Grundzüge der Rechtsphilosophie 9783111344935, 9783110066005


204 83 30MB

German Pages 380 [384] Year 1976

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
VORWORT
INHALT
ABKÜRZUNGEN
Einleitung
Kapitel I: Hauptlehren der Rechtsphilosophie
Kapitel II: Grundlagen der eigenen Stellungnahme
Kapitel III: Das Recht als Kulturerscheinung
Kapitel IV: Die Grundlagen des Rechts
Kapitel V: Das positive Recht und seine Geltung
Kapitel VI: Das juristische Denken
SCHLUSSBEMERKUNG
NAMENVERZEICHNIS
SACHVERZEICHNIS
Recommend Papers

Grundzüge der Rechtsphilosophie
 9783111344935, 9783110066005

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

de Gruyter Lehrbuch

Grundzüge der Rechtsphilosophie Von

Helmut Coing

Dritte Auflage

w DE

G

1976 Walter de Gruyter • Berlin • New York

Dr. iur. Dr. h. c. mult. Helmut Coing o. Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main; Direktor des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Coing, Helmut Grundzüge der Rechtsphilosophie. — 3. Aufl. — Berlin, New Y o r k : de Gruyter, 1976. (De-Gruyter-Lehrbudi) ISBN 3-11-006600-9

© Copyright 1976 by Walter de Gruyter & C o . , vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg R e i m e r , K a r l J . Trübner, Veit & C o m p . , Ber-» in 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. K e i n Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftlidie Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Saladrudt, Steinkopf & Sohn, 1000 Berlin 36. Bindearbeiten: Berliner Buchbinderei Wübben & C o , 1000 Berlin 42

i

Meiner lieben Frau

VORWORT ZUR D R I T T E N AUFLAGE Bei der Vorbereitung dieser Auflage habe ich vor allem versucht, das zweite Kapitel deutlicher zu gestalten, in dem die allgemeinen Ausgangspunkte meiner Auffassungen näher entwickelt sind. Ich hoffe, durch die neue und schärfere Fassung dem Erfordernis der Redlichkeit gegenüber meinen Lesern Rechnung getragen zu haben, die es erforderlich macht, die eigene weltanschauliche Position klar zu umreißen. F r a n k f u r t am Main, den 15. April 1976 Helmut Coing

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE Die zweite Auflage dieses Buches ist in der Art der Darstellung weitgehend umgestaltet. Erfahrungen in der Vorlesung über Rechtsphilosophie haben mich veranlaßt, eine knappe Darstellung einiger Hauptlehren der Rechtsphilosophie aufzunehmen. Daraus ist das neue Kapitel I entstanden. Dabei habe ich midi bemüht herauszuarbeiten, auf welchen allgemein philosophischen Voraussetzungen diese Lehren beruhen. Daraus ergab sich in natürlicher Weise die Aufgabe zu zeigen, daß die Entscheidung f ü r die eine oder die andere Theorie von der Stellungnahme zu jenen grundsätzlichen Fragen abhängt, und die Gründe darzulegen, die den Autor veranlaßt haben, zu der von ihm entwickelten Ansicht zu kommen. Diesem Zweck dienen das neue Kapitel II und das (umgestaltete und jetzt das dritte Kapitel bildende) frühere Kapitel I. Aus den 50 begründeten Anschauungen entwickeln die weiteren Kapitel die Folgerungen. Dabei ist insbesondere das Kapitel VI, das die Grundlagen einer juristischen Methologie enthält, neu gestaltet worden. Ich hoffe, daß das Buch seinen Zweck, zum Nachdenken über die Probleme des Rechts anzuregen, in dieser neuen Form besser erfüllt. Bei der Ausarbeitung sind mir vor allem zwei Denkrichtungen wichtig gewesen, teils weil sie mich dazu gezwungen haben, die eigene Position neu zu durchdenken, teils weil sie mir neue Wege des Verständnisses eröffnet haben. Es sind einmal die Arbeiten von K. Popper VII

zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis; es sind zum anderen diejenigen der „neuen Topik oder Rhetorik", also vor allem die Werke von Ch. Perelman, Th. Viehweg und Toulmin, welche mir neue Wege gezeigt haben. — Es sei mir am Ende dieses Vorworts eine persönliche Bemerkung gestattet. Diese Neuauflage wäre voraussichtlich nie geschrieben worden, ohne die Ermutigungen mich der Rechtsphilosophie erneut zuzuwenden, die ich von meinen verehrten Freunden an der Universität in Mexico, den Herren Garcia Mäynez und Recasens Siches, sowie H e r r n M. Reale in Säo Paulo erfahren habe. Ihnen möchte ich auch an dieser Stelle den herzlichen Dank des Freundes aussprechen. Den Herren Assessoren Weide und Weinmann sowie H e r r n Referendar Ebner danke ich f ü r vielfältige Unterstützung bei der Ausarbeitung des Manuskripts. Frankfurt, den 4. 2. 1969

VIII

Helmut

Coing

I N H A L T Einleitung

1

Kapitel I : Hauptlehren der Rechtsphilosophie I. Antike 1. 2. 3. 4.

3

D i e Sophisten Piatons Lehre von der Gerechtigkeit der Idee Aristoteles' Phänomenologie des Gerechten D a s Naturrecht der Stoa

. . .

II. Christliche Rechtslehren 1. 2. 3. 4.

22

Grundsätzliches Thomas von Aquin Augustin Luthers Lehre von den zwei Reichen

22 24 25 26

I I I . Souveränität und Staatsraison

28

1. Allgemeines zur Renaissancephilosophie 2. Machiavelli 3. J e a n Bodin

28 29 30

IV. D a s Naturrecht der Aufklärung 1. 2. 3. 4.

Einleitung Die Theorie des aufgeklärten Absolutismus Die Theorie der Menschen- und Bürgerrechte K a n t : Philosophie der Freiheit

31 . . . . . . . .

V. Die Moderne: Die Entdeckung der Geschichtlichkeit 1. 2. 3. 4. 5.

Rechtsphilosophie und politische Bewegungen . . . . Wendung zur Geschichte Historisches Recht gegen Revolution: Burke . . . . Die historische Rechtsschule: Savigny Geschichte als Entfaltung der Vernunft: Hegel . . .

V I . D i e Moderne: schauung

Die ökonomisch-soziologische

1. Interessenjurisprudenz: Bentham

3 10 13 18

Rechtsan-

31 33 34 35 36 36 37 39 41 43 47 48

IX

Inhalt

2. Marx 3. Die Ideologielehre

50 54

V I I . Die Moderne: Das neue biologisch-psychologische Menschenbild

54

1. Die Rassenlehre 2. Die psychologischen Reduktionstheorien 3. Wirkungen auf die Rechtsanschauung

54 55 56

V I I I . Die Moderne: Positivismus und Formalismus

58

1. Der philosophische Positivismus 2. Anwendungen im Recht: Realismus 3. Anwendungen im Recht: Die formalen Rechtslehren a) Allgemeine Rechtslehre b) Reine Rechtslehre Kelsens c) Der Neukantianismus: Stammler 4. Der allgemeine juristische Positivismus 5. Der Relativismus

.

58 62 63 63 64 70 75 76

Kapitel I I : Grundlagen der eigenen Stellungnahme I. Rückblick: Ausgangspunkte der verschiedenen sungen. Die damit verknüpften Fragen

Auffas85

I I . Zur rationalen Methode in den Geisteswissenschaften . .

89

I I I . Zur Ethik und zur Frage ihrer Rationalität

102

I V . Zusammenfassung der eigenen Stellungnahme

120

Kapitel I I I : Das Recht als Kulturerscheinung I. Allgemeine Fragen 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Recht als universale, aber nicht einheitliche Erscheinung Allgemeine Entwicklungsgesetze? Rechtsübernahmen Verschiedene Bedeutung in den einzelnen Kulturen Typen des Rechts Erscheinungsformen des modernen Rechts

II. Ziele der Rechtsbildung und ihre Verwirklichung 1. 2. 3. 4. 5.

X

123

Grundthemen der rechtlichen Ordnung Ziele der Rechtsbildung: Friede Ziele der Rechtsbildung: Sicherheit Gerechtigkeit und Freiheit Verwirklichung des Rechts

. . .

123 124 126 127 128 130 133 133 134 137 141 147

Inhalt

III. Das Redit im Rahmen der Gesamtkultur 1. Redit und Wirtschaft 2. Recht, Religion und Sittlichkeit 3. Recht und intellektuelle Entwicklung 4. Das Recht und die Grundformen sozialer Beziehungen

150 150 155 160 162

IV. Zusammenfassung

169

Kapitel IV: Die Grundlagen des Rcchts I. N a t u r der Sache II. Sittliche Grundlagen 1. Gerechtigkeit 2. Freiheit 3. Treue 4. Recht als Wertsynthese III. Das Naturrecht 1. Recht als Wertverwirklichung 2. Naturrecht — Grundsätze der Gerechtigkeit . . . . 3. Das Problem überhistorischer Ordnungssätze . . . . 4. Unvollständigkeit der Gerechtigkeitssätze? 5. Empirische Momente in den Sätzen der Gerechtigkeit 6. Sätze der Gerechtigkeit und Geschichte 7. Naturrecht und positives Recht 8. Zusammenfassung IV. Grundsätze der Gerechtigkeit im einzelnen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Iustitia commutativa Iustitia distributiva Iustitia protectiva Verhältnis der Prinzipien Die Menschenrechte Grundsätze des Verfahrens Sätze der Gerechtigkeit als System?

V. Zur Ordnung des Staates 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Wesen des Staates Wert des Staates Idealstaat Rechtsstaat Zum Problem der Strafe Zum Problem der Wehrpflicht

173 184 184 188 193 194 194 194 195 196 199 200 202 202 205 207 207 209 211 214 215 219 222 222 222 225 231 236 238 243

XI

Inhalt

VI. Zur Ordnung der Wirtschaft

244

1. Redit und Wirtschaft 2. Das Problem der gerechten Wirtschaftsordnung 3. Lösungsgesichtspunkte

. . .

244 248 257

Kapitel V: Das positive Recht und seine Geltung I. Wesenszüge des positiven Rechts

. „

261

1. Definition 261 2. Recht als Abgrenzung von Lebenssphären und Regelung der Kooperation 264 3. Die rechtliche Regel 267 4. Die Bewertung als Grundlage der rechtlichen Regel . 269 5. Das Nebeneinander verschiedener Rechtsgemeinschaften 272 6. Autorität des positiven Redits; Zwangstheorie des Rechts 274 7. Positives Recht und soziale Macht 276 8. Grenzen der Bindung des Richters an das positiveRedit 278 II. Das Problem der Rechtsgeltung 1. Ausgangspunkte 2. Befehlstheorie 3. Anerkennungstheorie 4. Einwände 5. Stellungnahme: Positives Recht als ideales Sein

282 282 283 284 286 . . . 287

Kapitel VI : Das juristische Denken I. Grundsätzliches

291

II. Historische Typen juristischen Denkens 1. Römische Juristen 2. Scholastische Rechtswissenschaft 3. Deutsche Pandektistik 4. Ecole de l'exégèse in Frankreich 5. Zum Denken des anglo-amerikanisdien Juristen . . . III. Die Auslegung einer Kodifikation 1. Grundsätze der allgemeinen Hermeneutik 2. Grundsätze der juristischen Auslegung IV. Die Anwendung des Gesetzes 1. Verhältnis von Auslegung und Anwendung 2. Gesetzesanwendung als Subsumtion

XII

294 295 297 298 302 304 309 309 312

321 • • • • 321 322

Inhalt

3. Kritik dieser Auffassung 4. Richter und Gesetz

323 326

V. Rechtsfortbildung durch den Richter 1. 2. 3. 4. 5.

329

Historisches Dreifadie A u f g a b e des Richters Lückenproblem und juristische Logik Schließung der Lücke durch den Richter Zusammenfassung

329 330 330 334 336

V I . D i e Rechtswissenschaft 1. 2. 3. 4.

System der aporetischen Denkweise Zum juristischen System Methoden der Rechtswissenschaft Wissenschaftlicher Charakter der Rechtswissenschaft

338

.

338 340 344 345

Schlußbemerkung

347

Namensverzeichnis

351

Sachverzeichnis

357

XIII

ABKÜRZUNGEN aaO. AcP Art. BGH BGHZ BGHSt C CGS D Gött. Gel. Anz. JZ KG NJW

Q RE RG RGZ Rn. SJZ Sp. Suppl. SVF SZ (Germ.Abt.) SZ (Rom.Abt.) ZHR

Am angegebenen Ort Archiv für civilistische Praxis Artikel Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in ZivilSachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Codex Code Civil Suisse Digesten Göttingisdie Gelehrte Anzeigen Juristenzeitung Kammergericht Neue Juristische Wochenschrift Quaestio Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissensduft Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer Süddeutsche Juristenzeitung Spalte Supplement Stoicorum Veterum Fragmenta Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Reditsgeschichte (Germanistische Abteilung) Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Reditsgeschichte (Romanistische Abteilung) Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht XV

EINLEITUNG „Was ist Recht? Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologie verfallen, oder statt einer allgemeinen Auflösung auf das, was in irgendeinem Lande die Gesetze zu irgendeiner Zeit wollen, verweisen will, ebenso in Verlegenheit setzen, als die berufene A u f f o r d e r u n g : Was ist Wahrheit? den Logiker. Was Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. wap die Gesetze an einem gewissen O r t und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er noch wohl angeben: aber ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, w o r a n man überhaupt Recht sowohl als U n recht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen . . In diesen Sätzen stellt K a n t die Frageweise der Rechtsphilosophie derjenigen der Jurisprudenz gegenüber. Diese interessiert, was hic et nunc rechtens ist; jene f r a g t danach, was das Recht sei und was es sein solle. Die Frage, was Recht eigentlich sei, f ü h r t schnell zu einer Reihe von weiteren Problemen. Denn man kann die A n t w o r t in sehr verschiedenen Richtungen suchen. M a n kann etwa das Recht als Inbegriff von N o r m e n mit N o r m e n anderer Art, etwa denen der Sittlichkeit, vergleichen und nach dem unterscheidenden Merkmal fragen, das das Recht auszeichnet. Vielleicht ist es der Umstand, d a ß das Recht mit Z w a n g verbunden ist. M a n kann in die Praxis des Rechtslebens sehen und sich dann vielleicht fragen, ob das Recht gar nicht in N o r men, sondern im Verhalten einer bestimmten G r u p p e von Menschen innerhalb der Gesellschaft oder in Aussagen über ihr Verhalten besteht. „The prophecies of w h a t the courts will do in fact . . . are w h a t I mean by the l a w " hat ein berühmter amerikanischer Richter gesagt. M a n kann sich zur Geschichte wenden und sich fragen, ob das Recht nicht das — vielleicht notwendige — Ergebnis ihrer Entwicklung sei, einer Entwicklung, die sich nach bestimmten Gesetzen, in der Abfolge bestimmter Epochen, bestimmter Wirtschaftssysteme vollzieht. M a n kann versuchen, die Stellung des Rechts in der Gesamtheit der K u l t u r zu untersuchen, u n d sieht sich dann vor Fragen gestellt, wie 1 Kant, Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre (Inselausgabe von Weisdiedel Band 4), S. 336.

1 1 Coing» Rechtsphilosophie

Einleitung die, ob das Recht etwa als Ausdruck der Gestaltung der Produktionsverhältnisse, als deren „Überbau" verstanden werden kann. Man kann die Ziele untersuchen, die der Mensch mit den rechtlichen O r d nungen verfolgt; in diesem Zusammenhang werden Begriffe wie Freiheit und Gerechtigkeit auftauchen. „We hold these truths to be seifevident: that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. — That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed." 2 Mit solchen Sätzen werden wir zu der Frage geführt, was Recht sein solle. Was ist Gerechtigkeit? Läßt sich ihr Inhalt bestimmen, oder bleibt es auch f ü r die Gerechtigkeit bei der skeptischen Frage des Pilatus? In engem Zusammenhang mit den beiden Grundfragen stehen audi diejenigen nach der Eigenart der juristischen Methode in Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft. Was heißt eigentlich, ein Gesetz anwenden? Was bedeutet es, wenn wir von einem System des Rechts sprechen? Was ist die Eigenart juristischer Argumentation? Alle diese Fragen haben gemeinsam, daß sie für das Recht als allgemeines Kulturphänomen, nicht f ü r eine bestimmte Rechtsordnung gestellt werden. Folglich muß der Blick, wenn man eine Antwort sucht, über das eigene Rechtssystem hinausgehen. Und sie lassen sich audi nicht beantworten, ohne daß man Bezirke betritt, die außerhalb der Untersuchungen der Jurisprudenz als Fachwissenschaft liegen. Der deutsche Jurist findet in § 157 BGB die Anweisung, Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben es erfordern. Er tut es; aber er kümmert sich nicht um die Theorie der Werte. Der Richter legt das Gesetz nach einigen herkömmlichen Gesichtspunkten und Maximen aus; deren Grundlagen in einer Theorie der Hermeneutik kümmern ihn in der Regel nicht. Wir sprechen davon, d a ß bestimmte Änderungen in der Technik neue Regelungen „hervorgerufen" haben: aber wie ist der Vorgang der Rechtsschöpfung in Wahrheit abgelaufen? Solche Fragen gehen auf Probleme, die die positive Rechtswissenschaft sich nicht zu stellen braucht; ihr genügt, daß Gesetze da sind, daß Auslegungsregeln vorhanden sind. Sie bewegt sich — wie alle Fachdisziplinen — im Rahmen von Ausgangspositionen, die f ü r sie feststehen, die sie nicht zum Problem zu madien braucht. Demgegenüber führt die Rechtsphilosophie, indem sie gerade jene Ausgangspositionen zum Problem macht, notwendig in allgemeine 2

2

Declaration of Independence.

Einleitung Fragestellungen, mit denen sich die Philosophie beschäftigt und die Kant in die Sätze zusammengefaßt hat: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Die Rechtsphilosophie muß also, ohne auf die Erkenntnisse zu verzichten, welche die Rechtswissenschaft in ihrem Bereich erarbeitet hat, notwendig über deren Grenzen hinausgehen; sie verknüpft die besonderen Probleme, welche die Kulturerscheinung des Rechts bietet, mit den allgemeinen und grundsätzlichen Fragen der Philosophie. Auf die Fragen, die die Rechtsphilosophie stellt, sind im Laufe der Entwicklung unserer Kultur Antworten entwickelt worden. U n d genau, wie die Fragen, um die es sich handelt, in solche von allgemein philosophischer N a t u r einmünden, sind audi die Antworten auf der Grundlage der allgemein philosophischen Lehren ausgearbeitet worden, welche als Antwort auf jene allgemeinen Fragen entworfen waren. Dort, nicht in der eigentlidi rechtlichen Erfahrung, haben sie meistens ihre Basis. Die Rechtsphilosophie ist daher eng mit der Entwicklung der allgemeinen Philosophie verknüpft. Mit der Entwicklung solcher „Antworten" in Form von Theorien und Systemen hat sich Tradition — oder wir sollten lieber sagen: Traditionen — gebildet, genau wie in der allgemeinen Philosophie. Das Vorhandensein einer derartigen Tradition verändert aber stets den Charakter einer Disziplin und ihrer Probleme. Theorien und Systeme können gelehrt und tradiert werden; sie können dann zwischen den Forscher mit seiner Frage und das eigentliche Ausgangsproblem treten: der Forscher sieht das Problem von vornherein in der Weise, wie das System, das er „gelernt" hat, es angesehen hat; seine Theorie kann ihm seine Arbeit erleichtern, kann ihm aber auch den Weg zu ursprünglicher, unmittelbarer Fragestellung verstellen. D a n n treten Theorienkämpfe an Stelle ursprünglicher Problemerörterung. Der Enkel hat es o f t schwerer, an die eigentlichen Fragen heranzukommen; er sieht sich zunächst vor fertige Theorien gestellt. Diese Theorien bestimmen bereits die Sprache, in der er denkt, in deren Rahmen er sich mit den Problemen auseinandersetzt; er kann ihnen also nie gänzlich entrinnen; er muß sich mit ihnen auseinandersetzen. Für diese Auseinandersetzung muß er vor allem versuchen, sich immer gegenwärtig zu halten, welche Fragen eine bestimmte Lehre ursprünglich beantworten sollte — das Bewußtsein davon kann bei deren Tradierung über lange Zeiten oft verloren gehen — und auf welchen Grundanschauungen sie beruht. Bei dieser letzten Frage wird er sich einer Eigentümlichkeit des mensdilichen Denkens erinnern müssen, die immer wieder im Erkenntnisprozeß auftritt und uns in die Irre f ü h ren kann; es ist die Tendenz, neue Einsichten absolut zu setzen. 3

Einleitung Das 18. und das 19. Jahrhundert haben, um ein Beispiel zu geben, die Geschichtlichkeit der menschlichen Kultur entdeckt: und sogleich hat die historische Rechtsschule in der Geschichte (von der sie eine ganz bestimmte Vorstellung hat) den entscheidenden Faktor der Rechtsbildung gesehen. Das folgende Buch beginnt daher mit der Darstellung einiger wichtiger rechtsphilosophischer Theorien in ihren Grundzügen (Kap. I). Die beiden folgenden Kapitel versuchen, die Gesichtspunkte zu entwickeln, in denen der Verfasser die Gründe für seine Stellungnahme sieht. Auf dieser Grundlage werden sodann drei Grundfragen der Rechtsphilosophie behandelt: die Fragen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, nach dem Wesen des positiven Rechts und nach der Eigenart juristischen Denkens.

4

KAPITEL I HAUPTLEHREN DER

RECHTSPHILOSOPHIE

Die Rechtsphilosophie der G e g e n w a r t ist das Resultat einer langen Entwicklung. Wie alle Philosophie 1 , so ist auch die Rechtsphilosophie in einer Folge von Fragen und A n t w o r t e n geworden. I m Ergebnis liegt ein umschreibbarer Kreis von zusammenhängenden Problemen u n d Lösungsversuchen v o r ; durch sie w i r d das Feld der Rechtsphilosophie heute abgesteckt. In diesem Felde bewegt sie sich, u n d wer ihr A n liegen, ja ihre Sprache begreifen will, m u ß eine Vorstellung d a v o n haben, wie die wichtigsten Fragen und die d a r a u f gegebenen A n t worten aussehen. In den folgenden A u s f ü h r u n g e n w i r d der Versuch gemacht, einen Überblick über diesen Problemkreis zu geben. Es erschien zweckmäßig, ihn historisch anzulegen, d. h. zu zeigen, wie die rechtsphilosophischen Probleme geschichtlich nacheinander hervorgetreten sind: Es leuchtet ein, d a ß es kein Z u f a l l ist, in welchem Z e i t p u n k t eine bestimmte Frage h e r v o r t r i t t ; die gegebene Situation bestimmt die Frage wie die A n t w o r t , u n d ein H i n w e i s auf sie ist f ü r die zu suchende eigene Stellungnahme v o n Wichtigkeit. Andererseits w ä r e es ein M i ß v e r ständnis, das Folgende als eine Geschichte der Rechtsphilosophie anzusehen 1 3 : das k a n n es nad> U m f a n g und Anlage nicht sein; es ist nur eine geschichtliche H i n l e i t u n g zu den Problemen. I. 1. D i e Rechtsphilosophie ist in unserer K u l t u r im antiken Griechenland entstanden. V o n den Griechen ist zuerst die Frage nach dem Wesen des Rechts gestellt w o r d e n ; die Griechen haben A n t w o r ten gegeben, die noch die heutige Diskussion mitbestimmen. D a s Recht w u r d e in Griechenland z u m Problem, als im 5. J a h r h u n dert v. C h r . die ursprünglich auch d o r t herrschende, gemeinarchaische Auffassung in Frage gezogen wurde, wonach das Recht bindende, gute alte Überlieferung ist, die, dem einzelnen Staatswesen v o n G ö t t e r n u n d H e r o e n gegeben u n d v o n ihnen geschützt, hoch über der I II

Dazu Collingwood, An Autobiography (Deutsche Ausgabe 1955) Kap. V. Zur Geschichte der Rechtsphilosophie bis zum 17. Jahrhundert vgl. M. Villey, La formation de la pensée juridique moderne (1960/1966). 5

Kapitel I

Willkür menschlichen Willens und Planens steht. Dieses „In-FrageStellen" des Rechtes hängt mit mancherlei Faktoren zusammen: mit der größeren Kenntnis von der nichtgriechischen „barbarischen" Umwelt und von deren andersartigen Gesetzen und Bräuchen; mit der politischen Krise der Adelsherrschaft, dem Heraufkommen von Tyrannis und Demokratie in den griechischen Städten und den damit verbundenen Rechtsumwälzungen; aber bewußt gestellt worden ist die Frage von den Sophisten. Die Sophisten traten als Lehrer des lebensnotwendigen Wissens auf; ihr Ziel war der Bürger von umfassendem Wissen. Sie lehrten insbesondere auch die Redekunst, die Rhetorik 2 . Sie entwickelten keine einheitliche philosophische Lehre. Aber viele Sophisten verbanden mit der Übermittlung des von ihnen gebotenen Wissens die Kritik an der Uberlieferung, an den Anschauungen, in denen das griechische Volk bis dahin gelebt hatte. Insofern haben sie manche Züge mit der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts gemeinsam 3 . Schon die Beschäftigung mit der Rhetorik mußte die Sophisten zu der Erkenntnis führen, die Protagoras (etwa 485—415) ausgesprochen hat, daß sich zu jeder Frage zwei Standpunkte entwickeln lassen und daß es mit rhetorischen Mitteln möglich ist, die schwächere Sache zur stärkeren zu machen 4 . Aber ihre Kritik ging weiter. Der gleiche Sophist Protagoras bezweifelte die Existenz der Götter — er könne nicht sagen, ob sie existierten oder nicht existierten 5 , — und stellte den berühmten Satz auf, der (einzelne) Mensch sei das Maß aller Dinge 6 . 5

vgl. Kroll,

Rhetorik, R E Suppl. V I I (1940), Sp. 1043 ff.

3

D i e Schriften der Sophisten sind uns nur in Fragmenten erhalten; z . T . sind uns ihre Ansichten aus den Schriften Späterer, z. B. des Piaton, bekannt. Wichtigste Ausgabe Diels-Kranz, D i e Fragmente der Vorsokratiker Bd. II (6. A u f l . 1952) N r . 79 ff. (S. 252 ff.); A u s w a h l in Übersetzung bei Capelle, D i e Vorsokratiker (3. A u f l . 1940), S. 317 ff.; geschichtliche Darstellung (auch im übrigen für die antike Rechtsphilosophie zu vergleichen) bei ÜberwegPraechter, D i e Philosophie des Altertums (12. A u f l . 1926), S. 112 ff.; E. Wolf, Griechisches Reditsdenken II (1952), S. 9 ff.; Verdroß-Droßberg, Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie (2. A u f l . 1948), S. 40 ff. 4

vgl. zu dieser Ansicht des Protagoras Aristoteles,

5

vgl. Diels-Kranz

Rhetorik 1402 a.

II N r . 80 (S. 265) Fragm. 4.

• Uberliefert bei Piaton Theaetet 1 5 1 e / 1 5 2 a und 1 6 6 d . Zur Interpretation des Satzes vgl. E. Wolf aaO., S. 21 ff.; nach der Oberlieferung bei Sextus Empiricus adv. math. V I I 60 (Text auch bei Diels-Kranz II N r . 80, S. 262/ 263, Fragm. 1) und Piaton aaO. möchte ich an der allgemeinen Bedeutung „aller Dinge" festhalten. 6

Hauptlehren der Rechtsphilosophie In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage gestellt, was gerecht sei und was es mit dem Rechte auf sich habe. Die Antworten lauten bei den einzelnen Sophisten verschieden. Häufig wird gelehrt, so z. B . von den Sophisten Hippias (geb. nicht vor 4 6 0 ) und Antiphon (5. Jahrhundert) 7 , gerecht sein bedeute das gesetzte Recht ( t a vöjxijjia) nidit übertreten. Aber dieses gesetzte Recht hat nichts wesenhaft Gutes oder Bleibendes an sich; es beruht auf (mehr oder weniger willkürlicher) Satzung oder Übereinkunft; die Gesetze werden geändert; es gibt demnach wechselnde Anschauungen über das, was gerecht ist 8 . Die Gesetze sind also keine heilige Satzung, sondern dienen bestimmten Zwecken und Interessen: etwa dem Nutzen der Mächtigen 3 , oder auch dem Schutze der Masse der Schwachen 10 . Andererseits kennen manche Sophisten auch den Begriff der ungeschriebenen Gesetze, der äypacpot v6]J0i, die unabhängig von allem positiven Recht gelten 1 1 . Aus dieser neuen „realistischen" Einschätzung des Rechts werden z. T . zynische Folgerungen gezogen: Antiphon 1 2 lehrt, nur wo man Zeugen habe, müsse man das Recht halten, denn die unentdeckte T a t bliebe straflos. Kritias (einer der sogen. 30 Tyrannen des Jahres 4 0 4 in Athen, gest. 4 0 3 ) meinte, deshalb habe man den Götterglauben erfunden, damit auch der Unbeobachtete sich unter Aufsicht wisse 13 . Bei ihrer Diskussion über das Recht bedienen sich die Sophisten einer Antithese, die im griechischen Denken des 5. J h . auch sonst, etwa in der Sprach- und Kulturtheorie, verwendet wurde 1 4 , die aber im rechtsphilosophischen Denken besonders bedeutsam werden sollte: der Gegenüberstellung von „Satzung" oder „Konvention" (v6p.oc;, 7 Ähnlich äußert sich Protagoras bei Piaton Thcaetet 166 d; zu Hippias vgl. E. Wolf II, S. 76 ff.; zu Antiphon vgl. Stenzel RE Suppl. IV (1924), Sp. 33-43; E. Wolf II, S. 87 ff. 8 vgl. Protagoras bei Piaton Theaetet 172b; Hippias bei Xenophon Memorabilien IV 4, 14. • So Thrasymachos (lebt 431 in Athen — zu ihm E. Wolf II, S. 103 ff.) bei Piaton Politeia 338 C : xó 8(y.acov oüx SX Xo TI 9¡ T 6 T O 8 xpeítw.oj aujicpépov 10

So Kallikles

bei Piaton, Gorgias 483 b/c.

So z.B. Hippias, freilich in einem Dialog mit Sókrates: Xenophon Memorabilien, IV 4, 19. 12 In seiner Schrift üepl AXrfiilv.^ (Über die Wahrheit), von der uns Fragmente auf Papyrus erhalten sind; Text bei Diels-Kranz II Nr. 87, S. 346 ff. (Fragm. 44 A). 11

" vgl. Diels-Kranz 14

vgl. Heinimann,

II Nr. 88, S. 386/387 (Fragm. 25). Nomos und Physis (1945).

7

Kapitel I

ftecjis) und „Natur" ( die im Nachdenken über den Begriff wieder 25 Zur historischen Einordnung der Topik vgl. jetzt Solmsen, D i e Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik (1929); Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen (1965); ]. Düring, Aristoteles, Darstellung und Interpretation seines Denkens (1966), S. 69. 20

E t w a Menschen — Freie — Sklaven.

27

Zum Einfluß dieser Methode auf die spätere römisdie Rechtswissenschaft vgl. Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (1961), S. 73 ff. 28

Politeia V I I 5 1 4 — 5 1 7 .

11

Kapitel I

entfaltet und neu erfaßt wird 2 9 . Insofern kann Piaton audi lehren, daß nur, wer selbst gerecht ist, das Gerechte erkennen kann 3 0 . Im Rahmen dieser Anschauung hat Piaton seine Ansicht vom Gerechten entwickelt; sie ist zugleich die Lehre vom wahren Staat. Denn am Staat, meint Piaton, als dem größeren Wesen können wir besser sehen, was das Gerechte ist, als am Einzelmenschen. Der Inhalt der Gerechtigkeit wird definiert als „jedem das ihm Zukommende geben" 3 1 . Was das bedeutet, schildert Piaton in seinem Buch über den Staat, dem ersten geschlossenen Entwurf eines 'Idealstaates. Piaton geht von der Einsicht aus, daß die Menschen nach Anlagen und Fähigkeiten verschieden sind. Gerechtigkeit herrscht daher, wenn im Staat jeder die Tätigkeit ausübt, die Stellung einnimmt, die ihm nach seinen Fähigkeiten zukommt. Die Bürgerschaft seines Idealstaates wird daher in drei Gruppen gegliedert: Den Handwerker- und Bauernstand, den Wächter- oder Kriegerstand und den Herrscherstand. N u r im Stande der Handwerker und Bauern, der „Lohngeber und Helfer", gibt es Privateigentum, ja überhaupt ein privates D a sein. Die beiden anderen Gruppen gehören ganz dem Staat; es gibt für sie kein Privateigentum, ja nicht einmal Familien; die Frauen sind gemeinsam. Die Kinder werden gleich nach der Geburt dem Staat übergeben. Die Erziehung ist sorgfältig geregelt: Aus dem Wächterstand, als einer Elite, werden die Besten, die, welche fähig sind, die Ideen zu schauen, in den Herrscherstand aufgenommen, in die Reihe der Philosophen, die Könige sind. Denn so groß, so unmittelbar ist der Glaube an die Macht des Allgemeinen, der Ideen und ihrer Anschauung, daß Piaton im Wissen um sie, nicht im Wissen um tatsächliche politische und ökonomische Umstände, nicht in der Begabung zur Macht und im Wissen um ihre Gesetze, nicht in irgendeiner Art von Staatsraison oder politischer Wissenschaft das Rüstzeug des Herrschers sieht. Die Lehre von der Politik wird für ihn notwendig zur Lehre vom Idealstaat. Dem Aufbau des Staates entspricht der wohlgeordnete 32 Zustand des Menschen, in dem Wille und T a t k r a f t ({k>|iOEc8£s) über die sinn29

Die 'Avii|j.\>Y]oi£ -Lehre ist namentlich entwickelt in dem platonischen

Dialog Phaidon. 30

Epistula V I I 344 a, 341 c—e.

zd Kpoo?jxov ¿xfitOTip dra>8c84vat, Politeia I, 332 c in Fortentwicklung der Definition des Simonides: jedem des Geschuldete (nämlidi vertraglich Geschuldete: tA äcpeiX6|j.eva) geben. SI

32

12

vgl. den Ausdruck xoafieTv in Politeia IV 443 d.

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

liehen Triebe (Irci&unifjTixöv), die das Gute erkennende Vernunft (Xoytatixöv) aber über den Willen herrscht33. Die Hierarchie des Staates hat also ein anthropologisches Vorbild. Piatons Staat ist die konsequenteste Durchführung des Gerechtigkeitsgedankens, in dem Sinne, daß jeder nach Anlage und Leistung seine Stellung in der sozialen Gemeinschaft erhält, und insofern in der Tat eine Explizierung seines Inhalts. Aber es fehlt gänzlich ein Element, das uns von der Gerechtigkeit untrennbar erscheint: die Freiheit hat in seinem Staat keinen Raum 34 . In seinem „Staat" hat Piaton die erste geschlossene Philosophie des Rechts geschaffen, eine Lehre, an der sich die Rechtsphilosophie immer wieder, bis in unsere Tage, orientiert hat 35 , weil sie eine mögliche Auffassung der Gerechtigkeit bis zu Ende gedacht hat. Die Definition des Gerechten: „Jedem das Seine" bildet bis heute den Ausgangspunkt jeden Nachdenkens über das Wesen der Gerechtigkeit. Die Staatslehre bleibt eine der großen Möglichkeiten, Staat und Gesellschaft zu denken: eine Möglichkeit, mit der sich jeder wieder auseinandersetzen muß, der über den Staat nachdenkt. Das erste System der Rechtsphilosophie ist zugleich eines der größten, das gedacht worden ist. Darüber hinaus bildet die Zuordnung der Vernunft zu den Ideen, der Gedanke, daß Vernunft heißt, vom Guten zu wissen, an das Gute sich erinnern lassen zu können, und die ihr zugehörige philosophische Anthropologie die Grundlage aller klassischen ethischen Lehren unserer Philosophie. Das großartige Bild von der Rechtsidee als der endgültigen und ewigen Gestalt der wahren Gerechtigkeit, die der Mensch in dieser Welt weder zur Gänze erkennt noch jemals verwirklicht und an der doch all' sein rechtsschöpferisches Tun ausgerichtet ist, hat die Menschen nie losgelassen; noch im blassesten Festredenton von der verpflichtenden „Rechtsidee" klingt es nach36. 3. Mit Aristoteles (387—322) setzt eine neue Betrachtungsweise auch der Phänomene des Rechts- und Staatslebens ein. Werner Jaeger 33

vgl. Politeia IV 435 b, 441 c.

Eingehende Kritik der platonischen Gedanken unter diesem Aspekt bei Popper, Der Zauber Piatons (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I 1957). 34

3 5 Es liegt außerhalb des Zweckes dieser Skizze, die Entwicklung dieser Gedanken im platonischen Denken selbst etwa zu den „Gesetzen" zu verfolgen. 3 S Stellungnahme zur Staatslehre Piatons in Kapitel IV Abschnitt V (insbes. unter Ziffer 3).

13

Kapitel I

verdanken wir die Einsicht, daß und wie sich Aristoteles allmählich von den Lehren der platonischen Akademie, in der er 20 Jahre gelebt hat, gelöst hat 37 . Die Kritik des Aristoteles galt vor allem der Ideenlehre 38 . An die Stelle des Gedankens von dem Reiche der ewigen, von der Wirklichkeit abgeschiedenen Ideen, von denen die Wirklichkeit nur ein unvollkommenes Abbild sei, trat bei ihm der Gedanke, daß in der Wirklichkeit selbst, in der Materie, in ihren zahllosen Formen Formgedanken wirksam seien; Materie und Form oder Struktur (UAYJ und elSoj) durchdringen sich innerlich; wie das im pflanzlichen und tierischen Leben deutlich hervortritt, entwickelt sich das einzelne Wesen auf eine ihm vorgeordnete Gestalt (eiSoc) hin 39 . Alles ist also auf eine Gestalt hin geordnet. Damit erhielt die Wirklichkeit und das Wissen von ihr, die empirische Wissenschaft eine andere, neue Dignität. Auf dem Gebiete der biologischen Wissenschaften haben Aristoteles und seine Schule, der Peripatos, eine breite Forschungstätigkeit entfaltet. Die gleiche Fragestellung leitet Aristoteles auch im Bereich seiner ethischen wie seiner rechts- und staatstheoretischen Untersuchungen40. In der Ethik geht Aristoteles nicht von der einen Idee des Guten aus41, sondern fragt nach dem höchsten Zweck, der für den Menschen als Vernunftswesen gilt. Er findet ihn in einer Tätigkeit der Seele, die der Tüchtigkeit entspricht (lyipyeta (pux*)« apix^v) 42 . Sie ist wertvoll um ihrer selbst willen, nicht als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke. Was nun aber Tüchtigkeit im einzelnen ist, das entwickelt Aristoteles im Blickpunkt auf den griechischen Staat seiner Zeit, die Polis 43 , und die Anschauungen seiner Zeit. So kommt 57

vgl. sein Buch: Aristoteles (1923, Neudruck 1955).

vgl. Metaphysik M 1078—1080. — Zur modernen Auffassung vgl. die Darstellung in / . Stemel's Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles (2. Aufl. 1931). 39 vgl. Ross, Aristoteles (University-Paperbadc Edition), S. 78 ff. 38

40 Sie sind uns vor allem in drei seiner sogen. „Lehrschriften" erhalten, die als Ausarbeitungen für Vorlesungen angesehen werden, dabei aber erst lange nach dem Tod des Aristoteles, im 1. vordiristlidien Jahrhundert, herausgegeben sind, und Teilstücke aus verschiedenen Lebensepodien enthalten: den beiden Schriften über Ethik, der älteren sogen. Eudemischen und der späteren Nikomadiisdien, und der Politik. 41

vgl. die Kritik dieses platonischen Ansatzes, Nikomadiische Ethik I. 6.

42

Nikomachisdie Ethik I. 7.15; I. 8.13.

Dazu vgl. vor allem ]. Ritter, Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 46. Band 43

14

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

er, statt die Anschauung der einen Idee des Guten wiederzugeben, zu einer eher deskriptiven Darstellung derjenigen Verhaltensweisen, die in seiner Zeit als ethisch ausgezeichnet galten; er gibt, mit anderen Worten, eine Beschreibung der ethischen Werte oder Tugenden (apexai)» wie seine Zeit sie sah. Aristoteles unterscheidet die theoretische (erkennende) und die praktische (das menschliche Handeln bestimmende) Vernunft 4 4 . Zu dieser gehört das Wissen um die Tugenden. In der Darstellung der praktischen Tugenden, wie Tapferkeit (ävSpeia), Selbstbeherrschung (aw^poaijvi'j), Großgesinntheit findet sich nun auch eine klassische Beschreibung der Gerechtigkeit4o. Die Gerechtigkeit ist nach Aristoteles eine soziale Tugend; sie bezieht sich auf unsere Stellung zu unseren Mitmenschen. Ebenso kann man aber auch den Zustand eines Gemeinwesens als gerecht oder ungerecht bezeichnen; dabei wird sie im Hauswesen anders sein als im Staate. Charakteristisch für den Gerechten ist, daß er nicht mehr haben will, als ihm zukommt: das Mehr-haben-wollen, die rcXsovsijta, ist ihm fremd. Im Gemeinwesen zeigt sich die Gerechtigkeit in der Gleichheit; niemand hat ohne Grund mehr als ihm zukommt. Die Analyse der Ordnung des Gemeinwesens führt Aristoteles zu einer grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei Erscheinungsformen der Gerechtigkeit. Es gibt einmal die Gerechtigkeit in den Rechtsbeziehungen der einzelnen untereinander. Sie besteht darin, daß wir Verträge, die wir eingegangen sind, erfüllen, in ihnen ein angemessenes Äquivalent zahlen, und f ü r Rechtsverletzungen, die wir begangen haben, Ersatz leisten: dies ist die Vertrags- oder Austauschgerechtigkeit, das Stocaiov Soopfrümxov, später lateinisch „iustitia commutativa" genannt. Ihr steht die zuteilende Gerechtigkeit (Sixaiov 5cavE|vr)Tix6v, später sogen, iustitia distributiva) gegenüber, welche Ehren, Reichtum oder andere Güter innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, z. B. des Staates verteilt. Das Prinzip der ersten Gerechtigkeitsform ist der Ausgleich — durch die adäquate Gegenleistung im Vertrag, den angemessenen Ersatz bei Rechtsverletzungen; diesen Ausgleich schafft der Richter im Zivilprozeß. Für die zweite dagegen ist der Maßstab in den einzelnen Staatwesen nach ihrer Verfassung verschieden. In der Aristokratie ist es Abstammung und Reichtum; (1960), S. 179 ff. — Zum Naturrecht bei Aristoteles vgl. Michelakis, Das Naturredit bei Aristoteles (ursprünglich 1959, jetzt abgedruckt bei Berneker, Zur griechischen Rechtsgeschichte 1968, S. 146 ff.). 44

Aristoteles,

45

Buch V der Nikomachisdien Ethik.

Nikomadiisdie Ethik I. 13.20.

15

Kapitel I

danach wurden Adel und Bürger verschieden behandelt. In der Demokratie aber ist es die Gleichheit der Bürger. Der Phänomenologie der Gerechtigkeit, die Aristoteles damit gibt, verdanken wir auch die erste eingehende Darstellung des Wesens der Billigkeit, der £7U£tXEta46. Sie ist eine Form der Gerechtigkeit und besteht darin, daß man den Einzelfall nach seiner Eigenart unter Abweichung vom — zu weiten — Wortlaut des Gesetzes entscheidet; sie ist eine notwendige Ergänzung des Gesetzesrechtes, weil die Gesetze allgemein gefaßt sind und immer Lücken aufweisen werden. In all diesen Lehren zeigt sich Aristoteles als genauer Beobachter des wirklichen Rechtslebens, dessen Erscheinung er theoretisch durchleuchtet. So ist er sich denn auch über die Verschiedenheit der positiven Rechtsordnungen klar. Trotzdem lehnt er es ab, im Recht nur positive Satzung zu sehen. Vielmehr greift er die Lehre vom natürlich Gerechten auf und unterscheidet: In jedem Recht gibt es Bestimmungen, welche cptiaet Sixaiov, von Natur her gerecht sind, und die der Gesetzgeber nicht anders hätte ordnen können, während andere nur auf positiver Bestimmung beruhen 47 . Das natürlich Gerechte lebt also in der positiven Ordnung. Es beruht auf vernünftiger Einsicht und findet sich gleichmäßig überall. Ähnlich wie die Ethik ist auch die Politik des Aristoteles auf empirischer Grundlage aufgebaut. Aristoteles hat eine Sammlung von 158 Verfassungen angelegt; erhalten ist uns davon auf einem Papyrus die Darstellung der Athenischen Verfassung. So gibt er statt einer Idealstaatslehre im Sinne Piatons eine empirisch begründete Staatslehre, ein System der politischen Wissenschaft, könnte man sagen. Eingehend erörtert er die ökonomischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Gesichtspunkte, die für das Bestehen eines Staatswesens wichtig sind; er untersucht die Bedingungen seines Gedeihens ebenso wie die auslösenden Momente eines Verfassungsumsturzes. Gleichmäßige Vermögensbildung, Vorherrschaft der Mittelklasse scheinen ihm für ein gutes Staatswesen wichtig. Die politischen Bewegungen seiner Zeit, des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, hatte er genau registriert. Scharf analysiert er die Eigenart, die Prinzipien der Staatsformen: Monarchie, Aristokratie und beschränkte Demokratie (noXiteia) sind die guten (¿pibä TCOAtteiai) Verfassungen-, Tyrannis (Diktatur), Oligarchie und unbeschränkte Demokratie ihre 46

Aristoteles,

Nikomachische Ethik V. 10; Rhetorik 1364 a/b.

E r führt als Beispiel die Verehrung des Heros Brasidas an; vgl. Nikomachische Ethik V. 7.1 ff. 47

16

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

Verfallsformen. In der Demokratie herrschen alle Freien, ohne Rücksicht auf ihr Vermögen. Ihre Prinzipien sind Gleichheit und Freiheit; Grundlage des Gleichheitsgedankens ist, daß, wenn die Menschen in manchen Eigenschaften gleich sind, sie es in allem sein müßten 48 . Der Gedanke führt daher zur Herrschaft der Majorität. Demokratische Freiheit heißt, zugleich herrschen und gehorchen und sein privates Leben gestalten, wie man will 49 . In der Oligarchie dagegen herrschen nicht die Eliten (wie in der Aristokratie), sondern die Reichen; ihr Prinzip ist, daß die Menschen, da sie nun einmal nicht gleich seien, es auch in politischer Hinsicht nicht sein dürften. Eine große Rolle spielen in den Soziallehren des Aristoteles anthropologische Gesichtspunkte. Biologe, der er als Forscher in erster Linie war, geht er von der grundlegenden Verschiedenheit der Menschen nach körperlichen und geistigen Anlagen aus. Es gibt Menschen, die von Natur dazu bestimmt sind, zu dienen und geleitet zu werden, wenngleich auch sie Vernunftwesen sind; sie sind „Sklaven von Natur", während andere zum Befehlen geboren sind50. Er sieht freilich, daß diese Sklaven von Natur mit denen, die nach dem positiven Recht seiner Zeit Sklaven waren, nicht notwendig identisch sind51, aber für die Lösung des damit gegebenen Problems gibt er keinen Hinweis. Ähnlich sieht er das Verhältnis von Mann und Frau anthropologisch bestimmt: dem Manne kommt nach seiner natürlichen Anlage die Herrschaft zu 52 . Endlich sind die Griechen — interessanterweise aufgrund klimatischer Bedingungen — sowohl den anderen Europäern wie den Asiaten überlegen53. Diese Anschauungen haben typische Bedeutung: wo immer in der Geschichte des Rechtsdenkens die rechtliche Fixierung ständischer oder kastenmäßiger Gliederung theoretisch gerechtfertigt werden soll, spielen solche anthropologische Erwägungen bei der gedanklichen Begründung eine Rolle. Wie die gesamte Philosophie des Aristoteles, so hat auch seine Theorie der Gerechtigkeit eine ungeheure Wirkung entfaltet. Diese beginnt schon im Altertum; aber der Höhepunkt liegt im Mittelalter. Vom 13. bis zum 17. Jahrhundert beherrscht der Aristotelismus die Universitäten Europas54, und darin kommt seiner Ethik keine un48

Politika 1318 a ; 1317 b.

49

Politika 1317 b.

50

Politika 1254 a.

31

Politika 1255 a.

5 2 Politika 1259 b. Aristoteles lehrt, daß der männliche Same Form und Wesen des Kindes bestimmt, während von der Frau nur die Materie (3Xr)) stamme. 53

Politika 1327 b.

17 2

Coing,

Rechtsphilosophie

Kapitel I

tergeordnete Rolle zu. Auf Aristoteles bauen die philosophischen Systeme der Hoch- und Spätscholastik auf, und damit auch der Thomismus, der für das katholische Denken im 19. Jahrhundert so entscheidende Bedeutung gewonnen hat. Aber auch unabhängig von dieser Tradition ist immer wieder gerade an Aristoteles Lehre von Gerechtigkeit und Billigkeit angeknüpft worden: so hat z . B . im 19. Jahrhundert der „Kathedersozialist" Schmoller seine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit auf Aristoteles Lehre von der distributiven Gerechtigkeit gestützt55. 4. Noch eine dritte Antwort, die die Antike auf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit des Rechts gegeben hat, hat welthistorische Bedeutung erlangt: die Philosophie der Stoiker. Ähnlich wie Aristoteles nimmt auch die stoische Philosophie eine enge Verbindung zwischen- Materie (öXrj) und geistigem Prinzip (Xöy°s) a n - Zwar ist die Welt Materie, aber überall verleiht der Logos dem Stoff sein „qualitativ bestimmtes Sosein" 56 . Er ist das gestaltende, die Materie bestimmende Prinzip. Er hat der Welt ihre harmonische Ordnung gegeben57. Man kann sich die Bedeutung dieser Lehre in ihrem Grundgedanken klarmachen, wenn man sich daran erinnert, daß nach der Auffassung der klassischen Vertreter der modernen Naturwissenschaften die Materie durch die Naturgesetze bestimmt wird 58 . Dieser naturbeherrschende, göttliche Logos erscheint aber nun zugleich in der Vernunft des Menschen. Seneca (0—65) sagt: „Quid est in homine proprium? ratio: haec recta et consummata felicitatem hominis implevit. ergo si omnis res, cum bonum suum perfecit, laudabilis est et ad finem naturae suae pervenit, homini autem suum bonum ratio est: si hanc perfecit, laudabilis est et finem naturae 5 4 Audi die protestantischen: dazu Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland (1921). 5 5 Dazu unten Kapitel IV Abschn. V I und eigene Stellungnahme in Kapitel IV Abschn. IV. 58 Pohlenz, Die Stoa I (1948), S. 67. — Die Werke der älteren stoischen Philosophen kennen wir nur in Fragmenten und aus Berichten anderer; sie sind gesammelt durch v. Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) I — I i i (1903—1905), IV (Index 1924). 5 7 Zur Entwicklung der Logos-Lehre, auch schon vor M. Heinze, Die Lehre vom Logos (1872, Neudruck 1961).

der

Stoa,

vgl.

5 8 Diese Auffassung hat z. B. Max Planck verfochten; vgl. seinen Vortrag: Die Einheit des physikalischen Weltbildes (Leipzig 1909).

18

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

suae tetigit. haec ratio perfecta virtus vocatur eademque honestum est 59 ." Der Mensch hat also an der Weltvernunft teil. Damit ergibt sich f ü r die Stoa eine großartige Einheit des natürlichen und des moralischen Gesetzes: in beiden erscheint die Vernunft: sie beherrscht die N a t u r ; sie leitet unser Handeln. Naturgesetz und Moralgesetz sind ebenso eins, wie das Gesetz der Geschichte. Darum kann die Stoa die Ethik in dem Satz zusammenfassen: man muß in Übereinstimmung mit der N a t u r (nämlich der vernunftgelenkten Natur) leben 60 . Dieses einheitliche Gesetz umschließt das Einzel- wie das Sozialleben; denn der Mensch ist auf Gemeinschaft angelegt 61 . Auch das Recht wird damit von der Stoa in ihre Logos-Lehre einbezogen; auch das Recht ist Ausdruck der einen, die Welt und den Menschen beherrschenden Vernunft. Damit konnte die stoische Philosophie einer Lehre eine neue Grundlage und umfassende Bedeutung geben, die sich seit der Sophistik in der griechischen Philosophie immer wieder geltend gemacht hatte, dabei aber sehr unterschiedlich interpretiert worden war: der Lehre von dem, was von N a t u r gerecht sei (cpüaet Sixatov). Was bedeutete in dieser Wortzusammenstellung das Wort ^ptioet, „von N a t u r " ? Wir haben gesehen: es sollte damit von Anfang an ein Gegensatz zu dem bezeichnet werden, was künstlich geschaffen, was im Bereich des Rechts, insbes. durch bloße Konvention oder willkürliche Setzung (frsaei)> festgelegt war 6 2 . Der Sinn dessen, was damit positiv bezeichnet werden sollte, ist aber, wie gezeigt, nicht immer gleich geblieben. Einzelne Sophisten hatten an die physische Natur, insbes. die leiblich-seelischen Eigenschaften des Menschen gedacht — wir haben oben eine entsprechende Stelle aus Antiphon kennengelernt. Aber schon innerhalb der Sophistik hatte sich der Begriffsinhalt verschoben. In einem sophistischen Traktat, der uns auszugsweise und anonym in einer Schrift des spätantiken Philosophen Jamblichos (etwa 250 bis 330) erhalten ist 63 , wird ausgeführt, daß die Menschen nicht ohne 5

® Seneca, Epistulae ad Lucilium, 76.10.

60

vgl. Chrysipp

SVF III Nr. 126 (Diogenes Laertius); III Nr. 12 (Galen).

61

Er ist ein y.otvo)viy.6v £fl>ov; vgl. dazu Pohlenz, aaO. I, S. 115. II S. 66, der auf Chrysipp (SVF III Nr. 686, 346) verweist. 62

vgl. oben, S. 7/8, 16.

65

Der sogen. Anonymus Jamblidii, erhalten in dessen „Protreptikos"; Text bei Diels-Kranz II Nr. 89, S. 400 ff.; Übersetzung bei Capelle, Vorsokratiker, S. 380 ff.; vgl. dazu E. Wolf II, S. 140.

19

Kapitel I

Gesetze leben können; daß sie daher durch die Natur dazu geführt werden, sich an Gesetze zu binden. Hier ist offenbar schon etwas anderes gemeint als die physische Natur. In der platonischen Philosophie bekommt dann der Ausdruck cpüai? (neben anderem) die Bedeutung: Wesen einer Sache64. Der junge Aristoteles spricht von den Normen, die der Staatsmann aus der Natur und der Wahrheit gewinne, und meint damit diejenigen, die sich aus dem Wesen der Idee des Gerechten ergeben65. Ähnlich wird in der eudemischen Ethik von der cptiais der Tugend und der Einsicht gesprochen66. „Es ist das Seiende und zugleich Seinsollende der platonischen Metaphysik, das er (der Ausdruck cpüai?) bezeichnet67." In den Lehrschriften des Aristoteles taucht die Lehre vom Naturrecht dann in einer Form auf, die sie wohl vor allem in der Rhetorik, in der Lehre von der Kunst der Gerichtsrede und damit in der praktischen Jurisprudenz erhalten hatte. Danach gibt es, wie dargelegt, zwei Arten von Recht: die eine besteht aus den Normen, die jeder Staat sich selber gibt (vöjjlos i'Sio?); die andere ist ungeschrieben, aber von universaler Geltung (VO|AO? aypa^o;, vö^os xoivos); es ist das iptiaei Sixatov, das Naturrecht 68 . Im Rahmen der stoischen Philosophie konnte nun der schillernde Ausdruck einen neuen Sinn gewinnen. Sie konnte alle bisherigen Bedeutungen vereinigen. Denn die Natur ist vernunftbeherrscht; also ist, was ihrem Gesetz entspricht, das Natürliche, auch vernünftig. Aber die gleiche Vernunft regiert die Natur des Menschen. Also ist, was der praktischen Vernunft und damit ethischen Einsichten entspricht, zugleich natürlich. Das Recht der Natur und das Recht der Vernunft fallen zusammen. Sie entsprechen dem Logos und damit dem Wesen des Gerechten, welches die ethische Einsicht ausspricht. Der Gegensatz von „Natur" und Vernunft ist für die Stoa aufgehoben. So kann Cicero (106—43) in Wiedergabe stoischer Gedanken sagen: „Lex est ratio summa insita in natura, quae iubet ea, quae facienda 64 vgl. die Feststellung v o n Popper, Der Zauber Piatons (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, 1957), S. I I I . 85 In seinem noch im Geist der platonischen Akademie geschriebenen „Protreptikos". D a z u Jaeger, Aristoteles (1923 Neudruck 1955), S. 91. 06

Eudemische Ethik 1216 a.

67

Jaeger,

68

aaO., S. 274.

vgl. Rhetorik 1368 b, 1373 b. Diese Gedanken sind in die allgemeine Rechtslehre der römischen Juristen eingegangen, vgl. Gaius, Institutiones (etwa 160 nach Chr.) 1.1 und Ulptan Digesten 1.1.6.1.

20

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

sunt, prohibetque contraria, eadem ratio cum est in hominis mente confirmata et confecta, lex est. itaque arbitrantur prudentiam esse legem, cuius ea vis sit, ut recte facere iubeat, vetet delinquere . . . 69 . A lege ducendum est iuris exordium; ea est enim naturae vis, ea mens ratioque prudentis, ea iuris atque iniuriae regula." 70 „Est quidem vera lex recta ratio naturae congruens, diffusa in omnes, constans, sempiterna, quae vocet ad officium iubendo, vetando a fraude deterreat; quae tarnen neque probos frustra iubet aut vetat nec improbos iubendo aut vetando movet, huic legi nec obrogari fas est neque derogari ex hac aliquid licet neque tota abrogari potest, nec vero aut per senatum aut per populum solvi hac lege possumus, neque est quaerendus explanator aut interpres eius alius, nec erit alia lex Romae, alia Athenis, alia nunc, alia posthac, sed et omnes gentes et omni tempore una lex et sempiterna et immutabilis continebit, unusque erit communis quasi magister et imperator omnium deus, ille legis huius inventor, disceptator, lator; cui qui non parebit, ipse se fugiet ac naturam hominis aspernatus hoc ipso luet maximas poenas, etiamsi cetera supplicia, quae putantur, effugerit." 71 Dieses natürliche Gesetz, das die menschliche Vernunft in der Weltvernunft, dem Logos, erkennt, ist unabhängig von der Satzung der einzelnen Staaten; es gilt, wie das Weltgesetz selbst, f ü r alle Völker und Zeiten. Es ist, wie Cicero 72 sagt, älter als jedes geschriebene Gesetz, älter als jede staatliche Gemeinschaft. Das positive Gesetz, das ihm widerspricht, ist kein wahres Gesetz; es ist nicht verbindlich 73 . Für die Stoa war die altgriechisdie Polis, von der Aristoteles noch ausgegangen war, überwunden; inzwischen hatte Alexander sein Weltreich geschaffen. Die Stoa glaubte an eine Gemeinschaft aller Menschen; ihr Ideal war der Weltstaat. Dem entsprach der Inhalt des Naturrechts, das sie vertrat. Von N a t u r sind alle Menschen frei und gleich; niemand ist, lehrte sie im Gegensatz zu Aristoteles, als •• D e legibus I 6.18/19.

70

De legibus I 6.19.

71

7S

D e legibus I 6.19.

De re publica III 22.33.

75 vgl. Pohlenz, Die Stoa (1948) I, S. 133. Dazu bemerkt Cicero, D e legibus I 15.42: „Iam vero illud stultissimum, existimare omnia iusta esse, quae sita sint in populorum institutis aut legibus, etiamne si quae leges sint tyrannorum? . . . est enim unum ius, quo devincta est hominum societas, et quod lex constituit una; quae lex est recta ratio imperandi atque prohibendi; quam qui ignorat, is est iniustus, sive est illa scripta uspiam sive nusquam.

21

Kapitel I

Sklave geboren 74 . Von N a t u r sind vielmehr alle Menschen verbunden; und sie sind auf brüderliche Gemeinschaft hin geschaffen. Diese Philosophie hat eine ungeheure Nachwirkung gehabt; in der Antike 7 5 , im Mittelalter 7 6 , aber vor allem in der Emanzipationsbewegung der Neuzeit. Wenn die französische Revolution ihren Weg unter den Worten „Liberté, Egalité, Fraternité" antrat, so haben diese Ideen ihre Wurzeln im Naturrecht der Stoa 77 . II. 1. Mit der christlichen Religion tritt eine neue Macht in das Geistesleben des Abendlandes. Seine weitere Geschichte ist dadurch bestimmt, daß diese neue Macht die antike Kultur zwar verändert, aber nicht vernichtet, sidi vielmehr mit ihr in einer über Jahrhunderte währenden Diskussion auseinandersetzt. Das gilt, wie für die Philosophie im allgemeinen, auch f ü r die Philosophie des Rechts. Das Christentum stellt seine religiöse Heilslehre in den Mittelpunkt. Es entnimmt aus der Schöpfungsgeschichte der Bibel eine bestimmte Auffassung vom Menschen; der Mensch ist von Gott als dessen Ebenbild geschaffen; er ist durch eigene Schuld gestürzt, mit Erbsünde beladen; er ist durch Christus mit Gott versöhnt und in den Stand der Gnade erhoben. Ebenso bringt das Christentum eine bestimmte Ansicht von der menschlichen Geschichte: Sie ist kein Kreislauf, keine ewige Wiederkehr des Gleichen, wie griechische Philosophen, insbesondere die Stoiker angenommen hatten; sie ist vielmehr eine einmalige dramatische Entwicklung mit eindeutigem Ziel; sie führt von der Schöpfung in der Abfolge der irdischen Reiche zum jüngsten Gerichte, zur Wiederkunft des Herrn 1 . Die Frage, was bedeuten Recht und Staat, was bedeuten die Lehren, welche die Lateiner und die Griechen dazu entwickelt haben, im Rahmen dieses christlichen Lebens- und Weltverständnisses, 74 vgl. Pohlenz, aaO. I, S. 135/136 unter Hinweis auf SVF III. Nr. 352 und Cicero, De legibus I 10.29—11.32 (nach Pohlenz II, S. 75 „sicher altstoisch"); vgl. auch Justinians Institutiones 1.2.2. 75

z. B. in der röm. Sklavenschutzgesetzgebung des 2. Jh. und in der „Humanität" vieler Einzelregelungen des späten Römischen Rechts. 76 Der Satz von der natürlichen Freiheit der Menschen steht auch im Corpus Juris Canonici (Decretum Gratiani, c. 7 D. 1 = Isidor von Sevilla, Etymologiae V 4): „Ius naturale est commune omnium nationum, eo quod ubique instinctu naturae, non constitutione aliqua habetur, ut viri et feminae coniunctio, . . . communis omnium possessio et omnium una libertas, . . . " . 77 1

Stellungnahme zum Naturrecht in Kapitel IV. Abschn. III und I.

Dazu Löwith, bes., S. 148 ff.

22

Weltgeschichte und Heilsgeschehen (3. Aufl. 1958), ins-

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

was bedeuten sie neben der alles überragenden Beziehung des Menschen zu Gott, wird für Mittelalter und Reformationszeit, für ein Jahrtausend, das entscheidende Problem der Rechtsphilosophie. Dabei ist von vornherein zu betonen, daß die Theologie die christliche Botschaft nie als rechtspolitisches Reformprogramm verstanden hat. Die Botschaft Christi betrifft das Verhältnis des Menschen zu Gott: als solche kann sie grundsätzlich in jeder Ordnung wirken; im tiefsten ist die Rechtsorganisation des Staates daher für den Glauben indifferent — wenn auch der rechte Staat der sein wird, der die christliche Predigt nicht behindert. Daher hat das Christentum auch die bestehenden sozialen Verhältnisse grundsätzlich hingenommen2, freilich wollte es alle sozialen Beziehungen mit einem anderen Geist erfüllt sehen: „Imperant enim, qui consulunt; sicut vir uxori, parentes filiis, domini servis. Oboediunt autem quibus consulitur; sicut mulieres maritis, filii parentibus, servi dominis: Sed in domo iusti viventis ex fide et adhuc ab illa caelesti civitate peregrinantis etiam qui imperant serviunt eis, quibus videntur imperare. Neque enim dominandi cupiditate imperant, sed officio consulendi; nec principandi superbia, sed providendi misericordia." 3 In der christlichen Rechtsphilosophie werden zwei Grundansätze erkennbar und kehren in der riesigen Literatur immer wieder. Das unterscheidende Moment liegt in der Bedeutung, die der menschlichen Vernunft und der aus menschlicher Einsicht entspringenden Ordnung im Rahmen des Heilsgeschehens zugemessen wird. Die eine Auffassung geht von dem Gedanken einer grundsätzlichen Harmonie der Einsicht und Richtung der natürlichen Vernunft einerseits, des göttlichen Heilswillens andererseits aus. Der natürliche Mensch kann Gott entgegengehen. „Gratia naturam non tollit, sed perficit" (Thomas von Aquin). Für die andere ist die Vernunft und die sittliche Kraft des Menschen mit dem Sündenfall gebrochen. Sein Wissen ist eitel; „Infelix . . . homo qui seit illa omnia, te autem nescit" (Augustinus). Sein Denken ist schwankend: „Tout notre raisonnement se réduit à céder au sentiment" (Pascal). Aus eigener Kraft kann er den Weg nicht finden. Allein die Teilnahme Gottes, die Offenbarung seines Willens in der Bibel und die Gnade, die ihm zuteil wird, kann ihm den Weg weisen. Die erste Auffassung hat ihren klassischen Ausdruck in den Lehren des Thomas von Aquin gefunden; die zweite begegnet uns bei Augustinus und bestimmt die Lehren von Luther und Calvin; man kann sagen, es gibt in der christlichen Sozialphilosophie eine thomistische und eine augustinische Tradition. * So schon die Apostel vgl. Paulus, Römer 13. 1—7. ' Augustinus, De Civitate Dei, X I X . 14. 23

Kapitel I

2. Thomas von Aquin (1226—1274) entwickelt auf der Grundlage der Lehren des Aristoteles eine umfassende christliche Philosophie und fügt in dieses System, sie weiter entwickelnd, auch die Grundlehren der stoischen Rechtsphilosophie ein4. Thomas greift zunächst den Gedanken der Lex aeterna auf. Wie die Ideen überhaupt Gedanken Gottes sind, so existiert auch die Lex aeterna in der Vernunft der göttlichen Weisheit (Ratio divinae sapientiae). Soweit die menschliche Vernunft diese Lex aeterna erfassen kann, wird sie dem Menschen als Lex naturalis bewußt 5 . Aus seiner Einsicht in die Lex naturalis und in Anwendung ihrer Prinzipien auf die jeweiligen Gegebenheiten schafft der Mensch dann die positive Rechtsordnung, die Lex humana. Neben dieser Einsicht der natürlichen Vernunft stehen die göttlichen Gebote, die Lex divina, wie sie im Alten und Neuen Testament offenbart sind; sie bekräftigen die Lex naturalis wie der Dekalog, und sie führen den Menschen zu seinem letzten übernatürlichen Ziel®. Vernunftordnung und Offenbarung stehen also nebeneinander, wenn auch diese jene überhöht. Aber Thomas hat nicht nur antike Gedanken in die christliche Philosophie eingeordnet; er hat sie auch weitergeführt. Dazu sei zweierlei hervorgehoben. Thomas ist sich des Problems der geschichtlichen Variabilität des positiven Rechtes bewußt. Er unterscheidet zwischen den unveränderlichen Prinzipien des Naturrechts und deren Anwendungen (conclusiones) auf konkrete Situationen. N u r die ersten sind unwandelbar 7 . Ferner: nicht jede Regel im positiven Recht ist Naturrecht; die Lex humana kann Regeln hinzufügen; sie kann nähere Bestimmungen treffen. Freilich: ein positives Gesetz, das dem Naturrecht widerspricht, wäre nicht „lex, sed legis corruptio" 8 . N u r das gerechte Gesetz verpflichtet ein Gewissen; das ungerechte nicht; es kann jedoch 4 vgl. zu Thomas von Aquin zur Einführung Überweg-Geyer, Die patristisdie und scholastische Philosophie (11. Aufl. 1928), S. 419 ff. Die wichtigsten Texte für die Rechtslehre des Thomas v. Aquin sind: Summa Theologica II. 1 (Prima Pars Secundae) Quaestio 90—105; II. 2 (Secunda Pars Secundae) Quaestio 57—79. s Summa Theologica II. 1 Quaestio 91 Art. 4: Lex naturalis nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae, secundum quod est directiva omnium actum et motionum.

' Summa Theologica II, 1. Quaestio 91 Art. 4. 7 vgl. aaO. Quaestio 94 Art. 4; Quaestio 91 Art. 3. 8 vgl. aaO. Quaestio 95 Art. 2.

24

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

befolgt werden, um soziale Unordnung zu vermeiden — es sei denn, daß es dem bonum divinum zuwiderläuft 9 . Thomas systematisiert den Inhalt des Naturrechts; er entwickelt ihn in Übereinstimmung mit seiner Gesamtansdiauung vom Menschen. Die Grundregel des Naturredits lautet: bonum est faciendum et prosequendum et malum vitandum 1 0 . Was aber als „bonum" anzusehen ist, ergibt sidi aus der N a t u r des Menschen, aus den Strebungen, die in ihm angelegt sind 11 . Daher gehört zu den Gütern, die das Naturrecht schützen, die Erhaltung des Menschen, die Ehe, die Erzeugung und Erziehung der Kinder, aber, der geistigen N a t u r des Menschen entsprechend, auch die Erkenntnis des Wahren — die Sdiau Gottes — und die Erhaltung des Lebens in der Gemeinschaft, der Communicatio. In diesem Sinne soll jedes Gesetz am Gemeinwohl, am bonum commune orientiert sein 12 . Die Lehre des Thomas von Aquin ist nicht nur das eindrucksvollste System der Hodischolastik gewesen; auf ihrer Grundlage ruht auch, vor allem wieder seit dem 19. Jahrhundert, die Soziallehre der katholischen Kirdie der Gegenwart. 3. Augustin (354—430) hat seine Gedanken hauptsächlich in seiner „Civitas Dei" niedergelegt 13 .

über

den

Staat

Schon der Anlaß des Buches ist wichtig. 410 hatten die Goten Rom, die Hauptstadt der antiken Welt, erobert und geplündert; ein Ereignis, das eine ungeheure Erschütterung hervorgerufen haben muß. Viele gaben den Christen die Schuld: weil sie den Kult der alten römischen Götter zerstört hätten, sei die Stadt gefallen. Dem tritt Augustin entgegen, nicht mit einzelnen Argumenten, sondern indem er in einer großen geschichtsphilosophischen Schau dem Staat, dem römischen Imperium seinen wahren Platz anweist, indem er zeigt, • vgl. aaO. Quaestio 96 Art. 4. 10

vgl. aaO. Quaestio 94 Art. 2. Omnia illa ad quae homo habet naturalem inclinationem, ratio naturaliter apprehendit ut bona . . . Secundum igitur ordinem inclinationum naturalium est ordo praeceptorum legis naturae (Summa Theologica II. 1 Quaestio 94 Art. 2). 11

1!

vgl. aaO. Quaestio 90 Art. 2.

15

vgl. zu Augustin zur Einführung Überweg-Geyer, Die patristische und scholastische Philosophie (11. Aufl. 1928), S. 99 ff. Zu den theologischen und philosophischen Grundlagen der Lehre von der Civitas Dei vgl. Hans Leisegang, Der Ursprung der Lehre Augustins von der Civitas Dei, Archiv für Kulturgeschichte X V I (1925), S. 127—158.

25

Kapitel I d a ß sein S t u r z kein entscheidendes Ereignis in d e r Geschichte das w a h r e Reich v i e l m e h r a n a n d e r e r Stelle liegt.

ist,

R o m , das n u n in G e w a l t u n t e r g e h t , ist durch G e w a l t u n d E r o b e r u n g g e w o r d e n : I n diesem Z u s a m m e n h a n g f ä l l t das b e r ü h m t e W o r t : „ R e m o t a i t a q u e justitia q u i d s u n t r e g n a nisi m a g n a l a t r o c i n i a ? " 1 4 — D e r w a h r e S t a a t a b e r ist d e r S t a a t G o t t e s , die C i v i t a s Dei. Sie ist d i e G e m e i n s c h a f t d e r w a h r h a f t G l ä u b i g e n , d e r v o n G o t t e s G n a d e E r w ä h l t e n , in v o l l e m G l a n z im Jenseits, als civitas coelestis, als himmlisches J e r u s a l e m ; auf d e r P i l g e r s c h a f t noch, als civitas dei t e r r e n a , in diesem Leben. I h r stehen die V e r d a m m t e n g e g e n ü b e r : die civitas diaboli. S o l a n g e das Leben d a u e r t , müssen beide G e m e i n schaften z u s a m m e n leben; diese „civitas p e r m i x t a " ist d e r S t a a t 1 5 . Auch er ist v o n G o t t , als d e m H e r r n d e r Geschichte eingesetzt; d e n n es gilt: p e r m e reges r e g n a n t . A b e r sein Recht u n d sein F r i e d e sind irdisch, kein A b g l a n z des w a h r e n Friedens in G o t t , d e r göttlichen G e rechtigkeit, die in d e r civitas coelestis herrscht. D e r S t a a t u n d sein Recht k ö n n e n d e r V e r k ü n d i g u n g nützlich sein: eine l e t z t e D i g n i t ä t h a b e n sie nicht. 4. D i e L e h r e A u g u s t i n s h a t einen tiefen E i n f l u ß a u f die R e f o r m a t o r e n ausgeübt. Schon die Spätscholastik, d e r sogen. N o m i n a l i s m u s des O c k h a m ( 1 2 8 5 — 1 3 4 9 ) u n d seiner Schule 1 6 h a t t e das V e r t r a u e n des T h o m i s mus auf die V e r n u n f t nicht m e h r geteilt. N u r auf G o t t e s Wille b e r u h t die E t h i k , u n d n u r die O f f e n b a r u n g k a n n uns diesen zeigen. M e l a n c h t h o n h a t in einer J u g e n d s c h r i f t jegliche natürliche moralische Einsicht des Menschen geleugnet 1 7 . L u t h e r ( 1 4 8 3 — 1 5 4 6 ) h a t seine G r u n d a u f f a s s u n g v o n S t a a t u n d Recht in d e r L e h r e v o n den „Zwei Reichen" z u s a m m e n g e f a ß t ; sie ist v o r allem in d e r S c h r i f t „ V o n weltlicher O b r i g k e i t " ( 1 5 2 3 ) 1 8 e n t wickelt. D i e Schrift geht v o n d e r F r a g e aus, w i e w e i t die O b r i g k e i t bei staatlichem H a n d e l n a n d i e V o r s c h r i f t e n d e r B e r g p r e d i g t 1 9 geb u n d e n ist. E r w e n d e t sich gegen die Lösung, diese V o r s c h r i f t e n n u r 14

De Civitate Dei IV. 4.

15

vgl. hierzu die Hauptstelle De Civitate Dei X I X . 17.

11

vgl. dazu Überweg-Geyer, aaO., S. 572 ff. In der ersten Fassung der Loci communes rerum theologicarum von 1521. Vgl. dazu Bauer, Die Naturrechtsvorstellungen des jüngeren Melanchthon, Festschrift für G. Ritter (1950), S. 244. 18 Weimarer Ausgabe der Werke Luthers XI (1900), S. 229—281. 17

" Matth. 5.39; auch Römer 12.19.

26

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

als Ratschläge für die Vollkommenen aufzufassen; die Lösung des Problems liege darin, daß es zwei Gruppen von Menschen, zwei Reiche, gäbe. Das eine (das Reich zur Rechten Gottes) werde von den wahrhaft Gläubigen gebildet — wie die Civitas Dei des Augustin. Sie befolgten die Regeln der Bergpredigt; für sie sei weder Herrscher noch Gesetz notwendig. Aber davon gäbe es einen auf Tausend. Die Masse der Menschen (auch der Christen) gehöre zum anderen Reich; diese müßten durch staatliche Ordnung, Gewalt und Gesetz im Zaum gehalten werden; wollte man davon absehen, so wäre das, als ob man wilde Tiere freisetze. Daher habe Gott für dieses Reich die staatliche Obrigkeit vorgesehen 20 . Ihre Gesetze sind an die Lex naturalis und Billigkeit gebunden. Freilich erstreckt sich die Herrschaft des Staates nur auf die äußeren Güter Leib und Gut, nicht auf Glauben und Gewissen; überschreitet er diese Grenze — z. B. durch Aufstellung der Pflicht, das Neue Testament wieder abzuliefern — so ist passiver Widerstand berechtigt. Das Ausgangsproblem wird von Luther dann dahin gelöst, daß der Christ an der staatlichen Herrschaft und Gewalt teilnehmen dürfe, wenn er seine Tätigkeit als Dienst am Nächsten — dem der Schutz ja zugute komme — auffasse 21 . Für sich persönlich müsse der Christ stets an dem Verbot des Widerstandes gegen Gewalt festhalten; aber „im Dienst" darf und soll er ihr um des Nächsten willen widerstehen 22 . Im Protestantismus der Gegenwart ist die Zwei-Reiche-Lehre umstritten, vor allem weil sie zu politischer Passivität führe. Eine neue „christologische" Auffassung des Rechts ist von Karl Barth und in seinem Gefolge von J. Ellul begründet worden. Grundgedanke ist, daß das Recht seine letzte Rechtfertigung und Würde darin, aber auch nur darin finde, daß es Gottes Gerechtigkeit gibt, die in der Rechtfertigung des Menschen in Erscheinung tritt. Jede

10

Luther, aaO., S. 250—252.

21

aaO., S. 255. Dazu verweist er auf Lukas 3.14; die Apostelgeschichte 10.48; 8.39; 13.12; Rom. 13.1 und 1. Timotheus 4.4, z. T. Stellen, in denen von bekehrten römischen Amtsträgern und Soldaten nicht verlangt wird, daß sie aus dem Dienst scheiden. 22

Zur Zwei-Reiche-Lehre vgl. Lau, Zwei-Reiche-Lehre, Religion in Geschichte und Gegenwart VI (3. Aufl. 1962) mit weiteren Literaturnachweisen. Zur Entwicklung der Naturrechtslehre im älteren Protestantismus vgl. Liermann, Geschichte des Naturrechts in der evangelischen Kirche, Festschrift für Bertholet (1950), S. 294—324. Für Calvin ist vor allem sein Christianae Religionis Institutio IV. 20 zu vergleichen. Dazu Bohatec, Calvin und das Recht (1934).

27

Kapitel I Naturrechtslelire, die auf natürlicher Vernunft beruht, wird radikal abgelehnt". III. 1. Die Bewegung der „Renaissance" hat für die Rechtsphilosophie wie für die allgemeine Philosophie Bedeutung vor allem dadurch, daß sie neue und weite Zugänge zur antiken Philosophie geschaffen hat. Neben die Lehren des Aristoteles traten wieder Piaton und die Stoa, traten auch die großen Historiker des Altertums: und alle, auch Aristoteles selbst, wurden neu durchdacht und interpretiert. Von diesen Entdeckungen ist für die Rechtsphilosophie vor allem die Wiederentdeckung der Stoa von Bedeutung geworden; sie ist eine der Grundlagen des Naturrechts der Aufklärung 1 . Das Werk eines so bedeutenden Juristen und Rechtsphilosophen wie Grotius beruht auf den Ergebnissen des Humanismus der Renaissance. Aber die großen denkerischen Leistungen dieser Epoche im Bereich der Rechts- und Sozialphilosophie liegen nicht so sehr im Bereich der Rechtstheorie, als in der Entdeckung des Staates und seiner Entwicklungsgesetze, im Bereich der Wissenschaft von der Politik 2 . Die Anfänge des modernen Staates bilden sich in den späteren Jahrhunderten des Mittelalters, vor allem in Westeuropa, in England, Frankreich und Burgund, in Spanien und Italien. Aber die mittelalterliche Theorie nimmt von diesem neuen Phänomen zunächst keine Notiz. Ihr Interesse gilt weiter in erster Linie den Universalmächten: der Kirche und dem Reich, dem Papsttum und dem Kaisertum, der Kirche und ihrer Reformation vor allem. Die spätmittelalterliche Philosophie hatte für ihre Lehren zwei Grundlagen: das Staatsrecht des Corpus Juris Justinians einerseits, die seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wieder bekannte Politik des Aristoteles andererseits. Auf dieser Grundlage behandelte sie eine Reihe von wichtigen Problemen: Die Vielheit der Gemeinwesen entgegen der Existenz des einen Reiches im Corpus Juris; die Stellung des Herrschers zum Recht; die Rechte des weltlichen Herrschers im Verhältnis zur Kirche®. Aber der sich entwickelnde " vgl. K. Barth, Rechtfertigung und Recht (1938); K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946); Jaques Ellul, Theologische Begründung des Rechts (1948). 1 vgl. unten Absdin. IV. 1. * Auf die Wirkungen der Renaissance auf die eigentliche Rechtswissenschaft ist hier nicht einzugehen. Gesamtdarstellung: P. Mesnard, L'Essor de la Philosophie Politique au XVIe siècle (2. Aufl. 1952). 3 vgl. dazu etwa v. d. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates (1952) und dazu die Kritik von Heimpel, Gött. Gel. Anz. 1954, S. 197— 221; E. Kantorowicz, The King's two Bodies (1957); zum Problem Kirche und Herrscher: Marsilius von Padua, Defensor pacis (1324). 28

Hauptlehren der Rechtsphilosophie Fürstenstaat fand darin noch keinen Raum; erst die Renaissance erfaßt das Wesen des Machtstaates.

2. Diese Erkenntnis ist vor allem das Werk eines Mannes: des Niccolò Machiavelli (1469—1527). Machiavelli löst die Probleme des Staates von denen der Rechtslehre; er betrachtet nur die H e r r schermacht als solche u n d untersucht, mit welchen Mitteln Macht gewonnen und behauptet wird. Die Grundlage seiner Überlegungen ist neben der Analyse antiker Historiker die Beobachtung der politischen Vorgänge seiner eigenen Zeit 4 . E r sieht sie ohne Illusionen u n d verzichtet auf eine moralische Wertung. „Eroberungssucht ist eine ganz natürliche und weitverbreitete Eigenschaft. Immer, wenn die Menschen nach besten K r ä f t e n Eroberungen machen, so werden sie gelobt, oder wenigstens nicht getadelt. Doch wenn ihre K r ä f t e nicht ausreichen und sie versuchen, trotzdem um jeden Preis Eroberungen zu machen, so ist dies ein tadelnswerter Fehler. Wenn demnach F r a n k reich imstande w a r , mit eigenen K r ä f t e n Neapel anzugreifen, so hätte es dies tun sollen; w a r es aber nicht dazu imstande, so d u r f t e es die Herrschaft doch nie teilen. Wenn Frankreich die Lombardei mit den Venezianern teilte, so verdient es Entschuldigung, weil es hierdurch in Italien Fuß f a ß t e ; die Teilung Neapels aber verdient Tadel, da sie nicht mit dem Z w a n g der Verhältnisse zu entschuldigen ist. Ludwig beging also fünf Fehler: Er richtete die Schwächeren zugrunde, er verstärkte in Italien die Macht eines besonders Mächtigen, er zog einen außerordentlich mächtigen Fremden ins Land, er schlug in Italien nicht seine Residenz auf und gründete dort auch keine Kolonien." 5 Die Regeln, die er entwickelt, sind dementsprechend keine moralischen oder naturrechtlichen Gesetze. Sie sind vielmehr politische Maximen, die um den einen Gedanken kreisen, wie nach vernünftiger Einsicht in die Verhältnisse die Interessen des staatlichen Herrschers, die auf Behauptung u n d Mehrung der politischen Macht gerichtet sind, gewahrt werden können. D a m i t entwickelt er die Lehre von der Staatsraison, der V e r n u n f t des Staates, die darin besteht, „sich selbst und seine U m w e l t zu erkennen u n d aus dieser Erkenntnis die Maximen des Handelns zu schöpfen." 6 Machiavelli glaubte u n d sprach es ohne Scheu aus, d a ß das H a n d e l n des Herrschers nicht immer auch moralisch gut sein könne. 4

Hierzu vgl. insbesondere F. Gilbert, Machiavelli and Guicciardini (Princeton 1965). — Zu Machiavelli vgl. F. Chabod, Machiavelli and the Renaissance (1958) mit großer Bibliographie. 5 Machiavelli, II Principe III, Deutsche Ubersetzung von R. Zorn (3. Aufl. 1963), S. 12/13. 9 Meinecke, Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte (1957), S. 1.

29

Kapitel I

„Es bleibt noch zu untersuchen, wie sich ein Herrscher gegen seine Untertanen und seine Freunde zu verhalten hat. Da es mir bewußt ist, daß schon viel darüber geschrieben wurde, fürchte ich, daß man mich für anmaßend hält, wenn auch ich darüber schreibe, zumal ich gerade bei der Erörterung dieses Stoffes von der üblichen Behandlungsweise abgehe. D a es aber meine Absicht ist, etwas Brauchbares für den zu schreiben, der Interesse dafür hat, schien es mir zweckmäßiger, dem wirklichen Wesen der Dinge nachzugehen als deren Phantasiebild. Viele haben sich Vorstellungen von Freistaaten und Alleinherrschaften gemacht, von denen man in Wirklichkeit weder etwas gesehen noch gehört hat; denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, daß derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält. Ein Mensch, der immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind. Daher muß sich ein Herrscher, wenn er sich behaupten will, zu der Fähigkeit erziehen, nicht allein nach moralischen Gesetzen zu handeln sowie von diesen Gebrauch oder nicht Gebrauch zu machen, je nachdem es die Notwendigkeit erfordert." 7 3. In der Folgezeit entstand eine ganze Literatur zum Problem der Staatsraison; eine neue wissenschaftliche Disziplin war entstanden 8 . In Frankreich entwickelte Jean Bodin (1530—1596) am Ende des 16. Jahrhunderts in seinen „Six Livres de la République" (1576) die Theorie von der neuen Souveränität, der summa potestas des Fürsten, dessen Macht er als einzigen rettenden Ordnungsfaktor in den Wirren der Zeit ansah. Sein Werk hat sehr viel mehr juristischen Charakter als die Schriften Machiavellis; es geht ihm um die einzelnen Befugnisse des Fürsten, ihre Zusammenfassung und ihre Bindung an den Staatszweck. Es ist die theoretische Grundlage für die Regierungsgewalt des Fürsten 9 . Es ist hier nicht der Ort, die Lehren Machiavellis und Bodins sowie ihrer Nachfolger im einzelnen zu erörtern 10 . In unserem Zu7 vgl. Macbiavelli, II Principe XV. Deutsche Übersetzung, aaO., S. 62 f. — Stellungnahme zu Macchiavelli unten Kapitel IV Abschn. V. 2. 8

Meinecke, Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte (1957) insbes. S. 57 ff. * Zu Bodin vgl. Mesnard, L'Essor de la Philosophie Politique au X V I ième Siècle (2. Aufl. 1952). 10 vgl. dazu Meinecke, aaO.

30

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

sammenhang ist nur wichtig festzuhalten, daß mit Machiavellis Schriften im 16. Jahrhundert eine selbständige Lehre vom Staat und vom staatlichen Handeln entstanden war, die außerhalb der traditionellen Rechtsphilosophie stand und die auch ihre neuen Erkenntnisse nicht in Beziehung zu ihren Lehren setzte, insbesondere das Problem der Bindung an das Naturrecht nicht erörterte oder doch jedenfalls nicht als zentrales Problem empfand. Diese politisch, aber auch ökonomisch orientierte Staatstheorie steht seitdem neben der Philosopie des Rechts, wenn sich auch immer wieder Verbindungen ergeben, z. B. in der Rechtsphilosophie Hegels.

IV. 1. Dem Zeitalter des Glaubens folgt das Jahrhundert der Vernunft. Im 17. Jahrhundert gewinnt das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken allmählich an Einfluß. Das heliozentrische System und die mathematisch-mechanische Weltauffassung setzen sich gegen das Weltbild der antiken Wissenschaft durch 1 ; die moderne Kultur gewinnt überhaupt gegenüber der Antike an Gewicht; in der berühmten „Querelle des Anciens et des Modernes" in Frankreich 2 wird sie zum ersten Mal als überlegen hingestellt. Entscheidend sind vor allem die geistigen Bewegungen der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts geworden 3 . Die Philosophie wird von neuen Ansätzen aus entwickelt. Sie wird kritisch; Descartes (1596—1650) erhebt den systematischen Zweifel an allen überlieferten Sätzen zum Prinzip; dies führt notwendig zur Prüfung der Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Denkens und damit zu einem subjektiven Vernunftbegriff. N u r klaren, sicheren und evidenten Einsichten, lehrt Descartes, soll man trauen. Arithmetik und Geometrie sind daher die vorbildlichen deduktiven Disziplinen. Einsichten von geringerem Evidenzgrad soll man lieber f ü r falsch halten. Die Erfahrung ist der Spekulation vorzuziehen 4 . Anderer1

vgl. dazu Butterfield, The Origin of Modern Science (Revised Edition 1965), vor allem Kapitel 4—8. Gesamtdarstellung bei E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (1932). * vgl. dazu Du Granges-Boudont, Histoire de la littérature française (51. Aufl.), S. 577 ff. 3 vgl. allgemein Hazard, La crise de la conscience Européenne 1680—1715 (1935, deutsch 1939); hinsichtlich der Wissenschaftsgeschichte: Butterfield, aaO., S. 192; vgl. auch die geistesgeschichtlichen Analysen Diltheys: Weltansdiauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (Gesammelte Schriften II, 5. Aufl., 1957). 4 Descartes hat seine leitenden Ideen vor allem in den Regulae ad Directionem Ingenii (1628) und im Discours de la méthode (1637) niedergelegt.

31

Kapitel I seits bieten k l a r e D e f i n i t i o n e n u n d logische F o l g e r u n g e n auch o h n e empirische Beweise Sicherheit des Ergebnisses. I n d e r Rechtsphilosophie f ü h r t diese B e w e g u n g z u einer N e u f o r m u l i e r u n g d e r N a t u r r e c h t s l e h r e : d e m sogen, „rationalistischen N a t u r recht d e r A u f k l ä r u n g " . W i e die P h i l o s o p h i e d e r Z e i t versucht diese Lehre, empirische B e o b a c h t u n g e n u n d d e d u k t i v e s V e r f a h r e n z u v e r einigen. Sie v e r s t e h t V e r n u n f t — a n d e r s als A n t i k e u n d M i t t e l a l t e r — nicht als T e i l h a b e a n d e r W e l t v e r n u n f t , s o n d e r n als L o g i k , a n g e w e n d e t auf T a t s a c h e n . Auch ihr ist die K l a r h e i t des R a i s o n n e m e n t s a b e r bereits B ü r g s c h a f t f ü r seine W a h r h e i t . Geschichtlich knüpft die neue Naturrechtslehre allerdings zunächst an die Stoische Naturrechtslehre an, die wie die Stoische Ethik überhaupt im 16. Jahrhundert eine weitreichende Renaissance erlebt hatte 5 . Das zeigt sich noch sehr deutlich bei Grotius (1583—1645), den die Aufklärung als den Begründer des „neuen" Naturrechts betrachtet hat; er war Humanist und die Autorität der Antike für ihn unbestritten. Aber schon Thomasius (1655—1728) hält diese „Testimonia aliorum scriptorum" bei Grotius für überflüssig6. D a s N a t u r r e c h t b e r u h t f ü r die A u f k l ä r u n g auf z w e i G e g e b e n h e i t e n : d e r N a t u r des Menschen u n d d e r d e r menschlichen Gesellschaft. D i e A u t o r e n der A u f k l ä r u n g b e g i n n e n d a h e r m i t einer d e s k r i p t i v e n A n t h r o p o l o g i e u n d f r a g e n sich d a n n : wie müssen die Regeln beschaff e n sein, u n t e r d e n e n Wesen dieser A r t z u s a m m e n l e b e n k ö n n e n 7 ? Schon G r o t i u s h a t t e d a s U n r e c h t d e f i n i e r t als das, w a s d e r G e m e i n schaft v o n V e r n u n f t w e s e n z u w i d e r ist 8 . Diese Ü b e r l e g u n g f ü h r t d a n n r e g e l m ä ß i g z u r A u f s t e l l u n g b r e i t e r P r i n z i p i e n . So p o s t u l i e r t e t w a H o b b e s d e n S a t z , d a ß m a n n i e m a n d e m das z u f ü g e n solle, w a s m a n selbst nicht wolle, d a ß n i e m a n d einen a n d e r e n v e r l e t z e 9 ; u n d P u f e n d o r f ( 1 6 3 2 — 1 6 9 4 ) stellt die F o r d e r u n g a u f , d a ß jeder d e n a n d e r e n Menschen als sich v o n N a t u r aus gleich o d e r als „gleichermaßen Mensch" einschätze u n d b e h a n d e l e ; d a ß jeder d a s Interesse (utilitas) des a n d e r e n , soweit er es m i t Bequemlichkeit ( c o m m o d o ) k a n n , be5 vgl. dazu den Überblick bei Zanta, La Renaissance du Stoicisme au XVI ieme siecle (1914). — Zum Einfluß verfassungsrechtlicher Ideen des Altertums (Isonomia) in England vgl. Hayek, Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideals. 6

vgl. seine Einleitung zu Fundamenta Iuris Naturae ac Gentium (1705), §3.

7

So verfahren Hobbes, Elementa philosophica de cive (1647) I und II, Leviathan (1651) I, 1—6, 14; Pufendorf, De officiis hominis et civis (1731) I 3 § 7/8; ähnlich 1 2 § 16; Thomasius, Fundamenta iuris naturae ac gentium (1705) 1 1 ff. 8 Grotius, De iure belli ac pacis (1625) I 1,3; vgl. Prolegomena 8. » Hobbes, De Cive (1647) III. 26. 32

Hauptlehren der Rechtsphilosophie f ö r d e r e 1 0 . H i e r a u s w e r d e n d a n n speziellere G r u n d s ä t z e e t w a , d a ß m a n V e r t r ä g e h a l t e n müsse 1 1 .

abgeleitet:

D a s V e r h ä l t n i s dieses N a t u r r e c h t s z u m p o s i t i v e n R e d i t machen die S o z i a l p h i l o s o p h e n d e r A u f k l ä r u n g a m D e n k m o d e l l des Gesellschaftsv e r t r a g e s deutlich. A n sich sind die Menschen n u r als I n d i v i d u e n gegeben — die P a r a l l e l e z u r A t o m t h e o r i e d e r zeitgenössischen M e c h a n i k liegt n a h e ! S t a a t u n d Gesellschaft sind nichts Ursprüngliches. I m „ N a t u r z u s t a n d e " galt allein das N a t u r r e c h t ; alle Menschen w a r e n v o n H e r r s c h a f t frei u n d d e m Recht nach — gleich. A b e r d a es d e m N a t u r recht a n S a n k t i o n e n fehlte, u n d d a h e r Unsicherheit herrschte, sind Menschen z u s a m m e n g e k o m m e n u n d h a b e n d u r c h V e r t r a g , eben d e n Gesellschaftsvertrag, d e n S t a a t b e g r ü n d e t u n d o r g a n i s i e r t . D u r c h diesen V e r t r a g ist aus d e m N a t u r z u s t a n d d e r „bürgerliche" Z u s t a n d geschaffen w o r d e n ; aus d e m „Menschen" ist d e r „ B ü r g e r " g e w o r d e n ; a n die Stelle des „ n a t ü r l i c h e n " t r i t t n u n das „bürgerliche" Recht 1 2 . D e r S i n n dieses (meist nicht als geschichtliche H y p o t h e s e gemeinten) D e n k m o d e l l s ist, z u zeigen, d a ß d e r S t a a t f ü r g a n z b e s t i m m t e Z w e c k e g e g r ü n d e t u n d d a h e r a n diese Z w e c k e auch g e b u n d e n ist. Dieser Z w e c k a b e r w a r die Sicherung des N a t u r r e c h t s , nach d e r r a d i k a l e n T h e s e : des n a t ü r l i c h e n Rechts des Menschen. 2. Freilich w i r d diese K o n s e q u e n z keineswegs v o n allen in d e r gleichen Weise gezogen. Ü b e r die B e d e u t u n g des Gesellschaftsvertrages bestehen verschiedene A u f f a s s u n g e n . E i n e k o n s e r v a t i v e r e u n d eine r a d i k a l e r e L e h r e sind z u unterscheiden. D i e k o n s e r v a t i v e R i c h t u n g meint, d e r Gesellschaftsvertrag sei v o r a l l e m abgeschlossen, d e m Menschen Sicherheit z u geben. D a das n u r durch H e r s t e l l u n g einer a b s o l u t e n H e r r s c h a f t s g e w a l t geschehen k ö n n t e , sei durch i h n eine absolute H e r r s c h a f t organisiert w o r d e n . D e r G e s e l l s c h a f t s v e r t r a g w i r d d a m i t eigentlich ein U n t e r w e r f u n g s v e r t r a g . D i e G e w a l t des H e r r s c h e r s ist g r u n d s ä t z l i c h u n b e s c h r ä n k t . N u r i n t e r n , in seinem G e wissen, ist d e r R e g i e r e n d e g e b u n d e n , n u r d e m G e m e i n w o h l , d e r salus p u b l i c a , z u dienen u n d n u r Gesetze z u erlassen, die d e m n a t ü r l i c h e n Recht entsprechen. Diese Lehre ist in schroffer Form vor allem von Hobbes (1588—1679) entwickelt, dessen Werke unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges ge10

Pufendorf,

De officiis hominis et civis I 8.

11

So Hobbes, De Cive III. 1. 12 Der Ausdrude „Bürgerliches Recht" hat einen Bedeutungswandel durchgemacht; im 18. Jahrhundert wird er weitgehend noch in dem im Text entwickelten Sinne, der der antiken Bedeutung vom „Ius civile" in seinem Gegensatz zum Naturredit in etwa entspricht, verwendet.

33 3

C o i n g ,

Rechtsphilosophie

Kapitel I schrieben sind. Nach ihm hat der Gesellschaftsvertrag vor allem die soziale Autorität geschaffen; auf ihr allein beruht die verpflichtende Kraft des Redits, nicht auf seinem vernunftgemäßen Inhalt; auctoritas, non veritas facit legem. Aber auch die deutsche Naturrechtslehre, etwa Pufendorf und Thomasius, hat diese Auffassung vertreten, wenn sie audi die Bindung an die salus publica stärker betont hat. Sie hat damit das theoretische Fundament für den aufgeklärten Absolutismus geschaffen, wie ihn dann Friedridi II. in Preußen und Kaiser Joseph II. in Österreich verwirklicht haben. 3. Eine andere Richtung betont dagegen, daß der Gesellsdiaftsvertrag den Zweck gehabt habe, die natürlichen Rechte des Menschen, seine Freiheit, sein Eigentum und die Gleichheit aller zu sichern, und daß daher auch der durch ihn errichtete Staat an diese gebunden sei: diese Lehre ist vor allem von Locke ( 1 6 3 2 — 1 7 0 4 ) im zweiten seiner „ T w o Treatises on Government" (1690) entwickelt worden. Nach ihm sind die Regierenden kraft des Gesellschaftsvertrages nur die Treuhänder der Bürger für die Wahrung der ursprünglichen Menschenrechte: Freiheit, Gleichheit und Eigentum 1 3 . Daher kann die Regierungsgewalt nicht unbeschränkt sein; sie darf nicht in einer H a n d liegen; Gesetzgebungsgewalt und Exekutive sollten von verschiedenen Personen ausgeübt und die Richter unabhängig sein 1 4 . Vor allem aber muß nach festen, für alle gleichmäßig geltenden Gesetzen regiert werden, die allen bekannt gemacht sind und an die die Exekutive gebunden ist 1 5 . Denn es gilt der S a t z : „freedom of men 1 6 under government is to have a standing rule to live by, common to every one of that society, and made by the legislative power erected in i t . " 1 7 Was Locke als Folge des Gesellschaftsvertrages entwickelt, ist also die Theorie des Rechtsstaates, der auf der Anerkennung der Menschenrechte als Bürgerrechte beruht. Es ist diese Lehre, auf die sich dann die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 beruft: „We hold these truths to be self evident: that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness: T h a t to secure these rights, Governments are i n s t i t u t e d . . E b e n s o folgt ihr die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789.

34

13

Locke, Two Treatises on Government, 2. Abhandlung Nr. 123.

14

Locke, aaO. Nr. 159.

15

Locke, aaO. Nr. 142, 160, 162.

16

d. h. „bürgerliche" Freiheit im Gegensatz zur natürlichen.

17

Locke, aaO. Nr. 22.

Hauptlehren der Rechtsphilosophie 4. Eine scharfe Kritik hat die Methode der Naturrechtslehre der A u f klärung in England durch H u m e " ° , in Deutschland durch Kant (1724—1804) erfahren. Letzterer wendet sich dagegen, daß sie sittliche N o r m e n aus empirischen Daten, insbesondere aus anthropologischen Erkenntnissen ableitet. Die Sittlichkeit sei unableitbar und wurzele in der V e r n u n f t . „Da meine A b s i c h t . . . auf die sittliche Weltweisheit gerichtet ist, so schränke ich die vorgelegte Frage nur darauf ein: ob man nicht meine, d a ß es von äußerster N o t wendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre; denn d a ß es eine solche geben müsse, leuchtet von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze ein. Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch d. i. als G r u n d einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: D u sollst nicht lügen, nicht etwa bloß f ü r Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber nicht daran zu kehren hätten; und so alle übrigen eigentlichen Sittengesetze; d a ß mithin der G r u n d der Verbindlichkeit hier nicht in der N a t u r des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und d a ß jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen E r f a h r u n g gründet, und sogar eine in gewissem Betracht allgemeine Vorschrift, sofern sie sich dem mindesten Teile, vielleicht nur einem Beweggrunde nach, auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann" 1 8 . K a n t greift damit gegenüber dem eingeschränkten Vernunftbegriff der A u f k l ä r u n g " auf den klassischen Vernunftbegriff zurück. K a n t hat dann in seiner Schrift „Die Metaphysik der Sitten" von 1797 eine eigene, a priorische Rechtslehre geschaffen, d. h. ein „Naturrecht", das auf Prinzipien der praktischen V e r n u n f t beruht. Er stellt das Recht der Ethik in der Weise gegenüber, daß die Ethik uns verpflichtet, bestimmte Handlungen aus einer bestimmten Gesinnung, nämlich aus „Pflicht", vorzunehmen, während das Recht sich begnügt, die H a n d l u n g selbst vorzuschreiben, gleichgültig, aus welchen Motiven sie erfolgt; K a n t trennt also — in A n k ü p f u n g an Thomasius — „Moralität" und „Legalität". D a f ü r kann das Recht das von ihm Gebotene aber erzwingen. Als allgemeines Prinzip des Rechts als der „äußeren Gesetzgebung" postuliert K a n t die Freiheit: „Freiheit ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen k r a f t seiner Menschheit, zustehende Recht." Aus ihm folgen alle anderen natürlichen Rechte. Demgemäß kann er das Recht definieren als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür 2 0 des einen mit der Willkür des

170 Hume A Treatise of H u m a n N a t u r e . Deutsche Übersetzung von Th. Lipps Meiner Verlag H a m b u r g (1973) S. 210/11. 18 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Vorrede (Inselausgabe von Weischedel) IV, S. 1. 19 Vgl. oben Absdin. IV. 1. 20 D . h. die Handlungsfreiheit.

35

Kapitel I anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann 8 1 ." V. I m 19. J a h r h u n d e r t tritt mit der Entwicklung der Presse und des politischen Parteiwesens die Bildung politischer P r o g r a m m e neben die eigentliche Rechts- und Staatsphilosophie. D i e beiden Ideenkreise sind natürlich nicht vollkommen voneinander getrennt. Es besteht z. B . ein enger Zusammenhang der historischen Rechtsschule und der Bildung eines konservativen politischen P r o g r a m m s . Bei M a r x sind Rechtsphilosophie und E n t w e r f e n eines politischen P r o g r a m m s sogar in einer Person vereint. T r o t z d e m steht bei der politischen Zielsetzung das unmittelbare H a n d e l n in eine gegebene Situation hinein — um die Gesellschaftsordnung z u ändern oder um sie z u verteidigen — im Vordergrund. In unserer Darstellung kann auf die politische Ideengeschichte nur hingewiesen werden. 1. Die liberalen Parteien kämpfen für die Durchsetzung der Gedanken der Naturrechtslehre der Aufklärung und der französischen Revolution. Sie erstreben eine Beteiligung der Bürger an der Macht durch die Parlamente; hierbei setzt sich freilich der Gedanke des allgemeinen Wahlrechts erst sehr langsam durch. Der Liberalismus kämpft ferner für den Rechtsstaat, die Begrenzung der Staatsgewalt durch Gesetze und den Schutz der Grundrechte. Im Wirtschaftsbereich glaubt er an die Möglichkeit einer natürlichen Harmonie der Interessen, wenn nur der Staat sich von Eingriffen in den wirtschaftlichen Prozeß fernhält. Diese Auffassung, die an die Lehren der klassischen Nationalökonomie anknüpft, wird insbesondere um die Jahrhundertmitte ausgebildet. Demgegenüber tritt die im Laufe des 19. Jahrhunderts neu sich bildende Bewegung des Sozialismus für eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Güter und für die Befreiung der Arbeiterschaft ein. Sie entwickelt sich in drei Phasen. Der Ursprung liegt in Frankreich; in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts werden hier Theorien entwickelt, die zum Teil utopischen Charakter tragen. Hervorzuheben ist vor allem die Bewegung der St. Simonisten, die für die Ordnung der Gesellschaft die Forderung aufstellt: Jedem entsprechend seinen Fähigkeiten und seinem Verdienst. Um die Mitte des Jahrhunderts entwickelt Karl Marx (1818—1883) auf der Grundlage einer Geschichts- und Rechtsphilosophie sowie einer ökonomischen Theorie das Programm des Kommunismus. Er sieht den Weg zu einer gerechten Ordnung in der proletarischen Revolution und der Übernahme des Eigentums an allen „Produktionsmitteln" durch den vom Proletariat beherrschten Staat. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelt sich schließlich insbesondere in England und Deutschland ein Reformsozialismus, der die „soziale 2 1 vgl. Metaphysik der Sitten (1797) Einleitung I I I und Einleitung in die Rechtslehre § 3 (Inselausgabe IV), S. 322/323, 337, 345.

36

Hauptlehren der Rechtsphilosophie Frage", d. h. für das 19. Jahrhundert die gesellschaftliche und wirtschaftliche Einordnung der Arbeiterschaft, durch eine Reihe von Reformen, aber grundsätzlich im Rahmen der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung lösen will. Charakteristisch sind in Deutschland die sogen. Katheder-Sozialisten, in England die Fabian Society 1 . Diese verschiedenen politischen Bewegungen nehmen auch zu den Hauptfragen der Rechtsphilosophie Stellung, etwa zum Problem der Grundrechte oder der Rechtfertigung der Strafen.

2. Was die eigentliche Theorie des Rechts angeht, so bringt das 19. Jahrhundert in neuen oder neugestalteten Wissenschaften eine Fülle neuer Gesichtspunkte f ü r die Auffassung des Menschen und seiner Kultur: die Bedeutung der Geschichte wird neu erfaßt, die Gesetzmäßigkeit des wirtschaftlichen Lebens entdeckt, in Biologie und Psychologie — es seien nur die Namen von Darwin (1809—1882) und Freud (1856—1939) genannt — neue Erkenntnisse über den Menschen gewonnen und neue Thesen über ihn aufgestellt. Gleichzeitig führt der philosophische Positivismus zu einer erneuten kritischen Prüfung des wissenschaftlichen Erkenntnisvermögens. Alle diese neuen Ansatzpunkte wirken sich auch auf die Rechtstheorie aus: ja, sie werden — wie o f t in der Geistesgeschidite neue Gesichtspunkte — oft als die allein möglichen und richtigen hingestellt. Aus der großen Zahl der so entwickelten neuen Antworten auf die Frage nach Wesen und Sinn des Rechts als Kulturerscheinung heben wir die wichtigsten in ihren Hauptgesichtspunkten hervor. Um die Wende zum 19. Jahrhundert wird im wissenschaftlichen und philosophischen Denken ein neues Verhältnis zur Gesdiidite spürbar. Natürlich hatte es stets ein Interesse f ü r die Vergangenheit gegeben; was sich jetzt aber herausbildet, ist ein neues Empfinden für die geschichtliche Bedingtheit der menschlichen Kultur und die Einzigartigkeit jeder geschichtlichen Epoche. Für die Aufklärung war der Mensch, der uns im geschichtlichen Prozeß entgegentritt, im Grunde immer der gleiche gewesen; die einzelnen Epochen unterschieden sich vor allem durch den Grad der Aufklärung, den sie erreicht hatten, und die Bewegung der Geschichte wurde angesichts dessen, was das eigene, das philosophische Jahrhundert erreicht hatte, als Fortschritt der Menschheit zu immer größerer Mündigkeit, Freiheit und Wohlstand verstanden. Der Historismus begriff, daß die Menschen der einzelnen Zeitalter und Nationen zutiefst verschieden sind; und zwar, weil sie in ihrem Denken und in ihren Wertvorstellungen von der Tradition, also der Geschichte, geprägt sind. Er fand die Einheit der Menschheit nur noch in der Gesamtheit der in sich individuell 1

vgl. dazu McBriar, 1962).

Fabian Socialism and English Politics (Cambridge

37

Kapitel I ausgeprägten Epochen und Kulturen; er fand keinen gradlinigen Fortschritt, sondern entdeckte höchst komplizierte, mechanisch nicht zu begreifende „organische" Entwicklungen. Diese neue Betrachtungsweise machte es notwendig, neue Kategorien für die Auffassung der Kultur zu finden. Es handelte sich vor allem darum, die Individualität, verstanden als besondere eigene geistige Gestalt, als „inward form", von Personen ebenso wie von Völkern und Zeitaltern, damit den Gesamtzusammenhang der verschiedenen Äußerungen der Kultur eines Zeitalters, ihre Totalität, die Eigengesetzlichkeit von allem geschichtlich Gewordenen und die Eigenart des historischen Prozesses selbst — im Gegensatz zu mechanisch gesteuerten Ablaufen — zu erfassen. Die hierfür notwendigen Kategorien sind zum großen Teil schon während des 18. Jahrhunderts, also während der Vorherrschaft des Rationalismus entwickelt worden. Die Werke von Shaftesbury (1671—1713), von Giovanni Battista Vico (1668—1744), Montesquieu (1689—1755; Esprit des Lois 1748), Voltaire (1694—1778; Siecle de Louis XIV), schließlich Herders (1744—1803) waren entscheidende Schritte 2 . Am Ausgang des 18. Jahrhunderts und am Beginn des 19. Jahrhunderts entstand dann die neue kritische, d. h. die vorhandene Überlieferung kritisch prüfende Geschichtswissenschaft; Niebuhrs Römische Geschichte (1811, 1832) war eines ihrer ersten bedeutenden Ergebnisse'. Im 19. Jahrhundert schlössen sich die übrigen geschichtlich orientierten Wissenschaften an: die Sprach- und Literaturwissenschaften, die Kunstgeschichte, die Kirchen- und Dogmengeschichte, kurz jene Wissenschaften, die wir unter dem Namen „Geisteswissenschaften" zusammenfassen 4 . Als die Einzelwissenschaften geschaffen waren, folgte die theoretisdie Klärung ihrer Aufgaben, Methoden und Erkenntnismöglichkeiten, die „Kritik der historischen Vernunft". Hier sind vor allem die Schriften von Dilthey und Cassirer, von Collingwood, Betti und Gadamer sowie die Schriften über die Methode der Geschichtswissenschaft, etwa Droysen's „Historik" (1937) oder Marrou's „De la Connaissance historique" (1958) zu nennen 5 . 2

vgl. dazu die Übersicht bei Meinecke, (2. Aufl. 1946).

Die Entstehung des Historismus

3 vgl. hierzu Butterfield, Man on his past (1955) und zum Begriff der kritischen Historie Collingwood, The Idea of History (Deutsche Übersetzung 1955) V, § 3. 4 Zur Entstehung der Bezeichnung vgl. Rotbacker, Logik u. Systematik der Geisteswissenschaften (1948), S. 9—12. 5 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften I, 4. Aufl. 1959), Die geistige Welt (Gesammelte Schriften V, 2. Aufl. 1957); Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (4. Aufl. 1964), Zur Logik der Kulturwissenschaften (2. Aufl. 1961); Collingwood, The Idea of History (Deutsche Übersetzung 1955); Betti, Teoria Generale dell* Interpretazione (1955); Gadamer, Wahrheit und Methoden (1960).

38

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

3. Die geschichtliche Auffassung des Redits wird in der Auseinandersetzung mit der französischen Revolution von 1789 entwickelt; sie ist in gewisser Hinsicht die Antwort des konservativen Denkens auf den bürgerlich-radikalen Umsturz 6 . Die wichtigste Schrift sind die „Reflections on the French Revolution" des englischen Parlamentariers und Publizisten Edmund Burke (1729—1797). Burke hatte sich schon früher, in einer 1775 kurz vor Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gehaltenen Rede über die Aussöhnung mit den damaligen englischen Kolonien in Amerika gegen das Denken in abstrakten Menschenrechten gewendet. „Abstract liberty, like other mere abstractions is not to be famed. Liberty inheres in some sensible object; and every nation has formed to itself some favorite point, which by way of eminence becomes the criterion of their happiness." 7 . In einer Frühschrift 8 hatte er den Gedanken entwickelt, daß Staat und Recht nicht auf Vertrag, sondern auf Zeitablauf beruhten 9 . Jetzt wendet er sich scharf gegen die Zerstörung der überkommenen französischen Monarchie und den Versuch, nach abstrakten Prinzipien, nach den geschichtslosen Grundsätzen des Naturrechts der Aufklärung eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen. Recht und Verfassung sind nichts Mechanisches, Abstraktes, sie sind der Niederschlag der Erfolge von Generationen und leben in einer bestimmten nationalen Tradition. Man muß sie achten und darf sie nicht jedem neuen Bedürfnis opfern. Burke geißelt „the total contempt . . . of all ancient institutions, when set in opposition to a present sense of convenience" und den „spirit of innovation". Er setzt die geschichtlich gewordenen Freiheiten des Engländers gegen die abstrakten Menschenrechte. Auf den Ideen der abstrakten Freiheit und Gleichheit läßt sich kein Staat errichten: Die Freiheit muß aus den vorhandenen geschichtlichen Institutionen entwickelt werden. Die menschliche Vernunft ist zu schwach, eine neue Gesellschaftsordnung zu erfinden. Allmähliche Reform in Ehrfurcht vor dem Gewordenen, nicht Revo9 Das geschichtliche Reditsverständnis kann nicht einfach der Romantik zugeordnet werden; es ist politisch konservativ. Dies hat vor allem Carl Schmitt in seinem Werk „Politische Romantik" (2. Aufl. 1923) im Anschluß an Rexius, Studien zur Staatslehre der historischen Schule, Historische Zeitschr. 107 (1911), S. 496—539 herausgearbeitet. 7

Speech on Conciliation with America, Works (1803) III, S. 49/50.

8

A Vindication of Natural Society (1756).

® vgl. dazu Meusel, Burke's Schriften gegen die französische Revolution, S. 9.

39

Kapitel I lution und Umsturz sind der richtige, der natürliche Weg. sieht er das Wesen englischer Verfassungsentwicklung:

Darin

„By a constitutional policy, working after the pattern of nature, we receive, we hold, we transmit our government and our privileges, in the same manner in which we enjoy and transmit our property and our lives. The institutions of policy, the goods of fortune, the gifts of providence, are handed down to us, and from us, in the same course and order. Our political system is placed in a just correspondence and symmetry with the order o f the world, and with the mode of existence decreed to a permanent body composed of transitory parts; wherein, by the disposition of a stupendous wisdom, moulding together the great mysterious incorporation of the human race, the whole, at one time, is never old, or middle-aged, or young, but, in a condition o f unchangeable constancy, moves on through the varied tenor of perpetual decay, fall, renovation, and progression. Thus, by preserving the method of nature in the conduct of the state, in what we improve, we are never wholly new; in what we retain, we are never wholly obsolete. B y adhering in this manner and on those principles to our forefathers, we are guided not by the superstition of antiquarians, but by the spirit of philosophic analogy. In this choice of inheritance we have given to our frame of polity the image o f a relation in blood; binding up the constitution of our country with our dearest domestic ties; adopting our fundamental laws into the bosom of our family affections; keeping inseparable, and cherishing with the warmth of all their combined and mutually reflected charities, our state, our hearths, our sepulchres, and our altars." 1 0 Burke verabscheut den Radikalismus der Revolutionäre: „Plots, massacres, assassinations, seem to some people a trivial price for obtaining a revolution. A cheap, bloodless reformation, 4 k 6. Was nun das moderne Recht, dessen entscheidende inhaltliche Züge angeht, so unterscheidet die sogen. Rechtsquellenlehre traditionellerweise Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht. Unter Gewohnheitsrecht versteht sie Normen, die als solche im Bewußtsein des Volkes leben und unmittelbar in seinem Verhalten eben als Gewohnheit zum Ausdruck kommen. Demgegenüber ist Gesetzesrecht die Summe der von den verfassungsmäßig dazu berufenen Organen ausdrücklich gesetzten und verkündeten Normen. Allein diese Unterscheidung ist f ü r die Erfassung des modernen Rechts in bestimmten Erscheinungstypen nicht ausreichend. Gewohnheitsrecht im strengen Sinne gibt es — das hat schon die historische Schule richtig gesehen — im modernen Rechtsleben überhaupt nur noch ausnahmsweise. Es ist recht eigentlich ein Rechtstypus früher Entwicklungsstufen, in denen das Recht noch wenig kompliziert und wirklich allen Gliedern der Gruppe bekannt ist. Ein Beispiel bieten etwa die Weistümer des deutschen Mittelalters, die die lokalen Rechtsgewohnheiten und die Rechte der Grundherrschaft und der Bauern festhalten. Schon f ü r das spätere Schöffenrecht, wie es etwa in den mittelalterlichen Städten so reich entwickelt war, treffen die Merkmale des Gewohnheitsrechts im Grunde nicht mehr zu; denn hier gibt es schon eine sozial hervorgehobene Gruppe, in der allein das vollständige Rechtswissen überliefert wird: es ist, mit Max Weber zu sprechen, Honoratioren-Recht. Die moderne Rechtswissenschaft faßt denn auch unter den Begriff des Gewohnheitsrechts im Grunde zwei ganz andere Erscheinungen: das Juristenrecht und den Gerichtsgebrauch, das Recht, das in richterlichen Entscheidungen lebt. Hier handelt es sich aber um etwas grundsätzlich anderes. 130

Das Recht als Kulturcrsdieinung

Was Juristenrecht als T y p ist, läßt sich am besten an der Entwicklung des klassischen römischen Redits demonstrieren. Rechtskenntnis war im Rom des 2. und 1. vorchristl. Jh. das Vorrecht von Persönlichkeiten der beiden oberen Stände, der Senatoren und (später) der Richter; sie gaben sowohl Privatleuten wie Magistraten Rechtsauskünfte über bestimmte Fälle. Diese „Gutachten", Responsa berühmter Juristen, wurden aufgezeichnet und gesammelt. Ihre „Geltung" beruhte auf dem Ansehen des Autors. So entstand eine Fülle von Rechtsbelehrungen über bestimmte Fälle. Sie wuchsen bis in das 3. Jh. n. Chr. hinein und wurden schließlich als Bestandteil des geltenden Rechts betrachtet. Hier haben wir die typischen Züge des „Juristenrechts": Das Recht bildet sich nicht durch Gesetze oder sonstige Akte der Staatsgewalt, sondern auf der Grundlage einzelner Normen durch die juristischen Meinungen einer Gruppe von Pvechtskennern, die einer sozial ausgezeichneten Gruppe angehören und deren Ansichten daher Autorität besitzen. Ähnliche Erscheinungen lassen sich auch in anderen Epochen beobachten. So hat sich z. B. das auf den Universitäten des Mittelalters gelehrte „Gemeine Recht" ebenfalls durch die Ansichten der Gelehrten, der Doctores, wie sie in Gutachten (Consilia) und wissenschaftlichen Werken niedergelegt waren, weiterentwickelt. Die „communis opinio doctorum" galt gesetzesgleich. In der Gegenwart spielen in vielen Ländern, z. B. in USA und in den westlichen Ländern des europäischen Kontinents, die Meinungen der Rechtswissenschaft eine ähnliche, wenn auch bescheidenere Rolle. Demgegenüber versteht man unter Richterrecht ein Recht, das in den Entscheidungen der Gerichte niedergelegt ist und sich dort weiterentwickelt. Das klassische Beispiel ist das anglo-amerikanische Common Law. Hier herrscht die Auffassung, daß das „Common Law" eine Summe von Rechtssätzen sei, die in den Entscheidungen der englischen bzw. amerikanischen Gerichte in Erscheinung treten. Es gelten die Grundsätze, die das Gericht einer Fallentscheidung unmittelbar zugrundelegt. (Im Gegensatz zu Nebenbemerkungen: sogen, obiter dicta.) Audi diese Entwicklung war naturgemäß nur möglich, weil die englischen Juristen als geschlossene Gruppe sich ein großes Maß von sozialem Ansehen und Einfluß über Jahrhunderte zu erhalten gewußt haben. Richterrecht ist in der modernen Welt typisch f ü r die Länder des Common Law: England als das Ursprungsland, USA und frühere englische Besitzungen wie Kanada oder Indien. Diese Länder bilden einen großen Rechtskreis der modernen Welt. 131

Kapitel III

Obwohl das Common Law in seiner Geschlossenheit einzigartig ist, haben die Gerichtsentscheidungen doch auch in den kontinentalen Rechtssystemen neben dem gesetzten Recht und den Lehrmeinungen der Wissenschaft erhebliches Gewicht, so daß man nun auch hier vom „Richterrecht" zu reden beginnt. Was das Gesetzesrecht angeht, so bedeutet es, daß dort, wo es ausschließlich gilt, die Konzentration der Rechtsbildungen bei den politisch führenden Staatsorganen liegt und es damit ein Kennzeichen einer ausgebildeten Suprematie der politischen Führung ist. Das gilt, gleichgültig, ob es sich dabei um einen absoluten Monarchen oder um eine parlamentarische Majorität und die sie führende Regierung handelt. Der Anspruch, das Rechtsleben ausschließlich zu beherrschen, ist denn von großen Gesetzgebern auch immer wieder zum Ausdruck gebracht worden, indem sie durch strenge Anweisungen jede freie wissenschaftliche Interpretation untersagen und damit die Entwicklung von Juristenrecht verhindern wollten. Solche Gesetzgebung gehört dem historischen Typus nach zu einem Staatswesen, in dem eine starke Zentralgewalt über eine straff organisierte Bürokratie verfügt, der auch die Rechtspflege aufgetragen ist. Sie paßt daher zu dem spätröm. Kaiserstaat, dem Dominat, und es ist nicht zufällig, daß der erste Herrscher, der im Mittelalter wieder eine Staatsorganisation zu schaffen versuchte, die jener ähnlich und die zugleich sozusagen ein „Vorgriff" auf den modernen Staat war, nämlich Friedrich II. von Hohenstaufen, eine Gesetzgebung nach justinianischem Vorbild geschaffen hat, den „Liber Augustalis" von 1231.

In diesen Zusammenhang gehört auch die moderne Kodifikation, wie sie f ü r das kontinentale Europa charakteristisch ist. Trotzdem stellt sie, aus besonderen historischen Bedingungen hervorgegangen, einen Typ eigener Art mit unverwechselbaren Zügen dar, der nicht einfach mit dem T y p der gesetzesbeherrschten Rechtsordnung schlechthin in eins gesetzt werden darf. Die Idee der modernen Kodifikation ist aus der Aufklärung hervorgegangen, aus deren Kritik am überlieferten Recht und ihren eigenen positiven Forderungen. Der überlieferte T y p des Juristen- und Richterrechts — sowohl auf dem Kontinent wie in England — wurde von der Aufklärung wegen seiner historischen Zufälligkeit und irrationalen Besonderheiten und deswegen kritisiert, weil es den Bürger der Willkür der Richter auslieferte. Bentham hat das Common Law seiner Zeit „Dog-Law", Hunderecht genannt, weil man aus ihm erst durch' die Strafe wie ein H u n d bei der Abriditung erführe, daß ein Verhalten verboten und 132

Das Recht als Kulturersdieinung strafbar sei. Demgegenüber forderte die Aufklärung Gesetze, die jede richterliche Willkür ausschließen und daher allumfassend sein sollten. Sie sollten Gleichheit und Freiheit der Bürger herstellen, gewissermaßen die Ausführungsgesetze des Gesellschaftsvertrages sein, welcher die bürgerliche Gesellschaft begründet hatte. Die Kodifikation ist also mit der Reform verbunden. Der Bürger sollte die Rechtsregeln kennen können, daher sollten sie klar und systematisch aufgebaut und in faßlicher, durchsichtiger Sprache geschrieben sein; die Rechtsregeln sollten, unter Verzicht auf Kasuistik, in Prinzipien niedergelegt sein. Einem Gesetz, das die Verhältnisse regelte, die alle Bürger betrafen, dem eigentlichen Bürgerlichen Gesetzbuch, sollten Spezialgesetze für einzelne Berufsstände oder Materien, wie das Handelsgesetzbuch für die Kaufleute, angefügt werden. Nach diesen Grundsätzen, die am vollständigsten und klarsten der Engländer Bentham ausgesprochen hat, sind die ersten großen Kodifikationen, der Code civil und das österreichische ABGB gearbeitet. Möglich war das nur, weil die Rechtswissenschaft sich seit zwei Jahrhunderten um eine systematische Darstellung des Rechts nach Prinzipien bemüht hatte. Trotzdem bedurfte es noch der Arbeit zweier Generationen, bis diese Form der Gesetzgebung geschaffen war. Heute ist die Idee der Kodifikation typisch für die Gesetzgebung der Länder des europäischen Kontinents; aber auch Lateinamerika, die Türkei und Ägypten und im fernen Osten Japan haben sie akzeptiert. Diese Länder bilden den Rechtskreis des „Civil Law". Auch die kommunistischen Länder Europas haben an der Kodifikationsidee festgehalten. II. Die Vielfalt der rechtlichen Erscheinungen, die uns die Kulturgeschichte zeigt, ist nicht so gestaltet, daß sich nicht gewisse übergreifende, allgemeine Gesichtspunkte ergeben. 1. Es gibt zunächst gewisse Grundthemen, die in der einen oder anderen Form in jeder Rechtsordnung wiederkehren, weil sie mit den Aufgaben des Rechts und den Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens zusammenhängen. Ein erstes Grundthema ist die Organisation der Gruppe selbst und ihrer Führung. Jede größere menschliche Gruppe bedarf einer Organisation, in der sie handeln kann: Mag der Abstand von der Autorität des erfahrenen Jägers, der unter den Eskimos sozialen Einfluß ausübt, und der verfassungsmäßig begründeten Regierungsgewalt einer modernen Demokratie noch so weit sein: hier ist das gleiche Thema angeschlagen. 133

Kapitel III

Unter den Aufgaben, die Recht und „Regierung" gestellt sind, steht die Wahrung von Frieden und Ordnung, die Unterdrückung von Gewalt und Rechtsbruch an erster Stelle. Goethes Wort „ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen" 1 steht mit dem Zeugnis der Rechtsgeschichte durchaus in Einklang. Mit dieser Aufgabe steht die Entwicklung der Strafe als Sanktion der Rechtsordnung in engem Zusammenhang. Entgegen einer These, die vor allem dem 18. Jh. teuer war, hat es das Recht niemals nur mit Individuen, sondern stets auch mit Gruppen zu tun; ja, wie wir noch sehen werden, in frühen Entwicklungsstadien vor allem mit Gruppen. Daher bilden Regeln über die Organisation der Familie und Familienverbände, von ständischen oder beruflichen Gruppierungen oder freiwillig gebildeten Vereinigungen einen weiteren Bestandteil der Rechtsordnung. Schließlich fehlt in keiner Rechtskultur eine Eigentums- oder weiter gefaßt eine Wirtschaftsordnung und im Zusammenhang damit eine Austausch- oder Vertragsordnung gänzlich — mag diese Ordnung auch, verglichen mit der gewaltigen Entfaltung dieser Ordnungen in der modernen Industriegesellschaft westlicher Prägung, noch so rudimentär sein. Ob das Land der Gruppe (dem Dorf, der Groß- oder KleinFamilie) oder dem einzelnen gehört, wer seine Bewirtschaftung bestimmt, wer es veräußern darf, ob und wie es sich vererbt: das sind Rechtsfragen, die eine Regelung verlangen, sobald ein Volk seßhaft geworden ist und den Boden bebaut. U n d der Vertrag erscheint, sobald der Austausch von Gütern stattfindet: und sei es auch nur in jener Form des Hinlegens der Tauschware in Abwesenheit des Tauschpartners, wie es Malinowski f ü r die Trobriander beschrieben hat 2 . 2. Das Recht dient ferner klar umreißbaren Zielsetzungen, die wir immer wieder auftauchen sehen: Sicherheit und Friede, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit. Die Rechtsordnung ist Friedensordnung. Das zeigen uns vor allem ihre Anfänge. Der Friede und das Recht kommen gemeinsam; das Recht bringt den Frieden, und Herstellung des Friedens ist Voraussetzung f ü r die Entfaltung des Rechtes. Uberall, wo Recht sich entwickelt, löst es den gewaltsamen Kampf ab und setzt eine friedliche Lösung an seine Stelle. Rechtsverfahren tritt an Stelle von Selbsthilfe. In diesem Sinn kann man sagen, daß das Verbot der Eigenmacht der Beginn und die dauernde Grundlage der Rechtsordnung ist. Der Beginn der Rechtsentwicklung bei den Germanen, 1 2

Belagerung v o n M a i n z (Artemis-Ausg. Bd. 12), S. 456.

D a z u Malinowski, 30, 31.

134

Crime and Custom in Savage Society (1926), S. 22,

Das Recht als Kulturerscheinung

Römern und Griechen, aber auch bei den Arabern, ist die allmähliche Uberwindung der Blutrache und Blutfehde. Sie wird zunächst an gewisse Formen gebunden 3 und dann durch Sühneverträge ersetzt, deren Abschluß schließlich erzwungen wird. Selbst das moderne Privatrecht, bei dem uns heute der Gedanke an gewaltsame Auseinandersetzungen so fern liegt, geht in seinen geschichtlichen Grundlagen zum Teil auf solche Sühneverträge zurück. Der geschichtliche Vorläufer des modernen Schadensersatzanspruches ist die Bußzahlung. Die Buße aber wiederum ist ursprünglich Ablösung der Rache. Ein Hauptproblem der mittelalterlichen Rechtsentwicklung ist die Überwindung der Fehde 4 ; ihr dient die Landfriedensgesetzgebung und die Ausbildung des Besitzprozesses im kanonischen Recht. Es ist typisch, wenn das letztere erklärt, daß zurückgegeben werden muß, was durch Eigenmacht erlangt ist — ehe überhaupt die Rechtslage verhandelt wird. Mit dem „Ewigen Landfrieden" von 1495 setzt die Entwicklung des gemeinen Reichsrechts in Deutschland ein. Die staatsrechtliche Ordnung des politischen Lebens setzt an die Stelle des gewaltsamen Kampfes um die Macht eine Friedensordnung, die die politische Auseinandersetzung an bestimmte friedliche Formen bindet. O f t ist sie das Ergebnis schließlicher Verständigung nach vorangegangener kriegerischer Auseinandersetzung gewesen. Die Ordnung der römischen Republik war das Ergebnis der Kämpfe zwischen Patriziat und Plebs. Das moderne demokratische Verfassungsrecht hat seine Wurzel in den englischen Bürgerkriegen, in denen sich Krone und Bürgertum, Hochkirche und Freikirchen auseinandergesetzt hatten. Es ersetzt den Bürgerkrieg durch den rechtlich geordneten Wahlkampf. Die Geschichte der totalitären Staaten der Gegenwart lehrt, daß umgekehrt da, wo diese Verfassung verlassen wird, Verfolgung, Verschwörung und Revolution, also gewaltsamer Kampf um die Macht, nicht fern sind. Sie zeigt uns also die Entwicklung im umgekehrten Sinn. Die gleiche Tatsache zeigt die Geschichte des römischen Reiches; mit dem Ende der republikanischen Verfassung begann ein bewaffneter Kampf um die Macht, und da Augustus keine Staatsverfassung schuf, welche die Nachfolge regelte, begann dieser Kampf nach dem Tode des jeweiligen Princeps häufig neu. Dem modernen Beobachter wird die Verbindung von Frieden und Recht vor allem am Völkerrecht deutlich. Den Frieden zu schaffen und zu sichern, ist sein Kernproblem. Was das Völkerrecht zu3 Hierin sieht auch Horvath, „Keim des Rechtsgedankens". 4

vgl. etwa Thieme,

Rechtssoziologie (1934), S. 149 Anm. 2, den

Friede und Recht im mittelalterlichen Reich (1945).

135

Kapitel III

nächst erreicht hatte — auch das ist durdi die moderne politische Entwicklung bedroht — war eine gewisse Formalisierung des Krieges: die Bindung an bestimmte Formen bei der Kriegserklärung, die Einhaltung gewisser Grenzen bei den kriegerischen Handlungen selbst, sowie gegenüber der Zivilbevölkerung. Worum immer wieder gerungen wurde, war die Bindung des Rechtes zum Kriege an bestimmte Gründe. Seit dem Ersten Weltkrieg hat nun eine Phase begonnen, für welche der Kellog-Pakt charakteristisch ist. Der Krieg soll überhaupt überwunden und durch Rechtsverfahren ersetzt werden. Das erst wäre die Vollendung des Völkerrechts. Der Kampf um den Frieden und der Kampf um die Aufrichtung des Rechtes sind hier untrennbar verbunden. Aber auch das moderne Arbeitsrecht zeigt uns ein ähnliches Bild. Es versucht, die Kämpfe zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum an gewisse Regeln zu binden (z. B. dadurch, daß nur bestimmte Streiks für rechtmäßig erklärt werden) und sie einzuschränken, indem es Tarifverträge begünstigt und evtl. Ausgleichsstellen für die streitenden Parteien zur Verfügung stellt. Der wirtschaftliche Kampf durch Streik und Aussperrung soll nach Möglichkeit durch rechtliche Verfahren ersetzt werden. Rechtshilfe soll an die Stelle von Selbsthilfe treten. Das Ergebnis der geschichtlichen Betrachtung wird durch einen Blick auf den inneren Aufbau der Rechtsordnung bestätigt. Das Ziel des Rechts ist die friedliche Schlichtung von Interessenkonflikten. Dies scharf gesehen zu haben, ist eines der Vorzüge des antiken römischen Rechts. Mit Recht ist von diesem Gesichtspunkt aus die Rechtstheorie der sogen. Interessenjurisprudenz entwickelt worden5. Streit zu schlichten ist die Grundaufgabe des Richters, das erste Ziel sowohl der allgemeinen Rechtsordnung wie häufig der Verträge. Hierdurch bestimmt sich der Gegenstand des Rechts, der Umkreis der sozialen Vorgänge, die vom Recht geordnet werden. Die Rechtsordnung greift da ein, wo ein Interessenkonflikt vorliegt, an dem die Gemeinschaft (Gruppe) Anteil nehmen muß, weil er zu einer Gefahr für den Frieden innerhalb der Gruppe werden kann, mag dieser Konflikt zwischen einzelnen oder Gruppen bestehen. Wenn die UN-Satzung ein völkerrechtliches Verfahren für alle Streitfälle vorsieht, „the continuance of which is likely to endanger the maintenance of international peace and securityso findet darin ein charakteristisches Prinzip der Rechtsbildung seinen Ausdruck. Auf die gleiche Weise hat auch die 5 vgl. etwa Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Arch. f. d. ziv. Praxis 112, S. 17.

136

Das Redit als Kulturerscheinung

Entwicklung der anderen Rechtsgebiete begonnen. Hierdurch grenzt sich das Gebiet des Rechts von dem des gesellschaftlichen Brauches und der gesellschaftlichen Sitte ab. Auch die Tatsache, daß der Reditsforderung grundsätzlich genügt ist, wenn ihr durch äußeres Verhalten gehorcht wird — im Gegensatz zur Moral —, hängt mit dieser Tatsache zusammen. Den öffentlichen Frieden bricht die Gewalttat, nicht die Gesinnung allein. 3. Das zweite Ziel der Rechtsordnung ist Sicherheit. Die Sicherheit, die das Recht gewährt, ist in seiner Unverbrüchlichkeit begründet. "Was rechtlich festgelegt ist, soll der Willkür entzogen sein; weder der, der das Recht setzt, noch der, an den es sich wendet, darf es verletzen. Es soll dauern; man kann sich darauf verlassen. Man kann damit als einer festen Größe rechnen, die der Veränderung entzogen ist. Der Mensch kann sich darauf einrichten; er kann sein Leben im Schutze dieser Ordnung aufbauen 6 . Die Tendenz des Rechtes zur Dauer hat in Rechtsurkunden und Gesetzen selbst immer wieder ihren Ausdruck gefunden. Besonders deutlich ist die Sprache der mittelalterlichen Privilegien; immer wieder wird hier betont, daß die Verleihung fest und sicher sein soll und von jedem zu beachten sei. So heißt es etwa in einer Privilegienbestätigung für Frankfurt: „ . . . und haben darumb mit wolbedachtem Mute, gutem Rate und rechter Wissen in und yren Nachkommen die vorgeschriebenen Brieve, Gnade und Friheite . . . und alle andere yre Gnade, Rechte, Fryheite und Gewonheite, aide und nuwe, . . . gnadicleich vernewet, bestetigt und bevestet und in die auch von neves in K r a f t diess Brieffs und Romischer kungleicher Machtvollkommenheyt und meynen Sätzen und wollen dass es fürbasz mehre daby bliben, und der auch gebruchen und geniesen sollen und mögen, von aller meyncleich ungehindert. U n d gebieten darumb allen und iglichen Fürsten, geistlichen und werhtlichen, Graven, Fryen, Rittern, Knechten, Landrichtern, Amptleuten, Bürgermeistern, Raten und Gemeynden und allen unsern und des Reiches Untertanen und Getruwen ernstlich und vesticleich mit diesem Brieff, das sy die vorgenanten Schöffen, Rate und Bürgers . . . zu Frankenfurt by den vorgenanten Gnaden und Fryheiten getrulich handhaben, schirmen und getrulich belieben lassen, by unseren und des Reiches Hulden." 7 6 Eine tiefgehende Untersudiung über das Vertrauen auf das Bestehende, auf die Kontinuität, als durchgehende Erscheinung im menschlichen Dasein, z. B. im Verhältnis zur Natur bei C. A. Emge, Sicherheit und Gerechtigkeit (1940), S. 8 ff. 7 Aus der Frankfurter Privilegienbestätigung durch Sigismund 1414: Pacta et Privilegia 1729, S. 256—258.

137

Kapitel III Aber auch im Vertragsrecht tritt dieser Zug hervor. Deutlich unterscheidet sich das Stadium unverbindlicher Vorverhandlungen und Besprechungen vom rechtlich bindenden Vertrag. Erst mit seinem Abschluß tritt die Bindung ein; nun liegen die Dinge fest; man weiß, was man zu tun und zu lassen hat, was man sicher vom anderen erwarten kann. N u n gibt es kein Zurück mehr; der Vertrag ist der Willkür der Parteien entzogen; man kann mit ihm rechnen. Das gleiche giit vom verkündeten Rechtssatz; er bindet auch den rechtsetzenden Herrscher selbst. Mit Recht hat die moderne allgemeine Rechtslehre dieses Problem der Selbstbindung des Gesetzgebers immer wieder behandelt 8 . Im alten Recht ist diese W i r k u n g an die feierliche Form, an Gebärde und gesprochene Wortformel g e k n ü p f t ; das formelle W o r t bindet den Mann, wie es im Gebet die Gottheit bindet und im Z a u berspruch übermenschliche K r ä f t e verpflichtet. A n r u f u n g der G o t t heit und Eidschwur können hinzutreten. Mitteis hat den altrömischen Formelvertrag der Sponsio damit in Verbindung gebracht, und nach dem mittelalterlichen Recht w a r die beschworene Schuld von besonderer Wirkung. All das hängt mit der Unverbrüchlichkeit der eingegangenen Rechtsverpflichtung zusammen. Das gewöhnliche W o r t kann die gewaltige Bannwirkung nicht hervorrufen, wie sie die rechtliche Verpflichtung in sich trägt. Besonderer, sinnfälliger und erprobter Formen bedarf es, und die Götter selber wachen über die Sicherheit des gegebenen Wortes. Aber auch ausdrücklich heben Vertragsurkunden die unverbrüchliche Dauer des geschlossenen Vertrages hervor. In alten ägyptischen (demotischen) K a u f v e r t r ä g e n heißt es: „ D u hast gegeben; mein H e r z ist mit dem Gelde zufrieden. Ich habe es Dir gegeben, Dir gehört es. Ich habe ihren (der Kaufsache) Preis in Silber von D i r empfangen, vollzählig ohne irgendeinen Rest. Mein H e r z ist damit zufrieden. Ich habe dieserhalb kein W o r t der Welt an Dich zu richten, noch soll es irgendein Mensch der Welt können. Dein ist es von dem heutigen Tage auf immerwährende Zeiten, und es steht weder mir noch jemandem andern außer Dir zu, von dem heutigen Tage fürderhin über die Sache zu schalten. Wer ihretwegen (der Kaufsache wegen) gegen Dich auftreten wird in meinem N a m e n oder in dem N a m e n irgend jemandes in der Welt, den entferne ich von Dir." 9 Wenn auch die Formeln sich präzisieren und abschleifen, so finden sich 8

vgl. etwa Somlo, Juristische Grundlehre (1917), S. 308. vgl. Rubel, Die Haftung des Verkäufers wegen Mangels im Recht (1902), S. 38, 39. 0

138

Das Recht als Kulturerscheinung

doch in den Kaufurkunden der Römer und Griechen ebenso wie des Mittelalters die Grundgedanken dieses Formulars immer wieder. Der Käufer soll die Kaufsache f ü r immer haben; niemand soll sie ihm streitig machen; weder der Verkäufer noch seine Erben werden ihn in seinem Besitz stören; auf ewig verzichten sie auf die Sache 10 . Deutlich kommt in all diesen Klauseln zum Ausdruck, daß der Vertrag ewige und unverbrüchliche Wirkungen haben soll. Im modernen Geschäftsverkehr sind diese feierlichen Formeln verschwunden; übrigens nicht durchaus zum Vorteil des Rechts. Das moderne Recht entbehrt der Würde; es ist allzu billig geworden und spricht die Phantasie der Menschen nicht mehr an. Es entspricht nun einmal der menschlichen N a t u r — auch beim modernen Menschen — daß feierliche Akte ihm größeren Eindruck machen, fester in seinem Gedächtnis haften als formloses alltägliches Geschäftsgebahren oder formlose Unterhaltungen. Form und Würde sind geeignet, ihm die endgültige, bindende Wirkung des Rechtsaktes vor Augen zu führen und einzuprägen. Das Militär wußte, warum es an der Förmlichkeit des Fahneneides festhielt, obwohl die Rechtstheorie ihn f ü r bedeutungslos für die Existenz des Soldatenverhältnisses erklärte. Darum sollte auch die Rechtsordnung nicht leichthin auf Äußerlichkeiten verzichten, auf denen ein großer Teil seiner faktischen Wirkung und Geltung beruht. Im Stil der völkerrechtlichen Urkunden hat sich denn auch diese Feierlichkeit zum Teil noch erhalten. „S. M. der König von Preußen, . . . S. M. der König von Bayern usw. . . . schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes" lautete die Präambel zur Verfassung des Deutschen Kaiserreiches, die auf einem völkerrechtlichen Vertrag beruhte. Auch in den Verfassungsurkunden, in denen sich ein Volk sein Grundgesetz gibt, wird häufig die Unverbrüchlichkeit und ewige Dauer des Rechtes betont. Der hervorstechendste Zug des sogen. Naturrechts als des Rechtes x a t ' ^ o ^ v ist seine ewige Dauer im Wechsel der Zeiten. Unverjährbar und unveräußerlich nennt die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte die Grundrechte des Menschen. In der modernen Rechtstheorie tritt dieser Wesenszug als Prinzip der Rechtssicherheit hervor. Es wird von der Interessenjurisprudenz mit Recht auf die menschlichen „Kontinuitäts-" und „Stabilitätsinteressen" zurückgeführt, die sich jeder unkonsentierten Änderung bestehender Rechtspositionen entgegensetzen. Rechtssicherheit bedeutet, 10

vgl. Rubel, aaO., S. 39 ff.

139

Kapitel III

daß einmal begründete Rechte, Macht- und Besitzpositionen 11 unangefochten und unbeeinträchtigt bestehen bleiben, daß einmal gefällte Rechtsentscheidungen aufrechterhalten werden. Der Rechtssicherheit dienen alle Veranstaltungen, die der Klarstellung und Erhaltung bestehender Rechte dienen, wie etwa die Einrichtung der Grundbücher und der öffentlichen Register, das Erfordernis urkundlicher Festlegung und ähnliches, prozessuale Institutionen wie die Rechtskraft, privatrechtliche wie das Festhalten am Wortlaut einer einmal abgegebenen Rechtserklärung oder an einem im Rechtsverkehr getätigten Verhalten. Auf der Sicherheit des Rechtes beruht zu großen Teilen seine wohltätige Wirkung. Immer strebt der Mensch danach, dauernde Verhältnisse und Einrichtungen zu schaffen, in deren Schutz er leben kann; er will seine Existenz dem dauernden Wechsel entreißen, sie in feste und geordnete Bahnen lenken und sich dem Ansturm des immer Neuen entziehen. Diese Gewißheit und Berechenbarkeit soll das Recht ihm bieten. Damit hängt die große Bedeutung von Zeitablauf und Tradition f ü r die Festigkeit des Rechtes zusammen. Was lange besteht, hat für den Menschen den Charakter des Vertrauten und Sicheren, also gerade dessen, was er im Rechte sucht 12 . Je länger ein Recht besteht, desto mehr wird es seiner Aufgabe, Rechtssicherheit zu geben, gerecht werden können, um so sicherer werden sich die Menschen in seinem Schutze fühlen. Junges Recht, das eben erst entstanden ist, ist sozusagen gar kein Recht; erst was Generationen besteht, wird wirklich als dauernde Ordnung empfunden 1 3 . Das hatte die historische Rechtsschule richtig erkannt. Ein Ausspruch von Thomas, einem Freunde Jacob Grimms, bringt insofern eine typische Juristenhaltung zum Ausdruck: „Ich neige jederzeit zum Erhalten und halte das Zerstören jedenfalls f ü r eine Impietät, die durch N o t entschuldigt, aber nie gerechtfertigt werden kann." Die Geschichte der großen Rechtsvölker zeigt einen traditionellen konservativen Zug. Die Römer haben ihr Recht aus den unscheinbaren Anfängen der Zwölftafelgesetzgebung entwickelt; die römischen Juristen legten ängstlichen Wert darauf, die Tradition nicht abreißen zu lassen; wenn irgend möglich, wurde das Neue mit alten Formen und Gedanken verknüpft. Es war 11

vgl. dazu M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1966), S. 413.

12

Georg Jellinek hat aus dieser Tatsache in seiner Theorie von der normativen Kraft des Faktischen das Recht überhaupt ableiten wollen. Vgl. Allgemeine Staatslehre (3. Aufl., 7. Neudrude 1960), S. 337—339. 13

140

vgl. Riezler, Das Rechtsgefühl (2. Aufl. 1946), S. 127.

D a s R e d i t als Kulturerscheinung

im Grunde keine Täuschung, wenn der Spätzeit das alte Ius civile der Volksgesetze, das Ius honorarium der Prätoren und das Werk der klassischen Rechtswissenschaft als Einheit, als das Ius erschien. Es hing alles in sich traditionsmäßig zusammen. Nirgends w a r eine grundsätzliche Reform, die mit dem Alten aufräumte und völlig Neues an die Stelle setzte. Im Bereich des Staatsrechts bietet die Politik des Augustus mit ihrer fast ängstlichen A n k n ü p f u n g an das Hergebrachte eine Parallele. Erst die hellenisch beeinflußte Spätzeit beginnt mit dem rechtlichen Experimentieren. D a s gleiche Bild bietet die englische Geschichte. Der moderne Parlamentarismus Englands wuchs aus dem mittelalterlichen Ständestaat hervor; das englische Common L a w geht in ununterbrochener Rechtsbildung auf das Mittelalter zurück. Eine Rezeption des römischen Rechts f a n d nicht statt. Auch hier hat man am Gebäude des Rechts wohl an- und neugebaut. Aber nie wurde ein völliger Neubau aufgeführt. D a s scheint sich auf die amerikanischen Juristen übertragen zu haben. Sie haben das Common L a w rezipiert; selbst in den früher spanischen und französischen Staaten, mit Ausnahme des Privatrechts in Louisiana, ist es angenommen worden, und auch die amerikanische Verfassung steht schon über fünf Generationen in K r a f t . Andererseits liegt in dem Traditionalismus naturgemäß auch die Gefahr der Erstarrung. Weil das Recht darauf gerichtet ist, im Wechsel zu beharren und das Bestehende zu konservieren, ist es stets in Gefahr, dem sich wandelnden Leben gegenüber schnell zu veralten und ungerecht zu werden. Wenn nur die Länge der Tradition entscheidet, muß auch erhalten werden, was als ungerecht oder unzweckmäßig erkannt wird. Es wird dann die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, wie K a r l M a r x der historischen Rechtsschule entgegengehalten hat 1 4 . Dagegen erhebt sich dann die Revolution, der bewußte Rechtsbruch, um eine bessere Gerechtigkeit herbeizuführen. 4. Es ist daher begreiflich, daß die Rechtstheorie immer wieder — und besonders die scharfsichtige moderne Rechtstheorie 15 — das Recht einfach' als Ausdrude von Machtverhältnissen, als Niederschlag von Machtentscheidungen aufgefaßt hat und sich damit begnügt hat, diese hinzunehmen. Aber gerade in dem Widerspruch, den diese Auffassungen immer wieder gefunden haben, ebenso wie in dem Wider1 4 Zur K r i t i k der Hegelschen Rechtsphilosophie (Ausgabe Lieber B a n d 1), S. 490. 1 5 S o der Positivismus in seinen verschiedenen Formen, auch die Interessenjurisprudenz, auch die reine Rechtslehre.

141

Kapitel III

sprach, welchem die Erstarrung und Machtverfestigung im Recht immer begegnet ist, zeigt sich, daß der Mensch vom Recht noch etwas anderes, noch mehr erwartet als nur Ordnung und Sicherheit — mögen sie inhaltlich beschaffen sein, wie immer sie wollen 16 . Mag dem Staate, wie Goethe es klassisch formuliert hat, nur daran liegen, daß der Besitz gewiß und sicher sei, die Menschen haben stets danach gefragt, ob mit Redit besessen werde. Darin zeigen sich nun die weiteren Tendenzen, von denen wir zu Anfang gesprochen haben: die Tendenz zur Verwirklichung sittlicher Werte. Obenan steht hier die Gerechtigkeit 17 . D a ß Recht und Gerechtigkeit verbunden sind, zeigen schon die oben erörterten sehr alten Vorstellungen, die das Recht mit der Gottheit in Verbindung bringen. Wenn die Griechen die Göttinnen Themis und Dike verehren, so zeigt sich darin nicht nur der geweihte, sondern auch der sittliche Charakter des Rechts. Auch das Ethos des Richters, der das Recht handhabt und verwirklicht, erscheint von jeher mit der Gerechtigkeit verbunden. Die Beispiele wären zahllos. „Equal Justice under L a w " steht am Gebäude des amerikanischen Supreme Court; der Richter im Athen der klassischen Zeit leistete seinen Eid dahin, daß er richten wolle nach den Gesetzen des Volkes von Athen und gerechtester Überzeugung 18 . Feuerbach sagt in seiner Ansbacher Ansprache: „Der Ungehorsam ist dem Richter eine heilige Pflicht, wo der Gehorsam Treubruch sein würde, gegen die Gerechtigkeit, in deren Dienst er allein gegeben ist." Auch in der Rechtsentwicklung sehen wir sittliche Motive mit am Werk. Wenn die Prätoren eine Reihe von sorgfältig ausgearbeiteten neuen Klagetypen zur Verfügung stellen, wenn die römischen Juristen der klassischen Zeit die Konsequenzen der bona fides oder des dolusVerbotes im einzelnen entwickelten, so stand dahinter der Wunsch 16 Es gibt freilich in jedem Recht Materien, in denen nur der Ordnungsgedanke eine Rolle spielt: z. B. Verkehrsregelung, aber auch Altersgrenzen usw. Vgl. dazu C. Schmitt, Gesetz und Urteil (1912), S. 49. Hier hat das „bloße Entschiedensein" Bedeutung, das „wie" ist gleichgültig. 17 Übrigens sollte man den Gegensatz von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit nicht überspannen. In der Gerechtigkeit selbst liegt ein Zug des Berechenbaren, daher Sicheren. Vgl. unten, S. 188 f., 211 ff. Emge, Sicherheit u. Gerechtigkeit (1940), will beide auf eine Wurzel zurückführen: die Forderung des gesetzmäßigen Verhaltens. Das gelingt aber nur, weil er einen formalen Begriff der Gerechtigkeit zu Grunde legt. 18

142

vgl. Lipsius, Das Attische Recht und Rechtsverfahren, I (1905), S. 152.

Das Recht als Kulturerscheinung nach einer sachgerechten Entscheidung des Einzelfalles. Wenn man der Entwicklung des modernen Zivilrechts in einem beliebigen Kulturlande in Einzelfragen nachgeht, was findet man anderes als den immer erneuten Versuch, für immer neue und immer etwas anders gelagerte Fälle eine billige Entscheidung zu finden? Man nehme etwa die Entwicklung der deutschen Rechtsprechung, die sich an den Gedanken des Rechtsscheins anlehnt, z. B. hinsichtlich des Ausschlusses der Anfechtung bei der Gesellschaftsgründung, und man wird als Motiv kaum etwas anderes finden als eben das Interesse an einer sachgemäßen, billigen Lösung des Einzelfalles. Es wäre eine lohnende Aufgabe zu studieren, in welcher Hinsicht die moderne Rechtsprechung in den Ländern des Kontinents Rechtssätze in Abweichung von oder in Ergänzung zu den Gesetzen gebildet hat: ich glaube, man würde überall eben dieses Motiv feststellen können. In der Entwicklung des Rechts spielen also nicht nur Machtbegründung und Machtumwälzung eine Rolle. Hier urteilen viele nur zu sehr aus der Betrachtung des eigentlich politischen Rechts. In der Fortbildung des Rechts sind mindestens ebenso sehr sittliche Motive wirksam gewesen. In der Entwicklung des römischen Vertragsrechts hat sich nach dem treffenden Ausdruck eines führenden deutschen Romanisten der Gedanke der bona fides als schöpferische K r a f t erwiesen 19 . Von diesen Gedanken aus und von dem dolus-(Arglist-) Verbot her ist das römische Vertragsrecht im Laufe der Zeit auf völlig neue Grundlagen gestellt worden. Die mittelalterliche und neuzeitliche Jurisprudenz hat diese Gedanken weitergeführt; überall im modernen Privatrecht finden wir ihre Spuren. Neben Gerechtigkeit und Billigkeit treten hier also weitere sittliche Vorstellungen auf den Plan: Treue und Redlichkeit. Ein großer Teil der Arbeit der modernen zivilistischen Wissenschaft besteht gerade darin, festzulegen, weldie Pflichten sich im Rahmen der Gesetze im Einzelfall aus diesen Grundwerten des Privatrechts ergeben. Betritt man den Bezirk des öffentlichen Rechts, so zeigen sich auch hier sittliche K r ä f t e am Aufbau der Rechtsordnung beteiligt. Das Prozeßrecht ist, je mehr es sich entwickelt hat, unter dem Einfluß sittlicher Motive ausgestaltet. Unabhängigkeit und Gerechtigkeit des Richters sind seine Grundlagen. Ebenso steht es mit dem Strafund Verwaltungsrecht. Hier tritt uns vor allem der sittliche Gedanke der Achtung vor der Persönlichkeit entgegen. Er ist dem Rechte auch sonst nicht fremd. Schon im altnordischen Recht begegnet im Zusam19 vgl. Kunkel, Fides als schöpferisches Element im römischen Schuldrecht, in Festschrift f. Paul Kosdiaker II (1939), S. 1 ff.

143

Kapitel III

menhang mit dem Rechtsfrieden die „Mannheiligkeit", die Unantastbarkeit des im Rechtsfrieden Stehenden 20 . Ist damit noch die einfache Achtung des Lebens des Rechtsgenossen gemeint, so ist die Geschichte des öffentlichen Rechts durchzogen vom Kampfe um die Freiheit. Wo zum erstenmal der Gedanke einer rechtlichen Beschränkung der Staatsgewalt auftaucht, in den Stadtstaaten Griechenlands, da geschieht das, weil man der Willkür entgegentreten und das gerechte Gesetz, den vö^o?, an die Stelle setzen will. Der Gedanke der Gerechtigkeit — als Widerspiel der Willkür — ist hier von Anfang an mit dem sittlichen Gedanken der persönlichen und politischen Freiheit verbunden. In der Verfassung der römischen Republik sind die gleichen Motive wirksam, und die römische Obersdiicht hat den Verlust der libertas niemals ganz verwunden. Das gleiche Bild zeigt die Entwicklung des modernen Verfassungsrechtes. Am Anfange dieser Entwicklung steht die Erklärung der Menschenrechte. Freiheit und Gleichheit werden f ü r alle Menschen gefordert. „We hold these truths to be seifevident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness." 2 1 Auf der Grundlage dieser Ideen hat sich die gesamte rechtliche Entwicklung des modernen Staates in Verfassungs- und Verwaltungsrecht vollzogen. Auf ihnen beruht die Demokratie; auf ihnen beruht der Rechtsstaat. Das gesamte Verwaltungsrecht steht im Zeichen der Freiheitsidee und des Gedankens der Achtung vor der Person des Bürgers. Die großartige Rechtsprechung des französischen Conseil d'Etat ist von dem Bestreben beherrscht, die Grenzlinie zwischen den Interessen einer wirksamen, zweckmäßigen Verwaltung und Freiheit und Eigentum des einzelnen immer wieder und immer genauer zu ziehen. Im angloamerikanischen Rechtskreis hat das gleiche Streben an mittelalterliche Institutionen angeknüpft; tatsächlich lebt in vielen Privilegien und Freiheiten des Mittelalters der gleiche Freiheitsgedanke. Heinrich Mitteis hat gezeigt, wie im Lehnrecht der Treuegedanke willkürbegrenzend und rechtsschöpferisch gewirkt hat 2 2 . — Endlich ist auch das moderne Arbeitsrecht nicht nur klassenkämpferisch erstritten, obwohl diese Komponente gewiß nicht übersehen werden darf, sondern auch unter dem Zwang 20

vgl. dazu etwa ]. Grimm, Vorrede zu Thomas, Der Oberhof zu Frankfurt a. M. (1841); Schröder, Lehrbudi der Deutschen Rechtsgeschichte (3. Aufl. 1898), S. 76. 21

Declaration of Independence.

22

vgl. Mitteis,

144

Lehnrecht und Staatsgewalt (1933), S. 14, 43 ff.

Das Recht als Kulturerscheinung der inneren Gerechtigkeit worden.

der Sache der Arbeiterschaft

geschaffen

I m Strafrecht spielt von altersher der G e d a n k e der gerechten Sühne, des Einstandes v o n Schuld u n d S t r a f e , eine entscheidende Rolle. G e w i ß haben sich alle diese Entwicklungen nicht in einem luftleeren R a u m und nicht ohne Beteiligung gesellschaftlich-politischer K r ä f t e vollzogen. Sicher w a r e n es h ä u f i g bestimmte Schichten, die diese sittlichen Ideen, e t w a die der Freiheit, durchsetzten, und gewiß haben sie, indem sie d a f ü r k ä m p f t e n , zugleich auch ihre materiellen Interessen verteidigt. T r o t z d e m k a n n m a n nicht übersehen, d a ß m a n sich in der Rechtsgeschichte in Tausenden v o n Rechtsentscheidungen ebenso wie bei R e f o r m e n im großen auf sittliche Prinzipien berufen hat, und ihre Bedeutung f ü r die Rechtsgestaltung zu klären, ist daher eine unausweichbare A u f g a b e . Sucht m a n das Verhältnis der verschiedenen Zielsetzungen im Recht zu bestimmen, so liegt es nahe, den v o n N i c o l a i H a r t m a n n eingeführten Begriff der „Schichtung" zu verwenden. D a s Recht ist zunächst Friedensordnung, die der Sicherheit dient. D a s Streben danach bestimmt zunächst U m f a n g und Inhalt dessen, w a s rechtlich geordnet wird. D i e Rechtsnorm entsteht dort, w o Streit herrscht und G e w a l t droht. A b e r diese Friedensordnung k a n n d a n n unter dem E i n f l u ß sittlicher Anschauungen überformt werden. — D i e Idee der Gerechtigkeit w i r k t hier aber nicht frei wie in einer sittlichen Persönlichkeit, sondern eingebunden in den K ö r p e r einer Friedensordnung, die mit zahllosen materiellen Interessen v e r k n ü p f t ist und die ihr eigenes Wesen und Schwergewicht besitzt. Vergleicht m a n verschiedene geschichtliche Rechtsordnungen, so k a n n m a n feststellen, d a ß bestimmte Wesenszüge des Rechts in einzelnen Rechten besonders hervortreten. M a n könnte danach eine Reihe v o n T y p e n aufstellen, an deren einem E n d e Rechtsordnungen stehen würden, die sich im wesentlichen d a r a u f beschränken, gewisse formale Spielregeln f ü r den A u s t r a g sozialer K o n f l i k t e festzulegen, w ä h rend a m anderen E n d e ein a m materiellen Gerechtigkeitsgedanken orientiertes Recht stehen würde. E i n Beispiel f ü r das erste würden e t w a die rechtlichen Zustände bilden, wie sie uns die Isländersagas schildern 2 3 , ein Beispiel f ü r das letztere d a s Zivilrecht der westeuropäischen S t a a t e n . Dazwischen würden Friedensordnungen, wie 23

vgl. dazu A. Heusler, Das Strafrecht der Isländersagas (1911). 145

10

C o i n g ,

Rechtsphilosophie

Kapitel III die mittelalterlichen Landfrieden, ja das mittelalterliche Recht überhaupt 2 4 , stehen, die in erster Linie an Friede und Sicherheit orientiert sind 25 . Aber auch wenn man einen Querschnitt durch ein bestimmtes Recht legt, kann man feststellen, daß die einzelnen Rechtsgebiete sehr verschiedenen Typen zuzuordnen wären. So ist etwa im modernen Recht das bürgerliche Recht in erster Linie an Sicherheit und Gerechtigkeit (Billigkeit) orientiert, während der organisatorische Teil des Staatsrechts einer modernen Demokratie eher eine politische Friedensordnung ist, die bestimmte Spielregeln für einen friedlichen K a m p f um die Macht im Staate festlegt. Auch das derzeitige deutsche Arbeitsrecht (nach Beseitigung der verbindlichen Schiedssprüche), soweit es nicht Einzelvertragsrecht ist, beschränkt sich auf die Festlegung gewisser Regeln für den Austrag der Arbeitskämpfe (Regelung des Streikrechts u. ä.). Im Strafredit tritt der Gegensatz von Ordnungs- und Gerechtigkeitsgedanke in der Unterscheidung von Ordnungs- (Verwaltungs-) und Justizstrafrecht hervor 2 6 . Auch das Völkerrecht hat Regeln von materiellem Gerechtigkeitsgehalt zur Lösung von Interessengegensätzen erst in geringem U m fang entwickelt 2 7 ; eine solche könnte man etwa in dem Nationalitätenprinzip oder in der Atlantik-Charter sehen, insofern hier ein Maßstab dafür geschaffen ist, was den einzelnen Völkern zukommt 2 8 . Die einzelnen an der Rechtsbildung beteiligten Tendenzen können auch in Gegensatz zueinander treten. So geht etwa im Besitzprozeß das Friedensinteresse dem an der materiellen Gerechtigkeit vor; das vgl. Fehr, Deutsche Rechtsgeschichte (5. Aufl. 1952), S. 143 f. Diese Aufreihung nach Typen, die nach der jeweils vorherrschenden inneren Tendenz einer Rechtsordnung gebildet sind, ist zu unterscheiden von einer anderen, die sich nach dem Grade der praktischen Wirksamkeit bilden läßt. Hierbei würde eine durch Zwang gesicherte Rechtsordnung (wie etwa das moderne private Vertragsrecht, soweit Sachleistungen in Frage stehen) am einen, eine Rechtsordnung, die ohne gesicherten Rechtsschutz dasteht und deshalb mehr als ideale Ordnung wirkt (wie das Völkerrecht), am anderen Ende der Reihe stehen. 24

25

28 vgl. zur gleichen Erscheinung im Wirtschaftsrecht, E. Schmidt, SJZ 1948, 225 ff. 27 vgl. Wengler, Das völkerrechtliche Gewaltverbot (1957), S. 57. 28 Daher ist es bei Diskussionen über das Recht nicht unwesentlich zu wissen, welches Rechtsgebiet — Privatrecht oder Staatsrecht z. B. — jeder vor Augen hat; häufig erklären sich daraus die sehr verschiedenen Positionen.

146

Das Redit als Kulturerscheinung

gleiche gilt bei der prozessualen Rechtskraft im Verhältnis von Sicherheit und Gerechtigkeit. Dramatisch tritt die Spannung zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit in den großen sozialen Revolutionen hervor, welche die Rechtsgeschichte mit geschrieben haben. Alles Recht der Sicherheit, des Schutzes wohlerworbener Rechte, steht auf Seiten derjenigen, die erhalten wollen, was ist; aber ihnen stellt sich die bedingungslose Forderung höherer Gerechtigkeit entgegen. Die Rechtsordnung scheint in ihren Grundtendenzen mit sich selbst im Kampf zu liegen: sie zerbricht, und aus dem Rechtsbruch geht ein neues Recht hervor. Im Zusammenhang mit solchen Spannungen entsteht die Frage nach einer Hierarchie zwischen den verschiedenen im Recht wirksamen Tendenzen. Eine solche Rangfolge ließe sich, wenn man die einzelnen verfolgten Ziele isoliert nebeneinander stellt, vielleicht ohne allzu große Schwierigkeiten leicht bilden. Es scheint in abstracto evident, daß eine Friedensordnung höher zu werten ist als bloße Spielregeln für den Kampf, Sicherheit wiederum höher als bloßer Nicht-Kampf, Gerechtigkeit schließlich höher als sie alle. Trotzdem zeigt die Betrachtung der Rechtswirklichkeit, daß sich alle jene Tendenzen im lebendigen Recht nebeneinander behaupten. 5. Die Verwirklichung der Zwecke des Rechts geht nicht ohne Widerstände und Kämpfe vor sich. Da ist zunächst das Phänomen der Revolution. Auch sie ist ein Element der Rechtsgeschichte. Bedeutende Grundlagen unserer heutigen Rechtsordnungen sind erst im Aufstand gewonnen worden. Aber der Gedanke trägt weiter. Das Recht steht nicht im luftleeren Raum; es bildet sich auch nicht in der stillen Stube des Gelehrten. Die Rechtsnorm muß nicht nur in Widerstreit der sozialen Interessen erkämpft werden, sie muß auch gegen widerstrebende Mächte durchgesetzt und angewendet werden. Die deutsche Geschichte des Mittelalters ist voll von Berichten über Feldzüge deutscher Könige gegen Rechtsbrecher. Damit genügten sie ihrer Aufgabe als Wahrer des Friedens und des Rechtes. Seit Aufhören der Fehde geht der Kampf um das Recht nicht mehr in so offenen Formen vor sich: Aber mit anderen Waffen wird er o f t auch noch in der heutigen Gesellschaft ausgefochten. Der Weg von dem richtigen, d. h. sachgemäßen Projekt einer guten Regelung zur festgestellten N o r m ist weit, und wer seine Rechte nicht wahrt, dem können sie leicht verloren gehen. Insofern hat Rudolf von Ihering recht gesehen, wenn er in seiner Schrift „Der Kampf ums Recht" 29 das Eintreten f ü r das eigene 29

Zuerst erschienen 1872.

147

Kapitel III Recht als wesentlichen Faktor der Rechtsentwicklung festgestellt hat, und ebenso die soziologische Schule, wenn sie auf den K a m p f der Interessen- und Machtgruppen aufmerksam gemacht hat, aus dem eine N o r m hervorgeht. Es wäre auch falsch zu glauben, daß dieser K a m p f nur in der parlamentarischen Demokratie existiert. E r wird dort nur offen ausgekämpft und steht infolgedessen jedermann vor Augen. Aber wer die Geschichte bedeutender gesetzgeberischer Regelungen in absoluten Monarchien näher verfolgt, der wird bemerken, daß auch unter einer solchen Regierungsform die Auseinandersetzungen um neue Gesetze nicht weniger scharf gewesen sind. N u r die Formen des Kampfes waren anders, und dieser selbst weniger sichtbar. Wenn die historische Rechtsschule demgegenüber mit ihrer Lehre zu einer so anderen Auffassung kommen konnte, wenn sie die Entwicklung des Rechts mit derjenigen der Sprache verglich, wenn sie die stillen inneren K r ä f t e als die eigentlich rechtsbildenden Faktoren ansah, so konnte das nur geschehen, weil sie die Dinge aus einer ganz anderen Perspektive gesehen hat. I n der T a t , wer die Entwicklung eines juristischen Problems in Wissenschaft und Rechtsprechung über längere Zeit verfolgt, etwa die Frage der Bedeutung des Handelns auf eigene Gefahr im Zivilrecht, der kann allerdings rückblickend den Eindruck gewinnen, als habe sich die Lösung, die sich schließlich ergibt, allmählich in unmerklichen Schritten in der wissenschaftlichen Diskussion, im „reasoning from case to case" seitens der Gerichte entwickelt, und insofern behält die Beschreibung der historischen Rechtsschule für die Einzelentwicklung des Rechts in einem gegebenen System ihre Berechtigung. Wenn man gar einen noch größeren Abstand nimmt und die Entwicklung über die Jahrhunderte hinweg überschaut, so mag die Entfaltung der rechtlichen Ideen und I n stitutionen sich — wenn man von den revolutionären Brüchen in der Rechtsgeschichte absieht — als ruhige Entfaltung von Ideen darstellen, wie es die historische Rechtsschule ebenfalls beschrieben hat. Aber aus solchem Abstand läßt sich eben kein volles Bild der Vorgänge gewinnen. In Wahrheit muß nicht nur bei der Setzung eines neuen Rechts die richtige Regel in genauer Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt gefunden werden: Sie muß dann auch gegen Widerstände durchgekämpft werden. Auch die richterliche Entscheidung, bei deren Erlaß der Richter mit neuen Problemen zu ringen hat, stellt sich' nicht von selbst ein, sondern geht aus innerem K a m p f um die richtige Einordnung, um die volle Erfassung des Sachverhalts und aus schrittweiser Klärung der anstehenden Fragen in solcher Auseinandersetzung hervor. Insofern ist das Bild, das die historische Rechtsschule von der Rechtsentwicklung zeichnete, nicht nur (im philosophi148

Das Recht als Kulturerscheinung

sehen Sinne) zu idealistisch gesehen, es ist auch verzeichnet, insofern es Kampf, Ringen und Entscheidung, Ablenkungen durch Macht- und Gruppeninteressen aus der rechtsgeschichtlichen Betrachtung ausschaltet. Die historische Rechtsschule teilt damit freilich den Fehler der „entwicklungsgeschichtlich" orientierten Wissenschaft des 19. Jahrhunderts im allgemeinen, welche die Tendenz hatte, auch bedeutende und große Änderungen aus einer kontinuierlichen Reihe kleinster Veränderungen zu erklären. Erst die moderne Historie hat diese Art von entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung überwunden 3 0 . Erst sie hat wieder Blick f ü r die Umbrüche in der Geschichte und f ü r das schöpferische Element großer Persönlichkeiten gewonnen, die der Geschichte einen anderen Lauf gegeben haben. Als Beispiel sollen hier die Bemerkungen von je einem Vertreter der Kunstgeschichte und der Literaturgeschichte stehen. Der Kunsthistoriker Jantzen bemerkt zur „Entwicklung" der Hochgotik: „Das ist nicht so zu verstehen, als ob die Gotik sich aus der romanischen Baukunst heraus ,enwickelt'. Gerade in denjenigen Gebieten, in denen die romanische Baukunst ihre charaktervollen Bildungen hervorbringt, . . . entsteht keine Gotik. Mit ,entwicklungsgeschichtlicher' Betrachtung lassen sich solche Tatsachen nicht vereinbaren. Vielmehr sind die großen Stilbildungen der abendländischen Kunst Schöpfungen des Geistes . . .." 31 Und der klassische Philologe Lesky sagt in seiner „Griechischen Tragödie" 32 : „Entwicklung, wie wir sie verstehen, wird weit mehr durch den Schöpfungsakt der großen einzelnen als durch ungreifbare, in der Physis gelegene Triebkräfte bestimmt, die verschiedene Kulturschichten geradeswegs durchwachsen." In diesem Sinn ist auch das Recht nicht das Ergebnis anonymer „Entwicklung", sondern schöpferischer Gestaltung. Aus ähnlichen Gründen erweist sich die Theorie einer „dialektisch" verlaufenden Entwicklung für die Rechtsgeschichte als wenig frucht30 Man muß wohl mindestens drei Vorstellungen von Entwicklungen unterscheiden: 1. Die Annahme einer allgemeinen Zielrichtung für einen historischen Prozeß. 2. Die Annahme einer notwendigen Abfolge von qualitativ verschiedenen Epochen — in der Art der organischen Entwicklung. 3. Die Annahme, daß die feststellbaren Veränderungen sich allmählich, durch kontinuierliche kleine Änderungen herausbilden. 51 Jantzen, Kunst der Gotik (Rowohlts Deutsche Encyclopädie), S. 10. 32 Erschienen bei Kröner (4. Aufl. 1968), S. 47.

149

Kapitel III

bar 3 3 . Gewiß kann man sagen, daß etwa die Epoche einer Bildung der rechtlichen Regeln durch Wissenschaft und Praxis, des Juristenrechts, also etwa die Zeit des gemeinen Rechts vom 13. bis zum 18. Jahrhundert in diejenige der Kodifikationsidee „umschlug": aber damit ist über die Kräfte, welche jene Änderung bewirkt haben, noch gar nichts gesagt; eine wirkliche Klärung der Phänomene also nicht erreicht 34 . III. Jede konkrete Rechtsordnung steht im Zusammenhang der materiellen und geistigen Gesamtkultur, zu der sie gehört. 1. Von besonderer Bedeutung f ü r die Gestaltung des Rechts sind dabei die gegebenen ökonomischen Verhältnisse, denn sie stellen zu einem guten Teil die Probleme dar, die diese Rechtsordnung zu lösen hat. Bei einem Volk von Jägern und Sammlern wird die Frage des Eigentums sich anders stellen als bei Ackerbauern. Für jene wird ein Eigentum an Grundstücken kaum in Betracht kommen; das Eigentum wird sich auf Waffen, evtl. Beutestücke beschränken. Dagegen ist f ü r ein seßhaft gewordenes Volk die Ordnung des Grundeigentums ein zentrales Thema der Rechtssetzung. Freilich spielt dabei auch wiederum eine Rolle, ob Land in unbeschränktem Maße zur Verfügung steht oder nicht 1 . Es ist bekannt, daß die Tatsache, daß Grundbesitz das einzige vorhandene wirtschaftliche Gut von dauerndem Wert war, auf die Entwicklung des Lehnswesens des mittelalterlichen Europas einen großen Einfluß ausgeübt hat. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang bei der Entwicklung der modernen Industriewirtschaft. Große Rechtsgebiete, wie das Patentrecht, die Gefährdungshaftung, die Einrichtung der verschiedenen Unfall- und Haftpflichtversicherungen, sind durch die Technisierung der Produktionsweise bedingt. In all diesen Fällen stellen also die Produktionsverhältnisse dem Recht die Aufgaben, die es zu lösen hat; aber der Einfluß der Wirt33

Zum Begriff der Dialektik bei Hegel,

vgl. oben Kap. I Abschn. V . 5.

34

vgl. zur Kritik der Verwendung der „Dialektik" in diesem Zusammenhang: Popper, Was ist Dialektik? in „Logik der Sozialwissensdiaften" (4. A u f l . 1967), S. 265 ff., 283 ff. 1

vgl. d a z u H. Krauss, D i e moderne Bodengesetzgebung in Kamerun (1966), S. 9, bei den Duala. Hier wies das Familienoberhaupt bei Bedarf einfach jeder neuen Familie Land zu. Daher traf die französische Regelung, daß alles unbebaute Land der Verfügung der Regierung unterliege, auf heftigen Widerspruch.

150

Das Recht als Kuhurersdieinung

schaftsweise reicht noch weiter; er kann auch bei der Analyse der f ü r die Probleme gefundenen Lösungen nicht außer acht gelassen werden; insbesondere spielen die mit einer Produktionsweise verbundenen Machtverhältnisse hier eine wichtige Rolle. Ja, der Einfluß der wirtschaftlichen Gegebenheiten geht sogar noch über die Lösung von Fragen hinaus, die unmittelbar wirtschaftliche Probleme und Interessen berühren. Betrachtet man etwa die Entwicklung der Frauen-Emanzipation in West- und Mitteleuropa seit der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts, so kann niemand übersehen, daß die Tatsache, daß die moderne Wirtschaft der Frau die Möglichkeit zu eigener beruflicher Tätigkeit eröffnete, andererseits die Frauenarbeit zunächst durch die besonderen Verhältnisse der Kriegswirtschaft, später durch die Intensivierung des industriellen Prozesses zur Notwendigkeit machte, für den Erfolg der gesamten Bewegung von entscheidender Wichtigkeit gewesen ist. Insofern hat sich der Hinweis auf die Bedeutung der Produktionsverhältnisse f ü r das Recht, den Karl Marx mit seiner Theorie gegeben hat, als äußerst fruchtbar erwiesen. Problematisch ist nur, wie bei vielen grundlegend neuen Einsichten, die Ausschließlichkeit, die absolute Bedeutung, die Karl Marx den Produktionsverhältnissen in ihrer Beziehung zum Überbau der Ideen vindiziert 2 . Die marxistische Theorie macht in der Tat folgende Annahmen notwendig: a) eine Reihe von wirtschaftsgeschichtlichen Epochen zu unterscheiden, die nach dem Kriterium der vorherrschenden Produktionsweise definiert sind und in „dialektischer" Entwicklung aufeinander folgen. b) Diesen müßten dann entsprechende Epochen in der Entwicklung von Religion, Recht und Moral sowie der Kunst zugeordnet sein. c) Diese könnten zwar mit einer gewissen Verzögerung der Entwicklung der Produktionsweise folgen, müßten aber doch im gleichen Rhythmus aufeinander folgen wie die Epochen der Produktionsverhältnisse. Im großen und ganzen müßten also die großen Wendepunkte des geistigen Lebens in seinen verschiedenen Bereichen jeweils sich eindeutig mit Änderungen in den Produktionsverhältnissen in Verbindung bringen lassen. Die Einwirkung anderer Faktoren müßte auszuschlies1

Zum Problem monokausaler Gesdiiditserklärungen im allgemeinen die hervorragende Analyse bei N. Hartmann, Problem des geistigen Seins (1933), S. 12 ff., 15 ff., 200—205. 151

Kapitel III \

sen sein. Andererseits müßte die Wirkung der kulturellen Vorstellungen sich jeweils auf eine bestimmte, eben durch eine bestimmte Form der Produktionsverhältnisse bedingte Epoche beschränken. Mit diesen Folgerungen stimmen nun die Ergebnisse der allgemeinen Kulturgeschichte ebenso wie der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte nicht überein. Die Schwierigkeiten beginnen mit der Frage der Unterscheidung ganz bestimmter Wirtschaftsepochen und des von Marx für die Abgrenzung solcher Epochen verwendeten Kriteriums der Produktionsweise. Es muß hier zunächst etwas Grundsätzliches zu der Bildung historischer Epochenbegriffe gesagt werden. Solche Begriffe, wie etwa „Renaissance", „Zeitalter des Absolutismus" usw. sollen die vorherrschenden allgemeinen Züge eines historischen Zeitabschnittes charakterisieren. Sie fassen damit die Ergebnisse der Einzelforschung zusammen. Insofern sind sie legitim und sogar unentbehrlich; sie sind aber natürlich stets an den Ergebnissen der Einzelforschung nachzuprüfen und gegebenenfalls zu berichtigen 3 . Die Gefahr bei der Bildung und Verwendung solcher Begriffe liegt aber nun darin, daß sie verabsolutiert und wie vorgegebene Wesen behandelt werden. Was „Renaissance" oder „Kapitalismus" ist, wird vorher definiert. In der Einzelforschung kann dann nur gefragt werden, wann etwa diese (vorweg definierte) Epoche begonnen habe usw. Damit wird das Verhältnis zur Einzelforschung umgekehrt: Statt daß der Epochenbegriff an den Ergebnissen der Einzelforschung gemessen wird, wird er als etwas Vorgegebenes behandelt; damit kann er zum Hemmnis der Forschung werden. Insbesondere entsteht die Gefahr, daß gegenläufige Bewegungen übersehen werden: die allgemeine Erfahrung der historischen Einzelforschung ist, daß auch vergangene Zeiten nie so „einheitlich" gewesen sind, wie systematisierende Epochenbildung es annehmen muß. In der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung wurden — zu Zeiten von Marx und später — noch andere Kriterien vorgeschlagen: Geld- oder Kreditwirtschaft, der geographische Bereich des wirtschaftlichen Güteraustausches (mit der Unterscheidung Stadtwirtschaft, Volkswirtschaft, Weltwirtschaft), die herrschende Wirtschaftsgesinnung. Aber die Einzelforschung hat immer wieder gezeigt, daß die Dinge viel komplexer liegen und sich nicht auf einfache Schemata bringen lassen. Es hat sich z. B. gezeigt, daß die Wirtschaft der mittelalterlichen Städte keineswegs auf lokalem Güteraustausch, sondern auf der weitgespannten Handelstätigkeit der „Fernhändler" basierte, die ihrer 3

152

vgl. Popper,

Poverty of Historicism (Reprint 1961), S. 78 u. 80.

Das Redit als Kulturerscheinung

Gesinriung nach durchaus dem „Erwerbsprinzip" folgten, daß das Altertum zwar überall Sklavenarbeit verwendet, aber im einzelnen in seinem Wirtschaftsleben ganz verschiedene Systeme zeigt 4 . Vom Standpunkt der rechtshistorischen Forschung aus scheint mir das von Eucken entwickelte Kriterium der „Wirtschaftsordnung" am fruchtbarsten zu sein; danach ist darauf abzustellen, welche Ordnung die Planung der wirtschaftlichen Produktion beherrscht, und sind als Idealtypen zentralgeleitete Wirtschaft und Verkehrswirtschaft zu unterscheiden 5 . Dieses Kriterium ermöglicht ein „Verstehen" von rechtlichen Wirtschaftsregelungen, ja rechtlicher Einrichtungen überhaupt. Aber bei Anwendung dieses Kriteriums zeigt sich, daß die vorgeschlagenen Periodisierungen viel zu grob sind, daß sich jene großen Einteilungen, wie sie auch in dem oben zitierten Text aus dem Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie" von 1859 6 erscheinen, nicht halten lassen. Wie oben schon hervorgehoben, weist etwa die klassische Antike in ihrer Geschichte sehr verschiedene Wirtschaftsordnungen auf 7 . Die Epochenbegriffe, welche oft in begriffsrealistischer Weise verwendet werden, als handele es sich um lebendige Wesen: etwa „Kapitalismus", erweisen sich als Hemmnis der Forschung. Ebenso problematisch ist die grundsätzliche Zuordnung bestimmter Epochen der Ideengeschichte und der in ihr sich vollziehenden Wandlungen zu den Abläufen der Wirtschaftsgeschichte. Mit welcher Änderung in der Produktionsweise hängt die Ausbreitung und der schließliche Sieg des Christentums in der antiken Welt zusammen? Inwiefern ist die Entfaltung des gotischen Stils in der Isle de France an der Wende zum 13. Jahrhundert ökonomisch zu erklären? Wieso entstand, vom Standpunkt einer Erklärung durch Produktionsverhältnisse, im Florenz des Quattrocento die Renaissancekunst, während in Brügge die gotische Tradition fortbestand? Andererseits: wie ist mit der Marx'schen Überbautheorie zu vereinbaren, daß bestimmte künstlerische, aber auch rechtliche Lösungen über die Epoche, in der sie entstanden sind, hinaus in ökonomisch ganz anders gestalteten Epochen wirken konnten! Marx selbst hat 4

Für die Reditsgeschichte vgl. oben S. 124 ff. Eucken, aaO., S. 50 ff., 78 ff., 87 ff. 6 vgl. oben Kap. I Abschn. VI. 2. 7 *vgl. die grundsätzliche Kritik der Epodien- und Stilbegriffe in der Wirtschaftsgesdiidite bei Euchen, aaO., S. 58—64; dort insbes. auch eine Kritik des Begriffs „Kapitalismus". Eucken konstatiert hier mit Recht einen Rückfall in „magisches Denken". 5

153

Kapitel III sich diese Frage für die Wirkung der klassischen Kunst der Antike und des römischen Rechts in seiner Zeit gestellt 8 . Geht man ihr nach, so zeigt sich, daß es — auch im Bereich des Rechts — Lösungen von überhistorischer Richtigkeit gibt, z. B . bestimmte Vertragsregeln, R e geln über einen Interessenausgleich bei irrtümlichen Leistungen u. ä. Die Rechts- wie die Wirtschaftsgeschichte zeigt ferner, daß neben den wirtschaftlichen auch noch anderen Realfaktoren eine erhebliche Rolle bei der Entwicklung rechtlicher Institutionen zukommt. So spielte z. B . bei der Entwicklung des Lehnwesens nicht nur die oben hervorgehobene besondere ökonomische Bedeutung des Grundbesitzes eine Rolle, sondern auch der Umstand, daß die europäischen Staaten gezwungen waren, schwer bewaffnete Reiterheere aufzustellen, also ein rein kriegstechnischer Umstand 9 . Ebenso hat in der Entwicklung der antiken Demokratie die Tatsache, daß die Stadtstaaten, wie Athen, Sparta oder Rom, gezwungen waren, schwer bewaffnete Infanterie aufzustellen, das Hopliten-Heer in Griechenland, bekanntlich entscheidenden Einfluß auf die Ausbildung der antiken Demokratie gehabt 1 0 . Schließlich legt die Kulturgeschichte die Frage nahe, ob es nicht doch auch einen unmittelbaren Einfluß der Ideen auf die Gestaltung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gibt. W a r nicht die Idee einer freien emanzipierten Gesellschaft, eines Rechtsstaates eher da als ökonomisch die freie Unternehmerwirtschaft? Locke's „ T w o Treatises of Government", die die Grundsätze des Rechtsstaates entwickeln, datieren von 1690. Auch hier hat M a r x selbst das Problem gesehen; er konstatiert, daß Rousseau im „Contrat social" die bürgerliche Gesellschaft vorwegnimmt 1 1 . Aber es stellt sich die Frage, ob nicht hier als geistige Vorwegnahme einer künftigen Epoche interpretiert ist, was in Wahrheit eine ihrer Ursachen war 1 2 . U n d gilt dies nicht auch für rechtliche Ordnungen? M a r x selbst war ein zu scharfer Beobachter, um dies nicht zu sehen. Er hat es 8 Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie (Ausgabe Lieber Bd. 4), S. 830—833. 9 vgl. dazu auch Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Deutsche Ausgabe 1950), S. 29 f. 10 vgl. etwa Kunkel, Römische Reditsgeschidite (5. Aufl. 1967), S. 17 ff. 11 Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie (Ausgabe Lieber Band 4), S. 795. 12 vgl. zum Verhältnis Französische Revolution — Kapitalismus auch Eucken, aaO., S. 63.

154

Das Recht als Kulturerscheinung

z. B. im Hinblick auf die Wirkung der englischen Fabrikgesetzgebung seiner Zeit festgestellt und ausgesprochen 13 . Wenn die Bedeutung der Rechtsordnung f ü r die Gestaltung des Wirtschaftslebens trotzdem bei ihm nicht zum Ausdruck kommt, so hängt dies mit seiner Annahme zusammen, daß in der geschichtlichen Entwicklung sich bestimmte Epochen (mit jeweils einer charakteristischen ,,Leit"-Produktion) ablösen. Dadurch erscheinen in seiner Darstellung die in Wahrheit die Produktion steuernden Rechtsnormen als bloßer Ausdruck einer bestimmten Epoche. So wird z. B. im „Kapital" mehrfach betont, daß im Mittelalter der — an sich in Form des Geldverleihers und Kaufmanns vorhandene — Kapitalist sich der eigentlichen Güterproduktion nicht bemächtigen konnte, weil die Zunftverfassung dies nicht zuließ 14 . Das wäre also ein klares Beispiel einer die Produktionsweise bestimmenden Rechtsnorm. Aber bei Marx kann das nicht hervortreten, weil die Zunftverfassung selbst eben nur als Ausdruck der Epoche Feudal- und Handwerkswirtschaft erscheint. Man wird nach alledem die grundsätzliche Einsicht von Marx über die Bedeutung der ökonomischen Gegebenheiten auf die Rechtsgeschichte festhalten müssen: ein Verhältnis einseitiger Determination läßt sich ebenso wenig feststellen wie eine nach einheitlichem Gesetz erfolgende Entwicklung. 2. Steht das Recht einer Zeit also mit den tatsächlichen Gegebenheiten der Epoche in engstem Zusammenhang, so gilt dasselbe natürlich für die geistigen Faktoren der Kultur. Vor allem tritt hier die Religion hervor. Die Uberzeugung, daß die Gottheit das Recht schützt, ist wohl allen höher entwickelten Kulturen gemeinsam. „Der H e r r ist gerecht und hat Gerechtigkeit lieb", heißt es in den Psalmen. Im Namen der Götter verkündet Hammurabi (um 1700 v. Chr. Geb.) seinen Codex 1 5 : „Auf Befehl des Shamash, des großen Richters von Himmel und Erde, soll die Gerechtigkeit im Lande aufgehen." Nach griechischer Auffassung schützt Zeus das Recht, unter seinem Schutz stehen die Fremden. Daran erinnert Odysseus den gesetzlosen Polyphem 1 6 . 13

vgl. Das Kapital I (Ausgabe Lieber, Band 4), S. 564.

14

vgl. z. B. Das Kapital aaO., S. 911.

15

vgl. Gaudemet,

18

Odyssee, 9. 270.

Institutions de l'Antiquité (1967), S. 17 ff.

155

Kapitel III Latte 1 7 hat f ü r die griechische Frühzeit den Begriff des „Heiligen Rechts" geprägt; es sind die rechtlichen Bindungen, welche in der Herrschaft der Götter ihre Sicherheit u n d Sanktion finden. Man sichert z. B. rechtliche Auflagen durch Fluchformeln: sie sollen den göttlichen Zorn auf denjenigen herabbeschwören, der die auferlegte Verpflichtung bricht. D e r Eid beruht auf der gleichen Grundansicht; u n d seine Bedeutung f ü r die Entwicklung des — privaten u n d völkerrechtlichen — Vertragsrechts wie des Prozeßrechts k a n n k a u m überschätzt werden. Weit verbreitet ist auch die Vorstellung, d a ß schwere Verbrechen das Verhältnis der Gruppe, der Stadt, des Stammes z u r Gottheit zerstören. Mißernte, K r a n k h e i t und Hungersnot treten ein, bis die Gemeinde sich entsühnt u n d das Verbrechen bestraft. In der griechischen Sage ist Oedipus die Gestalt, in dessen Schicksal sich dieser Glaube am eindrucksvollsten zeigt; aber ähnliche Überzeugungen sind z. B. bei den Ashantis der Goldküste festgestellt worden 1 8 . H i e r liegt einer der Ausgangspunkte des öffentlichen Strafrechts: die Notwendigkeit, sich zu entsühnen, zwingt die Rechtsgemeinschaft, Verbrechen zu verfolgen und zu bestrafen, deren Sühne herbeizuführen, die sie sonst wohl dem Verletzten oder seiner Sippe überläßt. Ebenso universal ist die Erscheinung des Gottesurteils, d. h. der Gedanke, d a ß die Wahrheit in einem Rechtsstreit durch unmittelbares H a n d e l n der Gottheit ans Licht gebracht werden kann 1 9 . I m europäischen Recht des Mittelalters ist damit der G e d a n k e des gerichtlichen Zweikampfes v e r k n ü p f t : der Angeklagte hat das Recht, sich dem Ankläger z u m Zweikampf zu stellen; siegt er, so hat G o t t f ü r ihn entschieden und seine Unschuld ans Licht gebracht. H i n t e r den Ordalien steht jedoch noch eine andere Vorstellung, die weniger der Religion als einer urtümlichen „Weltansicht" angeh ö r t : der Magie, dem Glauben an unpersönliche, übernatürliche K r ä f te, die Welt und N a t u r durchwalten, so daß alles mit allem durch geheime K r ä f t e verbunden ist, und die der Mensch durch entsprechende rituelle H a n d l u n g e n seinen Wünschen dienstbar machen kann 2 0 . Bei dem O r d a l liegt nun die Vorstellung zugrunde, d a ß die Elemente, richtig befragt, Schuld oder Unschuld anzeigen. D e r Angeklagte wird gebunden ins Wasser geworfen: stößt ihn das reine Element 17

Latte, Heiliges Recht (1920). Hoebel, The Law of Primitive Man (1964), S. 231. " Dazu Nottarp, Gottesurteilsstudien (1956). 20 vgl. Frazer, The golden Bough (1920). 18

156

Das. Recht als Kulturersdieinung

zurück, so daß er schwimmt, so ist er schuldig. Der Beschuldigte geht über glühend gemachte eiserne Pflugsdiaren; die Brandwunden werden verbunden und nach bestimmter Frist untersucht. H a t der Heilungsprozeß begonnen, so ist die Unschuld erwiesen; hat Eiterung eingesetzt, so liegt die Schuld am Tage 21 . Es ist wichtig, diese Vorstellungen ernst zu nehmen. Die Menschen, die solche Ordnungen schaffen und praktizieren, wissen, daß es im Rechtsverfahren darauf ankommt, die Wahrheit über bestimmte Geschehnisse zu ermitteln; darin stimmen sie mit den modernen Juristen überein. Aber sie suchen diese Frage mit Mitteln zu lösen, die ihrer Ansicht von den Naturzusammenhängen entspricht, eben der Magie. Deutlicher noch ist der Einfluß magischen Denkens bei der Zauberei. Zauberei ist in vielen Rechten ein strafwürdiges Verbrechen. Sie war es in Westeuropa bekanntlich noch bis in das 18. Jahrhundert. Heute erscheint uns das absurd. Aber wiederum liegt in der Haltung archaischer Rechtsordnungen eine gewisse Konsequenz. D a ß niemand einen anderen in seiner Gesundheit oder an seinem Eigentum vorsätzlich schädigen darf, ist ein rechtlicher Grundgedanke, den auch die modernen Rechtsordnungen teilen: woran wir nicht glauben, ist die Möglichkeit, solche Schädigungen durch magische Praktiken zu vollbringen; aber für eine Zeit, die daran glaubt, ist die Folgerung, die Zauberei als Delikt anzusehen, naheliegend. Sie ist Ausfluß nicht so sehr rechtlicher als naturdeutender Überzeugung. Der Zusammenhang zwischen archaischem Recht und früher Religion tritt weiter in dem Formalismus hervor, der beide auszeichnen kann. Freilidi kann auch der Formalismus nicht als schlechthin primitiv bezeichnet werden. Gerade sehr primitive Ordnungen weisen o f t so gut wie keinen Formalismus auf. „Formalism and ritualism in law are by-products of legal specialism in the archaic and early modern legal systems. Such specialism does not exist among primitives", vermerkt Hoebel 2 2 . Aber in vielen Kulturen ist der Formalismus von großer Bedeutung f ü r die Rechtsentwicklung gewesen. Im Römischen Recht ist es zunächst die Worfformel gewesen, nicht der moralische Wert der Treue, der den Vertragspartner band; und der Zauber der rituellen Formel rief beim Testament die juristische Wirkung hervor. Die Bedeutung, die diese Stilisierung, die das feierliche wie das technische Wort f ü r die Erfassung der „rechtlich rele21

vgl. dazu Nottarp,

22

Hoebel, The Law of Primitive Man (1964), S. 257.

Gottesurteilsstudien (1956), S. 252 ff.

157

Kapitel III vanten Tatbestände" — wie wir heute sagen würden — gehabt hat, kann kaum überschätzt werden. Es bedeutet eine ungeheure Veränderung für das Recht, wenn sich gegenüber diesen älteren Vorstellungen reinere religiöse Anschauungen oder nüchterne Denkmethoden durchsetzen. Als das IV. LateranKonzil 1215 aus theologischen Gründen die Mitwirkung der Geistlichen bei den Ordalien verbot, bedeutete dies für die Justiz der Zeit eine Quelle der Schwierigkeiten. Wie sollte man nun beschuldigte Verbrecher überführen? Verschiedene Wege sind beschritten worden: in England griff man auf die Jury zurück und stützte den Schuldbeweis auf ihren Wahrspruch; auf dem Kontinent entwickelte man die Verfahrensregeln des Römischen Rechts, die auf rationale Weise den Beweis der belastenden Tatsachen zu regeln versuchten, insbesondere durch kritische Ausarbeitung des Zeugen- und Urkundenbeweises. Beide Wege stellten rationale Wege der Tatsachenermittlung dar. — Das Delikt der Zauberei und Hexerei dagegen verschwand erst mit der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Weltauffassung im 18. Jahrhundert. Auch die Auffassung des Rechts selbst hängt naturgemäß auf das engste mit der Entwicklung religiöser Anschauungen zusammen. Es macht einen großen Unterschied, ob ich im Recht eine göttliche Satzung oder eine menschlidie Ordnung sehe, die auf einsehbaren, daher aber auch auf kritisch zu würdigenden Zweckmäßigkeitsgründen beruht. Aus einem Wandel der Anschauungen in dieser Hinsicht an einer bestimmten Stelle der griechischen Kulturentwicklung ist die Grundfrage der Rechtsphilosophie erwachsen 23 . Ebenso unmittelbar wirken sich die moralischen Anschauungen auf die Gestaltung des Rechts aus. Bei den Primitiven finden wir häufig eine „morale close"; ihre Gebote gelten grundsätzlich nur innerhalb der Gruppe, nicht gegenüber dem Fremden. Genau die gleidie Auffassung gilt für das Recht. Der Fremde ist rechtlos; er steht weder unter dem Schutze der Rechtsordnung, noch kann er ihre Einrichtungen benutzen, etwa einen bindenden Vertrag schließen. Nur besondere Institutionen können ihn sichern: etwa die Aufnahme als „Gastfreund" bei einem Mitglied der Gruppe. Kulturgeschichtlich ist der Satz, daß alle Menschen rechtsfähig sind, den unser B G B in seinem § 1 als selbstverständlich voraussetzt, keine Selbstverständlichkeit. Noch ein so bedeutender Geist wie Aristoteles vertrat die Ansicht, daß die Nichtgriechen, die Barbaren, wegen ihrer Eigenschaf23

158

vgl. oben Kap. I. Abschn. 1.1.

Das Recht als Kulturerscheinung

ten von N a t u r aus zu niederen Diensten und damit zur Stellung von Sklaven geboren seien 24 . Es hat f ü r die Entwicklung der Rechtskultur einen entscheidenden Durchbrudi bedeutet, als in der Philosophie wie in der jüdischen und christlichen Religion die Uberzeugung sich bildete, daß die moralischen Gesetze und damit auch das Recht f ü r alle Mensdien gleichmäßig gelten. Welchen Anfechtungen diese Einsicht ausgesetzt ist, hat freilich gerade die deutsche Rechtsentwidklung in der Zeit des Nationalsozialismus bewiesen, als ganze Gruppen außerhalb des Rechts gestellt wurden. Verschiedene Bewertungen der Menschen finden sich aber auch innerhalb der einzelnen Gruppen. Viele Rechtsordnungen sind von dem Gedanken bestimmt, daß es von Geburt her verschiedene Klassen von Menschen gäbe, zwischen denen die Rechtsordnung entsprechende Schranken, z. B. Heirats- und Berufsverbote aufrichten müsse; das extremste Beispiel ist wohl das (von religiösen Überzeugungen mitbestimmte) indische Kastenwesen gewesen; aber auch in der europäischen Kultur hat der Gedanke des ständischen Aufbaus der Gesellschaft und damit des Rechts über lange Jahrhunderte eine entscheidende Rolle gespielt. Gerade die frühen Stufen höherer Kultur scheinen mit einem solchen ständischen Aufbau der Gesellschaft in Verbindung zu stehen; ganz primitive Kulturen zeigen keine derartige Gliederung 25 . In der Vergangenheit des europäischen Rechts ist der Gedanke der Gleichheit der Bürger eher eine Ausnahme gewesen: er tritt in den griechischen Stadtstaaten im 5. Jh. als „Isonomie" hervor 2 6 und auch in der römischen Republik, um dann aber erst wieder in den Stadtstaaten des Mittelalters inmitten einer feudalen Gesellschaft Bedeutung zu erlangen und sich seit dem 18. Jh. als leitendes Prinzip durchzusetzen. Eine weitere f ü r das Recht sehr bedeutsame moralische Unterscheidung ist die unterschiedliche Bewertung der Geschlechter. Der Gedanke der Emanzipation der Frauen ist jung. In vielen Kulturen — zu ihnen gehört die indoeuropäische — gilt der Mann als moralisch überlegen, und das Redit räumt ihm dementsprechend in der Familie wie im Gemeinwesen die leitende Stellung zu; ja, die Verwandtschaft wird sogar auf dem Gedanken der durch Männer vermittelten Blutsbeziehung, der Agnation, aufgebaut. Freilich ist das kein durchgehen24 2

Aristoteles,

Politeia 1254 a.

® vgl. dazu Jones, S. 84 ff.

25

Hoebel,

aaO., S.294.

The Law and Legal Theory of the Greeks (1956),

159

Kapitel III der Gedanke: wie schon erwähnt, gibt es auch Rechtssysteme, bei denen allein die weibliche Linie die Verwandtschaft vermittelt; so gelten z. B . bei den von Malinowski untersuchten Trobriandern die Söhne einer Frau als Nächstverwandte und damit Erben des Bruders der Mutter, und in gewissem Umfang gibt es auch Beispiele für die von Bachofen vermutete Gynaikokratie; z. B . spielte bei den Ashantis, einem Volk, bei dem ebenfalls die Familie nach mutterrechtlichen Prinzipien aufgebaut ist, die Mutter bzw. die Schwestern des Königs bei der Auswahl seines Nachfolgers im Falle der Erledigung des Thrones eine entscheidende Rolle 2 7 . Solchen Regelungen liegen z. T . Vorstellungen über die Rolle des weiblichen oder männlichen Geschlechtes bei der Zeugung zugrunde; bei den Ashantis findet sich die Vorstellung, daß das lebenstragende Blut allein von der Mutter komme. Eine moralische Idee, der im frühen Recht im Gegensatz zum modernen eine überragende Stellung zukommt, ist die Rache. Das Recht bzw. die Pflicht zur Rache ist ein Leitmotiv der meisten primitiven und archaischen Rechtsordnungen. Jede Rechtsverletzung löst den Willen zur Rache aus 2 8 . Dem Rachebedürfnis Genüge zu tun, es zu respektieren, aber andererseits die Gruppe nicht in ihrer Existenz zu gefährden, ist eines ihrer Grundanliegen. N u r schrittweise kann sich der zweite Gesichtspunkt Raum schaffen; und es kommt dabei zu den merkwürdigsten Distinktionen; so darf etwa nach römischem Recht der bei Nacht ertappte Dieb vom Verletzten totgeschlagen werden. Wird er aber erst nach Tagen entdeckt, kommt er mit einer Buße davon. Das Rachebedürfnis ist abgekühlt 2 9 . Dem steht im modernen Recht der Schadensersatzanspruch des Verletzten gegenüber, der nur noch auf Ausgleich des Vermögensschadens nach dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit gerichtet ist — freilich auch die öffentliche Strafe, die von vielen noch als notwendige und gerechte Sühne aufgefaßt wird. 3. D a ß neben der religiösen und moralischen Vorstellungswelt der erreichte intellektuelle Entwicklungsstand, die erreichten Denkweisen für die Gestaltung des Rechts von entscheidender Bedeutung sind, ist im Laufe unserer Darstellung schon an verschiedenen Stellen deutlich geworden; ich erinnere an das, was über die Bedeutung des magischen Weltbildes für die Gestaltung des Verfahrens- und des Strafrechts » Hoebel,

aaO., S.221.

28

Am stärksten tritt dies bei Mord und Ehebruch hervor.

29

Käser, Das Römische Privatrecht I (1955) § 41 III.

160

Das Recht als K u l t u r e r s d i e i n u n g

oder über diejenige der Vorstellungen von der Zeugung für den vateroder mutterrechtlichen A u f b a u der Familie gesagt worden ist 3 0 . Aber natürlich gilt dies noch in einem viel allgemeineren Sinne. J e d e höhere Rechtsentwicklung setzt schon die Fähigkeit voraus, die entscheidenden Elemente des Sachverhaltes — also der zu regelnden Situation — klar zu erfassen, herauszuheben und sprachlich festzuhalten; wie schwierig die damit gestellte Aufgabe ist, mag eine Bestimmung des römischen XII-Tafelrechts (Mitte 5. Jahrhundert vor Chr.) zeigen, die den Versuch macht, die vorsätzliche von der nicht vorsätzlichen Tötung durch Speerwurf abzugrenzen. Der S a t z lautet: „ S i telum manu fugit magis quam iecit." D a s ist mehr als ein schwerfälliger Ausdruck; darin zeigt sich nach allem, war wir heute über den Zusammenhang von Sprechen und Denken wissen, vielmehr die Unbeholfenheit des Denkens selbst. D a s gleiche gilt natürlich für die Formulierung der rechtlichen Bewertung. Es ist für den modernen Juristen, der gewohnt ist, mit den hochabstrakten, oft sogar elegant formulierten modernen Kodifikationen umzugehen, oft nicht leicht, sich klar zu machen, welche hohe und schwer errungene intellektuelle Leistung allein in dieser Formulierung der Rechtssätze liegt. Erst recht spiegelt sich die intellektuelle Kultur natürlich in der Aufzeichnung und Darstellung des Rechts wider. Der systematische A u f b a u ist eine große Kulturleistung; auch noch in relativ fortgeschrittenen Kulturen finden wir eine mehr oder weniger assoziative Folge. Beispiele bieten das Gesetz von Gortyn (etwa 7. Jahrh. v. Chr.) oder das Rechtsbuch des Sachsenspiegels. Erst die Wissenschaft bringt Ordnung des Rechtsstoffes nach seinem inneren Zusammenhang, nach Lebensgebieten, leitenden Ideen und Institutionen: aber sie hat sich keineswegs in allen Kulturen ausgebildet. Von entscheidender Bedeutung nicht nur für die Uberlieferung, sondern auch für die Gestaltung des Rechts ist das Vorhandensein der Schrift. Erst wenn die rechtlichen Normen — seien es Gesetze, seien es Gewohnheiten oder Urteile — schriftlich fixiert werden können, wird im Grunde höhere Rechtskultur möglich, und das Recht eines Volkes, in dem die Kenntnis der Schrift verbreitet ist, sieht auch inhaltlich anders aus als das eines Zeitalters mangelnder oder sogen, beschränkter Schriftlichkeit. Mit der Schriftlichkeit tritt die U r kunde auf den Plan, der schriftlich geführte Prozeß, die schriftlich niedergelegte Entscheidung wird möglich; Register können eingerichtet werden, die rechtlich wichtige Tatsachen festhalten. Es liegt auf 30

vgl. oben S. 156 ff., 159 ff.

161 11

C o i n g , Rechtsphilosophie

Kapitel III d e r H a n d , w a s das nicht n u r f ü r die staatliche V e r w a l t u n g , s o n d e r n auch f ü r die Sicherung d e r Rechte des e i n z e l n e n b e d e u t e t . V o r h e r s t e h t f ü r alle diese A u f g a b e n im G r u n d n u r das menschliche G e d ä c h t nis z u r V e r f ü g u n g — das freilich in solchen E p o c h e n auch f ü r unsere B e g r i f f e Erstaunliches leistet. D i e z u g e z o g e n e n Z e u g e n müssen d e n I n h a l t g e t r o f f e n e r A b m a c h u n g e n b e k u n d e n ; die Ü b e r l i e f e r u n g e n des Rechts selbst steht auf d e m Wissen d e r A l t e n . 4. Es ist schließlich wichtig h e r v o r z u h e b e n , d a ß im G e s a m t z u s a m m e n h a n g d e r K u l t u r keineswegs alle F o r m e n menschlicher B e z i e h u n g e n u n d G e m e i n s c h a f t e n p r i m ä r v o m Recht b e s t i m m t sind. D i e F o r m e n menschlicher B e z i e h u n g e n w e r d e n v o n d e r soziologischen Wissenschaft, soweit sie ü b e r h a u p t m i t solchen S t r u k t u r m o d e l l e n a r b e i tet, verschieden a b g e g r e n z t 3 1 . F ü r unsere F r a g e scheint m i r besonders f r u c h t b a r eine G r u p p i e r u n g , die V i e r k a n d t in seiner Gesellschaftslehre entwickelt h a t 3 2 . E r unterscheidet G e m e i n s c h a f t , A n e r k e n n u n g s v e r h ä l t n i s (Gesellschaft), M a c h t v e r h ä l t n i s , K a m p f v e r h ä l t n i s . Die Gemeinschaft ist „die engste F o r m d e r sozialen V e r b u n d e n h e i t " 3 3 . I h r U r t y p ist die Familie. I n i h r erlebt jeder Genosse die G r u p p e u n d ihre A n g e l e g e n h e i t e n als Teil seines Ichs. Diese Gemeinschaftsgesinn u n g ist kein P h ä n o m e n eines Augenblicks, s o n d e r n sie ist d a u e r n d u n d beständig. U n t e r d e n G l i e d e r n d e r G e m e i n s c h a f t herrschen gemeinsames W o l l e n u n d gemeinsame Interessen, die G e s i n n u n g d e r Z u n e i g u n g , H i l f s b e r e i t s c h a f t u n d Liebe g e g e n ü b e r Genossen, d e r H i n gabe a n die G e m e i n s c h a f t selbst 3 4 . Bei d e m U r t y p d e r G e m e i n s c h a f t ( d e r v o n V i e r k a n d t sogen, „ v o l l e n G r u p p e n g e m e i n s c h a f t " ) k e n n e n die G l i e d e r e i n a n d e r persönlich u n d leben m i t e i n a n d e r ; d a n e b e n stehen a n d e r e (sogen, a b s t r a k t e ) F o r m e n d e r G e m e i n s c h a f t , bei den e n diese persönliche Lebensgemeinschaft f e h l t , die G e m e i n s d i a f t vielm e h r gegenständlich b e g r e n z t ist u n d die g e f ü h l s m ä ß i g e V e r b u n d e n heit sich n u r in b e s t i m m t e n Anlässen u n d B e z i e h u n g e n aktualisiert, bei denen sich d a n n die G l i e d e r „ w i e eine g r o ß e F a m i l i e " f ü h l e n . Solche G e m e i n s c h a f t e n stellen die m o d e r n e n N a t i o n e n u n d Klassen, die a n t i k e Polis, die mittelalterliche S t a d t , die K i r c h e n usw. d a r . I m Anerkennungsverhältnis stehen die beteiligten Menschen ( o d e r G r u p p e n ) sich o h n e die g e f ü h l s m ä ß i g e V e r b u n d e n h e i t d e r G e m e i n schaft g e g e n ü b e r ; sie sind f r e i u n d u n a b h ä n g i g v o n e i n a n d e r u n d schließen sich n u r v e r t r a g s m ä ß i g z u r E r r e i c h u n g g e m e i n s a m e r Zwecke 31 Eine Übersicht bietet Sorokin, Society, Culture and Personality (New York 1947), S. 110—118. 32

Vierkandt,

Gesellsdiaftslehre (2. Aufl. 1928).

33

Vierkandt,

aaO., S. 209.

162

34

Vierkandt,

aaO., S. 255—258.

Das Redit als Kulturerscheinung

zusammen. Hier herrschen grundsätzlich die Individualinteressen vor. Die Partner erkennen sich gegenseitig an; aber ihre Beziehungen bleiben zweckgebunden und kühl. Redlichkeit und Gerechtigkeit sind die vorherrschenden Tugenden. Die Beziehungen der wirtschaftenden Subjekte in der freien Marktwirtschaft sind der Prototyp dieser Form des Zusammenlebens 35 . Das Machtverhältnis36 beruht auf der Herrschaft des einen über den anderen oder eine Gruppe von anderen. Zwischen den Beteiligten herrscht Ungleichheit; der Herrschende wird höher bewertet. Sofern überhaupt ein sittliches Verhältnis sidi herstellt, entwickein sich beim Herrschenden Sicherheit, Bestimmtheit und Stärke, beim Beherrschten Gefühle der Treue und Anhänglichkeit. Die feudale Gesellschaft, das absolute Herrschertum, die militärische Organisation bieten Beispiele. Es umfaßt sowohl legitime Herrschaft 37 wie Gewaltherrschaft, sofern sie nur stabilisiert ist. Das Kampfverhältnis endlich beruht auf dem Willen zur gegenseitigen Schädigung. Die Interessen der Beteiligten sind auch hier entgegengesetzt; Ablehnung, ja Haß, herrschen gesinnungsmäßig vor; höchstens die Tugend der Tapferkeit und des Heroismus können sich entwickeln und gegenseitig Anerkennung finden. Gedacht ist hier z. B. an das Verhältnis kriegführender Nationen, sofern sie sich als solche noch anerkennen (im Gegensatz zum Vernichtungskrieg) 38 . Zu betonen ist, daß es sich um ideale Typen handelt, die im geschichtlichen Leben nebeneinander stehen und sich gegenseitig durchdringen. So entsteht Gesellschaft regelmäßig im Rahmen einer unpersönlich gewordenen Gemeinschaft, etwa einer Nation 3 9 . Auch kann eine konkrete Verbindung sich von der einen Form in eine andere entwickeln: etwa eine Ehe, die als vertragliche Beziehung begründet war, in eine echte Gemeinschaft 40 . Andererseits kann ein Zusammenleben äußerlich als etwas andereres erscheinen, als es in Wahrheit ist; eine Familie, die auf den ersten Blick sich als Gemeinschaft dar35

vgl. Vierkandt,

36

Dazu De Jouvenel,

aaO., S. 2 5 5 — 2 5 8 ; V. folgt hier weitgehend Toennies. Du Pouvoir.

Zu diesem Begriff vgl. das Buch von Ferrero, S. 45 ff. 37

Madit (Dt. Ausgabe 1944),

38 Vierkandt, aaO., S. 3 1 7 / 3 1 8 . — Sorokin gliedert in familistic type, mixed (contractual) type und compulsory type. Der erste entspricht in etwa der Gemeinschaft, der zweite der Gesellschaft, der dritte umfaßt sowohl das Herrschafts- wie das Kampfverhältnis, vgl. Sorokin, Society, Culture and Personality (1947), S. 100—110. 38

Vierkandt,

aaO., S. 3 1 7 / 3 1 8 .

40

vgl. Sorokin,

aaO., S. 110.

163

Kapitel III stellt, ist in Wahrheit ein Machtverhältnis, in dem die Familienangehörigen dem Vater ausgeliefert sind und dies auch empfinden 4 1 . Von diesen Formen weist das Anerkennungsverhältnis die größte Affinität zum Recht auf. Sorokin bezeichnet seinen der Gesellschaft etwa entsprechenden „mixed (contractual) type" als „the lawyer's paradise" 4 2 , und es ist gewiß kein Zufall, daß die geistige Bewegung, deren Ideal die Herstellung der reinen Vertrags-Gesellschaft war, die Aufklärung, mit ihrer Naturrechtslehre am meisten zur Verrechtlichung des gesamten sozialen Lebens getan hat. Weniger einfach ist dagegen das Verhältnis des Rechtes zum Machtverhältnis. Eine Affinität besteht insofern, als die Rechtsordnung selbst geschichtlich weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, im Rahmen von Machtverhältnissen ausgebildet und durchgesetzt worden ist und zu ihrer Aufrechterhaltung einer gewissen Machtentfaltung bedarf. Auf der anderen Seite hat die Macht selber ein Interesse an der Ausbildung einer Rechtsordnung; denn diese stabilisiert erst den geschaffenen Zustand. Friede und Sicherheit unter den U n tertanen liegen im Interesse der Macht; der Herrscher kann Unordnung und Selbsthilfe im sozialen Leben schon aus dem Interesse der eigenen Sicherheit nicht dulden 4 3 . Die Macht ist daher in der Regel bereit, Ordnung und Sicherheit zu gewähren, soweit die Beziehungen der Untertanen untereinander in Betracht kommen. Sie gewähren also den elementaren Tendenzen im Recht Befriedigung. Die Verfechter des Absolutismus in der Rechtstheorie haben daher stets den Ordnungs- und Sicherheitsgedanken im Recht besonders betont, so z. B. Hobbes 4 4 . Die gleichen Gesichtspunkte können aber auch für die höchste Tendenz der Rechtsbildung, die Gerechtigkeit gelten. Das Verhältnis der Macht zu ihr kommt am deutlichsten in dem bekannten Wort zum Ausdruck: Iustitia fundamentum regnorum. Es besagt, daß Gerechtigkeit gegenüber den Untertanen die Grundlage der Machterhaltung ist; die Gerechtigkeit wird dann letzten Endes nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch zwecks Erhaltung der Herrschaft ausgeübt. Charakteristisch ist allerdings, daß die Geltung des Rechts in solchen Verhältnissen sich auf die Verhältnisse der Untertanen zueinander beschränkt: Ihr Verhältnis zum Herrscher bleibt dagegen im 41

Sorokin, aaO., S. 107, spricht hier mitRedit von „pseudofamilistic type".

42

Sorokin,

aaO., S. 104.

Audi die modernen revolutionären Diktaturen dulden „revolutionäre" Aktionen nur in der Form angeordneter und geleiteter Exzesse! 43

44 Grundgesetz des Naturrechts: „ut quisque vitam et membra sua, quantum potest, tueatur", Hobbes, De Cive I, 7; vgl. audi VI, 10 u. 13.

164

Das Recht als Kulturerscheinung

allgemeinen das der ungeregelten, unbeschränkten Herrschaft und steht außerhalb des rechtlich geordneten Raumes. Das eigentliche Machtverhältnis bleibt also ungeregelt. Es ist das Bild, das uns schon die Monarchien der altorientalischen Geschidite bieten und das im römischen Prinzipat und im Absolutismus der Neuzeit wiederkehrte. Die Problematik des Machtverhältnisses im Hinblick auf die Rechtsbildung liegt aber noch in zwei weiteren Umständen. Einmal: die Macht ist jeder Beschränkung abgeneigt; sie hat eine Tendenz zu ungemessener Ausdehnung. Goethe hat ihr in den berühmten Versen aus dem Faust klassischen Ausdruck verliehen: „Die wenig Bäume, nicht mein eigen, verderben mir den Weltbesitz." Und dann: Die Macht widerstrebt jeder endgültigen Bindung. Solche Bindung muß sie aber in Kauf nehmen, sobald sie eine Rechtsordnung einführt; jedes Recht als fixierte Ordnung muß die Macht notwendig in ihrer Handlungsfreiheit begrenzen und beschränken. Insoweit stehen Macht und Recht in einem unversöhnlichen Gegensatz und Spannungsverhältnis. Das Machtverhältnis kann seinem eigentlichen Wesen nach nicht zum Rechtsverhältnis werden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Machtverhältnis seinem Wesen nach in einem gewissen Gegensatz zur Rechtsordnung steht. Wo es rein auftritt, muß das Recht weichen. N u r in abgeschwächten Formen ist es dem Recht zugänglich. Dann verliert es aber seine Fülle und tritt unter die Beschränkung des Rechts. Das ist der Zustand, den man im politischen Bereich charakteristischerweise die „Rule of Law" genannt hat, wo die Herrschaft gewissermaßen beim Recht selbst liegt. Die typischen Machtverhältnisse sind das aber eben nicht. Soweit es sich um soziale Machtverhältnisse außerhalb der politischen Sphäre handelt, wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Familiengewalt usw., tritt die Unterwerfung unter das Recht ein, sobald sie dem allgemeinen staatlichen Recht unterstellt und durch dieses begrenzt werden. Das ist für die patria potestas in Rom z. B. erst außerordentlich spät geschehen. Freilich gewinnt diese Beschränkung erst Bedeutung, wenn die Rechtsgemeinschaft sich auch um die Einhaltung der so gezogenen Grenzen kümmert. Am wirkungsvollsten geschieht das, wenn der Unterworfene selbst die allgemeinen Gerichte anrufen kann. Darum hat die Abdrängung der untertänigen Bauern vom Landrecht und von den allgemeinen Gerichten im Spätmittelalter die Rechtsstellung der Bauern in Deutschland so entscheidend verschlechtert. Daraus ergibt sich, wie gefährlich jede echte Machtkonzentration, jede wirkliche Machtbildung f ü r die Existenz des Rechtes ist, mag sie 165

Kapitel III

politisch, militärisch oder wirtschaftlich begründet sein 45 . Sie gefähr det in jedem Falle jenen f ü r das Recht förderlichen Zustand de: Gleichgewichts, den Macaulay f ü r das mittelalterliche England sc klassisch beschrieben hat: „ N o man was altogether above the restraints of law; and no man was altogether below its protection." 4 6 Nicht ohne Spannungen ist auch das Verhältnis zwischen dem Recht und der soziologischen Form der Gemeinschaft. Das wird vor allem deutlich, wenn man die Urform der Gemeinschaft, die volle oder persönliche Gemeinschaft ins Auge faßt. Zunächst ist das Recht seinem Wesen nach der Gemeinschaft genauso wenig adäquat wie dem Machtverhältnis. Die Gemeinschaft beruht in ihrem Prototyp, der Familie, auf engem persönlichem Zusammenleben. Die Ordnung, die sich in ihr herstellt, ist persönlich; sie formt sich aus dem Schwergewicht der einzelnen Persönlichkeiten, die die Gemeinschaft bilden; sie ist nicht notwendig festgelegt. Die Gesinnungen, die sie beherrschen, sind gegenseitige Achtung, Zuneigung und Liebe. Diese, nicht gesetzliche Schranken, bewahren vor Ausnutzung von Überlegenheit, wie sie andererseits Ungleichheiten und Unterordnung willig ertragen, ja gar nicht als solche ins Bewußtsein treten lassen. Das Recht dagegen ist eine schematische Ordnung, abstrakt und unpersönlich, auf typische Fallgestaltungen, nicht auf Individualitäten zugeschnitten. Sein oberstes Prinzip ist die kühle Tugend der Gerechtigkeit, über welche die Wärme der Liebe und Zuneigung weit hinweggeht; sein Hauptanliegen ist Sicherheit; aber dafür ist in der echten Gemeinschaft gar kein Raum. Schließlich: Das Recht zwingt; Gemeinschaft ist freiwillig. Daher ist die Gemeinschaft f ü r das Recht im Grunde unfaßbar. Was ihr Wesen ausmacht, läßt sich weder in abstrakten Regeln erfassen noch erzwingen. Wo das Recht auf Gemeinschaftsverhältnisse stößt, da kann es daher im wesentlichen nichts tun, als dem Leben der Gemeinschaft unter Verzicht auf Normierung im einzelnen freien Raum lassen. Das zeigt sich besonders deutlich im Eherecht 47 . Mag auch die Zurückhaltung des staatlichen Rechts in frühen Zeiten, wie wir sie etwa im römischen Recht finden, eher auf dem Gesamtcharakter des Staates beruhen, der 45 Man denke an die modernen Kartelle oder an den Großgrundbesitz der sogen. Potentiores in der ausgehenden Antike. 46 47

Thomas B. Macaulay, The History of England I (1849), S. 25.

vgl. die heute noch lesenswerte Darstellung bei Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I (1840), S. 344, wonach die Familienbcziehungen „nur teilweise dem Rechtsgebiet" angehören.

166

Das Recht als Kulturerscheinung eben erst wenige Aufgaben übernommen hat und übernehmen kann, so ist es doch bezeichnend, wenn die gleiche Zurückhaltung im modernen Recht wiederkehrt. So wenn wir etwa im BGB lesen, d a ß die Ehegatten einander z u r „ehelichen Lebensgemeinschaft" verpflichtet sind. D a m i t verzichtet das Gesetz bewußt auf eine Normierung im einzelnen und verweist statt dessen einfach auf das Wesen der Gemeinschaft selbst. Ähnliches kehrt häufig dort wieder, wo das Recht es mit einer echten Gemeinschaft zu tun hat. So muß sich z. B. im Kirchenrecht die Rechtsordnung darauf beschränken, die historisch zufällige Gemeinde abzugrenzen, und ihr das Ziel zuweisen, echte Gemeinde Christi zu werden. Jene echte Gemeinschaft aber, die den Leib Christi bildet, entzieht sich rechtlicher Fixierung und kann rechtlich-organisatorisch nicht geschaffen werden. Möglich ist dem Recht bestenfalls, die enge Verbundenheit der Glieder der Gemeinschaft in ihren Beziehungen zu Dritten, die außerhalb der Gemeinschaft stehen, zu berücksichtigen. Ja, das Recht k a n n Gemeinschaft zerstören. Sein Vordringen ist ein Zeichen f ü r den Verfall der Gemeinschaft. D a wo das Recht in die Gemeinschaft eindringt, wo es die Befugnisse des einzelnen genau abzugrenzen und festzulegen beginnt, da wird die Gemeinschaft entweder zum Vertrage oder zu einem rechtlich beschränkten (unechten) Machtverhältnis denaturiert. Die Auflösung der feudalen Gutsherrschaft seit der französischen Revolution hat man mit dem Argument bekämpft, sie löse nicht ein Machtverhältnis, sondern zerstöre in vielen Fällen ein echtes p a t r i a r chalisches Gemeinschaftsverhältnis. D e r gleiche Gedanke bestimmte Friedrich Wilhelm IV., die Einführung einer Verfassung abzulehnen; er wollte das persönliche Verhältnis zu seinem Volk nicht durch Rechtsbeziehungen ersetzen. Auch dem modernen Arbeitsrecht hat man ähnliche Vorwürfe gemacht. D e m ist man seitens der Reformer mit dem Vorwurf falscher Romantik an die Adresse der Konservativen begegnet. Die Berechtigung dieser Kritiken hängt davon ab, wieweit vorher wirklich eine Gemeinschaft bestanden hat. D a m i t wird nun auch deutlich, w o die Existenzberechtigung des Rechts auch innerhalb der Gemeinschaft liegt und inwiefern das Recht auch ihr dienen kann. Es gibt keine irdische Gemeinschaft, in welcher die Person ihrer Mitglieder völlig u n d ohne jede Ausnahme aufgeht; es bleiben regelmäßig gewisse persönliche Interessen bestehen, die nicht vergemeinschaftet werden, in denen sich vielmehr der einzelne in seiner Besonderheit, als Individuum fühlt 4 8 . Hierin liegt nun 48

vgl. Vierkandt, Gesellsdiaftslehre (2. Aufl. 1928), S. 209. 167

Kapitel III die Möglichkeit eines Eingreifens f ü r das Recht; es k a n n diese — persönlich bleibenden — Interessen beschützen. Je beschränkter also die Sphäre ist, in der die Gemeinschaft sich auswirkt, je mehr individuelle Interessen bestehen bleiben, um so bedeutsamer wird daher die Aufgabe des Rechts im Rahmen der Gemeinschaft. In den großen und daher notwendig „abstrakten" Gemeinschaften der N a t i o n oder der Kirche ist daher der R a u m der Rechtsordnung weit und bedeutend. Je mehr sich im Rahmen solcher Gemeinschaften eine Gesellschaft entwickelt, um so mehr bedarf sie des Rechts. Der einzelne f ü h r t hier eine Doppelexistenz: als privates Glied der Gesellschaft und als Glied der Gemeinschaft. Das Kampfverhältnis steht im klaren Gegensatz zum Wesen des Rechts, soweit es auf gewaltsame Schädigung und Vernichtung des Gegners gerichtet ist 49 . Das ist mit der Friedenstendenz des Rechtes unvereinbar. Gewaltsamer Kampf ist dem Recht nur in seiner primitivsten Form, „als Spielregel-Recht", zugänglich u n d droht außerdem ständig, auch diese Ansätze einer rechtlichen Regelung zu vernichten. Das gilt besonders von den nationalen Massenkriegen der Gegenwart. Für sie gilt nicht n u r der Satz: inter arma silent leges; sie erschüttern vielmehr auf lange Sicht die Rechtsgesinnung und stellen die Möglichkeit des Rechts in Frage. Das liegt nicht nur daran, d a ß der einzelne im Krieg an Gewalt u n d Rechtlosigkeit gewöhnt w i r d ; es ist vor allem darin begründet, d a ß der Krieg den kollektiven Selbsterhaltungswillen u n d die kollektiven H a ß - u n d Rachegefühle ungeheuer stärkt und damit die Bereitschaft z u m Gelten-lassen anderer N a tionen, zu Gerechtigkeit und zur Bindung an Rechtsprinzipien in den Völkern vernichtet. Aber ein Kampf kann auch mit friedlichen Mitteln geführt werden: M a n denke an den innerpolitischen Kampf in demokratischen Staaten und an die modernen Arbeitskämpfe. Eine eigenartige Form des „friedlichen" Kampfes bietet ferner der wirtschaftliche Wettbewerb. In all diesen Fällen ist der Friedensforderung des Rechtes Genüge getan. Trotzdem ist das Recht auch in diesen Fällen, abgesehen von dem Gewaltverbot, darauf beschränkt, Spielregeln aufzustellen und deren Erhaltung zu garantieren. Es kann weder die Sicherheit eines Besitzstandes garantieren 5 0 noch k a n n es f ü r ein materiell gerechtes " Ebenso Horvath, Rechtssoziologie (1934), S. 162. Dort in Teil II, 2. Abschnitt eine eingehendere Untersuchung über Kampfbeziehung und Recht. 50 Diese erhebliche Einschränkung der Eigentumsgarantie durch den Wettbewerb wird in der Kritik des liberalkapitalistischen Wirtschaftsredites meist übersehen. 168

Das Recht als Kulturerscheinung

Ergebnis sorgen. Das erste zeigt sich, um ein praktisches Beispiel zu geben, z. B. darin, daß es gegen Schädigung durch Wettbewerb in der freien Marktwirtschaft keine Unterlassungsklage gibt. Das Recht muß sich auf Einhaltung der Spielregeln, auf Verhinderung unlauterer Mittel beschränken. Das gleiche gilt für den Wahlkampf in einer Demokratie. Der Verzicht auf eine materiell gerechte Lösung zeigt sich' hier z. B. darin, daß in einer Demokratie nicht nach bestimmten persönlichen Kriterien festgelegt ist, wer Präsident oder Abgeordneter wird. Die demokratische Rechtsordnung macht gar nicht den Versuch, den Würdigsten von sich aus zu bestimmen. Der Fürst in der monarchischen Staatsordnung ist dagegen der von Gott Ausgewählte und als solcher an äußeren Kriterien erkennbar. Auch die Rechtsordnung einer Wettbewerbswirtschaft legt nicht — etwa nach Prüfung der Eignung — fest, wer was produzieren soll und darf (wie das jede Planwirtschaft tut); sie gibt nur Chancen und überwacht die Kampfesweise. Ebensowenig kann und will sie das Ergebnis, die Reichstumsverteilung, selbst bestimmen. Überall wo das Recht den friedlichen Kampf zuläßt, muß es also in gewissem Sinn darauf verzichten, seine höchsten Ziele zu verwirklichen: Gerechtigkeit und Sicherheit. Wo es diese Ziele erreichen will, muß es den Kampf ausschalten und selbst bestimmen, was sonst Ergebnis des Kampfes war. Wenn wir trotzdem, gerade in der abendländischen Kultur, verhältnismäßig häufig ein Kampfverhältnis in die Rechtsordnung übernommen sehen, so kann das geschehen sein, weil damit unter Umständen ein anderes hohes Gut gewonnen wird: die Freiheit. Denn nur um dieses Preises willen, nur wenn man das Risiko von Wettbewerb und friedlichem Kampf in Kauf nimmt, kann man Freiheit haben. Wer Sicherheit und auch wer eine von Menschen verwirklichte umfassende Gerechtigkeit will, der muß auf die Freiheit verzichten. Man kann unter Menschen nicht Piatos Republik und persönliche Freiheit zugleich haben 51 . IV. Unsere Analyse führt zu folgenden Ergebnissen: 1. Das Recht gehört der Welt der Geschichte an. Es lebt, wie alles geschichtlich Gewordene, in vielfachen individuellen Gestaltungen. Der Gedanke des 18. Jahrhunderts, ein einziges überall „richtiges" vollständiges Rechtssystem in Axiomen zu deduzieren, scheint gegenüber dieser Mannigfaltigkeit undurchführbar — darin hat die histo51

vgl. oben Kap. I Absdin. I. 2. 169

Kapitel III rische Rechtsschule sicher richtig gesehen. Auch zeigt das Recht — selbst wenn seine G r u n d l a g e n in einem bestimmten System festliegen — sich stets leichteren Veränderungen im einzelnen unterworfen; es ist nichts Starres, sondern in einem steten Prozeß der Entwicklung, der A n p a s s u n g an die Forderungen des Lebens begriffen. Ein einheitliches, über den ganzen R a u m der Geschichte sich erstreckendes Entwicklungsgesetz — wie es Philosophie u n d Wissenschaft des 19. J a h r h u n d e r t s vielfach annahmen — ist allerdings nicht feststellbar. Weder im Sinne einer allmählichen U m f o r m u n g durch kleinste, unwillkürlich erfolgende Veränderungen, noch in demjenigen einer notwendigen (etwa im Sinne der „dialektischen T r i a d e " erfolgenden) A b f o l g e v o n „ E p o c h e n " läßt sich die Rechtsgeschichte schematisieren. Weder das B i l d des organischen Wachstums, das der historischen Rechtsschule so teuer w a r , noch die D i a l e k t i k der Hegel'schen oder der marxistischen Philosophie bieten eine D e n k f o r m , mit der sich die uns bekannten F a k t e n ohne Z w a n g einordnen ließen. 2. Andererseits sind die vielfältigen Gestalten, in denen uns Recht entgegentritt, nun aber nicht chaotisch und dem ordnenden wissenschaftlichen D e n k e n unzugänglich. Sie lassen sich als T y p e n unter verschiedenen Gesichtspunkten o r d n e n ; dabei lassen sich diese T y p e n auch nach bestimmten Kriterien bewerten, ein höheres von einem primitiven Rechtssystem unterscheiden. Auch lassen sich bleibende G r u n d tendenzen, die mit der Rechtsbildung v e r f o l g t werden, ebenso feststellen, wie immer wiederkehrende (und in diesem Sinne überhistorische) G r u n d p r o b l e m e und A n s ä t z e f ü r L ö s u n g e n ; m a n denke an Institutionen wie Gericht, V e r t r a g oder Eigentum. 3. D a s Recht steht im G a n z e n der K u l t u r , aber es hat auch — durch die eigentümlichen Grundtendenzen, denen es dient: Friede, Sicherheit und Gerechtigkeit durch O r d n u n g — seine eigene Stellung. Wer, wie die allgemeine Rechtslehre des juristischen Positivismus, d a r a u f verzichtet, diesen inhaltlichen Zielen nachzugehen, denen das Recht dient, verzichtet d a r a u f , es als K u l t u r p h ä n o m e n zu verstehen; er kann über f o r m a l e Bestimmungen, wie sie e t w a Austin und Kelsen bieten, nicht hinauskommen. A b e r ebensowenig k a n n das Recht nur als „ A u s d r u c k einer E p o c h e " eines Volksgeistes, einer Rassenseele oder ähnlicher — übrigens schwer z u definierender Potenzen — verstanden werden. G e w i ß weist das Recht eines S t a a t e s als Teil einer kulturellen Gesamtüberlieferung jeweils besondere Z ü g e a u f : N i e m a n d w i r d im modernen deutschen Recht z . B . Z ü g e einer N e i g u n g z u r hartnäckigen V e r f o l g u n g der letzten Detailprobleme u n d einen gewissen M a n g e l an G r o ß z ü g i g k e i t übersehen, die gut zu manchen 170

Das Redit als Kulturerscheinung anderen Zügen der deutschen K u l t u r passen. Noch mehr w i r d dies f ü r die Rechtsanwendung gelten. A b e r das Recht ist zunächst die L ö s u n g bestimmter Probleme der sozialen O r d n u n g und daher in seiner Gestaltung in hohem M a ß e sachgebunden: daher sind auch Ü b e r t r a g u n g e n v o n einer Rechtskultur in die andere in großem U m f a n g e möglich. I m G a n z e n der K u l t u r ist d a s Recht z w a r vielfältig v o n anderen Kulturmächten beeinflußt. Aber es k a n n nicht in kausaler E r k l ä r u n g auf einen einzigen F a k t o r — etwa die Produktionsverhältnisse — zurückgeführt werden, so wenig die R o l l e wirtschaftlicher Macht, wie der Macht überhaupt, bei der Rechtsbildung geleugnet werden soll. Vielmehr laufen die F ä d e n zwischen den verschiedenen Kulturbereichen hin und her; es besteht eine Interdependenz, die sich einer einseitigen Z u o r d n u n g nicht f ü g t . Sucht m a n nach einer Formel f ü r die Bildung des Rechts, so scheint das B e g r i f f s p a a r v o n Challenge und Response, das T o y n b e e f ü r die B i l d u n g der K u l t u r überhaupt geschaffen hat, auch hier a m angemessensten zu sein. D i e Menschen sehen sich durch die Verhältnisse jeweils v o r O r d n u n g s p r o b l e m e gestellt, die sie zu lösen haben. D i e soziale O r d n u n g ist nicht ein f ü r alle M a l gegeben und festgelegt: sie muß in der jeweiligen Situation, v o r Problemen der Zeit neu gefunden werden. S o entwickelt auch sie sich als die „ A n t w o r t " auf eine „ H e r a u s f o r d e r u n g " , die der Mensch schöpferisch aus seinen geistigen K r ä f t e n , aus — richtiger oder falscher — Beurteilung der Sachlage, aus — richtiger oder falscher — Einsicht in das, w a s p r a k tisch und ideal notwendig ist, gestaltet. D i e A n t w o r t k a n n gelingen: sie kann der H e r a u s f o r d e r u n g a d ä q u a t sein; sie k a n n aber auch mißlingen und dann die L e b e n s k r a f t einer Gesellschaft auf das schwerste beeinträchtigen. E i n m a l gefundene gute Lösungen können sich als d a u e r n d p r a k t i k a b e l erweisen; sie können auch zur hemmenden Fessel werden. Wie überall in der Kulturentwicklung stehen geglückte und verfehlte Lösungen nebeneinander.

171

KAPITEL IV D I E GRUNDLAGEN DES RECHTS Die klassische Rechtsphilosophie, wie sie in der Antike entwickelt worden ist, hat feste Grundlagen für das Recht in zwei Richtungen gesucht: in sittlichen Gesetzen und in Gegebenheiten der Natur. Hier suchte man Zusammenhänge, die für den Gesetzgeber wie für den Richter vorgegeben und zugleich normativ angesehen wurden. Diesem Ansatz soll auch unsere Untersuchung folgen. Sie soll sich zunächst der Natur der Sache, dann den sittlichen Grundwerten des Rechtes zuwenden. I. Wenn der Jurist von der „Natur der Sache" spricht, so kann darunter zunächst nichts anderes als das, was der Ausdruck seinem wörtlichen Sinn nach zu besagen scheint, verstanden werden. Man denkt an die Beschaffenheit der Gegenstände, welche im sozialen Leben, etwa im Wirtschaftsverkehr, eine Rolle spielen. So spricht er etwa von beweglichen und unbeweglichen Sachen und begründet aus ihrer Natur etwa verschiedene Formen der Besitzübergabe. Wenn der altrömische Eigentumsprozeß regelmäßig Gegenwart der umstrittenen Sache in iure forderte, so waren Grundstücke „ihrer Natur nach" davon ausgeschlossen. Oder wir sprechen von Sachen, die ihrer Natur nach sich nicht für eine Hinterlegung eignen (vgl. § 383 BGB), ihrer Natur nach zum Verbrauch bestimmt sind usw. Aber der Sinn des Ausdrucks geht über diese Wortbedeutung hinaus. Nehmen wir einen Vertrag, an dem ein Jugendlicher beteiligt ist. Auch hier fordert die „Natur der Sache" eine andere Behandlung, als wenn nur Erwachsene beteiligt sind. Aber damit ist hier etwas anderes gemeint. Genauer gesehen sind es zwei Dinge, deren Natur hier eine Rolle spielt. Einmal die Eigenart des Geschäftsverkehrs, an Intelligenz, Vorsicht und Erfahrung gewisse Anforderungen zu stellen; zum anderen die Natur des Kindes, dem es an dieser intelligenten Übersicht und Erfahrung eben gebricht. Damit erhält der Begriff der „Natur der Sache" eine erheblich weitere Bedeutung. Er umschließt einmal die Natur des Menschen, seine natürlichen Fähigkeiten, Triebe, Willensziele usw., so wie sie bei den verschiedenen 173

Kapitel IV

Altersstufen in Erscheinung treten. Er begreift darüber hinaus aber auch die eigenartige Sachgesetzlichkeit in sieb, die den einzelnen Tätigkeitsbereichen und Gemeinschaften des Menschen eigen ist. Beides bedarf genauerer Erläuterung 1 . Der Mensch ist der Mittelpunkt der Rechtsbildung. Seine leibseelische Beschaffenheit spielt auf allen Rechtsgebieten eine entscheidende Rolle. Seine Geburt, seine Entwicklung, die Schutzbedürftigkeit des Kindes, die Trennung der Geschlechter, seine Triebe und Leidenschaften, die Organisation und Inhalte seines Geisteslebens: das alles ist für das Recht von höchster Bedeutung. Ohne Fähigkeit und Willen des Menschen zum Besitz, zur selbstständigen Daseinsvorsorge und zur eigenen Lebensgestaltung wäre eine Institution wie das Eigentum nicht denkbar, ohne Ehrgefühl gäbe es keinen Ehrenschutz, ohne persönliche geistige Schöpfungen kein Urheberrecht und kein Patentrecht. — Aber auch die Eigenart des seelischen Geschehens im einzelnen kann von Bedeutung sein; man denke nur an den psychologischen Tatbestand des Irrtums. Mit Recht stellt Flume fest, daß dieser „psychologische Tatbestand" eine „entscheidende juristische Reievanz" hat 2 . Auch Schuld und Vorsatz sind dem Rechte vorgegebene Sadiverhalte 3 . Von entscheidender Bedeutung ist endlidi das Streben des Menschen nach Gemeinschaft und Zusammenarbeit. Ebenso bedeutsam ist die Beschaffenheit der Umwelt des Menschen. Wir haben den Unterschied zwischen beweglichen und unbeweglichen Sachen erwähnt. Dazu kommt aber vieles andere bis hin zu der Tatsache des Wechsels von Tag und Nacht, im Grunde alles, was das Dasein des Menschen beeinflußt: die Knappheit der Lebensgüter, die Notwendigkeit, sie in Arbeitsteilung zu gewinnen usw. Von besonderer Bedeutung ist die Technik mit ihren eigenartigen Sachgesetzen. Richtig hat M. E. Mayer hervorgehoben, daß aus dem Umgang des Menschen mit den Dingen, insbes. mit Maschinen u. ä. auch besondere 1

Eine etwas eingehendere Darstellung findet sich bei Eugen Huber, Recht und Rechtsverwirklichung, (2. Aufl. 1925), S. 281—319. Huber spricht hier von „Realien der Gesetzgebung". — vgl. ferner Regelsberger, Pandekten I (1893), S. 68 ff.; Demburg, Pandekten I (7. Aufl. 1902), S. 84. Ablehnend: Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929), S. 78 ff. — vgl. auch Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festsdirift f. Laun (1948), S. 157 ff. 2 3

Flume, Eigenschaftsirrtum und Kauf (1948), S. 32.

vgl. dazu Welzel, Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Handelns, SJZ 1948, S. 368 ff., 371.

174

Die Grundlagen des Rechts

Verhaltensregeln hervorwachsen, deren Beachtung im Zusammenleben verlangt werden muß und die daher zu Rechtspflichten werden 4 . In wievielen Fällen der Fahrlässigkeit ist die verletzte N o r m im Grunde eine solche Regel des technischen Verhaltens; man denke an Verkehrsunglücke, Betriebsunfälle u. ä. Hier besteht die Schuld des Täters in der Regel darin, daß er solche aus der N a t u r der Sache sich ergebenden Klugheitsregeln unbeachtet gelassen hat, etwa in der Garage geraucht hat u. ä. Mit dem bisher Betrachteten hängt ein Weiteres eng zusammen: die Sachgesetzlichkeit der einzelnen Tätigkeitsbereiche. Es ist uns bereits eine Eigenart des Geschäftsverkehrs entgegengetreten; aber das ist durchaus nicht die einzige, die im Rechtsleben eine Rolle spielt. Wenn wir z. B. im § 354 des Handelsgesetzbuches lesen: „Wer in Ausübung seines Handelsgewerbes einem anderen Geschäfte besorgt oder Dienste leistet, kann dafür auch ohne Verabredung Provision . . . fordern", so ist das aus der „ N a t u r der Sache", nämlich der N a t u r des kaufmännischen Geschäftsverkehrs abgeleitet. Der Kaufmann ist homo oeconomicus; es kann nicht erwartet werden, daß er ohne Entgelt tätig wird; damit muß man rechnen; es liegt in der N a t u r der Sache, entspricht der N a t u r des kaufmännischen Verkehrs. Der geschäftliche Verkehr ist eben ein Austausch wirtschaftlicher Werte; Schenkungen sind ihm fremd. Ebenso spielt aber die Eigengesetzlichkeit anderer Lebensbereiche eine Rolle. So ist z. B. f ü r das Familienrecht das Wesen der Ehe von Bedeutung, f ü r das Beamtenrecht das Wesen des Staatsdienstes, für das Militärrecht das Wesen des Heeres mit seiner eigentümlichen Hierarchie und der strengen Unterordnung des einzelnen unter das Ganze. Das Kirchenrecht kann ohne das Wesen religiösen Erlebens und religiöser Gemeinschaft nicht verstanden werden. Überall tritt uns die „Natur der Sache" entgegen. Soziologie, Sozialpsychologie und N a tionalökonomie erforschen sie. Aber nicht nur die Lebensbereiche im ganzen, wie der wirtschaftliche Geschäftsverkehr, die Ehe oder das religiöse Leben, weisen ihre eigene Gesetzlichkeit auf, sondern auch bestimmte einzelne Vorgänge, ein bestimmter T y p von Geschäften etwa. Das Pfandgeschäft hat, abgesehen von der rechtlichen Konstruktion im einzelnen, eine ganz bestimmte wirtschaftliche Struktur. Geldkredit wird gegen Sachsicherheit gegeben; typische Interessen treten auf: der Gläubiger will Sicherung und möglichst leichte Verwertung des Pfandes; der Schuldner dessen schonsame Verwendung und eventuelle Begrenzung seines 4

vgl. M. E. Mayer,

Rechtsnormen und Kulturnormen (1903), S. 79. 175

Kapitel IV Verlustes 5 . Entsprechendes gilt v o n der Miete, dem K a u f usw. D i e Sachmängelhaftung e t w a erwächst aus der Rücksicht auf gewisse typische E r w a r t u n g e n des K ä u f e r s . Ähnliches findet sich in allen Rechtsgebieten. Betrachten wir e t w a die O r g a n i s a t i o n der J u s t i z . D i e Stellung des Richters f o r d e r t gesicherte U n a b h ä n g i g k e i t . D e n n der Richter muß unparteiisch sein. Ein Riditer, der mit einer Partei v e r w a n d t ist, d a r f in der Sache nicht entscheiden. D a s liegt in der N a t u r der D i n g e . D a s s e l b e können wir aber auch v o n der O r g a n i sation der wissenschaftlichen Forschung sagen. D i e Wahrheit k a n n m a n nur selbst suchen u n d finden; befehlen läßt sie sich nicht. D a s ist die „ N a t u r " des wissenschaftlichen Erkenntnis Vorganges, welche das Recht berücksichtigen muß. Auch hier, bei typischen Einzelvorgängen finden wir also die „ N a t u r der Sache". Letzten Endes beruht diese „ N a t u r der Sache" im sozialen Leben auf der N a t u r des Menschen 6 u n d der Welt, in der er lebt. Ich habe an anderer Stelle skizziert, wie sich daraus das soziale Leben entwickelt 7 ; ich will m i d i hier auf Andeutungen beschränken. D e r Mensch verwirklicht im sozialen Leben die verschiedenen Tendenzen, die in ihm lebendig sind; seine einfachen Triebe und Instinkte, wie die nach N a h r u n g und Wohnung, seine vitalen Bestrebungen nach Macht und Einfluß, Ehre u n d Freiheit, seine geistigen Zielsetzungen: er sucht die Wahrheit, das Schöne, das Heilige. E r sucht Gesellung u n d G e meinschaft. Alle diese Tendenzen haben ihr besonderes G e p r ä g e ; sie formen den Menschen, wie S p r a n g e r das in seinen „ L e b e n s f o r m e n " geschildert hat, und sie formen die Eigengesetzlichkeit der einzelnen sozialen Bereiche. Bei der charakteristischen Gesetzlichkeit, die so entsteht, spielt die Welt, in der der Mensch lebt, und ihre Bedingungen eine entscheidende Rolle. D i e Gesetzlichkeit des Wirtschaftslebens z. B., welche die N a t i o n a l ö k o n o m i e untersucht, w i r d erst dadurch m ö g lich, d a ß der homo oeconomicus seine Bedürfnisse aus einem Güterv o r r a t befriedigen muß, der im Verhältnis z u m B e d a r f k n a p p ist und dessen G e w i n n u n g und V e r w e r t u n g Arbeitsteilung erfordert. Überblickt m a n diesen T a t b e s t a n d , so sieht m a n , d a ß sich der so bescheiden klingende Ausdruck „ N a t u r der Sache" zu der Vorstellung einer durchgehenden O r d n u n g der sozialen D i n g e zu erweitern scheint. D e n D i n g e n selbst scheint eine O r d n u n g innezuwohnen, die die Gerechtigkeit nur z u erkennen und z u berücksichtigen braucht, um sicherzugehen. „ D i e Lebensverhältnisse tragen, wenn auch mehr oder vgl. darüber Heck, Grundriß des Sachenrechts (1930), § 76 Nr. 9 und 10. Gustav Hugo gab daher in seinem „Lehrbuch des Naturredits" eine ganze „Juristische Anthropologie"! 7 vgl. Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts (1947) 1. Kapitel. 5

6

176

Die Grundlagen des Rechts weniger entwickelt, ihr M a ß und ihre Ordnung in sich." 8 D i e N a t u r der Sache scheint der Gerechtigkeit die Maßstäbe zu geben, so daß sie sich zu einer geschlossenen Ordnung erweitern würde, indem sie uns auf die in den Dingen liegende Ordnung selbst verweist. Die Gerechtigkeit bestünde dann darin, die Mensdien und die sozialen V o r gänge in der Rechtsordnung so zu ordnen, ihnen den P l a t z zuzuweisen, der ihnen nach der Seinsordnung selbst zukommt. D i e Aufgabe des gerechten Gesetzgebers würde sich aus der der Entsdieidung in eine solche der Erkenntnis verwandeln: das Naturrecht, zu dem sich die Rechtsidee erweitern würde, wäre eine Spiegelung der Ordnung, die in den Mensdien und Dingen selber liegt. D i e Erkenntnis des wahren Seins würde den Gesetzgeber instand setzen, jedem das Seine zu geben. Diese Verbindung des Gerechtigkeitsgedankens mit dem einer ewigen Seinsordnung ist in der T a t geschichtlich früh vollzogen worden. W i r finden ihn bei den Stoikern in der Lehre von der lex aeterna, dem durchgehenden göttlichen Weltgesetz, das, von der menschlichen Vernunft erkannt, den Inhalt der lex naturalis ausmacht. „Lex est ratio summa insita in natura quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria: eadem ratio cum est in hominis mente confirmata et confecta, lex est. Itaque arbitrantur prudentiam esse legem, cuius ea vis sit, ut recte facere iubeat, vetet delinquere . . . A lege ducendum est iuris exordium; ea est enim naturae vis, ea mens ratioque prudentis, ea iuris atque iniuriae regula." 9 . Diese lex aeterna begründet das moralische Gesetz, aber auch das, was dem Menschen entspricht und zukommt. D a h e r kann denn auch der Gedanke aufkommen, das Recht aus der N a t u r des Menschen, seiner Bestimmung zur Gemeinschaft 1 0 zu erklären: „ N a t u r a enim iuris . . . ab hominis repetenda n a t u r a . " 1 1 Seine vollkommene Ausbildung findet dieser Gedanke in der Naturrechtslehre des hl. Thomas. Für ihn ist das „suurn", was die Gerechtigkeit jedem zu geben hat, dasjenige, was nach der Seinsordnung ihm zugeordnet, auf ihn hingeordnet ist. Jedes Wesen und jede Institution, etwa S t a a t und Ehe, haben ihren natürlichen Sinn, ihr xiXog, das ihnen von G o t t gegeben ist 1 2 . Das Recht muß jedem geben, was ihm seiner Wesensnatur nach gemäß der Dernburg, Pandekten I (7. Aufl. 1902), S. 84. » Cicero, De Legibus I. 6. 18 u. 19. 10 vgl. Cicero, De Legibus I, 12, 33. 11 Cicero, De Legibus I, 5, 17; ferner über die stoisdien Lehren: BarthGoedeckemeyer, Die Stoa (5. Aufl. 1941), S. 101. 12 vgl. Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (2. Aufl. 1947), S. 49/50. 8

177 12

C o i n g ,

Rechtsphilosophie

Kapitel IV Schöpfungsordnung Gottes zukommt. Diese Ordnung ist der Maßstab des Guten und Gerechten. In der protestantischen Sozialphilosophie hat vor allem Friedrich Julius Stahl, der philosophische Begründer des preußischen Konservatismus im 19. Jahrhundert, diese Auffassung entwickelt. Für Stahl steht neben der Individualethik, welche das Handeln des einzelnen betrifft, das „Ethos der Gemeinexistenz" 1 3 . Es ist die Ordnung der gemeinsamen Lebensverhältnisse der Menschen. Sie entsteht dadurch, daß den Einrichtungen des menschlichen Soziallebens, der Ehe, dem Staat, den Ständen, ein sittlicher Zweck (ziXoQ) immanent ist, der ihnen von G o t t in der Schöpfung gesetzt ist. Diese Ordnung ist das „objektive Ethos" oder die „sittliche W e l t " 1 4 . Diese Ordnung, nicht die Gerechtigkeit (welche sich vielmehr nur an der gegebenen ethischen Ordnung zu orientieren hat) ist die Grundlage des Rechts 1 5 . Das Recht ist ein Abbild des göttlichen Weltplanes, der „freien, göttlichen Weltökonomie" 1 6 . Freilich haben weder Thomas noch Stahl gelehrt, daß die Erkennbarkeit dieses Seins-Ordo so vollkommen sei, daß sie uns jeder Entscheidung überhöbe. Zum mindesten bleibt es notwendig, die konkrete Situation jeweils durch konkrete Entscheidungen zu ordnen, die zwar auf den grundsätzlichen Einsichten beruhen, aber den Besonderheiten der Situation angepaßt sind 1 7 . Darüber hinaus ist aber gerade aus dem Bereich christlichen Denkens heraus die durchgehende Erkennbarkeit einer solchen Seinsordnung überhaupt immer wieder in Frage gestellt und die Fragwürdigkeit der irdischen sozialen I n stitutionen betont worden. Das gilt besonders von der Staatslehre des hl. Augustinus. Die protestantische Soziallehre hat immer den vorläufigen und den Not-Charakter der sozialen Einrichtungen betont. Staat und Recht erscheinen hier nicht als Ausdruck einer ewigen Seinsordnung, sondern als Noteinrichtung im Äon des Sündenfalls. Die Lehre von dem erkennbaren Ordo des Seins wird abgelehnt, weil 13

vgl. ]. F. Stahl, Die Philosophie des Rechts (2. Aufl. 1845/1846), S. 77.

14

vgl. Stahl, aaO., S. 79/80.

15

vgl. Stahl, aaO., S. 165, 244, 247

vgl. Stahl, aaO., S. 93. In stark abgeschwächter Form finden sich derartige Gedankengänge auch in der Sozialphilosophie E. Brunners, vgl. dessen „Gerechtigkeit" (1943). Auch die von Emge in: Sicherheit und Gerechtigkeit (1940), S. 28 vertretene Auffassung, daß Gerechtigkeit herrsche, wenn jeder seinem Wesen gemäß handele, setzt einen solchen „ordo rerum" im Grunde voraus. 16

17 Bei Thomas handelt es sich dabei um die conclusiones und determinationes zu den Naturgrundsätzen vgl. Summe, 2.1. Q. 94.4; 95.4.

178

Die Grundlagen des Rechts

sie dem Irdischen eine eigene Dignität als Abbild des Göttlichen verleiht 18 . Dieser Gegensatz, der von grundlegender Bedeutung für die Gesamteinstellung zum Menschen ist, kann hier nicht verfolgt werden. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß die Bedeutung der Seinsordnung als Maßstab f ü r die Gerechtigkeit auch in der christlichen Sozialphilosophie immer wieder eingegrenzt und in Zweifel gezogen ist. Die Problemgeschichte gibt hier einen Hinweis, der zur Vorsicht mahnt. Diese Vorsicht wird nun in der Tat auch von der Erfahrung bestätigt. Zwar ist die Erkenntnis der Seinszusammenhänge, der menschlichen Natur, der Gesetzlichkeit der sozialen Prozesse für die Schaffung eines gerechten Rechts unentbehrlich. Der Gesetzgeber braucht nicht nur Sachkenntnis (im Sinne der Kenntnis der vorliegenden konkreten Probleme und Interessen); er bedarf auch des allgemeinen Wissens um menschliches Verhalten, etwa auf dem Gebiet der Wirtschaft. Wo typische Einzelinteressen übersehen werden, besteht die Gefahr, daß sie sich praeter legem doch durchsetzen, das Recht also wirkungslos wird. Ein klassisches Beispiel bietet die Behandlung der Sicherungsübereignung im geltenden deutschen Recht. Das BGB kannte keine Pfandbestellung ohne Besitzübertragung. Tatsächlich wird eine solche Pfandbestellung aber immer wieder notwendig, wie u. a. auch die Rechtsgeschichte beweist 19 . Im modernen Geschäftsverkehr tritt vor allem ein Bedürfnis zur Benutzung von Warenbeständen als Kreditgrundlage hervor. Bei ihnen ist aber eine Übertragung des unmittelbaren Besitzes an den Pfandgläubiger ausgeschlossen, wenn der Pfandschuldner seinen Betrieb fortsetzen soll. Das Ergebnis war, daß die Sicherungsübereignung, die an und f ü r sich eine Gesetzesumgehung darstellt, aufkam und von der Rechtssprechung akzeptiert wurde. Die Absicht des Gesetzgebers war nicht erreicht worden, weil er die N a t u r der Dinge unzureichend beachtet hatte. Ähnliche Beispiele ließen sich vermehren; im großen ist die rechtsbildende Tätigkeit der römischen Prätoren Ausdruck dieses Gewichtes der vorhandenen Lebensinteressen gegenüber einem veralteten Gesetz. Handelt es sich hier um typische Einzelinteressen, so kann die Nichtbeachtung der Wesensgesetze von sozialen Institutionen durch das positive Recht die Gefahr sozialer Unordnung oder sozialer Fehllfl vgl. dazu etwa Thielicke, insbes. S. 55.

Kirdie und Öffentlichkeit (1947), S. 50 ff.,

19 vgl. etwa die Ausbildung des interdictum Salvianum im römischen Redit.

179

Kapitel IV

entwicklungen auf bestimmten Gebieten mit sich bringen. So bedarf z. B. der Staat als soziale Machtorganisation eines Behördenapparates, der fest in der H a n d der Regierung ist. Andernfalls kann er die Funktionen, die ihm im sozialen Leben zufallen, nicht erfüllen. Im Beamtenkörper des Staates muß daher das Prinzip des durchgehenden Gehorsams herrschen. Dieses Prinzip kann aus Rechtsgesichtspunkten Einschränkungen erleiden; aber es darf nicht aufgehoben werden. Daher ist ein allgemeines Streikrecht der Beamten ein Unding; es muß im Ergebnis zu einer Lahmlegung des Staatsapparates durch Unverantwortliche, die neben und außerhalb der Regierung stehen, und damit zu Unordnung führen. Ebenso ist etwa die Verbindung von kirchlicher Leitung und staatlicher Regierungsgewalt in einem Lande, aber auch die völlige Verbindung des Erziehungswesens mit der staatlichen Macht bedenklich, weil das Leben des Staates als einer Machtorganisation völlig anderen Gesetzen folgt als das einer Kirche oder einer Erziehungsorganisation und die organisatorische Verbindung stets die Gefahr in sich birgt, daß der Staat die Kirche oder die Erziehung von ihren eigentlichen Aufgaben im Interesse seiner Machtorganisation ablenkt. Die Beachtung des inneren Wesens der verschiedenen Organisationen hat vor allen Dingen im öffentlichen Recht Bedeutung gewonnen und in der Lehre von den Institutionen, wie sie Hauriou entwickelt hat, Ausdrude gefunden. Wenn er sagt, daß jede institutionell gebundene öffentliche Gewalt an eine „idée mère de l'entreprise" gebunden und damit von selbst begrenzt sei20, so ist damit eben der in der N a tur der Sache liegende Organisationszweck, ihr inneres Wesensgesetz, gemeint, dem sich die rechtliche Ausgestaltung anpassen muß. Die Lehre von der Institution in diesem Sinn gehört in den Bereich der Gesamtlehre von der N a t u r der Sache. Noch deutlicher — und in ihren Auswirkungen für das soziale Leben noch bedrohlicher — zeigt sich die Gefahr, die in der Nichtbeachtung der „ N a t u r der Sache" durch das Recht liegt, dann, wenn die Rechtsordnung den Versuch macht, an und f ü r sich legitime Tendenzen des Menschen dauernd zu unterdrücken 21 . Sie stellt den einzelnen dann dauernd vor die Wahl, entweder sehr starke und normalerweise auch vom Recht geschützte Interessen aufzugeben oder ungesetzlich zu handeln. Praktisch treibt sie ihn damit regelmäßig in die 20

vgl. Droit administratif (11. Aufl. 1927), S. 41.

" vgl. auch die Bemerkungen E. Hubers über die „neutrale" Haltung des Gesetzgebers zu den Eigenarten des Menschen: Redit und Rechtsverwirklichung (2. Aufl. 1925), S. 293.

180

Die Grundlagen des Rechts Illegalität. Ein solcher Zustand bestand z. B. in Deutschland gegen Ende des letzten Krieges, als der kommende Zusammenbruch vor aller Augen lag, trotzdem aber nicht nur die Feststellung dieser T a t sache, sondern auch jede Sicherungsmaßnahme, z. B. Vorbereitung der Flucht aus bedrohten Gebieten seitens der zivilen Bevölkerung oder sichlich notwendiger Rückzugsoperationen der militärischen Führung, unter Strafe verboten waren. Ähnlich wirkte nach dem Kriege w ä h r e n d der sogen, „aufgestauten Inflation" die v o m Recht erzwungene Aufrechterhaltung der Fiktion des Geldwertes und das Verbot des Warentausches. Das an und f ü r sich legitime Bestreben, f ü r die veräußerte Ware einen wirklichen Gegenwert zu erhalten, w a r nun plötzlich' unter Strafe gestellt. In solchen Fällen zwingt das Recht den Menschen zu einem dauernden Widerspruch mit sich selbst 22 . Auf die D a u e r läßt sich das regelmäßig nicht aufrechterhalten: die illegalen H a n d l u n g e n werden immer zahlreicher, nehmen schließlich derartig überhand, d a ß die gesetzliche Strafe, wenn sie einmal ausgesprochen wird, als Willkür wirkt, die Richter (unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit vor dem Gesetz) in schwere innere K o n flikte geraten u n d die Autorität des Rechts schweren Schaden nimmt 2 3 . — Nichts wäre also falscher, als die Bedeutung der „ N a t u r der Sache" übersehen zu wollen. O h n e sie zu beachten, kann eine gerechte O r d n u n g nie geschaffen werden. Wir müssen, nach einem treffenden Ausdruck Franz Böhms, in die Dinge hineinhorchen, ehe wir d a r a n gehen, sie zu ordnen. Was wir aber aus der Betrachtung der „ N a t u r der Sache" selbst nicht gewinnen können, ist die Einsicht in eine geschlossene O r d n u n g . Selbst bei Einzelproblemen ist dies nicht möglich. Zitelmann hat versucht, eine rechtliche Regelung des Irrtums im wesentlichen aus den psychologischen Sachverhalten abzuleiten: aber der Versuch ist gescheitert. Die N a t u r der Sache bietet uns also Ordnungselemente, aber keine O r d n u n g selbst. Ihre Betrachtung f ü h r t zu der E r k e n n t nis, d a ß der Stoff, mit dem es die Rechtsordnung zu t u n hat, das soziale Leben, keine völlig ungeformte Masse ist, sondern schon gewisse Strukturen aufweist, an welche die rechtliche O r d n u n g a n k n ü p fen kann und muß. Aber die Feststellung dieser Strukturen enthebt uns nidit der Aufgabe, selbst wertend und ordnend einzugreifen. Sie macht die ordnende T a t der Rechtssetzung nicht unnötig. J a im Ge22

vgl. Veit, Geldreform und Geldverfassung (1948), S. 9. vgl. über ähnliche Folgen der Wirtschaftsgesetzgebung im 1. Weltkrieg und der Prohibitionsgesetzgebung in Amerika Exner, Kriminalbiologie in ihren Grundzügen (2. Aufl. 1944), S. 124/125. 23

181

Kapitel IV genteil, erst wenn wir wertend an die Sachverhalte herantreten, treten die Strukturen, die mit der N a t u r der Sache gemeint sind, deutlich hervor und erhalten ihre Relevanz 2 4 . Das wird schon bei der Behandlung des Menschen im Recht deutlich. Gewiß soll das Recht den Menschen zunächst einmal nehmen, wie er ist und mit allen seinen Eigenschaften rechnen. Aber es k a n n dabei nicht stehen bleiben. Es kann nicht allen Instinkten u n d Leidenschaften des Menschen einfach freie Bahn lassen. Es muß vielmehr einzelne Eigenschaften eindämmen, andere fördern und doch gelten lassen. D a z u m u ß es werten. Es stellt auch gewisse Ansprüche an den Menschen. Es verlangt von ihm, d a ß er sfth nicht gehen läßt und macht ihn verantwortlich, wenn er nicht sittlich beherrscht u n d vernünftig — entsprechend den Kulturnormen, um M. E. Mayers Ausdruck zu verwenden — handelt. Der Schuldbegriff der Fahrlässigkeit ist der Ausdruck solcher Anforderungen der Rechtsgemeinschaft an den Rechtsgenossen. Die Notwendigkeit der W e r t u n g zeigt sich weiter bei der Einzelabgrenzung, dem, was im Sinne des Thomismus als „determinatio" bezeichnet werden k a n n . N e h m e n wir wieder das Beispiel des P f a n d rechts. Die Betrachtung der N a t u r der Sache zeigt uns die typischen Interessen, die in Frage stehen, und die Beschaffenheit der Gegenstände, die in Betracht kommen. Sie zeigt uns etwa das Interesse des Schuldners daran, seine Sachwerte möglichst vollständig zur Kreditgewinnung auszunutzen, das entgegengesetzte des Gläubigers, eine möglichst reichliche Sicherung zu erhalten usw. N u n müssen diese Interessen aber im einzelnen durch eine praktikable Regelung abgegrenzt werden: das bedarf der Entscheidung, und z w a r der Entscheidung unter bestimmten Wertgesichtspunkten. Es mag d a f ü r sachlich nur eine beschränkte A n z a h l von Lösungen geben; immerhin, eine m u ß gewählt werden. Noch deutlicher tritt der fragmentarische C h a r a k t e r der Strukturen, die in der Sache selbst liegen, da hervor, w o zwei Lebensbereiche im sozialen Leben aufeinanderstoßen, z. B. Machtstreben u n d Erkenntnisverlangen, oder politisches Wollen u n d religiöse Überzeugungen. D e r Staat hält aus Gründen der Staatsraison die Äußerung bestimmter historischer oder nationalökonomischer Einsichten f ü r unerwünscht; er verbietet sie. Oder er hält es aus G r ü n d e n der politischen Machtbildung f ü r zweckmäßig, wenn ein einheitlicher Bekenntnisstand herrscht. M a n denke an den Grundsatz cuius regio eius religio. 24

vgl. dazu Stratenwerth, Sache (1957). 182

Das rechtstheoretische Problem der Natur der

Die Grundlagen des Rechts Beide Anliegen k ö n n e n v o m S t a n d p u n k t d e r politischen M a c h t her durchaus berechtigt sein. D a r f er n u n die W a h r h e i t u n t e r d r ü c k e n , die Glaubensüberzeugung mißachten? Auf solche F r a g e n k a n n die A n t w o r t n u r durch eine sittliche Entscheidung g e f u n d e n w e r d e n , die ihrerseits auf eine b e s t i m m t e Wertung z u r ü c k g e h t . D i e N a t u r der Sache, sofern w i r sie als b l o ß e Eigenschaft d e r D i n g e u n d des Menschen, als Eigengesetzlichkeit d e r sozialen Prozesse a u f f a s s e n , l ä ß t uns hier im Stich. W i r w e r d e n von neuem auf W e r t u n g e n z u r ü c k v e r w i e s e n . D a ß d e m tatsächlich so ist, k a n n noch v o n einer a n d e r e n F r a g e her deutlich gemacht w e r d e n ; es ist das P r o b l e m , w a n n D i f f e r e n z i e r u n gen im Recht „sachlich gerechtfertigt" sind. Betrachten w i r zu diesem Z w e c k eine Reihe v o n geläufigen rechtlichen U n t e r s c h e i d u n g e n : a) Ein V e r t r a g , den ein K i n d schließt, ist rechtlich a n d e r s zu beh a n d e l n als ein V e r t r a g , den ein E r w a c h s e n e r schließt. b) Bewegliche Sachen u n d G r u n d s t ü c k e w e r d e n hinsichtlich d e r Bes i t z ü b e r g a b e verschieden b e h a n d e l t ; die V e r f ü g u n g über G r u n d s t ü c k e ist im G e g e n s a t z zu d e r über bewegliche Sachen h ä u f i g erschwert, z. B. a n behördliche G e n e h m i g u n g e n g e b u n d e n . c) Eine s t r a f b a r e H a n d l u n g ist nicht v o r h a n d e n , w e n n die H a n d lung . . . in einem unverschuldeten, auf a n d e r e Weise nicht z u beseitigenden N o t s t a n d e z u r R e t t u n g aus einer g e g e n w ä r t i g e n G e f a h r f ü r Leib o d e r l eben des T ä t e r s . . . b e g a n g e n w o r d e n ist ( N o t s t a n d ) . d) E i n S t a a t schließt alle, die nicht d e r w e i ß e n Rasse a n g e h ö r e n , von jedem S t a a t s a m t aus. D i e D i f f e r e n z i e r u n g in a) ergibt sich, wie schon e r ö r t e r t , aus der N a t u r d e r Sache. D a s gleiche gilt v o n d e r unterschiedlichen B e h a n d lung beweglicher o d e r unbeweglicher Sachen, soweit die F o r m d e r Besitzübergabe in F r a g e steht. D a g e g e n h ä n g t die G e n e h m i g u n g s pflicht bei V e r f ü g u n g e n über G r u n d s t ü c k e schon m i t einer B e w e r t u n g — freilich nicht m i t einer moralischen — z u s a m m e n . G r u n d b e s i t z gilt als ökonomisch w e r t v o l l e r u n d sicherer. D i e besondere B e h a n d l u n g der N o t s t a n d s h a n d l u n g geht auf die „ N a t u r d e r Sache" insofern z u r ü c k , als m a n d e m s t a r k e n Selbsterh a l t u n g s t r i e b des Menschen R e c h n u n g t r ä g t . D a bei Vorliegen eines N o t s t a n d e s d e r Mensch nicht a n d e r s k a n n , als e n t w e d e r selbst Schaden an Leib u n d Seele zu n e h m e n o d e r ein f r e m d e s Rechtsgut zu v e r l e t z t e n , so soll er nicht b e s t r a f t w e r d e n . D i e N a t u r d e r Sache b e g r ü n d e t also die S o n d e r b e h a n d l u n g des N o t s t a n d e s . A b e r i n w i e 183

Kapitel IV

weit der Gesetzgeber nun in den Rechtsfolgen von den normalerweise geltenden Regeln abweichen will, das ist wiederum eine Bewertungsfrage. Das letzte Beispiel zeigt eine Unterscheidung, die sich rein auf eine Bewertung stützt. Die farbige Rasse wird niedriger bewertet. Ob das berechtigt ist, läßt sich ohne Werturteil nicht entscheiden. Die Beispiele zeigen, daß rechtliche Unterschiede nicht rein aus den unterschiedlichen sachlichen Eigenschaften der Dinge selbst folgen, daß wir vielmehr immer wieder auf Wertfragen stoßen, auch wenn wir der „Natur der Sache" nachgehen. Diese Erkenntnis wird bestätigt durch die Erfahrungen, welche die Schweizer Rechtsprechung bei der Anwendung des Gleichheitssatzes gemacht hat. Die Schweizer Verfassung garantiert die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 4) und gibt jedem Bürger die Möglichkeit, ihn betreffende Hoheitsakte daraufhin nachprüfen zu lassen, ob der Gleichheitsgedanke verletzt ist (Art. 113). Die Rechtssprechung ging zunächst davon aus, daß nur Unterschiede im Tatbestande Unterscheidungen rechtfertigen. Aber sehr bald stellte sie fest, daß auch gewisse Wertungen zu berücksichtigen seien. Sie hat sich dabei an die fundamentalen Rechtsanschauungen gehalten, die in der Verfassung selbst zum Ausdruck gekommen waren 25 . II. 1. Unter den sittlichen Werten, die das Recht gestalten, steht der Wert der Gerechtigkeit oben an. Das Wesen der Gerechtigkeit läßt sich an den Anforderungen entwickeln, die an den Richter gestellt werden. In dieser Hinsicht besteht eine weitgehende Ubereinstimmung sowohl unter den Stimmen verschiedener Epochen, wie unter denen verschiedener Länder der Gegenwart. Der Richter soll unparteiisch sein. Er soll beide Parteien hören und damit beide Parteien zugleich respektieren. Seine Einstellung soll objektiv sein, d. h. auf die Sache, auf die Erkenntnis des Sachverhaltes gerichtet. Vergleichbar einem Historiker soll er leidenschaftslos erforschen, was sich wirklich ereignet hat. Auf der Grundlage dieser objektiven Ermittlung der Fakten soll er dann das Recht ohne Rücksicht auf die Person anwenden. Er soll also die rechtliche Regel ohne Ansehung der Person zur Anwendung bringen. Seiner persönlichen Einstellung zu den streitenden Parteien darf er keinen Einfluß auf sein Urteil einräumen. In diesem Sinne ist die Justitia blind. Sie trägt eine Binde vor den Augen, weil sie nicht sehen soll, 2 5 vgl. Aldag, Die Gleichheit vor dem Gesetz in der Reichsverfassung (1925), S. 22—43.

184

Die Grundlagen des Rechts

aber auch gar nicht sehen will, um wen es sich da bei den Streitparteien in Wirklichkeit handelt. Der Richter soll ferner in seinem Wesen leidenschaftslos und ruhig sein; so soll er die Verhandlung führen. Ein zorniger, selbstherrlicher oder gar willkürlich urteilender Pachter entspricht nicht der Vorstellung, die wir uns vom gerechten Richter machen. Ein anderes Bild der Gerechtigkeit wird durch die Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs im antiken Griechenland nahegelegt. Unter einem gerechten Mann verstand man zunächst denjenigen, der seine Vertragsverpflichtung erfüllt (xoc óst der korrekte Mann, der die Rechte seines Vertragpartners respektiert, wie immer auch sonst seine persönlichen Beziehungen, wenn solche überhaupt existieren, zu ihm sein mögen. Er hält seinen Vertrag ein, er leistet das Versprochene, aber auch nicht mehr. Er erwartet Gleiches vom Gegner; erfüllt dieser sein Versprechen nicht, so wird er Ersatz verlangen. Leistung und Gegenleistung des geschlossenen Vertrages sollen sich entsprechen. So erhält jeder ein Äquivalent f ü r das, was er selber leisten und tun muß. Der Vertrag ist der Maßstab, nach dem sich Gerechtigkeit und Rechtlichkeit hier messen. Wir alle kennen solche Menschen, und wenn wir uns auch bewußt sind, d a ß das Leben ohne Glanz und Schönheit wäre, wenn die Welt nur aus Menschen von solcher Gerechtigkeit bestünde, so wissen wir doch wohl, daß diese Art von korrekter Gerechtigkeit die Grundlage der menschlichen Lebensbeziehungen ist. Mit diesen Beispielen, die uns zwei Grundsituationen menschlicher Beziehungen vor Augen stellen: eine der Überordnung (die des Richters), eine andere der Gleichordnung (die des Vertrages), treten uns nun schon wesentliche Züge der Gerechtigkeit entgegen. Die Gerechtigkeit bedeutet die Achtung vor dem anderen. Sie gibt dem anderen, was ihm zukommt 1 , sie verletzt ihn nicht; „neminem laedere" ist eine der Forderungen, welche die berühmte im Corpus Iuris enthaltene Definition der Gerechtigkeit des Ulpian aufstellt. Sodann tritt uns die Bedeutung des Gedankens der Gleichbehandlung f ü r die Gerechtigkeit entgegen. D a f ü r ist ein Maßstab erforderlich, der solche Gleichbehandlung erlaubt. Einen gleichen Maßstab soll der Richter f ü r beide Parteien anlegen; die Leistungen aus dem Vertrage sollen wertmäßig gleich sein. O f f e n b a r spielt diese Anwendung eines gleichen Maßstabes in der Gerechtigkeit eine entscheidende Rol1 Richtig formuliert Kriele, Kriterien der Gerechtigkeit (1963), S. 49: nach seiner „Würdigkeit".

185

Kapitel IV

le 2 . Diesen Maßstab erhält die Gerechtigkeit in unseren Beispielen von außen; der Richter findet ihn im Gesetz, die Vertragsparteien im Vertrag. Auf die menschliche Haltung gesehen, fordert die Gerechtigkeit Selbstbeherrschung und Disziplin; „honeste vivere" fordert die ebenerwähnte Definition des Ulpian zuerst. Damit tritt zugleich hervor, welche Haltung mit der Gerechtigkeit unvereinbar ist. Willkür, willkürliches, launisches und leidenschaftliches Verfahren schließen die Gerechtigkeit aus. „Sic volo, sie iubeo, stat pro ratione voluntas" ist keine Maxime der Gerechtigkeit. Diese kann im Gegensatz zur Laune stets angeben, welchen Maßstab sie anlegt, und aus welchen Gründen sie so und nicht anders entschieden hat 3 . Mit der Gerechtigkeit ist es denn auch unvereinbar, daß eine Person der anderen aus unsachlichen Gründen vorgezogen wird, d. h. aus Gründen, die im Lichte des angelegten Maßstabes keine Bedeutung haben dürften. Richtig hat Kriele gesagt, daß der Grund, auf den sich ein gerechtes Urteil beruft, generalisierbar sein, d. h. als allgemeiner Grundsatz anwendbar sein muß 4 . Ebenso tritt das Verhältnis zu anderen sittlichen Werten hervor. Deutlich hebt sich die Gerechtigkeit insbes. von der Liebe ab. Die Liebe steht dem Menschen nicht kühl und distanziert gegenüber wie die Gerechtigkeit. Sie umfaßt vielmehr den geliebten Menschen mit universaler Sympathie in seinem ganzen Wesen; sie sieht nicht auf Gleichmaß und Gleichheit, sie fragt nicht nach Gegenleistung oder Verdienst. Mit ihr verglichen ist die Gerechtigkeit eine kühle Tugend, eine Tugend auch, die selten den Menschen als Ganzes sieht. Sie wägt Handlung und Leistung, über die Gesamtpersönlichkeit will sie nicht urteilen. Wir haben bisher Fälle der Gerechtigkeit betrachtet, in denen das gerechte Handeln sich an einem gegebenen Maßstab (positives Gesetz, Vertrag) orientierte. Indessen hat das menschliche Denken von diesen begrenzten Bildern der Gerechtigkeit immer wieder versucht zu einer universaleren Auffassung der Gerechtigkeit fortzuschreiten. Piaton hat den Begriff des Gerechten überhaupt mit dem des Guten gleichgesetzt und ihn durch das rechte Verhältnis der Kräfte im Men1 Letzten Endes bedeutet dies, wie Kriele aaO., S. 93 hervorhebt, daß gerechtes Handeln sich nicht mit sich selbst in Widerspruch setzen darf. 3 Richtig führt Kriele aaO., S. 62 ff. aus, daß Gerechtigkeit im Recht stets des vernünftigen sozialen Interesses als der Begründung bedarf. 4

186

vgl. Kriele, aaO., S. 67/69.

Die Grundlagen des Rechts sehen bestimmt. D e m e n t s p r e c h e n d ist ihm d e r gute u n d gerechte Sta.it derjenige, d e r jedem Menschen im G e m e i n w e s e n diejenige Rolle zuweist, die ihm nach seinem Wesen zukommj:. ..Daraus ist d a n n die b e r ü h m t e F o r m e l der universalen Gerechtigkeit erwachsen: „suum cuique t r i b u e r e " — jedem das Seine geben. Diese F o r m e l k a n n freilich auch auf die R e c h t s a n w e n d u n g bezogen w e r d e n , d a n n nämlich, w e n n m a n u n t e r dem „ s u u m " versteht, was das geltende Recht dem einzelnen zuteilt. A b e r in d e r platonischen F o r m e l steckt m e h r . Sie geht zunächst auf das, w a s den Mitgliedern einer menschlichen G e m e i n s c h a f t zusteht, nach Leistung u n d Verdienst, nach W e r k e n u n d B e d ü r f n i s s e n , u n d schließlich in einem allgemeinsten Sinne m e i n t sie, was allen Menschen zusteht. D a m i t w i r d das „suum c u i q u e " z u r F o r d e r u n g nach d e r V e r w i r k l i c h u n g des allgemeinen Menschenredits. So v e r s t a n d e n , e n t h ä l t die F o r m e l ein s t a r k dynamisches Element. Sie k a n n die G r u n d l a g e der K r i t i k d e r g e l t e n d e n Gesellschaftsordn u n g abgeben u n d h a t es in d e r m o d e r n e n europäischen Rechtsgeschichte, insbes. seit d e r französischen R e v o l u t i o n schon getan. D i e Menschenrechte „Freiheit u n d Gleichheit" w u r d e n im N a m e n der Gerechtigkeit g e f o r d e r t . D e r Sozialismus f o r d e r t e in ihrem N a m e n die ökonomische Gleichheit, die A b s c h a f f u n g d e r Privilegien d e r besitzenden Klassen, soziale Sicherheit u n d A u f s t i e g d e r P r o l e t a r i e r . Als F o r d e r u n g nach sozialer Gerechtigkeit ist v o n den K a t h e d e r s o z i a üsten im D e u t s c h l a n d des 19. J h d . eine S t ü t z u n g d e r Arbeiterklasse g e f o r d e r t w o r d e n . Es ist charakteristisch, d a ß eine d e r wenigen D a r stellungen ü b e r die d i s t r i b u t i v e Gerechtigkeit aus d e r zweiten H ä l f t e des 19. J h d . v o n einem d e r f ü h r e n d e n A u t o r e n dieser n a t i o n a l ökonomischen Schule s t a m m t 5 . A b e r in d e m Augenblick, in d e m sich die V o r s t e l l u n g des Wertes d e r Gerechtigkeit v o m positiven Recht, sei es n u n Gesetz o d e r V e r t r a g , löst, u m u n i v e r s a l u n d d y n a m i s c h z u w e r d e n , stellt sich, u n d z w a r je u n i v e r s a l e r m a n die F o r m e l f a ß t m i t u m so g r ö ß e r e r Dringlichkeit, die F r a g e w o n a c h sich d a n n das „ s u u m " b e s t i m m t , das m a n im N a m e n d e r Gerechtigkeit f o r d e r t . M i t a n d e r e n W o r t e n , es e r h e b t sich die F r a g e nach d e m Maßstab d e r Gerechtigkeit. H i e r w i r d m a n zuerst an die F o r d e r u n g d e r Gleichheit denken; die Menschen sollen das Gleiche b e k o m m e n . A b e r d a m i t ist das P r o b l e m noch nicht gelöst. D e n n es b e d e u t e t Gleichheit nicht o h n e weiteres 5 Schmollers Aufsatz: Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft (1881), Bd. 5, S. 1.

187

Kapitel IV

medianische Gleichheit. Die Gleichheit gestattet durchaus Unterscheidungen, ja sie fordert sie sogar. Ein Kind wird man sowohl im Vertragsrecht wie im Strafrecht anders behandeln als einen Erwachsenen. Mechanische Gleidiheit wäre hier offenbar ungerecht. Der Hinweis auf die Gleichheit enthebt uns daher nicht der Frage nach dem Maßstab, der uns sagt, wann Verhältnisse als gleich anzusehen sind. Außerdem sagt uns aber der Gedanke der Gleichheit nichts darüber, was denn nun den Menschen als ihr „suum" zugeteilt werden soll: ökonomische Güter, politischer Einfluß, Arbeitsmöglichkeit usw. Die Maßstäbe, die in der Geschichte der Philosophie und der Politik hier aufgestellt sind, sind untereinander sehr verschieden. Perelmann hat in seinem Buch über die Gerechtigkeit eine Reihe von Formeln zusammengestellt, die als Maßstab aufgestellt sind: J e dem nach seinen Bedürfnissen, Jedem nach seinen Leistungen, Jedem nach Verdienst, Jedem nach seinen Werken. Alle diese Maßstäbe haben in gewissem Umfange ihre Berechtigung, aber für eine universale Gerechtigkeit reichen sie offenbar nicht aus. Nehmen wir die Universalisierung der Gerechtigkeitsformel radikal vor, so kann der Maßstab offenbar nur im Gesamtwert des Menschen liegen, der alle jene Einzelaspekte umfaßt. In dieser Richtung ist Piaton in seiner Republik vorgegangen. Hier erhält der einzelne Mensch seine Stellung in der Gesellschaft nach dem, was er letzten Endes ist. Ebenso hat sich religiöses Denken die göttliche Gerechtigkeit vorgestellt; auch sie urteilt nicht nur über Einzeltaten, sondern über den Menschen als Ganzes. Aber gerade für diesen Gesamtwert scheint es an einem zusammenfassenden Maßstab zu fehlen. Piatons Maßstäbe ersdieinen uns zu starr; die der göttlichen Gerechtigkeit sind für uns nicht nachvollziehbar. Gerade darin liegt das dynamische Element der universalen Gerechtigkeit begründet, daß keine bisherige Gesellschaftsordnung einen absoluten Maßstab abschließend bestimmen und darauf aufbauen konnte. 3. Liegt im Fehlen eines universalen Maßstabes die eine Schwierigkeit in der Vorstellung einer universellen Gerechtigkeit, so liegt eine weitere darin, daß für eine gerechte menschliche Ordnung noch ein weiterer Wert in Betracht gezogen werden muß, der uns, wenn wir die Formel des „suum cuique" entwickeln, zunächst nicht in den Sinn kommt, der aber, wenn wir an den Menschen als Ganzes denken, unentbehrlich ist: Es ist der Wert der Freiheit, die zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gehört. Seine Bedeutung im Verhältnis zur Gerechtigkeit kann uns ein Durchdenken der platonischen Staatsutopie deutlich machen. In Pla188

Die Grundlagen des Rechts tons Staat regieren die Weisesten, sie treffen das richtige Urteil, die richtige Entscheidung über den einzelnen und seine Aufgabe in der Gesellschaft. Aber sie haben dafür audi eine unbegrenzte Machtvollkommenheit : sie können über den einzelnen Menschen vollkommen verfügen. In diesem Staate fehlt also etwas, das in der Entwicklung des Rechts immer wieder mit Leidenschaft als Recht des Menschen gefordert worden ist: die Freiheit. Gerade hierin liegt die Problematik der platonischen Staatsutopie. Indem wir aber auf Freiheit und Persönlichkeit geführt werden, treten neue Werte in unseren Gesichtskreis, die in ihrem Zusammenhang noch der näheren Bestimmung bedürfen. Im Corpus Iuris finden wir die folgende Definition der Freiheit, die für die Zwecke des Rechts immer noch brauchbar ist: „Libertas est naturalis facultas eius quod cuique facere übet, nisi si quid vi aut iure prohibetur" (Florentinus, D. I 5. 4). Ähnlich lautet die berühmte Freiheitsdefinition der französischen Menschenrechtserklärung „La liberté consiste à pouvoir faire tout ce que ne nuit à autrui". Danach bedeutet Freiheit die rechtlich geschützte Möglichkeit zu tun, was man will. Die rechtliche Freiheit scheint daher auf das liberum arbitrium, die Lehre vom freien Willen, zu führen. Freiheit besteht, wo man willkürlich handeln kann. Aber der rechtliche Freiheitsbegriff ist wesentlich negativ; er schließt aus, daß andere — sei es der Staat, sei es ein einzelner — unser Handeln bestimmen; er steckt ferner die Grenzen dieser Handlungsfreiheit ab. Was Freiheit positiv ist, braucht er nicht zu definieren. Fragt man danach, so wird man Freiheit als Selbstgestaltung des Lebens umschreiben können. Das heißt zunächst Gestaltung der äußeren Lebensbedingungen, Bestimmung des Wohnortes, des Wohnens, Wahl des Berufs vor allem und damit des eigenen Arbeits- und Wirkungskreises. Aber es bedeutet auch die Gestaltung unseres inneren Lebens: die Auswahl der Beschäftigungen, der Interessen, die neben der Berufsarbeit unserem Leben Sinn und Inhalt geben, die Wahl der Menschen, deren Freundschaft wir zu gewinnen suchen, des Lebensgefährten, mit dem wir das Leben gemeinsam führen wollen. Überall vollzieht sich diese Selbstgestaltung dabei in Entscheidungen, in der Auswahl zwischen verschiedenen, aber begrenzten Möglichkeiten — freilich oft mit der Folge, daß die einmal getroffene Entscheidung unwiderruflich ist. Unsere Situation ist die des Herkules am Scheidewege; unsere Freiheit eine Freiheit der Wahl. In diesem Sinne heißt Selbstgestaltung eigene Mitformung all der vielfältigen 189

Kapitel IV Beziehungen, in welchen der einzelne im Leben steht. Dieser Selbstgestaltung stehen naturgemäß vielerlei faktische Zwänge und Einengungen entgegen: rechtliche Freiheit soll wenigstens diejenigen begrenzen, die aus der O r d n u n g des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen resultieren; sie soll zugleich dem einzelnen rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen; hier wird der Zusammenhang zwischen rechtlicher Freiheit und der sogen. Privatautonomie deutlich. Selbstgestaltung heißt Formung all dieser Beziehungen durch uns selbst. D e r Begriff der Freiheit ist also v e r k n ü p f t mit demjenigen des „Ich", mit der eigenen Persönlichkeit. Die E r f a h r u n g des „Ich" ist eine G r u n d e r f a h r u n g des Menschen; in dem langen Prozeß des Lebens mit seinem ständigen Wechsel von Eindrücken, Erleben, Gefühlen, Stimmungen ist es die Einheit, auf die wir in unserem Bewußtsein alles beziehen, die, unterstützt von der Erinnerung, unser Leben zusammenhält. Dabei ist das „Ich" nichts Statisches; es ist selbst in der Entwicklung begriffen, es verändert sich, und der ältere Mensch k a n n dem „Ich", das er einmal war, mit der Frage gegenübertreten: Das warst du einmal? So bist du gewesen? Trotzdem ist das „Ich", ist unsere Persönlichkeit nicht völlig beliebig formbar. Das W o r t „Persönlichkeit" hängt mit dem lateinischen Ausdruck „persona" zusammen, und diesem ist in einer bestimmten Phase der lateinischen Sprachgeschichte die Bedeutung „Maske", „Rolle" zugekommen. Aber wir können nicht jede Rolle spielen; unsere Persönlichkeit hat eine bestimmte Gestalt u n d damit auch bestimmte Grenzen. Unser K ö r p e r hat eine bestimmte Leistungsfähigkeit, es gibt — auch wenn wir ihn trainieren — bestimmte Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Unsere intellektuelle und geistige Begabung hat ebenfalls ihre bestimmte Eigenart. Mögen manche unserer Grenzen auf falschen Lebensentscheidungen von uns selbst oder denjenigen beruhen, die f ü r unsere Erziehung gesorgt haben: es gibt Grenzen, die in unserer N a t u r liegen. Nicht jeder ist musikalisch, nicht jeder f ü r höhere Mathematik begabt. Wie jede Gestalt, bedeutet also auch die der Persönlichkeit Beschränkung. Diese mit der Individualität selbst gegebenen inneren Schranken sind nun f ü r den Freiheitsbegriff wichtig. H e i ß t Freiheit Selbstgestaltung, Gestaltung des Lebens durch das „Ich", so gehen in den Begriff der Freiheit notwendig die Gestalt unserer Individualität u n d die Beschränkungen ein, die mit unserer eigenen Persönlichkeit gegeben sind. Freiheit ist also nicht beliebige Gestaltung: die Wahl, die wir jeweils treffen, wird von uns als von einem geformten Wesen getroffen, u n d damit ist die Entscheidung in gewissem U m f a n g vorweggenommen. Freiheit ist daher nicht freies Belieben, liberum arbitrium. 190

Die Grundlagen des Rechts

Noch eine andere Einsicht ergibt sich aus dem Zusammenhang zwischen Freiheit und Individualität des einzelnen „Ich". Wenn Freiheit bedeutet, daß wir Entscheidungen aus unserem eigenen Wesen treffen, verliert dieser Begriff seinen statischen Charakter: wir können im Einzelfall dann mehr oder weniger frei, d. h. uns selbst entsprechend handeln. Der Zusammenhang zwischen Freiheit und Persönlichkeit ist in der alten wie in der modernen Philosophie betont worden. Aristoteles lehrt bei der Erörterung des Umstandes, daß ethische Urteile sich nur auf freiwillige Taten beziehen können, daß eine Handlung dann als freiwillig (iocoûaiov) und damit zurechenbar anzusehen sei, wenn ihr Ursprung (àpyri) im Menschen und nicht in Umständen außerhalb seiner liegt 6 . Das ist nach Aristoteles insbes. dann der Fall, wenn die Handlung auf eigenen Entschluß zurückgeht. Danach handeln wir also frei, wenn unser Entschluß unser Handeln regiert. Aber auch diese Betrachtung ist nur vorläufig, denn es läßt sich fragen, ob denn jede Handlung, zu der wir uns entschließen, wirklich aus unserem innersten „Ich" entspringt. Handeln wir nicht häufig aus Gewohnheit, sind unsere Handlungen nicht häufig aus Konventionen abgeleitet, die mit unseren persönlichen Auffassungen nichts zu tun haben? Dieses Problem hat sich Bergson gestellt. Er antwortet: Eigentlich frei sind unsere Handlungen nur dann, wenn sie voll unserer ganzen individuellen Persönlichkeit entspringen. „Nous sommes libres, quand nos actes émanent de notre personnalité entière, quand ils l'expriment, quand ils ont avec elle cette indéfinissable ressemblance qu'on trouve parfois entre l'oeuvre et l'artiste" 7 und an anderer Stelle: „agir librement c'est prendre possession de soi; c'est se replacer dans la pure durée." Frei sind wir also, wenn wir ganz und gar aus unserer eigenen Persönlichkeit, unserem eigenen Ich handeln; und die Bildung unserer Individualität zur Persönlichkeit in solchen, immer erneuerten Entscheidungen ist die sittliche Rechtfertigung des Schutzes der Freiheit durch das Recht. Auf der anderen Seite hat die Philosophie uns darauf aufmerksam gemacht, daß wir eigentlich frei nur dann sind, wenn wir außerhalb praktischer Zielsetzungen handeln, also nicht um irgendeinen * Nikomachisdie Ethik III. 1. 20. 7

Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience (9. Aufl. 1911), S. 129.

191

Kapitel IV

äußeren Zweck zu erreichen, der außer uns liegt — denn damit würden wir uns von Personen oder Dingen außer uns abhängig machen — , sondern dann, wenn wir handeln, um einen geistigen Wert zu verwirklichen, eine gute Handlung, ein schönes Werk zu vollbringen. Diese Lehre hat insbes. die Stoa vertreten. Immer kehrt im stoischen Denken der Gedanke wieder, daß wir unfrei sind, solange wir uns an Zwecke binden und diese zu erreichen versuchen, die nicht von uns selbst abhängen. Von uns selber aber hängen nur die sittlichen Entscheidungen ab. Seneca führt dazu aus: „Posse laeto animo adversa tolerare; quicquid acciderit, sie ferre, quasi tibi volueris accidere. Debuisses enim velle, si scisses omnia ex decreto dei fieri: fleri, queri et gemere desciscere est . . . Animus contra calamitates fortis et contumax, luxuriae non adversus tantum sed infestus, nec avidus periculi nec fugax, qui sciat fortunam non expectare sed facere et adversus utramque intrepidus inconfususque prodire, nec illius tumultu nec huius fulgore percussus." 8 Mit Energie hat diesen Standpunkt, wenn auch mit ganz anderer Begründung, Kant vertreten. Wir sind da frei, wo wir als reine Vernunftwesen handeln, d. h. da wo unsere Handlungen dem kategorischen Imperativ, dem ethischen Grundgesetz entsprechen. In neuerer Zeit ist vor allem Georg Simmel diesem Zusammenhang nachgegangen. „Freiheit", so führt er in seinem Werk Lebensanschauung aus, „bedeutet gerade die Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit zu durchbrechen." 9 „Frei sind wir als reine Triebwesen, weil da alle Gegenstrebung verschwunden i s t . . . und frei sind wir in dem idealen Reiche, vor dem die Teleologie endet." „Der Gegensatz zur Freiheit ist vielmehr die Zweckmäßigkeit. Freiheit ist nichts Negatives, nicht die Abwesenheit von Zwang, sondern die ganz neue Kategorie, zu der die Entwicklung des Menschen aufsteigt, sobald sie die Stufe der an seine innere Physis gebundenen Zweckmäßigkeit und deren bloßer Fortsetzung in das Handeln hinein verlassen hat. Freiheit ist nicht Lösung vom Terminus a quo, sondern vom Terminus ad quem." 1 0 8

Seneca,

Quaestiones naturales, Buch III. Praefatio 12, 13.

9

Simmel,

Lebensansdiauung (2. Aufl. 1922), S. 42.

Simmel aaO., S. 45. Ich habe diesen Zusammenhang unter dem Titel „Bemerkungen zum Problem der sogenannten Willensfreiheit" des näheren verfolgt in meinem Beitrag zur Festsdirift Emge (1960), S. 3 ff. 10

192

Die Grundlagen des Rechts

Gehen wir dem Wesen der Freiheit nach, so werden wir also in zwei verschiedene Richtungen geführt. Frei sind wir einmal da, wo wir ganz persönlich, ganz aus unserer Individualität handeln. Frei sind wir aber audi, wo wir aus letzten Zwecken des Geistes, also als Mensdien, verstanden als geistige Wesen, tätig werden. Beide Auffassungen sind im tiefsten nicht verschieden. Denn Freiheit, verstanden als Möglichkeit, ganz aus unserer Persönlichkeit zu handeln, heißt nicht, uns einfach unseren Trieben und Launen zu überlassen: es heißt vielmehr, unter den verschiedenen möglichen Wegen und Werten Entscheidungen zu treffen und in diesen Entscheidungen die eigene Persönlichkeitsform zu schaffen, das, was wir von Natur und Anlage sein können, zu stilisieren und zu vollenden. Freie Entwicklung der Persönlichkeit heißt daher Auseinandersetzung mit Lebenswerten und Gestaltung des eigenen Lebens in ihrem Licht. Damit zeigt sich nun der enge Zusammenhang zwischen Freiheit als Möglichkeit selbstbestimmten Handelns, individueller Persönlichkeit und geistiger Personenwürde. Rechtliche Freiheit soll Raum, geben für persönliche Handlungen und Entscheidungen, Handlungen, in denen sich das „Ich" verwirklichen kann. Freiheit soll Raum geben zu Handlungen, in denen der Mensch als geistiges Wesen in Ethos und Religion, in Kunst und Wissenschaft sich entfalten kann. Daher muß jede Auffassung, die in der geistigen Persönlichkeit eines Menschen einen Wert sieht, auch Freiheit für ihn fordern: Freiheit gehört dann zum „suum" des Menschen im Sinne der Formel „suum cuique", das die Gerechtigkeit ihm geben muß. Hier zeigt sich freilich eine Antinomie. Vollkommene Gerechtigkeit bedeutet ja vollkommene Zuteilung und vollkommene Verfügung über den Menschen. Damit aber schaltet sie die Freiheit aus. Dieses Problem hat die Theologie vielfach bei dem Problem des Verhältnisses der göttlichen Gerechtigkeit und der menschlichen Freiheit beschäftigt. Umgekehrt kann die Gewährung, die Zuerkennung von Freiheit den Verzicht auf vollkommen gerechte Ordnung der Dinge bedeuten. Denn Freiheit zuerkennen heißt immer im gewissen Umfange den Dingen ihren Lauf lassen, ohne sie bis ins Letzte zu bestimmen. Diese Antinomie wird uns in ihren Konsequenzen noch zu beschäftigen haben. 3. Maßstäbe findet die Gerechtigkeit außer im Wert der sittlichen Persönlichkeit auch noch in Werten des menschlichen Umgangs. Der Wert der Treue spielt im Vertragsrecht eine entscheidende Rolle. Ebenso der Wertgedanke des Vertrauens, der im Zusammenleben der Menschen eine so entscheidende Rolle spielt. 193 13

C o i n g ,

Rechtsphilosophie

Kapitel IV

5. Wir werden also zu dem Ergebnis geführt, daß die Gerechtigkeit zwar der zentrale Wert des Rechtes ist, daß aber das Recht nicht durch einen einzigen ethischen Wert beherrscht wird, sondern vielmehr durdi eine Gruppe soldier Werte: wie Gerechtigkeit, Freiheit, Treue, Vertrauen. Damit fordert die Verwirklichung des sittlichen Gedankens im Recht genau wie im persönlichen Leben, eine Synthese zwischen verschiedenen Werten zu finden. Solche Synthese in den sich wandelnden Situationen des menschlichen Gesellschaftslebens immer wieder herzustellen, ist die schöpferische Aufgabe der Rechtsbildung. Sie muß in der Ordnung der jeweiligen Situationen eine Wertsynthese finden. Es fragt sich, ob es f ü r diese Aufgabe bleibende Modelle gibt. Diese Frage führt von der N a t u r der Sache und den Werten, die dem Recht zugrunde liegen, zum Problem des Naturrechts. III. 1. Bestimmte ethische Prädikate sprechen wir nicht nur menschlichen Handlungen, sondern auch juristischen Regeln zu. Die Sprache erlaubt uns zu sagen, die und die gesetzliche Regelung ist gerecht oder ungerecht. Ein solches Urteil geht nicht auf die Handlung des Gesetzgebers, welcher diese Regel gesetzt hat, sondern auf die gesetzliche Regel selbst. Diese ist wertvoll oder wertwidrig. Es liegt also mit der Rechtsregel ähnlich wie mit einem Kunstwerk, dem selbst ästhetischer Wert zukommt. In solchen Urteilen drückt sich der Umstand aus, daß bestimmte ethische Werte — nicht alle — nicht nur in menschlichen Handlungen, sondern in sozialen Ordnungen verwirklicht werden können. Dieser Sachverhalt ist auch von der ethischen Theorie früh bemerkt worden. Für lange Zeit hat man die Ethik in zwei Teilen dargestellt, von denen der eine der persönlichen Ethik, der andere der sozialen Ordnung gewidmet war. Npch Kant hat in seinem Spätwerk, der Metaphysik der Sitten, die Rechtsphilosophie so eingeordnet. Erst in nachkantischer Zeit ist diese weite Fassung der Ethik allmählich verlorengegangen, und darauf ist Kants Auffassung vom Wesen des Sittlichen selbst nicht ohne Einfluß geblieben. Indem er die Ethik als reine Gesinnungs- und Pflichtethik entwickelte und andererseits das Recht als Regelung der äußeren Handlungen, als Legalität auffaßte, hat er dazu beigetragen, daß die Frage nach der richtigen Sozialordnung allmählich aus der Ethik ausgeschieden wurde. Aber die kantisdie Unterscheidung ist nicht richtig. Das Recht geht keineswegs nur auf äußere Handlungen. Rechtliche Bewertung kann, ohne auf Gesinnung und innere Einstellung einzugehen, gar nicht erfolgen. 194

Die Grundlagen des Rechts Denn psychische Momente, wie Absicht des eigenen Gewinns, Absicht einen anderen in seinem Vermögen zu schädigen, mißbräuchliche Ausnutzung bestimmter Rechtspositionen usw., sind f ü r die Rechtsordnung ganz unentbehrlich. Nicht, d a ß es auf äußeres Verhalten geht, charakterisiert das Recht, sondern daß es beim Recht eben um die Gestaltung der sozialen Ordnung, insbes. der Friedensordnung einer Gemeinschaft geht, während die persönliche Ethik auf die persönliche Lebensführung gerichtet ist. Es ist neben der katholischen Sozialphilosophie das Verdienst der modernen Axiologie, auf diesen Grundsachverhalt wieder aufmerksam gemacht zu haben 1 . Wie die Wertverwirklichung in Grundsätzen der sozialen Ordnung geschieht, läßt sich an Lockes berühmten Sätzen über die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft demonstrieren: „Freedom of men under government is to have a Standing rule to live by, common to every one of that society, and made by a legislative power erected in it." 2 2. Damit stellt sich nun die gleiche Frage, die sich f ü r die ethischen Werte allgemein stellt, auch f ü r das Recht. Die Frage lautet, ob es nicht überzeitliche Wertinhalte gibt, die sich in Rechtsgrundsätzen manifestieren, Grundsätze der Ordnung, die zu den das Recht sittlich fundierenden Werten im gleichen Verhältnis stehen, wie die vorbildlichen Verhaltensformen, an denen Werte der persönlichen Ethik erscheinen. Diese Ordnungsgrundsätze ergeben vorbildliche Modelle der sozialen Ordnung. Dies war die Frage, die in der klassischen Rechtsphilosophie die Lehre vom Naturredit beantwortete. Wie es, obwohl es sich um eine Frage der Ethik handelt, zu der eigenartigen Bezeichnung Naturredit gekommen ist, ist an früherer Stelle erörtert worden 3 . Die Bezeichnung ist aber, wenn man die Begriffsgeschichte nicht kennt, außerordentlich mißverständlich, weil der Ausdruck „ N a t u r " Assoziationen erweckt, mit denen der Begriff ursprünglich gar nichts zu tun hat. In Wirklichkeit würde es sich bei Ordnungssätzen dieser Art selbstverständlich um Sätze der Ethik, also nicht um Naturredit, sondern um Kulturrecht handeln. Außerdem ist der Terminus durch die lange Geschichte der Naturrechtsphilosophie in vielfältiger Hinsicht vorbelastet. Es ist daher problematisch, ob man die Bezeichnung wiederaufgreifen soll. Ich habe dies früher deswegen 1 Ich nenne hier insbes. Scheler, Reale, Recasens Siebes und Garcia Vgl. dazu oben Kap. I, Abschn. V. 4; Absdin. VIII. 3.

Maynez.

2

Locke, Two Treatises of Government (1690) 2. Abhandlung, Nr. 22.

3

vgl. dazu oben Kap. I Abschn. I. 4.

195

Kapitel IV für richtig gehalten, weil der Ausdruck Naturrecht nun einmal das hier in Frage stehende Problem kennzeichnet4. Vielleicht wäre es trotzdem besser, den Ausdruck überhaupt zu vermeiden und nur von Grundsätzen der Gerechtigkeit zu sprechen, eben um den mancherlei fixen Vorstellungen, die sich mit dem Ausdruck Naturrecht verbinden, zu entgehen. Jedenfalls möchte ich hervorheben, daß der Ausdruck hier stets im Sinne von Grundsätzen der Gerechtigkeit, wie sie im folgenden näher gekennzeichnet werden, verstanden werden soll. 3. Bei der Untersuchung des Problems, ob es konstante, d. h. überhistorisch gültige Rechtssätze geben kann, die unmittelbar aus apriorischer Werteinsicht abgeleitet werden, ergibt sich nun eine Reihe von Schwierigkeiten. Zunächst tauchen natürlich alle die Probleme auf, die mit dem Problem ethischer Erkenntnis überhaupt verbunden sind. Wenn es sich in der Ethik überhaupt nur um irrationale Gefühlsäußerungen handelt oder wenn ethische Einsichten stets nur von relativer Geltung sind, die auf Konventionen oder persönlicher Entscheidung beruht, so ist natürlich die Annahme eines Naturrechts unmöglich. Mit diesen Schwierigkeiten haben wir uns bereits auseinandergesetzt. Bei der Frage nach dem Naturrecht kommt aber zu diesen Schwierigkeiten noch eine weitere hinzu. Es handelt sich hier um Sätze, die sich auf die soziale Ordnung beziehen. Jede soziale Ordnung aber ist entwickelt für ganz bestimmte Gemeinwesen mit bestimmten Kräfteverhältnissen und bestimmten sozialen Problemen. An diesen Kräfteverhältnissen und an diesen Problemen ist sie orientiert. Jede Rechtsordnung ist mithin situationsgebunden. An dieser Situationsgebundenheit scheint der Gedanke eines Naturrechts notwendig sdieitern zu müssen. Dieses Problem hat auch die alte Naturrechtslehre nicht übersehen. Sie hat einen Ausweg zunächst darin gesucht, daß sie primäre und abgeleitete Rechtssätze unterschied und nur die obersten und allgemeinen Grundsätze zu absolut geltenden Naturrechtssätzen erklärte. Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit hat man mit den Lehren vom „hypothetischen*" und vom „relativen" Naturrecht versucht. Der Gedanke des relativen Naturrechts ist vor allem in der christlichen Naturrechtslehre ausgebildet worden. Ausgangspunkt ist der Gedanke, daß die reinen ethischen Grundsätze in der Welt nach dem Sündenfall nicht vollständig durchgesetzt werden können. Sie bedürfen daher mit Rücksicht auf die sündige menschliche Natur gewisser Modifikationen. Vorbild ist dabei Christi Ausspruch' über die Zulassung 4 vgl. dazu meinen Vortrag: Naturrecht als wissenschaftliches Problem, hrsg. vom Steiner Verlag Wiesbaden, 1965.

196

Die Grundlagen des Redits

der Scheidung: „Mose hat Euch erlaubt zu scheiden wegen Eures Herzens Härtigkeit, von Anbeginn aber ist's nicht also gewesen" (Matth. 19.8). Dieses modifizierte, auf die Welt zugeschnittene Naturrecht ist das relative Naturrecht 5 . Die Lehre vom hypothetischen Naturrecht ist wesentlich eingeschränkter. Sie bezeichnet als absolutes Naturrecht die Sätze, die sich aus dem bloßen Dasein des Menschen ergeben, als relativ diejenigen, die weitere Handlungen voraussetzen, z. B. die Regeln über Eigentum, Verträge usw.6. Beide Lehren stellen eine gewisse Annäherung zwischen dem allgemeinen Naturrecht und der konkreten historischen Situation her; sie lösen aber unser Problem nicht, da sie zunächst ein allgemeines Naturrecht voraussetzen. Ein anderer Lösungsversuch ist die Lehre vom „Naturrecht mit wechselndem Inhalt", welche Stammler aufgestellt hat. Stammler versteht darunter „solche Rechtssätze, die unter empirisch bedingten Verhältnissen ein theoretisch richtiges Recht enthalten." 7 Das wäre also ein konkreter Rechtsinhalt, der für eine bestimmte Situation sachlich zutreffend, also naturrechtlidi gültig wäre. Diese Lehre setzt jedoch voraus, daß es formale (nicht inhaltliche) Kriterien gibt, wonach man feststellen kann, ob ein konkretes Recht „theoretisch richtig" ist. Stammler hat das behauptet; aber die von ihm angegebenen Kriterien sind in Wahrheit nicht rein formal 8 . Schließlich könnte man geschichtsphilosophisdi sagen, daß es für jede geschichtliche Epoche ein bestimmtes, für sie gültiges Naturrecht gibt, etwa das europäische Mittelalter, die Neuzeit usw. Das bedeutete dann eine Gleichsetzung des relativen Naturrechts mit den jeweils führenden Kulturgedanken 9 , der „Idee der Kultur in ihrer jeweiligen Ausprägung" 10 . Aber diese Vorstellung ist problematisch. Abgesehen von der geschichtswissenschaftlichen Unsicherheit der Abgrenzung geschichtlicher Epochen würde eine solche Auffassung zu einer 5 vgl. dazu Troeltsch, Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, Histor. Zeitsdir. 106, S. 249 ff. Die christliche Lehre konnte hier an Gedankengänge der Stoiker anknüpfen. 6

vgl. etwa Höpfner, Naturrecht (3. Aufl. Gießen 1785) § 35. Ähnlich kehrt die Lehre bei fast allen gleichzeitigen Autoren wieder. — Vgl. dazu auch Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, SZ (Germ. Abt.) 56, S. 232 ff. 7 Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung (4. Aufl. 1921), S. 174. 8 9

vgl. oben Kap. I. Absdin. VIII. 3 c. So Koschaker, Europa und das römische Recht (3. Aufl. 1958), S. 345 ff.

10 Schönfeld, Rechtsperson und Rechtsgut, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe II (1929), S. 202.

197

Kapitel IV

so starken Relativierung der Naturrechtsidee führen 1 1 , daß sie kaum noch einen faßbaren allgemeinen Inhalt hätte. Sie würde auch keine Richtlinien des Handelns mehr geben können; denn wer entscheidet, ob nicht mit neuen Zielsetzungen eben eine neue welthistorische Epoche heraufzieht? Bekanntlich hat sich auch der Nationalsozialismus auf eine Art Naturrecht in diesem Sinne berufen 12 . Letzten Endes entscheidet darin der geschichtliche Erfolg über den Charakter als N a turrecht. Als Ausdruck eines einheitlichen Naturrechts könnten diese führenden Kulturgedanken nur dem erscheinen, der, wie Hegel, in der Weltgeschichte eine planmäßige (dem menschlichen Geist nachvollziehbare) Entfaltung einer Idee nach ihren verschiedenen inhaltlichen Momenten sieht 13 . Solche Geschichtsauffassung bleibt aber eine H y pothese 14 . Außerdem würde auch diese Auffassung des Naturrechts der Tatsache der Einmaligkeit der geschichtlichen Situation nicht voll gerecht werden, da sie ein Naturrecht f ü r ganze Epochen annimmt. Die Lösung liegt vielmehr darin, daß die Situationen des menschlichen Daseins trotz ihrer unleugbaren Einmaligkeit im einzelnen typische und wiederkehrende Elemente aufweisen. Man kann in ihnen charakteristische Züge aufzeigen, die immer wiederkehren. Typische Interessen tauchen auf; typische Beziehungen kehren wieder. Darauf beruht ja auch die Möglichkeit des positiven Rechts. Ohne sie wäre eine abstrakte, allgemeine Ordnung der sozialen Prozesse gar nicht denkbar; jeder juristische „Tatbestand" geht auf einen typischen, wiederkehrenden Sachverhalt des sozialen Lebens. Kauf, Miete, Ehe sind solche typischen Sachverhalte. N u n könnte ja aber diese durchgehende Typik auf gewisse, in sich zusammenhängende geschichtliche Epochen oder Kulturen beschränkt sein. Aber auch das ist nicht der Fall. Es gibt eine übergreifende Typik, die auch über diese Grenze hinweggeht. Eucken hat das an einem Spezialproblem in seinen grundlegenden Untersuchungen über das Verhältnis von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte aufgedeckt. Er zeigt, daß wir auch historische Wirtschaftsordnungen nur verstehen können, wenn wir sie mit Hilfe der typischen Ordnungsmodelle, wie sie die Theorie entwickelt 11 Kosebaker lehnt denn auch ausdrücklich ein allgemein gültiges Naturrecht ab, aaO., S. 345. 12 Dazu Riezler, Relatives und Absolutes im Recht, in: Festgabe für Wenger I (1944), S. 31. 13

So also, daß in jeder geschichtlichen Epoche ein Teilinhalt dieser Idee sich darstellte. — So auch Schönfeld. 14 vgl. dazu Veit, Die Flucht vor der Freiheit (1947), S. 43 ff. Geschichtsphilosophie (1948), S. 9, 21/22.

198

Heimsoeth,

Die Grundlagen des Rechts hat, analysieren. Diese „Modelle" beruhen aber auf der Beobachtung, d a ß es eine gewisse Anzahl von typischen G r u n d f o r m e n der W i r t schaftsordnung gibt, welche in der Wirtschaftsgeschichte in den verschiedenen Zeiten u n d Ländern immer wiederkehren 1 5 . Die gleiche E r f a h r u n g zeigen politische Wissenschaft und Soziologie. Sie wären ohne jene Typik als Wissenschaft gar nicht denkbar. Wir müssen also davon ausgehen, d a ß es typische soziale Situationen u n d Beziehungen gibt, die auch jenseits der Grenzen einer bestimmten Epoche oder K u l t u r wiederkehren. Diese Erscheinung beruht letzten Endes darauf, d a ß es gewisse Grundstrukturen in der N a t u r des Menschen und ebenso gewisse konstante Faktoren in der U m w e l t des Menschen gibt; es sind dies Strukturen, die uns als N a t u r der Sache entgegengetreten sind. D a m i t besteht aber auch die Möglichkeit, die Anforderungen, die sich aus Werten ergeben, im Hinblick auf solche typischen Situationen in Grundsätzen festzuhalten. Insoweit steht also die Situationsgebundenheit des Rechts der Möglichkeit naturrechtlicher Prinzipien nicht entgegen. Die Tatsache, d a ß wir die Anforderungen ethischer Werte immer nur in bezug auf Situationen begreifen können, erweist sich jetzt sogar der Ableitung von Rechtsgrundsätzen günstig. Denn sie ergibt die Möglichkeit, aus einem ethischen Wert ein bestimmtes Verhalten als sittlich gefordert abzuleiten und, umgekehrt, ein entgegengesetztes Verhalten als sittlich verboten zu bezeichnen. Jedem Wert entspricht ein U n w e r t , der Gerechtigkeit die Willkür, der Treue die Untreue usw. Auch diese U n w e r t e werden durch ein bestimmtes Verhalten erfüllt. D a m i t ergibt sich die Möglichkeit, nicht nur positive Sätze aufzustellen, die ein bestimmtes Verhalten gebieten, sondern auch Verbotssätze, welche ein bestimmtes Verhalten als in jedem Falle der Rechtsidee widersprechend ausschließen. Für die Rechtsbildung ist dies von großer Bedeutung; man denke nur an die Dolus-Sätze oder die Verbote des Dekalogs. 4. Aber wenn infolge der T y p i k der Situationen es auch möglich ist, zu überhistorisch geltenden Sätzen zu kommen, so liegt darin doch auch eine erhebliche Begrenzung. a) Die Sätze, die sich aus ethischen Werten im Hinblick auf typische Situationen u n d unter Berücksichtigung der in der N a t u r der Sadie uns entgegentretenden Strukturen entwickeln lassen, werden notwendig einen gewissen G r a d der Abstraktheit behalten. Sie wer15 vgl. Euchen, Die Grundlagen der Nationalökonomie (7. Aufl. 1959), insbes., S. 52 ff.

199

Kapitel IV

den daher wohl Ausgangspunkt einer konkreten positiven Ordnung sein können, aber sich nie zu einer vollkommenen, geschlossenen entwickeln lassen. Auch ist eine mechanische Ableitung konkreter Rechtssätze im Wege des Syllogismus kaum möglich. Erst die genaue Analyse der konkreten Situation kann die Verbindung der spezifischen Probleme, vor denen ein Richter oder ein Gesetzgeber steht, zu den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit herstellen. Ich erwähne etwa als Beispiel die Erfassung der Regeln über die sogen. Gefährdungshaftung. Heute ist die Einsicht wohl herrschende Lehre, daß es sich bei der Gefährdungshaftung um eine Anwendung des Satzes der distributiven Gerechtigkeit handelt, wonach denjenigen die H a f tung für Schäden treffen soll, die aus einem bestimmten technischen, mit Gefahr verbundenen Betriebe herstammen, der die wirtschaftlichen Vorteile dieses technischen Betriebes genießt und in der Lage ist, die Gefahren, wenn nicht zu beherrschen, so doch jedenfalls einzugrenzen. Aber diese Verbindung ergab sich nicht von selbst, als das Problem im 19. Jahrhundert zuerst auftauchte. Sie hat sich erst in langem Ringen mit bestimmten praktischen Problemen ergeben. b) Die Sätze, die sich auf die gekennzeichnete Weise ergeben, sind auch niemals vollständig oder abschließend. Sie sind es genausowenig wie ethische Einsicht überhaupt. Bei der Gerechtigkeit hat sich uns diese Offenheit oder Unabgeschlossenheit unserer Werteinsicht, insbes. in der Frage der Maßstäbe gezeigt. Die Grundsätze der Gerechtigkeit, die sich entwickeln lassen, geben uns daher immer nur Elemente der Ordnung, Teilstrukturen, und schließen sich nicht zu einem vollständigen, anwendbaren System zusammen. 5. Die klassische Naturrechtslehre der Antike hat das Naturrecht als Diktat der rechten Vernunft und als Einsicht in das Weltgesetz, die „lex aeterna" betrachtet. Die scholastische Lehre hat zwar diese Lehre im Prinzipiellen akzeptiert, aber in ihren Konsequenzen doch erheblich eingeschränkt. Demgegenüber hat die Berufung auf das Naturrecht das eigentümliche Pathos, das aus jener Lehre von der lex aeterna stammt, nie verloren. Daher ist es meines Erachtens notwendig, in der Richtung jener Einschränkung, die die Scholastik bereits getroffen hat, weiterzugehen. Der Ausgangspunkt eines Satzes der Gerechtigkeit ist allerdings eine a priori gegebene Werteinsicht. Aber wenn wir über die Umschreibung des reinen Wertinhaltes hinaus zu rechtlichen Prinzipien fortschreiten, können wir dies nicht tun, ohne empirische Daten aufzunehmen. Was wir von der Natur der Sache wissen, stammt aus unserer Erfahrung. Was wir von den Grundsituationen der Gesellschaft, 200

Die Grundlagen des Rechts

etwa den Eigenarten des Über- und Unterordnungsverhältnisses wissen, ist ebenfalls Empirie. Die Grundsätze, die wir aufgrund solcher Erfahrungen entwickeln können, sind also nicht insgesamt a priori, sondern enthalten mehr oder weniger auch Erfahrungselemente. So ist z. B. das Prinzip: jede Macht über Menschen muß beschränkt sein, das man als einen solchen Grundsatz der Gerechtigkeit bezeichnen kann, zwar in seinem Ausgangspunkt a priori begründet, nämlich in der Würde des Menschen. Darauf gründet sich das Postulat, daß die Freiheit des Bürgers gesichert werden muß. Daß nun aber daraus gefolgert wird, daß bestimmte Machtverhältnisse eingegrenzt werden müssen, ergibt sich erst, wenn wir die Erfahrung hinzunehmen, daß die Menschen geneigt sind, Machtstellungen zu mißbrauchen und ungebührend auszudehnen. Es ist charakteristisch, daß Montesquieu da, wo er den Schutz der Freiheit gegenüber der Macht begründet, sich auch ausdrücklich auf die Erfahrung beruft: „C'est une expérience éternelle que tout homme, qui a du pouvoir est porté à en abuser. Il va jusqu'à ce qu'il trouve des limites."16 Wir können also nicht sagen, daß die Grundsätze der Gerechtigkeit als ganze Sätze von apriorischer Natur sind. Es handelt sich vielmehr um Sätze, die aus apriorischer Werteinsicht und Erfahrung entwickelt worden sind. Das bedeutet nun freilich, daß unter Umständen solche Sätze auch durch, neue Erfahrungen berichtigt werden können. Lange Zeit hat es z. B. aufgrund von Erfahrungen geradezu als Axiom gegolten, daß die staatliche Einheit auch die religiöse Einheit fördere, ja daß überhaupt individuelle Freiheit und staatliche Ordnung im Grunde unvereinbar seien. Die Erfahrungen, die in dieser Hinsicht die antiken Stadtrepubliken gemacht hatten, schienen nur für kleinere Gemeinwesen Geltung zu besitzen. Erst die Entwicklung des modernen Verfassungsstaates hat gezeigt, daß Ordnung und Freiheit überhaupt vereinbar sind. Erst recht gilt diese Einschränkung natürlich dann, wenn es sich um bestimmte Institutionen handelt; etwa die Einschränkung vorhandener Macht durch ein System unabhängiger Gerichte. Vielleicht sind andere Institutionen denkbar, die den gleichen Zweck erfüllen, aber dafür fehlt uns Erfahrung. Sind also die entwickelbaren Grundsätze der Gerechtigkeit nicht vollkommen a priori gegeben, so muß doch noch einmal unterstrichen werden, daß sie auf rationale Weise entwickelt sind. Die in ihnen zugrunde gelegten Erfahrungen sind rational festgestellt und ana16

Montesquieu,

De l'esprit des lois, Buch X I Kap. 4.

201

Kapitel IV

lysiert. Es handelt sich also nicht um irrationale Behauptungen, sondern jeder Satz ist aus einer Wertanalyse und aus vorhandener Erfahrung rational zu begründen, wenn auch nicht mit der Sicherheit mathematischer Deduktionen abzuleiten 17 . 6. Da die Erfahrung, und zwar die Erfahrung mit bestimmten Sätzen und Institutionen, in der Praxis von entscheidender Bedeutung ist, ist die Erkenntnis der Gerechtigkeitssätze nicht eigentlich Sache der Spekulation, sondern — sehr im Gegensatz zur Praxis und Auffassung des 18. Jahrhunderts — Sache der praktischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Die eigentlichen Erforscher dieser Region sind die Praktiker, die Gesetzgeber und Richter, die seit Jahrtausenden immer von neuem versucht haben, zu erkennen, was — im Einzelfall oder im allgemeinen — gerecht und sachgemäß wäre. Jedes gelungene, d. h. an der Gerechtigkeit orientierte Gesetz, jedes sachgemäße Urteil ist zugleich ein Stück erkanntes und positiviertes N a turrecht. Die Naturrechtslehre hat aus ihren Erkenntnissen im großen und ganzen nur die Summe gezogen. Das ist ein durchaus legitimes Verfahren. Die Naturrechtslehre wird immer in Rechnung ziehen müssen, was, sei es das positive Recht, sei es die philosophisch-ethische Forschung bereits an Naturrecht erkannt hat. Insofern ist die N a t u r rechtslehre in berechtigter Weise auch rückwärts gewandt und an der Vergangenheit orientiert. Ihre Aufgabe ist vor allem, diese gesammelte Erkenntnis auf ihren bleibenden Gehalt zu prüfen, indem sie ihn mit den Forderungen der Rechtsidee vergleicht, und die Einzelerkenntnisse zusammenzuschließen. Damit ist zugleich gesagt, daß sie diesen Bereich nicht erschöpfend darstellen kann. 7. Daher ist es auch grundsätzlich falsch, Naturrecht und positives Recht völlig auseinanderzureißen: Jenes den Sternen, dies der Erde zuzuweisen. Nein, das Naturrecht lebt — was übrigens schon Aristoteles erkannt und gelehrt hat 1 8 — gerade im positiven Recht. Dieses leitet gerade daraus, daß es Sätze der Gerechtigkeit aufgenommen hat, seine innere Autorität ab, die f ü r seine Geltung ebenso notwendig ist wie der Befehl des Gesetzgebers. Freilich gibt es nicht nur die Übereinstimmung zwischen N a t u r recht und positivem Recht; es gibt auch das Problem des Widerspruches zwischen beiden. Kein ethischer Satz zwingt automatisch. 17 Auf diesen Zusammenhang des empirischen und rationalen Momentes hat insbes. Kriele aufmerksam gemacht, vgl. Kriterien der Gerechtigkeit (1963), S. 79. 18

202

Aristoteles,

Nikomadiische Ethik, V. 10.

Die Grundlagen des Rechts

Stets besteht gegenüber ihm die Freiheit, sich anders und gegen ihn zu entscheiden. Für die Sätze des Naturrechts gilt nichts anderes. Autorität und Geltung der Regeln des Naturrechts sind moralischer Art. Ihre Geltung reicht soweit wie die Geltung der sittlichen Werte, von denen sie abgeleitet sind. Die Macht des Staates steht ihnen nicht zur Seite. Sie können nur an das Gewissen appellieren. Insofern richten sie sich aber an jeden einzelnen. Die Sanktion des Naturrechts ist nicht staatlicher Zwang, sondern moralischer Aufruf zum Widerstand aktiver oder passiver Natur. Das naturrechtswidrige Gesetz ist moralisch unverbindlich. Hier taucht nun die schwere Frage auf, ob das Naturrecht zum gewaltsamen Widerstand berechtige oder sogar verpflichte. Es ist das Problem des Rechts zur Revolution, das in der politischen Geistesgeschichte eine so große Rolle gespielt hat; man denke nur an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1 9 , aber auch an die mittelalterliche Lehre vom Widerstandsrecht. Das Problematische dieser Lehre ist, daß hier das Recht, dessen erstes Ziel doch der Friede ist, selbst zur Gewalt und Selbsthilfe auffordert. Die Friedens- und die ethische Tendenz im Recht geraten in Widerspruch. Es ist deshalb notwendig, auf das grundsätzliche Verhältnis von Recht und Zwang einzugehen. Das Recht steht als öffentliche Ordnung mit dem Zwang nicht in Widerspruch; im Gegenteil, die Sicherheit der Rechtsordnung fordert die Anwendung von Zwang 2 0 ; nur der Zwang kann angesichts der menschlichen N a t u r die sichere Geltung des Rechts gewährleisten. Das Wesen der sittlichen Werte steht dagegen mit der Anwendung von Gewalt in Widerspruch. Sie verpflichten nur zu einem ihren Forderungen entsprechenden persönlichen Verhalten. Das Naturrecht ist zunächst die Summe der im Sittlichen wie im Sachlichen verwurzelten Grundsätze f ü r die Gestaltung der sozialen Ordnung. Es r u f t zugleich die sittliche Verpflichtung hervor, die positive Ordnung seinen Grundsätzen entsprechend zu gestalten. Diese Verpflichtung ist primär eine sittliche; sie muß daher zunächst mit moralischen Mitteln erfüllt werden. Wir sollen für eine gerechte Ordnung der Dinge nach unseren Kräften eintreten. Gegenüber naturrechtswidrigen Maßnahmen sind deshalb zunächst Gels Dazu Carl L. Becker, The Declaration of Independence, A the History of Political Ideas ( N e w York 1945). 20

Richtig: Bierling, S. 144 ff.

Study in

Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe I (1877),

203

Kapitel IV

gen Vorstellungen zu erheben; bewußten Verletzungen ist durch passiven Widerstand entgegenzutreten21. Der aktive Widerstand, der zur Gewalt greift, ist sittlich nidit geboten. Er ist jedoch naturrechtlidi erlaubt und legitim gegenüber einer bewußt naturrechtswidrig handelnden, verbrecherischen Regierung. Er rechtfertigt sich, abgesehen vom Gesichtspunkt der Notwehr, wie der Rechtszwang überhaupt aus der Natur des Menschen, die die Erhaltung der öffentlichen Ordnung ohne jede Anwendung von Gewalt und Zwang nicht zuläßt, also letzten Endes daraus, weil das Naturrecht auf die Gestaltung der öffentlichen Ordnung gerichtet ist. Andererseits liegt es aber im Wesen des Rechts als einer Ordnung, daß aktiver Widerstand nur in äußersten Fällen gerechtfertigt sein kann. Jede Revolution setzt zunächst das Recht außer Kraft: setzt wieder Gewalt an die Stelle friedlicher Ordnung. Das bedeutet in sich stets ein großes, viele Menschen betreffendes Unglück. Daher trifft den, der eine Revolution unternimmt, eine schwere Verantwortung, und er kann den Versuch nur wagen, wenn die Duldung der bestehenden Ordnung auch diesem Unglück für viele gegenüber unerträglich wäre. Die Verantwortung für die Aufrechterhaltung einer naturrechtlich richtigen Ordnung trifft, da es sich um eine ethisch' fundierte Ordnung handelt, grundsätzlich jeden. Aber zweierlei muß beachtet werden. a) Für ein Unterlassen kann man immer nur soweit verantwortlich gemacht werden, als eine nach Einsicht und Lage des einzelnen gegebene Möglichkeit zum Handeln bestand. Es läßt sich kein abstraktes Maß des zu fordernden Widerstandes aufstellen; man muß auf die Situation des einzelnen Rücksicht nehmen. Jeder Schematismus ist hier unangebracht. b) Man muß sich, besonders was die heutige soziale Welt angeht, darüber klar sein, daß die Technik eine ungeheure materielle Überlegenheit desjenigen, der die Regierungsgewalt in Händen hat, geschaffen hat. Die Zeiten der Hugenotten oder des englischen Bürgerkrieges, in denen die Opposition mit fast gleichen Chancen der Regierung militärisch entgegentreten konnte, sind vorbei. Das Unternehmen des aktiven Widerstandes bedeutet wohl in jedem Fall einen Gang auf Leben und Tod. Die Geschichte der deutschen Widerstandsbewegung unter Hitler zeigt es zur Genüge. Deshalb kann es nur einen Appell zum freiwilligen Kampf, aber keine positive Reditspflicht zum Widerstand geben. Die Pflicht zum Widerstande wurzelt darin, daß das Naturrecht ethisch fundiert, seine Verwirklichung ein Gebot 21 So auch die Lehre der Stoiker, vgl. Seneca, Kap. 3.

204

De tranquillitate animi,

Die Grundlagen des Rechts

des Sittengesetzes ist. Ihre Erfüllung ohne Rücksicht auf die Gefahr fordert die höchste Achtung; ihre Nichterfüllung kann im Einzelfall einen sittlichen Makel begründen; aber sie begründet keine strafrechtliche Verantwortlichkeit im positivrechtlichen Sinn. Nicht die Reditsgemeinschaft, das Sittengesetz allein darf den aktiven Widerstand fordern. Der Kampf gegen eine Tyrannei ist etwas, das sich rechtlicher Regelung seinem Wesen nach entzieht. Daraus ergibt sich endlich, daß es eine Bestrafung wegen unterlassenen Widerstandes auf Grund Naturrechts nidit geben kann und auf Grund positiven Rechts nicht geben sollte. In letzterer Hinsicht steht auch der Grundsatz „nulla poena sine lege" entgegen. Dieser Satz, der Bestrafung ausschließt, wo sie nicht vor der T a t angedroht worden ist, ist selbst ein Gebot des Naturrechts. Er will Willkür ausschließen. Das Naturrecht kann im Namen der Rechtsidee vom Gehorsam gegen das positive Recht entbinden, weil das sittliche Gebot höher steht als der Gehorsam gegen die Gemeinschaft; aber es enthält keine Strafdrohnungen gegen die, welche es verletzen. Seine Autorität ist moralisch, wie die der Rechtsidee selbst 22 . 8. Das Naturrecht ist als eine Summe von Sätzen der Gerechtigkeit zu verstehen, welche die Grundlage des positiven Kulturrechts bilden. Diese Grundsätze sind aus dem sittlichen Gehalt der Rechtsidee und der N a t u r der Sache im Hinblick auf bestimmte, wiederkehrende Grundsituationen und Grundsachverhalte des sozialen Lebens abgeleitet. In ihren ethischen Grundlagen apriorisch, enthalten sie empirische Momente, insoweit sie auf bestimmte Situationen bezogen sind und von bestimmten Gegebenheiten der menschlichen N a t u r oder der N a t u r der Sache ausgehen. Sie gehören der Welt des Menschen an; auf sie beschränkt sich ihre Geltung 2 3 . Sie bilden f ü r uns kein geschlossenes System und keine geschlossene Ordnung, da uns die Rechtsidee nicht voll erkennbar ist. In den Naturrechtssätzen erkennen und formulieren wir einen eigenartigen Sachzusammenhang in der Welt des Menschen, der uns bei dem Versuch, eine gerechte soziale Ordnung zu schaffen, entgegentritt. Wir formulieren in-ihnen bestimmte ethische Gehalte und Gc22 vgl. dazu meinen Aufsatz: Zur Frage der strafrechtlichen H a f t u n g der Riditer wegen Anwendung naturrechtswidriger Gesetze, SJZ 1947, S. 61. — D i e Frage führt auf das Problem, wieweit der Staat Verstöße gegen die Sittlichkeit zu ahnden hat. D a z u unten Kap. IV Abschn. V. 5. 28 Darin ist E. Wolf, Naturrecht und Gerechtigkeit, Ev. Theologie (1947/ 1948), S. 233 ff., insbes., S. 251, zuzustimmen.

205

Kapitel IV

gebenheiten des sozialen Lebens, die in der Sozialordnung zur Auswirkung kommen. Das Naturrecht bildet insofern — neben der persönlichen Ethik — einen selbständigen, eigenartigen Bereich des idealen Seins. Das Naturrecht bildet den Maßstab für die Beurteilung des positiven Rechts. Aber man kann auch sagen, daß das positive Recht aus dem Naturrecht lebt. Dies in einem doppelten Sinne. Zunächst einmal bilden die Regeln der Gerechtigkeit eine der materiellen Quellen, aus denen das positive Recht geschaffen wird; zum andern aber wird das positive Recht in der lebendigen Entwicklung, die es in Anwendung und Auslegung erfährt, immer wieder aus dem Rückgriff auf das, was die Gerechtigkeit erfordert, gespeist. Ohne jenen Rückgriff ist jene Rechtsentwicklung gar nicht zu verstehen; wollten die Richter nicht den Einzelfall gerecht entscheiden, was sollte sie veranlassen, vom Buchstaben des Gesetzes, von dessen mechanischer Anwendung abzuweichen? „Gesetzesergänzung durch freie Rechtsfindung, analoge Anwendung bestehender Rechtssätze auf neue Fälle, Ergänzung unvollständig formulierter und genauere Bestimmung mehrdeutig formulierter Vorschriften sind also nur verschiedene Stufen und Modalitäten einer und derselben Tätigkeit: Findung des richtigen Rechts."24 Sehr mit Recht hat neuerdings Ophüls darauf hingewiesen, daß keine positive Rechtsordnung allein aus sich heraus verständlich ist, daß sie vielmehr stets auf vorpositive oder überpositive, vorausliegende Regeln zurückgreifen muß — und diese schließen u. a. diejenigen der Gerechtigkeit ein25. Das Naturrecht ist die Anknüpfung für die Situationsanalyse und die Entwidklung neuen Rechts und bietet damit den Ausgangspunkt für die Meisterung neuer Probleme. Aus seinen Sätzen läßt sich eine Ordnung auch für solche neu sich stellenden Fragen gewinnen. In der Auseinandersetzung mit solchen Problemen ist die Einsicht des Menschen über das, was gerecht ist, erworben. In diesem Sinne ist unser "Wissen um das Naturrecht die Summe der Erfahrungen, die der Mensch in seinem Suchen nach gerechter Ordnung in challenge und response gemacht hat. 84

W. Burckhardt, (Bern 1925), S. 82.

Die Lücken des Gesetzes und die Gesetzesauslegung

25 vgl. C. F. Ophüls, 1968, 1745 ff.

206

Ist der Reditspositivismus logisch möglich? NJW

Die Grundlagen des Rechts

IV. Für die Erörterung der einzelnen Sätze der Gerechtigkeit 1 wird man zweckmäßigerweise von der Unterscheidung zwischen iustitia commutativa und iustitia distributiva ausgehen, wie sie Aristoteles entwickelt und die scholastische Philosophie weiter ausgebildet hat. 1. Die iustitia commutativa setzt die Situation der Gleichordnung voraus. Sie hat zwei Aspekte 2 . Sie betrifft zunächst das Vertragsrecht. Hier gilt der Satz: Pacta sunt servanda. Verträge müssen gehalten werden. Es gibt Qualifikationen: der Vertrag muß freiwillig und ohne Täuschung geschlossen sein; der Vertragschließende muß die erforderliche Einsicht gehabt haben. Ein erzwungener Vertrag kann menschliche Treue nicht engagieren. Einem Jugendlichen, der nicht übersieht, welche Verpflichtungen er eingeht, muß das Recht helfen. Aber mit diesen, im positiven Recht im einzelnen auszugestaltenden Begrenzungen bleibt der Satz ein Grundprinzip aller rechtlichen Ordnung. Eine Ordnung, die vom Gegenteil ausgehen würde: Verträge können jederzeit gebrochen werden, wäre absurd. Innerhalb der Verträge gilt das Prinzip der Gleichheit im selben Sinne wie beim Schadensersatz. Leistung und Gegenleistung sollen einander entsprechen. „In contractibus natura aequalitatem imperat." 3 Wer etwas hergibt, soll dafür ein „Aequivalent" erhalten. Auch hier gilt Verhältnismäßigkeit. Das gilt nicht nur f ü r den Wert der ausgetauschten Leistungen; es gilt auch' f ü r den Zeitpunkt der Leistung. Er ist grundsätzlich für beide gleich. Niemand braucht vorzuleisten. Darauf beruht die Evidenz der „Einrede des nicht erfüllten Vertrages". Alles dies gilt jedoch unter dem Vorbehalt: wenn die Vertragschließenden nichts anderes vereinbaren. Denn volenti non fit iniuria. Die Gerechtigkeit zwingt nicht, auf dem vollen Ausgleich zu bestehen. Die große Frage des Vertragsrechts, soweit es sich um Austausch ökonomischer Leistungen handelt, ist naturgemäß, wann zwei Leistungen als gleichwertig bezeichnet werden können. Schon Aristoteles behandelt sie in der Nikomachischen Ethik gelegentlich der Behandlung der iustitia commutativa und kommt dabei auf das Problem des Geldes. Es ist die Frage nach dem gerechten Preis. Hier stehen wir nun wiederum an einer Grenze der Rechtsidee, an einer Stelle, wo sie offen bleibt und uns die Maßstäbe fehlen. Im Leben entscheidet 1

Diese kann man zugleich als Kriterien der Gerechtigkeit auffassen.

2

vgl. Aristoteles,

3

Grotius, De iure belli ac pacis (1625) II, 128.

Nikomachisdie Ethik V. 2.12.

207

Kapitel IV

das jeweils geltende Wirtschaftssystem. In der gelenkten Wirtschaft bestimmt der Staat die Preise; sein Gebot ist maßgebend. In der freien Wirtschaft bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis. Das Privatrecht selbst übernimmt ihre Lösungen; von sich aus kann es das Problem nicht lösen. Auf der Forderung nach gleichwertigen Leistungen beruht die innere Berechtigung eines Instituts, das schon verhältnismäßig früh mit dem Naturrecht in Verbindung gebracht worden ist; es handelt sich um die sogen, „ungerechtfertigte Bereicherung". Sie gewährt einen Rückforderungsanspruch, wenn in Erwartung einer Gegenleistung geleistet wurde, diese aber nicht erbracht ist. In diesem Fall ist dem Austausdigedanken nicht Genüge getan; daher kann der auf der erbrachten Leistung beruhende Rechtserwerb auch keinen Bestand haben. Es läge sonst eine laesio des Leistenden vor. Dieser Zusammenhang zeigt nun aber auch die Grenzen des Prinzips der Rüdegabe ungerechtfertigter Bereicherung. Es ist auf Fälle der Bereicherung durch Leistung beschränkt; den Satz „casum sentit dominus" soll es aber nicht außer Kraft setzen. Daher hat es für Fälle zufälliger Vermögensverschiebungen grundsätzlich keine Geltung. Im Rechtsverkehr innerhalb der Gleichordnung gelten die Grundsätze von Treu und Glauben. Jedermann hat auf die Interessen des anderen in gewissem Umfange Rücksicht zu nehmen, so wie es die Treue im Geschäftsverkehr verlangt 4 . Das Vertrauen in ein bestimmtes Verhalten ist schutzwürdig. Darum muß sich jemand, der den vertrauenswürdigen Anschein einer bestimmten Rechtshandlung oder Rechtsposition erweckt, behandeln lassen, als läge die betreffende Rechtsposition wirklich vor. Betrug, Arglist und willkürlich-widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium) als Gegenwert der Treue machen ersatzpflichtig. Hierauf beruhen die sogen. Dolus-Sätze 5 . Der andere Aspekt der iustitia commutativa beruht auf dem Gebot des Respektes vor Person und Gut des anderen, dem Satze „neminem laedere". Daraus folgt, daß bei schuldhafter Verletzung fremder Rechte dem Verletzten Wiedergutmachung, Schadensersatz zu leisten ist. Wie grundsätzlich bei Vertragsleistungen tritt auch hier der gleiche Leitsatz in der Form des Äquivalenzprinzips auf. Angerichteter Schaden und Wiedergutmachung sollen einander entsprechen. Es 4 5

vgl. dazu oben Kap. IV Abschn. II. 4.

vgl. dazu meinen Aufsatz: Allgemeine Rechtsgrundsätze, N J W 1947/ 1948, S. 213 ff.

208

Die Grundlagen des Redits

gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieselben Grundsätze gelten bei Verletzung einer Vertragsverpflichtung. Es ist deutlich, daß die iustitia commutativa einen gegebenen Zustand des Rechts, der Güterverteilung, voraussetzt. Ihre Sätze sagen uns, was zu geschehen hat, wenn jemand unter Bruch dieses rechtlich sanktionierten Zustandes fremde Redite verletzt, und bestimmen über die Verträge, die in solchem Zustand das Mittel sind, Kooperation zu ermöglichen und Veränderungen herbeizuführen. Die iustitia commutativa gilt also innerhalb eines gegebenen Systems. Darüber, wie dieser Zustand zustande gekommen ist, wie die Güter ursprünglich verteilt worden sind, sagt sie nichts. Ihre Sätze kommen daher insbes. in Betracht, wo eine Rechtsordnung die Güter- und Schadensverteilung anderen Kräften, etwa dem Wettbewerb, überläßt. Ihre Verwirklichung hat sie vor allem im Privatrecht, aber auch (mit mancherlei Modifikationen, die sich insbes. aus der besonderen Situation dieses Rechtsgebietes ergeben) im Völkerrecht gefunden. 2. Die Frage der Verteilung von Gütern und Lasten ist dagegen das Problem der iustitia distributiva. Sie gilt für eine andere Situation als die iustitia commutativa; ihre Voraussetzung ist das Vorhandensein einer Gemeinschaft, einer Gruppe von Menschen, die so weit zusammengehört, daß bestimmte Vorteile oder Schäden auf die Mitglieder der Gruppe verteilt werden sollen. Aristoteles hat die iustitia distributiva im Hinblick auf den Staat, auf die griechische Polis, analysiert. Gewiß ist die staatliche Gemeinschaft ein Hauptanwendungsfall der iustitia distributiva, aber es ist keineswegs der einzige. Es kann sich um Gruppen handeln, die durch Vertrag geschaffen sind: z. B. eine Handelsgesellschaft. Es kann sich um Berufsgruppen handeln, z. B. Beamte eines Ministeriums, die eine Beförderungsgemeinschaft bilden. Es kann sich aber auch um Gruppierungen handeln, die durch rein objektive Kriterien bestimmt werden: etwa die „Gefahrengemeinschaft" aller derjenigen, die am technisierten Straßenverkehr teilnehmen, oder aller, die an Herstellung und Verwendung von Produkten beteiligt sind, die aus technisch-industrieller Produktion hervorgehen. Die iustitia distributiva greift immer dann ein, wenn eine Last (etwa ein Schadensausgleich) oder ein Vorteil innerhalb einer solchen Gruppe nach übergreifenden Prinzipien verteilt werden muß, ohne daß sich diese Verteilung aus den Regeln des iustitia commutativa, also aus Vertrag oder Wiedergutmachung ergibt. Immer aber handelt es sich darum, daß in gewissem Umfange einer für den anderen eintreten muß. Die iustitia distributiva ist daher der soziale Aspekt der 209 14

C o i n g ,

Rechtsphilosophie

Kapitel IV Gerechtigkeit, sie ist zugleich — im Vergleich zur iustitia commutativa — dynamisch. Der Maßstab der iustitia distributiva ist die Gleichheit, u n d z w a r im Ausgangspunkt die medianische Gleichheit. Wenn drei Personen sich zu einer Erwerbsgesellschaft zusammentun, so gilt im Zweifel, daß sie gleiche Beiträge leisten müssen und in gleicher Weise am Gewinn partizipieren. Wenn in Zeiten der Lebensmittelknappheit die Lebensmittel bewirtschaftet werden müssen, w i r d der Ausgangspunkt sein: jedem die gleiche Menge. Aber auch hier reicht die mechanische Gleichheit nicht aus; auch hier m u ß zwischen gleichliegenden und verschiedenliegenden Sachgestaltungen unterschieden werden. Auch hier stellt sich also die schwierige Frage: w a n n liegen gleiche, w a n n ungleiche Sachgestaltungen vor. Die Lösung ergibt sich f ü r manche Fragen aus der N a t u r der Sache. Bei der Lebensmittelbewirtschaftung etwa w i r d man dem Kleinkind andere Lebensmittel u n d weniger Kalorien geben als dem Erwachsenen. Aber auch hier hilft die N a t u r der Sache nur ein Stück weiter. Wenn z. B. die Frage auftaucht, ob man Schwerarbeitern im Bergbau Zulagen geben soll, so kommen schon ganz andere Gesichtspunkte, nämlich solche der Produktionspolitik z u m Tragen. Es gibt darüber hinaus spezielle Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit, die die Lösung der Verteilungsprobleme in bestimmten Situationen erlauben. Wenn etwa innerhalb einer G r u p p e ein Schlüssel f ü r die Verteilung der Lasten aufgestellt ist, so ist es gerecht, d a ß der gleiche Schlüssel auch f ü r die Verteilung von Vorteilen, z. B. der Gewinne gilt. „Secundum n a t u r a m est commoda cuiusque rei eum sequi, quem sequentur incommoda." 6 D a h e r ist die „Societas leonina", bei der einer alle Gewinne erhält, w ä h r e n d der andere alle Lasten trägt, ungerecht. Ein anderes derartiges Prinzip ist dasjenige, das der Verteilung von Schäden zugrunde liegt, die von bestimmten, in sich gefährlichen, aber unentbehrlichen Betrieben ausgelöst sind, etwa der Eisenbahn, dem Flugverkehr usw. H i e r f r a g t sich, ob das jeweilige O p f e r , der Verletzte, den Schaden zu tragen hat oder derjenige, der aus dem Betrieb N u t z e n zieht und/oder die auftretenden Gefahren zu beherrschen oder jedenfalls einzudämmen in der Lage ist. H i e r greift der Gesichtspunkt ein, d a ß derjenige, der den wirtschaftlichen N u t z e n zieht oder der die Gefahren beherrschen oder eingrenzen kann, grundsätzlich' „näher" z u m Schaden ist. Wer den guten T r o p f e n genießt, soll auch den bösen genießen. Aber die damit gegebenen Maßstäbe können nur f ü r begrenzte Situationen Geltung beanspruchen. Je umfassender die Frage der ge' Paulus, D 50.17. 10. 210

Die Grundlagen des Redits rechten Verteilung gestellt wird, um so sdrwieriger wird das Problem des Maßstabes. Dieses Problem ist uns schon begegnet7. Handelt es sich um die Frage, welchen Beamten innerhalb einer Beförderungsgemeinschaft eine gehobene, besser bezahlte Stellung zufallen soll, so ergibt die Natur der Sache, daß die Leistung des einzelnen Beamten im Rahmen der Aufgabenstellung der betreffenden Behörde entscheidend sein sollte, so schwierig diese Feststellung auch im Einzelfall sein mag. Handelt es sidi um die Verteilung von Steuern, so mag die Höhe des Einkommens ein Maßstab sein: aber wenn ich grundsätzlich das Postulat aufstelle, daß innerhalb einer Nation die wirtschaftlichen Güter nach „Können und Leistung" oder nach Verdiensten verteilt werden sollen, so wird der Maßstab derartig allgemein, daß er keine sichere und gleichmäßige Beurteilung mehr erlaubt. Es fehlt ein eindeutiger Vergleichsmaßstab. Wie soll man etwa die Tätigkeit eines Pfarrers, eines Opernsängers und eines Drehers im Verhältnis zueinander gerecht bewerten? Es besteht daher die Gefahr, daß ganz andere, außerhalb der Gerechtigkeit liegende Gesichtspunkte maßgebend werden, obwohl man sich auf „Gerechtigkeit" beruft; dies ist aus den politischen Auseinandersetzungen wohl bekannt. Andererseits ist gerade deshalb die iustitia distributiva dynamisch, weil sie die Herausarbeitung neuer Maßstäbe erlaubt. Im Namen der sozialen Gerechtigkeit ist die Beteiligung der Arbeiter an dem Zuwachs des industriellen Sozialproduktes, ist in unserem Jahrhundert die Fürsorge für die sozial Schwachen überhaupt gefordert worden. Es ist die iustitia distributiva, welche es erlaubt, den Zustand der Güterverteilung gegenüber der insofern statischen iustitia commutativa im Sinne einer größeren Gerechtigkeit zu verändern. Es ist der Aspekt der Gerechtigkeit, welcher Reform und Revolution trägt. 3. In der Staatsphilosophie der Neuzeit, die den Rechtsstaat entwickelt hat, ist zu diesen beiden „klassischen" Aspekten der Gerechtigkeit ein weiterer getreten: Er hat es mit der Situation der Überund Unterordnung, also dem Verhältnis von Macht und Autorität zu tun, und es geht bei ihm darum, deren willkürlichen Mißbrauch auszuschließen. Man könnte von der iustitia protectiva sprechen. Der oberste Satz der iustitia protectiva lautet: Alle Macht von Menschen über Menschen muß begrenzt sein. Unbeschränkte Macht widerspricht dem Recht. Diesem Satz liegt die Erfahrung über den Menschen zugrunde, daß unbeschränkte Macht die Gefahr des Mißbrauchs in sich trägt; ihre klassische Formulierung ist der Satz Montesquieus: „C'est une expérience éternelle, que tout homme qui 7

vgl. oben Kap. IV Absdin. II.2. 211

Kapitel IV

a du pouvoir est porté à en abuser; il va jusqu'à ce qu'il trouve des limites." 8 Das Redit rechnet auch hier nicht mit dem Heiligen, sondern mit dem Durchschnittsmenschen und seinen Schwächen. Darum sieht es hinter der Macht die Willkür. Es ist an und für sich richtig, daß die Macht nicht böse sein muß. Es kommt auf die Gesinnung an, in der sie ausgeübt wird. Aber sie ist gefährlich. Sie unbegrenzt lassen, bedeutet die Kontrolle aufgeben. Das widerspricht dem Rechtsgedanken. Er sichert Achtung durch Begrenzung; auf andere Weise vermag er es überhaupt nicht. Wo liegen aber die Grenzen der Macht? Es sind zwei Gesichtspunkte, die hier eingreifen. Der erste ist der der N a t u r der Sache. Keine Macht darf weiter gehen, als es der N a t u r der Sache entspricht, d. h. dem spezifischen Zweck, dem das konkrete Machtverhältnis im sozialen Leben zu dienen bestimmt ist. Der Vater braucht weitergehende Macht über das Kind als der Lehrer in der Schule; der Offizier über die Soldaten mehr als der Kaufmann über seinen Angestellten usw. Keiner aber darf mehr Macht haben, als der soziale Zweck der betreffenden Institution es erfordert. Es kommt so zu einer gewissen Selbstbegrenzung (autolimitation hat es Hauriou genannt) der Macht aus ihrer Z wedegebundenheit; der soziale Zweck begrenzt die Macht. Der Dienstvorgesetzte kann „im Dienst" Befehle geben; über das Privatleben seines Untergebenen hat er nicht zu befinden. Mit dieser Selbstbegrenzung der Macht aus ihrem Zweck hängt ein wichtiges Prinzip des öffentlichen Rechts zusammen: der Grundsatz der Gewaltenteilung. Der Staat erfordert seinem Wesen nach eine ungeheure und daher auch ungeheuer gefährliche Konzentration von Macht. Daher ist es zweckmäßig (im Sinne der Freiheit), die einzelnen Funktionen des Staates verschiedenen Menschengruppen anzuvertrauen. Dann wird jede von ihnen, da sie nur einen begrenzten Zwedt verfolgt, auch nur begrenzter Macht bedürfen — ganz abgesehen davon, daß jede die andere beschränkt. Der Grundsatz, daß keine Gewalt weitergehen darf, als es ihr Zweck verlangt, spielt im Verwaltungsrecht eine entscheidende Rolle. Die Begriffe der sogen. „Machtüberschreitung" 9 und des détournement de pouvoir finden darin ihre Begründung. Aber der Gedanke taucht nicht nur hier auf. Wenn z. B. im ehelichen Güterrecht oder Vormundschaftsrecht der Gedanke einer „ordnungsmäßigen Verwaltung" auftaucht oder im Familienrecht von einem „Mißbrauch" des 8

Montesquieu,

9

vgl. dazu W. Jellinek,

212

De l'esprit des lois, Buch X I Kap. 4. Verwaltungsredit (3. Aufl. 1931), S. 429 ff.

Die Grundlagen des Redits Sorgerechts die Rede ist, so liegt überall die Vorstellung einer zweckgebundenen Machtausübung zugrunde. Die Zweckbindung begrenzt die Macht und macht sie kontrollierbar. D e r Zweckgedanke trägt aber noch weiter. Er f ü h r t zu der Forderung, d a ß bei der Ausübung der Macht nur soweit in die Rechte des Machtunterworfenen eingegriffen werden d a r f , als es der Zweck erfordert. Er verbindet sich also mit dem Gedanken der Verhältnismäßigkeit. Verfolgter Zweck und angewendetes Mittel müssen im richtigen Verhältnis stehen. Die Polizei kann nicht die Niederreißung eines Hauses verlangen, wenn Ausbesserung genügt 1 0 . Unverhältnismäßige Forderungen sind sachwidrig. D e r erste Grundsatz der Machtbegrenzung lautet daher: Soweit Machtstellungen notwendig sind, sind sie auf den Umfang zu begrenzen, den die Natur der Sache (der verfolgte soziale Zweck) erfordert. Der zweite Gesichtspunkt, aus dem sich eine Begrenzung der Macht ergibt, ist die Respektierung der Grundrechte. A u d i der Machtträger hat die Menschenwürde im Unterworfenen zu achten. D a h e r m u ß er dessen Grundrechte beachten. E r kann die Grundrechte beschränken; aber er darf sie nicht aufheben. Daraus ergibt sich der zweite G r u n d satz der Machtbegrenzung: keine Machtstellung darf einen anderen vom Genuß seiner Grundrechte ausschließen. Sie darf ihm weder sein Eigentum oder die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben, völlig entziehen nodi seine Bewegungsfreiheit oder die Freiheit der Meinung usw. Überall sind nur Beschränkungen zulässig. Dies gilt z. B. auch im Verhältnis von Monopolist (Kartellen) und Konkurrent. Die Existenzvernichtung ist sittenwidrig 1 1 . Daraus folgt weiter: Wo in die Grundrechte eingegriffen wird, hat dieser Eingriff so schonend zu erfolgen, wie möglich. Der dritte Grundsatz der Machtbegrenzung lautet: Auch der Machtträger ist im Verkehr mit dem Machtunterworfenen an die Grundsätze von Treu und Glauben gebunden. Das Verbot der Arglist und des willkürlichen Wechsels des eigenen, maßgebenden Verhaltens gilt auch f ü r ihn. H i e r m i t hängt das Prinzip „nulla poena sine lege" zusammen. Unterstehen dem Machthaber nicht einzelne, sondern viele, eine ganze Gemeinschaft, so ist er an das Gebot der Gleichbehandlung gebunden. Er darf nicht willkürlich differenzieren. Das ist im Verwaltungsredit ausgeprägt; es gilt aber auch im Verhältnis von 10 Dies Beispiel bringt Jellinek aaO., S. 439, aus einer Entscheidung des Preuß. Oberverwaltungsgerichtes. 11 vgl. z. B. RGZ 56, 271.

213

Kapitel I V

Monopolinhaber und Kunden: es ist die Grundlage des dem Monopolisten auferlegten Kontrahierungszwangs 1 2 . Der letzte Satz der iustitia protectiva ist, daß alle Macht kontrolliert sein muß. Angesichts der bestehenden Machtsituation genügt die Begrenzung der Macht allein nicht, wenn es keine Instanz gibt, welche nachprüft, ob die gesetzten Grenzen eingehalten werden. Diese Kontrolle kann verschiedene Formen annehmen. Sie kann die Form eines Rechtsverfahrens haben, in dem die Rechtmäßigkeit des einzelnen Machtaktes nachgeprüft wird. Ein solches Verfahren kann diesem Akt vorgeschaltet werden — so z. B. bei der Ausübung der Strafgewalt im Strafrecht oder bei der Enteignung — oder es kann ihm nachfolgen, so z. B. im kontinentalen Verwaltungsstreitverfahren. Die Kontrolle kann aber auch darin bestehen, daß die Machtunterworfenen an der Machtausübung beteiligt werden. Das ist das Prinzip der parlamentarischen Kontrolle oder der Betriebsräte im modernen Arbeitsrecht. Wesentlich ist, daß die Kontrolle dem Unterworfenen selbst zur Verfügung steht. Die Grundsätze der iustitia protectiva gelten überall, wo Machtverhältnisse in den Bereich des Rechts treten und ihm unterworfen werden. Ihre bedeutsamste Ausprägung ist der Rechtsstaat des Liberalismus; Vorläufer sind die attische Demokratie und die römische Republik sowie im mittelalterlichen Recht das Lehnrecht und die Privilegien der Städte. Aber auch wo im Privatrecht Machtverhältnisse auftauchen, finden sie Anwendung, so im Verhältnis von Monopolist und Vertragsgegner, Verein und Mitglied 13 . Im Völkerrecht gewinnen sie Bedeutung, wo ein Staat oder eine Volksgruppe (Minderheit) in Abhängigkeit von einer anderen leben muß. 4. Die verschiedenen Aspekte der Gerechtigkeit sind, wie jeweils ausgeführt, auf bestimmte Grundsituationen gerichtet. Darin liegt ein Kriterium zu ihrer gegenseitigen Abgrenzung. Die iustitia commutativa setzt eine Situation der Gleichordnung voraus: wo — wenn auch nicht dem Rechte, so doch der tatsächlichen Situation nach — diese Gleichordnung nicht gegeben ist, sondern ein Machtverhältnis vorliegt, wird die ausschließliche Anwendung ihrer Grundsätze nicht zu gerechten Ergebnissen führen; es bedarf dann der H e r a n 12 Ein gutes Beispiel bietet R G Z 48, 114. D a s R G sagt hier: D i e Tatsache des M o n o p o l s „verpflichtet den Unternehmer, . . . die auf ihn angewiesenen Interessenten mit gleichem M a ß zu messen . . .". Ein interessantes Beispiel der Lückenergänzung aus allgemeinen (naturrechtlichen) Rechtsprinzipien! V g l . d a z u auch Kaiser, Z H R 111, 87. 13 v g l . d a z u meinen A u f s a t z : A l l g e m e i n e Rechtsgrundsätze, N J W 1947/ 1948, S. 213 ff., insbes. S. 2 1 3 / 2 1 4 .

214

Die Grundlagen des Rechts ziehung der Grundsätze der iustitia protectiva. In der modernen Praxis hat sich das z. B. in der Behandlung der Monopolfälle gezeigt. Eine andere Grenze zeigt sich, wenn ein Gemeinwesen von großen politischen oder wirtschaftlichen Katastrophen betroffen ist: dann reichen wiederum die Sätze der iustitia commutativa nicht aus; vielmehr müssen diejenigen der iustitia distributiva zur Verteilung der Gesamtlast herangezogen werden. Beispiele bieten die Vollstreckungshilfeverfahren des deutschen Rechts nach der großen Wirtschaftskrise von 1930 u n d die Vertragshilfeverfahren nach dem zweiten Weltkrieg. Auch die A n w e n d u n g der clausula rebus sie stantibus oder im deutschen Recht des Gesichtspunktes des Wegfalls der Geschäftsgrundlage kann zu einer solchen K o r r e k t u r führen. Es gibt aber umgekehrt auch eine Begrenzung der iustitia distributiva. W ü r d e n alle Güter schlechthin zugeteilt, gäbe es also gar keinen R a u m f ü r Verträge und damit f ü r die Vertragsgerechtigkeit, so gäbe es auch keinen Bewegungsraum f ü r den Menschen, keine Freiheit mehr. Die Welt wäre eine Kaserne. D a aber die Freiheit ein unverzichtbares G u t ist, liegt hier eine Grenze der sozialen Gerechtigkeit; sie darf die Freiheit nicht völlig aufheben. 5. In allen Formen der Gerechtigkeit begegnet uns der Gedanke, daß der einzelne Mensch in bestimmten Gütern geschützt wird. Die Formel „neminem laedere" in der iustitia commutativa erhält erst dadurch ihre Bedeutung im einzelnen: als Verbot zu töten, körperlich zu verletzen, in der Ehre zu kränken usw. Die iustitia distributiva f r a g t nach dem, was dem Menschen zuk o m m t ; die iustitia protectiva schützt Grundrechte. Die eindrucksvollste Formulierung hat dieser Sachverhalt in der Vorstellung von den „Menschenrechten" gefunden; sie setzt den Menschen mit bestimmten Gütern als ihm zugehörig in Verbindung. In religiöser Vorstellung nimmt der Gedanke die Form an, d a ß G o t t dem Menschen die Güter verliehen habe. „We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among those rights are life, liberty . . . and the pursuit of happiness", sagt die amerikanische Declaration of Independance. Die Güter, die dem Menschen zukommen, sind materieller und geistiger N a t u r : Leib, Leben und Ehre, Freiheit der Bewegung und Freiheit des Glaubens und der Meinungsbildung, Eigentum und Freiheit der Lebensgestaltung. Das Recht auf Eigentum ist in diesem Zusammenhang nicht im engeren, privatrechtlichen Sinn des Sacheigentums zu verstehen, sondern 215

Kapitel IV

im weiteren Sinn des Verfassungsrechtes, also als die allgemeine Befugnis, ökonomisdie Güter zu eigener Verfügung und eigenem Gebrauch unter dem Schutz der Rechtsordnung zu besitzen. Recht zu umfassendem Gebrauch und umfassender N u t z u n g und freie Verfügungsgewalt machen das Wesen des Eigentums aus. Rechtfertigung und Kritik dieses Eigentums sollen später erörtert werden 1 4 . Dagegen bedarf das Grundrecht der Freiheit hier einer näheren Erläuterung. Das Freiheitsstreben des Menschen reicht in tiefe animalische Schichten seines Wesens hinab; schon im Tier ist Freiheitsdrang in seiner einfachsten Form lebendig. Die gleiche elementare „Freiheit der Bewegung" ist der erste Bestandteil der reditlichen Freiheit. Aber das Streben nach Freiheit kehrt in den höheren Schichten der menschlichen Persönlichkeit wieder; hier tritt es uns als Freiheit der eigenen Lebensgestaltung, zu der auch die freie Berufswahl u n d die Freizügigkeit gehören, entgegen. Den Abschluß bilden die eigentlich geistigen Freiheiten: die Freiheit der Meinungsäußerung, die Gewissens- und Glaubensfreiheit. Ihre Notwendigkeit liegt in dem sittlichen Gebiet der Wahrhaftigkeit begründet. D e r Mensch ist ein geselliges Wesen; er ist bestimmt, mit anderen zu leben. In der Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen vollzieht sich seine geistige Entwicklung. D a r u m ist er zugleich ein Wesen, das sich mitteilt, das, was es erlebt und denkt, zu anderen äußert. H i e r greift nun das sittliche Gebot der Wahrhaftigkeit ein. Was der Mensch äußert, soll w a h r sein; er soll sagen, was er d e n k t ; äußeres Verhalten u n d innere Gesinnung sollen in Einklang stehen. D e m dienen die genannten geistigen Freiheiten. Sie schützen die Äußerung der Gesinnung, der Meinung, des religiösen Glaubens. Sie wollen Z w a n g einem Bereich fernhalten, in dem n u r innere Überzeugung Geltung haben kann. Was sie unnötig machen wollen, ist die Heuchelei, das Vortäuschen nicht bestehender Gesinnungen, die schweigende oder ausdrückliche Verleugnung dessen, was man eigentlich denkt u n d innerlich verehrt. Gerade und frei soll sich der Mensch zu dem bekennen dürfen, was er innerlich hochhält, was er als w a h r erkannt hat, ohne Nachteile f ü r Leben, Freiheit und Fortkommen fürchten zu müssen. Freiheit bedeutet hier, wie f r ü h e r dargelegt 1 5 , überall Freiheit von fremder Anordnung u n d fremden Zwang, Freiheit im negativen Verstände. Die Reditsfreiheit besteht darin, d a ß niemand mir befehlen kann, wenn ich nicht zustimme. Die Freiheit der Bewegung und die Freizügigkeit (d. h. das Recht, meinen Wohnsitz zu wählen) ist 14

vgl. unten Kap. IV Abschn. VI. 2 und 3.

15

vgl. oben Kap. IV Absdin. II. 3.

216

Die Grundlagen des Rechts

gewährleistet, wenn niemand mich gegen meinen Willen festhalten oder mir einen bestimmten Aufenthaltsort zuweisen kann. Das Verbot willkürlicher Inhaftierung und die Garantie freier Wahl des Arbeits- und Lebensortes garantieren sie. Die geistigen Freiheiten liegen darin, daß niemand, insbes. nicht der Staat, mir vorschreibt, was ich zu sagen, zu denken, zu glauben, für wahr zu halten habe. Kein Zwang, bestimmte Überzeugungen anzunehmen, darf bestehen. Ein solcher Zwang liegt auch vor, wenn er indirekt ist, d. h. wenn die Erlangung wesentlicher und notwendiger Güter an die Äußerung bestimmter politischer oder religiöser Bekenntnisse geknüpft ist. Geistige Freiheit fordert nicht nur, daß niemand unmittelbar zu einer bestimmten Meinungsäußerung gezwungen werden darf; sie bedeutet auch, daß niemand benachteiligt werden darf, der eine bestimmte Meinung nicht äußern will. Freiheit steht daher im Gegensatz zu allen uniformierenden Tendenzen des Staates, die aus jenem Streben nach einheitlicher Gestaltung des Staatswesens entspringen, die der fürstliche Absolutismus in der Devise: „Une loi, une foi, un roi" zum Ausdruck gebracht hat. Sie steht aber auch im Gegensatz zu den Bestrebungen nach Herstellung gesellschaftlicher Gleichheit und damit Gleichförmigkeit, die in den modernen Demokratien z. B. im Erziehungswesen so stark sind. Wird nun aber mit dem rechtlichen Schutze der Freiheit nicht dem geistigen Leben das kämpferische, bekenntnishafte Element genommen? Ist nicht das geistige Leben in seinem Kern von allem Zwang unabhängig, ihm unendlich überlegen? Muß nicht der Geist immer wieder „bekannt" werden, um lebendig zu werden, erstickt er nicht in der bürgerlichen Sekurität gesicherter Freiheit? Dazu ist folgendes zu sagen. Auch das geistige Leben kann sich nicht ohne Äußerung entwickeln. Die Gedanken sind frei, das ist richtig; aber der Geist bedarf der Kommunikation, um sich zu entfalten, und diese wiederum der vermittelnden Äußerung. Ohne sie gibt es kein geistiges Leben. Nun kann gewiß kein Zwang solche Äußerung ganz verhindern (wenn auch sehr erschweren); aber bei bestehendem Terror ist sie nur um den Preis des Martyriums möglich, und wenige sind bereit, noch weniger fähig, ein solches Martyrium auf sich zu nehmen. Auch hier zeigt sich die Humanitas des Rechts: unter seinem Schutz soll der Mensch seine edelste Gabe, den Geist, entfalten können, ohne Zwang und Verfolgung befürchten zu müssen, ohne den Preis des Martyriums zahlen zu müssen. Auch ist, die Frage des Rechts nicht die, kann und soll sich der Geist trotz allem Terror behaupten? Sondern sie lautet: Ist es recht, den Terror zuzulassen? So gestellt, kann aber die Antwort nicht zweifelhaft sein. Die Gefahren der Sekurität 217

Kapitel IV

sollte man nicht überschätzen; auch unter dem Schutze rechtlicher Freiheit bleibt geistigem Schaffen Gelegenheit genug, Zivilcourage zu zeigen. Man denke nur an den Kampf der modernen Malerei seit den Tagen des Impressionismus und die Durchsetzung ihrer Weise zu malen und zu sehen. Zu den Freiheiten der individuellen Lebensgestaltung und Lebensäußerung tritt die soziale Freiheit des Zusammenschlusses mit anderen in ihren beiden Ausprägungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Sie ist der Ausdruck dafür, daß das menschliche Leben nicht isoliert, sondern in Gemeinschaften verläuft. Auf allen Stufen des menschlichen Daseins, im Wirtschaftsleben wie im geistigen und religiösen Leben schließen sich Menschen zusammen, zu äußeren Zwecken oder unter dem umstürzenden Erlebnis religiöser Gewißheit und Erhebung. Audi hier folgt das Recht der N a t u r des Mensehen, wenn es dem einzelnen Zusammenschlüsse grundsätzlich nach seinem Willen gestattet. Moderne Grundrechtskataloge haben diesen klassischen Grundrechten eine Reihe weiterer hinzugefügt: das Recht auf Arbeit, das Recht auf Erziehung, die Freiheit von N o t . Sie stehen systematisch an der Stelle, wo die alten Grundrechtskataloge von dem Recht der „pursuit of happiness" sprechen 16 . Aber sie sind etwas wesenhaft anderes. Das Recht der pursuit of happiness war negativ; es war ein Freiheitsrecht; niemand, auch der Staat nicht, sollte das Recht haben, jemand zu hindern, sein Glück zu suchen und zu finden. Es entsprach dem Charakter der Rechtsordnung als einer Abgrenzung der Lebenssphären. Das Recht auf Arbeit, auf Freiheit von N o t und auf Erziehung aber, soweit sie nicht nur die Chance, Arbeit und Verdienst zu finden, erzogen zu werden, betreffen (also das Verbot von Vorrechten auf diesen Gebieten), ist positiv; es legt positive Ansprüche auf positive Leistungen der staatlichen Gemeinschaft fest. Diese Rechte gründen sich auf den Gedanken der Solidarität und die iustitia distributiva. Sie sind Grundansprüche des Menschen auf positive Förderung durch die Gemeinschaft. Die Möglichkeit ihrer Erfüllung hängt naturgemäß weitgehend von der Leistungsfähigkeit und der Organisation der Wirtschaft der betreffenden Gemeinschaft ab, darum sind sie in dem Abschnitt über die Wirtschaft zu erörtern. Zwischen den verschiedenen Grundrechten besteht eine bestimmte Rangordnung, die sich aus der in der Rechtsidee enthaltenen Rangordnung ergibt. Die geistigen Grundrechte gehen der Ehre, beide den 16

vgl. Virginia Bill of Rights, Section 1; Declaration of Independence, Absatz 2.

218

Die Grundlagen des Redits

ökonomischen Grundrechten des Eigentümers vor. Alle Grundrechte sind nicht in das freie Belieben des einzelnen gegeben. Man kann sich ihrer nicht nach Belieben entäußern; denn sie kommen dem Menschen nicht um seiner Willkür willen, sondern wegen seiner sittlichen Bestimmung zu. Daher widerspricht es der Rechtsidee zuzulassen, daß jemand sich selbst verkaufe; er kann seine eigene Freiheit nicht aufgeben. Das gleiche gilt von der Ehre, aber auch vom Eigentum. Wohl kann ich über einzelne Güter frei verfügen; aber mein gesamtes Eigentum in die Hände eines anderen zu geben, ist mir nicht erlaubt; ebensowenig mich so zu binden, daß ich mich praktisch meiner H a n d lungsfreiheit begebe. Niemand kann sich selbst entmündigen; so hat das Reichsgericht diesen Sachverhalt einmal bezeichnet 17 . Die Notwendigkeit, die Grundrechte im positiven Recht zu verwirklichen, bedeutet nicht, daß sie unbeschränkt sein müssen. Alle Freiheit findet ihre Grenzen an der Freiheit des anderen. „La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi l'exercice des droits naturels de chaque homme n'a de bornes que celles qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits." Die berühmte Definition der Franzöischen Revolution übersieht — wie überhaupt die Sozialphilosophie der Aufklärung —, daß auch die Existenz der staatlichen Gemeinschaft mit ihren Notwendigkeiten den Grundrechten Schranken setzt 18 . Das positive Recht muß daher die Grundrechte notwendig beschränken; das Naturrecht läßt sich nicht unmodifiziert in die Wirklichkeit transponieren. Aus den naturrechtlichen Menschenrechten werden damit positive subjektive Rechte. Aber es gibt eine Grenze f ü r diese Modifikationen: sie müssen Beschränkungen bleiben; sie dürfen dem einzelnen die Grundrechte nicht völlig entziehen. Das Naturrecht läßt weite Grenzen; aber es gibt einen Punkt, wo sie überschritten sind, und das positive Recht in Widerspruch zum Naturrecht und damit zur Rechtsidee gerät. Ein Recht, in dem es nur noch „Reflexwirkungen" von öffentlichen Normen, aber keine echten, im Kern unantastbaren subjektiven Rechte gäbe, wäre kein echtes Recht mehr. 6. Zu den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit gehören auch die obersten Regeln des rechtlichen Verfahrens. Der Prozeß dient der gerechten Entscheidung eines konkreten Streitfalles. Dem Richter erwachsen daher zwei Aufgaben: Ermittlung des wahren Sachverhalts und Findung des Rechts, das f ü r diesen Sachverhalt gilt. Dabei ist 17

RGZ 82, 317 — eine der Entscheidungen gegen die sogen. Knebelverträge. 18 Man denke nur daran, welche Grenzen der Freizügigkeit gesetzt sind, solange die Staaten Nationalstaaten sind.

219

Kapitel IV

der Richter den Parteien übergeordnet; sie stehen unter seiner Macht. Aus diesen Grundlagen ergeben sich die Regeln, denen das echte Rechtsverfahren folgt: Es dient dem sozialen Frieden durch Streitentscheidung; daher muß es zu einer endgültigen Lösung führen. Es soll der Ermittlung der Wahrheit und des Rechts dienen; es ist also ein sachgebundenes Erkenntnisverfahren und darum, wie alle Wahrheitssuche, wohl nachprüfbar, aber sachfremden Einwirkungen wie Befehlen, persönlicher Rücksichtnahme usw. nicht zugänglich 19 . Es erfolgt in Ausübung sozialer Macht; daher muß es den Grundsätzen der iustitia protectiva genügen. Diesen Anforderungen entsprechen die Grundsätze der Unabhängigkeit des Richters, des gleichmäßigen rechtlichen Gehörs, des geordneten Beweis- und Ermittlungsverfahrens und der Endgültigkeit der verkündeten Entscheidung. Die Unabhängigkeit des Richters entspricht der Sadigebundenheit der Sachaufklärung und der Rechtsfindung. Wer die Wahrheit erforschen, das Recht finden will, darf sich — ähnlich dem Gelehrten — nur von der Sache leiten lassen, muß anderen Rücksichten unzugänglich sein. Die Unabhängigkeit des Richters bedeutet daher dreierlei: Unabhängigkeit von den Parteien, Unabhängigkeit von fremder Weisung, Unabhängigkeit von eigenen Vorurteilen und Launen. Der Unabhängigkeit von den Parteien dienen alle die Bestimmungen, die den Richter ausschließen, wenn er aus irgendeinem Grunde befangen ist. Niemand soll in eigener Sache richten noch über die Streitigkeiten nächster Verwandter und Freunde. Das gründet in der N a t u r des Menschen. Dem gleichen Ziel dienen Bestechungsverbote u. ä. Der Unabhängigkeit von Weisungen dienen die Regeln, daß der Richter nur dem Gesetz unterworfen ist, und alle Maßnahmen, welche auch indirekt Einfluß ausschließen wollen: beim beamteten Richter die Unabsetzbarkeit, die Unversetzbarkeit, die Anstellung auf Lebenszeit — ein Richter, der auf Widerruf angestellt ist, besitzt eine höchst problematische Unabhängigkeit! — beim gewählten Richter die Unentziehbarkeit des übertragenen Amtes auf bestimmte Zeit usw. Die Unabhängigkeit von eigenen Launen und Neigungen ist mehr eine Frage der Ethik als des Rechtes; sie zu erreichen, können nur Bestimmungen dienen, welche dafür sorgen, daß nach Möglichkeit nur abgeklärte, erprobte Menschen den Richterstuhl besteigen. Die Forderung nach „rechtlichem Gehör" ist nicht nur eine Maxime der Klugheit, weil die Parteien häufig am besten Bescheid wissen, 18

D a z u vgl. z. B. E. Schmidt,

S. 36 ff. 220

Iustitia fundamentum regnorum (1948),

Die Grundlagen des Rechts

sondern Ausfluß der Achtung vor den Beteiligten, also der iustitia protectiva. Daß es beiden Parteien in gleicher Weise gewährt wird, entspricht der Forderung der Gerechtigkeit, gleiche Lagen gleich zu behandeln. Rechtliches Gehör bedeutet dabei nicht nur, den eigenen Rechtsstandpunkt ungehindert darlegen zu können, sondern auch bei der Ermittlung des Sachverhaltes überall mitwirken und Stellung nehmen zu können, wo entscheidende Feststellungen getroffen werden. Eine Entscheidung, die das Gericht aufgrund geheimer Dokumente trifft, die im Verfahren nicht diskutiert sind, ist keine Rechtsentscheidung. Die Forderung nach einem geordneten Beweisverfahren folgt aus der iustitia protectiva. Diese verlangt, daß der Richter kontrolliert werden kann; dazu muß aber feststehen, wie er zu den sachlichen und rechtlichen Überzeugungen gekommen ist, auf die er seine Entscheidung gründet. Das ist nur möglich, wenn es Regeln darüber gibt, in welcher Weise eine Sachfeststellung zu treffen ist, welche Beweise möglich sind, welche Wirkung sie haben usw20. Die Endgültigkeit der Entscheidung bedeutet zunächst, daß der Richter die verkündete Entscheidung nicht zurücknehmen kann 21 . Das ist nicht nur eine Forderung der Rechtssicherheit; sie entspricht auch der schützenden Gerechtigkeit, die Willkür ausschließt. Dagegen ist die Endgültigkeit der Entscheidung in dem Sinn, daß auch ein nachweislich irriges Urteil unter Umständen aufrecht erhalten wird (also die formelle Rechtskraft), nur eine Folge aus der Rechtssicherheit. Der Friedenszweck des Rechtes verlangt, daß jeder Streit einmal sein Ende findet. Beide Forderungen schließen nicht eine rechtliche Überprüfung eines Urteils in einem zweiten Rechtsverfahren höherer Instanz aus; diese entspricht vielmehr der iustitia protectiva, die Kontrolle aller Machtausübung fordert. Der Verwirklichung dieser Grundsätze hat die rechtliche Ordnung des Verfahrens zu dienen, und es gibt kaum ein Rechtsgebiet, in dem sich die Sachgebundenheit des Rechts so zeigte wie gerade im Prozeßrecht. 20

vgl. dazu die ausgezeichneten, dem Wesen der Sadie entnommenen Bemerkungen E. Schmidt's Iustitia fundamentum regnorum (1948), S. 46. 21 vgl. dazu auch Gerhart Husserl, Reditskraft und Rechtsgeltung I (1925), S. 14, der das Problem allerdings von der Seite der Rechtsgeltung der besonderen Seinsform des Rechtes anfaßt. — Ferner die interessante Entscheidung des Württ. Verwaltungsgerichtshofes vom 25. 4. 1947, die den Grundsatz als allg. Rechtsgrundsatz behandelt, SJZ 48,152. Dazu Anm. von Schule.

221

Kapitel IV 7. Die Grundsätze, die hier zusammengestellt sind, schließen sich nicht zu einem vollständigen System zusammen. M a n braucht sie nur mit einem positiven Rechtssystem zu vergleichen, u n d man sieht, d a ß sie z w a r an den verschiedensten Stellen in einem solchen System auftauchen, d a ß sie uns klarmachen, w a r u m eine bestimmte Regelung gerecht ist, daß sie aber weit davon entfernt sind, eine geschlossene fertige Rechtsordnung zu bilden. M a n kann auch nicht sagen, d a ß es sich um Axiome handelt, aus denen sich alles weitere deduzieren ließe. Denn keiner dieser Grundsätze gilt ausschließlich: jeder m u ß sich Modifikationen gefallen lassen; sie begrenzen sich gegenseitig, und die N a t u r der Sache wie die konkreten Verhältnisse bedingen Begrenzungen. Eher könnte man sagen, d a ß es Gesichtspunkte sind, die keine gerechte Regelung außer acht lassen darf. D a m i t wären wir wieder bei dem Gedanken der Topik. Es sind Elemente, aus denen eine gerechte O r d n u n g gebaut w i r d : so wie aus Gestaltung des Baukörpers in stereometrischen Formen, aus Flächenbehandlung und R a u m k ö r p e r das architektonische Kunstwerk wird 2 2 . V. 1. D e r Staat, wie wir ihn kennen, ist erst eine Bildung der Neuzeit. J a k o b Burckhardt hat ihn als Schöpfung der italienischen Renaissance a u f g e f a ß t und in glanzvoller Darstellung als berechnete, bew u ß t e Schöpfung des Geistes, als Kunstwerk geschildert 1 . Als charakteristische Züge des neuen Gebildes hat er im Innern den wohlgeordneten Zentralismus von Verwaltung, Justiz und Polizei, das rationale Steuersystem, die Schaffung eines einheitlichen Untertanenverbandes geschildert, in der Außenpolitik die rationale Sicherung und Ausweitung des einmal errichteten Staatswesens durch kluge Berechnung und Ausnutzung der vorhandenen Möglichkeit, durch rationale Argumentation in der U n t e r h a n d l u n g mit den anderen Mächten, aber auch durch A n w e n d u n g von Gewalt. I m ganzen hebt er die völlig objektive Beurteilung und Behandlung der Menschen u n d Dinge hervor, ohne Vorurteile, aber auch ohne ethische H e m m u n g . Die moderne Forschung hat dieses Bild im wesentlichen bestätigt, neigt allerdings dazu, gegenüber Italien eher die Bedeutung der Großstaaten, insbes. Spaniens hervorzuheben 2 . Einigkeit besteht aber darin, d a ß der moderne Staat sich durch die Monopolisierung der Gewalt und 22

vgl. dazu A. E. Brinkmann, Baukunst (1956), insbes., S. 18. Jakob Burckhardt, Die Kultur derRcnaissance in Italien (Neuausgabc 1961), 1. Abschnitt: Der Staat als Kunstwerk. 2 vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre (2. Aufl. 1966), S. 14. 1

222

Die Grundlagen des Redits

durch seine schlagkräftige, überpersönliche Organisation, seine verändernde reformierende Energie in Gesetzgebung und Verwaltung, durch die Herstellung einer echten Entscheidungseinheit in der Souveränität gegenüber politischen Gebilden anderer Art, insbes. der Lehnsherrschaft des Mittelalters deutlich abhebt 3 . Manche Autoren gehen so weit, die Bezeichnung Staat auf die moderne Erscheinungsform des Staatswesens beschränken zu wollen. In der Tat haben wir in dem Wort „Staat", das erst seit dem 16. Jahrhundert aufgekommen ist, wohl ein neues Wort f ü r eine neue Sache; es erscheint aber doch zweckmäßiger, angesichts der Gleichheit mancher Funktionen, z. B. der Herstellung der Entscheidungseinheit, der Sicherung nach außen und Ordnung nach innen, den Begriff des Staates weiter zu nehmen und ihm auch frühere historische Gebilde zuzuordnen, wie die antike Polis oder das römische Imperium. Es bleibt jedoch richtig, den modernen Staat als ein besonderes Phänomen von diesen anderen Formen abzugrenzen. Der Staat wurzelt in existentiellen Notwendigkeiten des Zusammenlebens vieler Menschen auf einem eingegrenzten Gebiet 4 . Er ordnet und ermöglicht ein Zusammenleben und Zusammenwirken im Innern und organisiert den Schutz nach außen. Dazu bedarf der Staat stets eines Minimums an Organisation unter Herstellung einer Entscheidungseinheit. D a ß die straffe Organisation und die einheitliche Entscheidungsgewalt besonders den modernen Staat charakterisiert, wurde eben hervorgehoben. Heller 5 definiert infolgedessen: „Genus proximum des Staates ist somit die Organisation, das zur Einheit der Entscheidung und Wirkung planmäßig organisierte H a n d lungsgefüge. Differentia specifica allen anderen Organisationen gegenüber ist seine Eigenschaft der souveränen Gebietsherrschaft. Durch die Souveränität und Gebietsbezogenheit der Staatsgewalt empfangen alle Elemente der Staatsorganisation ihren spezifischen Charakter. Souverän kann der Staat nur sein, weil er seiner Ordnung gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Ordnungen eine besondere Geltung zu verschaffen, d. h. weil er die Menschen, welche ihn durch ihre Akte verwirklichen, in ganz anderer Weise zu ergreifen vermag, als die sonstigen Organisationen." Damit liegt das Wesen des Staates in der organisierten souveränen Macht. ' Zum Lehnsstaat vgl. insbs. Otto Brunner, 1942).

Land und Herrschaft (2. Aufl.

4 Auf die Bedeutung der Zahl der zusammenlebenden Menschen hat besonders Krüger hingewiesen, aaO., S. 17 f. 5

Heller,

Staatslehre (1934), S. 237.

223

Kapitel IV Unter den Staatszwecken treten vor allem zwei hervor: die Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern und der Schutz gegen äußere Feinde. In dem Bestreben, innere Ordnung zu schaffen, liegt der notwendige Berührungspunkt zwischen Recht und Staat. Beide zu identifizieren, ist nur einer rein formalen Betrachtungsweise, wie der Kelsens, möglich. In Wahrheit ist der Staat ein Herrschaftsverband, das Recht eine Ordnung, und zwar nicht einmal notwendig eine staatliche. Aber das Recht hat sich in der staatlichen Gemeinschaft in erster Linie entwickelt; es dient dem Ordnungszweck des Staates, während umgekehrt die staatliche Madit das Recht in praktische Geltung setzt. Trotzdem sind die Sinnrichtungen der beiden sozialen Erscheinungen nicht gleich. Dem staatlichen Herrschaftsstreben liegt vor allem daran, daß Friede und Ordnung herrsche; der Rechtsidee zu dienen, ist es von N a t u r aus keineswegs bereit. Im Gegenteil, Staatsraison und Rechtsgebot klaffen häufig weit auseinander. Es ist denn auch charakteristisch, daß das staatliche Recht den Gehalt der Rechtsidee am frühesten und stärksten auf dem Gebiete in sich aufgenommen hat, auf dem er den Machtinteressen am wenigsten im Wege stand, nämlich im Privatrecht; seine Geltung im öffentlichen Recht ist in der Geschichte stets weit prekärerer Natur gewesen. Der staatliche Herrschafts verband hat aber von Anfang an auch weiteren Zwecken als dem der bloßen Machtentfaltung nach innen und außen gedient. Als stärkster Verband einer regelmäßig auch religiös, kulturell und wirtschaftlich verbundenen Gruppe ist er stets mehr oder weniger auch religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Zwecken dienstbar gemacht worden. Allerdings sind diese anderen Aufgaben im Laufe der Geschichte in sehr verschiedenem Maße hervorgetreten. D a ß dem Staat und seinen Organen ursprünglich auch die Vertretung der Gemeinde vor den Göttern zukommt, ergibt sich aus dem ursprünglich gruppengebundenen Charakter der Religion selbst. Aber auch nach' Entstehung der Universalreligion hat der Staat immer wieder religiösen Zielen gedient; man denke an das Mittelalter und das Zeitalter der Religionskriege mit seinem Grundsatz cuius regio, eius religio. Aus den religiösen Aufgaben des Staates sind dann Aufgaben herausgewachsen, die wir heute als kulturelle bezeichnen würden: die Errichtung religiöser Bauten, die Ausrichtung religiöser Feiern und Spiele usw. D a z u sind, je mehr der Staat demokratisiert und damit als Instrument der Gemeinschaft der Bürger empfunden wurde, Erziehungsfragen getreten, so in der griechischen Polis, deren Erziehungsgedanke ihren tiefsten Ausdruck in 224

Die Grundlagen des Rechts

Piatons Staat gefunden hat 6 und wieder in der Moderne 7 . Aufgaben wirtschaftlicher Art hat der Staat ebenfalls schon früh übernommen; das alte Ägypten mit seiner Fürsorge für die Bewässerung, die antike Polis mit der staatlichen Getreidebeschaffung sind Beispiele dafür. Besonders energisch sind diese Aufgaben vom modernen Verwaltungsstaat aufgegriffen worden, zunächst im Interesse der Steigerung der finanziellen Macht des Staates (Merkantilismus), dann mehr und mehr auch im Interesse der Bürger selbst (Wohlfahrtsstaat!). Im ganzen kann man im europäischen Kulturkreis ein ständiges Anwachsen der Staatsaufgaben beobachten; die moderne Technik hat dabei die Wirksamkeit der staatlichen Verwaltung ungeheuer gesteigert. Der moderne Staat mit seiner allumfassenden Verwaltung unterscheidet sich dadurch sehr wesentlich von den Frühformen des Staates, wie wir sie noch im mittelalterlichen Staatswesen vor uns haben. Dort ist der Herrscher im wesentlichen Führer im Krieg nach außen, Hüter des Friedens und der Rechte im Innern; hier hat der Staat auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit fördernde und lenkende Aufgaben übernommen. 2. Es liegt nicht in der Aufgabe einer Rechtsphilosophie, die spezifischen Probleme des Staates in ihrer Gesamtheit zu erörtern. In ihrem Zusammenhang können nur diejenigen Fragen erörtert werden, in denen es um das Verhältnis von Staat einerseits, Recht und Gerechtigkeit andererseits geht. Hier ergeben sich aus den entwickelten Grundsätzen der Gerechtigkeit zwei Probleme. Das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern ist ein Machtverhältnis; daraus ergibt sich die Notwendigkeit seiner richtigen Begrenzung im Sinne der iustitia protectiva. Der Staat ist aber zugleich ein Personen-Verband; daraus ergibt sich das Problem, wie Rechte und Lasten, insbes. die politische Macht, in ihm verteilt werden sollen; das ist eine Frage der iustitia distributiva. Die erste Fragestellung führt zum Gedanken des Rechtsstaates; des Idealstaates.

die zweite zu dem des gerechten

Staates

oder

Für beide Fragen ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, welche Stellung dem Staat als Wert im Verhältnis zu den Grundwerten des Rechtes zukommt. Hier treten uns nun sehr verschiedene Auffassungen entgegen. * vgl. dazu W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen I (1934), S. 148—151, 158. 7 vgl. dazu die Ausführungen bei Toynbee, A Study of History, Abridgement of Volume I—VI by Somervell (1947) über das Verhältnis von Demokratie und Erziehung, S. 291—293.

225 15

C o i n g ,

Rechtsphilosophie

Kapitel IV

Die Lehre vom Sozialvertrag, wie sie das 18. Jahrhundert entwickelt hat, erblickt im Staat eine zweckgebundene Schutzorganisation zur Sicherung der Menschenrechte. Der Staat wird hier also klar den Rechten des einzelnen untergeordnet. Deswegen hat man diese Staatsanschauung karikierend auch als die des Nachtwächterstaates bezeichnet. Eine andere Auffassung vergleicht den Staat mit den organischen Lebewesen, mit dem Organismus. Dieses Bild des Organismus impliziert nun, daß gerade umgekehrt der einzelne nur als Glied eines größeren Ganzen, so wie das Organ eines biologischen Lebewesens verstanden werden darf. Daher führt die organische Staatsauffassung zur grundsätzlichen Uberordnung des Staates über den einzelnen. In dieser Richtung schreitet die Auffassung fort, die dem Staat eine besonders ausgezeichnete sittliche Dignität verleiht, eine Anschauung, die insbes. die Staatsphilosophie des deutschen Idealismus kennzeichnet. Diese Anschauung ist letztlich darin begründet, daß der Mensch sich nach dieser Auffassung erst im Staatsleben voll als sittliches Wesen verwirklicht, der Staat daher die vollendete Sittlichkeit darstellt. Dieser Anschauung verwandt ist die altkonservative Auffassung, wie sie uns bei Friedrich Julius Stahl entgegentritt. Ihm ist der Staat zwar auch die „Anstalt der Beherrschung des Gemeinlebens" 8 . Aber der Staat ist für ihn zugleich eine göttliche Institution 9 , aus Gottes erhaltender Gnade geschaffen10. Sein Zweck ist die Vollendung des Gemeinlebens11, die Herstellung „eines sittlich intellektuellen Reiches". Mittels des Staates soll die Gemeinschaft „ihren Gemeinzustand beherrschen nach seinen sittlichen Ideen und verständigen Zwecken und soll ihn in der Weise einer Persönlichkeit beherrschen als ein Wille und Verstand, als ein handelndes Subjekt, zu dem sie mittels der Anstalt des Staates gefügt ist." 12 Die Bestimmung des Staates ist Verwirklichung der sittlichen Herrscherideen: „Macht, Weisheit, Gerechtigkeit" 13 . — Es handelt sich' bei dieser preußisch-konservativen Staatsauffassung — wie bei der des deutschen Idealismus — nicht einfach um eine primitive Vergötterung von Staat und politischer Gemeinschaft, wie sie der Doktrin des totalen Staates eigen ist (welche auf dem Dogma aufbaut, daß der einzelne sich nur als Glied der politischen Gemeinschaft vollendet, weswegen der Staat alle Lebensbereiche leitend und lenkend durchdringen 8

F. ]. Stahl, Die Philosophie des Rechts (2. Aufl. 1845/1846), I., S. 172.

» aaO., II, S. 144.

10

aaO., II, S. 150.

11

aaO., II, S. 112.

12

aaO., II, S. 102.

13

aaO., II, S. 103.

226

D i e G r u n d l a g e n des Rechts

muß), sondern um eine Ansicht, die dem Staat kraft göttlichen Auftrages sittliche Aufgaben zuweist und daraus seine sittliche Würde ableitet 14 . Daher bekommt denn auch das Lebensinteresse des Staates, die Staatsraison als solche eine sittliche Rechtfertigung 15 . In ganz anderer Richtung überhöht der Machiavellismus den Staat, indem er dessen Eigengesetzlichkeit herauszuarbeiten versucht und ihn von höheren sittlichen Bindungen grundsätzlich freistellt. Vergleicht man diese Auffassung mit der Realität, wie sie uns das geschichtliche Wirken des Staates bietet, so ergibt sich folgendes: die Vertragstheorie übersieht, daß der Staat, und insbes. der moderne Staat, aus dringenden existentiellen Notwendigkeiten geschaffen ist. Aber eben nicht in Übereinstimmung mit den einzelnen, sondern weitgehend gegen sie, als eine Machtorganisation. Keiner der Staaten, die in das europäische Großmachtsystem eintraten, wie es sich im 17. und 18. Jahrhundert gebildet hat, ist ohne Kämpfe mit den vorhandenen Gewalten aufgebaut worden. Das berühmte Wort, das König Friedrich Wilhelm I. von Preußen zugeschrieben wird: „Ich ruiniere die Junkers ihre Autorität und stabiliere die Souveränität wie einen rocher de bronze" hat insofern typische Bedeutung. Die Vertragstheorie ist daher wohl zur Kritik und Umgestaltung des Staates, aber nicht zur Erfassung seiner eigenen Gesetzlichkeit geeignet. Aber auch das Bild, das die organische Staatstheorie bietet, wird dem Wesen des Staates, wie er sich in der geschichtlichen Wirklichkeit zeigt, nicht gerecht. Wie die organische Theorie des Rechts, übersieht audi die organische Staatstheorie, daß der Staat eine bewußte Schöpfung ist, die sich nicht nach einmal festgelegter Gestalt entwickelt, sondern die durch' menschliche Entscheidung immer wieder hergestellt werden muß. Was die sittliche Dignität des Staates angeht, so kommt der konkreten Staatsorganisation, etwa der französischen Republik oder den Vereinigten Staaten von Amerika zweifellos ein hoher Kulturwert zu. In den einzelnen Staatswesen können 1 4 Letzten E n d e s w i r d an dieser Lehre deutlich, d a ß die A u f f a s s u n g v o n dem in den irdischen Institutionen lebendigen göttlichen O r d o die G e f a h r in sich birgt, den sozialen Institutionen eine metaphysisch-religiöse Weihe zu geben! 1 5 Sehr deutlich k o m m t die klassische deutsche S t a a t s a u f f a s s u n g z u m A u s druck bei E. Kaufmann, D a s Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus (1911). Ihm ist der S t a a t die d a s I n d i v i d u u m ergänzende K u l t u r gemeinschaft, S. 144, bei der zwischen Macht und Recht eine „prästabilierte H a r m o n i e " besteht, S. 148. Alles, w a s er v o m S t a a t sagt, gilt nur f ü r diesen K u l t u r s t a a t (vgl. S.152).

227

Kapitel IV

Traditionen politischer Gesittung, wohltätiger Verwaltung, sicheren Rechtsschutzes, geschickter Außenpolitik, großartiger Wissenschaftspflege und allgemeiner Erziehung lebendig sein. Aber mit all dem bleibt der Wert eines konkreten Staatswesens derjenige einer Organisation (nicht eines organischen Gebildes), also wesentlich eines Mittels. Dagegen mangelt dem Staat, mag er auch rechtlich als Person betrachtet werden, der personale Wert. Der Staat ist Person immer nur im figurativen, aber nicht im ethischen Sinne. Es ist der einzelne Mensch, dem die Welt des Sittlichen geöffnet ist; der einzelne Mensch, der sich in seinem lebendigen Gewissen mit den Forderungen der Stunde auseinandersetzen und in ihnen entscheiden muß. Der Staat als solcher, als überindividuelle Organisation ist dazu nicht in der Lage. „Die Annahme (sei. der Persönlichkeit f ü r den Staat) bleibt Konstruktion." 1 6 Insofern behält die Staatsauffassung der Aufklärung recht. Die staatliche Organisation hat nicht schon als solche sittlichen Wert, sondern dadurch, daß sie anderen Werten dient. Der Staat bedarf selbst der Rechtfertigung und findet sie darin, daß er Werten, wie Frieden und Sicherheit, Gerechtigkeit und menschlicher Freiheit dient. Weil er das tut, hat er Anspruch auf die Achtung seiner Bürger. Die Zerstörung der staatlichen Ordnung ist sicher eines der größten Verbrechen. Selbst im Widerstand gegen einen Staat, der der Willkür und Ungerechtigkeit verfallen ist, muß die Frage geprüft werden, ob der Aufruhr trotz der damit eintretenden Zerstörung der Friedensordnung gerechtfertigt ist. Aber weder ist der Wert, der dem Staat zukommt, unbedingt, d. h. unabhängig von der Frage, welchen Zielen er dient, noch kommt dem Wert des Staates der höchste Rang zu. Der Staat steht vielmehr unter den sittlichen Werten. Damit taucht das Problem des Machiavellismus auf, die Frage, wieweit der Staat an sittliche Gebote gebunden ist, anders gesprochen, das Problem der sogen. „Realpolitik". Dem Ideal nach steht der Staat im Dienste sittlicher Werte. Er sollte auch seine Gewalt daher nur im Dienste dieser Werte anwenden gegen Menschen, die die auf ihnen aufgebaute Ordnung böswillig zerstören wollen. Eine solche Übereinstimmung zwischen Sittengesetz und Staatspolitik ist oft angestrebt, noch öfter in heißer, subjektiver Überzeugung geglaubt. Aber solchem Glauben hat die geschichtliche Wirklichkeit nie entsprochen. Schon im Innern ist das Problem kleinerer Minoritätsgruppen, die religiös, politisch oder 16

Nicolai Hartmann, S. 73, 284, 311.

228

Problem des geistigen Seins (1933), S. 306. Vgl. auch

Die Grundlagen des Redits

ethisch abweichende Anschauungen gegenüber der Mehrheit der Staatsbürger haben, nie vollkommen gelöst worden. Der Staat als Organisation kann nicht ohne ein gewisses Maß von grundsätzlicher Übereinstimmung in den Anschauungen seiner Bürger bestehen. Daher wird es immer wieder Fälle geben, in denen der Staat um seiner physischen Existenz willen Minderheiten oder einzelne vergewaltigen muß. Gewiß hat es hier Fortschritte gegeben. Jahrhunderte haben geglaubt, daß religiöse Einheit eine notwendige Voraussetzung für ein kraftvolles Staatswesen sei. Der berühmte Grundsatz cuius regio, eius religio in der deutschen Geschichte ist ein Ausdruck dieser Anschauung. Diesen Standpunkt haben die europäischen Länder seit der Aufklärung langsam überwunden. Aber eine völlige Toleranz, die alle Anschauungen achtet, auch da, wo sie mit den Existenznotwendigkeiten des Staates in Konflikt geraten, hat sich noch nie verwirklichen lassen. Viel stärker noch tritt die Diskrepanz zwischen Politik und Sittlichkeit in der Außenpolitik und vor allem im Kriege hervor. Das hängt entscheidend mit dem Zustand der internationalen Gesellschaft zusammen. Im Innern des Staates ist durch die Monopolisierung der Gewalt beim Staat der Friede hergestellt. Die Einzelgewalten sind gebändigt, der politische Kampf ist, jedenfalls in den westlichen Demokratien, in die Form des Kampfes um die Majorität der Stimmen nach bestimmten Spielregeln gebracht; diese Regelung hat den Bürgerkrieg, den noch das 17. Jahrhundert etwa in England gesehen hatte, ersetzt. Ganz anders liegen die Dinge im Bereich der Außenpolitik. Es ist noch nidit gelungen, eine zuverlässige Friedensordnung aufzubauen, ja nicht einmal umfassende materielle Rechtsgrundsätze für die Ordnung der internationalen Streitigkeiten sind entwickelt. Noch immer steht Gewaltanwendung oder Drohung mit Gewalt neben Verhandlung, in der die Argumentation vorherrscht 17 . Die großen Mächte sind noch nicht zu einheitlichem Handeln gelangt, und keineswegs alle Staaten sind bereit, auf kriegerische Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele zu verzichten. Das bringt den einzelnen Staat in das Dilemma, entweder sich selbst aufzugeben oder aber sich an dem Spiel, wie es nun einmal gespielt wird, zu beteiligen, d. h. sich selbst soweit auf den Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung vorzubereiten, daß er jedenfalls zur Verteidigung in der Lage ist. Entweder muß ein Staatswesen bei dieser Sachlage bereit sein, sich der Gewaltanwendung zu stellen, oder es muß sich damit abfinden, aus der Geschichte auszuscheiden, indem es sidi 17 Zur Frage der Gewaltanwendung im Rahmen des heutigen Völkerrechts vgl. die Studie von Wengler, Das völkerrechtliche Gewaltverbot (1967).

229

Kapitel I V

früher oder später fremder Gewalt unterwirft. Der einzelne Bürger kann freilich sich für das Ideal der völligen Gewaltlosigkeit entscheiden. Er muß dann bereit sein, alle Folgen zu tragen, die sich für ihn aus diesem Nichtwiderstand ergeben. Er muß unter Umständen Leid und Erniedrigung auf sich nehmen. Die Regierung eines Landes aber kann so nicht verfahren. Das Mandat, das die Bürger ihr erteilt haben, wird immer dahin gehen, die Freiheit des Landes und damit die gegebenen Zustände gegenüber Angriffen von Außen zu bewahren. Sie kann nicht für andere die Linie der Gewaltlosigkeit einschlagen und ihren Bürgern damit die Opfer auferlegen, die ein Gewaltverzicht in der Welt, in der wir leben, mit sich bringt. Man hat einen Ausweg aus diesem Dilemma durch die Theorie des gerechten Krieges versucht. Der Verteidigungskrieg, so sagt diese Lehre, die Gewaltabwehr mit Gewalt, ist stets gerechtfertigt. Auch die UN-Charta erkennt ihn als natürliches Recht an. Das menschliche Handeln steht dann, auch wenn Gewalt verübt ist, mit der Sittlichkeit in Einklang. Das ist einleuchtend. Aber praktisch löst auch diese Theorie das Problem nicht. Denn die Frage ist, wann liegt ein Verteidigungskrieg vor. Die Geschichte gerade unseres Jahrhunderts zeigt, wie schwierig es ist, einen reinen Verteidigungskrieg zu definieren. Der Staatsmann, der sich entscheiden muß, der Bürger, der zu den Fahnen gerufen wird, wird in den seltensten Fällen die Möglichkeit haben, die Vorgänge wirklich zu klären. Noch heute streiten die Historiker, wer im Jahre 1914 sich verteidigt und wer angegriffen hat. So bleiben die hier bestehenden Konflikte im Grunde unlösbar, d. h. sie können ohne sittliches Verschulden vom einzelnen nicht entschieden werden. Sittlichkeit und Staat sind nicht zur Deckung zu bringen. Das Dilemma, das Luther mit seiner Lehre von den zwei Reichen zu kennzeichnen und zu lösen versuchte, bleibt bestehen. Von einer vorläufigen, die Gegebenheiten der menschlichen Existenz in Rechnung stellenden Betrachtungsweise aus bleiben List und Gewalt in der Politik eine nicht zu vermeidende Notwendigkeit, aber vom Standpunkt höherer Sittlichkeit sind sie nicht zu rechtfertigen. Zwei Folgerungen sind aus dieser Situation zu ziehen. Wenn der Staat realpolitisch oder kriegerisch handelt, wenn er Gewalt anwendet, so gehorcht er einer Notwendigkeit, aber nicht einer sittlichen Überlegenheit. Nichts ist schrecklicher als das Wort, daß die Weltgeschichte das Weltgericht, und zwar ein gerechtes Weltgericht sei. Diese Einsicht ist und bleibt wichtig für die Frage, wie den Menschen gegenübergetreten werden soll, die den staatlichen Gewaltmaßnahmen aus sittlicher Überzeugung entgegentreten. Hierher ge230

Die Grundlagen des Rechts

hören die Wehrdienstverweigerer aus Überzeugung ebenso wie u. U. die politischen Uberzeugungstäter. Es ist ein Gebot, daß der Staat hier jedenfalls der sittlichen Uberzeugung des einzelnen so weit wie möglich entgegenkommt und sie im Täter noch achtet. Zum anderen bleibt die sittliche Forderung bestehen, den jetzigen Zustand der Gewalt im internationalen Bereich zu überwinden und zu einer allgemeinen Friedensordnung zu kommen. Durch bloßes Wünschen, durch einseitigen Verzicht wird solche Ordnung freilich sich nicht verwirklichen lassen. „The gestures of peace from weakness are always futile", hat ein englischer Historiker mit Recht gesagt18. Nur Weisheit und Kraft wird es den Führern der großen Staaten möglich machen, den Frieden zu erhalten, bis menschliche Gesittung einmal in allen Ländern den Stand erreicht hat, der ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. 3. Ist nun das Kernstück des Staates trotz seiner mannigfaltigen Aufgaben in der Moderne Macht und Herrschaft, so stellt sich' das Problem des gerechten Staatsaufbaues als Problem der gerechten Verteilung der Macht innerhalb der Glieder des Staatsverbandes dar. Diese Frage hat in der Staatsphilosophie ebenso wie in der politischen Praxis zwei grundsätzliche Antworten gefunden. Die eine sieht die Lösung in unterschiedlicher Verteilung der Macht entsprechend dem verschiedenen Werte der Menschen. Der Beste soll herrschen, ihr Motto. Die andere folgt dem Gedanken der Gleichheit und Freiheit; alle sollen herrschen, ist ihre Folgerung. Die erste Theorie geht auf die Herrschaft einer Elite; sie ist am nachdrücklichsten von Piaton vertreten worden. Die Macht soll in die Hände derjenigen gelegt werden, die nach Charakter und Anlage am besten geeignet sind. Wer sich nach sorgfältiger und allseitiger Erziehung in Krieg und Verwaltung bewährt hat, lehrt Piaton, wer durch philosophische Einsicht erkannt hat, daß die Macht nicht das höchste, erstrebenswerteste der Güter ist: der wird die Macht richtig verwenden, wird sie nicht mißbrauchen; er soll herrschen. Das ist der Sinn des vielzitierten Wortes von der Königsherrschaft der Philosophen. Die Macht gebührt den vollkommensten Menschen. Diese Theorie hat viele Nachfolger gefunden; auch in den modernen Utopien, die eine Art wissenschaftliches Direktorium oder Technokraten an die Spitze der Welt stellen möchten, leben ihre Gedanken fort 19 . 18

Richard Aldirtgton, Wellington (Reprint Oktober 1946). " vgl. dazu z. B. Carrel, L'homme cet inconnu (Paris 1935), S. 371 ff. Kritik solcher Pläne bei Röpke, Gesellschaftskrisis der Gegenwart (5. Aufl. 1948), S. 255 ff.

231

Kapitel IV

In der politischen Wirklichkeit entsprechen ihr die Legitimitätsprinzipien20 der Monarchie und Aristokratie. In der Aristokratie erscheint ein bestimmter Kreis von Familien in besonderer Weise zur Herrschaft berufen; in der Erbmonarchie ist es eine bestimmte Familie, bei der kraft göttlicher Begnadung das Recht zu herrschen ruht. Ein Wort des Legitimisten De Maistre verdeutlicht diesen Sachverhalt. „On croit, qu'une famille est royale parce qu'elle règne: au contraire, elle règne parce qu'elle est royale."21 In beiden Fällen sind es Menschen besonderer, ererbter Qualität, denen die Regierung zusteht. In der Gegenwart haben ähnliche Gedanken zu der Forderung nach der Herrschaft der „Elite" geführt, wie sie namentlich der Soziologe Pareto formuliert hat. Der Faschismus hat diese Forderung aufgegriffen; freilich ist hier der Begriff Elite nur in einem eingeengten Sinne sittlich bestimmt und mehr — durch den Einfluß von Gedankengängen Nietzsches und der Lebensphilosophie — unter dem Gesichtspunkt der Kraft und Lebensmacht entwickelt. Auch der Nationalsozialismus hat sich — unter Zugrundelegung seines Rassebegriffs — gelegentlich auf den Elitegedanken berufen. Beide Regime zeigen aber, wie gefährlich die Elitetheorie ist, weil sie stets zu unumschränkter Macht führt und damit in Wahrheit die Machthungrigen an die Macht bringt. Die Lehre von der natürlichen, ererbten Überlegenheit bestimmter Herrscher- und Adelsfamilien gegenüber allen anderen Menschen hält weder der anthropologischen noch der historischen Kritik stand. Die geschichtliche Forschung hat erwiesen, daß die Herrscherstellung von Königen wie die bevorzugte Stellung des Adels in der Regel nicht auf höhere sittliche Eigenschaften ihrer Begründer, sondern auf erfolgreiches Machtstreben und häufig auf Gewalt und Rechtsbruch zurückgeht. Die Lehre von der höheren Qualität fürstlichen und adligen Blutes ist nur die späte Verklärung gewonnener Macht; nicht die sittliche Überlegenheit, sondern die gewonnene Macht ging zeitlich voran. Daher hat auch das monarchisch aristokratische Legitimitätsprinzip im europäischen Kulturkreis die Zeiten des Rationalismus, welche diese Zusammenhänge aufdeckten, nicht überlebt. Mehr und mehr hat es sich politisch in der Moderne als unwirksam er2 0 Zu diesem Begriff vgl. G. Ferrero, Macht (Dt. Ausgabe Bern 1944), S. 45 ff. E r versteht unter Legitimitätsprinzipien diejenigen Grundsätze, nach denen politische Macht erworben sein muß, um in den Augen der Beherrschten „legitim", d. h. gerechtfertigt, zu erscheinen. Solche Prinzipien sind z. B. das der Erbmonarchie oder der Demokratie. 2 1 Zitiert bei Schnabel, Deutsche Gesdiichte im 19. Jahrhundert, Monarchien und Volkssouveränität II (2. Aufl. 1949), S. 37.

232

Die Grundlagen des Rechts

wiesen — ohne daß seine großen Verdienste in der Vergangenheit geleugnet werden könnten und sollten. Faschismus und Nationalsozialismus bieten das Beispiel, daß ein Regime, das einer (vorgeblichen) Elite unumschränkte Macht einräumt, in Wahrheit die skrupellosesten Jünger der Macht emporträgt; sie zeigen außerdem, daß die „Auswahl der Elite" in der Praxis gar nicht die Besten nach oben bringt. Das theoretische System Piatons entgeht den Einwänden, denen die Legitimitätsprinzipien der Monarchie und der Aristokratie unterliegen. Denn in ihm gibt es keine Erblichkeit der Ämter; die Amtsträger werden jeweils aus allen Bürgern ausgesucht und ausgewählt. Dafür stellen sich aber zwei andere Einwendungen ein: Das platonische System setzt voraus, daß man die politische und sittliche Befähigung von Menschen sicher beurteilen kann; es schließt weiter die Notwendigkeit absoluter Macht der Staatslenker ein, in deren Händen die Auswahl der Führenden liegt. Sie müssen, wie sie es ja im platonischen Staate auch tun, über den Lebensweg, den Beruf aller Bürger des Staates bestimmen können. Sie entscheiden, wer Bauer oder Kaufmann, wer Soldat oder politischer Führer werden soll. Die erste Voraussetzung ist — jedenfalls nach dem jetzigen Stand unserer Erkenntnis — noch nicht gegeben; damit entsteht die Gefahr der Willkür. Das haben gerade die modernen totalitären Systeme uns vor Augen geführt. Die zweite aber setzt das System in Widerspruch zum Rechtsgedanken, welcher es verbietet, einen Menschen ganz der Gewalt eines anderen auszuliefern 22 . Das zweite System hat seinen klassischen Ausdruck in der Theorie vom Staatsvertrag gefunden. Der Staat ist dadurch entstanden, daß die Bürger einen Vertrag geschlossen haben, durch den sie eine Regierung organisierten. Ihre Unterordnung unter die Regierung beruht also auf eigenem Entschluß. Die Regierung besitzt ihre Macht nicht k r a f t eigenen überlegenen Rechtes als Elite, sondern nur k r a f t Auftrages. Sie ist daher den Bürgern verantwortlich. Gesetze können nur durch Abstimmung zustande kommen. D a jeder mitbeschließt, gehorcht jeder im Grunde nur sich selbst. Dem entspricht in der politischen Wirklichkeit das demokratische Legitimitätsprinzip. Die Staatsgewalt liegt beim Volk, bei der Gesamtheit aller Bürger; es wählt die Regierung; es gibt sich 22 In der Wirklichkeit ist das platonische System wohl nur in einer Organisation annähernd verwirklicht worden, die allerdings alle anderen an Beständigkeit und Weisheit überragt: es ist die katholische Kirche. Aber hier handelt es sich nicht um eine politische Organisation, sondern um eine Kirche. Daher fehlen die tyrannischen Züge, die dem platonischen Staate eigen sind.

233

Kapitel IV

eine Verfassung; es beschließt unmittelbar oder durch Vertreter die Gesetze. Der Ausgangspunkt ist hierbei der Gedanke von der Gleichheit und Freiheit aller, die Idee, daß jedem Menschen in gleicher Weise das Recht der Autonomie, der Selbstbestimmung, zukommt. Diese Theorie läßt daher keine Gewalt gelten, die nicht auf der volonte générale, dem Willen aller, beruht. Sie führt die Macht des Staates auf die Kategorie des Vertrages als des Instrumentes der freien Übereinkunft zurück (wendet also im Grunde das Prinzip der iustitia commutativa statt dem der iustitia distributiva auf den Staat an). Der demokratischen Doktrin kann man nicht entgegenhalten, daß sie geschichtlich unwahr sei. Denn sie will und braucht keine gewonnene Machtposition zu rechtfertigen, wie jede monarchische oder faschistische 23 es tun muß, sondern ist eine rein systematische Theorie 24 . Das geschichtliche Prinzip ist nur f ü r den monarchischen und aristokratischen Legitimismus unerläßlich. Auch der Einwand, daß die Vertragstheorie übersehe, daß es sich bei dem Aufbau des Staates um ein Verteilungsproblem, also um eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, nicht um eine solche der Gleichordnung handelt, ist nicht stichhaltig. Denn die Gleichheit ist auch ein Verteilungsprinzip der sozialen Gerechtigkeit. Schwerer wiegt der Einwand, daß sie die Verschiedenheit der Menschen und die Notwenigkeit einer Eliteausbildung übersehe. Aber auch er ist im Grunde nicht gerechtfertigt. Die demokratische Staatslehre übersieht diese beiden Probleme keineswegs. Sie leugnet weder die Verschiedenheit der Menschen noch die Notwendigkeit einer Auslese. Was sie leugnet, ist nur, daß diese Verschiedenheit der Menschen und die politische Führerschicht rechtlich festgelegt, institutionell verfestigt werden müsse und dürfe. Sie kennt keine ein f ü r allemal abgegrenzte Führerschicht (Adel, Orden, Partei), sie überläßt die Bildung der Elite dem freien Handeln der Menschen. Sie vertraut darauf, daß die vernünftige Einsicht aller die rechten Leute an die rechte Stelle bringen und damit der Verschiedenheit der Menschen Rechnung tragen werde. Nicht durch Rechtszwang oder autoritäre Entscheidung, sondern durch freie Wahl, durch freien Entschluß der Bürger soll die erforderliche Auslese getroffen werden. Es ist kein Zweifel, daß ein derartiges Prinzip ein Wagnis ist, daß es sehr hohe Anforderungen an den Menschen stellt. Was man auch sagen mag, die Demo23 Man denke an das ständige Bemühen Hitlers, in seinen Reden die Partei aus ihrem Kampf heraus als Elite des deutschen Volkes zu erweisen. 24

vgl. dazu u. a. Radbruch, S. 107.

234

Grundzüge der Rechtsphilosophie (1914),

Die Grundlagen des Rechts

kratie ist die Staatsdoktrin, die am höchsten vom Menschen denkt, die daher auch nur funktionieren kann, wenn die Menschen freiwillig Pflichten und Einschränkungen auf sich nehmen 25 . Aber gerade damit entspricht sie einer höheren sittlichen Anschauung. Denn diese fordert, den Menschen als sittlich mündig und autonom zu behandeln. Sie duldet nicht, daß für ihn und über ihn entschieden wird. Wenn trotzdem auch das demokratische Legitimitätsprinzip dem Gedanken der Autonomie nicht voll entspricht, so liegt das daran, daß auch sie nicht ohne das Mehrheitsprinzip auskommt. Sie fordert die Unterwerfung unter den Willen der Majorität. Auch sie kennt also eine Herrschaft des einen über den anderen, und die Praxis der demokratischen Länder beweist, daß diese Herrschaft drückend sein kann und daher durch rechtsstaatliche Bestimmungen aller Art der Begrenzung und Einschränkung bedarf 26 . Es ist das Problem, das in Rousseaus „Contrat social" durch: die Gleichsetzung der volonté générale, des »Gemeinwillens", mit der volonté de tous, dem Willen aller, verdeckt, aber nicht gelöst wird. Die Demokratie ist in Wahrheit nicht die Herrschaft aller, sondern die Herrschaft der meisten. Die in der gegenwärtigen Diskussion häufig verwendete Formel, die Demokratie bedeute, daß keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr bestehe, ist unrichtig. Auch in der Demokratie besteht Herrschaft und Führung: nur ist diese Herrschaft von der Majorität getragen und damit vom Volkswillen her legitimiert, und sie ist, wie gleich noch zu zeigen sein wird, begrenzt und kontrolliert. Audi die Demokratie entspricht also nur annäherungsweise der von der Rechtsidee geforderten Autonomie. Nur als diejenige Staatsform, die relativ am ehesten gerechtfertigt erscheint, kann sie gelten. Ein absolut gültiges Staatsideal ist nicht erweisbar. Jede Staatsform enthält einen Restbestand von Herrschaft, von Verfügungsgewalt von Menschen über Menschen, der wohl den Gegebenheiten des menschlichen Lebens, aber nicht höchsten sittlichen Forderungen entspricht. Läßt sich also rational keine Staatsform zwingend entwickeln, die vom Standpunkt der Ethik vollkommen und zugleich zu verwirklichen wäre, so ist es um so wichtiger, daß sich in der Geschichte bestimmte Prinzipien entwickelt haben, die in der Anschauung der be25

vgl. dazu 2 b i n d e n , Gefahren der modernen Demokratie (Frankfurt a. M., 1948). M vgl. dazu etwa Henry Steele Commager, Die Rechte der Minderheit im Rahmen der Mehrheitsherrsdiaft (Dt. Ausg. 1947), S. 8 ff.

235

Kapitel IV

treffenden Zeit die Regierung rechtfertigen. Ihre Bedeutung liegt darin, daß Herrschaft, die diesen Prinzipien gemäß erworben worden ist, als legitim erscheint und daher von den Beherrschten akzeptiert wird, so daß die Macht mit einem Minimum von Gewalt behauptet werden kann, weil der Gehorsam freiwillig ist. Solche Prinzipien waren in der Zeit der monarchischen Staatsgestaltung der Gedanke der Erbmonarchie mit festem Grundsatz der Herrscherfolge; kein geringerer als Napoleon hat die Stabilität bewundert, die dieses Prinzip den alten Monarchien Europas gab. Es ist heute das Prinzip der Volkssouveränität, welche die von der Mehrheit bestimmte Regierung als legitim erscheinen läßt. Ferrero ist der Wirkung dieser Prinzipien der Legitimität in seinem Buche über die Macht nachgegangen 27 ; er hat gezeigt, welcher Segen von ihnen ausgegangen ist. Die Epochen und Staatssysteme, in denen sie fehlen, sind durch Staatskrisen und Revolution gekennzeichnet; Gewalt muß da eintreten, wo die Anerkennung gemeinsamer Legitimitätsprinzipien fehlt. Wie schwer der Übergang zu einem neuen Prinzip der Legitimität ist, dafür bietet die Geschichte der deutschen Weimarer Republik mit ihren Kämpfen und Krisen ein Beispiel. Edmund Burke hat die Folgen des Sturzes eines Legitimitätsprinzips, desjenigen der Monarchie, mit klassischer Rhetorik beschrieben: „The usurpation which, in order to subvert ancient institutions, has destroyed ancient principles, will hold power by arts similar to those.by which it has acquired it. When the old feudal and chivalrous spirit of fealty, which, by freeing kings from fear, freed both kings and subjects from the precautions of tyranny, shall be extinct in the minds of men, plots and assassinations will be anticipated by preventive murder and preventive confiscation, and that long roll of grim and bloody maxims, which form the political code of all power, not standing on its own honour, and the honour of those who are to obey it. Kings will be tyrants from policy, when subjects are rebels from principle. When ancient opinions and rules of life are taken away, the loss cannot possibly be estimated. From that moment we have no compass to govern us; nor can we know distinctly to what port we steer." 28 4. Auf den Umstand, daß in keinem Staatswesen nach geschichtlicher Erfahrung das Moment der Herrschaft ausgeschaltet werden 27 28

G. Ferrero, Macht (Dt. Ausg. 1944), S. 45 ff.

E. Burke, Reflections on the French Revolution (1790, Reprint 1950), S. 75.

236

Die G r u n d l a g e n des R e d i t s

kann, beruht die Notwendigkeit des Rechtsstaates29. Der Rechtsstaat ist der Versuch, die bestehende, auf keine Weise aufzulösende staatliche Herrschaft durch Begrenzung mit der Forderung der Gerechtigkeit, alle Menschen zu achten, so weit als möglich in Übereinstimmung zu bringen. In ihm wird das Gewaltverhältnis, das ursprünglich zwischen Herrscher und Untertan, Imperiumsträger und civis, Inhaber der Banngewalt und Freiem besteht, dem Reditsgedanken unterworfen. Geschichtlich ist er überall da entstanden, wo der Wille zu Freiheit und Recht sich gegenüber der Macht der Herrschenden durchsetzen konnte. Wir finden den Gedanken in der griechischen PoIis und in der römischen Republik; im Mittelalter lebt er in dem allgemeinen Gedanken der Überlegenheit des Rechts über die Herrschaft. Aber nur da, wo er mit dem Gleichheitsgedanken verbunden blieb, wo der Gedanke der allgemeinen Freiheit aller erhalten wurde, in England, konnte er sich behaupten; auf dem Kontinent, wo das nicht der Fall war, entartete er zu dem Gedanken der Privilegien einzelner Stände und Städte und ging zugrunde30. Seine konsequente Verwirklichung erfuhr der Gedanke des Rechtsstaates dann unter der Einwirkung der Aufklärung im 19. Jahrhundert. Der Aufbau des Rechtsstaates folgt den Prinzipien der iustitia protectiva. Daraus ergeben sich seine leitenden Grundsätze. Die Staatsgewalt darf nicht in einer Hand konzentriert sein (Grundsatz der Gewaltenteilung). Alle staatliche Gewalt muß eine rechtliche Grundlage haben und vom Recht auf bestimmte Zwecke begrenzt sein (Grundsatz der Rule of Law, der Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Justiz, der Verfassungsbindung der Legislative). Alle staatliche Machtausübung muß vom Bürger selbst kontrolliert sein, sei es durch die Möglichkeit, staatliche Hoheitsakte in einem Rechtsverfahren vor unabhängigen Gerichten auf ihre Gesetzmäßigkeit nachprüfen zu lassen, sei es durch gewählte Vertretungen. Die Grundrechte dürfen eingeschränkt, aber nicht aufgehoben werden. M Einen sehr guten Überblick über die ideengeschichtlichen Grundlagen und das Wesen des Rechtsstaates bietet Hayek, Entstehung und V e r f a l l des Rechtsstaatsideals, in: Sozialwissenschaftliche Studien (herausgegeben von A . H u n o l d ) I I Wirtschaft ohne W u n d e r ( 1 9 5 3 ) . 3 0 vgl. d a z u die glänzenden Ausführungen bei Tocqueville, L'ancien Régime et la Révolution. 338, 343 H a u r i o u 180,212 H a y e k 32 5 , 615- 6 , 237 29 , 258 41 , 25942, 43, 44, 46 H a z a r d 31 3 Heck 136 5 , 176 5 , 315 14 , 321», 324, 328

Namenverzeichnis Hegel 31, 43 ff., 50 f., 87, 88, 102, 141 14 , 15 0 3 3 , 170, 198, 238 H e i m p e l 28 3 H e i m s o e t h 198 14 H e i n i m a n n 714 H e i n z e 18 5 ' H e l l e r 223 H e l m h o l t z 60 3 v. H e n t i g 239 3 3 H e r d e r 38 H e u s l e r 145 2 3 Heuss, A l f r e d 9 2 " , 126 1 3 v. d. H e y d t e 28 3 Hippias 7 H i t l e r 234 2 3 Hobbes 32 ff., 98, 164, 274, 283 H o b h o u s e 239 3 4 H o d e n b e r g 242 4 9 H o e b e l 124 1 - 2 , 125®, 1 2 6 u , 128, 156 18 , 157, 159 23 , 160 2 7 H ö p f n e r 197« H o l m e s 57, 287 H o r n 339 4 , 3 4 4 l a H o r v a t h 135 3 , 168 4 9 H u b e r 174 1 , 180 2 1 H u g o 176« H u m e 35, 35 1 7 a H u n o l d 237 2 9 Husserl, E d m u n d 282 Husserl, G e r h a r t 221 2 1 , 245 5 Ihering 50, 147, 301, 324 8 Ireland 43 1 9 Isay 57, 174 1 , 263 9 , 2 8 1 4 0 ' 4 2 , 3 2 4 ff. Isidor v. Sevilla 22 7 6 J a e g e r 10 24 , 13 , 20 6 5 - 6 7 , 22 5 6 Jamblichos 19 J a n t z e n 149 J e l l i n e k , Georg 87, 140 12 , 275, 285 J e l l i n e k , W a l t e r 212®, 213 1 0 Jodel 5 0 " Jones 128 12 , 159 26 Joseph II. 34 Josserand 303 J ü n g e r 349 J u s t i n i a n 276 f.

Kallikles 7»°, 8 f. K a l v e r a m 124 4 Kant 1, 3, 35 f., 43, 56, 87, 88, 103 f., 105 f., 121, 192, 194, 238 ff., 250 f., 286, 291 f. K a n t o r o w i c z , Ernst H . 28 3 K a n t o r o w i c z , H e r r m a n n 294 2 , 295, 298 8 , 334 Kapp I I 2 5 , 95 1 8 Käser 160-'9, 276 3 1 K a u f m a n n , Erich 64 2 °, 227 1 5 , 328 Kelsen 64 ff., 87, 170, 244 3 , 269, 275, 286, 288 v . K i r c h m a n n 346 Klein, F r a n z 285 f., 288 Klug 3 4 2 " Kneale 44 2 3 Köhler 343 Köttgen 237 3 0 Kohler, Joseph 43 1 8 , 125 5 , 304 2 0 , 318 f. Koschaker 197®, 1 9 8 " K r a f t 58 1 , 60 3 , 62 7 , 87, 94 1 4 , 100 34 , 264 1 0 K r a n z 6 3 - 5< fl, 7 1 2 ' 13 , 8 15 9 2 0 , 19 6 3 Kraus 3212® Krauss 150 1 Kriele 112 62 , 117 70 , 185 1 , 186, 202 1 7 , 264 9 , 317 1 8 , 321 2 7 , 326 1 7 , 3 2 9 2 2 ' 2 5 , 339 6 Kritias 7 , 9 Kroll 6 2 Kronstein 274 2 5 Krüger, H e r b e r t 222 2 , 223 4 Küster 280 4 0 K u n k e l 9 2 u , 143 19 , 153 10 K u t t n e r 261 Lang 241 4 2 Lange 239 3 3 , 241 4 3 , 242 4 9 Laotse 348 La Pira 296« L a r e n z 268 1 5 , 304 2 6 , 320 2 5 , 322 3 , 323 7 L a t t e 129 18 , 156 Lau 27 22 Lauterpacht 3 1 4 ® - 3 1 7 2 1 , 320 2 5 , 321 2 8 353

23

Coing,

Rechtsphilosophie

Namenverzeichnis Leisegang 25 1 3 Lenz 5 7 " Leonidas 111 f. Lerner 5712'15 L e s k y 149 Lessing, T h e o d o r 101, 101 36 Levi, E d w a r d 307 Lieber 53 16 , 54 2 0 L i e r m a n n 27 2 2 Lipsius 1 4 2 " L l e w e l l y n 326 Locke 34, 154, 195, 248 ff. L ö w i t h 22 1 L o m b r o s o 241 Lorenz 1 0 6 , 3 4 3 " 12 L u n d s t e d t 62»' L u t h e r 23, 26 f., 230 M a c a u l a y 166 Machiavelli 29 ff. M a i n e , H . S u m n e r 124 M a l i n o w s k i 134, 160 M a n d e l b a u m 9 5 " , 97 2 8 , 98, 98 3 1 M a n n h e i m 53 1 7 , 54 2 2 , 97 ff., 9724, 25, 26 9g30 M a r r o u 38,'92 1 », 94 1 3 , 101 39 Marsilius v. P a d u a 28 3 M a r x 36, 48, 50 ff., 87, 92, 95, 96 f., 99, 102, 141, 151 ff., 170, 244, 253 M a x w e l l 315 1 3 - 1 6 M a y e r 174, 175 4 , 182 M a y n e z 70, 195 1 M c B r i a r 3 7 ' , 256 3 8 v. M e h r i n g 50 1 3 M e i e r - H a y o z 267 1 2 , 314 1 0 , 317 2 », 332 4 , 333 7 Meinecke 29«, 3 0 8 ' 1 0 , 38 2 M e n d e l 55 1 M e s n a r d 28 2 , 30» Meusel 39" Michelakis 15 43 Mill 49, 50 12 , 78, 252 M i t t e i s 138, 144, 302 2 1 , 343 1 3 Mommsen, Theodor 9 2 , 1 2 5 8 M o n t e s q u i e u 38, 201, 211, 212 s M o z a r t 105 M ü l l e r , A d a m 41 354

Müller-Erzbach 317 Naegeli 239 3 3 Napoleon 54, 236 N a t o r p 10 23 Nelson 70 3 4 N i e b u h r 38 Nietzsche 9, 55 f., 79, 97, 106 ff., 106 51 , 10 8 5 2 , 109 53 , 232 N o h l 104 45 , 110 5 7 N o t t a r p 156 19 , 157 2 1 O c k h a m 26 O l i v e c r o n a 62" O p h ü l s 206 v. O p p e l n - B r o n i k o w s k i 41 O p p e n h e i m e r 126*° O t t o 109 f., 109 54 P a p i n i a n 295 3 P a r e t o 232 P a r k e 37 Pascal 23 P a t z i k 95, 95 2 0 , 96 2 2 , 111«», 114« 4 Paulus (Apostel) 23 2 P a u l u s ( r ö m . J u r i s t ) 210» P e r e l m a n n 95 f., 95»», 96 2 1 , 112 f., 313 P e t e r 3 0 4 2 7 ' 28 Petersen 18 54 Planck 18 58 Planiol 303 2 6 Piaton 6 3 - », 7 7 ' 8 8, 918,1 »( 1 0 28, 43, 87, 88, 95 1 8 , 101, 169, 186, 188 f., 225, 231, 233,296 Plessner 119 72 , 121, 12 1 7 3 32 Plucknet 304 2 8 , 305 3 »' P o h l e n z 18 56 , 1 9 « , 21 7 3 , 22 7 4 Popper 13 34 , 20 6 4 , 46 2 6 , 60 3 , 100, 100 3 3 a , 102 3 9 0 , 150 34 , 152 3 P o t h i e r 308 Pound, Roscoe 50 Praechter 6 3 P r i n g s h e i m 127 1 5 P r o t a g o r a s 6, 77> 8- • Pufendorf 32 ff.

Namenverzeichnis Rabel 138®, 139 10 R a d b r u c h 80 ff., 174 1 , 23 4 24 , 2 6 8 " , 308 45 , 322 2 Raiser 214 12 R a m u s 341 R a t t r e y 126 Reale 43, 195 1 Recasens Siches 43, 195 1 Regelsberger 174 1 Rehberg 41 Reiche 281 Reichel 57 13 Rexius 39 6 , 41 13 Ricardo 48 1 Ricci 43 19 Rickert 271,328 Riezler 140", 198 12 R i p e r t 303 26 Rist 248 13 R i t t e r 14 43 R ö p k e 2 3 1 " , 246 7 , 260 47 R o m m e n 177 12 Ross 14 39 , 62" Rostovtzeff 92, 247 8 Rothacker 38 4 , 872< 3- 4 , 92 12 , 102 40 Rousseau 154 Saleilles 303, 3 4 5 " Salier 57 11 Salin 247 Salmond 306 39 Savigny 41 ff., 56, 166 47 , 299 ff., 314 12 , 315*3, 3 1 9 24 ' 341 Say 252 Scheler 106 50 , 110 37 , 1 1464, 115 67 , 121, 121 73 ' 74 > 7S , 195 1 , 239 35 , 285 15 Scheuerle 326 18 Schlechta 106 51 Schleicher 61® Schleiermacher 309 f., 312, 319 f. Schmidt, E b e r h a r d 146 26 , 220 19 , 2212», 239 38 , 281 40 Schmidt, Carl 39«, 58, 142 16 , 325 Schmoller 18, 1875, 254 ff. Schnabel 232 21 Schönfeld 197">, 198' 3 Scholz 44 23

Schopenhauer 55, 245 4 Schröder 1442» Schule 221 21 Schulz, Fritz I I 2 7 , 2 9 4 2, 2 9 6 4 ' 3 Schumpeter 52 15 , 1549 Seneca 18 f., 192, 204 21 , 296 4 Sextus Empiricus 6" Shaftesbury 38 Sidgwick 119 71 Sigismund 137 Simmel 121, 121 73 , 192, 239 37 Simonides I I 3 1 Smith, Adam 48' Snell 103 42 Sohm 301, 302 21 , 342, 343 13 Sokrates 7 " , 10 Solmsen 11 25 , 95 18 Sombart 1244 Somló 64, 138 8 , 284 10 Sorokin 16 2 31 , 163 3 9 - 4 0 , 164 Spranger 9 7 29 , 104 43 , 176 Stahl 41, 178, 226 Staiger 92 10 , 310 5 Stammler 70 ff., 197, 244 3 . 4 Stavenhagen 153 4 Stein, Karl F r h r . v o m 41 Steinwenter 294 1 Stenzel 7 7 , IO22- 24 , 14 38 Stern 42' 4 Stoker 106, 106 49 Stoll, H a n s 337 Stone 95 19 , 332, 333 3 , 339" S t r a t e n w e r t h 182 24 , 270 21 Stroux 297 7 Taines 61® Tawney 244 1 , 247" Thibaut 42 14 Thielicke 179 12 Thieme 135 4 , 197« T h o m a s v. A q u i n 23 ff., 87, 177 250 Thomasius 32, 34 f. T h o m a s 140, 144 20 Thrasymachos 7 ' Tocqueville 237 30 Toulmin 96 21

Namenverzeichnis Toynbee 126, 171, 225 7 , 245 Treitschke 254 Troeltsch 80 72 , 197 5 Troje 341® v. T u h r 268 19 , 282, 283 2 Überweg 6 3 , 24 4 , 25 13 , 261« Ulpian 20 68 , 186 Unger 302 22 Veit 181 22 , 198 14 , 2 8 1 " V e rdroß 63 Vico 38 Viehweg 321 28 , 339 4 - «, 3 4 2 " V i e r k a n d t 162, 163 35- 38- 3», 167 48 Villey 5 l a Voltaire 38 40

v. Weber, H e l l m u t h 280 Weber, Max 72 43 , 77 ff., 89,115 f., 1 2 8 " , 130, 1 4 0 "

356

Weimar 298 8 Weischedel 38' 8 , 2814» Welzel 174 3 Wenger 302 21 , 343 13 Wengler 146", 2 1 9 " Wesenberg 315 13 Wieacker 42 15 , 57 13 v. Wilamowitz-Moellendorf 101 88 W i m m e r 240 38 , 242 4 9 . 5 0 Winckelmann 77 68 Windscheid 319 24 Wolf, Erik 6 3 ' », 77- », 19 63 , 80 74 , 205 23 X e n o p h o n 78