r e m e der Anarchie u n d des D e s p o t i s m u s einander gegenseitig herbeizuführen pflegen. Das Bewußtseyn der Dialektik im G e b i e t des Sittlichen in seiner i n d i v i d u e l l e n Gestalt f i n d e n w i r in jenen allbekannten Sprichwörtern: H o d i m u t h k o m m t v o r d e m Fall. Allzuscharf macht schartig u s w . " 2 6 I n den R a h m e n dieser Gesamtanschauung w i r d n u n auch die B e trachtung des Rechtes gestellt. D a s R e d i t ist objektiver Geist, d. h. ein Bestand a n überindividuellen, einer G r u p p e gemeinsamen G e d a n ken, der G e m e i n g e i s t eines V o l k e s . Sein K e r n ist die I d e e der Freiheit. Im Redit und seiner Geschichte verwirklicht sich die Idee der Freiheit; das Rechtssystem ist das „Reich der verwirklichten Freiheit". 2 7 Die Freiheitsidee entfaltet sich in den drei Stufen der Legalität, Moralität und der Sittlichkeit. Die Stufe der Legalität bezeichnet Hegel als diejenige des „abstrakten oder formellen Redits". 2 8 Der Einzelne weiß sich hier als frei, als Person. Das Recht erkennt ihm Rechtspersönlichkeit u n d Rechtsfähigkeit z u ; es gilt der G r u n d s a t z : „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen." 2 9 Indem der freie Mensch seinen Willen in Gegenstände der N a t u r legt ( O k k u pation und Gebrauch), entsteht Eigentum, welches das Recht schützt; indem er mit andern tauscht, entstehen Verträge. Die Stufe der Moralität wird bestimmt durch die Anerkennung der moralischen Persönlichkeit des einzelnen, der Motive u n d Gesinnungen, aus denen er handelt. „Der Begriff des Mora-
26 Hegel, System der Philosophie, aaO., S. 193, 194. Zur gegenwärtigen Auseinandersetzung um das dialektische D e n k e n vgl. etwa einerseits Popper, Was ist Dialektik? in: Logik der Sozialwissenschaften (4. Aufl. 1967), S. 262ff., andererseits Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie u n d Dialektik, ebenda, S. 291 ff., bei der Habermas vor allem hervorhebt, d a ß die dialektische Methode es gestatte, das Aufeinanderbezogensein der einzelnen Positionen wie audi des Forschers u n d seines Objektes in den Sozialwissenschaften a d ä q u a t zum Ausdruck zu bringen. 27
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Ausg. Glockner 4. A u f l . 1964, Band 7), S. 50. — Z u m Begriff der Wirklichkeit als Einheit von „Wesen" u n d Existenz vgl. Hegel, System der Philosophie, aaO., S. 319. 28
Z u m Begriff des „Abstrakten", des „An-sich-Seins" bei Hegel vgl. System der Philosophie, aaO., S. 218; des „Für-sich-Seins" ebenda, S. 227. 29
Hegel, aaO., S. 91.
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lisdien ist das innerliche Verhalten des Willens zu sich selbst."30 Rechtlich folgt aus dieser Anerkennung z.B.: der Schutz der Gewissensfreiheit; das Redit des einzelnen, seine Glückseligkeit zu suchen; die Anerkennung des Schuldprinzips dahin, daß dem einzelnen nur seine vorsätzlichen Handlungen zugerechnet werden; die Forderung der Fähigkeit, das Rechtswidrige eines Tuns einzusehen, als Voraussetzung der Strafe. — Die Stufe der „Sittlichkeit" ist dadurch bezeichnet, daß der einzelne als Person über die Verfolgung seiner persönlichen Ziele hinaus allgemeine sittliche Mächte in seiner Tätigkeit verwirklicht: Dies geschieht wiederum in drei Stufen dadurch, daß der einzelne in und für soziale Gemeinschaften lebt und tätig ist: in der Familie, in seiner Berufsarbeit, in der bürgerlichen Gesellschaft und ihren einzelnen Berufsständen, und schließlich und vor allem als Bürger und Diener des Staates. Denn der Staat, d. h. der Kulturstaat seiner Zeit, ist Hegel die „Wirklichkeit der sittlichen Idee" in ihrer Totalität. 81 „Der Staat an und für sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit."32 Als Mitglied des Staates wächst der einzelne über sich hinaus und erhebt sich zum Allgemeinen. Unter den einzelnen Staaten gibt es in jeder Epoche einen führenden Staat; in ihm kommt der sich entwickelnde Weltgeist zur Existenz. Daher sind auch die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Staaten, die Hegel bejaht, Ausdruck der Entwicklung des Weltgeistes, und seiner Grundthese von der Vernünftigkeit der Geschidite entsprechend gibt Hegel dem Satz, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei, eine letzte philosophische Bedeutung38. VI. Im 18. und 19. Jahrhundert gelingt es in der damals neuen Wissenschaft der Nationalökonomie zum ersten Mal, Gesetzmäßigkeiten im wirtschaftlichen Geschehen festzustellen und das Verhalten des Menschen im Wirtschaftsprozeß zu analysieren 1 . Mit dieser Entdeckung mußte für die Rechtsphilosophie die Frage entstehen, in welcher Beziehung die ökonomischen Verhältnisse und Bestrebungen zur Rechtsordnung standen. Diese Frage fand ihre Antwort in zwei Gruppen von Theorien: in der soziologischen oder Interessenjurisprudenz und in der Philosophie von Karl Marx. 1. Die Interessenjurisprudenz hat ihren letzten Ursprung in Eng80
Hegel, aaO., S. 170. 82 Hegel, aaO., S. 328. Hegel, aaO., S. 333. 88 Hegel, aaO., S. 446, Stellungnahme zu Hegels Auffassung vom Staate unten Kap. IV Absdin. V Ziffer 2. 1 Die „klassisdie" Schule der Nationalökonomie entsteht um 1800. A. Smith's „Wealth of Nations" erschien 1776, Ricardos „Principles of Political Economy and Taxation" 1817. 81
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land, in den ethischen Lehren von Jeremy Bentham (1748—1832) und seinen Schülern, den sogen. „Utilitarians" 2 . Bentham's Ethik beruht auf dem sogen. Lustprinzip; sie gründet sich auf den Gedanken, daß der Mensdî Lustgefühle erstrebt und Unlust zu vermeiden trachtet und dadurch in seinen Handlungen bestimmt ist. „Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do 3 ." Als ethisch wertvoll betrachtet Bentham Handlungen, die in vernünftiger Weise und im größten Maß Lust (pleasure) fördern und Unlust vermeiden. „Ethics at large may be defined the art of directing man's action to the production of the greatest possible quantity of happiness, on the part of those whose interest is in view." 4 Nach diesem Prinzip wird es für die Beurteilung menschlicher Handlungen häufig notwendig sein, abzuwägen, ob sie im Endergebnis mehr Lust oder mehr Unlust hervorrufen. Das ethische Urteil erfordert also eine „Interessenabwägung" 5 . Um sie zu ermöglichen, arbeitet Bentham eine Reihe von Kategorien heraus. Bei Beurteilung von Lust und Unlust ist z. B. in Betracht zu ziehen: die Intensität der Lust- bzw. Unlustgefühle, ihre Dauer, die Gewißheit ihres Eintretens, ihre „Reinheit" (purity), d. h. die Sicherheit, daß ursprünglich gegebene Lust nicht später von Unlustgefühlen gefolgt wird, — aber auch 2
Hauptsdirift: The Principles of Morals and Legislation, deren erster und zunächst einzig veröffentlichter Teil 1789 erschien. Der zweite Teil ist erst viel später aufgefunden und 1945 von Everett unter dem Titel „The limits of jurisprudence defined" veröffentlicht worden. Inzwischen wurden Bentham's Gedanken durch einen Schweizer Anhänger, den Genfer Dumont, verbreitet, der Bentham's Aufzeichnungen bearbeitete und übersetzte: Traités de législation civile et pénale (1802), Théorie des peines et des récompenses (1812). Zum Verhältnis von Dumonts Text zu Benthams eigenem vgl. Baumgardt, „Bentham and the Ethics of to-day" (1952), S. 321 ff. mit weiteren Nachweisen. 3 Bentham, Principles of Morals and Legislation, nach der Gesamtausgabe von Bowring (urspriingl. 1838/1843; Reprint 1962), S. 1. 4
Das Interesse einer Person wird nach Bentham gefördert, wenn etwas die Gesamtsumme ihrer Lust, „the sum total of his pleasure", erhöht, aaO., S. 2 Note. 5
Dieses Wort stammt in der Tat von Benthams Beneke.
deutschem Übersetzer
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ihre Ausdehnung (extent), d. h. die Zahl der Personen, bei denen Lustgefühle hervorgerufen werden 6 . Auf dieser Grundlage entwickelt Bentham nun ein Grundprinzip, das sowohl für die Individualethik wie für die Gesetzgebung, also für das Recht, gültig ist. Eine Handlung ist dann richtig, ein Gesetz dann gerecht, wenn es das größte Glück der größten Zahl von Personen befördert (sogen. Utility-principle). „By the principle of utility is meant that principle which approves or disapproves of every action whatsoever, according to the tendency which it appears to have to augment or diminish the happiness of the party whose interest is in question." 7 Handelt es sich um ein Gesetz, so müssen die Interessen aller einzelnen Mitglieder der Gesellschaft in Rechnung gestellt werden. Weder Bentham noch seine Nachfolger haben das „Utility-principle" auf die Beförderung materieller Interessen beschränken wollen. Aber gerade in seiner Anwendung auf Recht und Gesetzgebung mußte die damit entwickelte Fragestellung dahin führen, nach den Machtund Wirtschaftsinteressen zu fragen, die hinter den einzelnen Rechtsnormen standen, die einzelnen Rechtsregeln als Ausdruck soldier Interessen oder als Kompromiß zwischen widerstreitenden Interessen zu sehen, und als Prinzip der Gesetzgebung und Rechtsprechung den Grundsatz aufzustellen, daß möglichst vielen Interessen Raum zu gewähren sei — jedenfalls dann, wenn nach dem Prinzip der Interessenabwägung keine überwiegenden „Gegeninteressen" erkennbar seien. Das aber sind die wesentlichen Grundsätze der soziologischen oder Interessenjurisprudenz 8 . Bentham ist damit der Urheber einer der einflußreidisten reditsphilosophischen Schulen der Neuzeit geworden. Über seine unmittelbaren Schüler, die britisdien „Utilitarians", vor allem J. St. Mill (1806—1873) hinaus, haben seine Gedanken einen großen Einfluß auf die moderne amerikanische Rechtswissenschaft gewonnen, z. B. auf Roscoe Pound® und den amerikanischen Realismus10; aber audi die deutsche lnteressenjurisprudenz, die ihrerseits eine
β
7 vgl. aaO., S. 16 Bentham, aaO., S. 1. Stellungnahme zu Bentham unten Kap. II Absdin. III, S. 110. 9 vgl. dazu etwa dessen Buch „Social Control through Law" (1942). 10 D a z u vgl. Coing, Neue Strömungen in der nordamerikanischen Rechtsphilosophie, Archiv f. Rechts- u. Sozialphilosophie, 38. Bd. (1949/1950), S. 536 ff., insbes. S. 546 ff.; ders., Benthams Bedeutung für die Entwicklung der Interessenjurisprudenz und der allgemeinen Rechtslehre, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 54. Bd. (1968), S. 69 ff. 8
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weite Wirkung entfaltet hat, geht über Ihering (1818—1892), der auf Bentham in seinem „Zweck im Recht" zurückgriff, auf ihn zurück11. Dazu kommt noch, daß Bentham außerdem auch die Grundgedanken der sogenannten „Allgemeinen Reditslehre" entwickelt hat, die sein Schüler Austin zuerst ausgeführt hat 12 .
2. Während die Utilitaristen die Bedeutung ökonomischer Interessen für das Recht im Einzelfall und im Rahmen einer allgemeinen Interessenprüfung würdigten, formuliert Marx (1818—1883)13 die Beziehungen in einer umfassenden Kultur- und Geschichtsphilosophie. Darin schließt er sich an Hegel an. Aber während Hegel die Geschichte als Selbstbewegung des Geistes konstruiert, sieht Marx den entscheidenden Faktor in der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse. Denn die ökonomische Position des Menschen bestimmt — das ist seine Hauptthese — sein Bewußtsein, sein Denken, seinen Geist. Das Verhältnis zwischen Geist und Ökonomie, zwischen Wirklichkeit und Vernunft ist genau umgekehrt als Hegel es gesehen hatte. Das ist die kopernikanische Wendung, die Marx vollzieht. Marx hat seine Lehre selbst in unnachahmlicher Kürze und Plastik im Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie" (1859) zusammengefaßt: „Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab, und einmal, gewonnen, meinem Studium zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß ü b e r h a u p t . Es ist nicht das Bewußsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein
bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die 11 Über „Zweck im Recht" urteilt Jodel, es sei „Deutscher Benthamismus", Geschichte der Ethik (1965) II, S. 922. 12 Dazu vgl. unten Abschn. VIII. 3 a. Über Austins Mitgliedschaft in einem Kreis jüngerer Leute um Bentham vgl. die Schilderung dieses Kreises bei ]. St. Mill, Autobiography (1873, dt. Ubersetzung 1874). 13 Biographie: v. Mehring, Karl Marx, Geschichte seines Lebens (Band 3 Gesammelte Schriften 1960).
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materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, oder was nur ein juristischer Ausdrude dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Uberbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewußt werden und ihn ausfechten. So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann . . . In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses... Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." 13a Für die Auffassung des Rechts werden damit die folgenden Thesen aufgestellt: a) Das gesellschaftliche Sein des Menschen bestimmt sein Bewußtsein. Damit ist die idealistische Auffassung des Rechts nicht nur Hegels, sondern auch etwa der stoischen Naturrechtslehre abgelehnt. b) Das gesellschaftliche Sein wird bestimmt durch die Produktionsverhältnisse, d. h. die Verhältnisse, die aus der Organisation der Produktion entstehen. Unter ihrem Einfluß bildet sich das menschliche lsa
Hervorhebung von mir.
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Bewußtsein: die Ideen über Religion und Recht, Sittlichkeit und Kunst. Sie sind, bildlich gesprochen, ein „Überbau", der sich auf dem Fundament der ökonomischen Verhältnisse erhebt. c) In der „Vorgeschichte der Menschheit", d. h. vor Herstellung des Sozialismus, entsteht aus den Produktionsverhältnissen, jedenfalls in den höheren Kulturformen, eine Klassenherrschaft, weil ein Teil der Gesellschaft das Monopol an den notwendigen Produktionsmitteln erwirbt und behält. Im Feudalismus herrscht die Klasse der Grundeigentümer, im bürgerlichen Kapitalismus Grundbesitzer und Kapitalisten. Diese Klassenherrschaft ermöglicht die Ausbeutung der Arbeiter. „Überall, wo ein Teil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muß der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung notwendigen Arbeitszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen, um die Lebensmittel für den Eigner der Produktionsmittel zu produzieren, sei dieser Eigentümer nun atheniensischer καλός κάγαθός, etruskischer Theokrat, civis romanus, normannischer Baron, amerikanischer Sklavenhalter, walachischer Bojar, moderner Landlord oder Kapitalist." 14 Für das kapitalistische Zeitalter vollzieht sich die Ausbeutung insbesondere in der Form, daß der Unternehmer den „Mehrwert", d. h. den Wert, den der einzelne Arbeiter dadurch schafft, daß er länger arbeiten muß, als es — grob gesprochen — für seinen und seiner Familie Lebensunterhalt nach der gegebenen Produktionsweise notwendig wäre ( = gesellschaftlich notwendige Arbeit) 15 , sich aneignet. Die Rechtsordnung ist Ausdruck der jeweiligen Klassensituation; sie ist von den Interessen der jeweils herrschenden Klasse geprägt und unterdrückt die Ausgebeuteten. Wie die Geschichte selbst durch den Antagonismus der Klassen, den Klassenkampf, bestimmt ist, ist auch die Rechtsordnung ein Instrument in diesem Kampf. d) Marx nimmt an, daß sich die Geschichte notwendig in bestimmten strukturierten Epochen auf ein letztes Ziel hin entwickelt. Jede Einzelepoche empfängt ihre Grundstruktur von einer Produktionsweise (Art und Weise, wie der Mensch die für ihn notwendigen Güter hervorbringt), und zwar von derjenigen, welche in ihr vorherrscht, mögen sich daneben auch einzelne andere finden. „In allen Gesell14
Marx, Das Kapital I (Ausgabe Lieber 1962 Band 4), S. 247. vgl. Marx, aaO. insbes. Kapitel 6—8. Zu den nationalökonomisdien Lehren von Marx vgl. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Deutsdie Ausgabe 1950) 3. Kapitel. 15
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schaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist." 16 So herrscht z.B. in der Feudalzeit die mit der Grundherrschaft verknüpfte Naturalwirtschaft und die Handwerkerproduktion vor, obwohl in ihr auch schon der Kapitalist als Geldverleiher und Kaufmann vorkommt. Die Produktionsverhältnisse — und damit der Uberbau — entwickeln sich gesetzmäßig. Für die Entwicklung nimmt Marx an, sie erfolge „dialektisch", d. h. jede Produktionsweise entfaltet sich bis zu einem Punkt, in dem sie in ihr Gegenteil umsdilägt. So wird der auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgebaute Kapitalismus eines Tages notwendig in den Sozialismus umschlagen; Eigentumsverhältnisse und Produktionsweise werden dann in Harmonie sein: der gemeinschaftlichen Produktionsweise, die im kapitalistischen Großunternehmen ausgebildet worden ist, wird gemeinschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln entsprechen: die Trennung des arbeitenden Menschen von den Produktionsmitteln wird aufgehoben sein.. Freilich' sieht Marx den Gang der Geschichte nicht in dem Sinne als notwendig an, daß jede Einwirkung durch menschliches Handeln ausgeschlossen wäre 17 . Die Entwicklung kann beschleunigt oder retardiert werden. Auch die Uberbaulehre darf nicht vollkommen schematisch verstanden werden. Es gibt Stellen, in denen rechtlichen Institutionen eine steuernde Wirkung für die Produktionsweise zuerkannt wird. So verhindern die Zunftordnungen, daß die an sich vorhandenen Kapitalisten sich der Produktion bemächtigen18, und die englischen Arbeiterschutzgesetze erscheinen als „ be wußte und planmäßige Rückwirkung auf die naturwüchsige Gestalt" des Produktionsprozes-
15
Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (vor 1859; Ausgabe Lieber Band 6), S. 713—833 (826). 17
Dies tritt besonders in der Sdiilderung der Epoche, in der in England die Voraussetzungen für den Kapitalismus geschaffen wurden, die sogen, ursprüngl. Accumulation, am Ende des 1. Bandes des Kapitals hervor, macht aber vor allem die Rolle, die Marx dem revolutionären Handeln zuweist, das Ineinandergreifen von theoretischer Analyse u. Aktion, erst verständlich. Zu letzteren vgl. die Schilderung der „Realdialektik" bei K. Mannheim, Ideologie und Utopie (3. Aufl. 1952), S. 110. 18
vgl. Marx, Kapital I (Ausg. Lieber Bd. 4), S. 911.
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ses 19 . Freilich können sie gegen den notwendigen Entwicklungsgang der Produktionsweisen keine dauernde Wirkung erzielen 2 0 . 3. Mit der Geschichtstheorie des Marxismus hängt die Lehre von der „Ideologie" zusammen. Das Wort bedeutet ursprünglich einfach „science des idées", Wissenschaft von den Gedanken oder Vorstellungen und bezeichnet um 1800 eine philosophische Schule in Frankreich. Napoleon, der diese Schule ablehnte, gab dem Wort „Idéologue" zuerst einen abwertenden Sinn 2 1 . Bei Marx bezeichnet Ideologie diejenigen religiösen oder sozialphilosophischen Lehren, mit denen die herrschende Klasse die bestehenden Rechts- und Herrschaftsverhältnisse rechtfertigt, insbesondere wenn sich neue Produktionsverhältnisse entwickelt haben, so daß ein Umschwung bevorsteht. Die Ideologie ist also eine Lehre, die dem Stand der ökonomischen Entwicklung bereits nicht mehr entspricht; sie entspringt daher einem „falschen" Bewußtsein von der geschichtlichen Situation. Der moderne Gebrauch des Wortes geht von dem allgemeinen Grundgedanken aus, den Marx formuliert hat, nämlich daß das Denken des Menschen von seiner gesellschaftlich-ökonomischen Situation, seinem gesellschaftlichen „Sein" — auch gegen seinen Willen — beeinflußt wird; ideologisch ist daher jede Lehre, die, dem Urheber unbewußt, aufgestellt oder festgehalten wird, obwohl sie der Wirklichkeit der Verhältnisse nicht entspricht, weil — objektiv gesehen — diese Lehre den Interessen des Urhebers oder seiner gesellschaftlichen Gruppe zu dienen geeignet ist. Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge ist die sogen. „Ideologiekritik" 22 . VII. 1. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die J a h r hundertwende tritt eine entscheidende Änderung in der Vorstellung vom Menschen ein. Die neuen Vorstellungen kommen zunächst aus der Biologie. Zwei Jahrtausende hatten den Menschen in Philosophie und Religion als Geistwesen und Ebenbild Gottes den Tieren gegenübergestellt. N u n ordnete Darwin's Theorie über die Entstehung der Arten — erschienen 1 8 5 9 — ihn konsequent in das Tierreich ein; zugleich erklärte er die Verschiedenheit der Arten durch die Theorie, daß im Daseinskampf nur die jeweils am besten angepaßten Individuen überlebten (sogen, „survival of the fittest"), eine Theorie, die nicht ohne Auswirkung auf die Moral bleiben konnte. Ferner fallen
19
Marx, aaO., S. 564.
vgl. dazu etwa die Bemerkungen über die Wirkung der Bodengesetzgebung in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (Ausgabe Lieber, Band 6), S. 815/816. 20
2 1 vgl. zur Bedeutungsgeschichte des Wortes H. Ideologie (1961) Kap. I. 22
vgl. K. Mannheim,
Barth,
Ideologie und Utopie (3. Aufl. 1952).
Wahrheit und
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die ersten Entdeckungen auf dem Gebiete der Vererbungslehre in diese Zeit 1 . In den Jahren 1853 bis 1855 veröffentlichte Graf Gobineau (1816 bis 1881) seinen „Essai sur l'inégalité des races humaines". Gobineau stellt sich die Frage nach der Ursache des Kulturzerfalls. Seine Antwort ist: die Degeneration der Rasse, welche die betreffende Kultur begründet hat. Die Rassen sind Mensdiengruppen, die auf der Grundlage der Vererbung gleiche körperliche und geistige Merkmale aufweisen. Die Rassen sind — wahrscheinlich vom Ursprung her — verschieden2. Die liberalen Dogmen von Gleichheit und Brüderlichkeit sind falsch3. Die weiße Rasse ist die eigentlich „überlegene": „Toute civilisation découle de la race blanche"4. Damit waren die entscheidenden Ideen der Rechtsauffassung der Aufklärung in Frage gestellt. 2. Aber auch' in der philosophischen und empirischen Psychologie setzen sich umstürzend neue Anschauungen durch. Sie führen zu einem tiefen Zweifel an der Herrschaft des Verstandes — oder gar des Geistes — im Menschen und zu der Tendenz, diejenigen Eigenschaften des Menschen, die man bisher als die höheren und Kultur begründenden, die eigentlich menschlichen betrachtet hatte, seine Fähigkeit zur Güte, zur Selbstbescheidung, zur Sympathie, zur Einordnung in die Gesellschaft im Wege einer Art Reduktion auf primitive Triebstrukturen zurückzuführen. Schon Schopenhauers (1788—1860) Philosophie hatte den blinden Lebenswillen zum eigentlichen Kern des Menschen wie der Welt erklärt 5 . Nietzsche (1844—1900) erklärt die christliche Ethik, die Demut, die Nächstenliebe, die Ablehnung von Rache und Gewalt aus dem Ressentiment der wehrlosen Unterdrückten, die damit die Werte der herrschenden Schicht — Tapferkeit, Vornehmheit — abwerten, um so das eigene Sein als das wahrhaft Wertvolle zu erweisen; die christlichen Lehren sind für ihn nur das Ergebnis eines „Sklavenaufstandes in der Moral" 6 . Er selbst sieht im Willen zur Macht den eigentlich bestimmenden Faktor der menschlichen Seele. „Die gesamte Psychologie" — sagt 1
Gregor Mendel veröffentlicht seine Ergebnisse 1865—1869.
2
vgl. Gobineau, Essai sur l'inégalité des races humaines (2. Aufl. 1884) I Kap. X, S. 106 ff. 8
4 Gobineau, aaO., S. 36 f. Gobineau, aaO., S. 220. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, ersdiienen 1818, aber wirksam werdend erst seit etwa 1860. 6 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887). 6
Hauptlehren der Rechtsphilosophie
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Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse" (1885) — „ist bisher an moralischen Vorurteilen und Befürchtungen hängengeblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zu fassen, wie ich sie fasse — daran hat noch niemand in seinen Gedanken selbst gestreift . . ." 7 Und was das Denken angeht, so fällt im gleichen Werk die Bemerkung: „Das Denken ist nur ein Verhalten dieser (sei. „unserer") Triebe zueinander." 8 Etwas später entwickelt Freud (1856—1939) die Psychoanalyse. Er sieht diese bestimmende Kraft zunächst im Sexualtrieb9. Damit war ein völlig neues Bild vom Menschen entwickelt. Diese Veränderung betraf vor allem die Grundlagen der Moral und der Ästhetik, die Werte. Für die klassische Philosophie des Altertums wie des Mittelalters gründeten sie in der Vernunft; diese Lehre hatte Kant und ihm folgend die deutsche idealistische Philosophie in neuer Gestalt vorgetragen. Für die Aufklärungsphilosophie war die Moral jedenfalls ein Ergebnis verständiger Schlußfolgerung aus der Analyse des Menschen und seiner Lebenssituation. Jetzt schienen die Wertungen des Menschen dagegen ihre Quelle in dunklen, schwer zu durchleuchtenden Trieben und Willensrichtungen des menschlichen Wesens zu haben; sie schienen auf dunklen, irrationalen Gefühlen zu beruhen und damit der rationalen Begründung und Durchdringung, der wissenschaftlichen Behandlung unzugänglich zu sein10. 3. Diese neuen Lehren haben nicht zu umfassenden rechtsphilosophischen Systemen geführt, die sich denen von Marx oder Savigny vergleichen ließen, aber sie haben das rechtsphilosophische und juristische wie das politische Denken vielfältig beeinflußt. Die Auswirkungen auf das politische Denken waren am nachhaltigsten. Eine sehr vergröberte und unwissenschaftliche Rassentheorie, die der sogen, „nordischen" Rasse alle guten Eigenschaften zuschrieb11, der sogen, jüdischen alle schlechten, ist ebenso wie der Gedanke des 7
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1885) Nr. 23.
8
Nietzsche, aaO. Nr. 36. • In seinen späteren Schriften ist Freud davon ausgegangen, daß außer und neben dem Sexualtrieb ein „Todestrieb" als psychologischer Faktor anzunehmen sei. 10
Stellungnahme unten Kap. II Absdin. III, S. 106 ff. vgl. H. St. Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899); L. F. Clauss, Rasse und Seele (17. Auflage 1941); Günther, Der 11
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Lebenskampfes und des „survival of the fittest" eine der Grundlagen des deutschen Nationalsozialismus gewesen; der Rassengedanke bestimmte seine Gesetzgebung; ihm entsprang der entsetzliche Entschluß, die angeblich minderwertige jüdische Rasse auszurotten und damit Millionen unschuldiger Menschen zu töten. Im Bereich der Rechtstheorie hat sich der Voluntarismus und der Zweifel an der Kraft der Vernunft, vor allem bei der theoretischen Auffassung der richterlichen Entscheidung und ihres Verhältnisses zum Gesetz ausgewirkt. Wenn die Entscheidungen des Menschen nicht von der Vernunft, sondern von irrationalen Gefühls- und Willenskräften gesteuert sind, wie kann dann die richterliche Entscheidung als einfache Anwendung des Gesetzes aufgefaßt werden? Es ist sicher kein Zufall, daß am Ende des 19. und am Beginn unseres Jahrhunderts Theorien entstehen, die eine effektive Bindung des Richters an die rechtliche Norm leugnen und die richterliche Entscheidung als intuitiven, letztlich' irrationalen Akt auffassen. Das haben in Amerika Oliver W . Holmes ( 1 8 4 1 — 1 9 3 5 ) und die sogen. „Realisten" 1 2 getan, in Deutschland die radikalen Vertreter der Freirechtsschule 13 . Die Rechtsnorm ist dann nur noch der Niederschlag der Entscheidungen oder — noch radikaler — nur eine Vermutung darüber, wie Richter künftig entscheiden werden. „Das Recht wird nicht durch die Gesamtheit der Normen, sondern durch die Gesamtheit der Entscheidungen dargestellt" sagt Isay, ein später, aber radikaler deutscher Freirechtler 14 . „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law" definiert Holmes 15 . Rassegedanke in der weltanschaulichen Auseinandersetzung unserer Zeit (1940); Kritik schon bei Battr-Fischer-Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene (4. Aufl. 1936), S. 715, vgl. dazu auch die Untersuchung von K. Salier, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda (1961). 12 Zu Holmes vgl. etwa M. Lerner, The Mind and Faith of Justice Holmes (1943, Auswahl der Werke und Einleitung); zu den Realisten Coing, Neue Strömungen in der nordamerikanischen Rechtsphilosophie, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, 38. Band (1949/50), S. 536 ff. — Typisch für die im Text erwähnte Auffassung etwa ]. Frank, Law and the Modern Mind (1930); ders. Courts on trial (1949). Nach Frank beruht die richterliche Entscheidung auf dem „hunch" des Richters. 18 Zu dieser vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967), S. 579 ff.; Reichel, Gesetz und Richterspruch (1915), S. 19 ff., 28 ff. 14 In „Rechtsnorm und Entscheidung" (1929), S. 29. 15 The Path of the Law (1897), bei Lerner, aaO., S. 75.
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Der Gedanke, daß das Gesetz mit seinen Normen die richterliche Entscheidung steuere, daß der Richter das Gesetz im Wege logischer Subsumtion des Sachverhalts anwende, ist hier völlig aufgegeben; im Gegenteil, es ist die sogen. Norm, die der — irrational gefundenen — Entscheidung des Richters folgt. Es liegt nahe, von dieser Anschauung zu einer „soziologischen" Auffassung fortzuschreiten, welche die Anschauung (und unter Umständen die Vorurteile oder die „Ideologie") der Richterschaft zur wahren Norm erklärt. Damit verschwindet dann die Norm überhaupt und wird durch ein soziales Faktum ersetzt. Den ersten Schritt in dieser Richtung hat in Deutschland meines Wissens C. Schmitt getan; er stellt sich in seiner Frühschrift „Gesetz und Urteil" (1912) die Frage, wann eine Entscheidung „ ridi tig" sei und antwortet: „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. ,Ein anderer Richter' bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen." 16 Das Kriterium der „Gesetzmäßigkeit" der Entscheidung für die Frage ihrer Richtigkeit erklärt er dagegen ausdrücklich für wertlos 17 . Führt der Irrationalismus der „neuen" Anschauung vom Menschen also zu umstürzend neuen Ansichten über das Wesen der Rechtsnorm und des richterlichen Urteils, so ist der durch ihn begründete Zweifel an der Rationalität ethischer Normen eine der Grundlagen des juristischen Positivismus, dem wir uns jetzt zuzuwenden haben. VIII. 1. Im allgemein-philosophischen Sinn versteht man unter Positivismus die Lehre, daß wissenschaftliche Erkenntnis nur aufgrund der Beobachtung von „Tatsachen" (also aufgrund von Sinneswahrnehmungen, insbesondere im Experiment) sowie im Bereich der Mathematik und Logik gewonnen werden kann1. Alle Fragen, die auf dieser Grundlage nicht gelöst werden können, alle Lehren, die sich nicht auf Ergebnisse dieser Methode stützen können, sind als „metaphysisch" oder „ideologisch"
16
a.a.O., S. 71.
Zu der Problematik des Verhältnisses von Gesetz und Urteil vgl. unten Kap. VI. 17
„Die Grundforderung des Empirismus ist die, daß alle synthetischen Sätze und deskriptiven Prädikate in einem bestimmten Zusammenhang mit Beobachtbarem stehen müssen", V. Kraft, Der Wiener Kreis (1950), S. 134/ 135. 1
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anzusehen und abzuweisen; sie sind als bloße subjektive Meinung zu betrachten und daher wissenschaftlich irrelevant. Der Positivismus stützt sidi auf die Methode der Naturwissenschaften und der Mathematik und hält sie für die einzig zulässigen. Historisch ist er in gewissem Sinn das Ergebnis des Aufschwungs der Naturwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert und Zeuge des ungeheuren Eindruckes, den diese Entwicklung gemacht hat. Viele Vertreter des Positivismus befinden sich in einem scharfen Gegensatz zu jeder Art von Metaphysik und religiösem Glauben. Der Ausdruck Positivismus geht auf Comte's Werk: Cours de Philosophie Positive (1830—1842) zurück. Comte (1798—1857) lehrte, daß die kulturelle Entwicklung sich in drei Stadien vollziehe: dem religiösen Zeitalter und dem Zeitalter der philosophischen Metaphysik folge in der Moderne die Epoche des Positivismus (sogen. Dreistadiengesetz). Diesen letzten charakterisiert er in seinem „Discours zur l'Esprit Positif" folgendermaßen: „Cette longue succession de préambules nécessaires conduit enfin notre intelligence, graduellement émancipée, à son état définitif de positivité rationnelle, qui, doit ici être caractérisé d'une manière plus spéciale que les deux états préliminaires. De tels exercices préparatoires ayant spontanément constaté l'inanité radicale des explications vagues et arbitraires propres à la philosophie initiale, soit théologique, soit métaphysique, l'esprit humain renonce désormais aux recherches absolues qui ne convenaient qu'à son enfance, et circonscrit ses efforts dans le domaine, dès lors rapidement progressif, de la véritable observation, seule base possible des connaissances vraiment accessibles, sagement adaptées à nos besoins réels. La logique spéculative avait jusqu'alors consisté à raisonner, d'une manière plus ou moins subtile, d'après des principes confus, qui, ne comportant aucune preuve suffisante, suscitaient toujours des débats sans issue. Elle reconnaît désormais, comme règle fondamentale, que toute proposition qui n'est pas strictement réductible à la simple énonciation d'un fait, ou particulier ou général, ne peut offrir aucun sens réel et intelligible. Les principes qu'elle emploie ne sont plus eux-mêmes que de véritables faits, seulement plus généraux et plus abstraits que ceux dont ils doivent former le lien. Quel que soit d'ailleurs le mode, rationnel ou expérimental, de procéder à leur découverte, c'est toujours de leur conformité, directe ou indirecte, avec les phénomènes observés que résulte exclusivement leur efficacité scientifique. La pure imagination perd alors irrévocablement son antique suprématie mentale, et se subordonne nécessairement à l'observation, de manière à constituer un état logique pleinement normal, sans cesser néanmoins d'exercer, dans les spéculations positives, un office aussi capital qu'inépuisable, pour créer ou perfectionner les moyens de liaison, soit définitive, soit provisoire. En un mot, la révolution fondamentale qui caractérise la virilité de notre intelligence consiste essentiellement à substituer partout, à l'inaccessible détermination des causes proprement dites, la simple recherche des lois, c'est-à-dire des relations constantes qui existent entre les phénomènes observés."2 * Comte, Discours sur l'Esprit Positif, zitiert nach der französisch-deutschen Ausgabe von Iring Fetscher (1956), S. 24—28.
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Die Lehren der positivistischen Philosophie sind im einzelnen Entwicklungen und Veränderungen unterworfen gewesen. In unserem Jahrhundert ist sie besonders in dem sog. Wiener Kreis3, einer lose verbundenen Gruppe von Philosophen, wie Carnap, Schlick, Neurath, im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre konsequent ausgebildet worden. Das Grundanliegen war, die wissenschaftlichen Methoden der Erkenntnis zu größter Exaktheit zu entwickeln. Der empirische Ansatz ist hier insbesondere mit den Ergebnissen der Forschung im Bereich der mathematischen Logik und mit einer logischen Analyse der Sprache verbunden worden. Insbesondere Carnap hat sich mit der Entwicklung einer exakten künstlichen Sprache beschäftigt (Reine Semiotik, Semantik und Syntax)5". Auch die vor allem in den angelsächsischen Ländern vertretene, sog. analytische Philosophie beruht auf dem positivistischen Ansatz.
Für die Rechtsphilosophie sind vor allem drei Konsequenzen bedeutsam, die sich aus dem Positivismus ergeben. (1) Mit Ausnahme der Gesetze der Logik und Mathematik liegt alles geistige oder ideale Sein außerhalb der vom strengen Positivismus anerkannten Erkenntnismethoden. Nehmen wir ein literarisches Kunstwerk, etwa ein Drama des Euripides. Das Wesen eines solchen Werkes liegt offenbar weder in den beobachtbaren Texten, in denen es niedergeschrieben oder gedruckt ist, nodi in den ebenfalls beobachtbaren psychologischen Vorgängen in den Menschen, die es lesen, noch auch in den Bewegungen der Schauspieler, die es etwa aufführen. Es liegt vielmehr in einer besonderen geistigen Form; es in ein Werk, das damit einer besonderen Seinsgestaltung, der des geistigen Seins, angehört4. Der Jurist kann sich diese Zusammenhänge leicht klarmachen, wenn er an das Urheberrecht und sein Schutzobjekt denkt. Diese Feststellung gilt aber von allen geistigen Werken: so im Bereich des Rechtlichen von Gesetzen, Urteilen, Rechtsbüchern. Diese Seinsweise ist aber der unmittelbaren Beobachtung entzogen. Ich kann es mit den Methoden der Naturwissenschaft nicht erfassen. Der Positivismus muß daher diese Phänomene, wenn er sie nicht ganz außer Betracht lassen will, mit ihren materialen Verkörperungen oder mit den psychischen Vorgängen und Verhaltensweisen, in denen der einzelne Mensch sie aktualisiert, zu identifizieren suchen;
Vgl. Viktor Kraft, Der Wiener Kreis (1950). Vgl. dazu einführend Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4. Aufl. Kap. IX und X. 4 vgl. dazu Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (1933), insbes. 3. Teil, S. 406 ff. 3
3>
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ζ. Β. die Rechtsnorm mit den Urteilen des Richters, dem Verhalten der sie befolgenden Beamten usw. (2) N i m m t man die Forderungen des Positivismus in voller Strenge, so ergibt sich ferner, daß der gesamte von den sogen. Geisteswissenschaften erforschte Bereich außerhalb wissenschaftlicher Erkenntnis liegt und diese selbst daher nicht als Wissenschaften anzusehen sind. Z w a r können auch die Geisteswissenschaften sich häufig auf sinnliche Wahrnehmungen stützen, ζ. B. auf solche von Dokumenten, Statuen oder Bildern: aber dabei handelt es sich niemals um beobachtete Fakten im Sinne der naturwissenschaftlichen-positivistischen Erkenntnistheorie, da diese Daten der Geisteswissenschaften der Interpretation bedürfen und nicht einfach als Fakten konstatiert werden können. Die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen vom Bewußtsein des Menschen ausgehen 5 . Die seit dem 19. Jahrhundert in der Geschichte, in der Sprachwissenschaft, auch in der Jurisprudenz und Sozialwissenschaft immer wieder gemachten Versuche, diese Wissenschaften nach dem Muster der Naturwissenschaften zu organisieren 6 , sind dann auch' vergeblich gewesen, weil sie dem Gegenstand inadäquat sind. (3) Eine weitere vom Positivismus aus seinem Grundansatz gezogene Konsequenz ist, d a ß Werturteile ethischer oder ästhetischer Art irrationaler N a t u r sind und außerhalb wissenschaftlicher Erkenntnis liegen. Solche Werturteile sind etwa: „Beide Parteien in einem Prozeß zu hören, ist gerecht", „Die Tötung der Juden in Auschwitz war ungerecht" oder einfach „A ist gut", „B ist feige". Solche Urteile sind im Rahmen der positivistischen Erkenntnistheorie niemals zu verifizieren; nur formal sind sie Urteile, in Wahrheit Äußerung gefühlsmäßiger Einstellung; sie sind daher n u r als Ausdrude subjektiver Ansichten zu werten. „Werturteile aller A r t beruhen darauf, d a ß persönliche oder kollektiv gleichartige Primärbewertungen, d. h. Gefühlsverhältnisse von Personen zu einem Gegenstande in Ei5
Grundsätzliche Behandlung dieses Problems bei Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942, 2. Aufl. 1961), S. 39 ff.; für die Sozialwissenschaften eingehend bei V. Hayek, Scientism and the study of Society (Economica New Series IX (1942) und X (1943), jetzt audi deutsch in: Mißbrauch und Verfall der Vernunft (1959) Abschn. I und II). * vgl. für Spradiwissensdiaften und Geschichte die kritische Darstellung der Versuche Schleichers und laines bei Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I (1932, 4. Aufl. 1964), S. 108—110 und Zur Logik der Kulturwissenschaften (2. Aufl. 1961), S. 78 ff.; für die Sozialwissenschaften die eindringliche Studie von Hayek, aaO.
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genschaften des Gegenstandes umgedeutet, d. h. objektiviert werden. Dinge sind nicht schön oder häßlich, Handlungen sind nicht gut oder böse, usw., sondern Personen oder Personenkreise finden Gefallen oder Mißfallen an ihnen, billigen oder mißbilligen sie. Man beachte wohl: wenn hier gesagt wird, es sei nicht wahr, daß Vernichtung von Menschenleben verwerflich sei, so heißt das nicht, Vernichtung von Menschenleben sei also erlaubt oder gar löblich. Die Umkehrung eines "Werturteils wäre ebenfalls ein (entgegengesetztes) Werturteil, und also ebenso erkenntnis-illegitim." 7 Der Positivismus führt also zur Lehre von der Irrationalität Werturteile 8 .
aller
2. Aus den Prinzipien des philosophischen Positivismus sind im Hinblick auf das Recht sehr verschiedene Konsequenzen gezogen worden. Die sogen. Uppsala-Schule, die in Skandinavien eine beherrschende Stellung einnimmt9, hat vom Standpunkt des philosophischen Positivismus aus vor allem die Lehre vom Werturteil 10 und die sogen, „metaphysischen", moralbestimmten Grundbegriffe des Rechts, wie subjektives Recht, Reditspflicht, Vertrag, Rechtsordnung, Rechtswidrigkeit, Schuld, einer Kritik unterzogen. Alle diese Begriffe gehen nach ihr ins Leere; was in Wahrheit im Rechtsleben vorhanden ist, sind psychologische und soziale Fakten, wie bestimmte Verhaltensweisen. Es gibt ζ. B. keine Redits- oder Vertragspflichten: es gibt nur angedrohte und gegebenenfalls faktisch verwirklichte (und daher
7 vgl. Geiger, Ideologie und Wahrheit (1953), S. 62/63. Eindringlichste und vorsichtigste Behandlung des Wertproblems vom positiven Standpunkte aus bei V. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre (1937). 8
Stellungnahme zum philosophischen Positivismus unten Kap. II, Abschn. II. 9
Sie ist begründet von Axel Hägerström (1868—1939). Ubersicht über seinen Werdegang und seine Hauptthesen in der Selbstdarstellung „Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen" VII (1929). Weitere wichtige Werke der Schule sind: Α. V. Lundstedt, Die Unwissensdiaftlichkeit der Rechtswissenschaft (I 1932; II 1936); Olivecrona, Is a sociological explanation of Law possible? Theoria XIII (1947), S. 167—207; A. Ross, Towards a realistic jurisprudence (Kopenhagen 1946). — Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts (1964). 10
Für die Kritik am Werturteil haben wir soeben Geiger, einen Autor, der der Uppsala-Schule nahe steht, zu Wort kommen lassen.
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wirksame) Sanktionen 11 . Darin, daß die Rechtswissenschaft sidi in Begriffen verfängt, statt sidi mit diesen Fakten zu beschäftigen, liegt ihre „Unwissenschaftlidikeit". „Wir stehen hier vor dem verhängnisvollen grundlegenden Fehler der üblichen wissenschaftlichen Methoden . . . : Statt bei ihren Untersuchungen den wirklichen Zusammenhang der sozialen Erscheinungen zu suchen und jene nach wirklich vernünftigen Vorstellungen (ζ. B. die der Rechtspflicht) von wissenschaftlichen Erörterungen möglichst auszuschließen, ist die Rechtswissenschaft deren getreuer Sklave geworden." 12 Ähnliche Denkweisen finden sich, wie schon dargelegt, auch bei manchen Vertretern des amerikanischen Realismus13. 3. Sucht diese Richtung das Recht mit der positivistischen Erkenntnislehre in Ubereinstimmung zu bringen, indem sie den Versuch macht, es als beobachtbare „Fakten" der Psychologie und des Verhaltens zu erfassen, so haben andere das gleiche Ziel dadurch zu erreichen versucht, daß sie die Rechtsphilosophie auf Feststellungen formallogischer Beziehungen oder auf solche terminologischer Art beschränkten. a) Hier sind zunächst die Bestrebungen der sogen. „Allgemeinen Rechtslehre" zu erwähnen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Rechtsphilosophie in Lehre und Forschung zu verdrängen begann. Die Anfänge scheinen auch hier bei Bentham und seinem Kreis14 zu liegen. Bentham erörtert in den „Principles" 15 die Aufgaben der Rechtslehre (jurisprudence). Er sieht sie darin, festzustellen, was geltendes Recht ist und was Recht sein sollte. Das Letztere ist die „Kunst der Gesetzgebung". In beiderlei Hinsicht ist sie an ein gegebenes, positives Rechtssystem gebunden und kann daher keine allgemeinen Aussagen machen. Eine allgemeine Rechtslehre (universal jurisprudence) ist daher nur insoweit möglich, als Fragen der allgemeinen Terminologie in Angriff genommen werden können. „To be susceptible of an universal application all that a book of the expository kind 11 vgl. Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissensdiaft (1932) I, S. 57, 74. M Lundstedt, aaO., S. 25/26. 13 Dazu Coing, Neue Strömungen in der nordamerikanischen Rechtsphilosophie, Archiv für Redits- und Sozialphilosophie, 38. Band (1949/1950), S. 536 ff. — Im einzelnen Bingham, What is the Law? Michigan Law Review 11 (1912), S. 1 ff.; 109 ff. — Eindringliche Kritik dieses Standpunktes bei H. L. A. Hart, The Concept of Law (1961), S. 133 ff. 14 vgl. oben Absdm. VI. 1. 15 vgl. in der Gesamtausgabe von Bowring (1962), S. 148 ff.
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(d. h. im Gegensatz zur Rechtspolitik) can have to treat of, is the impact of words: to be strictly speaking universal, it must confine itself to terminology." Worte, die in dieser Weise auf ihre Bedeutung hin untersucht werden können, sind ζ. B. Macht, Recht, Pflicht, Freiheit. Diese Aufgabe ist zunächst von Benthams Schüler Austin (1790 bis 1859) in Angriff genommen worden 16 . Im Unterricht ist eine Vorlesung „Allgemeine Rechtslehre" dann vielfach an die Stelle der Vorlesung über Rechtsphilosophie oder Naturredit getreten17. Die allgemeine Rechtslehre behandelt allgemeine Grundbegriffe, die in verschiedenen positiven Reditssystemen verwendet werden: wie etwa subjektives Recht, Obligation, Handlung, Delikt, Vertrag, entwickelt aber auch Definitionen des objektiven Redits sowie eine Theorie der Rechtsquellen. Dabei wird überall ein Eingehen auf inhaltliche Fragen oder auf Bewertungen vermieden; es herrscht vielmehr eine formale Betrachtungsweise vor. So wird etwa objektives „Recht" durcb den Befehlscharakter und durch den Urheber definiert, der es setzt. Austin gibt folgende Definition: , A rule laid down for the guidance of an intelligent being by an intelligent being having power over him." 18 Somló definiert: „Rechtsnormen sind Normen einer gewöhnlidi befolgten, umfassenden und beständigen höchsten Macht." 19 b) Die bedeutendste aus dieser Richtung hervorgewachsene Theorie ist die sogen. „Reine Rechtslehre" von Kelsen (geb. 1881)20. Das Ziel der Reinen Rechtslehre ist die Gewinnung einer Rechtswissenschaft, die frei von naturwissenschaftlichen, ethischen und politischen Elementen ist, die sich also scharf gegen die Naturwissenschaften und eine naturwissenschaftlich verstandene Soziologie einerseits, gegen die Moral und das mit ihr zusammenhängende Naturrecht andererseits abgrenzt. Auch Kelsen geht von dem Gedanken aus, daß der Inhalt der Rechtsordnungen beliebig sei21, so daß sich über ihn allgemeine 19
Lectures on Jurisprudence (1861 Posthum veröffentlicht).
17
vgl. aus neuerer Zeit etwa F. Somló, Juristische Grundlehre (1917).
18
Lectures on Jurisprudence I (4. Aufl. 1879), S. 88.
18
aaO., S. 105. — Eine kritische Fortführung der Austinschen Jurisprudenz bietet H. L. A. Hart, The Concept of Law (1961). M Reine Rechtslehre (1934, 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage 1960). Grundsätzliche Kritik des Kelsenschen Ansatzes bei E. Kaufmann, Kritik der neukantisdien Rechtsphilosophie (1921), S. 20 ff. » vgl. Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 201.
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Aussagen spezifisch juristischer Natur nicht machen ließen. Sein Anliegen ist daher, unter Absehen von jeder inhaltlichen Analyse, die Eigenart des Rechtlichen herauszuarbeiten. Kelsen hat dieses Ziel selbst folgendermaßen formuliert: „Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts; des positiven Rechts schlechthin, nidit einer speziellen Rechtsordnung. Sie ist allgemeine Rechtslehre, nicht Interpretation besonderer nationaler oder internationaler Rechtsnormen. Aber sie gibt eine Theorie der Interpretation. Als Theorie will sie ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik. Wenn sie sich als eine „reine" Lehre vom Redit bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört. Das heißt: sie will die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien. Das ist ihr methodisches Grundprinzip. Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein. Aber ein Blick auf die traditionelle Rechtswissenschaft, so wie sie sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt hat, zeigt deutlich, wie weit diese davon entfernt ist, der Forderung der Reinheit zu entsprechen. In völlig kritikloser Weise hat sich Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vermengt. Diese Vermengung mag sich daraus erklären, daß diese Wissenschaften sich auf Gegenstände beziehen, die zweifellos mit dem Recht in engem Zusammenhang stehen. Wenn die Reine Rechtslehre die Erkenntnis des Rechts gegen diese Disziplinen abzugrenzen unternimmt, so nicht etwa darum, weil sie den Zusammenhang ignoriert oder gar leugnet, sondern darum, weil sie einen Methodensynkretismus zu vermeiden sucht, der das Wesen der Rechtswissenschaft verdunkelt und die Schranken verwischt, die ihr durch die Natur ihres Gegenstandes gezogen sind." 22 Grundlegend für die weitere Gedankenentwicklung ist die strenge Unterscheidung der Sphären des „Seins" und des „Sollens". Jene wird im Sinne des positivistischen Erkenntnisbegriffes auf die Wirklichkeit eingeschränkt, welche mit den Mitteln der kausal-wissenschaftlich verfahrenden Disziplinen erforscht und erklärt werden kann; diese aber setzt ein Normensystem voraus, das aus dem (so definierten) Sein nicht abgeleitet werden kann. î2
Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 1.
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P r ü f t man, was einem beliebigen rechtlich erheblichen Akt oder Vorgang rechtliche Bedeutung gibt, so zeigt sich, daß dies nicht in dem Seinszusammenhang gefunden werden kann, in dem dieser Akt steht, sondern in seiner Beziehung auf ein rechtliches Normensystem. Erst wenn ich diese Beziehung vornehme, kann ich jene Bedeutung erfassen; das betreffende rechtliche Normensystem wird damit zum „Deutungsschema" für rechtlich relevante Akte. „Analysiert man nämlich irgendeinen der als Recht gedeuteten oder mit dem Recht in irgendeinem Zusammenhang stehenden Tatbestände, wie etwa einen Parlamentsbeschluß, einen Verwaltungsakt, ein richterliches Urteil, ein Rechtsgeschäft, ein Delikt, so kann man zwei Elemente unterscheiden: das eine ist ein in Zeit und Raum vor sich gehender, sinnlich wahrnehmbarer Akt, oder eine Reihe solcher Akte, ein äußerer Vorgang menschlichen Verhaltens; das andere seine rechtliche Bedeutung, das heißt die Bedeutung, die der Akt von Rechts wegen hat." 2 3 Der äußere Tatbestand, der seiner objektiven Bedeutung nach ein Rechts- (oder Unrechts-) Akt ist, ist nun in allen Fällen, weil ein in Zeit und Raum ablaufendes, sinnlich wahrnehmbares Geschehen, ein Stück N a t u r und als solches kausal-gesetzlich bestimmt. Allein dieses Geschehen als solches, als Element des Systems Natur, ist nicht Gegenstand spezifisch juristischer Erkenntnis und sohin überhaupt nichts Rechtliches. Was diesen Tatbestand zu einem Rechts- (oder Unrechts-) Akt macht, das ist nicht seine Tatsächlichkeit, nicht sein natürliches, das heißt kausal-gesetzlich bestimmtes, im System der N a t u r beschlossenes Sein, sondern der objektive Sinn, der mit diesem Akt verbunden ist, die Bedeutung, die er hat. Den spezifisch juristischen Sinn, seine eigentümliche rechtliche Bedeutung, erhält der fragliche Tatbestand durch eine Norm, die sich mit ihrem Inhalt auf ihn bezieht, die ihm die rechtliche Bedeutung verleiht, so daß der Akt nach dieser Norm gedeutet werden kann. Die Norm fungiert als Deutungsschema. Mit anderen Worten: das Urteil, daß ein in Raum und Zeit gesetzter Akt menschlichen Verhaltens ein Rechts(oder Unrechts-) Akt ist, ist das Ergebnis einer spezifischen, nämlich normativen, Deutung." 2 4 Es ergibt sich nun die weitere Aufgabe, die Eigenart gerade rechtlicher Sollenssysteme festzustellen und den Begründungszusammenhang der rechtlich bedeutsamen Akte und Normen festzustellen. Die Eigenart rechtlicher Normen findet Kelsen darin, daß in ihnen für den Fall des Eintretens bestimmter Tatbestände Sanktionen fest23
aaO., S. 2.
24
aaO., S. 3.
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gesetzt werden. Der Zwang ist dem Recht wesentlich. Solche Sanktionen können Strafen oder Vollstreckungsakte sein. Die Rechtsnormen sind also hypothetische Gebote, und zwar Zwangsgebote; sie sind keine theoretischen Aussagen25. Für die Frage, gegen wen die Sanktionen zu richten sind, gilt nicht das Prinzip der Kausalität, sondern das der „Zurechnung". „Ein Rechtssatz ist ζ. B. der Satz: Wenn ein Mensch ein Verbrechen begeht, soll eine Strafe über ihn verhängt werden; oder: wenn ein Mensch seine Schuld nicht bezahlt, soll eine Zwangsvollstreckung in sein Vermögen gerichtet werden; oder: wenn ein Mensch von einer ansteckenden Krankheit befallen wird, soll er in einer hierzu bestimmten Anstalt interniert werden. Allgemein formuliert: unter bestimmten, und zwar von der Rechtsordnung bestimmten, Bedingungen soll ein bestimmter, und zwar von der Rechtsordnung bestimmter, Zwangsakt erfolgen. Das ist die schon im Vorhergehenden aufgezeigte Grundform des Rechtssatzes. Ganz so wie ein Naturgesetz, verknüpft auch ein Rechtssatz zwei Elemente miteinander. Aber die Verknüpfung, die im Rechtssatz zum Ausdruck kommt, hat eine völlig andere Bedeutung als jene, die das Naturgesetz beschreibt: die Kausalität. Ganz offenbar ist das Verbrechen mit der Strafe, das Zivildelikt mit der Zwangsvollstreckung, die ansteckende Krankheit mit der Internierung des Kranken, nicht als eine Ursache mit ihrer Wirkung verknüpft. Im Rechtssatz wird nicht, wie im Naturgesetz, ausgesagt, daß, wenn A ist, Β ist, sondern, daß, wenn A ist, Β sein soll, auch wenn Β vielleicht tatsächlich nicht ist. Daß die Bedeutung der Verknüpfung der Elemente im Rechtssatz verschieden ist von der der Verknüpfung der Elemente im Naturgesetz, geht darauf zurück, daß die Verknüpfung im Rechtssatz durch eine von der Rechtsautorität, also durch einen Willensakt gesetzte Norm hergestellt ist, während die Verknüpfung von Ursache und Wirkung, die im Naturgesetz ausgesagt wird, unabhängig von jedem solchen Eingriff ist." 26 Rechtsakte und Normen stehen in einem Ableitungs- und Begründungszusammenhang. Dieser gründet sich darauf, daß Rechtssätze, um Geltung zu erlangen, in einem bestimmten Verfahren erzeugt sein müssen. Die Untersuchung dieser Grundlagen der Geltung einer Rechtsnorm nennt Kelsen „Rechtsdynamik"27. Er stellt das Verfahren bei der Ableitung eines speziellen ethischen Satzes aus einem allgemeineren » vgl. Reine Rechtslehre, S. 73 ff. "
aaO., S. 80.
« aaO., S. 72.
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(ζ. B. die Ableitung des Satzes „Du sollst Mängel der Kaufsache nicht verschweigen" aus dem Grundsatz „Du sollst wahrhaftig sein") demjenigen gegenüber, bei dem angegeben wird, daß eine Norm befolgt werden soll, wenn sie in einer bestimmten Weise erlassen worden ist. Normen, die entsprechende Festsetzungen treffen, nennt Kelsen „Grundnormen". „Der dynamische Typus ist dadurch gekennzeichnet, daß die vorausgesetzte Grundnorm nichts anderes beinhaltet als die Einsetzung eines normerzeugenden Tatbestandes, die Ermächtigung einer normsetzenden Autorität oder — was dasselbe bedeutet — eine Regel, die bestimmt, wie die generellen und individuellen Normen der auf dieser Grundnorm beruhenden Ordnung erzeugt werden sollen. Ein Beispiel möge dies erläutern. Ein Vater befiehlt seinem Kind, zur Schule zu gehen. Auf die Frage des Kindes: warum soll ich zur Schule gehen, mag die Antwort lauten: weil der Vater es befohlen hat und das Kind den Befehlen der Vaters gehorchen soll. Fragt das Kind weiter: warum soll ich den Befehlen des Vaters gehorchen, mag die Antwort lauten: weil Gott befohlen hat, den Eltern zu gehorchen und man den Befehlen Gottes gehorchen soll. Fragt das Kind, warum man den Befehlen Gottes gehorchen soll, das heißt: stellt es die Geltung dieser Norm in Frage, ist die Antwort: daß man diese Norm eben nicht in Frage stellen, das heißt nicht nach dem Grund ihrer Geltung suchen, daß man diese Norm nur voraussetzen könne. Der Inhalt der den Ausgangspunkt bildenden N o r m : das Kind soll zur Schule gehen, kann aus dieser Grundnorm nicht abgeleitet werden. Denn die Grundnorm beschränkt sich darauf, eine normsetzende Autorität zu delegieren, das heißt eine Regel aufzustellen, nach der die Normen dieses Systems zu erzeugen sind. Die den Ausgangspunkt der Frage bildende Norm gilt nicht kraft ihres Inhaltes, sie kann nicht durch eine logische Operation aus der vorausgesetzten Grundnorm reduziert werden. Sie muß durch einen Akt des Vaters gesetzt werden und gilt — in der üblichen Weise formuliert —, weil sie so gesetzt wurde, richtiger formuliert: weil eine Grundnorm als gültig vorausgesetzt wird, die in letzter Linie diese Weise der Normsetzung statuiert. Eine Norm gehört zu einer auf einer soldien Grundnorm beruhenden Ordnung, weil sie auf die durch die Grundnorm bestimmte Weise erzeugt ist — und nicht, weil sie einen bestimmten Inhalt hat. Die Grundnorm liefert nur den Geltungsgrund, nicht aber auch den Inhalt der dieses System bildenden Normen." 2 8
88
aaO., S. 199 f.
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Auch die Rechtsordnung beruht in ihrer Geltung auf einer solchen Grundnorm. Dazu führt Kelsen aus: „Die Grundnorm einer Rechtsordnung ist nicht eine materielle Norm, die, weil ihr Inhalt als unmittelbar einleuchtend angesehen, als höchste Norm vorausgesetzt wird und aus der durch logische Operation Normen menschlichen Verhaltens — als das Besondere aus dem Allgemeinen — abgeleitet werden können. Die Normen einer Rechtsordnung müssen durch einen besondern Setzungsakt erzeugt werden. Es sind gesetzte, das heißt positive Normen, Elemente einer positiven Ordnung. Versteht man unter der Verfassung einer Rechtsgemeinschaft die Norm oder die Normen, die bestimmen, wie, das heißt von welchen Organen und in welchen Verfahren — durch bewußte Rechtssatzung, insbes. Gesetzgebung, oder Gewohnheit — die generellen Normen der die Gemeinschaft konstituierenden Rechtsordnung zu erzeugen sind, ist die Grundnorm jene Norm, die vorausgesetzt wird, wenn die Gewohnheit, durch die die Verfassung zustande gekommen ist, oder wenn der von bestimmten Menschen bewußt gesetzte, verfassunggebende Akt objektiv als ein normerzeugender Tatbestand gedeutet wird; wenn — im letzteren Falle — das Individuum oder die Versammlung von Individuen, die die Verfassung errichtet haben, auf der die Rechtsordnung beruht, als normsetzende Autorität angesehen werden. In diesem Sinne ist die Grundnorm die Einsetzung des Grundtatbestandes der Rechtserzeugung und kann in diesem Sinne als Verfassung im rechtslogischen Sinne zum Unterschied von der Verfassung im positiv-rechtlichen Sinne bezeichnet werden. Sie ist der Ausgangspunkt eines Verfahrens: des Verfahrens der positiven Rechtserzeugung. Sie ist selbst keine gesetzte, durch Gewohnheit oder durch den Akt eines Rechtsorgans gesetzte, keine positive, sondern eine vorausgesetzte Norm, sofern die verfassunggebende Instanz als eine höchste Autorität angesehen wird und daher durch keine von einer höheren Autorität gesetzte Norm als zur Verfassunggebung ermächtigt angesehen werden kann." 2 9 Die Grundnorm kann zunächst in positiven Rechtssätzen gefunden werden, insbes. in den entsprechenden Verfassungsnormen. Sieht man im Völkerrecht ein allen positiven staatlichen Rechtsordnungen übergeordnetes Normensystem, so kann man noch einen Schritt weiter zurückgehen und in den völkerrechtlichen Sätzen über die Frage, wann eine Regierungsorganisation auf einem bestimmten Territorium als Staat anzuerkennen ist, eine positive Grundnorm finden (sogen. Weltrechtssystem) 30 . Immer aber ist es rechtslogisch notwendig, eine letzte M
aaO., S. 201 f.
80
Kelsen, aaO., S.221.
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„Grundnorm" anzunehmen, welche festlegt, d a ß etwa die Anordnungen oder Beschlüsse derjenigen, welche die gesicherte Macht in einem bestimmten Territorium errungen haben, als Rechtsnormen gelten sollen, denen zu gehorchen ist, oder daß den Normen der Regierung, die entsprechend dem Völkerrecht gebildet ist, zu gehorchen sei. Die Grundnorm gehört nicht der Geschichte an; sie ist vielmehr eine rechtslogisch notwendige Hypothese, die man aufstellen muß, um den Begründungszusammenhang der Rechtsnormen herzustellen. Sie ist also eine hypothetische Grundnorm. Es ist das große Verdienst vor allem der lateinamerikanischen Rechtsphilosophie, die strenge logische Analyse des Rechts mit einer Philosophie der Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit verbunden und beide Bereiche streng methodisch bearbeitet zu haben. Ich verweise besonders auf das Werk von Eduardo García Máynez (geb. 1908) 31 . c) Gegenüber dem philosophischen Positivismus, wie er in der Mitte des 19. Jahrhunderts führend wurde, versuchten Gruppen von Philosophen in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die kantische Philosophie zurückzugreifen. Dabei stand im Vordergrund das Bemühen, gegenüber dem reinen Empirismus das Vorhandensein apriorischer Vernunftstrukturen formaler N a t u r nachzuweisen 32 . „ N u r das Formale ist sachlich; je formaler eine Methodik ist, desto sachlicher kann sie werden. U n d je sachlicher in der ganzen Tiefe der Sache ein Problem formuliert wird, desto formaler muß es fundamentiert sein." 33 . Aus einer dieser Richtungen, der sogen. „Marburger Schule", ist Stammlers Lehre vom richtigen Recht hervorgegangen; sie bedeutete, obwohl im Ansatz auch als formale Rechtslehre gedacht, im Ergebnis eine Wiedereinführung absoluter Wertbegriffe und hat damit in ihrer Zeit eine große Wirkung ausgeübt. Die Marburger Schule geht, wie der gesamte Neukantianismus, nicht von den Seinsphänomenen (etwa dem Recht) selbst, sondern vom menschlichen Denken über die Phänomene aus. Sie p r ü f t den Inhalt des menschlichen Bewußtseins und fragt nach den letzten, logischen Voraussetzungen des menschlichen Denkens. Philosophie ist ihr, um einen Ausdruck des ebenfalls vom Neukantianismus ausgehenden Rechtsphilosophen Emge zu verwenden, der Rückgang auf die rein apriorischen oder Vernunftbegriffe, wobei unter a priori das31
García Máynez, Introducción al Estudio del Derecho. Grundsätzliche Kritik dieses Ansatzes bei Nicolai Hartmann, Grundlegung der Ontologie (3. Aufl. 1948), S. 48 f., 231 ff. " Cohen, Logik der reinen Erkenntnis (1902) I, S. 587. ,2
Zur
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jenige verstanden wird, das seine logische Rechtfertigung nur in der Sphäre des logischen finden kann 34 . Die Untersuchungen bleiben also (ihrem Gegenstande nadi) auf den Bereich des menschlichen Bewußtseins beschränkt; die Wahrheit ist den Neukantianern nach der kritischen Bemerkung Nicolai Hartmanns eine „bloß immanente Ubereinstimmung der Begriffe und Urteile" 35 . Das gilt audi für Stammler (1856—1938). Für ihn ist das „Wesen eines Dinges die Einheit der Bedingungen, unter denen wir es übereinstimmend begreifen." 36 Dementsprechend geht er bei der Untersuchung der sozialen Phänomene von den Begriffen aus, die wir uns von diesen Phänomenen raadien 37 . In jedem Inhalt unseres Bewußtseins können wir, sagt er, stetige und wechselnde Elemente unterscheiden. Die stetigen bilden die Allgemeinbegriffe, die wechselnden der jeweilige konkrete Inhalt. Die ersteren nennt Stammler die (logische) Form. Sie ist „die Einheit der bleibenden und bestimmenden Gedankenelemente" 38 . Wenn ich ζ. B. an den § 105 I BGB denke, so kann in meiner Vorstellung unterschieden werden: 1. der Inhalt des § 105: die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig; 2. die mitgedachte Vorstellung, daß es sich hier um eine Rechtsvorschrift handelt 39 . Die zweite — allgemeine — Vorstellung ist die logische Voraussetzung (Bedingung) der ersten; ich kann keine „konkrete Rechtsvorschrift" denken, ohne den allgemeineren Begriff „Rechtsvorschrift" vorauszusetzen. Ich kann nun, wenn ich von einem bestimmten konkreten Bewußtseinsinhalt ausgehe, immer weiter nach den Allgemeinbegriffen fragen, welche für meine konkrete Vorstellung die logische Voraussetzung sind, ζ. B. die Vorschrift: „Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig" ist Bestandteil des BGB. Das BGB ist Bestand des deutschen Rechtes. Das deutsche Redit ist positives Red« M vgl. Emge, Ardiiv für Redits- und Wirtsdiaftsphilosophie X V I I , S. 531, 528. Charakteristisch audi Nelson, System der philosophischen Reditslehre (1930), S. 10.
» Zur Grundlegung der Ontologie (3. Aufl. 1948), S. 232. 3' Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft (1911), S. 40; Hervorhebung von mir. 8 7 vgl. Stammler, Wirtschaft und Redit (4. Aufl. 1921), 112 ff. 3 8 aaO., S. 119. » aaO., S. 112.
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des Deutschen Reiches. Es ist Redit. Ich gelange so zu einer Reihe von Allgemeinbegriffen, von denen jeder die logische Bedingung des vorhergehenden ist. „Wenn die Form eines Begriffes die Einheit seiner bleibenden und bestimmenden Gedankenelemente ist, so kann sich die Frage nach solchen allgemeinen Bedingungen auch innerhalb eines Begriffes wiederholen, der sich gerade als formale Bedingung von besonderen Inhalten des Bewußtseins darstellt. Dann sind in diesem übergeordneten Begriffe wiederum die allgemeinen und steten Elemente von denen zu scheiden, die sich als wechselnd und mannigfaltig erweisen und somit durch jene logisch bedingt sind. Und das ist zu wiederholen, bis man zu den Gedanken gelangt, welche in ihrer begrifflichen Fassung sich nicht weiter zerlegen lassen." 40 Man endet dann bei gewissen höchsten, nicht weiter ableitbaren „Grundbegriffen". Die Grundbegriffe sind formale Ordnungsbegriffe. Sie gestatten die Ordnung unseres Bewußtseinsinhaltes. Stammler nennt sie geradezu ein „Verfahren". „Ein derartiger Grundbegriff ist in sich nichts weiter als ein grundlegendes Verfahren, mannigfachen Stoff (sei. von konkreten Bewußtseinsinhalten) gleichmäßig zu bestimmen. Er erschöpft sich darin, eine allgemeingültige, formale Art und Weise des Ordnens und Richtens zu sein." Sie sind „reine Formen" 41 . Erst mit ihrer Hilfe ist ein geordneter Bewußtseinsinhalt, insbes. eine wissenschaftliche Anschauung, möglich. Mit dieser Methode tritt Stammler an das soziale Leben heran und fragt zunächst nach den Allgemeinbegriffen, mit denen wir die Erscheinung des sozialen Lebens überhaupt erfassen. Wir müssen „diejenigen Begriffe und Sätze, in denen wir unsere soziale Erkenntnis vollziehen, in ihrem Inhalt zergliedern und objektiv-logisch (d. h. in der unter 2. beschriebenen Methode) analysieren." 42 Auch hier ist der Ausgangspunkt also unsere Vorstellung vom Sozialleben. Die formale Kategorie, mit deren Hilfe wir soziales Leben auffassen können, ist nun nach Stammler der Begriff der „äußeren Regelung". Er versteht darunter Recht einerseits, Konventionalnormen andererseits. N u r mit Hilfe dieses Begriffes können wir soziales Leben überhaupt als solches erfassen. Stammler fragt: „Wodurch wird gesellschaftliches Zusammenleben gegenüber dem bloß physischen Beisammensein begrifflich bestimmt?" und antwortet: „Dieses Moment ist die von Menschen herrührende Regelung ihres Verkehrs und Mit40 41 42
aaO., S. 119. aaO., 119/120. Hervorhebung und () von mir. aaO., S. 13.
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einanderlebens." 43 Die Konventionairegei unterscheidet sich vom Recht dadurch, daß sie nur gilt, soweit der Betroffene sich ihr unterwerfen will 44 . Hierher gehört etwa ein gesellschaftlicher Ehrenkodex. Nach der gleichen Methode wird sodann der Begriff des Rechts als des formalen Elementes gesucht, welches logische Bedingung aller besonderen Rechtsvorstellungen 45 und daher allgemein gültig ist 46 . Der Rechtsbegriff wird danach dahin bestimmt, das Redit sei das „unverletzbar, selbstherrlich verbindende Wollen" 47 . „Verbindendes Wollen" ist ein Wollen, „das ein mehreres Wollen als Mittel füreinander bestimmt" 48 , d. h. eine äußere Regelung 49 , die mehrere verbindet und über ihnen steht 50 . Das Prädikat „selbstherrlich" bezeichnet die Eigenschaft des Rechtes, daß seine Geltung dem Wollen der ihm Unterworfenen entzogen ist 51 , das Prädikat „unverletzbar" die andere, daß es „ein für alle Mal" bleibend und unverbrüchlich gilt (Gegensatz: willkürliche Satzung im Einzelfall) 52 . Da das Recht als Teil des Wollens bestimmt ist, ist es möglich, über den Rechtsbegriff hinaus nodi einen Schritt weiter in anderer Richtung logisch zurückzugehen, nämlich auf den des Wollens und seiner möglichen Zwecke überhaupt. Hier sind wir dann bei den obersten Ordnungsbegriffen des Bewußtseins, Wahrnehmen und Wollen, angelangt, denen die kausale Methode (Ursache und Wirkung) einerseits, die finale Betrachtung (Zwedc und Mittel) andererseits zugeordnet sind 53 . Damit erreidien wir die Rechtsidee. Sie stellt die Verbindung zwischen dem Rechtsweg«// und dem Begriff eines reinen Reiches der Zwecke her. Die Idee des Rechtes begreift also nicht ein besonderes Wollen in seinem. Unterschiede von anderen Arten des Wollens, sondern bedeutet den unbedingt gleichmäßigen Grundgedanken für alle besonderen Bestrebungen, die nach dem Begriffe des Rechtes übereinstimmend erfaßt sind, indem es diese wieder in das Reich des Wollens überhaupt in gesetzmäßiger Weise zurück43
aaO., S. 83. Scharfe Kritik dieser Theorie in M. Webers Aufsatz „Rudolf Stammlers ,Überwindung' der materialistischen Geschichtsauffassung" (1907), jetzt wieder abgedruckt in Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1951), S. 291—359; vgl. insbes. S. 322 ff. 44
aaO., S. 124/125.
45
Theorie der Rechtswissenschaft, S. 6; vgl. dort auch Einleitung Nr. 4.
46
aaO., S. 4. aaO.,S. 113. aaO., S. 79. aaO., S. 96. aaO., S. 49/50.
47 49 51 M
48
aaO., S. 75. «» aaO., S. 77. « aaO., S. 107.
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führt 5 4 . Es handelt sich dabei also nicht um einen weiteren Schritt in der Richtung, in der der Rechts begriff gesucht wurde, sondern um einen Schritt in anderer Richtung. Waren 4 wir vorher sozusagen in die Horizontale gegangen, so jetzt in die Vertikale. Anknüpfend an die Tatsache, daß das Redit dem Wollen unterfällt, wird jetzt nach den möglichen Zwecken rechtlichen Wollens gefragt. „Den Gedanken eines unbedingt gültigen Verfahrens, den Inhalt aller jemals möglichen Zwecke und Mittel einheitlich zu bestimmen, nennen wir . . . die Idee des Rechts." Audi sie soll also nicht ein zu verwirklichender Idealzustand, ein verpflichtender ideeller Gehalt, sondern ein Verfahren sein, das es ermöglicht, alles rechtliche Wollen als auf bestimmte höchste Zwecke gerichtet, also unter der Einheit seiner praktischen Ziele zu begreifen. Die Ubereinstimmung eines konkreten Rechtssatzes mit der Rechtsidee in diesem Sinne nennt Stammler die „Richtigkeit" des Rechtes; solches Recht ist „richtiges Recht". Er betont immer wieder, daß es sich bei der Frage nach der Richtigkeit ebenfalls nur um ein formales Verfahren handele, nicht um Prüfung an bestimmten sittlichen Inhalten. Es soll sich auch hier nur um den Rüdsgang auf eine logische Form handeln. „In diesem Sinne ist in der hier durchzuführenden Betrachtung der Gedanke der Richtigkeit, nach Idee und Grundsätzen, die Form der sadilichen Würdigung eines Reditsinhaltes." 55 Der Gedanke des richtigen Redites hat nur formale Bedeutung und gibt überall nur an, ob bestimmtes Recht in seinem Inhalt mit den eigenen Grundgedanken in Einklang steht 56 . Der Inhalt der Rechtsidee, ihre „Formel" 57 , ist nun die „Gemeinschaft frei wollender Menschen", die „reine Gemeinschaft"; sie ist zugleich das „soziale Ideal" 5 8 . Unter „freiem Wollen" versteht Stammler einmal ein Wollen, „dem nichts von den Besonderheiten eines bedingten Strebens wesentlich innewohnt. Es soll von allen bloßen Einzelheiten frei sein . . ," 59 Es ist die Idee des (noch nicht auf bestimmte Zwecke gerichteten) Wollens überhaupt. Das entspricht seinem formalen Ansatzpunkt. Er versteht darunter aber zugleich ein sittlich reines Wollen. „So bleibt für den einzelnen als letzte Aufgabe das reine Wollen im Sinne innerer Lauterkeit,
54 54 54 57
aaO., S. 440. Die Lehre von dem richtigen Rechte (1. Aufl. 1902), S. 217, 218. aaO., S. 45.
Theorie der Rechtswissenschaft, S. 471. aaO., S. 471, 488,474. s » aaO., S. 443. M
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während für die Gemeinschaft das Problem besteht, denselben gesetzmässigen Gedanken der Willensreinheit im Sinne des sozialen Ideals aufzunehmen." 60 Damit erhält das soziale Ideal einen materiellen Inhalt. Es entspricht dem Kantischen Gedanken, daß das Recht die „äußere Freiheit" des Menschen ist, d. h. eine Freiheit, die seine autonome sittliche Entschließung ermöglichen solle61. Das zeigt sich noch deutlicher in den Grundsätzen des richtigen Rechtes, die Stammler entwickelt, um die Feststellung der Richtigkeit eines konkreten Reditssatzes zu ermöglichen. Sie lauten: „Es darf nicht der Inhalt eines Wollens der Willkür eines anderen anheimfallen." (Daher ist ζ. B. die Sklaverei kein richtiges Redit.) „Jede rechtliche Anforderung darf nur in dem Sinne bestehen, daß der Verpflichtete sich noch der Nächste sein kann." (Daher ζ. B. keine Verpflichtung bis zur Selbstaufgabe.) Dies sind die „Grundsätze des Achtens" 62 . „Es darf nicht ein rechtlich Verbundener nach Willkür von der Gemeinschaft ausgeschlossen sein." „Jede rechtlich verliehene Verfügungsmacht darf nur in dem Sinne ausschließend sein, daß der Ausgeschlossene sich noch der Nächste sein kann . . D i e s sind die sogen. Grundsätze des Teilnehmens 63 . Bei der Anwendung dieser Grundsätze hat man die an einem konkreten Rechtsverhältnis Beteiligten als eine Sondergemeinschaft anzusehen und dann zu prüfen, ob in der positiven Regelung ihrer Beziehungen die Grundsätze beachtet sind. In diesem Fall ist das betreifende Recht im Einzelfall richtig64. 4. Verfolgt man die Grundsätze des philosophischen Positivismus in seinen letzten Konsequenzen, so ist klar, daß auch die Rechtswissenschaft, wie sie sich geschichtlich entwickelt hat, nicht als Wissenschaft angesehen werden kann, da sie jenseits des positivistischen Wissenschaftsbegriffs liegt. Trotzdem hat die Rechtstheorie seit dem 19. Jahrhundert den Versuch gemacht, die allgemeine Rechtstheorie, jedenfalls soweit wie möglich, den Forderungen der positivistischen Wissenschaftstheorie anzupassen, indem sie auf alle „metaphysischen" Lehren, insbes. die eo
aaO., S. 494; Hervorhebung von mir.
61
vgl. die ausdrückliche Bezugnahme auf die kantisdie Unterscheidung äußerer und innerer Freiheit: aaO., S. 494. 62
Die Lehre von dem richtigen Rechte, S. 208.
M
aaO., S. 211.
« aaO., S. 281.
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Theorie des Naturredits verzichtete und Wertfragen, soweit möglich, ausschloß. Dabei spielten, außer dem Einfluß des allgemeinen Positivismus, audi die Auffassungen der historischen Rechtsschule und die Ansicht, alle Werturteile beruhten letztlich auf subjektiven und irrationalen Gefühlen, eine Rolle. Daraus entstand der juristische Positivismus des 19. Jahrhunderts. Er stellt drei Hauptthesen auf: a) Nur positives Recht ist Redit 65 . Diese These ist am eindrucksvollsten von dem deutschen Reditsphilosophen Bergbohm (1849—1927) formuliert worden 66 : „Damit eine praktische, Handlungen oder Verhältnisse der Menschen und ihrer Vereine bestimmende Norm oder Regel positives Recht im Sinne der Jurisprudenz und Rechtswissenschaft . . . sein könne, ist eine unerläßliche Bedingung die, daß sie zu dem wesentlichen normativen Inhalt die ebenso wesentliche Rechtsform erworben habe, was nur auf die Weise geschehen konnte, daß ihr keine kompetente rechtbildende Macht durch einen geeigneten, äußerlich erkennbaren Vorgang, der als solcher der Geschichte angehört und die formelle Rechtsquelle der betr. Norm bildet, die Rechtsqualität verlieh." Danach muß sich also für jede als Rechtsnorm anzuerkennende Norm ein äußerer historischer Akt nachweisen lassen, durch den sie als solche anerkannt oder in Kraft gesetzt worden ist. Die Parallele zu der Forderung des allgemeinen Positivismus, jede Erkenntnis müsse sich letztlich aus Sinneswahrnehmungen ableiten lassen, ist deutlich. Die These schließt jede Anerkennung eines überpositiven Naturrechts aus. b) Das positive Recht beansprucht unbedingten Gehorsam. Nichtanwendung des Gesetzes aus Bedenken gegen seinen (vielleicht als unsittlich empfundenen) Inhalt ist ausgeschlossen. Auch dies hat Bergbohm scharf formuliert 67 : „Und gerade dem um seiner Schädlichkeit oder Inhumanität mißfälligen Recht gegenüber bewährt sich erst des reinen Juristen vornehmste Tugend: Die Fähigkeit, seinen Verstand jeder Beeinflussung selbst durch die tiefsten persönlichen Überzeugungen und heißesten Herzenswünsche zu entziehen, die (Befriedigung) derselben nur auf dem Wege der Rechtsumbildung erwartend." es
Der Ausdrude positives Recht — jus positivum — entstammt der mittelalterlichen Rechtstheorie — vgl. unten Kap. IV. Abschn. 1.1. M Jurisprudenz und Rechtsphilosophie (1892), S. 549. «7 aaO., S. 398.
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Die Formulierung zeigt, daß sittliche Wertungen allein als subjektive Überzeugungen, als „heiße Herzenswünsche" angesehen werden. Es gibt keine objektiven Sätze der Gerechtigkeit. c) Die Auslegung des Gesetzes hat sich grundsätzlich auf die grammatisch-logische Auslegung zu beschränken. Teleologische und Werterwägungen sind ausgeschlossen. Sie gehören in den Bereich der Rechtspolitik, der von dem der Rechtswissenschaft scharf zu trennen ist. In dieser Form ist der juristische Positivismus allerdings eine spezifische Theorie des 19. Jahrhunderts. Es gibt daneben andere Ausprägungen; z . B . sind auch viele Vertreter der sogen, soziologischen oder Interessenjurisprudenz Positivisten, obwohl sie die dritte These ablehnen, sogar scharf bekämpfen. Gemeinsam sind allen positivistischen Auffassungen aber die erste und zweite These. 5. Für den strengen Positivisten liegen Werte außerhalb des Bereichs wissenschaftlicher Erkenntnis; Werturteile sind gefühlsmäßig bedingt und rational nicht zu begründen. Von diesen beiden Sätzen akzeptiert die philosophische Richtung, die wir jetzt zu betrachten haben, der philosophische Relativismus, nur den zweiten. Sie hält die Geisteswissenschaften als Wissenschaften des Verstehens für möglich und sieht es daher auch für möglich an, wissenschaftliche Aussagen über Werte und Werturteile, die im geschichtlichen oder gegenwärtigen Kulturleben auftauchen, zu machen, ihren Inhalt festzustellen, ihre Wirkungen zu erkennen usw. Sie akzeptiert die Werte auch' — anders als der Positivismus — als besondere im Kulturleben wirksame Phänomene. Aber sie stimmt mit dem Positivismus in einem Punkt überein: Sie sieht den Geltungsgrad bestimmter Werte in letztlich irrationalen Akten des Glaubens und der Willensentscheidung. Hier endet auch für den Relativismus das rationale Argument: Daher gilt ein Wert stets nur relativ: für den Menschen, die Nation, das Zeitalter, das sich für ihn entschieden hat. Diese Lehre ist in Deutschland am eindrucksvollsten von M a x Weber ( 1 8 6 4 — 1 9 2 0 ) vertreten worden 6 8 . Auch Weber geht von dem Satz aus, daß wissenschaftliche Erkenntnis nur im Bereich der Erfahrungen möglich ist — wobei er freilich diesen Begriff weiter faßt Hauptschriften in diesem Zusammenhang: Die „Objektivität" sozialwissenscfaaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis ( 1 9 0 4 ) ; Der Sinn der „Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften ( 1 9 1 7 ) ; Wissenschaft als Beruf (1919). — Jetzt vereinigt in „Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre", herausgegeben von J. Winckelmann (2. Auflage 1951). Danach wird hier zitiert. 48
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als der strenge Positivismus, indem er insbesondere die historischen und ökonomischen Disziplinen einbezieht. Werte können daher nicht wissenschaftlich deduziert werden. „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur was er kann und — unter Umständen — was er will. Richtig ist, daß die persönlichen Weltanschauungen auf dem Gebiet unserer Wissenschaften unausgesetzt hineinzuspielen pflegen auch in die wissenschaftliche Argumentation, sie immer wieder trüben, das Gewicht wissenschaftlicher Argumente auch auf dem Gebiet der Ermittlung einfacher kausaler Zusammenhänge von Tatsachen verschieden einschätzen lassen, je nachdem das Resultat die Chancen der persönlichen Ideale: die Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu wollen, mindert oder steigert. Audi die Herausgeber und Mitarbeiter unserer Zeitschrift werden in dieser Hinsicht sicherlich „nichts Menschliches von sich fern glauben". Aber von diesem Bekenntnis menschlicher Schwäche ist es ein weiter Weg bis zu dem Glauben an eine „ethische" Wissenschaft der Nationalökonomie, welche aus ihrem Stoff Ideale oder durch Anwendung allgemeiner ethischer Imperative auf ihren Stoff konkrete Normen zu produzieren hätte. — Richtig ist noch etwas weiteres: gerade jene innersten Elemente der „Persönlichkeit", die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, werden von uns als etwas „objektiv" Wertvolles empfunden. Wir können sie ja nur vertreten, wenn sie uns als geltend, als aus unseren höchsten Lebenswerten fließend, sich darstellen und so, im Kampfe gegen die Widerstände des Lebens, entwickelt werden. Und sicherlich liegt die Würde der „Persönlichkeit" darin beschlossen, daß es für sie Werte gibt, auf die sie ihr eigenes Leben bezieht, — und lägen diese Werte auch im einzelnen Falle ausschließlich innerhalb der Sphäre der eigenen Individualität: dann gilt ihr eben das „Sichausleben" in denjenigen ihrer Interessen, für welche sie die Geltung als Werte beansprucht, als die Idee, auf welche sie sich bezieht. N u r unter der Voraussetzung des Glaubens an Werte jedenfalls hat der Versuch Sinn, Werturteile nach außen zur vertreten. Aber: die Geltung soldier Werte zu beurteilen, ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissensdiaft in dem Sinne, in welchem sie an dieser Stelle gepflegt werden soll. Für diese Scheidung fällt nicht — wie oft geglaubt wird — entscheidend ins Gewicht die empirisch erweisliche Tatsache, daß jene letzten Ziele historisch wandelbar und streitig sind. Denn auch die Erkenntnis der sichersten Sätze unseres theoretischen — etwa des
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exakt naturwissenschaftlichen oder mathematischen — Wissens ist, ebenso wie die Schärfe und Verfeinerung des Gewissens, erst Produkt der Kultur." 6 9 Die Anerkennung von Werten beruht auf letzten Glaubensentscheidungen im Kampf der Werte. In „Wissenschaft als Beruf" hat er ihn geschildert: „Die Unmöglichkeit .wissenschaftlicher' Vertretung von praktischen Stellungnahmen — außer im Falle der Erörterung der Mittel für einen als fest gegeben vorausgesetzten Zweck — folgt aus weit tiefer liegenden Gründen. Sie ist prinzipiell deshalb sinnlos, weil die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen. Der alte Mill, dessen Philosophie ich sonst nicht loben will, aber in diesem Punkt hat er recht, sagt einmal: wenn man von der reinen Erfahrung ausgehe, komme man zum Polytheismus. Das ist flach formuliert und klingt paradox, und doch steckt Wahrheit darin. Wenn irgend etwas, so wissen wir es heute wieder: daß etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, sondern: weil und insofern es nicht schön ist, — in dem 53. Kapitel des Jesaiasbuches und im 21. Psalm können Sie die Belege dafür finden, — und daß etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist, das wissen wir seit Nietzsche wieder, und vorher finden Sie es gestaltet in den „fleurs du mal", wie Baudelaire seinen Gedichtband nannte, — und eine Alltagsweisheit ist es, daß etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist. Aber das sind nur die elementarsten Fälle dieses Kampfes der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte. Wie man es machen will, „wissenschaftlich" zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit. Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte, und dann dem Apollon. und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute. Und über diesen Göttern und in ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine „Wissenschaft". Es läßt sich nur verstehen, was das Göttliche für die eine und für die andere oder: in der einen und der anderen Ordnung ist. Damit ist aber
68 Die „Objektivität" sozialwissensdiaftlidier und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze, S. 151, 152.
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die Sache f ü r jede E r ö r t e r u n g in einem H ö r s a a l u n d durch einen Professor schlechterdings zu Ende, so wenig natürlich das d a r i n steckende gewaltige Lebensproh\em selbst d a m i t z u E n d e ist. A b e r a n dere Mächte als die K a t h e d e r d e r U n i v e r s i t ä t e n h a b e n da das W o r t . Welcher Mensch w i r d sich vermessen, die E t h i k der Bergpredigt, e t w a den S a t z : „Widerstehe nicht dem Ü b e l " oder das Bild v o n der einen oder d e r a n d e r e n Backe, „wissenschaftlich w i d e r l e g e n " zu wollen? U n d doch ist k l a r : es ist, innerweltlich angesehen, eine E t h i k der Würdelosigkeit, die hier gepredigt w i r d : m a n h a t zu w ä h l e n zwischen der religiösen W ü r d e , die diese E t h i k bringt, u n d der M a n neswürde, die etwas ganz anderes p r e d i g t : „Widerstehe d e m Übel, — sonst bist du f ü r seine U b e r g e w a l t m i t v e r a n t w o r t l i c h . " J e nach der letzten Stellungnahme ist f ü r den Einzelnen das eine der Teufel u n d das a n d e r e der G o t t , u n d der Einzelne h a t sich zu entscheiden, welches für ihn der G o t t u n d welches der Teufel ist. U n d so geht es durch alle O r d n u n g e n des Lebens hindurch. D e r g r o ß a r t i g e Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung, der aus jeder religiösen P r o p h e t i e quillt, h a t t e diese Vielgötterei e n t t h r o n t zugunsten des „Einen, das n o t t u t " — u n d h a t d a n n , angesichts der R e a l i t ä t e n des ä u ß e r e n u n d inneren Lebens, sich zu jenen Kompromissen u n d R e lativierungen genötigt gesehen, die w i r alle aus der Geschichte des C h r i s t e n t u m s k e n n e n . H e u t e aber ist es religiöser „ A l l t a g " . D i e alten vielen G ö t t e r , e n t z a u b e r t u n d d a h e r in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren G r ä b e r n , streben nach G e w a l t ü b e r unser Leben u n d beginnen u n t e r e i n a n d e r wieder ihren ewigen K a m p f . D a s aber, was gerade dem m o d e r n e n Menschen so schwer w i r d , u n d der jungen G e n e r a t i o n a m schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein. Alles J a g e n nach dem „Erlebnis" s t a m m t aus dieser Schwäche. D e n n Schwäche ist es: dem Schicksal der Zeit nicht in sein ernstes A n t l i t z blicken zu k ö n n e n . " 7 0 Weber h a t also die G r u n d l a g e der W e r t g e l t u n g in b e w u ß t e n individuellen Entscheidungen gesehen. A n d e r e haben den A k z e n t mehr auf die Stellungnahme von G r u p p e n u n d G e n e r a t i o n e n gelegt. D a n n gelangt m a n e n t w e d e r z u r soziologisch begründeten Ideologie 7 1 oder z u m Historismus, f ü r den den W e r t u n g e n jeweils n u r zeitbedingte Geltung zukommt72.
70 71
Gesammelte Aufsätze, S. 587—589.
vgl. dazu oben Absdin. VI. 3. vgl. dazu insbes. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (1922, Neudruck 1961). 72
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K a n n die Wissenschaft also im K a m p f der Weltanschauungen nicht Stellung nehmen, so k a n n sie doch etwas anderes: Sie k a n n aufzeigen, welche Mittel verwendet werden müssen, um einen bestimmten, als wertvoll empfundenen Zustand zu erreichen, u n d welche O p f e r , etwa unter dem Gesichtspunkt anderer Werte, dabei gebracht werden müssen. Sie kann die in der Logik der Dinge liegenden Folgen einer Wertentscheidung aufzeigen und diese damit zu einer bewußten machen 7 3 . Es liegt auf der H a n d , d a ß diese Erkenntnis gerade f ü r die Rechtsphilosophie von großer Bedeutung sein muß. In der Rechtsphilosophie hat v o r allem Gustav Radbruch (1878 bis 1949) auf dieser Grundlage eine systematische Anschauung entwickelt 74 . Radbruch ist von den Lehren einer Richtung in der neukantischen Philosophie, der sogen, südwestdeutschen Schule, ausgegangen. Für ihn ist alle Rechtsphilosophie „Rechtswertbetrachtung", d. h. Rechtsphilosophie hat nach den Werten zu fragen, auf G r u n d deren sich eine positive Rechtsordnung als gerecht oder ungerecht, richtiges oder unrichtiges Recht ausweist. Aber die Rechtsphilosophie stößt hier auf die Schwierigkeit, d a ß sich über Werte, etwa über das, was gerecht ist, keine allgemein gültigen Aussagen machen lassen; solche Allgemeingültigkeit k o m m t n u r formalen Aussagen zu. W e r t urteile — hier teilt Radbruch einen der Grundsätze des Positivismus — sind „nicht der Erkenntnis, sondern n u r des Bekenntnisses fähig." 7 5 Diese Schwierigkeit überwindet Radbruch, indem er die Aufgabe der Rechtsphilosophie begrenzt. Sie hat einmal zu untersuchen, welche Mittel möglich und tauglich sind, einen bestimmten Wert zu verwirklichen; sie hat z u m anderen zu prüfen, welche Höchstwerte denkbar sind, u n d ihr systematisches Verhältnis festzustellen. D a m i t gelangt er zu einem „systematischen Relativismus". „Aber die Rechtswertbetrachtung w i r d sich auf die Untersuchung der richtigen Mittel nicht beschränken, sie wird z u r Rechtsphilosophie erst, wenn sie die Rechtszwecke zu ihrem Gegenstande macht, wie sie in mannigfach verschiedener Auffassung nicht nur in den Systemen der Rechtsphilosophie, sondern auch in den Institutionen der Rechtswirklichkeit, nicht n u r in den Programmen der politischen P a r teien, sondern auch in den Intuitionen staatsbewußter Einzel-
7 ® vgl. etwa M. Weber, die „Objektivität" sozialwissensdiaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Gesammelte Aufsätze, S. 149 ff. 74 Grundzüge der Rechtsphilosophie (1. A u f l . 1914), jetzt die seit seinem Tode von Erik Wolf besorgte „Rechtsphilosophie" in der 6. Aufl. 1963. 75
Radbruch,
Grundzüge der Rechtsphilosophie (1. Aufl. 1914),S. 2.
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persönlichkeiten zum Ausdruck kommen. Vermag auch die Rechtsphilosophie in diesem K a m p f e der Meinungen nicht wissenschaftlich f ü r eine unter ihnen zu entscheiden, so kann sie dodi die persönliche Entscheidung wissenschaftlich vorbereiten: indem sie die allgemeine Maxime vergegenwärtigt, welche durch eine jede jener politischen Aussagen, Handlungen oder Institutionen betätigt und so stillschweigend bestätigt wird, indem sie also ihre politischen Konsequenzen, ihre weltanschaulichen Voraussetzungen und endlich ihr systematisches Verhältnis zu anderweiten politischen Uberzeugungen klarlegt. Sie wird zunächst den vorliegenden Rechtszweck im Sinne immanenter Widerspruchslosigkeit zu Ende denken, und zwar in zweifacher Richtung: sie wird sich einerseits den ganzen z u r Erreichung dieses Rechtszwecks notwendigen A p p a r a t , die Mittel mit allen Nebenwirkungen ihrer Anwendung vor Augen führen, aber zum Unterschied von der Politik nicht, um diese Mittel selbst, sondern um in ihnen in konkreter Plastik den Reditszwedk kennenzulernen, den Rechtszweck in seiner ganzen politischen Tragweite zu erfassen; und sie wird sich andererseits die kan tisch formulierte Frage vorlegen: wie ist der vorliegende Rechtszweck möglich? welche Voraussetzungen muß man anerkennen, um konsequenterweise diesen Rechtszweck anerkennen zu dürfen? und sich so auf seinen weltanschaulichen Hintergrund besinnen. Nachdem so alle zur Untersuchung stehenden politischen Standpunkte ihren Konsequenzen und Voraussetzungen und damit auch erst ihrem Inhalte nach z u r Gegebenheit gebracht worden sind, gilt es endlich, sie in ihrem gegenseitigen Verhältnis, in ihrer Gegensätzlichkeit oder Gemeinsamkeit, systematisch zu begreifen und in diesem Systeme zugleich- die Möglichkeit zu gewinnen, alle überhaupt denkbaren Ausgangspunkte verschiedenen politischen Denkens erschöpfend zu ermitteln." 7 6 Radbruch entwickelt zunächst den Rechtsbegriff als „Gemeinschaftsregelung" 7 7 . Für diese Gemeinschaftsregelung ergeben sich ihm drei mögliche Höchstwerte, an denen jene sich ausrichten k a n n : der Persönlichkeitswert, der Gemeinschaftswert, der Werkwert; anders formuliert: „Freiheit, Macht, Kultur." „ D a jede dieser Wertarten die Führung übernehmen und sich die beiden andern dienstbar machen kann, ergeben sich drei mögliche Konfigurationen : 1. die Werkwerte und die Gemeinschaftswerte im Dienste der Persönlichkeitswerte — Kunst und Wissenschaft, Staat und Recht im Dienste der individuellen Sittlichkeit; n
Radbruch> aaO., S. 26 f.
77
aaO., S. 42.
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2. die Persönlichkeitswerte u n d die W e r k w e r t e im Dienste der Gemeinschaftswerte — Sittlichkeit, Wissenschaft und Kunst im Dienste von Recht und Staat; 3. die Persönlichkeitswerte und die Gemeinschaftswerte im Dienste der W e r k w e r t e — Sittlichkeit, Recht und Staat im Dienste von Wissenschaft u n d Kunst, im Dienste der (objektiven) K u l t u r . " 7 8 Mit diesen systematisch als möglich ermittelten Höchstwerten vergleicht Radbruch nun die Zielsetzung der damals in Deutschland existierenden politischen Parteien: Für die Liberalen ist die Freiheit, f ü r die Konservativen die Macht des Staates, f ü r die katholische Partei des Zentrums die Kirche, also ein „ W e r k w e r t " im Sinne seines Systems höchster Wert. Zu der Einordnung des Sozialismus sagt er: „Große Schwierigkeiten bereitet die Einordnung des Sozialismus in das rechtsphilosophische Parteienschema — Schwierigkeiten, die in dem Gegensatze zwischen Revisionismus u n d Radikalismus ihren p r a k tischen Ausdruck finden. Will der Sozialismus unter den gegebenen Verhältnissen praktisch wirken, so m u ß er sich selbst einem Parteienschema eingliedern, das als in dem G r u n d p r i n z i p seiner Einteilung verfehlt anzusehen doch gerade in seinem Wesen liegt — der Revisionismus betont mehr die erste, der Radikalismus mehr die zweite Seite dieser Antinomie. Nach revisionistischer Auffassung ist die S o z i a l d e mokratie" eine A r t der Demokratie, mit der bürgerlichen D e m o k r a tie in der Frage nach dem Ziele des Staates einig, gerade wie sie, trotz des N a m e n s „Sozialismus", im Ausgangspunkte individualistisch, aber mit der eingestifteten Neigung, ins Transpersonalistische umzuschlagen, mit ihr uneinig n u r über die A r t oder sogar nur das M a ß der zur Erreichung jenes Zieles gebotenen wirtschaftspolitischen Mittel u n d deshalb nicht abgeneigt, sich einer bürgerliche und sozialistische Elemente gleichermaßen umfassenden Demokratie u n d vielleicht auch einem noch umfassenderen „Großblock" einzufügen. Nach radikaler Auffassung ist der Sozialismus dagegen der bürgerlichen Demokratie genau so f r e m d und feind wie allen anderen bürgerlichen Parteien, der einen großen reaktionären Masse. Nach ihr kann und darf ebensowenig dem Sozialismus in dem überlieferten Parteienschema ein O r t bestimmt werden, wie e t w a einer Farben- oder Geruchsnuance in der Tonleiter, weil er nämlich auf einem ganz anderen G r u n d p r i n z i p beruht. Das überlieferte Parteienschema beruht auf rechtsphilosophischen Kriterien, der Sozialismus aber leugnet den wissenschaftlichen Wert u n d die parteibildende K r a f t der Rechtsphilo78
Radbruò,
aaO., S. 95.
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sophie: es gibt für ihn keine Rechts-, sondern nur eine Wirtsdiaftsphilosophie." 7 9 Radbruch hat später, nach den Erfahrungen der H i t l e r - D i k t a t u r , sein System insofern modifiziert, als er j e t z t den Grundrechten einen allgemeineren W e r t beilegt 8 0 . D a r a u f ist hier aber nicht näher einzugehen; in unserem Zusammenhang kommt es nur darauf an, R a d bruchs ursprüngliche Position zu kennzeichnen. F ü r sie ist charakteristisch, daß zwar eine inhaltliche Bestimmung des Gehalts von Werten für möglich gehalten wird, eine Entscheidung zwischen verschiedenen Werten aber nidit rational, sondern nur aufgrund eines Gefühls- und Willensaktes, als „Bekenntnis" möglich ist.
IX. Zur gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion Es würde den Rahmen dieser Skizze überschreiten, ein vollständiges Bild der gegenwärtigen Strömungen in der Rechtsphilosophie bieten zu wollen, wie dies für seine Generation Recasens in seiner großangelegten Darstellung des Pensamiento Jurídico getan hat. Es sollen nur Hinweise auf einige Tendenzen gegeben werden, die dem Verfasser wichtig erscheinen. 1. Die neuen Ansätze, welche vor allem im 19. Jahrhundert entwickelt und hier unter dem Stichwort „Moderne" dargestellt worden sind, üben auch in der aktuellen Diskussion noch einen bedeutenden Einfluß aus. D i e Lehre von Marx ist nicht nur die offizielle Philosophie in den sozialistischen Staaten; sie bildet auch die Basis für einflußreiche sozialphilosophische Theorien in anderen Ländern. Beispiele in Deutschland bieten die von der sog. Frankfurter Schule entwickelte „Kritische T h e o rie" 81 und die Philosophie Ernst Blochs®2. In den angelsächsischen Ländern übt der von Bentham begründete Utilitarismus nach wie vor einen bedeutenden Einfluß aus. Dies zeigt sich
n
Radbruch,
aaO., S. 154 f.
vgl. Kadbruà), Vorsdiule der Rechtsphilosophie (1947; zitiert nadi der 2. Aufl. 1959), S. 97 ff. 80
81 Eine Auseinandersetzung mit der analytischen Philosophie in der Form, wie sie von Popper vertreten wird, hat im sog. „Positivismusstreit" stattgefunden. Vgl. Adorno u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1972). 82 Vgl. Das Prinzip Hoffnung. Scharfe Kritik bei Jonas, Das Prinzip Verantwortung (1979), Kap. VI.
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z . B . in den Einzelerörterungen in John Rawls „Theory of Justice", obwohl dieses Werk auf anderen Grundlagen beruht. Auch der Ansatz der von Austin geschaffenen und in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts vor allem von Kelsen konsequent ausgebauten allgemeinen Rechtslehre" ist fortentwickelt worden. H . L. A. Hart hat in seinem Buch „The Concept of Law" (1. Auflage 1961) die von Austin verfolgten Fragen nach der Eigenart der rechtlichen Normen wieder aufgegriffen und für sie neue Lösungen erarbeitet. 2. Große Bedeutung haben auch die Anstöße der neopositivistischen Richtung des Wiener Kreises behalten 84 . In dem Bestreben, eine allgemeine Wissenschaftstheorie zu entwickeln, sind nicht nur die Zielsetzungen dieser Philosophie wirksam; ihre Wirkung zeigt sich auch in den Wegen, auf denen dieses Ziel erreicht werden soll. Untersuchungen der logischen Struktur der wissenschaftlichen Systeme, insbesondere Analysen der Aussagensysteme der Einzelwissenschaften, nehmen einen breiten Raum ein, auch wenn die Wissenschaftstheorie im Ansatz nicht darauf beschränkt sein soll85. Die gleiche Feststellung läßt sich auch für den Teil der Wissenschaftstheorie treffen, welcher dem Recht gewidmet ist, der Rechtstheorie. Das Programm der rechtstheoretischen Forschung ist darauf gerichtet, neben der Rechtssoziologie eine neue umfassende Grundlagenwissenschaft für den Bereich des Rechts zu entwickeln. Sie soll nicht nur Auslegung und Anwendung, sondern auch die Setzung des Rechts umfassen und über die bisherigen Grundlagen der Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie und damit Rechtsgeschichte hinausführen 86 . Wie in der allgemeinen Wissenschaftstheorie spielen aber auch in der rechtstheoretischen Forschung logische und sprachanalytische Untersuchungen eine besondere Rolle 87 . Dazu oben S. 65 ff. Vgl. oben S. 61 ff. 85 Vgl. die Betonung der formalen Logik und der Theorie der Wissenschaftssprache im Rahmen der Wissenschaftstheorie bei Mittelstraß im Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Encyklopaedie „Philosophie und Wissenschaftstheorie", auch die Bemerkung von Ströker in „Normfragen der Wissenschaftstheorie" in dem Sammelband „Ethik der Wissenschaften" (S. 44). 86 Vgl. etwa Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie II: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, hrsg. von Hans Albert, N. Luhmann, W. Maihofer u. Ota Weinberger (Bielefeld 1972); insbesondere dort den Programmaufsatz von Maihofer, (S. 51—78). Guter Uberblick über die verschiedenen Ansätze ferner in dem Werk von Krawietz, „Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis" (1978), der selber von einer fortentwickelten Interessen- und Wertungsjurisprudenz ausgeht. 83
84
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Vgl. Krawietz,
aaO., S. 147.
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3. Hervorzuheben ist vor allem der bedeutende Beitrag, den Niklas Luhmann zur Begründung einer Rechtstheorie geleistet hat. Luhmann hat in seiner Rechtssoziologie 88 über die bisherigen Ansätze hinaus die Rechtssoziologie systemtheoretisch und evolutionstheoretisch aufgebaut. Die Systemtheorie betrifft allgemein gesehen die Beziehungen (Interdependenzen) zwischen den Elementen einer Ganzheit (System), und zwar sowohl diejenigen innerhalb dieser Ganzheit, wie*diejenigen zu ihrer Umwelt. Systeme finden sich zunächst in der Natur, z . B . Gase oder Atome, aber auch in der sozialen Welt des Menschen da, wo Menschen über längere Zeit zusammen leben und aufeinander einwirken (Interaktion), als soziale Systeme, so etwa Familie, Betrieb, Nation. Luhmann selbst hat das soziale System definiert als „Sinnzusammenhang von sozialen H a n d l u n g e n . . . , die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen". 89 Die Systemtheorie untersucht die im System auftretenden Strukturen und Prozesse sowie die Funktion des Systems selbst wie diejenige seiner Elemente. Luhmann hat der funktionalen Analyse eine besondere Bedeutung zugewiesen. E r geht dabei von einer bestimmten Grundsituation des Menschen in seinem Verhalten zur Welt aus. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen ist der Mensch nicht in eine bestimmte Umwelt eingepaßt und auf sie fixiert. Er steht vor einer Fülle von Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, einer Fülle, die größer ist, als er wirklich vollziehen kann (sog. „Komplexität") 90 . Diese Komplexität zwingt ihn zur Beschränkung, zur Auswahl zwischen Möglichkeiten (Selektion, Reduktion). Für das Verständnis eines sozialen Systems kommt den Erwartungen, von denen die in ihm handelnden Menschen ausgehen, besondere Bedeutung zu. „Handlungssysteme strukturieren sich nicht durch Seinsgesetze, sondern durch Erwartungszusammenhänge"Erwartungen können freilich im Einzelfall enttäuscht werden (sog. Kontingenz) 92 . Hinsichtlich der Wirkung solcher Enttäuschungen sind cognitive und normative Erwartungen zu unterschreiten. Cognitive Erwartungen betreffen Annahmen über die Beschaffenheit der Realität. Stellen sie sich
88 2 Bände 1972; ferner in dem Werk „Ausdifferenzierung des Rechts, Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorien" (1981), insbesondere Kap. 10: Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, S.241 ff. 89 „Soziologie als Theorie sozialer Systeme" in: Kölner Zeitschrift für Soziologie (1967), S. 617. 90 Rechtssoziologie I, S. 31. 91 Rechtssoziologie I, S. 116. 92 AaO., S. 31.
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als falsch heraus, so korrigieren wir unsere Annahmen nach der gemachten Erfahrung: wir lernen. Normative Erwartungen gehen auf das Verhalten von anderen, die sich aus normativen Vorstellungen ergeben. Werden sie enttäuscht, so ändern wir deshalb unsere Normvorstellungen und die ihnen entsprechenden Erwartungen nicht. Sie werden vielmehr aufrechterhalten und das abweichende Verhalten des anderen verurteilt (sog. „kontrafaktische Dauergeltung").' 3 Die Enttäuschung muß aber verarbeitet werden'4. Soziale Systeme haben die Funktion, die Erfassung und Reduktion von Komplexität sowie die Verarbeitung von Enttäuschungserlebnissen zu ermöglichen'5. Besondere Bedeutung kommt dabei der Generalisierung von Verhaltenserwartungen zu. Generalisierung bedeutet im Kern unschädliche Indifferenz gegen Unterschiede, Vereinfachung, und insofern Reduktion von Komplexität. Durch Generalisierung der Verhaltenserwartungen wird die konkrete Abstimmung des sozialen Verhaltens mehrerer erleichtert, indem schon vorher typisch festliegt, was etwa erwartet werden kann und welches Verhalten die Grenzen des Systems sprengen würde. Diese Vorauswahl des im System Möglichen kommt auf der Ebene des Erwartens, nicht des unmittelbaren Handelns zustande, weil nur so die Situation im Vorgriff auf die Zukunft transzendiert werden kann. Solche Generalisierungen können in verschiedenen Richtungen (Dimensionen) stattfinden. Luhmann unterscheidet hier die zeitliche, sachliche und soziale Dimension. Zeitlich werden Erwartungen dadurch generalisiert, daß ihnen enttäuschungsfeste, notfalls kontrafaktische Dauergeltung verliehen wird. In solchen Erwartungen kommt ein Verhaltensanspruch zum Ausdruck, der auch angesichts von abweichendem Verhalten festgehalten und im sozialen Verkehr vertreten werden kann. Dazu muß der Erwartende lernen, eine Enttäuschung mitzuerwarten, sich aber dadurch in seiner Verhaltenserwartung nicht beirren zu lassen. Die psychologische Forschung hat gezeigt, daß das möglich ist und daß enttäuschungsgefaßte Erwartungen durchweg stabiler sind als rein faktische Erwartungen. Jede Norm ist in diesem Sinne ambivalentes Erwarten — und gerade dadurch stabil. Aber diese Stabilisierung setzt Regeln für den Umgang mit Enttäuschungen voraus: Der Erwartende darf sich im Enttäuschungsfalle nicht als blamiert erweisen, er muß sein Erwarten fortsetzen und auf dieser Basis sinnvoll weiterhandeln können, muß sich die Enttäuschungen erklären und not" Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 626. 94 Rechtssoziologie I, S.42. " Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 619.
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falls seinen Gefühlen Ausdruck geben können. Dazu ist ein ziemlich fest institutionalisiertes Repertoire von Symbolen, Zurechnungsweisen, sozialen Hilfen und Aktionschancen erforderlich, das z.B. mit den Bedürfnissen nach sachlicher Generalisierung des Erwartens in Konflikt geraten kann. Sachlich werden Erwartungen durch situationsunabhängige Identifikation ihres Sinnes und Grundes generalisiert. Dafür gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die je nach der Komplexität des Sozialsystems in unterschiedlichem Maße strukturtragend werden. Vor allem ist an die Identifikation von konkret bekannten Personen, von Rollen, von Entscheidungsprogrammen (Zwecken oder konditionalen Normen) und von abstrakten Werten zu denken, die in sehr unterschiedlicher Weise als Kriterien dessen dienen, was man erwarten kann. Soziale Generalisierung von Erwartungen erfolgt durch Institutionalisierung. Soweit eine Erwartung institutionalisiert ist, kann der Erwartende von Zustimmung ausgehen, ohne individuelle Meinungen und Motive geprüft zu haben. Das erspart es in der Regel, die Konsensfrage zu stellen und zu diskutieren, und ermöglicht so rasche Verständigung über ausgewählte Themen der Situation. Wer in den Prämissen dieser Verständigung anderer Meinung ist, muß widersprechen, Initiative ergreifen, sich Motive und Gründe beschaffen, gegen die mutmaßliche Meinung der Umstehenden agieren, sich exponieren und das Risiko persönlicher Darstellung und Zurechnung auf sich nehmen. Das ist als Regelverhalten so schwierig, daß ein solches Provozieren der Institution zumeist unterbleibt und Institutionen auch das Schwinden faktischen Konsens lange überdauern können". Kongruente Generalisierungen sind vor allem durch „erinnerte Geschichte" und rechtliche Organisation möglich'7. Luhmann definiert das Recht als „Struktur eines sozialen Systems, die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht". 98 Das Recht unserer Zeit ist das Produkt einer Evolution, die sich von archaischen Gesellschaftssystemen zu den antiken Hochkulturen und schließlich zu der neuzeitlichen Hochkultur unserer Gesellschaftsformen vollzogen hat. Diese Evolution besteht in erster Linie in der Bewältigung einer immer größeren Komplexität. Das Recht muß zwar einerseits Sicherheit für bestehende normative Erwartungen bieten, andererseits aber auch Raum für die Entwicklung neuerer Erwartungsstrukturen und 96 Vgl. Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 626, 627, auch Rechtssoziologie I, S. 53—94, S. 94 insbesondere seine Zusammenfassung. 97 AaO., S. 628. 98 Rechtssoziologie I, S.105.
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damit neuerer normativer Systeme lassen", wie sie sich unter Umständen in dem abweichenden Verhalten von Minoritäten bilden können. Den entscheidenden Schritt dieser Evolution sieht Luhmann in der Positivierung des Rechts. Dieser Schritt hat sich mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft vollzogen. Unter positivem Recht versteht Luhmann dabei in erster Linie die Gesetze des modernen Staates in einer Gesellschaft, die unter dem Primat der Wirtschaft gegenüber dem früheren Primat der Politik steht. Das Charakteristische dieses positiven Rechts ist, daß es durch Entscheidung gesetzt ist und kraft dieser gilt, nicht aber durch die Vorstellung einer ewig gültigen und daher statischen Weltordnung legitimiert wird, wie sie das klassische Naturrecht der europäischen Tradition vertreten hat. Das positive Recht muß insbesondere durch das Verfahren, in dem es gesetzt wird, legitimiert werden, also durch den politischen Prozeß, in dem die Auswahlentscheidungen getroffen werden100. Diese Positivierung des Rechts bringt Vorteile und Risiken mit sich. Vorteile sieht Luhmann zunächst in der Ausdifferenzierung des Rechts von der Moral und von kognitiven Prozessen, in der Möglichkeit konditionale Entscheidungsprogramme zu entwerfen, an die diejenigen, die im Einzelfall zu entscheiden haben, gebunden sind, in der Differenzierung des Verfahrens zur Rechtssetzung und zur Rechtsanwendung und schließlich vor allem in der Ermöglichung einer leichten und häufigen Rechtsänderung und damit der Anpassung des Rechts an veränderte Verhältnisse, ohne starre Bindung an Naturrecht oder Werte101. Andererseits bringt eine solche erhöhte Möglichkeit der Rechtsänderung auch spezifische Risiken mit sich102. Naturrecht und Gerechtigkeitsideale genügen nach Luhmann nicht mehr, um ein modernes Normensystem zu beherrschen und zu steuern. Das klassische Naturrecht war ein Abbild der ewigen Ordnung der Welt. Die klassische Gerechtigkeitsidee impliziert eine umfassende perfekte Ordnung. Diese Vorstellungen konnten lange Zeit das Recht legitimieren und als Kriterien für Recht und Unrecht bei der Setzung von Recht oder von Rechtsentscheidungen dienen. Diese Funktion können sie aber unter den Bedingungen der komplexen modernen Gesellschaft nicht mehr ausüben. Sie sind nicht komplex genug. „Wie sollen Vorstellungen von " Rechtssoziologie I, S. 130. 100 Vgl. Rechtssoziologie I, S. 210 sowie die Abhandlung: Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: Ausdifferenzierung des Rechts, S. 374 ff. 101 Vgl. Rechtssoziologie I, S. 218 ff., 227ff., 234 ff., 260 sowie 239 u. 242. 102 Rechtssoziologie I, S. 251 ff.
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sehr unbestimmter Komplexität solche von bestimmter Komplexität kontrollieren können?" 103 Es ist daher notwendig, mit dieser Tradition zu brechen und sie durch eine systemtheoretische Interpretation zu ersetzen104. Zu erwägen ist eine Neuformulierung des Gerechtigkeitsbegriffs im Sinne einer „adäquaten Komplexität des Rechtssystems". 105 Hervorzuheben ist, daß die systemtheoretische Auffassung des Rechts bedeutet, daß rechtliche Normen und Institutionen nur im Hinblick auf ihre Funktion im System (Systemerhaltung) gesehen werden. Weder eine kausale Erklärung noch ein inhaltliches Verstehen kommen in den Blick 106 . 4. Andererseits haben die Denkrichtungen der Moderne im Laufe der letzten Jahrzehnte aber auch Kritik erfahren. Es sind ζ. T. unter Rückgriff auf ältere Lehren Rechtstheorien entwickelt worden, in deren Mittelpunkt der Versuch steht, den Inhalt der Gerechtigkeit näher zu bestimmen. a) Gegen die Tendenz des Neopositivismus, Philosophie allein auf den Methoden aufzubauen, welche die Naturwissenschaften, die Mathematik und die Logik benutzen, und sie als wissenschaftliche Philosophie auf eine Uberprüfung und exaktere Gestaltung dieser Methoden zu beschränken, hat sich Hans Jonas in seinen ethischen Schriften gewandt. Mit dieser Betrachtungsweise verliere man das Höchste in der Entwicklung des Lebens, den menschlichen Geist, aus dem Blickfeld; sie impliziere eine Beschränkung auf die Welt der Materie. Dies sei als Maxime für die naturwissenschaftliche Forschung berechtigt, nicht aber für eine philosophische Interpretation: „Das Sein oder die Natur ist eins und legt Zeugnis von sich ab in dem, was es aus sich hervorgehen läßt. Was das Sein ist, muß daher seinem Zeugnis entnommen werden, und natürlich dem, das am meisten s a g t . . . , dem entwickeltsten und nicht dem ärmsten — also dem uns zugänglichen Höchsten". 107 Jonas hat aus einer Gesamtbetrachtung des Lebens und seiner Entwicklung dann seine Ethik der Verantwortung entworfen108.
Rechtssoziologie I, S.216. Vgl. Rechtssoziologie I, S. 186 sowie die genannte Abhandlung über Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft. 105 Vgl. die erwähnte Abhandlung, S. 388. 106 So Luhmann ausdrücklich in: Funktionale Methode und Systemtheorie, Soziale Welt 15 (1964), S.2. Vgl. auch „Funktionale Methode und juristische Entscheidung", in: Archiv des öffentlichen Rechts, 94 (1969), S. 1—31, insbes. S. 7. 103
104
107 108
Das Prinzip Verantwortung (1979), S.136. Vgl. außer dem genannten Werk noch: Organismus und Freiheit (1973),
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b) Für das Problem der möglichen oder nicht möglichen rationalen Begründung von Werturteilen ist die Wiederentdeckung der Topik, die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, von großer Bedeutung. Die „Topik" ist eine Schrift des Aristoteles, in der dargestellt wird, wie man mit Argumenten, welche ein denkender Diskussionspartner akzeptieren muß, wahrscheinliche Sätze aufstellen kann. In der Topik des Aristoteles sollen diese dann zur Grundlage eines philosophischen Streitgespräches gemacht werden109. Die Topik hatte in der antiken Logik und Rhetorik, und ebenso in der gelehrten Jurisprudenz Europas seit dem 12. Jahrhundert eine große Rolle gespielt, war aber mit dem allgemeinen Zurückgehen des Interesses an logischen Studien im 19. Jahrhundert aus dem Blickfeld geraten. In der philosophischen Diskussion der Nachkriegszeit hat vor allem der belgische Philosoph Perelman die Bedeutung der Topik für unser Verständnis von Rationalität und für die rationale Begründung ethischer Urteile herausgearbeitet110. Perelman weist darauf hin, daß dadurch, daß man die Topik und Rhetorik aus dem Blick verloren habe, sich ein falsches Bild von Rationalität überhaupt gebildet habe. Es sei die Vorstellung entstanden, daß als rational begründet nur Sätze anzusehen seien, die sich deduktiv aus evidenten (oder axiomatisch gesetzten) Prinzipien ableiten ließen. In Wahrheit gäbe es aber einen weiten Bereich des Denkens und des Handelns, in dem wir durch das Prüfen und Abwägen einzelner rationaler Argumente bestimmt würden. Diese Gebiete dürften nicht aus dem Bereich des Rationalen verwiesen werden. Topik und Rhetorik gehörten vielmehr dem Gebiet des Rationalen an. Es liegt auf der Hand, daß dieser Lehre gerade für den Bereich der Ethik und des Rechts besondere Bedeutung zukommt. Gerade hier tritt uns Rationalität häufig in der Form der Argumentation entgegen. Es ist kein Zufall, daß Perelman sie gerade auf der Grundlage von Analysen des insbesondere zur Kritik der positivistischen Philosophie, S. 19 ff., 22, 72, 81 ff., 116. 109 Vgl. Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen (1965), Kap. I; Somsen, Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik (1929), S. 156, 164; Flashar, Aristoteles, in: Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 3 (1983), S.238. 110 Vgl. Traité de l'Argumentation, 2 Bde., Paris 1958; Le Champs de l'Argumentation, Brüssel 1970; Justice et Raison (1965); Uber die Gerechtigkeit (1967). In Deutschland hat Viehweg auf die Topik insbesondere als Form des juristischen Denkens hingewiesen: Topik und Jurisprudenz, 3. Aufl. 1965. Ein hervorragendes Beispiel einer auf rationaler Argumentation aufgebauten Ethik bietet Patzig, Ethik ohne Metaphysik (1971).
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juristischen Denkens entwickelt hat. D e r Hinweis auf die T o p i k macht deutlich, daß es unzulässig ist, Ethik und Recht einfach als Bereiche anzusehen, in denen allein aufgrund von irrationalen — gefühlsmäßigen oder glaubensmäßigen — Uberzeugungen entschieden wird, d . h . als Gebiete, die der „Metaphysik" in dem pejorativen Sinne der Positivisten zuzurechnen sind. D i e Existenz der T o p i k als eines rationalen Verfahrens zeigt, daß eine rationale Ethik jedenfalls möglich ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang noch eine einzelne Lehre, die Perelmann formuliert hat. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Argumentationsweise und dem Partner, an den der Argumentierende sich wendet 111 . Daraus läßt sich nun der Gedanke einer Argumentation gewinnen, die sich an die Gesamtheit vernünftiger Menschen richtet (auditoire universel). D i e Annahme eines solchen auditoire universel ließe sich dann zu einem Kriterium für die Rationalität der Argumentation entwickeln. D i e Grundlage einer solchen Argumentation wäre dann, „was jeder klar denkende und sachlich urteilende Mensch als wahr annehmen kann". 1 1 2 U n t e r Benutzung dieser Methode hat Perelman eine Theorie der Prinzipien der Gerechtigkeit entwickelt. c) Eine Kritik des Utilitarismus Benthamscher Prägung findet sich bei dem amerikanischen Philosophen J o h n Rawls 113 . Gegen Bentham's utility-principle wird eingewandt, hier werde eine Interessenabwägung, wie sie ein einzelner Mensch bei individuellen Lebensentscheidungen vornehmen könne, auf das soziale Ganze übertragen. Dies sei aber unzulässig, weil diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, deren Interessen geopfert werden, dem vernünftigerweise nie zustimmen könnten 1 1 4 . Rawls wählt infolgedessen einen anderen Ansatz, der in vieler Hinsicht an Perelmans Lehre vom auditoire universel erinnert, obwohl er selbständig entwickelt und von Rawls — m. E . nicht zu Unrecht — als „kantisch" bezeichnet wird. E r greift auf den Gedanken des Sozialvertrages zurück, um die „Principles of Justice" zu finden, die geeignet sind, „social justice" in einer „well ordered society" zu garantieren. Rawls benutzt den Sozial-
111 Besonders ausgeführt in „Cadres sociaux de l'argumentation", in: Le Champs de l'argumentation. 112 So die Formulierung von Patzig, Ethik ohne Metaphysik, S.66. 113 A Theory of Justice (1972). 114 Vgl. S. 14, 22 ff.
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vertrag — wie viele Autoren des 18. Jahrhunderts — als Kriterium, an dem sich rational ermitteln läßt, was gerecht ist"5. Er fragt, auf welche Regeln sich rationale Menschen für die Regelung ihres Zusammenlebens einigen würden (in „rational choice") 1 ". Dabei wird aber eine bestimmte Situation angenommen („original situation"), insbesondere, daß die Abstimmenden bestimmte Dinge nicht wissen, ζ. B. ihre eigene Situation in der künftigen Gesellschaft117. Unter diesen Bedingungen würden nach Rawls autonome Menschen zwei Prinzipien annehmen: (1) "equality in the assignment of basic rights and duties". (2) "social and economic inequalities, for example, inequalities of wealth and authority, are just only, if they result in compensating benefits for everyone, and in particular for the least advantaged members of society."118 Das zweite Prinzip ist das der „fraternité". 1 " Das erste Prinzip geht dabei dem dem zweiten vor120. "Justice" nach diesen Prinzipien nennt Rawls "justice as fairness".
S. 11/12. S. 17. 117 Z . B . ob sie reich, Mitglied der Oberschicht etc. werden, sog. "veil of ignorance", S. 117 ff. 118 Vgl. S. 14/15; genauer S.302. 1,9 S. 105. 120 S. 60. 115
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KAPITEL II G R U N D L A G E N DES E I G E N E N ANSATZES I. Versucht man angesichts der Fülle rechtsphilosophischer Ansätze einen eigenen Standpunkt zu gewinnen, so stellt sich zunächst die Frage, auf welchen Grundlagen dies geschehen kann. Unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Recht beruhen vor allem auf der Ethnographie, der Rechtsgeschichte, die ein Teil der Kulturgeschichte ist, und auf der Rechtswissenschaft, deren Gegenstand die geltenden Rechtsordnungen der gegenwärtigen Staaten bilden. Diese Wissenschaften gehören zu dem Bereich der Geisteswissenschaften oder Kulturwissenschaften. Der Erkenntniswert gerade dieses Wissenschaftszweiges muß aber, folgt man den Thesen der radikalen Richtung des philosophischen Positivismus, zweifelhaft erscheinen. Unsere Überlegungen müssen daher mit einer Erörterung des Erkenntniswertes dieses Zweiges der Wissenschaft beginnen 1-8 . 1. Die Existenz der Geisteswissenschaft neben den Naturwissenschaften beruht auf einer Grundgegebenheit des menschlichen Daseins, nämlidi der Tatsache, daß wir uns auf der einen Seite Dingen, auf der anderen Seite Personen gegenüber sehen9. Für die Geisteswissen1 - 8 Vgl. dazu Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Ges. Schriften VII), Einleitung in die Geisteswissenschaften (Ges. Schriften I), Die geistige Welt (Ges. Schriften V); Bollnow, Das Verstehen (1949); Gadamer, Wahrheit und Methode (1960). 9 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (Nachdruck 1961) führt dazu S. 39 aus: „Wenn wir die Wahrnehmung in ihrem einfachen phänomenalen Bestand zu beschreiben suchen, so zeigt sie uns gewissermaßen ein doppeltes Antlitz. Sie enthält zwei Momente, die in ihr innig verschmolzen sind, deren keines sich aber auf das andere reduzieren läßt. Sie bleiben in ihrer Bedeutung voneinander geschieden, wenngleich es nicht gelingt, sie faktisch zu sondern. Es gibt keine Wahrnehmung, die nicht einen bestimmten „Gegenstand" meint und auf ihn gerichtet ist. Aber dieser notwendige objektive Bezug stellt sich uns in einer zweifachen Richtung dar, die wir, kurz und schematisch, als die Richtung auf das „Es" und als die Richtung auf das „Du" bezeichnen können. Immer besteht in der Wahrnehmung eine Auseinanderhaltung des I